Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

Der Abend eines langen Tages

Der berühmte Mann und anerkannte Schmuck der Nation, Mr. Merdle, schritt auf seiner glänzenden Bahn voran. Es begann weit und breit anerkannt zu werden, daß ein Mann, der der Gesellschaft den bewundernswerten Dienst geleistet, so viel Geld aus ihr herauszuschlagen, nicht ein Mitglied vom Unterhause bleiben dürfe. Man sprach mit Zuversicht von einer Baronie; häufig war auch von der Pairswürde die Rede. Das Gerücht ging, Mr. Merdle habe sein goldenes Gesicht von einer Baronie mit Verachtung abgewandt; er habe Lord Decimus offen zu verstehen gegeben, daß eine Baronie nicht genug für ihn sei; er habe gesagt: »Nein, eine Pairswürde oder einfach Merdle.« Man erzählte sich, dies habe Lord Decimus‘ adliges Kinn so tief in eine Pfütze von Zweifeln gestürzt, wie eine so hohe Person sinken konnte. Denn die Barnacles, als eine abgesonderte Gruppe in der Schöpfung, waren der Ansicht, daß solche Auszeichnungen nur für sie seien und daß, wenn ein Soldat, Seemann oder Advokat geadelt würde, sie ihn gleichsam durch einen Akt besonderer Herablassung an der Familientür empfingen und diese dann alsbald wieder schlössen. Nicht allein (sagte das Gerücht) hatte der verlegene Decimus seine eignen Erben dabei vor Augen, sondern er wußte auch von mehreren Barnacles, die auf der Liste standen und mit den Ansprüchen des vornehmsten Geistes in Kollision kamen. Mit Recht oder Unrecht, das Gerücht war sehr geschäftig, und Lord Decimus, der die Schwierigkeit in ernstliche Erwägung zog, oder von dem man vermutete, daß er es tat, lieh ihm einigen Vorschub, indem er bei verschiedenen öffentlichen Gelegenheiten seinen Elefantentrott durch eine Dschungel von hochgewachsenen Redensarten anschlug, indem er auf seinem Rüssel Mr. Merdle als Riesenunternehmungsgeist, Reichtum von England, Elastizität, Kredit, Kapital, Wohlfahrt und alle Arten von Segen hin und her bewegte.

So ruhig mähte die alte Sense fort, daß volle drei Monate unbemerkt vergangen waren, seit die beiden englischen Brüder in ein Grab auf dem Fremdenkirchhof von Rom gelegt worden waren. Mr. und Mrs. Sparkler hatten sich nun in ihrem eignen Hause eingerichtet; ein kleines Herrschaftshaus, etwa von der Tite Barnacle-Klasse, ein wahrer Triumph der Unbequemlichkeit mit dem beständigen Geruch der Suppe vom vorgestrigen Tage und von Wagenpferden, aber außerordentlich teuer, weil es genau im Mittelpunkt des bewohnbaren Globus lag. In dieser beneidenswerten Wohnung (und sie wurden wirklich darum von vielen beneidet) hatte Mrs. Sparkler die Absicht, sogleich sich ans Werk der Vernichtung des Busens zu machen, als der Ausbruch der Feindseligkeiten durch die Ankunft des Kuriers mit der Todesnachricht unterbrochen wurde. Mrs. Sparkler, die nicht gefühllos war, hatte die Kunde mit einem heftigen Ausbruch von Schmerz vernommen, der zwölf Stunden lang dauerte. Nach diesen hatte sie sich aufgerafft, um an ihre Trauerkleidung zu denken und alle Vorbereitungen zu treffen, die sie so vorteilhaft machen könnten wie Mrs. Merdle. Ein düsterer Schatten fiel auf mehr als eine hohe Familie (so berichteten die höflichsten Anzeigen), und der Kurier kehrte wieder zurück.

Mr. und Mrs. Sparkler hatten allein gespeist, und der düstere Schatten ruhte auf ihnen; nun lag Mrs. Sparkler auf einem Salonsofa. Es war ein heißer Sommersonntagsabend. Die Wohnung in der Mitte des bewohnbaren Globus, die zu allen Zeiten verstopft und verschlossen war, als wenn sie an einer unheilbaren Erkältung des Kopfes litt, war an jenem Abend besonders dumpf. Die Kirchenglocken hatten ihr abscheulichstes Gewimmer angestimmt, das in den Straßen ein unmelodisches Echo fand, und die erleuchteten Fenster der Kirchen hatten in dem grauen Nebel ihre gelbe Farbe verloren und waren in dunkles Schwarz übergegangen. Mrs. Sparkler, die auf ihrem Sofa lag und lange durch ein offenes Fenster auf der entgegengesetzten Seite über Nelken- und andere Blumenkistchen hinweg nach der entgegengesetzten Seite einer engen Straße gesehen hatte, war dieses Anblicks müde. Mrs. Sparkler sah dann zu einem andern Fenster hinaus, wo ihr Gatte auf dem Balkon stand, und ward bald auch dieses Anblicks müde. Mrs. Sparkler sah sich selbst in ihrer Trauerkleidung an und ward sogar dieses Anblicks müde; obgleich natürlich nicht so müde wie die beiden andern Male.

»Es ist, als wenn man in einem Brunnen läge«, sagte Mrs. Sparkler, indem sie verdrießlich ihre Stellung änderte. »Mein Gott, Edmund, wenn du etwas zu sagen hast, warum sagst du es nicht?«

Mr. Sparkler hätte aufrichtig antworten können: »Meine Liebe, ich habe nichts zu sagen.« Da ihm jedoch diese passende Antwort nicht einfiel, so begnügte er sich, den Balkon zu verlassen und sich neben das Sofa zu stellen, auf dem seine Frau lag.

»Du meine Güte, Edmund!« sagte Mrs. Sparkler noch verdrießlicher, »du wirst die Nelken noch in deine Nase stecken! Laß das, bitte!«

Mr. Sparkler, der geistesabwesend war – vielleicht wörtlicher geistesabwesend, als man gewöhnlich diese Phrase versteht –, hatte so dicht an einem Schößling in seiner Hand gerochen, daß er das fragliche Vergehen beinahe begangen hätte. Er sagte lächelnd: »Ich bitte um Vergebung, meine Liebe«, und warf ihn zum Fenster hinaus. »Du machst mir Kopfweh, wenn du in dieser Stellung bleibst, Edmund«, sagte Mrs. Sparkler, indem sie nach einer weitern Minute die Blicke zu ihm erhob. »Du siehst in diesem Lichte so ungeheuer groß aus. Setze dich.«

»Gern, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler. Und stellte einen Stuhl an den Ort, wo er gestanden hatte.

»Wenn ich nicht wüßte, daß der längste Tag vorüber ist«, sagte Fanny, furchtbar gähnend, »so wäre ich fest überzeugt gewesen, dies sei der längste Tag. Ich habe nie einen solchen Tag erlebt.«

»Ist das dein Fächer, meine Liebe?« fragte Mr. Sparkler, indem er einen solchen aufhob und ihn ihr gab.

»Edmund«, versetzte seine Frau noch müder, »frage nicht dergleichen, ich bitte dich. Wem kann er denn gehören als mir?«

»Ja, ich dachte mir, daß er dir gehören werde«, sagte Mr. Sparkler.

»Dann solltest du nicht fragen«, versetzte Fanny. Nach einer kurzen Weile drehte sie sich auf ihrem Sofa um und rief: »Mein Gott, mein Gott, es war noch kein Tag so lang wie dieser!« Nach einer zweiten Pause erhob sie sich langsam, ging auf und nieder und kam wieder zurück.

»Meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler, den ein origineller Gedanke durchblitzte, »ich denke, du wirst einen Nervenanfall haben –«

»Oh! Nervenanfall!« wiederholte Mrs. Sparkler. »Sage das nicht!«

»Mein anbetungswürdiges Kind!« bat Mr. Sparkler, »versuche deinen aromatischen Essig. Ich habe meine Mutter oft Gebrauch davon machen sehen, und es schien sie zu erfrischen. Und sie ist, wie du wohl bemerkt haben wirst, eine außerordentliche feine Frau, die keinen –«

»Gütiger Gott!« rief Fanny, wieder auffahrend, »es ist, um alle Geduld zu verlieren! Das ist gewiß der langweiligste Tag, der je über der Welt anbrach!«

Mr. Sparkler sah ihr demütig nach, während sie im Zimmer auf und ab ging, und schien etwas erschrocken. Nachdem sie mehrere Kleinigkeiten umhergeworfen und aus allen drei Fenstern in die dunkler werdende Straße hinabgesehen hatte, kehrte sie zu ihrem Sofa zurück und warf sich in die Kissen.

»Nun, Edmund, komm hierher! Komm etwas näher, weil ich dich mit meinem Fächer zu berühren imstande sein möchte, um dir genau einzuschärfen, was ich dir nun zu sagen im Begriff bin. So wird’s recht sein. Schon nahe genug. Oh, du siehst so groß aus!«

Mr. Sparkler entschuldigte sich wegen dieses Umstandes, versicherte, daß er nichts dafür könne, und sagte »unsre Jungen«, ohne besonders zu sagen, welche Jungen, hätten ihn gewöhnlich Quinbus Flestrin Junior oder den »Young Man Mountain« genannt. »Das hättest du mir früher sagen sollen«, klagte Fanny. »Meine Liebe«, versetzte Mr. Sparkler, fast angenehm berührt, »ich wußte nicht, daß dich das interessieren würde, sonst würde ich dir gewiß davon gesprochen haben.«

»Nein! Um aller Güte willen, sprich nicht«, sagte Fanny, »ich möchte selbst sprechen. Edmund, wir dürfen nicht mehr allein sein. Ich muß Vorkehrungen treffen, die es unmöglich machen, daß ich immer wieder in diesen Zustand schrecklicher Gedrücktheit verfalle, in dem ich mich heute abend befinde.«

»Meine Liebe«, antwortete Mr. Sparkler, »da du als eine außerordentlich feine Frau bekannt bist, die keinen –«

»O, Grundgütiger!« rief Fanny.

Mr. Sparkler wurde durch die Heftigkeit dieses Ausrufs, der von einem Auffahren vom Sofa und einem Niedersinken begleitet war, so außer Fassung gebracht, daß es ein bis zwei Minuten dauerte, ehe er sich imstande fühlte, zur Erklärung zu sagen:

»Ich wollte sagen, meine Liebe, jedermann wisse, du seiest darauf angewiesen, in Gesellschaft zu glänzen.«

»Darauf angewiesen, in. Gesellschaft zu glänzen«, versetzte Fanny mit großer Gereiztheit! »ja, wahrhaftig. Ich erhole mich durch die Besuche kaum von dem Schlag des Todes meines armen teuren Vaters und meines armen Onkels – obgleich ich nicht verhehle, daß das letztere eine große Wohltat war, denn wenn man nicht in Gesellschaft gebracht werden kann, so tut man besser zu sterben –«

»Du meinst damit hoffentlich nicht mich?« unterbrach sie Mr. Sparkler demütig.

»Edmund, Edmund, du könntest einen Heiligen aus der Fassung bringen. Spreche ich nicht ausdrücklich von meinem armen Onkel?«

»Du sahst mich so bedeutsam an, mein liebes Kind«, sagte Mr. Sparkler, »daß mir etwas unbehaglich wurde. Ich danke dir, meine Liebe.«

»Nun hast du mich aus dem Konzept gebracht«, bemerkte Fanny mit einem resignierten Schlag ihres Fächers, »und ich ginge besser zu Bett.« .

»Tue das nicht, meine Liebe«, drängte Mr. Sparkler. »Bleibe noch etwas.«

Fanny wartete noch etwas lange; sie lehnte sich zurück, schloß die Augen und zog die Augenbrauen mit einem hoffnungslosen Ausdruck hinauf, als wenn sie alle irdischen Dinge völlig aufgegeben hätte. Endlich öffnete sie ohne die geringste Warnung die Augen wieder und begann in ihrer kurzen, scharfen Weise:

»Was geschieht, frage ich? Was geschieht? In der Lebensperiode, wo ich am meisten in der Gesellschaft glänzen sollte und aus sehr wichtigen Gründen am meisten in der Gesellschaft zu glänzen wünschte – sehe ich mich in einer Lage, die bis zu einem gewissen Grade mich unfähig macht, in Gesellschaft zu erscheinen. Es ist wahrhaftig schrecklich!«

»Meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler, »ich glaube nicht, daß du deshalb zu Hause zu bleiben brauchst.« »Edmund, du lächerlicher Mensch«, versetzte Fanny mit großer Entrüstung; »glaubst du, daß eine Frau in der Blüte der Jugend, und nicht ganz aller persönlichen Reize bar, sich zu solcher Zeit mit ihrer Gestalt dem Vergleich mit einer Frau aussetzen darf, die in jeder andern Beziehung unter ihr steht? Wenn du das glaubst, so bist du ein grenzenloser Narr.«

Mr. Sparkler machte den bescheidenen Einwurf, er habe gemeint, »daß es sich überwinden ließe.«

»Überwinden!« sagte Fanny in grenzenlosem Zorn.

»Eine Zeitlang!« meinte Mr. Sparkler bescheiden.

Diesen letzten schwachen Einwurf keiner Beachtung würdigend, erklärte Mrs. Sparkler mit bitterem Ausdruck, daß es wirklich zu traurig sei und hinreichend, einen zu dem Wunsche zu bringen, man wäre tot.

»Freilich«, sagte sie, als sie sich einigermaßen des Gefühls entschlagen, daß sie grausam behandelt werde, »so empörend es ist, und so grausam es scheint, man muß sich eben darein finden.«

»Namentlich, wenn man es erwarten mußte«, sagte Mr. Sparkler.

»Edmund«, versetzte seine Frau, »wenn du nichts Passenderes zu tun weißt, als die Frau zu beleidigen zu suchen, die dich mit ihrer Hand beehrte, wenn sie sich unglücklich fühlt, so glaube ich, es wäre besser, du gingest zu Bett.«

Mr. Sparkler war sehr unglücklich über diese Beschuldigung und suchte sich aufs zärtlichste und ernstlichste zu entschuldigen. Seine Entschuldigung wurde angenommen; aber Mrs. Sparkler bat ihn, auf die andere Seite des Sofas zu gehen, hinter dem Fenstervorhang zu sitzen und leiser zu sprechen.

»Nun, Edmund«, sagte sie, indem sie ihren Fächer ausstreckte und ihn damit auf Armslänge berührte, »was ich dir sagen wollte, als du wie gewöhnlich zu schwatzen begannst, ist, daß ich nicht länger allein zu sein im Sinne habe und daß, wenn die Umstände mir verbieten, nach Belieben auszugehen, ich es arrangieren muß, beständig die einen oder die andern bei mir zu haben; denn ich kann und will keinen solchen Tag mehr erleben wie den heutigen.«

Mr. Sparklers Ansicht in Beziehung auf diesen Plan war in Kürze die, daß kein Unsinn darin sei. Er fügte hinzu: »Und außerdem, wie du weißt, wirst du bald deine Schwester hier haben –«

»Die liebe Amy, ja!« rief Mrs. Sparkler mit einem liebevollen Seufzer. »Ein allerliebstes kleines Ding. Aber Amy würde allein doch nicht genügen.«

Mr. Sparkler war im Begriff, mit einem fragenden »Nein?« zu antworten. Aber er sah, welche Gefahr für ihn darin lag, und sagte bestätigend: »Nein. Allerdings nicht: sie würde allein nicht genügen.«

»Nein, Edmund. Denn nicht nur sind die Vorzüge dieses kostbaren Kindes von jener stillen Art, daß sie eines Kontrastes bedürfen – Leben und Bewegung um sich her brauchen, um sie ins richtige Licht zu stellen und sie allgemein beliebt zu machen; sondern sie muß in mehr als einer Beziehung aufgeweckt werden.« »Das ist es«, sagte Mr. Sparkler, »aufgeweckt.«

»Bitte, laß das, Edmund! Deine Gewohnheit zu unterbrechen, ohne daß du das geringste von der Welt zu sagen hast, bringt einen in Verwirrung. Das mußt du dir abgewöhnen. Ich sprach von Amy; meine arme Kleine war außerordentlich anhänglich an den armen Papa und hat gewiß seinen Tod schmerzlich beweint und sich sehr gehärmt. Ich habe es ja auch getan. Ich habe den Verlust tief empfunden. Aber Amy wird ihn noch schmerzlicher empfunden haben, da sie die ganze Zeit an Ort und Stelle war und den armen, lieben Papa bis zum letzten Augenblick gepflegt hat; was mir leider nicht vergönnt war.«

Hier hielt Fanny inne, um zu weinen, und sagte dann: »Der liebe, liebe, gute Papa! Was für ein echter Gentleman er war! Was für ein Kontrast mit dem armen Onkel!«

»Die Nachwirkungen dieser Prüfungszeit«, fuhr sie fort, »wird man bei meiner guten kleinen Maus durch Aufheiterung zu verwischen suchen müssen. Ebenso die Nachwirkungen der langen Pflege bei Edwards Krankheit: einer Pflege, die noch nicht vorüber ist und die noch einige Zeit dauern kann, die außerdem uns alle so lange nicht zur Ruhe kommen läßt, bis die Angelegenheiten des armen guten Papa ins reine gebracht werden können. Glücklicherweise sind die Papiere bei seinen Agenten hier alle gesiegelt und verschlossen, wié er sie zurückließ, als er gewissermaßen ahnungsvoll nach England kam; seine Sachen sind in dem geordneten Zustande, daß es mit ihnen Zeit hat, bis mein Bruder Edward sich in Sizilien wieder so weit erholt hat, um herüberzukommen und anzuordnen, was zu tun ist, auszuführen oder was sonst geschehen soll.«

»Er konnte keine bessere Pflegerin bei sich haben«, war Mr. Sparkler so kühn auszusprechen.

»Es ist ein Wunder, daß ich dir recht geben kann«, versetzte seine Frau, indem sie langsam ihre Augenlider etwas nach ihm hinrichtete (sie predigte sonst, als wenn es den Möbeln des Wohnzimmers gälte), »und deinen Worten beipflichten kann. Er konnte keine bessere Pflegerin bei sich haben. Es gibt Zeiten, wo mein liebes Kind für einen lebhaften Geist etwas Ermüdendes hat; aber als Pflegerin ist sie die Vollkommenheit selbst. Die beste Amy, die es gibt!«

Mr. Sparkler, dem nach seinem letzten Erfolg der Mut rasch gestiegen war, bemerkte, Edward schlage sich wahrlich lange herum.

»Wenn ›sich herumschlagen‹ der technische Ausdruck für Unwohlsein ist«, versetzte Mrs. Sparkler, »so ist das allerdings der Fall. Wenn aber nicht, so bin ich außerstande, eine Meinung über die barbarische Sprache abzugeben, die du an Edwards Schwester richtest. Daß er sich das Malariafieber irgendwo geholt – entweder, als er Tag und Nacht nach Rom reiste, wo er doch zu spät angekommen, um den armen lieben Papa noch vor dem Sterben zu sehen, oder bei einer andern unglücklichen Gelegenheit – ist unzweifelhaft, wenn es das ist, was du meinst. Ebenso, daß sein außerordentlich leichtfertiges, Leben die Krankheit sehr gefährlich für ihn gemacht hat.« Mr. Sparkler hielt es für einen ähnlichen Fall, wie den mit einzelnen von unsern jungen Leuten in Westindien, wenn sie das gelbe Fieber bekommen. Mrs. Sparkler schloß ihre Augen wieder und wies jede Bekanntschaft mit unseren jungen Leuten in Westindien oder dem gelben Fieber von sich ab.

»Amy«, fuhr sie fort, als sie ihre Augen wieder öffnete, »wird es nötig haben, daß man sie von den Nachwirkungen mancher ermüdenden und bangen Woche durch Erheiterung befreit. Endlich wird sie nötig haben, daß man ihr die Richtung aufs Niedrige benimmt, die, wie ich wohl weiß, in der Tiefe ihres Herzens ruht. Frage mich nicht, Edmund, was es ist, weil ich dir eine Antwort versagen müßte.«

»Ich will es auch gar nicht wissen, meine Liebe«, sagte Mr. Sparkler.

»Ich werde somit manches an meinem lieben Kind gutzumachen haben«, fuhr Mrs. Sparkler fort, »und kann sie nicht bald genug bei mir haben. Die liebenswürdigen und lieben kleinen Füßchen! Was das Ordnen der Angelegenheiten des armen Papa betrifft, so ist mein Interesse dabei durchaus nicht selbstsüchtiger Natur. Papa zeigte sich außerordentlich freigebig gegen mich, als ich heiratete, und ich habe wenig oder nichts zu erwarten. Vorausgesetzt, daß er kein rechtsgültiges Testament gemacht, das Mrs. General ein Legat aussetzt, bin ich zufrieden. Der liebe Papa, der liebe Papa!« Sie weinte wieder, aber Mrs. General war das beste stärkende Mittel. Der Name schon veranlaßte sie, ihre Augen zu trocknen und zu sagen:

«Es ist ein sehr ermutigender Umstand bei Edwards Krankheit, ich erkenne es mit Dank an, und es gibt mir die größte Zuversicht, daß sein Kopf nicht gelitten oder sein Geist schwächer geworden ist – wenigstens nicht bis zu des lieben Papas Tod –, daß er Mrs. General augenblicklich ausbezahlte und sie aus dem Hause wegschickte. Ich muß ihm dafür meinen Beifall zollen. Ich könnte ihm viel vergeben, weil er so rasch und so genau tat, was ich selbst getan haben würde!«

Mrs. Sparkler glühte ganz vor Dankbarkeit, als man zweimal an die Tür pochen hörte. Ein höchst wunderliches Pochen. Leise, als wenn man ein Geräusch zu machen oder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermeiden wollte. Lange, als wenn die Person, die klopfte, mit andern Dingen beschäftigt wäre und aufzuhören vergäße.

»Hallo!« sagte. Mr. Sparkler. »Wer ist das?«

»Doch nicht Amy und Edward, ohne es uns zuvor wissen zu lassen und ohne einen Wagen?« sagte Mrs. Sparkler. »Sieh hinaus!«

Das Zimmer war dunkel, aber die Straße war wegen der Lampen heller. Mr. Sparklers Kopf sah, während er über den Balkon herabschaute, so groß und schwer aus, daß er das Übergewicht zu bekommen und den Unbekannten unten plattzuschlagen drohte.

»Es ist ein Mann«, sagte Mr. Sparkler. »Ich kann nicht sehen, wer – halt, indessen!«

Bei diesem zweiten Gedanken ging er wieder auf den Balkon und sah zum zweiten Male hinab. Er kam zurück, als die Tür unten geöffnet wurde, und meldete, daß, er »seines Erziehers Hut« erkannt zu haben glaube. Er hatte sich nicht getäuscht, denn sein Erzieher trat unmittelbar darauf mit seinem Hut in der Hand in das Zimmer.

»Lichter!« sagte Mr. Sparkler mit einem Wort der Entschuldigung wegen der Dunkelheit.

»Es ist hell genug für mich«, sagte Mr. Merdle.

Als die Lichter hereingebracht waren, sah man Mr. Merdle hinter der Tür stehen und sich auf die Lippen beißen, »Ich dachte, ich wollte euch besuchen«, sagte er. »Ich bin jetzt gerade sehr beschäftigt; und da ich zufällig einen Gang durch die Stadt machte, dachte ich, ich wollte euch besuchen.«

Da er wie zu einem Diner gekleidet war, fragte Fanny, wo er diniert habe?

»Nun«, sagte Mr. Merdle, »ich habe eigentlich nirgends diniert.«

»Sie haben doch gespeist?« sagte Fanny.

»Ja – nein, ich habe eigentlich nicht gespeist«, sagte Mr. Merdle.

Er fuhr mit der Hand über die Stirn und besann sich, als wenn er die Sache nicht ganz gewiß wüßte. Man bot ihm etwas zu essen an. »Nein, ich danke«, sagte Mr. Merdle. »Ich habe keinen Appetit. Ich wollte mit Mrs. Merdle auswärts speisen. Da ich aber die Lust verlor, ließ ich Mrs. Merdle, gerade als wir in den Wagen stiegen, allein gehen und dachte, ich wolle statt dessen einen Gang durch die Stadt machen.«

Ob er Tee oder Kaffee wolle? »Nein, ich danke«, sagte Mr. Merdle. »Ich war einen Augenblick im Klub und trank eine Flasche Wein.«

Nun nahm Mr. Merdle den Stuhl, den Edmund Sparkler ihm angeboten und den er bisher langsam vor sich hergeschoben hatte, wie ein unbehilflicher Mensch, der zum ersten Male ein Paar Schlittschuhe anhat und sich nicht entschließen kann, damit auszuschreiten. Dann stellte er seinen Hut auf einen anderen Stuhl neben sich, sah in denselben hinein, als wenn er zwanzig Fuß tief wäre, und sagte wieder: »Ihr seht, ich wollte euch einen Besuch machen.«

»Sehr schmeichelhaft für uns«, sagte Fanny, »denn Sie sind kein Mann, der Besuche macht.«

»N – ein«, versetzte Mr. Merdle, der sich inzwischen an den Rockärmeln in Haft genommen. »Nein, ich bin kein Mann, der Besuche macht.«

»Dafür haben Sie zu viel zu tun«, sagte Fanny. »Da Sie so viel zu tun haben, Mr. Merdle, ist der Mangel an Appetit bei Ihnen sehr bedenklich, und Sie müssen etwas dafür tun. Sie dürfen nicht krank sein.«

»Oh, ich bin ganz wohl«, versetzte Mr. Merdle, nachdem er die Sache überlegt hatte. »Ich bin so wohl wie immer. Ich bin wohl genug. Ich bin so wohl, wie ich zu sein brauche.«

Der vornehmste Geist des Zeitalters, treu seinem Charakter, immer so wenig wie möglich für sich zu sagen zu haben, und dies nur mit großer Mühe zu sagen, ward wieder stumm. Mrs. Sparkler hätte gern gewußt, wie lange der vornehmste Geist zu bleiben beabsichtige.

»Ich sprach vom armen Papa, als Sie eintraten, Sir.«

»Ah! Ein hübsches Zusammentreffen«, sagte Mr. Merdle.

Fanny sah das nicht ein, aber hielt es für ihre Aufgabe, weiterzusprechen. »Ich sagte«, fuhr sie fort, »meines Bruders Krankheit habe einen Aufschub der Prüfung und Ordnung des Vermögens meines Papa veranlaßt.«

»Ja, ja«, sagte Mr. Merdle. »Sie veranlaßte einen Aufschub.«

»Nicht, daß dieser gerade von Bedeutung wäre«, sagte Fanny.

»Nein«, stimmte Mr. Merdle bei, nachdem er den ganzen Kreis, rings im Zimmer umher, soweit sein Gesichtskreis reichte, gemustert hatte, »nicht daß es von Bedeutung wäre.«

»Das einzige, woran mir, liegt«, sagte Fanny, »ist, daß Mrs. General nichts bekommt.«

» Siewird nichts bekommen«, sagte Mr. Merdle.

Fanny war entzückt, ihn diese Ansicht aussprechen zu hören. Nachdem Mr. Merdle noch einen Blick in die Tiefen seines Hutes geworfen, als wenn er darin etwas zu sehen glaubte, fuhr er sich in die Haare und hing langsam seiner letzten Bemerkung die bestätigenden Worten an: »Oh, sicher nicht. Nein. Sie nicht. Nicht wahrscheinlich.«

Da dieser Gesprächsgegenstand erschöpft zu sein schien und auch Mr. Merdle, so fragte Fanny, ob er Mrs. Merdle und den Wagen unterwegs abholen würde?

»Nein«, antwortete er; »ich werde den kürzesten Weg machen, und Mrs. Merdle« – dabei blickte er über das Innere seiner beiden Hände hin, als wenn er sich sein Schicksal prophezeite– »für sich selbst sorgen lassen. Ich bin überzeugt, es wird ihr gelingen.«

»Wahrscheinlich«, sagte Fanny.

Es entstand eine lange Pause, wahrend der Mrs. Sparkler, sich wieder in ihr Sofa zurücklegend, die Augen schloß und ihre Augenbrauen in die Höhe zog, um sich wie zuvor ganz von weltlichen Dingen abzuwenden.

»Aber«, sagte Mr. Merdle, »ich halte euch und mich auf, Ich dachte, ich wollte euch einen Besuch machen.«

»Gewiß, wir fühlen uns sehr geschmeichelt«, sagte Fanny.

»So will ich denn gehen«, fügte Mr. Merdle hinzu und stand auf. »Könnten Sie mir ein Federmesser leihen?« .

Es sei doch seltsam, bemerkte Fanny lächelnd, daß sie, die es selten über sich vermöchte, auch nur einen Brief zu schreiben, einem Mann von so großen Geschäften etwas leihen sollte. »Nicht wahr?« stimmte Mr. Merdle bei; »aber ich brauche ein solches; und ich weiß, ihr habt zur Hochzeit mehrere kleine Keepsakes bekommen, mit Scheren und Zänglein und dergleichen. Ihr sollt es morgen wiederhaben.«

»Edmund«, sagte Mrs. Sparkler, »öffne mal (aber sehr vorsichtig, ich bitte dich dringend, denn du bist so ungeschickt), öffne das Perlmutterkästchen auf meinem kleinen Tischchen dort, und gib Mr. Merdle das Perlmutterfedermesser.«

»Ich danke«, sagte Mr. Merdle, »aber wenn Sie eines mit einem dunklern Griff hätten, so würde ich das vorziehen.«

»Schildpatt?«

»Ich denke«, sagte Mr. Merdle, »ja. Ich glaube, ich würde Schildpatt vorziehen.«

Edmund erhielt demzufolge Befehl, das Schildpattkästchen aufzumachen und Mr. Merdle das Schildpattfedermesser zu geben. Während er dies tat, sagte seine Frau gnädig zu dem großen Geist:

»Ich werde Ihnen verzeihen, wenn Sie einen Tintenfleck darauf machen.«

»Ich denke nicht, einen Tintenfleck darauf zu machen«, sagte Mr. Merdle.

Der berühmte Besuch streckte jetzt seinen Ärmelaufschlag vor und begrub für einen Augenblick Mrs. Sparklers Hand, Armgelenke, Bracelet und alles darin. Wo sich seine eigene Hand hinverlor, war nicht deutlich, aber Mrs. Sparkler konnte sie so wenig fühlen, als wenn er ein hochverdienter Chelseaveteran oder Greenwichpensionär gewesen wäre.

Vollständig überzeugt, als dieser das Zimmer verließ, daß es der längste Tag sei, der jemals zu Ende gegangen, und daß nie eine Frau existiert, die, nicht ganz aller persönlichen Reize bar, so von einfältigen und langweiligen Leuten gequält würde, trat Fanny auf den Balkon hinaus, um etwas frische Luft zu schöpfen. Tränen des Verdrusses füllten ihre Augen, und sie machten den Eindruck durch sie, als ob der bejahrte Mr. Merdle, wie er die Straße hinabging, spränge und walzte und sich im Kreise herumdrehte, als wäre er von verschiedenen Teufeln besessen.

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Vermißt.

Die Abreise von Mr. Dorrit war auf übermorgen bestimmt und er eben im Begriff sich anzukleiden, um eine neue Prüfung vor dem Oberhaushofmeister zu bestehen (denn die Opfer desselben waren immer besonders für ihn herausgeputzt), als einer der Diener des Hotels ihm eine Visitenkarte brachte. Mr. Dorrit nahm sie und las:

»Mrs. Finching.«

Der Diener wartete in sprachloser Demut.

»Mann, Mann«, sagte Mr. Dorrit, sich mit großer Entrüstung zu ihm umwendend, »erklären Sie mir, warum Sie mir diesen lächerlichen Namen bringen. Ich kenne ihn durchaus nicht. Finching, Sir?« sagte Mr. Dorrit, indem er sich vielleicht an dem Oberhaushofmeister durch einen Ersatzmann rächte. »Ha! Was wollen Sie mit dieser Mrs. Finching?«

Der Mann, Mann schien so wenig mit dieser Finching zu wollen als mit irgend jemand, denn er trat vor Mr. Dorrits strengem Blick zurück, indem er antwortete: »Eine Dame, Sir.«

»Ich kenne keine Dame dieses Namens, Sir«, sagte Mr. Dorrit. »Nehmen Sie diese Karte fort. Ich kenne keine Finching, weder männlichen noch weiblichen Geschlechts.«

»Bitte um Vergebung, Sir. Die Dame sagte, es sei möglich, daß Sie ihren Namen nicht kennen. Aber sie bitte mich zu melden, Sir, daß sie früher die Ehre gehabt, mit Miß Dorrit bekannt zu sein. Die Dame sagte, Sir, mit der jüngsten Miß Dorrit.«

Mr. Dorrit zog die Brauen zusammen und entgegnete nach einigen Augenblicken: »Sagen Sie Mrs. Finching, Sir«, indem er den Namen mit einem Nachdruck hervorhob, als wenn der unschuldige Mann allein für ihn verantwortlich wäre, »daß sie heraufkommen könne.«

Er hatte während der momentanen Pause überlegt, daß sie, wenn er sie nicht vorlasse, eine Botschaft an ihn hinterlassen oder unten etwas sagen möchte, was eine unangenehme Beziehung auf sein früheres Leben haben könnte. Daher seine Nachgiebigkeit und daher das Erscheinen von Flora, die der Mann, Mann hereinsteuerte.

»Ich habe nicht das Vergnügen«, sagte Mr. Dorrit mit der Karte in der Hand und mit einer Stimme, die zu erkennen gab, daß es kaum ein Vergnügen ersten Ranges wäre, wenn er es hätte, »diesen Namen oder Sie selbst zu kennen, Madame. Geben Sie einen Stuhl, Sir.«

Der verantwortliche Mann gehorchte aufschreckend und ging auf den Zehen hinaus. Flora schlug mit einem verschämten Beben den Schleier zurück, um sich näher vorzustellen. Zu gleicher Zeit durchströmte eine eigentümliche Mischung von Wohlgerüchen das Zimmer, als wenn etwas Kognak aus Versehen in eine Lavendelwasserflasche oder etwas Lavendelwasser aus Versehen in eine Kognakflasche gekommen wäre.

»Ich bitte Mr. Dorrit tausendmal um Verzeihung, und es reicht dies kaum hin für eine solche Freiheit die wie ich wohl weiß für eine Dame außerordentlich kühn erscheinen muß namentlich wenn sie allein kommt aber ich hielt es im ganzen für das beste so schwer und anscheinend unpassend es auch ist obgleich Mr. Finchings Tante mich wohl gern begleitet hätte und als ein Charakter von großer Kraft und vielem Geist wahrscheinlich einen Mann interessiert hätte der eine so große Lebenskenntnis besitzt wie dies bei so vielen Veränderungen der Stellung nicht anders möglich ist, denn Mr. Finching sagte häufig daß obgleich er in der Nähe von Blackheath eine gute Erziehung für ein so bedeutendes Honorar wie achtzig Guineen erhalten welche Summe für Eltern keine Kleinigkeit da die Leute beim Abgang noch überdies das Silberzeug behielten was mehr eine Gemeinheit als daß es gerade sich um den Wert handelte so habe er doch in dem ersten Jahre als Handelsreisender mit einem Artikel von dem niemand habe hören und den noch viel weniger jemand habe kaufen wollen weit mehr gelernt als in den ganzen sechs Jahren auf jener Akademie die ein Junggeselle geleitet obgleich ich nicht einsehe und nie einsehen werde warum ein Junggeselle geschickter sein soll als ein verheirateter Mann aber bitte um Entschuldigung das ist’s nicht um was es sich handelt.«

Mr. Dorrit stand wie an den Boden genagelt, eine Statue der Mystifikation.

»Ich muß offen gestehen daß ich eigentlich kein Recht habe«, sagte Flora, »da ich die liebe Kleine kannte was unter veränderten Umständen gewissermaßen wie eine Anmaßung erscheint aber gewiß von meiner Seite keine solche sein soll und Gott weiß es war kein Geschenk eine halbe Krone für eine solche Näherin wie sie sondern ganz das Gegenteil und es ist auch gar nichts Erniedrigendes darin denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert und wahrhaftig ich wünschte nur er bekäme ihn öfter und mehr Fleisch und weniger Rheumatismus im Rücken und den Beinen die armen Leute.«

»Madame«, sagte Mr. Dorrit, indem er mit großer Mühe zu Atem kam, als die Witwe des verstorbenen Mr. Finching innehielt, um selbst Atem zu schöpfen; »Madame«, sagte Mr. Dorrit, sehr rot im Gesicht, »wenn ich Sie recht verstehe, so sprechen Sie – ha – von etwas Vergangenem aus – hm – dem Leben einer meiner Töchter, was – ha, hm – mit einer täglichen Entschädigung in Verbindung steht, Madame. Ich bitte Sie zu bemerken, daß die – ha – Tatsache angenommen, daß – ha – es wirklich eine Tatsache ist, nie zu meiner Kenntnis kam. Ich würde es nicht gestattet haben. Ha! Nie, nie!«

»Wir brauchen den Gegenstand nicht weiter zu verfolgen«, versetzte Flora, »und ich würde ihn auch gar nicht erwähnt haben wenn ich es nicht für den einzigen günstigen Empfehlungsbrief gehalten aber daß es Tatsache ist daran kann nicht gezweifelt werden und Sie mögen sich darüber beruhigen denn das Kleid das ich trage kann es beweisen das ist sehr schön gemacht obgleich nicht zu leugnen daß es einer besser gewachsenen Person besser stünde denn ich bin viel zu stark obgleich ich nicht weiß wie ich’s verhindern soll bitte entschuldigen Sie ich schweife wieder ab.«

Mr. Dorrit trat ganz statuenhaft an seinen Stuhl und setzte sich, während Flora ihm einen besänftigenden Blick zuwarf und mit ihrem Sonnenschirm spielte.

»Die liebe Kleine«, sagte Flora, »wurde plötzlich ganz matt und weiß und kalt in meinem Hause oder wenigstens Papas Hause denn wenn es auch noch nicht unser Eigentum so haben wir doch einen langen Pacht für einen Pfifferling an dem Morgen als Arthur – törichte Gewohnheit aus unsrer Jugendzeit und Mr. Clennam weit passender für die gegenwärtigen Verhältnisse namentlich einem Fremden gegenüber der noch überdies ein Mann von hoher Stellung ist – die frohe Nachricht brachte die er von einem Mann namens Pancks hatte das macht mich so kühn.«

Bei der Erwähnung dieser beiden Namen zog Mr. Dorrit die Brauen zusammen, starrte die Dame an, zog die Brauen wieder zusammen, besann sich mit den Fingern an den Lippen, wie er es vor langer Zeit gemacht hatte, und sagte: »Haben Sie die Gefälligkeit, mir – ha – zu sagen, was Sie wünschen, Madame.«

»Mr. Dorrit«, sagte Flora, »Sie sind sehr freundlich daß Sie mir diese Erlaubnis geben und es erscheint mir sehr natürlich daß Sie so gütig sind denn obgleich Sie stattlicher sind gewahre ich doch eine Ähnlichkeit natürlich voller aber doch eine Ähnlichkeit der Zweck meines Herkommens ist meine Sache ich habe kein menschliches Wesen zu Rate gezogen namentlich nicht Arthur – bitte entschuldigen Sie Doyce und Clennam ich weiß nicht was ich sage Mr. Clennam allein – denn diesen Mann der mit einer goldenen Kette an eine purpurne Zeit gefesselt ist wo alles ätherisch war von einer Sorge zu befreien wäre für mich das Lösegeld eines Königs wert obgleich ich nicht die geringste Idee habe wie hoch sich das belaufen würde aber ich meine damit die Totalsumme von allem was ich auf der Welt besitze und noch mehr.«

Mr. Dorrit, ohne den Ernst dieser letzten Worte besonders zu beachten, wiederholte: »Bitte, was wünschen Sie, Madame?«

»Es ist nicht wahrscheinlich das weiß ich wohl«, sagte Flora, »aber es ist möglich und da es möglich so entschloß ich mich als ich in den Zeitungen Ihre Ankunft aus Italien und Ihre Rückkehr dahin las zu sehen ob ich Sie nicht veranlassen könnte ihm entgegenzukommen oder etwas von ihm zu hören und wenn das der Fall was wäre das für alle ein Glück und eine Beruhigung.«

»Erlauben Sie mir zu fragen, Madame«, sagte Mr. Dorrit, während seine Ideen sich verwirrten, »auf wen – ha – auf wen«, wiederholte er mit gehobener Stimme in seiner Verzweiflung, »auf wen Sie anspielen?«

»Auf den Fremden aus Italien der in der City verschwunden ist wie Sie ohne Zweifel so gut wie ich in den Zeitungen gelesen haben werden«, sagte Flora, »abgesehen von Privatquellen wie Mr. Pancks aus welchen man erfährt was für schrecklich bösartige Dinge manche Leute schlecht genug sind sich zuzuflüstern da sie wahrscheinlich andere nach sich beurteilen und wie ärgerlich und entrüstet Arthur – kann nicht anders Doyce und Clennam – darüber sein muß.«

Zum Glück für die Aufklärung der Sache hatte Mr. Dorrit nichts von der Sache gehört noch gelesen. Dies veranlaßte Mrs. Finching mit vielen Entschuldigungen wegen der Schwierigkeit unter den Falten ihres Kleides den Weg in ihre Tasche zu finden, endlich eine polizeiliche Bekanntmachung hervorzuholen, die besagte, daß ein fremder Herr namens Blandois, der kürzlich aus Venedig angelangt sei, auf unerklärliche Weise an dem und dem Abend in dem und dem Teil der City von London verschwunden sei; daß man wisse, er sei in das und das Haus zu der und der Stunde gegangen; daß die Bewohner jenes Hauses angegeben, er habe es so und so viele Minuten vor Mitternacht verlassen, und daß man ihn seit dieser Zeit nicht mehr gesehen habe. Dies mit genauen Angaben über Zeit und Örtlichkeit und mit einer detaillierten Beschreibung des so geheimnisvoll verschwundenen Mannes las Mr. Dorrit ein langes und breites.

»Blandois!« sagte Mr. Dorrit. »Venedig! Und diese Beschreibung! Ich kenne diesen Herrn. Er war in meinem Hause. Er ist sehr befreundet mit einem Gentleman von guter Familie (obwohl selbst nicht in den besten Umständen), dessen – ha – Gönner ich bin.«

»Dann ist es um so mehr meine dringende Bitte«, sagte Flora, »daß Sie auf der Rückreise die Freundlichkeit haben sich nach diesem fremden Herrn auf allen Straßen und an allen Ecken umzusehen und sich in allen Hotels bei allen Orangenbäumen Weinbergen und Vulkanen kurz an allen Orten zu erkundigen denn er muß irgendwo sein und warum kommt er nicht und sagt daß er da sei und klärt alles auf?«

»Bitte, Madame«, sagte Mr. Dorrit mit Bezugnahme auf die Bekanntmachung, »wer ist Clennam und Komp.? Ich sehe den Namen hier in Verbindung mit dem Hause erwähnt, in das man Monsieur Blandois gehen sah; wer ist Clennam und Komp.? Ist es jener Mann, mit dem ich früher – hm – eine – ha – vorübergehende Bekanntschaft hatte, und dessen Sie, wie ich glaube, Erwähnung taten? Ist es jener – ha – Mann?«

»Eine ganz andere Person«, versetzte Flora, »ohne Beine wofür sie Räder hat und die mürrischste Frau obgleich seine Mutter.«

»Clennam und Komp. eine – hm – Mutter?« rief Mr. Dorrit.

»Und außerdem ein alter Mann«, sagte Flora.

Mr. Dorrit sah aus, als wenn ihn diese Mitteilung sogleich von Sinnen bringen müßte. Auch wirkte es nicht wohltätiger auf seine Gesundheit, daß Flora eine rasche Analyse von Mr. Flintwinchs Kravatte gab und ihn, ohne die geringste Grenzlinie zwischen seiner und Mrs. Clennams Person zu ziehen, als eine rostige Schraube in Gamaschen beschrieb. Diese Zusammensetzung von Mann und Frau, keinen Beinen, Rädern, rostiger Schraube, mürrischem Wesen und Gamaschen verblüffte Mr. Dorrit so vollständig, daß er einen bemitleidenswerten Anblick bot.

»Aber ich möchte Sie nicht einen Augenblick länger aufhalten«, sagte Flora, auf welche dieser Anblick die entsprechende Wirkung gemacht hatte, »wenn Sie die Güte haben wollten, mir Ihr Versprechen als Gentleman zu geben daß Sie sowohl auf Ihrer Rückreise nach Italien als in Italien selbst sich nach diesem Herrn Blandois unten und oben umsehen und wenn Sie ihn finden oder von ihm hören ihn veranlassen daß er sich zeige und alles aufkläre.«

Inzwischen hatte sich Mr. Dorrit so weit von seiner Verwirrung erholt, daß er in ziemlich zusammenhängender Weise zu erklären imstande war, er werde dies als seine Pflicht betrachten. Flora war entzückt von ihrem Erfolg und stand auf, um sich zu verabschieden.

»Tausend Dank«, sagte sie, »und hier meine Adresse auf meiner Karte im Falle mir eine persönliche Mitteilung zu machen wäre ich will meinen Gruß nicht der lieben Kleinen senden denn es würde sich vielleicht nicht schicken und es existiert ja auch eigentlich keine Kleine mehr nachdem sich alles so sehr verändert also hat es auch keinen Grund aber ich und Mr. Finchings Tante wünschen ihr immer das beste Wohlergehen und gründen keine Ansprüche auf Dienste von unserer Seite Sie können dessen versichert sein im Gegenteil denn was sie unternahm das führte sie aus und das ist mehr als viele von uns tun abgesehen davon daß sie was sie tat so gut machte als es nur irgend möglich war und ich selbst bin eine von jenen denn seitdem ich mich von dem Schlage des Todes von Mr. Finching zu erholen begann sagte ich immer ich wolle die Orgel lernen für die ich außerordentlich eingenommen bin aber ich muß mich schämen zu bekennen daß ich noch nicht eine Note kenne guten Abend!«

Als Mr. Dorrit, der sie bis zur Zimmertür begleitete, etwas Zeit gefunden sich zu sammeln, fand er, daß die Unterhaltung längst vergessene Erinnerungen in ihm wachgerufen hatte, die sich nicht mit Mr. Merdles Diner vertrugen. Er schrieb ein kurzes Billet, um sich für heute zu entschuldigen, und befahl, daß das Diner augenblicklich in seinem eigenen Zimmer im Hotel serviert werde. Er hatte noch einen andern Grund dafür. Seine Zeit in London war nahezu zu Ende und im voraus vollauf in Anspruch genommen; sein Plan für die Rückreise war entworfen; und er glaubte, es seiner hohen Stellung schuldig zu sein, über das Verschwinden Blandois‘ nähere Nachforschungen anzustellen, um in der Lage zu sein, Mr. Henry Gowan das Resultat seiner persönlichen Erkundigungen mitteilen zu können. Er beschloß deshalb, diesen freien Abend zu benützen, um zu Clennam und Komp. zu gehen, welche Firma sich nach den Angaben in der Bekanntmachung leicht finden ließ, und sich den Platz anzusehen und selbst einige Erkundigungen einzuziehen.

Nachdem er so einfach gegessen, als das Hotel und der Kurier es gestatteten, und einen kurzen Schlaf an dem Kamin gemacht, um sich von Mrs. Finching zu erholen, fuhr er allein in einem Mietwagen aus. Die dumpfe Glocke von St. Paul schlug neun, als er unter dem Schatten des Tempeltors vorüberkam, das in diesen entarteten Zeiten keinen Kopf eines Enthaupteten zeigte und verlassen dastand.

Als er durch die Nebenstraßen und Gassen am Wasser dem Ziele seiner Fahrt sich näherte, erschien ihm dieser Teil von London häßlicher, als er sich ihn jemals gedacht hatte. Viele Jahre waren verflossen, seit er ihn gesehen; er hatte sich niemals hier viel umgetrieben; und das Ganze machte einen geheimnisvollen und traurigen Eindruck auf ihn. So mächtig wirkte es auf seine Phantasie, daß, als der Kutscher hielt, nachdem er sich mehr denn einmal nach dem Wege erkundigt, und sagte, dies scheine ihm der fragliche Torweg zu sein, Mr. Dorrit zögernd, mit dem Kutschenschlag in der Hand, und beinahe erschrocken über den finstern Anblick des Ortes, dastand.

Sicherlich sah er an jenem Abend so düster aus wie nur je. Zwei von den Bekanntmachungen waren an der Mauer angeklebt, eine auf jeder Seite des Eingangs, und wenn die Laterne in dem Nachtwind sich bewegte, glitten Schatten drüber hin, nicht unähnlich den Schatten von Fingern, die über die Zeilen hinliefen. Offenbar wurde der Ort beobachtet; denn als Mr. Dorrit stehenblieb, ging ein Mann von der andern Seite der Straße an ihm vorüber in den Hof, und ein anderer kam aus einem dunklen Winkel drinnen hervor; und beide sahen ihn im Vorübergehen an, und beide blieben in der Nähe stehen.

Da sich nur ein Haus innerhalb der Ringmauer befand, so konnte kein Zweifel möglich sein; er ging daher die Stufen dieses Hauses hinauf und klopfte. Ein schwaches Licht bemerkte man in zwei Fenstern des ersten Stockes. Die Tür gab einen traurigen hohlen Schall von sich, als wenn das ganze Haus leer wäre; aber das war nicht der Fall, denn beinahe im selben Augenblick sah man ein Licht und hörte Schritte. Sie kamen näher, eine Kette klirrte, und, eine Frau, die Schürze über Gesicht und Kopf gezogen, stand in der Öffnung.

»Wer ist da?« sagte die Frau.

Mr. Dorrit, sehr erstaunt über diese Erscheinung, antwortete, er sei aus Italien und wünsche einige Erkundigungen über die Person einzuziehen, die vermißt werde und die er kenne.

»Hi!« rief die Frau, ihre gebrochene Stimme erhebend. »Jeremiah!«

Auf diesen Ruf erschien ein vertrockneter alter Mann, in dem Mr. Dorrit durch die Gamaschen die rostige Schraube zu erkennen glaubte. Die Frau fürchtete sich vor diesem vertrockneten alten Mann, denn sie zog die Schürze weg, als er sich näherte, und zeigte ein blasses, erschrockenes Gesicht. »Öffne die Tür, du Närrin«, sagte der alte Mann, »und lasse den Herrn herein.«

Mr. Dorrit trat, nachdem er noch nach seinem Kutscher und Kabriolett zurückgesehen, in die dunkle Halle. »Nun, Sir«, sagte Mr. Flintwinch, »können Sie alles fragen, was Ihnen beliebt; es gibt hier keine Geheimnisse, Sir.«

Ehe man Zeit zu einer Antwort hatte, rief eine starke strenge Stimme, obgleich eine Frauenstimme, von oben herab: »Wer ist da?«

»Wer da ist?« antwortete Jeremiah. »Noch mehr Erkundigungen. Ein Herr aus Italien.«

»Bringen Sie ihn herauf.«

Mr. Flintwinch murmelte vor sich hin, als wenn er das für unnötig halte; aber zu Mr. Dorrit gewandt setzte er hinzu: »Mrs. Clennam. Sie tut immer, was ihr beliebt. Ich will Ihnen den Weg zeigen.« Er ging dann Mr. Dorrit die dunkle Treppe voran: dieser, der natürlich sich auf dem Weg umsah, erblickte die Frau hinter sich, die Schürze wieder in ihrer früheren geisterhaften Weise über den Kopf geworfen.

Mrs. Clennam hatte ihre Bücher offen auf ihrem kleinen Tisch vor sich liegen. »Oh!« sagte sie kurz, während sie den Fremden mit festem Blick ins Auge faßte. »Sie sind aus Italien, Sir, nicht wahr. Hm?«

Mr. Dorrit wußte im Augenblick keine passendere Antwort zu geben als: »Ha – hm?«

»Wo ist der Vermißte? Können Sie uns Mitteilungen über seinen Aufenthalt machen? Ich hoffe, Sie können es.«

»Weit entfernt davon, suche ich – hm – vielmehr hier Auskunft über ihn.«

»Unglücklicherweise können wir Ihnen keine geben. Flintwinch, zeigen Sie dem Herrn die Bekanntmachung. Geben Sie ihm mehrere Exemplare zum Mitnehmen. Halten Sie dem Herrn das Licht, damit er besser lesen kann.«

Mr. Flintwinch tat, wie ihm befohlen ward, und Mr. Dorrit las die Bekanntmachung, als wenn er sie zum ersten Male in die Hand bekäme, wahrhaft froh, sich auf diese Weise etwas sammeln zu können, da das Aussehen des Hauses und der Bewohner desselben ihn etwas außer Fassung gebracht hatten. Während seine Augen auf dem Papier verweilten, fühlte er, daß die Augen von Mr. Flintwinch und Mrs. Clennam auf ihm ruhten. Er fand, als er aufblickte, daß dies Gefühl keine Einbildung gewesen war.

»Nun wissen Sie so viel wie wir, Sir«, sagte Mrs. Clennam. »Ist Mr. Blandois ein Freund von Ihnen?«

»Nein, ein – hm – Bekannter«, antwortete Mr. Dorrit.

»Haben Sie vielleicht einen Auftrag von ihm?«

»Ich? Ha. Gewiß nicht.«

Der forschende Blick senkte sich nach und nach zu Boden, nachdem er unterwegs auch Flintwinchs Gesicht mitgenommen. Mr. Dorrit, etwas verwirrt, da er sah, daß er der Befragte statt der Frager war, suchte diese unerwartete Ordnung der Dinge umzukehren.

»Ich bin – ha –- ein Mann von Vermögen und wohne gegenwärtig mit meiner Familie, meinen Dienern und – hm – einem ziemlich großen Haushalt in Italien. Da ich mich für kurze Zeit Angelegenheiten wegen, die mit meinen – ha – Besitzungen in Verbindung stehen, in London aufhalte und von diesem seltsamen Verschwinden höre, so wünschte ich mich über die näheren Umstände aus erster Hand zu unterrichten, da ein – ha, hm – englischer Gentleman in Italien ist, den ich zweifelsohne bei meiner Rückkehr sehen werde und der in sehr vertrautem und täglichem Verkehr mit Monsieur Blandois stand. Mr. Henry Gowan. Sie kennen wohl den Namen?«

»Habe nie von ihm gehört.«

Mrs. Clennam sagte es, und Mr. Flintwinch war ihr Echo.

»Da ich ihm – ha – einen zusammenhängenden und genauen Bericht abstatten möchte«, sagte Mr. Dorrit, »so darf ich mir – wohl drei Fragen erlauben?«

»Dreißig, wenn Sie wollen.«

»Kannten Sie Monsieur Blandois schon lange?«

»Kein Jahr. Mr. Flintwinch wird in den Büchern nachsehen und Ihnen sagen, wann und von wem in Paris er an uns empfohlen wurde; wenn dies«, fügte Mrs. Clennam hinzu, »Ihnen zur Beruhigung dienen sollte. Uns ist es eine geringe Beruhigung.«

»Haben Sie ihn oft gesehen?«

»Nein. Zweimal. Einmal früher und –«

»Das eine Mal«, half Mr. Flintwinch nach.

»Und dies eine Mal.«

»Bitte, Madame«, sagte Mr. Dorrit, der nach und nach, als er seine Wichtigkeit wieder zu fühlen begann, zu dem Gedanken kam, er sei in einer höheren Weise Friedensrichter; »bitte, Madame, darf ich, zur größeren Beruhigung des Herrn, den ich – ha – die Ehre haben zu beschäftigen oder zu protegieren oder, wir wollen sagen – hm – zu kennen – zu kennen – mir die Frage erlauben, war Monsieur Blandois an dem in diesem gedruckten Zettel angegebenen Abend hier in Geschäften?«

»Was er Geschäfte nannte«, versetzte Mrs. Clennam.

»Sind sie – ha – ich bitte um Entschuldigung, der Art, daß sie mitgeteilt werden können?«

»Nein.«

Es war offenbar unmöglich, über die Barriere dieser Antwort hinwegzukommen.

»Diese Frage ist schon früher gestellt worden«, sagte Mrs. Clennam, »und die Antwort lautete nein. Wir lieben es nicht, unsere Geschäfte, so unbedeutend sie auch sind, der ganzen Stadt mitzuteilen. Wir sagen nein«.

»Ich meine, zum Beispiel, er nahm kein Geld mit sich?« sagte Mr. Dorrit.

»Er hat keins von uns mitgenommen, Sir, und auch keins von uns erhalten.«

»Ich vermute«, bemerkte Mr. Dorrit, von Mrs. Clennam zu Mr. Flintwinch hinüberblickend und umgekehrt, »Sie können sich selbst dieses Geheimnis nicht erklären.«

»Weshalb vermuten Sie das?« versetzte Mrs. Clennam.

Außer Fassung gebracht durch die kalte und harte Frage, war Mr. Dorrit nicht imstande, irgendeinen Grund für seine Vermutung anzugeben.

»Ich erkläre es mir so, Sir«, fuhr sie fort, nach einer unbeholfenen Pause von Mr. Dorrits Seite, »daß er ohne Zweifel irgendwo reist oder sich irgendwo versteckt hält.«

»Wissen Sie etwa – ha – weshalb er Grund hat, sich zu verstecken?«

»Nein.«

Es war genau dasselbe Nein wie zuvor, wodurch eine neue Barriere aufgestellt war.

»Sie frugen mich, ob ich mir sein Verschwinden erkläre«, erinnerte ihn Mrs. Clennam streng, »nicht ob ich es Ihnen erklären könne. Ich möchte mir nicht anmaßen, es Ihnen zu erklären, Sir. Ich meine, daß dies ebensowenig meine Sache ist, wie eine Erklärung zu verlangen, die Ihre.«

Mr. Dorrit antwortete mit einer um Entschuldigung bittenden Verbeugung. Als er zurücktrat, was besagen wollte, er habe nichts mehr zu fragen, konnte er nicht umhin zu bemerken, wie düster und fest die Augen zu Boden gerichtet sie dasaß, mit einem Ausdruck auf ihrem Gesicht, der darauf deutete, daß sie ruhig warte, und wie derselbe Ausdruck sich von Mr. Flintwinchs Gesicht widerspiegelte, der in einiger Entfernung von ihrem Stuhl, die Augen gleichfalls zu Boden gerichtet und mit der rechten Hand sanft das Kinn reibend, dastand.

In diesem Augenblick ließ Mrs. Affery (natürlich die Frau mit der Schürze über dem Kopf) den Leuchter fallen, den sie in der Hand hielt, und rief: »Da! O, guter Gott! Da ist es wieder! Horch, Jeremiah! Jetzt!«

Wenn auch wirklich ein Geräusch vorhanden war, so war es jedenfalls so leise, daß sie es nur bei ihrer zur Manie gewordenen Gewohnheit, immerfort zu lauschen, hören konnte; aber Mr. Dorrit glaubte ebenfalls etwas zu hören wie das Niederfallen dürrer Blätter. Der Schrecken der Frau schien für einen kurzen Augenblick die andern anzustecken, und sie lauschten alle.

Mr. Flintwinch war der erste, der sich wieder faßte. »Affery, arme Frau«, sagte er, indem er mit geballten Fäusten auf sie zu wackelte, während seine Ellbogen vor Begierde, sie zu schütteln, zitterten: »Du machst wieder deine alten Streiche. Du wirst nächstens wieder im Schlafe wandeln, Weib, und die ganze Reihe deiner verrückten Gaukelei durchmachen. Du mußt einnehmen. Wenn ich diesem Herrn das Geleit gegeben habe, werde ich dir ein angenehmes Pulver geben; ein ganz angenehmes Pulver.«

Diese Aussicht schien Mrs. Affery nichts weniger als angenehm zu sein; Jeremiah aber nahm, ohne weiter von seiner heilsamen Medizin zu sprechen, ein zweites Licht von Mrs. Clennams Tisch und sagte: »Nun, mein Herr, soll ich Ihnen hinableuchten?«

Mr. Dorrit sagte, daß er ihm dankbar dafür sein werde, und ging hinab. Mr. Flintwinch schloß ihn durch Tür und Kette hinaus, ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren. Wiederum gingen die beiden Männer an ihm vorüber, indem der eine von draußen, der andre von drinnen kam; nachdem er in den Wagen gestiegen, der auf ihn gewartet hatte, fuhr er fort.

Ehe er weit gefahren war, hielt der Kutscher an, um ihm mitzuteilen, daß er auf ihr gemeinschaftliches Verlangen den beiden Männern seinen Namen, seine Nummer und seine Adresse gegeben habe; auch die Adresse, wo Mr. Dorrit eingestiegen, die Stunde, wo man ihn von seinem Standort abgeholt, und den Weg, den er gemacht habe.

Dies trug gerade nicht dazu bei, den Eindruck, den dieses nächtliche Abenteuer auf Mr. Dorrit gemacht, abzuschwächen; die ganze Szene stand ihm lebhaft vor Augen, als er vor seinem Kamin saß und als er zu Bett ging. Die ganze Nacht verließ ihn das Bild des unheimlichen Hauses nicht; er sah, wie die beiden Männer unverdrossen warteten, hörte, wie die Frau mit der Schürze über dem Kopf wegen des Geräusches schrie, und erblickte die Leiche des vermißten Blandois bald in einem Keller begraben, bald in einer Wand vermauert.

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Ein Luftschloß.

Mannigfach sind die Sorgen des Reichtums und Glanzes. Mr. Dorrits Zufriedenheit bei dem Gedanken, daß er sich habe bei Clennam und Komp. nicht zu nennen brauchen und ebensowenig auf die Bekanntschaft mit einer zudringlichen Person dieses Namens hatte anspielen müssen, wurde am Abend, selbst während sie noch frisch war, von einem Kampf getrübt, der in ihm erwachte, ob er nämlich auf dem Rückweg an dem Marschallgefängnis vorbeifahren und sich das alte Tor ansehen sollte oder nicht. Er entschied, es nicht zu tun, und setzte den Kutscher durch seine Heftigkeit in Erstaunen, mit der er seinen Vorschlag zurückwies, über die Londonbrücke und dann auf die Waterloobrücke zurück über den Fluß zu fahren, – ein Weg, der ihn ganz in die Nähe seiner alten Wohnung gebracht hätte. Trotz alledem hatte die Frage einen Konflikt in seinem Innern hervorgerufen, und er war aus irgendeinem schlechten oder gar keinem Grunde unzufrieden mit sich. Selbst bei Tisch am andern Tage in Merdles Hause war er dadurch so verstimmt, daß er beständig wieder die Sache in seinem Innern hin und her wog, was ein Benehmen zur Folge hatte, das die gute Gesellschaft um ihn her verlegen machen mußte. Es überlief ihn heiß, wenn er daran dachte, was wohl die Meinung des Oberhaushofmeisters von ihm sein würde, wenn diese erlauchte Person mit ihrem lästigen Blick den Strom seiner Gedanken ermessen könnte.

Das Abschiedsbankett war prachtvoll und bildete einen höchst glänzenden Schluß seines Besuches. Fanny verband mit den Reizen ihrer Jugend und Schönheit ein gewisses gewichtiges Selbstbewußtsein, als wenn sie schon zwanzig Jahre verheiratet wäre. Er fühlte, daß er es ihr mit ruhigem Gefühl überlassen könne, die Pfade der vornehmen Welt zu betreten, und wünschte – aber ohne Verminderung seines Wohlwollens und ohne Vorurteil gegen die stilleren Tugenden seines Lieblings –, daß er noch eine solche Tochter hätte.

»Meine Liebe«, sagte er beim Scheiden zu ihr, »unsere Familie blickt auf dich – ha –, daß du ihre Würde und – hm – Bedeutung aufrechterhaltest. Ich weiß, du wirst diese Erwartung nie täuschen.«

»Nein, Papa«, sagte Fanny, »darauf darfst du vertrauen. Meine besten Grüße der lieben, lieben Amy, ich werde ihr bald schreiben.« »Soll ich – ha – sonst noch jemandem etwas ausrichten?« fragte Mr. Dorrit mit einschmeichelndem Ton.

»Papa«, sagte Fanny, vor der Mrs. General augenblicklich auftauchte, »nein, ich danke Ihnen. Sie sind sehr freundlich, Papa, aber ich muß um Entschuldigung bitten: ich habe niemandem etwas sagen zu lassen, ich danke Ihnen, lieber Papa, nichts, was Ihnen angenehm sein würde.«

Sie nahmen in einem äußern Salon voneinander Abschied, wo nur Mr. Sparkler auf seine Frau wartete und pflichtschuldig des Zeitpunktes harrte, wo er Mr. Dorrit die Hand schütteln konnte. Als Mr. Sparkler zu dieser Schlußaudienz zugelassen war, kam Mr. Merdle hereingeschlichen und machte den Eindruck, als wenn er nicht viel mehr Arme in seinen Ärmeln hätte denn ein Zwillingsbruder von Miß Biffin, und bestand darauf, Mr. Dorrit die Treppe hinabzugeleiten. Da alle Protestationen Mr. Dorrits vergeblich waren, genoß er die Ehre, von diesem ausgezeichneten Mann, der (wie Mr. Dorrit ihm unter Händeschütteln auf der Treppe sagte) ihn wirklich während seines unvergeßlichen Besuchs mit Aufmerksamkeiten und Diensten überhäuft hatte, bis an die Haustür begleitet zu werden. Hier schieden sie, und Mr. Dorrit stieg mit schwellendem Herzen in den Wagen, durchaus nicht unzufrieden, daß sein Kurier, der in den untern Regionen Abschied zu nehmen gekommen war, Gelegenheit erhalten hatte, Zeuge seiner ehrenvollen Abreise zu sein.

Die erwähnte Ehre ergoß noch ihren ganzen Glanz auf Mr. Dorrit, als er vor seinem Hotel abstieg. Von dem Kurier und einem halben Dutzend Bedienten des Hotels aus dem Wagen gehoben, ging er mit heiterem Gepränge durch die Vorhalle, als er ein Schauspiel erblickte, das ihn stumm und bewegungslos machte. John Chivery, in seinen besten Kleidern, mit seinem hohen Hut unter dem Arme, seinen Stock mit der Elfenbeinhand in gentiler Verlegenheit festhaltend und ein Bündel Zigarren in der Hand.

»Sehen Sie, junger Mann«, sagte der Portier. »Das ist der Herr. Dieser junge Mann wollte durchaus auf Sie warten, Sir, indem er behauptete, Sie würden sich freuen, ihn zu sehen.«

Mr. Dorrit stierte den jungen Mann an, würgte und sagte im mildesten Tone: »Ach! Der junge John! Sie sind es, mein lieber John, nicht wahr?«

»Ja, Sir«, versetzte der junge John.

»Ich – ha – dachte es doch, der junge John werde es sein!« sagte Mr. Dorrit. »Der junge Mann kann mit mir heraufkommen«, fuhr er, an die Dienerschaft gewandt, fort, indem er weiterging. »O ja, er soll nur heraufkommen. Der junge John soll mir folgen. Ich will oben mit ihm sprechen.«

Der junge John folgte lächelnd und sehr geschmeichelt. Man hatte Mr. Dorrits Zimmer erreicht. Lichter wurden angesteckt. Die Dienerschaft entfernte sich.

»Nun, Sir«, sagte Mr. Dorrit, indem er sich nach ihm umwandte und ihn am Rockkragen faßte, als sie ganz allein wahren. »Was soll das heißen?«

Das Erstaunen und der Schrecken, die sich auf dem Gesicht des unglücklichen John malten – denn er hatte eher erwartet, umarmt zu werden –, waren von so ungemein ausdrucksvoller Art, daß Mr. Dorrit seine Hand zurückzog und ihn bloß anstierte.

»Wie können Sie das wagen?« sagte Mr. Dorrit. »Wie können Sie sich herausnehmen, hierherzukommen? Wie wagen Sie es, mich zu beleidigen?«

»Ich Sie beleidigen, Sir?« rief der junge John. »Oh!«

»Ja, Sir«, versetzte Mr. Dorrit, »mich beleidigen. Ihr Hierherkommen ist eine Beleidigung, eine Impertinenz, eine Frechheit. Man hat Sie hier nicht verlangt. Wer schickte Sie? Was – ha – zum Teufel haben Sie hier zu tun?«

»Ich dachte, Sir«, sagte der junge John mit so blassem und erschrockenem Gesicht, als Mr. Dorrit je nur eines in seinem Leben gesehen, »ich dachte, Sie würden wohl die Güte haben, dieses Päckchen Zigarren anzunehmen.«

»Verdammt sei Ihr Päckchen, Sir!« rief Mr. Dorrit in nicht zu bezähmender Wut. »Ich – hm – rauche nicht!«

»Ich bitte Sie demütig um Verzeihung, Sir. Sie rauchten früher.«

»Sagen Sie mir das noch einmal«, rief Mr. Dorrit ganz außer sich, »und ich lasse Sie das Schüreisen fühlen.«

John Chivery trat den Rückzug nach der Tür an.

»Halt, Sir!« rief Mr. Dorrit. »Halt! Setzen Sie sich. Still, setzen Sie sich!«

John Chivery sank auf den neben der Tür stehenden Stuhl, und Mr. Dorrit ging im Zimmer auf und nieder: anfangs rasch; dann immer langsamer. Einmal trat er ans Fenster und stand dort mit der Stirn an der Scheibe. Plötzlich drehte er sich um und sagte:

»Was wollten Sie sonst noch hier?«

»Nichts in der Welt sonst, Sir. O Gott, wahrhaftig nicht. Ich wollte nur sagen, Sir, ich hoffe, daß Sie sich wohl befinden, und fragen, ob Miß Amy wohl ist?«

»Was geht das Sie an, Sir?« versetzte Mr. Dorrit.

»Es geht mich freilich von Rechts wegen nichts an. Ich will durchaus die Kluft, die zwischen uns ist, nicht ausfüllen. Ich weiß, daß ich mir etwas herausnehme, aber ich dachte nicht, daß Sie es so übel aufnehmen würden. Auf mein Ehrenwort, Sir«, sagte der junge John bewegt, »trotz meiner Armut bin ich zu stolz, als daß ich hierhergekommen wäre, wenn ich dies gewußt, das versichere ich Ihnen.«

Mr. Dorrit war beschämt. Er ging wieder an das Fenster und lehnte seine Stirn einige Zeit an die Scheibe. Als er sich umwandte, hatte er sein Taschentuch in seiner Hand und trocknete sich die Augen damit und sah angegriffen und unwohl aus. »Mein lieber John, ich bedaure, heftig gegen Sie gewesen zu sein, aber – ha – aber es gibt Erinnerungen, die nicht gerade zu den glücklichen zählen, und – hm – Sie hätten nicht kommen sollen.«

»Ich fühle das jetzt, Sir«, erwiderte John Chivery; »aber ich habe es nicht früher überlegt, und der Himmel weiß, ich habe es nicht böse gemeint, Sir.«

»Nein. Nein«, sagte Mr. Dorrit. »Ich – ha – bin davon überzeugt. Ha. Geben Sie mir die Hand, mein lieber John, geben Sie mir die Hand.«

Der junge John gab sie; aber Mr. Dorrit hatte ihm das Herz herausgeschreckt, und nichts konnte mehr den bleichen, entsetzten Ausdruck seines Gesichts ändern.

»So!« sagte Mr. Dorrit, ihm langsam die Hand schüttelnd. »Setzen Sie sich wieder, mein junger John.«

»Ich danke Ihnen, Sir, – aber ich möchte lieber stehen.«

Mr. Dorrit setzte sich statt dessen. Nachdem er seinen Kopf einen Augenblick, als wenn er ihn schmerzte, gehalten, wandte er sich an seinen Besuch und sagte, indem er sich Mühe gab, unbefangen zu erscheinen:

»Und wie geht es Ihrem Vater, lieber John? Wie – ha – geht es ihnen allen, lieber John?«

»Danke Ihnen, Sir. Sie befinden sich alle ziemlich wohl. Sie klagen über nichts.«

»Hm. Sie sind – hm –, wie ich sehe, noch in Ihrem alten Geschäft, John?« sagte Mr. Dorrit mit einem Blick auf das beleidigende Päckchen, das er verwünscht hatte.

»Zum Teil, Sir. Ich bin auch«, John zögerte ein wenig, »in meines Vaters Geschäft.«

»O, so!« sagt« Mr. Dorrit. »Sie – ha, hm – helfen ihm beim – ha –«

»Schließen, Sir? Ja, Sir.«

»Viel zu tun, John?«

»Ja, Sir; wir haben gegenwärtig ziemlich anstrengenden Dienst. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber wir haben meistens ziemlich anstrengenden Dienst.«

»Um diese Jahreszeit, lieber John?«

»Beinahe zu allen Zeiten des Jahres, Sir. Ich wüßte nicht, daß die Zeit großen Unterschied bei uns machte. Ich wünsche Ihnen gute Nacht, Sir.«

»Bleiben Sie einen Augenblick, John, – ha – bleiben Sie einen Augenblick. Hm. Lassen Sie mir die Zigarren, John, ich – ha – bitte.«

»Gern, Sir.« John legte sie mit zitternder Hand auf den Tisch.

»Bleiben Sie noch einen Augenblick, lieber John: bleiben Sie noch einen Augenblick. Es würde mir – ha – sehr angenehm sein, eine kleine – hm – Ehrengabe einem so sichern Boten zu übergeben, damit es – ha – hm – unter sie – sie – nach ihrem Bedürfnisse verteilt werde. Hätten Sie etwas dagegen?«

»Durchaus nicht, Sir. Gar viele, bin ich überzeugt, können es gut brauchen.«

»Ich danke Ihnen, John. Ich – ha – will es aufschreiben, John.«

Seine Hand zitterte so, daß er lange dazu brauchte und zuletzt die Anweisung nur ein unleserliches Gekritzel war. Sie betrug hundert Pfund. Er legte sie zusammen, übergab sie dem jungen John und drückte ihm die Hand.

»Ich hoffe. Sie werden – ha – vergessen – hm –, was geschehen ist, John.«

»Sprechen Sie doch nicht mehr davon, Sir. Ich hege durchaus keinen Groll.«

Aber nichts konnte, solange er hier war, Johns Gesicht seine natürliche Farbe und seinen gewöhnlichen Ausdruck wiedergeben oder John seine alle Ungezwungenheit verleihen.

»Und, John«, sagte Mr. Dorrit, indem er ihm die Hand noch einmal drückte und sie dann losließ, »ich hoffe – ha –, wir verstehen uns, daß wir im Vertrauen gesprochen haben; und daß Sie beim Weggehen unterlassen, irgend etwas zu jemand zu sagen, was – hm – auf die Vermutung führen könnte, daß – ha – ich einmal –«

»O, ich versichere Sie, Sir«, versetzte John Chivery, »ich bin trotz meiner Armut zu stolz und zu ehrenhaft, um so etwas zu tun.«

Mr. Dorrit war nicht zu stolz und zu ehrenhaft, an der Tür zu horchen, um sich zu versichern, ob John wirklich geradewegs fortgehe oder vorziehe, unten mit irgend jemandem ein Gespräch anzuknüpfen. Es ließ sich nicht bezweifeln, daß er geradeswegs zur Tür hinaus und raschen Schrittes die Straße hinabging. Nachdem er eine Stunde lang allein geblieben, läutete Mr. Dorrit dem Kurier, der ihn mit dem Stuhl an dem Kamin, den Rücken nach der Tür und das Gesicht dem Feuer zugekehrt, fand. »Sie können dies Bündel Zigarren nehmen und auf der Reise rauchen, wenn Sie wollen«, sagte Mr. Dorrit mit einer gleichgültigen Handbewegung. »Ha – ’s ist – hm – ein kleines Geschenk von – ha – dem Sohn eines alten Pächters auf meinen Gütern.«

Die Sonne des nächsten Morgens sah Mr. Dorrits Wagen auf der Straße von Dover, wo jeder rotbejackte Postillion das Schild eines grausamen Hauses war, das dazu eingerichtet worden war, die Reisenden unbarmherzig zu plündern. Da das ganze Geschäft des Menschengeschlechts zwischen London und Dover Freibeuterei war, so wurde Mr. Dorrit in Dartford angefallen, in Gravesend ausgeplündert, in Rochester beraubt, in Sittingbourne gepreßt und in Canterbury marodiert. Da es jedoch die Aufgabe des Kuriers war, ihn aus den Händen der Banditen zu befreien, so kaufte ihn dieser auf jeder Station los; und die Rotjacken ritten heiter glänzend durch die Frühlingslandschaft hin, im Takte zwischen Mr. Dorrit in seiner gemütlichen Ecke und der nächsten kalkigen Anhöhe der staubigen Landstraße auf und nieder humpelnd.

Die Sonne eines zweiten Tages sah ihn in Calais. Und da er jetzt den Kanal zwischen sich und John Chivery hatte, begann er sich sicher zu fühlen und zu finden, daß die fremde Luft sich leichter atmen lasse als die englische Luft.

Nun ging es weiter auf den kotigen französischen Straßen nach Paris. Da er jetzt sein volles Gleichgewicht des Geistes wiederhatte, so beschäftigte sich Mr. Dorrit in seiner gemütlichen Ecke mit Luftschlösserbauen, während er so dahinfuhr. Offenbar hatte er den Bau eines sehr großen Schlosses unternommen. Den ganzen Tag baute er Türme auf, trug er Türme ab, fügte hier einen Flügel an, setzte dort eine Zinne auf, sah nach den Mauern, verstärkte die Verteidigungswerke, brachte Verzierungen im Innern an – und machte in jeder Beziehung ein prachtvolles Schloß daraus. Sein sinnendes Gesicht verriet so deutlich, womit er beschäftigt war, daß jeder Krüppel in den Posthäusern, der nicht blind war und seine kleine verwetterte Zinnbüchse m den Wagen hereinhielt, um im Namen des Himmels, im Namen der heiligen Jungfrau, im Namen aller Heiligen eine Gabe zu erbitten, ebensogut wissen konnte, was in ihm vorging, als ihr Landsmann Lebrun es gewußt hätte, wenn er den englischen Reisenden zum Gegenstand einer speziellen physiognomischen Abhandlung gemacht hätte.

In Paris angelangt, wo er sich drei Tage aufhielt, wanderte Mr. Dorrit viel allein in den Straßen umher und blieb an den Ladenfenstern, besonders der Juweliere, stehen. Zuletzt ging er in den Laden des berühmtesten Juweliers und sagte, er wünsche ein kleines Geschenk für eine Dame zu kaufen.

Es war eine reizende kleine Frau, zu der er dies sagte – eine muntere kleine Frau, mit vorzüglichem Geschmack gekleidet, die aus einem grünen Samtkäfig hervorkam, um ihn zu bedienen, wo sie mit hübschen kleinen Rechnungsbüchern beschäftigt war, die kaum zum Eintragen eines andern Handelsartikels geeignet erschienen als Küsse, und wo sie vor einem hübschen kleinen und glänzenden Pult saß, das selbst schon wie Zuckerwerk aussah.

Welcher Art soll denn das Geschenk sein, das Monsieur machen wolle? Eine Liebesgabe?

Mr. Dorrit lächelte und sagte: Nun, vielleicht! Was wisse er? Es sei immerhin möglich: das Geschlecht sei so reizend. Ob sie ihm welche zeigen wolle?

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte die kleine Frau. Sie fühle sich geschmeichelt und sei entzückt, ihm viele vorlegen zu dürfen. Aber Verzeihung! Zuerst wolle sie bemerken, daß dies Liebesgabe und dies Hochzeitsgeschenke seien. Zum Beispiel diese reizenden Ohrringe und dies prächtig dazu passende Halsband würden eine Liebesgabe sein. Diese Broschen und diese Ringe von so anmutiger und himmlischer Schönheit möchte sie, mit des Herrn Erlaubnis, eine Hochzeitsgabe nennen. »Vielleicht wird es am besten sein«, meinte Mr. Dorrit lächelnd, »beide Sachen zu kaufen und die Liebesgaben zuerst und zuletzt die Hochzeitsgeschenke« zu überreichen?«

»O, Himmel!« sagte die kleine Frau, indem sie die Fingerspitzen ihrer beiden kleinen Hände aneinander legte. »Das wäre wirklich sehr edel. Das wäre eine große Galanterie! Und die Dame, die so mit Geschenken überhäuft würde, müßte Sie sicherlich unwiderstehlich finden.«

Mr. Dorrit war davon nicht überzeugt. Aber die muntere kleine Frau war davon überzeugt, wie sie sagte. So kaufte Mr. Dorrit ein Geschenk von jeder Art und bezahlte eine hübsche Summe dafür. Als er wieder nach seinem Hotel zurückging, trug er den Kopf sehr hoch; denn sein Schloß ragte jetzt offenbar weit höher empor als die beiden viereckigen Türme von Notre-Dame.

Aus allen Kräften fortbauend, aber die Pläne seines Schlosses ganz für sich behaltend, fuhr Mr. Dorrit nach Marseille weiter. Immer bauend, immer bauend, geschäftig und unermüdlich vom Morgen bis in die Nacht. Er schlief ein und ließ große Granitblöcke in der Luft schweben; und wenn er erwachte, machte er sich wieder an die Arbeit und brachte sie an ihren Platz. Unterdessen ließ der Kurier auf dem Bedientensitz, die besten Zigarren des jungen John rauchend, ein kleines Wölkchen dünnen, leichten Rauches hinter sich – vielleicht baute auch er mit einigen verlorenen Stücken von Mr. Dorrits Geld ein Schloß oder zwei.

Keine von den befestigten Städten, durch die sie auf ihrer ganzen Reise kamen, war so stark, keine Kathedralenspitze so hoch wie Mr. Dorrits Schloß.

Weder die Saone noch die Rhone flossen so rasch dahin, wie dieses unvergleichliche Gebäude erstand; auch war das Mittelländische Meer nicht so tief wie seine Fundamente, und die fernen Landschaften auf der Cornichestraße oder die Hügel und die Bucht des stolzen Genua waren nicht so schön.

Mr. Dorrit und sein unvergleichliches Schloß landeten unter den schmutzigen, weißen Häusern Civitavecchias und rumpelten dann, so gut es eben ging, durch den Schmutz, der die Straßen bedeckte.

Neunzehntes Kapitel


Neunzehntes Kapitel

Der Sturm auf das Luftschloß

Die Sonne war volle vier Stunden untergegangen, und es war später, als die meisten Reisenden sich gern außerhalb der Mauern von Rom befinden, als Mr. Dorrits Wagen immer noch auf der letzten mühsamen Station über die einsame Campagna hinrollte. Die wilden Hirten und die finster blickenden Bauern, die noch den Weg belebt und bunt gemacht hatten, solange es hell war, waren alle mit der Sonne zur Ruhe gegangen und ließen die Einöde leer. An einigen Ecken des Weges zeigte ein blasser Schimmer am Horizont, gleich einer Ausdünstung aus dem trümmerübersäten Land, daß die Stadt noch weit entfernt war; aber dieser dürftige Trost war selten und kurz. Der Wagen senkte sich wieder in ein Loch des schwarzen, trockenen Meeres, und für lange Zeit war wieder nichts zu sehen als die versteinerte Woge und der düstere Himmel.

Mr. Dorrit, obgleich er mit dem Bau seines Luftschlosses beschäftigt war, fühlte sich doch an diesem Ort nicht ganz behaglich. Er war bei jedem Umbiegen des Wagens und jedem Ruf des Postillions neugieriger als er auf dem ganzen Wege seit London gewesen. Der Kammerdiener auf dem Bock zitterte sichtlich. Dem Kurier Hintenauf war es nicht wohl zumute. Sooft Mr. Dorrit das Fenster herunterließ und sich nach ihm umsah (was sehr oft geschah), sah er ihn allerdings John Chivery rauchen, aber dabei zumeist stehen und sich umschauen wie ein Mann, der seinen Verdacht hat und auf seiner Hut bleibt. Dann zog Mr. Dorrit die Fenster wieder in die Höhe und dachte bei sich, diese Postillione seien mörderartig aussehende Kerle, und er würde besser daran getan haben, wenn er in Civitavecchia übernachtet und beizeiten morgens aufgebrochen wäre. Aber trotzdem baute er immer wieder an seinem Luftschloß.

Und jetzt zeigten Bruchstücke verfallener Einfassungen, gähnende Fensteröffnungen und morsche Mauern, öde Häuser, lecke Brunnen, geborstene Zisternen, gespenstische Zypressen, Büsche verschlungener Weinreben und der Übergang des Geleises in eine lange, unregelmäßige, unordentliche Gasse, wo alles im Verfall war, von den unansehnlichen Gebäuden bis zu dem holperigen Weg – all dies zeigte, daß sie sich Rom näherten. Und jetzt flößte ein plötzliches Ausbiegen und Anhalten des Wagens Mr. Dorrit die Besorgnis ein, daß nun der Straßenräuberaugenblick gekommen sei, um ihn in einen Graben zu schleppen und auszuplündern; bis er das Fenster wieder herunterließ und sah, daß ihm nichts Schlimmes den Weg versperrte als eine Leichenprozession, die ein undeutliches Schauspiel von schmutzigen Kleidern, flackernden Fackeln, geschwungenen Weihrauchpfannen und einem großen, vor einem Priester hergetragenen Kreuze entfaltete, mit mechanischer Gleichgültigkeit an ihm vorüberzog. Jener Priester war ein häßlicher Mann, wenn man ihn so bei Fackellicht sah, von finsterem Aussehen, mit vorstehender Stirn, und als seine Augen denen von Mr. Dorrit begegneten, der entblößten Hauptes zum Wagen heraussah, schienen die vom Singen bewegten Lippen diesem bedeutenden Reisenden zu drohen, auch die Bewegung seiner Hand, die nichts als die Erwiderung des Grußes des Reisenden war, schien diese Drohung zu unterstützen. So kam es wenigstens Mr. Dorrit vor, dessen Phantasie durch das ermüdende Bauen und Fahren aufgeregt war, als der Priester an ihm vorüberzog und die Prozession mit ihrer Leiche sich entfernte. Einen ganz andern Weg schlug Mr. Dorrit mit seinem Gefolge ein; und bald klopften sie mit ihrer Wagenladung von Luxuswaren aus den beiden großen Hauptstädten Europas (gleich umgekehrten Goten) an die Tore von Rom.

Mr. Dorrit wurde von seinen Leuten nicht mehr diese Nacht erwartet. Man hatte auf ihn gewartet, hatte es aber endlich bis zum andern Morgen verschoben, da man glaubte, er werde zu so später Nachtzeit nicht mehr in einem solchen Lande unterwegs sein. Als daher sein Wagen vor der Tür seines Hauses hielt, erschien niemand zu seinem Empfang als der Portier. Ob Miß Dorrit nicht zu Hause, fragte er. Doch, sie sei zu Hause. Gut, sagte Mr. Dorrit zu den herbeikommenden Dienern, sie sollten bleiben, wo sie wären, und den Wagen abladen helfen, er wolle Miß Dorrit selbst aufsuchen.

Er ging langsam und müde die große Treppe hinauf und blickte in verschiedene Zimmer, die leer waren, bis er Licht in einem kleinen Vorzimmer bemerkte.

Es war ein verhangener Raum wie ein Zelt, hinter dem sich zwei Zimmer befanden; er sah warm und hellfarbig aus, da er durch den dunklen Gang geschritten kam.

Der Eingang hatte eine Portiere, aber keine Tür, und als er hier stehenblieb und ungesehen hineinschaute, fühlte er einen Stich im Herzen. Wohl nicht aus Eifersucht? Warum auch Eifersucht? Es waren ja nur sein Bruder und seine Tochter drinnen; er hatte den Stuhl an den Kamin gerückt und genoß die Wärme des abendlichen Holzfeuers; sie saß an einem kleinen Tischchen und war mit einer Stickerei beschäftigt. Wenn man den großen Unterschied in der Umgebung des Bildes zugibt, so bleibt doch eine große Ähnlichkeit in den Personen, denn sein Bruder sah ihm ähnlich genug, um ihn für einen Augenblick vorstellen zu können. So hatte er manchen Abend an einem Steinkohlenfeuer in der alten Heimat gesessen, so hatte sie gesessen, ganz nur seinem Dienst geweiht. Und doch war in der alten, elenden Armut nichts, worauf man hätte eifersüchtig sein können. Woher dann dieser Stich im Herzen?

»Weißt du, Onkel, ich glaube, du wirst wieder jung.«

Ihr Onkel schüttelte den Kopf und sagte: »Seit wann, meine Liebe, seit wann?«

»Ich glaube«, versetzte Klein-Dorrit, fleißig mit der Nadel fortarbeitend, »daß du schon seit Wochen immer jünger wirst. So heiter, Onkel, und so munter und so teilnehmend an allem, was vorgeht!«

»Mein liebes Kind – das tust du mir alles.«

»Ich alles, Onkel?«

»Ja, ja. Du hast unendlich wohltätig auf mich eingewirkt. Du warst so rücksichtsvoll gegen mich und gingst so zart mit mir um und suchtest so zart mir deine Aufmerksamkeiten zu verbergen, daß ich – ja, ja, ja! Ich habe es in treuem Herzen bewahrt, gutes Kind, in treuem Herzen bewahrt.« »Aber, lieber Onkel, das phantasierst du dir nur alles so zusammen«, sagte Klein-Dorrit heiter.

»Ja, ja, ja!« murmelte der Alte. »Gott sei Dank!«

Sie hielt einen Augenblick mit ihrer Arbeit inne, um ihn anzusehen, und ihr Blick machte, daß der Stich in ihres Vaters Brust wieder schmerzte: in seiner armen, schwachen Brust, die so voll von Widersprüchen, Ungereimtheiten und Schwankungen, so voll von den kleinen armseligen Verlegenheiten dieses dunklen Lebens war, Nebeln, die der Morgen ohne Nacht allein verscheuchen kann.

»Ich konnte mein Herz offner vor dir ausschütten, mein Täubchen«, sagte der alte Mann, »seit wir allein sind. Ich sage allein, denn ich zähle Mrs. General nicht: ich kümmere mich nicht um sie: sie hat nichts mit mir zu schaffen. Aber ich weiß, Fanny hat keine Geduld mit mir. Und das wundert mich nicht, auch klage ich nicht darüber, denn ich fühle wohl, ich muß im Wege sein, obgleich ich mich so viel wie möglich seitab halte. Ich weiß, ich passe nicht in unsre Gesellschaft. Mein Bruder William«, sagte der alte Mann ganz von Bewunderung voll, »würde ein Umgang für Fürsten sein: aber mit deinem Onkel ist’s etwas anderes, mein Kind. Frederick Dorrit mehrt das Ansehen William Dorrits nicht, und er weiß es ganz wohl. Ach! Wie, da ist ja dein Vater, Amy! Mein lieber William, sei willkommen! Mein geliebter Bruder, ich freue mich herzlich, dich wiederzusehen!«

Als er sich während des Sprechens umgewandt, hatte er ihn auf der Schwelle stehen sehen.

Klein-Dorrit schlang mit einem Freudenschrei die Arme um ihres Vaters Hals und küßte ihn wieder und wieder. Ihr Vater war etwas ungeduldig und mißgestimmt. »Ich freue mich, dich endlich wiederzusehen, Amy«, sagte er. »Ha. Wirklich, ich freue mich, endlich – hm – irgend jemand zu finden, der mich empfängt. Ich scheine so wenig – ha – erwartet worden zu sein, daß ich wahrhaftig – ha – hm – zu glauben begann, es werde nötig sein, mich zu entschuldigen, daß ich – ha – mir die Freiheit nahm, überhaupt zurückzukommen.«

»Es war so spät, mein lieber William«, sagte sein Bruder, »daß wir die Hoffnung für heute nacht aufgegeben hatten.«

»Ich bin stärker als du, lieber Frederick«, versetzte sein Bruder mit einer gemachten Brüderlichkeit, in der mehr Strenge lag, »und ich hoffe, ich kann ohne Nachteil für meine Gesundheit – ha – zu jeder Stunde, wenn ich will, reisen.«

»Gewiß, gewiß«, versetzte der andere, besorgt, er möchte Anstoß gegeben haben. »Gewiß, William.«

»Ich danke dir, Amy«, fuhr Mr. Dorrit fort, während sie ihm die Schals abnehmen half, »ich kann es schon allein machen. Ich will – ha – dir keine Mühe verursachen, Amy. Könnte ich ein Stückchen Brot und ein Glas Wein haben, oder – hm – würde es zu viele Umstände machen?«

»Lieber Vater, du sollst dein Abendessen in wenigen Minuten haben.«

»Ich danke, mein liebes Kind«, sagte Mr. Dorrit mit vorwurfsvoller Kälte; »ich – ha – fürchte zu viele Umstände zu veranlassen. Hm. Mrs. General ganz wohl?«

»Mrs. General klagte über Kopfweh und Müdigkeit; sie ging deshalb zu Bett, als wir glaubten, du kämst nicht mehr, mein lieber Vater.«

Vielleicht dachte Mr. Dorrit, Mrs. General habe recht gehabt, wenn sie durch die Täuschung, die durch ein Nichtankommen verursacht worden, sich gedrückt gefühlt. Jedenfalls heiterte sich sein Gesicht auf, und er sagte mit offenbarer Befriedigung: »Bedaure außerordentlich zu hören, daß Mrs. General nicht wohl ist.«

Während dieses kurzen Gespräches hatte ihn seine Tochter mit etwas mehr als gewöhnlichem Interesse betrachtet. Es hatte den Anschein, als wenn er ihr verändert und schlechter aussehend vorkäme: er bemerkte es und nahm es empfindlich auf: denn er sagte, mit neuer Verdrießlichkeit, als er sich seines Reiserocks entledigt hatte und an das Feuer getreten war:

»Amy, wonach siehst du? Was siehst du an mir, das dich veranlaßt, deine – ha – besorgte Teilnahme mir in – hm – so eigentümlicher Weise zuzuwenden?«

»Ich wußte es nicht, Vater: ich bitte um Entschuldigung. Es beglückte meine Augen, dich wiederzusehen: das ist alles.«

»Sage nicht, das ist alles, weil – ha – das nicht alles ist. Du – hm – glaubst,« sagte Mr. Dorrit mit einer Emphase, in der eine Anklage lag, »daß ich nicht gut aussehe.«

»Ich dachte, du sähest etwas ermüdet aus, lieber Vater.«

»Dann täuschest du dich«, sagte Mr. Dorrit. »Ha, ich bin nicht müde. Ha, hm. Ich bin frischer, als ich war, als ich wegging.«

Er war so nahe daran, in Zorn auszubrechen, daß sie nichts mehr zu ihrer Verteidigung sagte, sondern ruhig neben ihm stehenblieb und seinen Arm umschlungen hielt. Als er so dastand, wahrend sein Bruder von der andern Seite ihn ansah, versank er in eine Träumerei von kaum einer Minute, aus der er plötzlich auffuhr.

»Frederick«, sagte er, sich zu seinem Bruder umwendend, »ich empfehle dir, augenblicklich zu Bett zu gehen.«

»Nein, William, ich will aufbleiben und dich zu Nacht speisen sehen.«

»Frederick«, versetzte er, »ich bitte dich, zu Bett zu gehen. Tue es mir zu Gefallen und gehe zu Bett. Du solltest schon lange zu Bett sein. Du bist sehr schwach.«

»Ha!« sagte der alte Mann, der keinen andern Wunsch hatte, als ihm zu Gefallen zu leben. »Ja, ja, ja! Das bin ich wohl.«

»Mein lieber Frederick«, versetzte Mr. Dorrit mit erstaunlicher Überlegenheit über die schwachen Kräfte seines Bruders, »es kann kein Zweifel darüber sein. Es ist sehr schmerzlich für mich, dich so schwach zu sehen. Ha. Es macht mir großen Kummer. Hm. Ich finde nicht, daß du wohl aussiehst. Du bist nicht für dergleichen Dinge gemacht. Du solltest ängstlicher auf deine Gesundheit bedacht sein, weit mehr auf deine Gesundheit bedacht sein.«

»Soll ich zu Bett gehen?« fragte Frederick.

»Lieber Frederick«, sagte Mr. Dorrit, »tue es, ich beschwöre dich! Gute Nacht, Bruder. Ich hoffe, du wirst dich morgen kräftiger fühlen. Dein Aussehen gefällt mir ganz und gar nicht. Gute Nacht, lieber Junge!« Nachdem er seinen Bruder auf diese freundliche Weise fortgeschickt, versank er wieder in ein träumerisches Sinnen, ehe der alte Mann noch zum Zimmer hinaus war; und er wäre über die Schwelle gestolpert, wenn seine Tochter ihn nicht gehalten hätte.

»Dein Onkel ist sehr verwirrt, Amy«, sagte er, als er aus seinem Sinnen erwachte. »Er spricht weniger zusammenhängend, und seine Konversation ist – hm – gebrochener, als ich es je – ha – hm – an ihm gekannt. Ist er unwohl gewesen, seit ich fort war?«

»Nein, Vater.«

»Du – ha – findest ihn doch auch sehr verändert. Amy?«

»Ich habe nichts bemerkt, Vater.«

»Er ist ganz gebrochen«, sagte Mr. Dorrit. »Ganz gebrochen. Mein armer liebevoller, schwacher Frederick! Ha. Wenn ich namentlich bedenke, was er früher war, so ist er jetzt – hm – traurig gebrochen.«

Sein Nachtessen, das ihm nunmehr gebracht und auf dem kleinen Tisch aufgestellt wurde, an dem er sie hatte arbeiten sehen, lenkte seine Aufmerksamkeit von dem bisherigen Gesprächsgegenstand etwas ab. Sie saß an seiner Seite wie in jenen früheren Tagen, zum ersten Male, seit jene Tage ihr Ende genommen. Sie waren allein, und sie reichte ihm die Speisen und schenkte ihm den Wein ein, wie sie es im Gefängnis zu tun gewohnt gewesen war. All dies geschah jetzt zum ersten Male, seit sie reich geworden. Sie fürchtete sich, ihn viel anzusehen, nachdem er Ärgernis daran genommen; aber sie beobachtete zweimal während des Essens, daß er sie ganz plötzlich ansah und sich dann umschaute, als wenn die Ideenverbindung so stark wäre, daß er sich durch seinen Gesichtssinn versichern müsse, sie seien nicht in dem alten Gefängnis. Beide Male legte er seine Hand an seinen Kopf, als vermißte er seine alte schwarze Mütze – obwohl diese schmählicherweise im Marschallgefängnis weggeschenkt und bis zu dieser Stunde nicht frei geworden, sondern noch immer auf dem Kopfe seines Nachfolgers im Hofe sich umhertrieb.

Er nahm sehr wenig zu sich, aber verweilte sehr lange beim Essen und kehrte oft auf den schwachen Zustand seines Bruders zurück. Obwohl er das größte Mitleid mit ihm aussprach, war er doch beinahe ärgerlich auf ihn. Er sagte, der arme Frederick – ha, – hm – fasle. Es gebe kein andres Wort dafür: fasle. Der arme Junge! Es war ein trauriger Gedanke, wenn man bedächte, was Amy von der unendlichen Langweiligkeit seiner Gesellschaft ausgestanden haben mußte – von der Gesellschaft dieses Mannes, der immerfort schwätze und fasle, der arme, gute, liebe Mensch, der immerfort fasle und schwatze – wenn sie nicht in Mrs. General eine Aufheiterung gefunden. Er bedauere sehr, wiederholte er dann mit der früheren Zufriedenheit, daß diese – ha – herrliche Frau unpäßlich sei.

Klein-Dorrit mit ihrer aufmerksamen Liebe würde sich des Geringsten, was er in jener Nacht sagte und tat, erinnert haben, obgleich sie später keinen Grund hatte, jene Nacht sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie erinnerte sich immer, daß wenn er unter dem starken Einfluß der Ideenverbindung des Jetzt und Ehemals umherblickte, er ihr und vielleicht sich selbst den Gedanken fernzuhalten suchte, indem er augenblicklich wieder von dem großen Reichtum und der vornehmen Gesellschaft sprach, mit der er während seiner Abwesenheit verkehrt, und von der hohen Stellung, die er und seine Familie zu behaupten hätten. Auch erinnerte sie sich deutlich, daß durch das ganze Gespräch und das ganze Benehmen ihres Vaters zwei Strömungen durchliefen, nämlich, daß er zeigen wollte, wie gut es ihm ohne sie gegangen, und wie unabhängig er von ihr sei, und daß er sich auf eine passende, zart andeutende Weise beklagte, es wäre möglich, sie hätte ihn, während er fortgewesen, vernachlässigt.

Seine Schilderung von der großartigen Stellung, die Mr. Merdle einnehme, und von dem Hofe, der sich vor ihm beuge, brachte ihn natürlich auf Mrs. Merdle. So natürlich, daß, obgleich ungewöhnlicher Mangel an Folgerichtigkeit in dem größern Teil seiner Bemerkungen sichtlich war, er plötzlich auf sie überging und fragte, wie sie sich befände.

»Sie ist ganz wohl. In nächster Woche geht sie fort.«

»Nach Hause?« fragte Mr. Dorrit.

»Nachdem sie sich einige Wochen unterwegs aufgehalten habe.«

»Sie wird ein großer Verlust für die hiesige Gesellschaft sein«, sagte Mr. Dorrit. »Ein großer Gewinn für die Heimat. Für Fanny und – hm – die übrige – ha – große Welt.«

Klein-Dorrit dachte an den Wetteifer, der nun beginnen sollte, und stimmte außerordentlich sanft zu.

»Mrs. Merdle will eine große Abschiedsgesellschaft geben, lieber Vater, der ein Diner vorangehen soll. Sie drückte ihre Besorgnis aus, du möchtest nicht mehr zur rechten Zeit eintreffen. Sie hat dich und mich zu ihrem Diner eingeladen.«

»Sie ist – ha – sehr freundlich. Wann soll es stattfinden?«

»Übermorgen.«

»Schreibe ihr morgen und sage, daß ich zurückgekehrt sei und mich sehr – hm – freue.«

»Darf ich dich die Treppe hinauf in dein Zimmer begleiten, lieber Vater?«

»Nein!« antwortete er, ärgerlich sich umsehend: denn er ging weg, als wenn er das Abschiednehmen vergäße. »Du sollst nicht, Amy! Ich brauche keine Hilfe. Ich bin dein Vater, nicht dein gebrechlicher Onkel!« Er unterbrach sich ebenso plötzlich, als er diese Antwort gegeben hatte, und sagte: »Du hast mich nicht geküßt, Amy. Gute Nacht, liebes Kind! Wir müssen dich nun verheiraten – ha – dich verheiraten.« Mit diesen Worten ging er langsam und müde die Treppe hinauf nach seinen Zimmern, und beinahe sofort, als er dort angekommen, entließ er seinen Kammerdiener. Die nächste Sorge war, nach seinen Pariser Einkäufen zu sehen und, nachdem er ihre Kapseln geöffnet und sie genau in Augenschein genommen hatte, sie unter Schloß und Riegel zu legen. Darauf sank er, halb dösend, halb Schlösser bauend, auf lange Zeit in träumerisches Sinnen, so daß bereits ein leichter Morgenschimmer den östlichen Rand der öden Campagna umsäumte, als er in das Bett kroch.

Mrs. General ließ sich am nächsten Tag frühzeitig nach seinem Befinden erkundigen: sie hoffe, er habe nach seiner anstrengenden Reise wohl geruht. Er ließ ihr danken und bat Mrs. General zu versichern, daß er vortrefflich geschlafen und sich außerordentlich wohl befinde. Nichtsdestoweniger verließ er seine Zimmer erst spät am Nachmittag, und obgleich er sich für eine Fahrt mit Mrs. General und seiner Tochter prachtvoll ankleiden ließ, reichte doch seine äußere Erscheinung nicht an die Beschreibung, die er von sich machte.

Da die Familie an diesem Tage keine Besuche hatte, speisten die vier Familienmitglieder allein zusammen. Er führte Mrs. General mit ungeheurer Zeremonie an den Platz zu seiner Rechten, und Klein-Dorrit bemerkte unwillkürlich, als sie mit ihrem Onkel folgte, daß er wieder mit ausgesuchtem Geschmack gekleidet, und daß sein Benehmen gegen Mrs. General ganz eigentümlicher Art war. Die vollendete Bildung des Äußern dieser vollkommenen Dame machte es schwierig, ein Atom von ihrer feinen Politur zu verrücken, aber Klein-Dorrit glaubte in einer Ecke ihres frostigen Auges ein flüchtiges Auftauen des Triumphes zu gewahren.

Trotz des prunischen und prismatischen Charakters des Familienbanketts, wie wir jenen in diesem Roman bezeichnen wollen, schlief Mr. Dorrit mehrere Male im Verlauf des Diners ein. Seine Anfälle von Schlummer waren so plötzlich, als sie es in der Nachtzeit vor Schlafengehen waren, und auch so kurz und tief. Als ihn zum erstenmal ein solcher Schlummer überfiel, war Mrs. General etwas erstaunt, aber bei jeder Wiederholung dieses Symptoms betete sie ihren höflichen Rosenkranz, der aus den Worten: Papa, Potateos, Poultry, Prunes und Prism bestand: und indem sie äußerst langsam dieses unfehlbare Mittel anwandte, schien sie mit ihrem Rosenkranz beinahe im selben Augenblick zu Ende zu kommen, als Mr. Dorrit aus seinem Schlafe auffuhr.

Er bemerkte wieder eine Neigung zur Schlafsucht bei Frederick (die außerhalb seiner Phantasie jedoch nicht existierte) und entschuldigte nach dem Diner, als Frederick weggegangen, im Vertrauen den armen Mann bei Mrs. General. »Der ehrenwerteste und liebevollste Bruder, den man sich denken kann«, sagte er, »aber –- ha, hm – ganz gebrochen. Ein großes Unglück, er wird immer schwächer.«

»Mr. Frederick, Sir«, sagte Mrs. General, »ist gewöhnlich abwesend und gedrückt, aber lassen Sie uns hoffen, daß es nicht so schlimm mit ihm steht.«

Mr. Dorrit war jedoch entschlossen, ihn nicht aufkommen zu lassen. »Er wird sichtlich schwächer. Ein Wrack. Eine Ruine. Er fällt vor unsern Augen zusammen. Hm. Der gute Frederick.«

»Sie haben hoffentlich Mrs. Sparkler wohl und glücklich verlassen?« sagte Mrs. General, nachdem sie Frederick einen kühlen Seufzer gewidmet.

»Umgeben«, versetzte Mr. Dorrit, »von allem – ha –, was die Sinne erfreuen und – hm – den Geist erheben kann. Ganz glücklich, meine Verehrte, im Besitze eines – ha – Gatten.«

Mrs. General wurde etwas verlegen; sie schien das Wort zart mit ihren Handschuhen wegzuschieben, als wenn sie nicht wüßte, wie man dazu kommt.

»Fanny«, fuhr Mr. Dorrit fort, »Fanny, Mrs. General, hat bedeutende Eigenschaften. Ha. Ehrgeiz – hm –, festen Charakter, Bewußtsein – ha – ihrer Stellung, Entschlossenheit, diese Stellung zu wahren – ha, hm –, Anmut, Schönheit und angeborene Noblesse.«

»Ganz gewiß«, sagte Mrs. General mit einer kleinen Extrasteifheit.

»In Verbindung mit diesen Eigenschaften, Madame«, sagte Mr. Dorrit, »hat Fanny – ha – einen Fehler an den Tag gelegt, der mir sehr – hm – unangenehm war und – ha –, ich muß hinzufügen, mich ärgerlich machte; der jedoch als abgemacht zu betrachten sein dürfte, sogar was sie selbst betrifft, und unzweifelhaft auch – ha –, was andere betrifft – getilgt ist.«

»Worauf, Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, während ihre Handschuhe wieder etwas in Aufregung kamen, »worauf können Sie anspielen? Ich weiß nicht –«

»Sagen Sie das nicht, meine Verehrte«, unterbrach sie Mr. Dorrit.

Mrs. Generals Stimme erstarb in den Worten: »Ich weiß nicht, was ich mir denken soll.«

Mr. Dorrit überkam wieder ein Schlummer von ungefähr einer Minute, aus dem er mit krampfhafter Schnelligkeit erwachte.

»Ich meine, Mrs. General, jenen – ha – starken Oppositionsgeist, oder – hm – ich möchte sagen – ha – jene Eifersucht bei Fanny, die bisweilen gegen dieses Gefühl – ha – aufgetaucht, das ich von den Ansprüchen hege, die die Dame, mit der ich jetzt zu sprechen die Ehre habe, machen könnte.«

»Mr. Dorrit«, versetzte Mrs. General, »ist stets zu gütig gegen mich, schlägt meine Verdienste stets zu hoch an. Wenn es Augenblicke gab, wo ich mir einbildete, Miß Dorrit sei ungehalten über die günstige Meinung, die Mr. Dorrit von meinen Diensten habe, so fand ich eben in dieser nur zu hohen Meinung meinen Trost und Lohn.«

»Meinung von Ihren Diensten, Madame?« sagte Mr. Dorrit.

»Von meinen Diensten«, wiederholte Mrs. General in zarter und eindrucksvoller Weise.

»Von Ihren Diensten allein, meine Teure?« sagte Mr. Dorrit.

»Ich denke wohl«, versetzte Mrs. General in ihrer früheren eindrucksvollen Weise, »von meinen Diensten allein. Denn wem sonst«, sagte Mrs. General mit einer flüchtig fragenden Bewegung ihrer Handschuhe, »könnte ich die Schuld geben –?«

»Ihnen selbst, Mrs. General. Ha, hm. Ihnen selbst und Ihren Verdiensten«, lautete Mr. Dorrits Antwort.

»Mr. Dorrit wird mir verzeihen«, sagte Mrs. General, »wenn ich die Bemerkung mache, daß jetzt nicht die Zeit und dies nicht der Ort ist, dieses Gespräch fortzusetzen. Mr. Dorrit wird mich entschuldigen, wenn ich ihn daran erinnere, daß sich Miß Dorrit im anstoßenden Zimmer befindet, und daß ich sie sehen kann, während ich ihren Namen ausspreche. Mr. Dorrit wird mir verzeihen, wenn ich bemerke, daß ich aufgeregt bin und daß ich finde, es gibt Augenblicke, wo die Schwache, die ich überwunden zu haben glaubte, sich mit verdoppelter Kraft wieder geltend macht. Mr. Dorrit wird mir erlauben, mich zu entfernen.«

»Hm. Vielleicht nehmen wir ein andermal diese – ha – interessante Unterhaltung wieder auf«, sagte Mr. Dorrit: »wenn sie nicht etwa, was ich nicht hoffe, irgendwie Mrs. General – ha – unangenehm wäre.«

»Mr. Dorrit«, sagte Mrs. General, ihre Blicke niederschlagend, während sie mit einer Verbeugung aufstand, »wird mich stets zu seinen Diensten finden.«

Mrs. General entfernte sich in pomphafter Weise und nicht mit jenem Grade von Zittern, den man bei einer minder bedeutenden Person wohl gefunden hätte. Mr. Dorrit, der seinen Teil am Gespräch mit einer gewissen majestätischen und bewundernden Herablassung vorgebracht hatte – ganz wie man manche Leute in der Kirche ihren Teil am Gottesdienst verrichten sieht –, erschien im ganzen sehr zufrieden mit sich und auch mit Mrs. General. Bei der Rückkehr dieser Dame zum Tee hatte sie sich mit etwas Puder und Pomade aufgebessert und war gleicherweise auch moralisch in etwas gesteigerter Stimmung! das letztere zeigte sich in der sanften wohlwollenden Art ihres Benehmens gegen Miß Dorrit und in der Äußerung zärtlichen Interesses für Mr. Dorrit, soweit sich dies mit dem strengen Anstand vertrug. Am Schluß des Abends, als sie aufstand, um sich zu entfernen, nahm Mr. Dorrit sie bei der Hand, als wollte er sie hinaus auf die Piazza del Popolo führen, um ein Menuett mit ihr beim Mondenschein zu tanzen, und brachte sie mit großer Feierlichkeit nach der Zimmertür, wo «r ihre Knöchel an seine Lippen hob. Nachdem er mit einem, wir dürfen wohl sagen, ziemlich knochigen Kuß von kosmetischem Duft sich von ihr verabschiedet hatte, gab er seiner Tochter seinen freundlichen Segen. Und nachdem er auf diese Weise angedeutet, daß etwas Wichtiges im Anzüge sei, ging er wieder zu Bett.

Er blieb am nächsten Morgen wieder auf seinem Zimmer für sich abgeschlossen: aber früh am Nachmittag schickte er seine besten Empfehlungen an Mrs. General durch Mr. Tinkler und bat, sie möchte Miß Dorrit auf einem Spaziergang ohne ihn begleiten. Seine Tochter war für Mrs. Merdles Diner angekleidet, ehe er erschien. Endlich zeigte er sich in strahlendem Glänze, was seinen Anzug betrifft, im übrigen aber sah er unbeschreiblich gebrochen und alt aus. Da er jedoch offenbar entschlossen war, ärgerlich zu werden, wenn sie ihn fragte, wie er sich befände, so wagte sie es nur, seine Wange zu küssen, ehe sie ihn mit ängstlichem Herzen zu Mrs. Merdle begleitete.

Die Entfernung bis zum Hause derselben war sehr kurz: aber er war wieder an seinem Luftschlösserbauen, ehe der Wagen die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Mrs. Merdle empfing ihn mit großer Auszeichnung. Der Busen befand sich im allerbesten Wohlsein und war höchst zufrieden mit sich: das Diner war außerordentlich fein und die Gesellschaft sehr erlesen.

Sie bestand meist aus Engländern, mit Ausnahme des gewöhnlichen französischen Grafen und der gewöhnlichen italienischen Marchese – dekorativen sozialen Meilensteinen, die man immer an gewissen Orten trifft und die im Äußern wenig voneinander variieren. Der Tisch war lang, und das Diner dauerte lange, und Klein-Dorrit, überschattet von einem großen schwarzen Backenbart und einer großen weißen Krawatte, verlor ihren Vater ganz aus dem Gesicht, bis ein Diener ein Stückchen Papier ihr in die Hand steckte und ihr im Auftrag von Mrs. Merdle zuflüsterte, sie möchte dies augenblicklich lesen. Mrs. Merdle hatte mit Bleistift darauf geschrieben: »Bitte, kommen Sie und sprechen Sie mit Mr. Dorrit. Ich glaube, er ist nicht ganz wohl.«

Sie eilte unbemerkt zu ihm hin, als er sich aus seinem Stuhl erhob und, sich über den Tisch hinüberbeugend, ihr, in der Meinung, sie sei noch an ihrem Platze, zurief:

»Amy, Amy, mein Kind!«

Diese Handlung war so ungewöhnlich, ganz abgesehen von seinem seltsam aufgeregten Aussehen und seiner seltsam hohen Stimme, daß augenblicklich tiefe Stille eintrat. »Meine liebe Amy«, wiederholte er. »Willst du nachsehen, ob Bob heute das Schließeramt hat?«

Sie war nun an seiner Seite, aber er glaubte immer noch in seinem Wahn, sie sitze an ihrem Platze, und rief, über die Tafel hinübergelehnt: »Amy, Amy. Ich fühle mich nicht ganz Herr meiner selbst. Ha. Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich wünsche besonders Bob zu sehen. Ha. Von allen Schließern ist er ebensosehr mein Freund wie der deine. Sieh, ob Bob im Schließerstübchen ist, und bitte ihn, zu mir zu kommen.«

Alle Gäste waren konsterniert und standen auf.

»Lieber Vater, ich bin nicht dort: ich bin hier, bei dir.«

»Oh! Du bist hier, Amy! Gut. Hm. Gut. Ha. Rufe Bob. Wenn er abgelöst wurde und nicht am Tor ist, so sage Mrs. Bangham, sie möchte gehen und ihn holen.«

Sie suchte ihn freundlich wegzuführen; aber er widerstand und wollte nicht gehen.

»Ich sage dir, Kind«, rief er trotzig, »ich kann die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen. Ha. Schick‘ nach Bob. Hm. Schick‘ nach Bob, Hm. Schick‘ nach Bob – dem besten aller Schließer – schick‘ nach Bob!«

Er sah sich verlegen um, und als er bemerkte, von welcher Menge von Gesichtern er umgeben war, redete er sie folgendermaßen an:

»Ladies und Gentlemen, es ist – ha – meine Pflicht – hm –, Sie im Marschallgefängnis willkommen zu heißen. Willkommen im Marschallgefängnis! Der Raum ist – ha – beschränkt – beschränkt – der Spazierplatz könnte größer sein; aber Sie werden ihn sichtlich mit der Zeit weiter werden sehen – mit der Zeit, Ladies und Gentlemen, und die Luft ist, im ganzen genommen, sehr gut. Sie kommt über die – ha – Surreyhügel herüber. Weht über die Surreyhügel herüber. Das ist die Snuggery. Hm. Unterhalten durch eine kleine Subskription der – ha – Kollegiatenkörperschaft. Dafür hat man heißes Wasser – gemeinschaftliche Küche – und kleine häusliche Vorteile. Die Habitués des – ha – Marschallgefängnisses nennen mich gern den Vater. Ich bin daran gewöhnt, daß Fremde dem – ha – Vater des Marschallgefängnisses ihre Aufwartung machen. Und wirklich, wenn jahrelanger Aufenthalt in demselben auf einen solchen Ehrentitel ein Anrecht geben kann, so darf ich diese – hm – Auszeichnung annehmen. Mein Kind, Ladies und Gentlemen, meine Tochter, hier geboren!«

Sie schämte sich deswegen nicht, noch seinethalben. Sie war blaß und erschrocken; aber sie hatte keine andere Sorge, als ihn zu besänftigen und ihn um seiner selbst willen fortzubringen. Sie stand zwischen ihm und den erstaunten Gesichtern und drehte sich zu ihm herum, indem sie die Augen zu ihm erhob. Er hielt sie mit seinem linken Arm umschlungen, und zuweilen hörte man sie mit ihrer sanften Stimme ihn zärtlich bitten, mit ihr wegzugehen.

»Hier geboren«, wiederholte er unter Tränen. »Ladies und Gentlemen, meine Tochter. Kind eines unglücklichen Vaters, aber – ha – doch eines Gentleman. Arm, freilich, aber – hm – stolz. Immer stolz. Es wurde eine – hm – nicht ungewöhnliche Sitte unter – ha – meinen persönlichen Verehrern – sich das Vergnügen zu machen, mir ihren Wunsch auszudrücken, meiner halboffiziellen Stellung hier ihre Huldigung durch die Anerbietung eines kleinen Tributs darzubringen, der gewöhnlich die Form von – ha – Ehrengeschenken – Ehrengeschenken in Geld annahm. In der Annahme dieser – ha – freiwilligen Anerkennung meiner schwachen Bemühungen, einen – ha – Ton hier aufrechtzuerhalten einen Ton – bitte mich wohl zu verstehen, halte ich mich nicht für kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Nicht kompromittiert. Ha. Kein Bettler. Nein, ich weise diesen Titel zurück! Zu gleicher Zeit sei es fern von mir – hm –, auf die zarten Gefühle, von denen meine parteiischen Freunde geleitet waren, den mindesten Verdacht fallen zu lassen, als wenn – hm – solche Gaben nicht außerordentlich annehmbar wären. Im Gegenteil, sie sind äußerst annehmbar. In meines Kindes Namen, wenn auch nicht meinem, muß ich dies energisch behaupten, indem ich zu gleicher Zeit – ha –- meine persönliche Würde bewahre. Ladies und Gentlemen, Gott segne Sie alle!«

Inzwischen hatte die furchtbare Kränkung, die der Busen erdulden mußte, den größern Teil der Gesellschaft veranlaßt, in andre Zimmer zu gehen. Die wenigen, die so lange geblieben waren, folgten den übrigen, und Klein-Dorrit und ihr Vater waren mit der Dienerschaft allein noch im Zimmer. »Liebster, bester Vater, willst du jetzt nicht mit mir gehen, nicht?« Er antwortete auf ihre dringende Bitte, er werde die engen Treppen nicht ohne Bob hinaufkommen; wo Bob sei, ob niemand Bob holen wolle! Unter dem Vorwand, nach Bob zu sehen, brachte sie ihn hinaus; sie mußte dabei an der nun hereinströmenden glänzenden Gesellschaft vorbei, die zu der Abendunterhaltung eingeladen war; sie setzte ihn in einen Wagen, der eben hielt, und führte ihn nach Hause.

Die breiten Treppen seines römischen Palastes waren in seinen gebrochenen Augen zu den engen Treppen seines Londoner Gefängnisses zusammengeschrumpft, und er würde sich von niemand haben anrühren lassen als von ihr und seinem Bruder. Sie brachten ihn ohne Hilfe in sein Zimmer hinauf und legten ihn auf sein Bett. Und von diesem Augenblick war in seinem gelähmten Geist, der sich nur noch des Ortes erinnerte, wo er seine Schwingen gebrochen, der Traum verwischt, durch den er sich seit jener Zeit getastet, und er wußte von nichts mehr als vom Marschallgefängnis. Wenn er Tritte auf der Straße hörte, hielt er sie für die alten traurigen Schritte auf dem Hof. Wenn die Stunde zum Schließen kam, glaubte er, alle Fremden seien nun für die Nacht ausgeschlossen. Wenn dann wieder die Stunde zum Öffnen kam, wollte er um jeden Preis Bob sehen, so daß sie genötigt waren, eine Geschichte zu erfinden, wie dieser Bob, der edle Schließer, der seit vielen Jahren tot war, sich erkältet habe – aber morgen oder den nächsten Tag oder den übernächsten wieder ausgehen zu können hoffe.

Er wurde so außerordentlich schwach, daß er seine Hand nicht aufheben konnte. Aber er ließ seinem Bruder, wie er es seit lange gewohnt war, seine Nachsicht angedeihen und sagte wohl fünfzigmal am Tage, wenn er ihn an seinem Bett stehen sah, mit wohlwollender Teilnahme: »Nein, guter Frederick, setze dich. Du bist wirklich sehr schwach.«

Sie versuchten es mit Mrs. General, ihm sein früheres klares Bewußtsein zu geben, aber er hatte nicht die geringste Ahnung von ihr. Ein beleidigender Verdacht schlich sich sogar in sein Gehirn, sie wolle nämlich Mrs. Bangham ersetzen und sei dem Trunk ergeben. Er machte ihr in maßlosen Ausdrücken Vorwürfe darüber und drang so ungestüm in seine Tochter, sie solle zum Marschall gehen und ihn bitten, sie hinauszuschaffen, daß man sie nach diesem ersten mißlungenen Versuche nicht mehr zum Vorschein brachte.

Mit Ausnahme der einmaligen Frage, ›ob Tip in die Stadt gegangen sei‹, schien er keine Erinnerung an seine beiden abwesenden Kinder zu haben. Aber das Kind, das so viel für ihn getan und so armselig dafür belohnt worden, verlor sich keinen Augenblick aus seinem Gedächtnis. Nicht, daß er sie geschont hätte oder fürchtete, sie möchte durch das Wachen und die Anstrengung sich aufreiben; er machte sich darüber so wenig Sorgen wie gewöhnlich. Nein, er liebte sie auf seine alte Weise. Sie waren wieder im Gefängnis, und sie pflegte ihn, und er bedurfte ihrer beständig und konnte sich nicht ohne sie hin und her wenden; er sagte ihr bisweilen, daß er gern viel um ihretwillen gelitten. Sie aber beugte sich mit ihrem stillen Gesicht zu ihm herab und hätte ihr eigenes Leben hingegeben, wenn sie das seine damit hätte wieder anfachen können.

Als er auf diese schmerzlose Weise zwei bis drei Tage lang an Kräften abgenommen, bemerkte sie, daß ihn das Ticken seiner Uhr inkommodiere – einer prachtvollen goldenen Uhr, die viel Lärm mit ihrem Gehen machte, wie wenn sonst nichts ginge als sie und die Zeit. Sie ließ sie ablaufen; aber er war immer noch unruhig und gab zu verstehen, daß es das nicht gewesen, was er gewollt. Endlich raffte er sich soweit auf, um zu erklären, daß er Geld auf diese Uhr aufgenommen zu wissen wünsche. Er war sehr angenehm berührt, als sie vorgab, sie zu diesem Zweck fortzunehmen, und er fand von da ab die kleinen Delikatessen von Wein und Gelee weit besser als früher.

Er gab bald deutlich zu verstehen, daß das seinem Wunsche gemäß sei: denn er schickte ein oder zwei Tage später seine Hemdenknöpfe und Fingerringe fort. Es gewährte ihm eine ganz erstaunliche

Mr. Dorrits Tod.

Befriedigung, wenn er ihr diese Aufträge erteilt, und schien sie wie die methodischsten und vorsorglichsten Anordnungen, die man treffen könnte, zu betrachten. Nachdem seine Kleinodien oder zum mindesten diejenigen, die er davon zu sehen imstande, versetzt waren, zogen seine Kleider seine Aufmerksamkeit auf sich; und es ist so wahrscheinlich wie nicht, daß ihn einige Tage die Befriedigung am Leben erhielt, sie Stück für Stück zu einem eingebildeten Pfandleiher zu schicken.

So beugte sich Klein-Dorrit zehn Tage lang über sein Kissen und legte ihre Wange an die seine. Bisweilen war sie so erschöpft, daß sie beide einige Minuten lang schliefen. Dann erwachte sie wieder, um mit rasch fließenden stillen Tränen zu bedenken, was sie mit ihrem Gesicht berührte, und über das geliebte Gesicht auf dem Pfühl einen dunklern Schatten ziehen zu sehen, als der Schatten der Mauer des Marschallgefängnisses.

Leise und unmerklich verschwammen alle Linien des Plans zu dem großen Schlosse, eine nach der andern. Unmerklich wurde das Gesicht, auf dem sich diese Linien kreuz und quer gezogen hatten, glatt und schön. Unmerklich verschwanden die Schatten der Gefängnisgitter und der Zickzackstacheln auf dem Mauerfirst. Unmerklich wurde das Gesicht zu einem weit jüngeren Ebenbild ihres eigenen, als sie es sonst unter dem grauen Haar zu sehen gewöhnt war, und schlief endlich zur ewigen Ruhe ein.

Anfangs war ihr Oheim ganz verstört, »O, mein Bruder! O, William, William! Du gehst mir voran, du gehst allein. Du sollst gehen, und ich soll bleiben. Du, der so viel höher stand. Du ein so ausgezeichneter, vornehmer Charakter, und ich eine arme, nutzlose Kreatur, die zu nichts taugt und die niemand vermißt haben würde!«

Das tat ihr für den Augenblick soweit gut, als sie an ihn denken, ihm eine Stütze sein mußte. »Onkel, lieber Onkel, schon dich, schone mich!«

Der alte Mann war nicht taub für die letzten Worte. Als er sich zusammenzunehmen anfing, tat er es, um sie zu schonen. Er kümmerte sich nicht um sie; aber mit der ganzen Kraft, die seinem ehrlichen Herzen noch übrigblieb, dem Herzen, das so lange geschlummert und nun aufwachte, um gebrochen zu werden, ehrte und segnete er sie.

»O Gott!« rief er, ehe sie das Zimmer verließen, indem er seine runzlichen Hände über ihr faltete. »Du siehst dieses Kind meines teuren verstorbenen Bruders. Alles, was ich mit meinen halbblinden und sündigen Augen gesehen, hast du klar und hell erkannt. Nicht ein Haar ihres Hauptes soll vor dir gekrümmt werden. Du wirst sie aufrechterhalten bis zu ihrer letzten Stunde. Und ich weiß, du wirst sie belohnen in der andern Welt!«

Sie blieben in einem schwach erleuchteten Zimmer, bis es beinahe Mitternacht war, und saßen still und traurig beisammen. Bisweilen suchte sein Schmerz Erleichterung in einem Ausbruch, gleich jenem, in dem er zuerst seinen Ausdruck gefunden; aber außer daß die Kraft, die er noch besaß, solchen Anstrengungen nicht mehr standhalten konnte, erinnerte er sich auch stets wieder ihrer Worte, machte sich Vorwürfe und beruhigte sich. Die einzige Äußerung, mit der er seinem Kummer Luft machte, war der häufige Ausruf, daß sein Bruder allein von der Erde geschieden, daß sie beim Eingang ihres Lebens zusammengewesen, daß sie zusammen ins Unglück geraten, daß sie in den langen Jahren ihrer langen Armut zusammengehalten, daß sie bis auf den heutigen Tag zusammengeblieben, und daß dieser Bruder dennoch allein, allein von hinnen gegangen.

Sie schieden mit schwerem und kummervollem Herzen. Sie wollte ihn erst in seinem eigenen Zimmer verlassen, und sie sah ihn sich in seinen Kleidern auf das Bett legen und deckte ihn mit eignen Händen zu. Dann sank sie auf ihr Bett und fiel in einen tiefen Schlaf: den Schlaf der Erschöpfung und Ruhe, obgleich nicht vollständig befreit von einem alles durchdringenden Schmerzbewußtsein. Schlafe, gute Klein-Dorrit. Schlafe die Nacht hindurch!

Es war Mondnacht; aber der Mond ging spät auf, da der Vollmond längst vorüber. Als er hoch an dem friedlichen Firmament stand, schien er durch halbgeschlossene Jalousien in das feierlich stille Gemach, wo die unsicheren Schritte und Tritte eines Lebens vor so kurzer Zeit stillgestanden. Zwei stumme Gestalten waren im Zimmer; zwei Gestalten, gleich still und regungslos, gleich entfernt durch einen unüberschreitbaren Raum von der fruchtbaren Erde und allem, was sie birgt, obgleich sie bald in ihr liegen werden.

Eine Gestalt ruhte auf dem Bett. Die andere kniete auf dem Boden und war über sie gesunken; die Arme ruhten leicht und friedlich auf der Bettdecke; das Gesicht war herabgesunken, so daß die Lippen die Hand berührten, über die sein letzter Atem sich gebeugt hatte. Die beiden Brüder standen vor ihrem Vater, weit erhaben über dem dämmerartigen Urteil der Welt; hoch über ihren Nebeln und Finsternissen.

Zweites Kapitel.


Zweites Kapitel.

Mrs. General.

Es ist unerläßlich, die vollendete Dame vorzustellen, die bedeutend genug im Gefolge der Familie Dorrit war, um ihre eigne Linie im Fremdenbuch zu haben.

Mrs. General war die Tochter eines geistlichen Würdenträgers an einem Bischofssitz, wo sie den Ton angegeben, bis sie so nahe an fünfundvierzig war, wie es eine einzelne Dame sein kann. Ein steifer Kommissariatsbeamter von sechzig Jahren, bekannt als ein Mann, der auf strenge Zucht hielt, verliebte sich zu dieser Zeit in die Anstandsgefühle, die sie vierspännig durch die Bischofsstadt kutschierte, und hatte darum angehalten, neben ihr seinen Sitz auf dem Zeremonienwagen nehmen zu dürfen, an den dieses Gespann geschirrt war. Nachdem sein Heiratsantrag von der Dame angenommen worden, nahm der Beamte seinen Sitz hinter den Anstandsgefühlen mit großer Ehrbarkeit ein, und Mrs. General lenkte die Zügel, bis er starb. Im Verlauf ihrer gemeinsamen Reisen überfuhren sie verschiedene Leute, die den Anstandsgefühlen in den Weg kamen; aber immer großartig und mit äußerster Ruhe.

Nachdem der Kommissariatsbeamte mit allem dem Dienst entsprechenden Aufwande begraben worden (das ganze Gespann von Anstandsgefühlen war an seinen Leichenwagen geschirrt, und sie hatten alle Federn und schwarze Samtschabracken mit seinem Wappenschild in der Ecke), begann Mrs. General nachzuprüfen, welche Masse Staub und Asche bei den Bankiers deponiert sei. Es wurde ruchbar, daß der Kommissariatsbeamte in der Stille Mrs. General zuvorgekommen und sich einige Jahre vor der Hochzeit eine Leibrente gekauft, welchen Umstand er verschwiegen hatte, indem er zur Zeit seiner Bewerbung vorgab, sein Einkommen datiere von den Zinsen seines Vermögens. Mrs. General sah infolgedessen ihre Mittel so verringert, daß, wenn sie nicht mit ihrem Verstande sehr im reinen gewesen, sie sich hätte veranlaßt fühlen können, die Richtigkeit des Teiles der Leichenrede zu bezweifeln, der behauptete, der Kommissariatsbeamte könne nichts mit sich hinübernehmen.

In dieser Lage kam Mrs. General auf den Gedanken, sie wolle sich der »Geistesbildung« und gesellschaftlichen Erziehung einer jungen vornehmen Dame widmen. Oder auch die Anstandsgefühle an den Wagen einer reichen jungen Erbin oder einer Witwe schirren und zu gleicher Zeit Kutscher und Schaffner eines solchen Fuhrwerks durch die sozialen Irrgänge werden. Die Mitteilung, die Mrs. General ihren geistlichen und kommissariatlichen Bekanntschaften von dieser Idee machte, fand so warmen Beifall, daß, wenn die Verdienste der Dame nicht so außer allem Zweifel gestanden hätten, die Vermutung nahegelegen wäre, man wolle sie los werden. Zeugnisse, die Mrs. General als ein Wunder von Frömmigkeit, Gelehrsamkeit, Tugend und feiner Lebensart schilderten, wurden von einflußreichen Quartieren verschwenderisch beigesteuert, und ein ehrwürdiger Archidiakon vergoß sogar Tränen, wenn er an sein Zeugnis über die Vollkommenheiten (die ihm von Leuten, auf die er sich verlassen konnte, geschildert wurden) dachte, obgleich er nie in seinem ganzen Leben die Ehre und den sittlichen Genuß gehabt, seine Blicke auf Mrs. General ruhen zu lassen.

So gleichsam von Kirche und Staat zu ihrer Mission beordert, fühlte sich Mrs. General, die immer auf vornehmem Boden gewandelt, in der Lage, diesen zu behaupten, und begann damit, ein sehr stolzes Gesicht zur Schau zu tragen. Es trat eine Zwischenzeit von einiger Dauer ein, während der nicht auf Mrs. General geboten wurde. Endlich eröffnete ein gräflicher Witwer mit einer Tochter von vierzehn Jahren Unterhandlungen mit der Dame, und da es entweder im Charakter der angeborenen Würde oder der künstlichen Politik von Mrs. General lag (sicher jedoch eines von beiden), sich dabei zu benehmen, als wäre sie weit mehr die Gesuchte, denn die Suchende, verfolgte der Witwer Mrs. General, bis es ihm gelang, sie zu bewegen, seiner Tochter Geist und Sitten beizubringen.

Die Durchführung dieser Aufgabe beschäftigte Mrs. General ungefähr sieben Jahre. Währenddessen machte sie die Tour durch Europa und sah den größten Teil jenes umfangreichen Durcheinanders von Dingen, die wesentlich jeder Mensch von seiner Bildung mit den Augen andrer Leute und niemals mit den seinen sehen sollte. Als ihre Aufgabe endlich gelöst war, hatte sich nicht nur die junge Dame, sondern gleicherweise auch ihr Vater, der Witwer, zum Heiraten entschlossen. Der Witwer, der nun Mrs. General unbequem und kostspielig zu finden begann, wurde beinahe ebenso vernarrt in ihre Verdienste, als es der Archidiakonus gewesen, und verbreitete solche Lobeserhebungen ihres ausnehmenden Wertes in allen Quartieren, wo er glaubte, es könne sich eine Gelegenheit bieten, ihren Segen auf jemand andern zu übertragen, daß Mrs. General ein geschätzterer Name denn je war.

Der Phönix stand auf dieser erhabenen Stange zu vermieten, als Mr. Dorrit, der in jüngster Zeit in den Besitz seiner Erbschaft gekommen war, seinen Bankiers gegenüber erwähnte, er wünsche eine feingebildete, gesittete, mit der guten Gesellschaft bekannte und vertraute Dame zu finden, die geeignet wäre, zu gleicher Zeit die Erziehung seiner Töchter zu übernehmen und als Ehrendame oder Anstandswauwau zu dienen. Mr. Dorrits Bankiers, als die Bankiers des gräflichen Witwers, sagten augenblicklich: »Mrs. General.«

Dem Lichte folgend, das ihm so glücklich aufgegangen, und das einstimmige Urteil der ganzen Bekanntschaft von Mrs. General so erhaben findend, wie wir bereits erwähnt, nahm sich Mr. Dorrit die Mühe, sich nach der Grafschaft des gräflichen Witwers zu begeben und Mrs. General kennenzulernen, in der er eine Dame fand, die seine höchsten Erwartungen übertraf. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Mr. Dorrit, »wenn ich Sie frage – ha – welche Belohn –«

»Nein,« versetzte Mrs. General, ihn unterbrechend, »das ist eine Sache, auf die ich lieber nicht eingehen möchte. Ich habe nie darüber mit meinen Freunden hier verhandelt, und ich kann die Delikatesse, mit der ich diese Sache stets betrachtet, Mr. Dorrit, nicht überwinden. Ich bin keine Gouvernante, wie Sie bemerkt haben werden –«

»O, gewiß nicht!« sagte Mr. Dorrit. »Bitte, Madame, glauben Sie nicht einen Augenblick, daß ich so etwas denke.« Er errötete wirklich, daß man ihn habe in solchem Verdacht haben können.

Mrs. General neigte feierlich den Kopf. »Ich kann deshalb nicht einen Preis auf Dienste setzen, die ich mit Vergnügen leiste, wenn ich sie freiwillig leisten kann, die ich jedoch als Ersatz unter keiner Bedingung zu leisten imstande wäre. Auch weiß ich nicht, wie und wo ich einen Fall finden sollte, der dem meinen ähnlich wäre. Er ist einzig in seiner Art.«

»Allerdings. Aber wie sollte man denn«, bemerkte Mr. Dorrit ganz natürlich, »die Sache anfangen?«

»Ich kann nichts dagegen einwenden,« sagte Mrs. General, »obgleich selbst das mir unangenehm ist, wenn Mr. Dorrit im Vertrauen meine Freunde fragt, wieviel sie vierteljährlich an meine Bankiers auszubezahlen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verbeugte sich zustimmend.

»Erlauben Sie mir, hinzuzufügen,« sagte Mrs. General, »daß ich mich nicht weiter auf dieses Kapitel einlassen werde. Ferner, daß ich keine zweite oder untergeordnete Stellung einnehmen kann. Wenn mir die Ehre zuteil würde, Mr. Dorrits Familie kennenzulernen – ich glaube, von zwei Töchtern war die Rede?«

»Zwei Töchter.«

»So könnte ich es nur unter der Bedingung vollkommener Gleichheit, als Gesellschafterin, Beschützerin, Mentor und Freundin annehmen.«

Mr. Dorrit kam es trotz des Bewußtseins seiner Würde vor, als ob es wirklich eine Freundlichkeit wäre, wenn sie es überhaupt unter irgendeiner Bedingung annähme. Er ließ dies beinahe in seinen Worten merken.

»Ich glaube,« wiederholte Mrs. General, »von zwei Töchtern war die Rede.«

»Zwei Töchter,« sagte Mr. Dorrit wieder.

»Es würde deshalb nötig sein,« sagte Mrs. General, »ein Drittel mehr zu der Summe hinzuzufügen (wie groß immer ihr Betrag auch sein mag), die meine Freunde hier bei meinen Bankiers niederzulegen gewohnt waren.«

Mr. Dorrit verlor keine Zeit, die delikate Frage dem gräflichen Witwer vorzulegen, und da er fand, daß dieser gewohnt war, jährlich dreihundert Pfund an die Bankiers von Mrs. General zu bezahlen, kam er, ohne seine Arithmetik besonders anzustrengen, zu dem Resultat, daß er vier bezahlen müsse. Da Mrs. General ein Artikel von jener glänzenden Außenseite war, der einen glauben macht, daß sie jeden Preises wert sei, so machte er ihr den förmlichen Antrag, ihm zu gestatten, sie als ein Glied seiner Familie zu betrachten. Mrs. General bewilligte das stolze Privilegium und gehörte von nun an zur Familie.

Persönlich war Mrs. General, mit Einschluß ihrer Toiletten, die eine bedeutende Rolle dabei spielten, von würdiger, imposanter Erscheinung: groß, rauschend und sehr umfangreich; beständig aufrecht hinter ihren Anstandsgefühlen. Man hätte sie nach den Höhen der Alpen und den Tiefen von Herkulanum mitnehmen können, und nahm sie auch mit, ohne daß eine Falte ihres Kleides aus der Ordnung gekommen oder eine Stecknadel verrückt worden wäre. Wenn ihr Gesicht und ihr Haar ein ziemlich mehliges Aussehen hatten, als wenn dies vom Aufenthalt in einer außerordentlich eleganten Mühle käme, so war dies eher darum der Fall, weil sie überhaupt eine kreidige Natur, als weil sie ihre Gesichtsfarbe mit Veilchenpulver aufbesserte oder grau geworden war. Wenn ihre Augen keinen Ausdruck besaßen, so war dies wohl deshalb der Fall, weil sie nichts auszudrücken hatten. Wenn sie wenig Runzeln besaß, so war es, weil ihr Geist nie seinen Namen oder eine Inschrift auf ihr Gesicht gezeichnet. Eine kalte, wachsartige, ausgelöschte Person, die niemals gut geleuchtet hatte.

Mrs. General hatte keine Meinungen. Ihre Art, einen Geist zu bilden, war die, daß sie ihn hütete, sich Meinungen zu bilden. Sie hatte eine kleine Anzahl kreisförmiger geistiger Rinnen oder Schienen, auf denen sie kleine Züge von andrer Leute Meinungen führte, die sich niemals überholten und nie irgendwohin kamen. Selbst ihr Anstandsgefühl konnte nicht bestreiten, daß es Unanständigkeit in der Welt gebe; aber Mrs. Generals Art, sich davon loszumachen, war, dergleichen aus dem Gesichtskreis zu rücken und glauben zu lassen, daß das gar nicht existiere. Dies war eine zweite Art, wie sie den Geist bildete – alle schwierigen Dinge in Schränke zu kramen, diese zuzuschließen und zu behaupten, sie existierten nicht. Es war die leichteste Art und ohne Vergleich die anständigste.

Mrs. General konnte nichts Angreifendes hören. Unglücksfälle, Jammer und Mißhandlungen durften nie vor ihr erwähnt werden. Leidenschaft schlief gewöhnlich in Mrs. Generals Gegenwart ein und Blut ging in Milch und Wasser über. Das wenige zu firnissen und zu beschönigen, was in der Welt übrigblieb, wenn man alle diese Abzüge gemacht, war Mrs. Generals Aufgabe. In diesem ihrem Bildungsprozeß tauchte sie den kleinsten Pinsel in den größten Topf und firnißte die Oberfläche aller Dinge, die in Betracht kamen. Je mehr Risse eine Sache hatte, desto mehr firnißte sie.

Es war Firnis in Mrs. Generals Stimme, Firnis in Mrs. Generals Berührung, eine Firnisatmosphäre um Mrs. Generals Gestalt. Mrs. Generals Träume waren sicher gefirnißt – wenn sie welche hatte –, als sie in den Armen des guten hl. Bernhard schlief, während der federige Schnee auf seinen Hausgiebel fiel.

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

Einleitung zum nächsten

Die Passagiere stiegen vom Paketboot an dem Hafendamm von Calais aus. Calais war ein niedrigliegender und niederdrückender Ort in diesem Augenblick, wo die Ebbe aus ihrem niedrigsten Punkte stand. Es war auf der Barre nur noch so viel Wasser, um das Paketboot hereinzulassen; und nun sah die Barre selbst, während eine seichte Brandung sich darüber hinwälzte, wie ein träges, eben an die Oberfläche gekommenes Seeungeheuer aus, dessen Gestalt nur undeutlich zu unterscheiden war, während es so schlafend dalag. Der hagere, ganz weiße Leuchtturm, der wie ein Gespenst am Meeresufer umging, als wäre er der Geist eines Gebäudes, das einst Farbe und Rundung gehabt, weinte melancholische Tränen, wenn die See gegen ihn angestürmt. Die langen Reihen nackter, schwarzer Pfähle, schleimig und naß und wasserzerfressen, mit Leichenkränzen von Seetang, die die letzte Flut ihnen umgewunden, hätten einen unheimlich aussehenden Meereskirchhof vorstellen können. Jeder wellenumbrauste, windumsauste Gegenstand erschien unter dem weiten, grauen Himmel, in dem Lärm von Wind und Meer und vor den krausen Gestalten der Brandung, die sich wild an ihnen brach, so niedrig und klein, daß man sich wundern mußte, daß es überhaupt noch ein Calais gab und daß seine niedrigen Tore und niedrigen Mauern und niedrigen Dächer und niedrigen Gräben und niedrigen Dünen und niedrigen Festungsgräben und flachen Straßen nicht längst der unterwühlenden und belagernden See zur Beute geworden wie die Festungen, die die Kinder am Meeresufer bauen.

Nach vielfachem Ausgleiten zwischen schleimigen Pfählen und Planken, vielfachem Stolpern auf nassen Treppen und mancher Überwindung der Schwierigkeiten, die das Salzwasser bot, traten die Passagiere ihre trostlose Wanderung über den Hafendamm an, wo alle französischen Vagabunden und englischen Flüchtlinge der Stadt (die Hälfte der Bevölkerung) sie erwarteten, um sie von ihrer Verwirrung sich nicht erholen zu lassen. Nachdem alle Engländer sie aufmerksam besichtigt und alle Franzosen als Beute in Anspruch genommen und sich streitig gemacht und endlich Beschlag auf sie gelegt hatten, durften sie, nachdem sie ein meilenlanges Handgemenge durchgemacht hatten, endlich die Straßen betreten und hitzig verfolgt ihre verschiedenen Richtungen einschlagen.

Clennam, den mehr als eine Sorge in Anspruch nahm, war unter diesen Opfern. Nachdem er die Wehrlosesten unter seinen Landsleuten aus dieser äußerst peinlichen Lage befreit hatte, ging er allein seines Weges oder eigentlich so allein, wie es möglich war, verfolgt von einem eingeborenen Herrn in einem schmierigen Anzug und einer Mütze von derselben Beschaffenheit, der ihm in einer Entfernung von fünfzig Schritt nacheilte und ihm beständig in geradebrechtem Englisch nachrief: »Sir! Sir! halten Sie! Ich führe Sie nach dem schönsten Hotel!«

Aber selbst dieser gastfreundliche Mann mußte zuletzt zurückbleiben, und Clennam setzte seinen Weg unbelästigt fort. Die Stadt hatte ein ruhiges, stilles Aussehen nach dem Lärm des Kanals und des Strandes, und die Öde hatte im Vergleich damit sogar etwas Angenehmes. Er begegnete neuen Gruppen seiner Landsleute, die alle ein wucherpflanzenartiges Aussehen hatten, als wenn sie einmal zu stark geblüht hätten, wie gewisse ungesunde Arten von Blumen, und wären nun reines Unkraut; sie hatten den Anstrich, als wenn sie Tag für Tag in einem beschränkten Raum die Runde machten, was ihn stark an das Marschallgefängnis erinnerte. Aber ohne weiter Notiz von ihnen zu nehmen, als genügte, um diesen Gedanken in ihm wachzurufen, suchte er eine gewisse Straße und Hausnummer auf, die er im Kopfe hatte.

»Pancks nannte mir dies«, murmelte er vor sich hin, als er vor einem düstern Hause stillhielt, das mit seiner Adresse korrespondierte. »Ich denke, seine Weisung wird richtig sein und seine Entdeckung unter Mr. Casbys zerstreuten Papieren unbestreitbar, sonst würde ich dies schwerlich für das richtige Haus gehalten haben.«

Ein totes Haus mit einer kahlen Mauer gegenüber und einem öden Torweg an der Seite, wo ein hängender Glockengriff ein totes Geklingel und ein Klopfer ein totes, mattes Geklopf hervorbrachte, das nicht kräftig genug zu sein schien, um selbst durch die geborstene Tür durchzudringen. Die Tür ging jedoch langsam durch eine tote Springfeder auf, und er schloß sie hinter sich, als er in einen stillen Hof trat, den bald eine andere kahle Wand abschloß, an der man den Versuch gemacht, einige Schlinggewächse emporzuziehen, die jedoch abgestorben waren; auch hatte man einen kleinen Springbrunnen in einer Grotte angelegt, er war jedoch vertrocknet; die kleine Statuette, die man darauf angebracht, war zerbrochen.

Der Eingang in dies Haus war zur Linken und war wie der äußere Torweg mit zwei gedruckten Anschlägen in französischer und englischer Sprache geschmückt, die meldeten, daß hier augenblicklich möblierte Zimmer zu vermieten seien. Eine kräftige, muntere Bauerfrau, ganz Strumpf, Unterrock, weiße Mütze und Ohrring, stand hier in einem dunklen Torweg und sagte, indem sie ihre hübschen, weißen Zähne zeigte, in gebrochenem Englisch: »Was gibt es, Sir? Wen rufen Sie?«

Elennam antwortete auf französisch: Die englische Dame, er wünsche die englische Dame zu sprechen.

»So treten Sie ein und kommen Sie herauf, wenn’s gefällig«, versetzte die Bäuerin jetzt gleichfalls französisch. Er tat beides und folgte ihr eine dunkle kahle Treppe hinauf nach einem hinteren Zimmer des ersten Stocks. Hier hatte man eine düstere Aussicht auf den stillen Hof und die abgestorbenen Schlinggewächse und den vertrockneten Springbrunnen und das Piedestal der zerbrochenen Statuette.

»Monsieur Blandois«, sagte Elennam.

»Mit Vergnügen, Monsieur.«

Darauf entfernte sich die Frau und ließ ihm Zeit, sich in dem Zimmer umzusehen. Es war das Muster eines Zimmers, wie sie in solchen Häusern immer zu finden sind. Kühl, düster und dunkel. Ein gebohnerter, sehr glatter Boden. Ein Zimmer, nicht groß genug, um darin Schlittschuh zu laufen; und ungeeignet zum bequemen Betrieb einer andern Beschäftigung. Rot und weiß verhangene Fenster, eine kleine Strohmatte, ein kleiner runder Tisch mit einer wirren Masse von Beinen, plumpe Strohstühle, zwei große, rotsamtne Armstühle, in denen Platz genug war, um sich unbehaglich zu fühlen, ein Schreibtisch, ein Kaminspiegel aus mehreren Stücken zusammengesetzt, der sich aber das Ansehen gab, als wäre er aus einem Stück, ein paar übertrieben glänzende Vasen mit äußerst künstlichen Blumen: zwischen ihnen ein griechischer Krieger mit abgenommenem Helm, der dem Genius Frankreichs eine Uhr opfert.

Nach einer kurzen Pause ging eine Nebentür auf und eine Dame trat ein. Sie legte großes Erstaunen an den Tag, als sie Clennam sah, und ihr Blick lief im Zimmer umher, als ob sie noch jemand suche.

»Verzeihen Sie, Miß Wade. Ich bin allein.«

»Man hat mir doch nicht Ihren Namen gemeldet?«

»Nein; ich weiß das. Entschuldigen Sie mich. Ich habe bereits die Erfahrung gehabt, daß mein Name Sie nicht gerade sehr zu einer Unterredung mit mir geneigt macht; und ich wagte, den Namen eines Mannes nennen zu lassen, den ich suche.«

»Bitte«, versetzte sie, indem sie ihm so kalt einen Stuhl anbot, daß er stehenblieb, »unter welchem Namen ließen Sie sich melden?«

»Unter dem Namen Blandois.«

»Blandois?«

»Ein Name, den Sie kennen.«

»Es ist seltsam«, sagte sie, indem sie ihre Stirn runzelte, »daß Sie beständig ein Interesse an mir und meinen Bekanntschaften, an mir und meinen Angelegenheiten nehmen, das man gar nicht von Ihnen heischt, Mr. Clennam. Ich weiß nicht, was Sie wollen.«

»Verzeihen Sie. Sie kennen jenen Namen?«

»Was können Sie mit dem Namen zu schaffen haben? Was kann ich mit dem Namen zu schaffen haben? Was geht es Sie an, ob ich irgendeinen Namen kenne oder nicht? Ich kenne viele Namen und habe noch mehr vergessen. Dieser kann zu der einen oder zu der andern Klasse gehören, oder ich habe ihn vielleicht auch nie vernommen. Ich kenne keinen Grund, warum ich mich darüber besinnen oder mich nach ihm fragen lassen sollte.«

»Wenn Sie mir erlauben wollen«, sagte Clennam, »so werde ich Ihnen den Grund sagen, weshalb ich mich mit so großem Eifer danach erkundige. Ich gebe zu, daß ich zudringlich bin, und ich muß Sie sehr ernstlich um Verzeihung bitten, daß ich es bin. Der Grund rührt ganz von mir her. Ich will durchaus nicht andeuten, daß es irgendwie Ihretwegen geschähe.«

»Gut, Sir«, versetzte sie, indem sie etwas weniger stolz als zuvor ihre frühere Aufforderung, sich zu setzen, wiederholte; – er gehorchte ihr diesmal, da sie das gleiche tat. »Ich freue mich wenigstens zu erfahren, daß es sich nicht abermals um eine Sklavin eines Ihrer Freunde handelt, die nicht frei wählen darf und die ich weggelockt habe. Ich will Ihren Grund hören, wenn’s gefällig ist.«

»Um bei der Person zu bleiben, von der wir sprechen«, sagte Clennam, »lassen Sie mich bemerken, daß es dieselbe Person ist, die Sie vor einiger Zeit in London trafen. Sie werden sich erinnern, es war unweit des Flusses – in Adelphi.«

»Sie mischen sich auf ganz unerklärliche Weise in meine Geschäfte«, antwortete sie und sah ihn mit strenger Unzufriedenheit an. »Wie wissen Sie das?«

»Ich bitte Sie, es nicht übelzunehmen. Durch reinen Zufall.«

»Wie durch Zufall?«

»Durch den einfachen Zufall, daß ich in der Straße hinter Ihnen drein ging und Zeuge der Zusammenkunft war.«

»Sprechen Sie von sich selbst oder von sonst jemand?«

»Von mir selbst. Ich sah es.«

»Allerdings war es auf offener Straße«, bemerkte sie, nachdem sie einige Augenblicke nachgedacht und ihr Ärger nachgelassen hatte, »fünfzig Leute hätten es sehen können. Es würde nichts ausgemacht haben.«

»Ich lege auch keine Bedeutung darauf, es gesehen zu haben; ebensowenig bringe ich meinen Besuch (außer als eine Erklärung, daß ich überhaupt hierherkomme) oder die Gunst, die ich mir von Ihnen zu erbitten habe, in irgendwelche Verbindung damit.«

»Oh! Sie haben von mir eine Gunst zu erbitten! Es dünkt mich«, und das schöne Gesicht sah ihn bitter an, »als wenn Sie milder geworden wären, Mr. Clennam.«

Er begnügte sich, mit einer leichten Handbewegung dagegen zu protestieren, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Dann erwähnte er Blandois‘ Verschwinden, von dem sie wahrscheinlich gehört hätte? Nein. So unwahrscheinlich es ihn auch dünken möge, habe sie doch nichts davon gehört. Er möge sich umsehen (sagte sie) und selbst urteilen, wie eine allgemeine Kunde zu dem Ohr einer Frau dringen könne, die hier, ganz ihrem Schmerze lebend, wohne. Als sie diese Verneinung ausgesprochen, an deren Wahrheit er glaubte, fragte sie ihn, was es mit dem Verschwinden für eine Bewandtnis habe? Dies veranlaßte ihn, die Umstände ausführlich zu erzählen, und seinen lebhaften Wunsch zu erkennen zu geben, zu erfahren, was wirklich aus dem Mann geworden, um den schwarzen Verdacht zu verscheuchen, der auf seiner Mutter Haus lastete. Sie hörte ihn mit sichtlichem Staunen an und verriet mehr heimliche Teilnahme, als er bisher an ihr bemerkt hatte; aber dennoch änderte sich dadurch nichts Wesentliches in ihrem fernhaltenden, stolzen und verschlossenen Wesen. Als er zu Ende war, sagte sie nichts als die Worte:

»Sie haben mir noch nicht gesagt, was die Sache mich angeht und welche Gunst Sie von mir fordern. Wollen Sie die Güte haben, jetzt darauf zu kommen?«

»Ich setze voraus«, sagte Arthur, noch immer bemüht, ihr verächtliches stolzes Benehmen zu besänftigen, »daß, da Sie im Verkehr – darf ich sagen, im vertrauten Verkehr? – mit dieser Person stehen –«

»Sie können natürlich sagen, was Ihnen beliebt«, bemerkte sie, »aber ich unterschreibe Ihre Voraussetzungen nicht, Mr. Clennam, so wenig wie die jedes andern.«

»– daß, da Sie wenigstens im persönlichen Verkehr mit ihm stehen«, sagte Clennam, seine Worte anders stellend, um einem neuen Widerspruch zu begegnen, »Sie mir etwas von seinem früheren Tun und Treiben, seinen Erlebnissen, seinem gewöhnlichen Wohnorte werden sagen können, daß Sie mir eine Andeutung an die Hand geben können, um ihn am ehesten aufzufinden und ihn entweder herbeizuschaffen oder nachzuweisen, was aus ihm geworden ist. Das ist die Gefälligkeit, die ich mir von Ihnen erbitte, und ich erbitte sie in einer Seelenpein, auf die Sie einige Rücksicht nehmen werden. Wenn Sie irgendeinen Grund haben, mir Bedingungen aufzuerlegen, so werde ich ihn achten, ohne weiter danach zu fragen.«

»Sie haben mich zufällig mit dem Manne auf der Straße gesehen«, bemerkte sie, nachdem sie sehr zu seinem Verdruß sich offenbar mehr mit ihren eigenen Gedanken über diese Sache als mit seiner Bitte beschäftigt hatte. »Sie kannten also den Mann früher?«

»Nicht früher: ich lernte ihn erst später kennen. Ich habe ihn nie zuvor gesehen, aber ich sah ihn wieder in jener Nacht, als er verschwunden ist. Wirklich in meiner Mutter Hause. Dort verließ ich ihn. Sie werden in diesem Blatt alles finden, was von ihm bekannt ist.«

Er übergab ihr einen der gedruckten Zettel, den sie mit ruhigem und aufmerksamem Gesicht las.

»Das ist mehr, als ich von ihm wußte«, sagte sie und gab das Blatt zurück.

Clennams Blick gab seine schmerzliche Enttäuschung zu erkennen, vielleicht sogar seinen Unglauben; denn sie fügte in dem gleichen teilnahmslosen Tone hinzu: »Sie glauben es nicht. Und doch ist dem so. Was den persönlichen Verkehr betrifft, so scheint es mir, daß er im persönlichen Verkehr mit Ihrer Mutter stand: Und dennoch sagen Sie, Sie glaubten ihrer Erklärung, daß sie nicht mehr von ihm wisse.«

Es lag ein so deutlicher Verdacht in diesen Worten und dem Lächeln, das sie begleitete, daß Clennam das Blut in die Wangen schoß.

»Nun, Sir«, sagte sie mit einem grausamen Vergnügen den Stich wiederholend, »ich will offen gegen Sie sein, wie Sie nur immer wünschen mögen. Ich will gestehen, daß, wenn mir etwas an meinem Ruf läge (was nicht der Fall ist) oder ich mir einen guten Namen zu erhalten hätte (was wieder nicht der Fall ist, denn es ist außerordentlich gleichgültig, ob er für gut oder schlecht gilt), so würde ich mich für schwer kompromittiert halten, daß ich irgend etwas mit diesem Menschen zu tun gehabt habe. Aber er schritt nie über meine Schwelle – noch hat er je mit mir bis Mitternacht zusammengesessen.«

Sie rächte ihren alten Groll, indem sie so die Sache gegen ihn kehrte. Es lag nicht in ihrer Natur, zu schonen, und sie hatte kein Mitleid. »Daß er ein gemeiner, für Geld zu habender Mann ist: daß ich ihn zuerst in Italien fand, wo er sich herumtrieb (und wo ich vor nicht langer Zeit war), und daß ich ihn dort als das geeignetste Werkzeug für einen Zweck, den ich gerade verfolgte, in Sold nahm, will ich Ihnen offen gestehen. Kurz, ich hielt es für der Mühe wert, zu meinem Vergnügen – zur Befriedigung eines sehr lebhaften Gefühls – einen Spion zu bezahlen, der mir für Geld zutrug, was ich wissen wollte. Ich bezahlte diese Kreatur. Und ich darf wohl sagen, wenn ich ihn zu einem solchen Geschäft gebraucht und wenn ich ihm genug hätte bezahlen können und wenn er es im Dunkeln tun gekonnt, ohne etwas zu riskieren, er würde jemand mit ebensowenig Bedenken das Leben genommen haben, wie er mein Geld nahm. Das ist wenigstens meine Meinung von ihm; und ich sehe, sie ist nicht sehr von der Ihrigen verschieden. Die Ansicht Ihrer Mutter von ihm, darf ich wohl annehmen (indem ich Ihrem Beispiele folge, dies und jenes anzunehmen), war eine ganz andere.«

»Meine Mutter, lassen Sie mich Ihnen sagen«, versetzte Clennam, »kam erst im unglücklichen Verlauf des Geschäftes mit ihm in Verkehr.«

»Es scheint mir ein unglückliches Geschäft gewesen zu sein, das ihn mit ihr in Verkehr brachte«, versetzte Miß Wade; »und die Geschäftsstunden waren bei dieser Gelegenheit sehr spät.«

»Sie wollen zu verstehen geben«, sagte Arthur, unter diesen kaltblütigen Stichen zuckend, deren Kraft er bereits tief gefühlt hatte, »daß noch etwas –«

»Mr. Clennam«, unterbrach sie ihn ruhig, »erinnern Sie sich, daß ich durchaus nicht andeutungsweise von diesem Manne spreche. Er ist, ich sage es noch einmal ohne allen Hehl, eine niedrige Söldnernatur. Ich glaube, ein solches Geschöpf geht überall hin, wo es für sich etwas zu tun findet. Wenn ich nichts für ihn zu tun gehabt hätte, so würden Sie ihn und mich nicht beisammen gesehen haben.«

Gequält von der Beharrlichkeit, mit der sie diese dunkle Seite der Sache, die ihm selbst wie ein flüchtiger Schatten durch die Seele zog, ihm vor Augen hielt, schwieg Clennam.

»Ich sprach von ihm, als ob er noch lebte«, fügte sie hinzu, »aber er kann ebensogut aus irgendeinem Grunde aus dem Wege geschafft worden sein. Mir ist es völlig gleichgültig. Ich habe nichts weiter mit ihm zu schaffen.«

Mit einem schweren Seufzer und verzweifelnder Miene stand Arthur Clennam langsam auf. Sie stand nicht auch auf, sondern sagte, nachdem sie ihn eine Zeitlang mit einem festen Blick voll Argwohn und die Lippen fest zusammengepreßt betrachtet hatte:

»Er war der Lieblingsumgang Ihres werten Freundes Mr. Gowan, nicht wahr? Warum holen Sie sich nicht Rat bei Ihrem werten Freunde?«

Die Antwort, daß er nicht sein werter Freund sei, stand bereits auf Arthurs Lippen; aber er hielt sie zurück, indem er sich an seine alten Kämpfe und Entschlüsse erinnerte, und sagte:

»Anderes, als daß er Blandois nicht gesehen, seitdem dieser von England abgereist ist, weiß Mr. Gowan nichts von ihm. Es war eine zufällige Reisebekanntschaft.«

»Eine zufällige Reisebekanntschaft!« wiederholte sie. »Ja. Ihr werter Freund hat wohl das Bedürfnis, sich mit allen Bekanntschaften, die er machen kann, zu amüsieren, wenn man bedenkt, was für eine Frau er hat. Ich hasse seine Frau, Sir.«

Die Aufgeregtheit und die Leidenschaft, mit der sie dies sagte und die um so auffälliger war, als sie sich sonst so sehr in ihrer Gewalt hatte, fesselte Clennams Aufmerksamkeit und bewog ihn, noch länger zu bleiben. Es blitzte aus ihren dunklen Augen, als sie ihn ansah, zuckte in ihren Nasenflügeln und durchglühte sogar den Atem, den sie ausströmte; auf ihrem Gesicht lag im übrigen eine geringschätzige Ruhe verbreitet, und ihre Haltung war so sicher und stolz, als ob sie völlig gleichgültig gegen alles wäre, was um sie her vorging.

»Alles, was ich sagen will, Miß Wade«, bemerkte er, »ist, daß man Ihnen keinen Anlaß zu einem Gefühl gegeben haben kann, das, wie ich glaube, niemand mit Ihnen teilt.«

»Sie mögen Ihren werten Freund fragen, wenn Sie wollen, was er über diese Sache denkt«, versetzte sie.

»Ich stehe kaum auf so vertrautem Fuße mit meinem werten Freunde«, sagte Arthur, trotz seiner Entschlüsse, »um eine solche Berührung der Sache sehr wahrscheinlich zu machen, Miß Wade.«

»Ich hasse ihn«, versetzte sie. »Mehr als seine Frau noch, weil ich einst töricht genug und treulos genug gegen mich selbst war, ihn fast zu lieben. Sie haben mich nur bei gewöhnlichen Gelegenheiten gesehen, Sir, wo Sie mich vermutlich auch nur für ein gewöhnliches Weib gehalten, höchstens etwas eigenwilliger als die meisten andern sind. Sie wissen nicht, was ich unter Hassen verstehe; Sie können es nicht wissen, ohne zu wissen, mit welcher Sorgfalt ich mich und die Menschen um mich her studiert habe. Aus diesem Grunde hatte ich seit einiger Zeit Lust, Ihnen meine Lebensgeschichte zu erzählen – nicht um Ihre gute Meinung mir zu gewinnen, denn ich lege keinen Wert darauf, sondern damit Sie begreifen, wenn Sie an Ihren werten Freund und an Ihre werte Freundin denken, was ich unter Haß verstehe. Soll ich Ihnen etwas geben, was ich geschrieben und für Sie zurückgelegt habe, oder soll ich es behalten?«

Arthur bat sie, es ihm zu geben. Sie ging nach dem Schreibtisch, schloß ihn auf und holte aus einer verborgenen Schublade einige zusammengelegte Bogen Papier hervor. Ohne ihn im mindesten zu gewinnen zu suchen, ja, kaum die Worte an ihn richtend, sondern eher sprechend, als rechtfertigte sie sich gegen ihren Spiegel wegen ihres Trotzes, sagte sie, indem sie ihm die Papiere gab: »Jetzt werden Sie erfahren, was ich unter Haß verstehe! Genug jedoch davon. Sir, Sie mögen mich nun vorübergehend in einer billigen leeren Londoner Wohnung finden oder in einem Hause von Calais, Sie werden stets Harriet bei mir treffen. Sie möchten sie vielleicht gern sehen, ehe Sie gehen. Harriet, kommen Sie!« Sie rief Harriet noch einmal. Auf das zweite Rufen kam Harriet, einst Tattycoram.

»Hier ist Mr. Clennam«, sagte Miß Wade, »er kommt nicht Ihretwegen; er hat Sie aufgegeben. Ich vermute es wenigstens.«

»Da ich weder Autorität noch Einfluß habe – ja«, stimmte Clennam bei.

»Sie sehen, er sucht Sie nicht, aber er sucht dennoch jemand. Er möchte wissen, wo jener Blandois ist.«

»Mit dem ich Sie am Strand zu London sah«, fügte Arthur als nähere Bezeichnung hinzu.

»Wenn Sie etwas von ihm wissen, Harriet, außer daß er von Venedig kam – was wir alle bereits wissen – so sagen Sie es Mr. Clennam offen.«

»Ich weiß nichts weiter von ihm«, sagte das Mädchen.

»Sind Sie zufrieden?« fragte Miß Wade Arthur.

Er hatte keinen Grund, ihnen nicht zu glauben; das Benehmen des Mädchens war so natürlich, daß es beinahe hätte überzeugend wirken müssen, wenn er früher gezweifelt hätte. Er antwortete: »Ich muß anderswo etwas zu erfahren suchen.«

Er ging nicht im selben Augenblick; aber er war bereits aufgestanden, ehe das Mädchen eintrat, und sie glaubte offenbar, er sei im Begriff zu gehen. Sie sah ihn lebhaft an und sagte:

»Geht es ihnen gut, Sir?«

»Wem?«

Sie unterbrach sich selbst, indem sie im Begriff war zu sagen: »ihnen allen«; sie sah Miß Wade an und sagte: »Mr. und Mrs. Meagles.«

»Jawohl, als ich zuletzt von ihnen hörte, – sie sind nicht in England. Erlauben Sie mir beiläufig eine Frage. Ist es wahr, daß man Sie dort gesehen hat?«

»Wo? Wo will man mich gesehen haben?« versetzte das Mädchen und schlug verdrießlich die Augen nieder.

»Als Sie an der Gartentür des Landhauses standen.«

»Nein«, sagte Miß Wade. »Sie war nie dort.«

»Sie irren sich«, sagte das Mädchen. »Ich ging, als wir das letztemal in London waren, hin. Ich tat es eines Nachmittags, als Sie mich allein ließen. Und ich warf einen Blick hinein.«

»Du armseliges Geschöpf«, versetzte Miß Wade mit unendlicher Verachtung; »hat all unser Zusammensein, haben alle unsere Gespräche und alle Ihre früheren Klagen so wenig bewirken können?«

»Es war ja ganz unschuldig, einen Augenblick hineinzublicken, als ich an der Gartentür stand«, sagte das Mädchen. »Ich bemerkte an den Fenstern, daß die Familie nicht da war.« »Warum gingen Sie in die Nähe jenes Ortes?«

»Weil ich ihn sehen wollte, weil ich fühlte, daß ich gern wieder einmal einen Blick darauf ruhen lassen würde.«

Wie so die beiden hübschen Gesichter sich gegenseitig ansahen, hatte Clennam ein Gefühl, als ob diese beiden Naturen sich beide beständig zerfleischen müßten.

»Oh!« sagte Miß Wade, kalt ihrem Blick gebietend und ihn abwendend, »wenn Sie irgend den Wunsch hatten, den Ort wiederzusehen, wo Sie jenes Leben führten, von dem ich Sie befreite, weil Sie zur Erkenntnis gekommen waren, was das für ein Leben sei, so ist das etwas anderes. Aber ist das Ihre Wahrheit gegen mich? Ist das Ihre Treue gegen mich? Heißt das gemeinschaftliche Sache mit mir machen? Sie sind des Vertrauens nicht würdig, das ich Ihnen geschenkt habe. Sie sind nicht besser als ein Schoßhündchen und täten besser, Sie gingen zu den Leuten zurück, die Ihnen noch mehr als die Peitsche zu kosten geben.«

»Wenn Sie im Beisein eines Dritten so von ihnen sprechen, so werden Sie mich reizen, ihre Partei zu ergreifen«, sagte das Mädchen.

»Kehren Sie zu ihnen zurück«, entgegnete Miß Wade. »Gehen Sie nur zu ihnen zurück.«

»Sie wissen Wohl«, versetzte nun Harriet, »daß ich nie zu ihnen zurückkehren werde. Sie wissen ganz wohl, daß ich mich von ihnen losgesagt habe und nie mehr zu ihnen zurückkehren kann, will und werde. Also sprechen Sie nicht mehr von ihnen, Miß Wade.«

»Sie ziehen ihren Überfluß Ihrer weniger üppigen Kost hier vor«, versetzte sie. »Sie setzen sie hinauf und mich herunter. Was hätte ich sonst von Ihnen erwarten können. Ich hätte es wissen sollen.«

»Dem ist nicht so«, sagte das Mädchen, hochrot werdend, »und Sie sagen nicht, was Sie meinen. Ich weiß, was Sie meinen. Sie machen mir unter der Hand den Vorwurf, daß ich niemand habe als Sie. Und weil ich niemand habe als Sie, glauben Sie, ich solle alles tun und lassen, was Sie wünschen, und solle mir jede Beleidigung von Ihnen gefallen lassen. Sie sind in jeder Hinsicht so schlimm wie jene. Aber ich will mich nicht ganz zahm und unterwürfig machen lassen. Ich sage es noch einmal, daß ich hinging, um mir das Haus anzusehen, weil ich oft gedacht, daß ich es gern noch einmal sehen würde. Ich will mich noch einmal erkundigen, wie sie sich befinden, weil ich sie einst lieb gehabt und bisweilen gedacht habe, sie seien freundlich gegen mich.«

Darauf sagte Clennam, er sei überzeugt, sie würden sie freundlich aufnehmen, wenn sie jemals zurückzukehren wünschen sollte.

»Nie!« sagte das Mädchen leidenschaftlich. »Das werde ich nie tun. Niemand weiß dies besser als Miß Wade, obgleich sie mich schmäht, weil sie mich von sich abhängig gemacht hat. Und ich weiß, daß ich es bin; und ich weiß, daß es ihr außerordentliche Freude macht, wenn sie es mir vorwerfen kann.« »Ein guter Vorwand!« sagte Miß Wade mit nicht weniger Entrüstung, Stolz und Bitterkeit; »aber zu abgenützt, um zu bedecken, was ich klar dahinter sehe. Meine Armut hält den Wettstreit mit deren Geld nicht aus. Es ist besser, auf der Stelle zurückzukehren, besser, auf der Stelle zurückzukehren und damit die Sache abzumachen!«

Arthur Clennam betrachtete sie, wie sie in dem dunklen beschränkten Zimmer unfern voneinander standen, jedes nur seinem Zorn sich stolz hingebend, jedes mit dem festen Entschluß, sein eigenes Herz und das des andern zu peinigen. Er sprach etwas vom Abschiednehmen; aber Miß Wade neigte einfach den Kopf, und Harriet tat mit der geheuchelten Demut einer abhängigen Sklavin (aber dennoch nicht, ohne Trotz), als ob sie zu niedrig stände, um zu beachten oder beachtet zu werden.

Er ging die dunkle Wendeltreppe hinab in den Hof mit einem lebhafteren Gefühl des düstern Eindrucks, den die leere Mauer und die abgestorbenen Gewächse und die vertrocknete Fontäne und die geborstene Statue auf ihn machte. Ganz beschäftigt mit dem Gedanken an das, was er in diesem Hause gesehen und gehört, und an das Fehlschlagen aller seiner Bemühungen, die Spur des verdächtigen Charakters, der verschwunden war, aufzufinden, kehrte er mit demselben Paketboot nach London zurück, das ihn herübergebracht hatte. Auf dem Wege nahm er die Papiere auseinander und las in ihnen, was das nächste Kapitel wiedergibt.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

Reisegenossen.

Im Herbste des Jahres krochen Dunkelheit und Nacht zu den höchsten Gipfeln der Alpen empor.

Es war die Zeit der Weinlese in den Tälern auf der Schweizer Seite des St. Bernhardpasses und an den Ufern des Genfer Sees. Die Luft war von dem Duft der eingeernteten Trauben geschwängert. Körbe, Bütten und Kübel mit Trauben standen in den dunklen Dorftorwegen, verstellten die steilen und engen Dorfgassen und wurden den ganzen Tag auf Wegen und Straßen hin und her getragen. Trauben, von den Füßen zertreten und zerquetscht, lagen überall umher. Die junge Bäuerin, die sich schwerbeladen nach Hause schleppte, beruhigte ihr schreiendes Kind mit Trauben. Der Idiot, der seinen dicken Kropf unter der Traufe der hölzernen Hütte an dem Wege zum Wasserfall sonnte, saß gierig Trauben kauend da. Der Atem der Kühe und Ziegen duftete angenehm von dem Laub und den Kämmen der Trauben. Die versammelten Gäste in jedem kleinen Wirtshause sprachen, während sie aßen und tranken, von Trauben. Schade, daß aus dem großen Überfluß nicht etwas Reife auf den dünnen, harten, steinigen Wein überging, der im ganzen aus diesen Trauben gemacht wurde!

Die Luft war den ganzen schönen Tag über warm und durchsichtig gewesen. Glänzende metallene Kirchturmspitzen und Kirchendächer, die man da und dort in der Ferne sah, hatten die weite Gegend durchblitzt: und die schneeigen Berggipfel waren so klar gewesen, daß nicht daran gewöhnte Augen mit dem Blick über das dazwischenliegende Land hinwegeilten und ihre rauhe Höhe als etwas Fabelhaftes gering achtend, gewöhnlich glaubten, sie seien in wenigen Stunden zu erreichen. Bergkuppen von großer Berühmtheit sah man von den Tälern, wo bisweilen monatelang keine Spur von ihrer Existenz sichtbar war, seit dem Morgen klar und nahe an dem blauen Himmel stehen. Und selbst jetzt, wo es unten dunkel wurde, hoben sie sich – gleichsam feierlich zurückschreitend wie Geister, die entschwinden wollen – doch noch deutlich in ihrer Einsamkeit über dem Nebel und dem Schatten bleich und kalt vom Himmel ab.

Von diesen Einöden und vom Paß des großen St. Bernhard aus gesehen stieg die Nacht an den Bergen flutartig empor. Als sie endlich die Mauern des Klosters auf dem großen St. Bernhard erreicht hatte, erschien dieser wetterharte Bau wie eine zweite Arche, die auf den Schattenwogen schwamm.

Die Dunkelheit, die einige Fremde überholte, hatte die rauhen Klostermauern erreicht, als diese Reisenden noch den Berg hinanklommen. Wie die Hitze des glühenden Tages, die sie haltzumachen und an den Strömen geschmolzenen Schnees und Eises zu trinken eingeladen hatte, nun in die durchdringende Kälte der frostigen verdünnten Nachtluft auf großer Höhe übergegangen war, so war die frische Schönheit der Reise in tieferliegenden Gegenden jetzt der Dürre und Öde gewichen. Ein schroffer, holperiger Pfad, auf dem die Maultiere, eines hinter dem andern, von Block zu Block kletterten und sich wanden, als wenn sie die verbröckelte Treppe einer riesigen Ruine hinaufstiegen, war jetzt ihr Weg. Kein Baum war zu sehen, keine Pflanze zu erblicken, nur ein armes, braunes, elendes Moos, das in den Ritzen der Felsen erstarrt war. Geschwärzte Skelettarme von Holz zeigten am Wege hinauf nach dem Kloster, als wenn die Gespenster früherer Reisenden, die im Schnee begraben worden waren, an dem Schauplatz ihres Unglücks umgingen. Eiszapfenbehangene Höhlen und Hütten, als Zufluchtsorte für plötzliche Stürme gebaut, glichen ebenso vielen flüsternden Stimmen, die die Gefahren dieses Ortes den Reisenden ins Ohr raunten. Nimmerruhende Wirbel und Labyrinthe von Nebel wanderten, von einem Klagewind gescheucht, umher; und Schnee, die ringsum drohende Gefahr des Berges, gegen die man alle Sicherheitsmaßregeln getroffen, trieb heftig in die Tiefe.

Die Reihe der von ihrem Tagewerk müden Maulesel wand sich langsam an dem steilen Abhang in die Höhe: der vorderste wurde von einem Führer zu Fuß geleitet, der einen breitkrempigen Hut und eine runde Jacke hatte, auf der Schulter ein bis zwei Alpenstöcke trug und mit einem andern Führer plauderte. Die Schar der Reiter führte kein Gespräch. Die scharfe Kälte, die Anstrengung der Reise und ein neues Gefühl von gehemmtem Atem, zum Teil, als stiegen sie gerade aus sehr klarem, gekräuseltem Wasser, zum Teil, als wenn sie schluchzten, ließ sie schweigen.

Endlich glänzte ein Licht auf der Höhe der Felsentreppe durch Schnee und Nebel. Die Führer trieben die Maultiere an; diese hoben die gesenkten Köpfe, die Jungen der Reisenden waren gelöst, und unter einem plötzlich entstandenen Wirrwarr von Ausgleiten, Klettern, Klingeln, Klirren und Schwatzen kamen alle bei dem Tor des Klosters an.

Andre Maultiere waren nicht lange zuvor angekommen, einige mit reisenden Landleuten, andere mit Waren, und hatten den Schnee vor der Tür in einen Pfuhl von Schmutz getreten. Reitsättel und Zügel, Packsättel und Glockenriemen, Maultiere und Menschen, Laternen, Fackeln, Säcke, Mundvorräte, Fässer, Käselaibe, Tönnchen mit Honig und Butter, Strohbündel und Pakete mancherlei Art lagen in diesem aufgetauten Sumpfe und auf den Stufen durcheinander. Hier oben in den Wolken sah man alles durch Wolken, und alles schien sich in Wolken aufzulösen. Der Atem der Leute war Wolke, der Atem der Maultiere war Wolke, die Lichter waren von Wolke umgeben, die dicht nebenan Sprechenden waren vor Wolken nicht zu sehen, obgleich ihre Stimmen und alle andern Klänge überraschend klar waren. Von der wolkigen Reihe von Maultieren, die rasch innerhalb der Mauer Kreise bildeten, biß oder schlug gewöhnlich das eine das andre, und dann war der ganze Nebel zerstreut. Die Männer drangen dazwischen, Geschrei von Menschen und Tieren scholl aus dem Knäuel, und niemand, der dabeistand, konnte unterscheiden, was geschehen war. Mitten in diesem Treiben strömte der Klosterstall, der den untern Stock des Gebäudes bildete und in den man durch die Grundstocktür trat, außerhalb der all dieses Durcheinander sich umhertrieb, seinen Beitrag an Wolke aus, als wenn das ganze rauhe Gebäude mit nichts sonst gefüllt wäre und zusammenstürzen würde, sobald es sich geleert, so daß dann der Schnee auf die kahlen Berggipfel fiele.

Während all dieser Lärm und diese Unruhe unter den lebenden Reisenden herrschte, waren still versammelt in einem vergitterten, ein halbes Dutzend Schritte entfernten Hause, das von der gleichen Wolke umhüllt war und in das die gleichen Schneeflocken trieben, die toten Reisenden, die man auf dem Berge gefunden. Die vor vielen Wintern vom Sturm überraschte Mutter, die noch immer mit dem Säugling an der Brust in der Ecke stand; der Mann, der erfroren, während er aus Hunger oder Furcht den Arm zum Munde erhob, und ihn noch immer nach vielen Jahren an seine trockenen Lippen drückte. Eine schreckliche, auf seltsame Weise zusammengekommene Gesellschaft! Ein furchtbares Schicksal für eine Mutter, vorhergesehen zu haben: »Umgeben von so manchen und solchen Gefährten, die ich niemals gesehen und nie sehen werde, werden ich und mein Kind unzertrennlich auf dem großen St. Bernhard zusammen wohnen, Generationen überdauern, die uns zu sehen kommen und nie unsere Namen oder ein Wort von unserer Lebensgeschichte, außer dem Ende, erfahren werden.«

Die lebenden Reisenden dachten in jenem Augenblick wenig oder gar nicht an die toten. Sie dachten weit mehr daran, vor dem Klostertor abzusteigen und sich an dem Klosterfeuer zu wärmen. Aus dem Gewirr sich loswindend, das bereits weniger lärmend wurde, da man die Masse der Maultiere in dem Stall unterzubringen begann, eilten sie, schauernd vor Kälte, die Treppe hinauf in das Haus. Dort herrschte ein Geruch, der durch den Boden von den angebundenen Tieren herausdrang, ähnlich dem Geruch einer Menagerie von wilden Tieren. Drinnen befanden sich starke gewölbte Gänge, hohe steinerne Pfeiler und dicke Mauern mit kleinen verfallenen Fenstern – Bollwerke gegen die Bergstürme, als wenn es menschliche Feinde gewesen wären. Ferner düstere gewölbte Schlafzimmer, schrecklich kalt, aber reinlich und gastlich für Fremde eingerichtet. Endlich ein gemeinsames Konversationszimmer, in dem die Gäste saßen und aßen, wo auch bereits ein Tisch aufgestellt war und ein helles Feuer rot und hoch im Kamin flackerte.

In diesem Zimmer setzten sich die Reisenden, nachdem ihnen von zwei jungen Mönchen die für die Nacht bestimmten Quartiere angewiesen waren, um den Kamin. Es waren drei Gesellschaften: die erste, als die zahlreichste und bedeutendste, war die langsamste und hatte sich von einer und der andern auf dem Wege herauf überholen lassen. Sie bestand aus einer älteren Dame, zwei grauen Herren, zwei jungen Damen und ihrem Bruder. Diese hatten (vier Führer ungerechnet) einen Kurier, zwei Diener und zwei Kammermädchen bei sich: diese große lästige Gesellschaft wurde anderwärts unter einem Dache untergebracht. Diejenige Gesellschaft, die sie überholte und nun hinterdrein kam, bestand nur aus drei Gliedern: einer Dame und zwei Herren. Die dritte Gesellschaft, die von dem Tal auf der italienischen Seite des Passes heraufkam und zuerst da war, bestand aus vier Gliedern: einem vollblütigen, hungrigen und schweigsamen deutschen Hofmeister mit einer Brille, der sich auf einer Tour mit drei jungen Männern, seinen Zöglingen, befand, lauter vollblütigen, hungrigen und schweigsamen Menschen mit Brillen.

Diese drei Gruppen saßen rings um das Feuer, sich trocken ansehend und auf das Nachtessen wartend. Nur einer unter ihnen, einer von den Herren, die zu der Gesellschaft von den dreien gehörten, machte einen Ansatz zu einer Unterhaltung. Indem er seine Angelschnur nach dem Häuptling des bedeutenden Stammes auswarf, während er sich an seine eigenen Reisegenossen wandte, bemerkte er in einem Ton, der die ganze Gesellschaft einschloß, wenn sie eingeschlossen sein wollte, daß es ein langer Tag gewesen und daß er die Damen bedauere. Daß er fürchte, eine von den jungen Damen sei nicht stark genug und nicht hinlänglich ans Reisen gewöhnt und sei vor zwei bis drei Stunden außerordentlich ermüdet gewesen. Er habe von seinem Standort im Nachtrab aus bemerkt, daß sie ganz erschöpft auf ihrem Maultier gesessen. Er habe später zwei- oder dreimal sich die Ehre gegeben, einen von den Führern zu fragen, der nach hinten gekommen sei, wie es der jungen Dame gehe. Er sei entzückt zu erfahren, daß sie sich erholt und daß es nur ein vorübergehendes Unbehagen gewesen wäre. Er glaube (diesmal faßte er den Häuptling ins Auge und wandte sich an ihn), es werde ihm erlaubt sein, seine Hoffnung auszusprechen, daß sie sich nun ganz wohl befinde und nicht bereue, die Reise gemacht zu haben.

»Meine Tochter, – ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir«, versetzte der Häuptling, – »ist vollkommen wiederhergestellt und fand großes Interesse an der Gesellschaft.«

»Vielleicht zum erstenmal in den Bergen?« sagte der einschmeichelnde Reisende.

»Zum – ha – zum erstenmal in den Bergen«, sagte der Häuptling. »Aber Sie sind damit vertraut, mein Herr?« fuhr der einschmeichelnde Reisende fort.

»Ich bin – hm – ziemlich vertraut damit. Nicht aus den letzten Jahren. Nicht aus den letzten Jahren«, versetzte der Häuptling, mit der Hand winkend.

Der einschmeichelnde Reisende antwortete auf das Winken der Hand mit einer Verbeugung des Kopfes und wandte sich von dem Häuptling zu der zweiten jungen Dame, die er bis jetzt noch nicht angeredet hatte, außer, daß er sie zu den Damen zählte, die er so innig bedauerte.

Er sprach die Hoffnung aus, daß die Anstrengungen des Tages sie nicht zu sehr mitgenommen hätten.

»Mitgenommen haben sie mich allerdings«, versetzte die junge Dame, »aber sie haben mich nicht ermüdet.«

Der einschmeichelnde Reisende machte ihr sein Kompliment über die richtige Unterscheidung. Das habe er sagen wollen. Jede Dame müsse sich freilich über dieses sprichwörtlich unfügsame und beschwerliche Tier, den Maulesel, beschweren.

»Wir mußten natürlich«, sagte die junge Dame, die ziemlich zurückhaltend und stolz war, »die Wagen und den Fourgon in Martigny zurücklassen. Und die Unmöglichkeit, etwas, was man braucht, an diesen unzugänglichen Ort herauszubringen, und die Notwendigkeit, allen Komfort zurückzulassen, ist nicht sehr angenehm.«

»Ein wüster Ort, allerdings«, sagte der einschmeichelnde Reisende.

Die ältliche Dame, die ein Muster von pünktlichem Anzug war und die in ihrer Art vollkommen genannt werden konnte, wenn man sie als ein Stück Maschine betrachtete, warf hier mit sanfter leiser Stimme eine Bemerkung ein.

»Aber wie andere unbequeme Orte«, bemerkte sie, »muß man ihn sehen. Als ein Ort, von dem viel die Rede, muß er mal besucht werden.«

»Oh! ich habe durchaus nichts dagegen, daß man ihn sieht, ich versichere Sie, Mrs. General«, versetzte die andere nachlässig.

»Sie, Madame«, sagte der einschmeichelnde Reisende, »haben diesen Ort schon früher besucht?«

»Ja«, versetzte Mrs. General. »Ich war früher schon hier. Ich möchte Ihnen raten, meine Liebe«, sagte sie zu der genannten jungen Dame, »Ihr Gesicht vor der Hitze des Feuers zu schützen, nachdem es der Bergluft und dem Schnee ausgesetzt gewesen. Auch Ihnen, meine Liebe«, fügte sie, an die andere junge Dame gewandt, hinzu, die sogleich tat, wie ihr anempfohlen worden, während die erstere einfach sagte: »Ich danke Ihnen, Mrs. General; ich fühle mich ganz behaglich so und ziehe es vor, zu bleiben, wie ich bin.«

Der Bruder, der vom Stuhl aufgestanden war, um das Piano zu öffnen, das in dem Zimmer stand, und hineingepfiffen hatte, schlenderte jetzt, das Monokel im Auge, wieder zu dem Feuer zurück. Er war im vollsten und vollständigsten Reiseanzug. Die Welt schien kaum groß genug, um ihm eine seiner Equipierung entsprechende Reisegelegenheit zu bieten.

»Diese Burschen brauchen ungeheuer lange zu ihrem Nachtessen«, sagte er schleppend. »Ich bin begierig, was sie uns geben werden! Hat jemand ein Vorstellung davon?«

»Keine gebratenen Menschen, glaube ich«, antwortete die Stimme des zweiten Herrn von der Gesellschaft der drei.

»Ich vermute nicht. Was meinen Sie?« fragte er.

»Daß, da Sie nicht bei dem allgemeinen Souper aufgesetzt werden sollen, Sie uns vielleicht die Gefälligkeit erweisen werden, sich nicht an dem allgemeinen Feuer zu rösten«, versetzte der andere.

Der junge Herr, der in einer bequemen Stellung am Kamin stand, das Monokel auf die Gesellschaft gerichtet, den Rücken nach dem Feuer zu und die Rockflügel unter den Armen, als ob er zum Hühnergeschlecht gehörte und an den Spieß gesteckt wäre, um zu braten, verlor bei dieser Antwort die Fassung; er schien im Begriffe, eine Erklärung zu fordern, als man entdeckte – indem alle Augen auf den Sprechenden gerichtet waren –, daß die Dame, die bei ihm war, ein junges und hübsches Geschöpf, nichts von dem gehört hatte, was vorgegangen, da sie ohnmächtig den Kopf auf die Schulter hatte sinken lassen.

»Ich glaube«, sagte der Herr in gedämpften Tone, »es wäre das beste, ich brächte sie sogleich nach ihrem Zimmer. Wollen Sie jemanden rufen, daß man Licht bringt?« fügte er, an seinen Begleiter gewandt, hinzu; »man muß uns den Weg zeigen. Ich glaube nicht, daß ich mich in diesem seltsamen Labyrinth zurechtfinden werde.«

»Bitte, lassen Sie mich mein Mädchen rufen«, sagte die größere von den jungen Damen.

»Bitte, lassen Sie mich dies Wasser an ihre Lippen bringen«, sagte die kleinere, die bis jetzt noch nicht gesprochen hatte.

Da jeder tat, was er vorschlug, so war kein Mangel an Beistand. Und als gar die beiden Mädchen eintraten (begleitet vom Kurier, damit niemand ihnen den Mund verstopfe, wenn er sie unterwegs in einer fremden Sprache anredete), war sogar die Aussicht auf zuviel Beistand. Als der Herr dies sah, sagte er einige Worte zu der kleinern und jüngern von den beiden Damen, legte den Arm seiner Frau um seine Schulter, hob sie in die Höhe und trug sie hinweg.

Sein Freund, der mit den andern Fremden nun allein war, ging langsam in dem Zimmer auf und ab, ohne wieder zu dem Feuer zu kommen: er zupfte nachdenklich an seinem schwarzen Schnurrbart, als ob er sich für die letzte Erwiderung verantwortlich fühlte. Während der Gegenstand derselben in einer Ecke Schmähungen ausstieß, wandte sich der Häuptling stolz an diesen Herrn.

»Ihr Freund, mein Herr«, sagte er, »ist – ha – etwas ungeduldig, und in seiner Ungeduld weiß er vielleicht nicht genau, was er andern schuldig ist – aber wir wollen darüber hinwegsehen, wir wollen darüber hinwegsehen. Ihr Freund ist etwas ungeduldig, mein Herr.«

»Es mag wohl sein, mein Herr«, versetzte der andere. »Da ich jedoch die Ehre gehabt, die Bekanntschaft dieses Herrn im Hotel zu Genf zu machen, wo wir und zahlreiche gute Gesellschaft vor einiger Zeit uns trafen, und da ich die Ehre gehabt, bei verschiedenen späteren Ausflügen mich seiner Gesellschaft und Unterhaltung zu erfreuen, so kann ich nichts hören – nicht einmal von einem Mann Ihres Äußern und Ihrer Stellung, was diesem Gentleman nachteilig wäre.«

»Sie sind durchaus in keiner Gefahr, mein Herr, irgend etwas Derartiges von mir zu hören. Wenn ich die Bemerkung machte, daß Ihr Freund Ungeduld an den Tag gelegt, so sage ich damit nichts Nachteiliges. Ich mache diese Bemerkung nur, weil nicht zu bezweifeln ist, daß mein Sohn, der durch Geburt und – ha – durch Erziehung – hm – Gentleman ist, sich bereitwillig jedem artig ausgesprochenen Wunsche bezüglich des Feuers gefügt, das für alle Glieder dieser Gesellschaft gleich zugänglich ist. Was ich grundsätzlich richtig finde, denn – ha – alle sind –hm – in solchen Fällen gleichberechtigt.«

»Gut!« lautete die Antwort. »Und damit genug! Ich bin Ihres Sohnes ergebener Diener. Ich bitte Ihren Sohn, die Versicherung meiner vollkommensten Hochachtung zu empfangen. Und nun, mein Herr, gestehe ich, gestehe ich offen, daß mein Freund bisweilen von sarkastischem Temperament ist.«

»Die Dame ist Ihres Freundes Frau, mein Herr?«

»Die Lady ist meines Freundes Frau, mein Herr.«

»Sie ist sehr schön.«

»Sie ist unvergleichlich schön. Sie befinden sich im ersten Jahre ihrer Verbindung. Sie sind zum Teil noch auf einer Hochzeits-, zum Teil auf einer Kunstreise.«

»Ihr Freund ist ein Künstler?«

Der Herr antwortete, indem er die Finger seiner rechten Hand küßte und den Kuß armhoch zum Himmel emporwarf, was soviel heißen sollte, wie: ich weihe ihn den himmlischen Mächten als einen unsterblichen Künstler.

»Er ist jedoch ein Mann aus vornehmer Familie«, fügte er hinzu. »Er hat die besten Beziehungen. Er ist mehr als ein Künstler. Er stammt aus sehr vornehmem Hause. Er mag seine Verwandtschaft wirklich stolz, ungeduldig, sarkastisch (ich erlaube mir beide Ausdrücke) zurückgestoßen haben, aber er besitzt sie einmal. Funken, die während unserer Unterhaltung fielen, haben mich darüber belehrt.«

»Nun! Ich hoffe«, sagte der stolze Herr, mit einer Miene, als wollte er die Sache endlich abtun, »daß die Unpäßlichkeit der Dame nur vorübergehend sein werde.«

»Das hoffe ich auch, mein Herr.« »Bloße Ermüdung, glaube ich.«

»Nicht Ermüdung allein, mein Herr, denn ihr Maultier strauchelte heute, und sie fiel aus dem Sattel. Sie fiel leicht und stand ohne Unterstützung wieder auf den Füßen; dann ritt sie lachend voraus: aber sie klagte gegen Abend über eine leichte Quetschung in der Seite. Sie sprach mehr als einmal davon, als wir hinter Ihnen den Berg hinauf ritten.«

Der Häuptling des großen Gefolges, der gnädig, aber nicht vertraulich war, schien nun der Ansicht zu sein, daß er sich mehr als genug herablassend bewiesen. Er sagte nichts mehr, und es trat für eine Viertelstunde Stille ein bis zum Abendessen.

Mit dem Abendessen kam einer von den jungen Mönchen (es schien hier keine alten Mönche zu geben) und setzte sich oben an die Tafel. Das Mahl war ganz ähnlich wie das Abendessen in einem gewöhnlichen Schweizer Hotel, und guter roter Wein, in einer heitereren Luft gewachsen, fehlte nicht. Der reisende Künstler kam ruhig zurück und nahm seinen Platz am Tisch ein, als die übrigen sich setzten: er schien nicht entfernt mehr an sein letztes Scharmützel mit dem Fremden in dem vollkommenen Reiseanzug zu denken.

»Bitte«, fragte er den Wirt über seine Suppe hinüber, »hat Ihr Kloster jetzt viele von seinen berühmten Hunden?«

»Monsieur, drei.«

»Ich sah drei im Gange unten. Ohne Zweifel die fraglichen drei.«

Der Wirt, ein schlanker, helläugiger, ernster, junger Mann von feinen Manieren, dessen Kleidung in einer schwarzen Kutte mit Streifen von weißem Tuch darüber, wie Tragbänder, bestand und der der klösterlichen Eigenart der Bernhardiner Mönche nicht mehr glich als wie der klösterlichen Zucht der Hunde von St. Bernhard, antwortete, ohne Zweifel würden es die drei fraglichen sein.

»Und ich glaube«, sagte der reisende Künstler, »ich habe einen derselben früher schon gesehen.«

Es sei möglich. Es sei ein wohlbekannter Hund. Monsieur könne ihn leicht im Tale oder sonstwo an dem See gesehen haben, wenn er (der Hund) mit einem vom Orden hinabgegangen, um Unterstützung für das Kloster zu sammeln.

»Was regelmäßig zu einer bestimmten Zeit im Jahr geschieht, nicht wahr?«

Monsieur habe recht.

»Und nie ohne den Hund. Der Hund ist sehr wichtig.«

Monsieur habe wieder recht. Der Hund sei sehr wichtig. Die Leute interessieren sich sehr für den Hund als einen von den überall bekannten Hunden, wie Mademoiselle begreifen werde.

Mademoiselle war etwas langsam im Begreifen, als ob sie noch nicht recht an das Französische gewöhnt wäre. Mrs. General begriff es jedoch statt ihrer.

»Fragen Sie ihn, ob er viele Menschen gerettet hat?« sagte der junge Mann, der seine Fassung verloren hatte, in seinem heimischen Englisch.

Der Wirt bedurfte keiner Übersetzung der Frage. Er antwortete rasch französisch: »Nein. Dieser niemanden.«

»Warum nicht?« fragte derselbe Herr.

»Entschuldigen Sie«, antwortete der Wirt gelassen, »geben Sie ihm die Gelegenheit, und er wird es sicher tun. Zum Beispiel, ich bin fest überzeugt«, fügte er, indem er das Kalbfleisch aufschnitt, um es herumreichen zu lassen, ruhig nach dem jungen Mann hinüberlächelnd, der aus der Fassung gekommen, hinzu: »daß, wenn Sie, Monsieur, ihm die Gelegenheit geben sollten, er mit größtem Eifer sich beeilen würde, seine Pflicht zu tun.«

Der reisende Künstler lachte. Der einschmeichelnde Reisende (der die lebhafte Besorgnis an den Tag legte, er möchte nicht seinen vollen Anteil an dem Abendessen erhalten) wischte sich einige Tropfen Wein mit einem Stück Brot von dem Schnurrbart und mischte sich in das Gespräch.

»Es wird etwas spät, mein Vater«, sagte er, »für Vergnügungsreisende, nicht wahr?«

»Ja, es ist spät. Noch zwei bis drei Wochen, und wir liegen im Winterschnee begraben.«

»Dann«, sagte der einschmeichelnde Reisende, »gilt’s den ausscharrenden Hunden und den begrabenen Kindern, nach den Bildern.«

»Entschuldigen Sie«, sagte der Wirt, der die Anspielung nicht ganz verstand, »wie ist das gemeint mit den ausscharrenden Hunden und begrabenen Kindern, nach den Bildern?«

Der reisende Künstler fiel wieder ins Wort, ehe eine Antwort gegeben werden konnte.

»Wissen Sie nicht«, fragte er seinen Reisegenossen kalt über den Tisch hinüber, »daß nur Schmuggler im Winter dieses Weges kommen oder irgendein Geschäft auf diesem Wege haben können?«

»Herr, mein Gott! Nein, davon habe ich nie gehört.«

»Dem ist aber so. Und da sie die Vorzeichen des Wetters ziemlich gut wissen, so machen sie den Hunden nicht viel zu schaffen – die infolgedessen auch ziemlich ausgestorben sind – obwohl diese Herberge bequem für sie gelegen ist. Ihre jungen Familien, sagte man mir, lassen sie gewöhnlich zu Hause. Aber es ist ein großer Gedanke!« rief der reisende Künstler, unerwartet in einen enthusiastischen Ton ausbrechend. »Es ist eine erhabene Idee. Es ist die schönste Idee von der Welt und preßt uns Tränen aus, beim Himmel!« Nachdem er geendigt, aß er mit großer Ruhe an seinem Kalbfleisch fort.

Es lag genug höhnenden Widerspruchs in diesen Worten, um einen Mißton hervorzurufen, obgleich die Art, wie sie hervorgebracht wurden, sehr fein und die Person, die sie vorbrachte, sehr viel Manier hatte, und obgleich der herabsetzende Teil derselben so geschickt eingekleidet war, daß es für ein an die englische Sprache nicht vollkommen gewöhntes Ohr sehr schwer war, es zu verstehen oder selbst, wenn man es verstanden, sich beleidigt zu fühlen, so einfach und leidenschaftslos war der Ton. Nachdem er mit seinem Kalbfleisch mitten in der allgemeinen Stille zu Ende war, richtete der Sprecher wieder das Wort an seinen Freund.

»Sehen Sie«, sagte er in seinem früheren Ton, »sehen Sie diesen Herrn, unsern Wirt, an, der noch nicht mal in dem besten Mannesalter steht und auf so anmutige Weise und mit so seiner Lebensart und Bescheidenheit uns die Honneurs macht! Manieren für eine Krone geeignet! Essen Sie mit dem Lord-Mayor von London (wenn Sie eine Einladung bekommen können) und bemerken Sie den Kontrast. Dieser liebe Junge, mit dem feinstgeschnittenen Gesicht, das ich jemals sah, einem Gesicht von vollendeter Zeichnung verläßt ein tätiges Leben und kommt hier herauf, ich weiß nicht, wie viele Fuß über dem Spiegel des Sees, in keiner andern Absicht (ausgenommen, hoffe ich, um sich in einem trefflichen Refektorium zu ergötzen), als um ein Hotel für müßige arme Teufel, wie Sie und ich, zu halten und die Rechnung unsrem Gutdünken zu überlassen! Wie, ist das nicht ein schönes Opfer? Was brauchen wir mehr, um uns rühren zu lassen? Weil nicht acht bis neun Monate lang von den zwölfen gerettete Leute von interessantem Äußern sich am Halse der klügsten Tiere, die hölzerne Flaschen tragen, festhalten, sollen wir deshalb den Ort tadeln? Nein! Segen über diesen Ort. Es ist ein großer Ort, ein herrlicher Ort!«

Die Brust des grauen Gentleman, der der Häuptling der bedeutenden Gesellschaft war, schwoll, als wollte er dagegen protestieren, daß man ihn unter die armen Teufel zähle. Kaum hatte der reisende Künstler zu sprechen aufgehört, als er selbst mit großer Würde das Wort ergriff, als läge es ihm ob, an den meisten Orten das erste Wort zu führen, und er hätte diese Pflicht eine kurze Weile versäumt.

Er teilte mit großer Gewichtigkeit ihrem Wirt seine Ansicht mit, daß sein Leben im Winter hier ein höchst trauriges sein müsse.

Der Wirt gestand dem Monsieur zu, daß es etwas einförmig sei. Die Luft sei lange Zeit schwer zu atmen. Die Kälte sei sehr streng. Man müsse jung und kräftig sein, um es auszuhalten. Sei man dies jedoch und habe man den Segen des Himmels …

Ja, das sei sehr gut. »Aber die Gefangenschaft?« fragte der graue Herr.

Es gebe viele Tage, selbst bei schlechtem Wetter, wo es möglich sei, auszugehen. Es sei dann ihre Gewohnheit, einen kleinen Weg zu bahnen und sich dort Bewegung zu machen.

»Aber der Raum«, machte der graue Herr geltend. »So klein! So – ha – sehr beschränkt.«

Monsieur möge sich erinnern, daß man die Zufluchtorte besuchen und auch dorthin Wege bahnen müsse.

Monsieur machte dagegen geltend, daß der Raum –ha – hm – so schmal sei. Mehr als das. Es sei immer derselbe, immer derselbe. Mit einem ausweichenden Lächeln hob und senkte der Wirt sanft seine Schultern. Das sei wahr, bemerkte er, aber es möge ihm zu sagen gestattet sein, daß beinahe alle Dinge ihre verschiedenen Gesichtspunkte hätten. Monsieur und er sehen dies sein armes Leben nicht vom gleichen Gesichtspunkt an. Monsieur sei nicht an Gefangenschaft gewöhnt.

»Ich – ha – ja, sehr wahr«, sagte der graue Gentleman. Er schien einen tüchtigen Stoß von der Kraft dieses Beweises zu bekommen.

Monsieur, als ein reisender Engländer, umgeben von allen Mitteln, angenehm zu reisen, ohne Zweifel im Besitz von Vermögen, Wagen, Dienerschaft –

»Ja wohl, ja wohl. Ganz richtig –« sagte der Gentleman.

Monsieur könne sich nicht leicht in die Lage einer Person setzen, die nicht die Macht habe, zu wählen, ich will heute dahin gehen und morgen dorthin: ich will diese Grenzen überschreiten, die Fesseln, die mich binden, erweitern. Monsieur könnte sich vielleicht nicht vorstellen, wie der Geist sich in solchen Dingen der gebieterischen Notwendigkeit fügt.

»Es ist wahr«, sagte Monsieur. »Wir wollen – ha – die Sache nicht weiter verfolgen. Sie sind – hm – sehr genau, ich zweifle nicht daran. Wir wollen nicht weiter davon reden.«

Als das Essen vorüber war, zog er während des Sprechens seinen Stuhl weg und bewegte sich nach seinem früheren Platz bei dem Feuer. Da es am größten Teil des Tisches sehr kalt war, nahmen die andern Gäste gleichfalls ihre früheren Sitze bei dem Feuer ein, denn sie hatten die Absicht, sich vor Schlafengehen tüchtig zu wärmen. Als sie sich vom Tische erhoben, verbeugte sich der Wirt vor allen Anwesenden, wünschte ihnen gute Nacht und ging von dannen. Zuvor hatte ihn jedoch der einschmeichelnde Reisende gefragt, ob sie etwas Wein heiß gemacht bekommen könnten; und da er »ja« geantwortet und das Getränk kurz darauf hereingesandt, setzte sich dieser Reisende in die Mitte der Gruppe und war in der vollen Hitze des Feuers bald damit beschäftigt, es den übrigen zu servieren.

Um diese Zeit schlüpfte die jüngere von den beiden jungen Damen, die stumm und aufmerksam in ihrer dunklen Ecke (das Kaminfeuer war das Hauptlicht in dem finstern Zimmer, die Lampe brannte rauchig und düster) auf das gehorcht, was von der abwesenden Dame gesprochen wurde, zur Tür hinaus. Sie wußte nicht, welchen Weg sie gehen sollte, als sie leise dieselbe geschlossen hatte; nach einigem Hin- und Hergehen in den hallenden Gängen und den zahlreichen Wegen kam sie an ein Zimmer in einer Ecke des Hauptgangs, wo die Diener beim Abendessen saßen. Diese gaben ihr eine Lampe und zeigten ihr den Weg nach dem Zimmer der Dame.

Es lag über der großen Treppe im obern Stock. Da und dort waren die kahlen weißen Wände durch ein eisernes Gitter unterbrochen, und sie glaubte, als sie vorüberging, der Ort sei eine Art Gefängnis. Die rundbogige Tür des Zimmers oder der Zelle der Dame war nicht ganz geschlossen. Nachdem sie zwei- bis dreimal daran geklopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, drückte sie sie langsam auf und sah hinein.

Die Dame lag mit geschlossenen Augen außen auf dem Bett, durch wollene Decken und Umschlagtücher, mit denen sie bei ihrem Erwachen aus der Ohnmacht zugedeckt worden, vor der Kälte geschützt. Ein düstres Licht in der tiefen Fensternische verbreitete wenig Helle in dem gewölbten Zimmer. Die Fremde trat schüchtern an das Bett und sagte leise flüsternd: »Befinden Sie sich besser?«

Die Dame lag im Schlummer, und das Geflüster war zu schwach, um sie aufzuwecken. Ihr Besuch, der noch immer ganz stille stand, sah sie aufmerksam an.

»Sie ist sehr hübsch«, sagte sie bei sich. »Ich sah noch nie ein so schönes Gesicht. O, wie anders sehe ich aus!«

Es war ein seltsamer Ausspruch, aber er hatte seine verborgene Bedeutung, denn ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich weiß, ich hatte recht. Ich weiß, er sprach von ihr, an jenem Abend. Ich konnte sehr leicht über alles andre im Irrtum sein. Aber darüber nicht, nicht darüber!«

Mit sanfter und zarter Hand strich sie eine verirrte Locke von dem Haar der Schlafenden zurück und berührte dann die Hand, die außerhalb der Decke lag.

»Ich sehe sie gern an«, atmete sie leicht vor sich hin. »Ich sehe gerne, was ihn so sehr angezogen hat.«

Sie hatte ihre Hand noch nicht losgelassen, als die Schlafende ihre Augen öffnete und zurückfuhr.

»Bitte, beunruhigen Sie sich nicht. Ich bin nur eine von den Reisenden unten. Ich kam, um Sie zu fragen, ob Sie sich besser befänden und ob ich etwas für Sie tun könnte.«

»Ich danke: Sie waren bereits so freundlich, Ihr Kammermädchen zu meiner Unterstützung zu senden.«

»Nein, nicht ich, das war meine Schwester. Befinden Sie sich besser?«

»Viel besser. Es ist nur eine leichte Quetschung; man hat nach ihr gesehen und nun geht es beinahe ganz gut. Es machte mich nur einen Augenblick schwindlig und ohnmächtig. Es hatte mir zuvor schon weh getan. Aber zuletzt überwältigte es mich plötzlich.«

»Darf ich bei Ihnen bleiben, bis jemand kommt? Ist es Ihnen angenehm?«

»Es würde mir sehr lieb sein, denn es ist hier sehr einsam; aber ich fürchte, Sie werden die Kälte zu sehr fühlen.«

Ich kümmere mich nicht um die Kälte. Ich bin nicht zart, wenn ich auch danach aussehe.« Sie rückte augenblicklich einen von den rohen Stühlen an das Bett und setzte sich. Die andere nahm ebenso rasch einen Teil eines Reisemantels vom Bett und legte ihn auf sie, so daß ihr Arm, indem sie ihn um sie hielt, auf ihrer Schulter ruhte.

»Sie haben so ganz das Aussehen einer freundlichen Pflegerin«, sagte die Dame, sie anlächelnd, »daß es mir ist, als wenn sie aus meiner Heimat zu mir kämen.«

»Das freut mich sehr.«

»Ich träumte gerade von der Heimat, als ich aufwachte. Von meiner alten Heimat, meine ich, ehe ich verheiratet war.«

»Und ehe Sie so weit davon entfernt waren.«

»Ich war schon weiter entfernt von ihr, aber damals war der beste Teil derselben bei mir, und ich vermißte nichts. Ich fühlte mich so verlassen, als ich einschlief, und, die Heimat vermissend, wanderten meine Gedanken zu ihr zurück.«

Es lag ein traurig inniger und kummervoller Klang in ihrer Stimme, der ihren Gast einen Augenblick lang abhielt, sie anzusehen.

»Es ist ein seltsamer Zufall, der uns zuletzt unter dieser Decke zusammenführt, mit der Sie mich umhüllt haben«, sagte die Fremde nach einer Pause: »denn Sie müssen wissen, ich habe Sie schon lange gesucht.«

»Sie haben mich gesucht?«

»Ich glaube, ich habe ein kleines Billett bei mir, das ich Ihnen geben sollte, wenn ich Sie fände. Da ist es. Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist es an Sie adressiert. Nicht wahr?«

Die Dame nahm es, sagte ja und las es. Ihr Besuch beobachtete sie, während sie dies tat. Es war sehr kurz. Sie errötete etwas, als sie ihre Lippen an die Wangen ihres Besuches legte, und drückte ihre Hand.

»Die liebe junge Freundin, der er mich vorstellt, soll mir bisweilen ein Trost sein, sagt er. Sie ist wahrlich ein Trost für mich, im ersten Augenblick, da ich sie sehe.«

»Vielleicht kennen Sie«, sagte die Fremde zögernd, »vielleicht kennen Sie meine Geschichte nicht? Vielleicht hat er Ihnen nie meine Geschichte erzählt?«

»Nein.«

»O nein, warum sollte er auch! Ich habe selbst kaum ein Recht, es zu tun, da ich nicht dazu aufgefordert worden bin. Es ist nicht viel dabei, aber sie möchte Ihnen erklären, weshalb ich Sie bitte, nichts von dem Briefe hier zu sagen. Sie sahen vielleicht meine Familie bei mir? Einige Mitglieder derselben – ich sage das zu Ihnen – sind etwas stolz, etwas vorurteilsvoll.«

»Sie sollen ihn wieder haben«, sagte die andere, »dann ist mein Gatte sicher, daß er ihn nicht sieht. Er möchte ihn sonst durch irgendeinen Zufall finden oder davon sprechen. Wollen Sie ihn wieder in Ihren Busen stecken, um dessen gewiß zu sein?«

Sie tat es mit großer Vorsicht. Ihre kleine, zarte Hand hielt den Brief noch, als sie jemand im Gange draußen hörten.

»Ich versprach«, sagte die Fremde aufstehend, »daß ich ihm schreiben wolle, wenn ich sie gesehen hätte (ich mußte Sie sicher früher oder später sehen), um ihm zu sagen, ob Sie wohlauf und glücklich seien. Ich darf wohl sagen, daß Sie wohl und glücklich seien?« »Ja, ja, ja! Sagen Sie ihm, ich sei sehr wohlauf und sehr glücklich. Und ich danke ihm herzlich und werde ihn nie vergessen.«

»Ich werde Sie morgen früh sehen. Wir werden uns somit recht bald wiedersehen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht. Ich danke Ihnen, danke Ihnen. Gute Nacht, meine Liebe.«

In größter Hast und Unruhe nahmen sie voneinander Abschied, und ebenso rasch war die Fremde aus der Tür. Sie hatte erwartet, dem Gatten der Dame zu begegnen: aber die im Gange befindliche Person war nicht er: es war der Reisende, der die Weintropfen mit einem Stück Brot vom Schnurrbart gewischt hatte. Als er die Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um – denn er ging in der Dunkelheit.

Seine Höflichkeit, die ausnehmend groß war, wollte nicht dulden, daß sie sich selbst die Treppe hinableuchte und allein gehe. Er nahm ihre Lampe, hielt sie so, daß das beste Licht auf die steinerne Treppe fiel, und begleitete sie den ganzen Weg bis zu dem Speisezimmer. Sie hatte Mühe, auf dem Weg hinab zu verbergen, daß sie jeden Augenblick nahe daran war, zitternd zusammenzusinken; denn die Erscheinung dieses Reisenden war ihr besonders unangenehm. Sie hatte vor dem Essen in ihrer Ecke gesessen und sich vorgegaukelt, was er wohl in den Szenen und an den Orten ihrer Vergangenheit für eine Rolle gespielt, um ihr einen solchen Widerwillen einzuflößen, der ihn ihr nahezu furchtbar erscheinen ließ.

Er begleitete sie mit seiner lächelnden Höflichkeit hinab, führte sie in das Zimmer und nahm seinen Sitz am besten Platz des Kamins wieder ein. Dort saß er, während das Feuer, das bereits schwächer zu brennen begann, in dem dunklen Zimmer seinen Schein bald heller, bald matter auf ihn warf, die Beine nach der Wärme ausgestreckt, den heißen Wein bis auf den Grund leerend, während ein ungeheurer Schatten seine Bewegungen an Wand und Decke nachahmte.

Die müde Gesellschaft war aufgebrochen, und alle andern waren zu Bett gegangen, außer dem Vater der jungen Dame, der in seinem Stuhl am Fenster schlummerte. Der Reisende hatte sich die Mühe genommen, seine Taschenflasche mit Branntwein aus seinem entfernten, im zweiten Stock befindlichen Schlafzimmer zu holen. Er sagte es ihnen, als er den Inhalt in den Rest des Weines goß und ihn mit neuem Behagen trank.

»Darf ich Sie fragen, ob Sie auf dem Wege nach Italien sind?«

Der graue Herr war aufgestanden und rüstete sich zum Gehen. Er antwortete bejahend.

»Ich gleichfalls!« sagte der Reisende. »Ich darf wohl hoffen. Sie in schöneren Gegenden und unter freundlicheren Umständen wieder zu begrüßen als auf diesem traurigen Berge.«

Der Fremde verbeugte sich, ziemlich entfernt, und sagte, er sei ihm sehr verbunden.

»Wir armen Leute, Sir«, sagte der Reisende, den Schnurrbart mit der Hand trocknend, denn er hatte ihn in den Wein und Branntwein getaucht, »wir armen Leute reisen nicht wie Fürsten, aber die Galanterie und feinere Lebensart hat auch für uns ihren hohen Wert. Ihre Gesundheit, mein Herr!«

»Ich danke Ihnen, mein Herr.«

»Auf die Gesundheit Ihrer ausgezeichneten Familie, – der schönen Ladies, Ihrer Töchter!«

»Nein Herr, ich danke Ihnen abermals. Ich wünsche Ihnen gute Nacht. Meine Liebe, warten unsre – ha – Leute?«

»Sie sind ganz nahe zur Stelle, Vater.«

»Erlauben Sie!« sagte der Reisende, indem er aufstand und die Tür offen hielt, als der alte Herr, seinen Arm in den seiner Tochter steckend, durch das Zimmer darauf zuschritt. »Angenehme Ruhe! Auf das Vergnügen, Sie wiederzusehen! Auf morgen denn!«

Als er in der höflichsten Art und mit dem feinsten Lächeln seine Hand küßte, schmiegte sich die junge Dame fester an ihren Vater an und ging voller Angst, ihn zu berühren, an ihm vorüber.

»Hm!« sagte der einschmeichelnde Reisende, der sich gehen und seinen Ton sinken ließ, als er allein war. »Wenn sie sich alle zu Bett begeben, nun, so muß ich eben auch gehen. Sie haben ja eine verdammte Eile. Man sollte glauben, die Nacht wäre lang genug in dieser schauerlich kalten Stille und Einsamkeit, wenn man erst in zwei Stunden zu Bett ginge!«

Den Kopf zurücklehnend, während er das Glas austrank, fielen seine Blicke auf das Fremdenbuch, das, nebst Feder und Tinte, offen auf dem Piano lag, wie wenn die Namen während seiner Abwesenheit eingezeichnet worden wären. Er nahm es in die Hand und las die eingetragenen Namen:

William Dorrit, Esquire, Frederick Dorrit, Esquire, Edward Dorrit, Esquire, und Dienerschaft. Von Frankreich Miß Dorrit, nach Italien. Miß Fanny Dorrit, Mrs. General, Mr. und Mrs. Henry Gowan. Von Frankreich nach Italien.

Dazu fügte er mit einer kleinen, verwickelten Handschrift, in einen dünnen Schnörkel endigend, der einem um alle übrigen Namen geworfenen Lasso ähnlich sah:

Blandois. Paris. Von Frankreich nach Italien.

Dann begab er sich, während seine Nase über seinen Schnurrbart herabkam und sein Schnurrbart sich unter seiner Nase bäumte, nach der ihm angewiesenen Kammer.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Die Träume der Mrs. Flintwinch mehren sich.

Die kühlen Wartezimmer des Circumlocution Office, wo er ziemlich viele Zeit in Gesellschaft verschiedener lästiger Sträflinge verbrachte, die verurteilt waren, bei lebendigem Leibe auf diesem Rade gerädert zu werden, hatten Arthur Clennam während drei oder vier aufeinanderfolgender Tage reichliche Gelegenheit geboten, den Gegenstand seiner letzten flüchtigen Begegnung mit Miß Wade und Tattycoram genügend zu erschöpfen. Er hatte darüber nicht mehr herausbringen können und war darüber auch nicht unklarer geworden, und auf diesem unbefriedigenden Punkte sah er sich halb gezwungen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Während dieser Zeit war er nicht in dem traurigen Hause seiner Mutter gewesen. Da aber jetzt wieder einer seiner gewöhnlichen Besuchsabende gekommen war, verließ er seine Wohnung und seinen Associé gegen neun Uhr und ging langsam nach der düstern Heimat seiner Jugend.

Es machte immer auf seine Phantasie den Eindruck von etwas Grimmerfülltem, Geheimnisvollem und Traurigem; und seine Phantasie war empfänglich genug, die ganze Nachbarschaft in dem Anstrich eines dunklen Schattens zu sehen. Wenn er in einer trüben Nacht durch die dunklen Straßen schritt, schienen sie ihm alle wie Niederlagen drückender Geheimnisse. Die verlassenen Kontors mit ihren Geheimnissen von Büchern und Papieren, in Kasten und Schränken eingeschlossen: die Bankhäuser mit ihren Geheimnissen von feuerfesten Zimmern und Kellern, deren Schlüssel sich in sehr wenigen geheimen Taschen und sehr wenigen geheimen Herzen befanden; die Geheimnisse all der zerstreuten Schleifer in der großen Mühle, unter denen ganz gewiß Räuber, Fälscher und Betrüger mancherlei Art waren, die das Licht jedes anbrechenden Tages zur Entdeckung bringen konnte; er dachte vielleicht, daß diese Dinge, durch ihr Verstecktsein die Luft schwer machten. Und während der Schatten immer dichter wurde, je näher man der Quelle kam, dachte er an die Geheimnisse der einsamen Kirchengrüfte, wo die Leute, die heimlich in eisernen Kisten aufgehoben hatten, nun ihrerseits in ähnlicher Weise aufgehoben waren und noch nicht aufgehört hatten wehe zu tun; und dann an die Geheimnisse des Flusses, wie er zwischen zwei finstern Labyrinthen von Geheimnissen, die sich dicht gedrängt viele Meilen weit ausdehnten, die freie Luft und das freie Feld fernhaltend, über denen sich Winde und Vogelflug bewegten, seine trübe wirbelnde Flut hinwälzte.

Der Schatten wurde jedoch immer dunkler, je näher er dem Hause kam; das melancholische Zimmer, das sein Vater einst bewohnt, unheimlich durch das bittende Gesicht, das er selbst hatte erstarren sehen, als niemand außer ihm am Bette wachte, tauchte vor seinem Geiste auf. Die erstickende Luft war Geheimnis. Das Düster und der Moder und der Staub des ganzen Gebäudes war Geheimnis. Im Herzen desselben waltete seine Mutter mit dem unveränderlichen Gesicht und dem unbeugsamen Willen, fest die Geheimnisse aus ihrem eigenen und seines Vaters Leben bewahrend und mit strengem Sinn dem großen letzten Geheimnisse des Lebens die Stirn bietend.

Er war in die enge und steile Straße eingebogen, auf die der Hof oder die Ringmauer ging, in der das Haus stand, als ein anderer Schritt hinter ihm gleichfalls einlenkte, und zwar so dicht hinter ihm, daß er gegen die Mauer gedrängt wurde. Da sein Geist von jenen Gedanken umfangen war, traf ihn diese Begegnung ganz unvorbereitet, so daß der andre Zeit hatte, ziemlich polternd zu sagen: »Verzeihung! Nicht meine Schuld!« und vorbeizugehen, ehe er Zeit hatte, zum Bewußtsein der ihn umgebenden Wirklichkeit zu kommen.

Als dieser Moment vorüber war, sah er, daß der Mann, der vor ihm her ging, derselbe war, der in den letzten Tagen seine Gedanken so vielfach beschäftigte. Es war keine zufällige Ähnlichkeit, unterstützt durch die Kraft des Eindrucks, den der Mann auf ihn gemacht hatte. Es war wirklich der Mann, derselbe, dem er gefolgt, als er mit dem Mädchen ging, und den er dann belauschte, als er mit Miß Wade sprach.

Die Straße fiel steil ab und war außerdem krumm, und der Mann (der, obgleich nicht betrunken, doch das Ansehen hatte, von starkem Getränk aufgeregt zu sein) ging so rasch hinab, daß Clennam ihn aus den Augen verlor. Ohne die bestimmte Absicht, ihm zu folgen, aber mit einem unbestimmten Drang, die Gestalt noch ein wenig länger zu beobachten, beeilte Clennam seine Schritte, um über die Biegung der Straße hinauszukommen, die den Unbekannten seinen Blicken entzog. Als er umbog, sah er den Mann nicht mehr.

Da stand er nun dicht vor dem Torweg des mütterlichen Hause und sah die Straße hinab: aber sie war leer. Nirgend war ein schattiger Vorsprung, der groß genug gewesen, den Mann zu verstecken! nirgend eine Ecke, hinter der er hätte verschwunden sein können: auch hörte man keine Tür auf- oder zuschließen. Demungeachtet war er der Ansicht, daß der Mann einen Schlüssel in der Hand gehabt, eine der zahlreichen Haustüren geöffnet haben und dort eingetreten sein müsse.

Über den seltsamen Vorfall und das seltsame flüchtige Zusammentreffen nachsinnend, trat er in den Hofraum. Als er aus bloßer Gewohnheit nach den schwach erleuchteten Fenstern des Zimmers seiner Mutter hinaufschaute, fielen seine Blicke auf die Gestalt, die ihm soeben aus den Augen verschwunden, die an dem eisernen Gitter des kleinen öden Hofes lehnte und vor sich hinlächelte. Eine von den vielen umherstreifenden Katzen, die sich beständig hier bei Nacht umhertrieben, und die sich vor ihm fürchtete, schien stehengeblieben zu sein, als er stehenblieb, und sah von oben von der Mauer, dem Türbogen und andern sichern Orten auf ihn mit Augen herab, die den seinen durchaus nicht unähnlich waren. Er war nur einen Augenblick stehengeblieben, um sich diesen Spaß zu machen: dann ging er sogleich weiter, indem er den Zipfel seines Mantels über die Schulter warf, stieg die uneben eingesunkenen Stufen hinan und pochte laut an die Tür.

Clennams Erstaunen war nicht so groß, daß er außerstande gewesen, seinen Entschluß nicht sogleich fest zu fassen. Er ging ebenfalls nach der Tür und stieg die Stufen hinan. Der Fremde sah ihn mit prahlerischer Miene an und sang vor sich hin:

»Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Compagnon de la Majolaine!
Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?
Immer froh!«

Darauf pochte er wieder.

»Sie sind ungeduldig, Sir«, sagte Arthur.

»Das bin ich auch! Tod meines Lebens, Sir«, versetzte der Fremde, »es liegt in meinem Charakter, ungeduldig zu sein!«

Das Klirren der von Mrs. Affery zur Vorsicht vor die Tür gelegten Kette, ehe sie öffnete, bewirkte, daß sie beide nach dieser Richtung blickten. Affery öffnete ein wenig: sie hielt ein flackerndes Licht in der Hand und fragte, wer zu dieser Nachtzeit so laut poche? »Wie, Arthur?« fügte sie erstaunt hinzu, als sie ihn zuerst bemerkte. »Doch Sie nicht, wahrhaftig? Ach, der Herr schütze uns! Nein«, rief sie, als sie den andern sah. »Er ist wieder da!«

»Allerdings! Er ist wieder da, liebe Mrs. Flintwinch«, rief der Fremde, »öffnen Sie die Tür, und lassen Sie mich meinen teuren Freund Jeremiah in meine Arme schließen! Öffnen Sie die Tür, und lassen Sie mich in die Umarmung meines Flintwinch eilen!«

»Er ist nicht zu Hause«, sagte Affery.

»Holen Sie ihn!« rief der Fremde. »Holen Sie meinen Flintwinch. Sagen Sie ihm, daß es sein alter Blandois ist, der soeben in England angekommen ist; sagen Sie ihm, sein kleiner Junge sei hier, sein Kleinod, sein Vielgeliebter! Machen Sie die Tür auf, schöne Mrs. Flintwinch, und lassen Sie mich inzwischen meine Huldigung – Blandois‘ Huldigung – der Dame des Hauses darbringen. Sie lebt noch immer? Sehr gut. So machen Sie auf!«

Zu Arthurs wachsendem Erstaunen machte Mrs. Affery, während sie ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah, als wollte sie ihn warnen, sich mit diesem Herrn einzulassen, die Kette los und öffnete die Tür. Der Fremde trat ohne weiteres in die Vorhalle und ließ Arthur hinter sich dreinkommen.

»Machen Sie, daß Sie fortkommen. Beeilen Sie sich! Bringen Sie meinen Flintwinch! Melden Sie mich bei der Dame des Hauses an!« rief der Fremde, indem er mit hallenden Schritten auf dem steinernen Flur einherging.

»Bitte, sagen Sie mir, Affery«, sagte Arthur laut und streng, während er den Fremden entrüstet von Kopf bis zu Fuß maß, »wer ist dieser Herr?«

»Bitte, sagen Sie mir, Affery«, wiederholte der Fremde nun seinerseits, »wer – ha, ha, ha, wer ist dieser Herr?«

Die Stimme von Mrs. Clennam rief gerade zur rechten Zeit von ihrem Zimmer oben: »Affery, lasse sie beide heraufkommen. Arthur, komm gleich zu mir herauf!« »Arthur?« rief Blandois, indem er seinen Hut tief abnahm und die Absätze, die gerade zu einem großen Schritte weit voneinander abstanden, zusammenbrachte, während er sich zeremoniös verbeugte. »Der Sohn vom Hause? Ich bin der ergebenste Diener des Sohnes vom Hause!«

Arthur sah ihn nicht gerade schmeichelhafter denn zuvor an und ging ohne Gegengruß die Treppe hinauf. Der Fremde folgte ihm. Mrs. Affery nahm den Schlüssel, der hinter der Tür hing, und schlüpfte hurtig hinaus, um ihren Herrn zu holen.

Ein Zuschauer, der von dem früheren Erscheinen Blandois‘ in diesem Zimmer wußte, würde einen Unterschied in Mrs. Clennams heutigem Empfang mit damals bemerkt haben. In ihrem Gesicht konnte man das freilich nicht sehen; und auch ihr zurückhaltendes Wesen, ihre ruhige Stimme waren vollkommen in ihrer Gewalt. Der Unterschied bestand einzig darin, daß sie von dem Augenblick, da er eingetreten war, keinen Blick von ihm wandte, und daß sie zwei bis dreimal, wenn er zu laut wurde, etwas auf dem Stuhl, auf dem sie aufrecht dasaß, während die Hände unbeweglich auf den Seitenlehnen ruhten, sich vorbeugte, als wollte sie ihm die Versicherung geben, daß Sie ihm augenblicklich, solange er nur wolle, Gehör zu schenken bereit sei. Arthur mußte dies bemerken, obgleich er über den Unterschied zwischen dem gegenwärtigen und dem früheren Empfang nicht urteilen konnte.

»Madame«, sagte Blandois, »erzeigen Sie mir die Ehre, mich Ihrem Herrn Sohn vorzustellen. Es scheint mir, Madame, als wenn Monsieur, Ihr Sohn, Lust hätte, sich über mich zu beklagen. Er ist etwas unhöflich gegen mich.«

»Sir«, sagte Arthur, indem er ihm rasch ins Wort fiel, »wer Sie immer auch sein mögen, und auf welche Art Sie hierherkommen mögen, wenn ich Herr von diesem Hause wäre, würde ich keine Zeit verlieren, Sie hinauszuwerfen.«

»Aber du bist nicht Herr vom Hause«, sagte seine Mutter, ohne ihn anzusehen. »Zum Unglück für die Befriedigung deines unvernünftigen Wunsches bist du nicht Herr vom Hause, Arthur.«

»Ich mache auch keinen Anspruch darauf, Mutter. Wenn ich an dem Benehmen dieses Herrn in diesem Hause etwas auszusetzen habe, und zwar so viel, daß ich ihn sicherlich keine Minute länger hier dulden würde, wenn ich etwas zu sagen hätte, so geschieht das nur um Deinetwillen.«

»Im Falle eine Zurückweisung nötig wäre, könnte ich sie selbst machen«, versetzte sie. »Und ich würde mich auch nicht besinnen.«

Der Gegenstand ihres Streites, der sich gesetzt hatte, lachte laut und schlug sich mit der Hand auf das Bein.

»Du hast kein Recht«, sagte Mrs. Clennam, immer in Beziehung auf Blandois, obgleich sie die Worte direkt an ihren Sohn richtete, »zum Nachteil irgendeines Herrn zu sprechen (am wenigsten von allen eines Herrn aus fremden Lande), weil er nicht nach deinem Geschmack ist oder sein Benehmen nicht nach deinen Regeln bildete. Wohl möglich, daß der Herr aus ähnlichen Gründen Einwendungen gegen dich zu machen hat.«

»Ich hoffe es«, versetzte Arthur.

»Dieser Herr«, fuhr Mrs. Clennam fort, »brachte bei einer frühern Gelegenheit einen Empfehlungsbrief von sehr geschätzten und für seinen Charakter bürgenden Geschäftsfreunden. Ich weiß durchaus nicht, was der Grund ist, der den Herrn diesmal hierherführt. Ich kenne seine Absichten nicht im entferntesten, und es läßt sich auch nicht voraussetzen, daß ich imstande sei, auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben«; ihr gewöhnlich schon sehr finsterer Blick wurde noch finsterer, während sie diese Worte mit langsamer und gewichtiger Emphase aussprach: »wenn der Herr jedoch uns den Zweck seines Besuches auseinandersetzen wird, was ich ihn, gegen mich und Flintwinch, sobald dieser zurück ist, zu tun die Güte zu haben bitte, so wird es sich ohne Zweifel zeigen, daß es sich um unsre gewöhnlichen Geschäfte handelt, die zu fördern unser Beruf und Vergnügen ist. Es kann nichts anderes sein.«

»Wir werden sehen, Madame«, sagte der Geschäftsmann.

»Wir werden sehen«, stimmte sie zu. »Der Herr ist mit Flintwinch bekannt, und als er das letztemal in London war, erinnere ich mich gehört zu haben, daß er und Flintwinch einen Abend in stiller Vertraulichkeit und Gemütlichkeit miteinander zugebracht haben. Ich habe nicht Gelegenheit, viel von dem zu erfahren, was außerhalb meines Zimmers vorgeht, und das Geklapper des kleinlichen irdischen Treibens hat kein Interesse für mich; aber ich erinnere mich, das gehört zu haben.«

»Allerdings, Madame. So war es.« Er lachte wieder und pfiff den Refrain der Melodie, die er vor der Tür gesungen.

»Deshalb, Arthur«, sagte die Mutter, »kommt dieser Herr als ein Bekannter und nicht als ein Fremder hierher; und es ist sehr zu bedauern, daß deine unvernünftige Leidenschaftlichkeit Anstoß an ihm genommen. Ich bedaure es. Ich sage dies zu dem Herrn. Ich weiß, du würdest es nicht sagen; deshalb sage ich es für mich und für Flintwinch, da dieser Herr mit uns beiden Geschäfte macht.«

Man hörte jetzt den Schlüssel in dem Schloß der Haustür und die Tür auf- und zugehen. Infolgedessen erschien Mr. Flintwinch; bei seinem Eintritt stand der Fremde laut lachend von seinem Stuhl auf und schloß ihn fest in seine Arme.

»Wie, geht es, mein teurer Freund?« sagte er. »Wie sieht die Welt aus, mein Flintwinch? Rosenfarbig? Um so besser, um so besser! Ach, aber Sie sehen reizend aus! Sie sehen jung und frisch aus wie Frühlingsblumen! Ach, mein guter, kleiner Junge! Braves Kind, braves Kind!«

Während er Mr. Flintwinch mit diesen Komplimenten überhäufte, drehte er ihn mit einer Hand auf jeder der beiden Schultern um und um, bis die Schwankungen des armen Mannes, der bei dieser Behandlung noch trockner und verdrehter aussah denn sonst, dem eines ausgelaufenen Kreisels ähnlich wurden. »Ich hatte das letztemal eine Ahnung, daß wir noch besser und intimer bekannt werden würden. Fühlen Sie das auch, Flintwinch? Fühlen Sie das schon?«

»O nein, Sir«, versetzte Mr. Flintwinch, »fühle nicht« Ungewöhnliches. Würden Sie sich nicht lieber setzen? Sie kamen gewiß, um noch einmal Portwein zu kosten, Sir?«

»Ah, kleiner Spottvogel! kleiner Schäker!« rief der Fremde. »Ha, ha, ha, ha!« Und indem er zum Schlusse seines Scherzes Mr. Flintwinch von sich stieß, setzte er sich wieder.

Das Erstaunen, der Verdacht, die Entrüstung und die Scham, womit Arthur alledem zusah, machten ihn stumm. Mr. Flintwinch, der von der Heftigkeit des letzten Stoßes zwei oder drei Ellen zurückgetaumelt war, erholte sich wieder, und sein Gesicht hatte den ruhigen, dummen Ausdruck nicht verloren, nur sein Atem war kürzer geworden. Er stierte Arthur an, und nicht weniger verschlossen und hölzern war Mr. Flintwinch äußerlich, als sonst im gewöhnlichen Verlauf der Dinge; der einzige bemerkbare Unterschied war der, daß der Knoten seiner Krawatte, der sich gewöhnlich unter seinem Ohr befand, sich nach seinem Hinterkopf herumgearbeitet hatte, wo er ein schmuckhaftes Anhängsel bildete, nicht unähnlich einem Haarbeutel, wodurch Flintwinch ein höfisches Aussehen bekam.

Da Mrs. Clennam keinen Blick von Blandois wegwandte (auf den sie einen Eindruck machten wie ein stetiger Blick auf einen gemeinen Hund), so wandte Jeremiah kein Auge von Arthur. Es war, als wenn sie stillschweigend übereingekommen wären, jeder seinen besonderen Standpunkt einzunehmen. Während der darauffolgenden Pause stand deshalb Jeremiah da und kratzte an seinem Knie, während er Arthur ansah, als wenn er seine Gedanken mit einem Instrument herauszuholen versuchte.

Nach einer Weile stand der Fremde, als ob er das Schweigen langweilig fände, auf und stellte sich ungeduldig mit dem Rücken an das heilige Feuer, das so viele Jahre unausgesetzt gebrannt hatte. Darauf sagte Mrs. Clennam, indem sie zum ersten Male eine ihrer Hände bewegte und damit die Gebärde der Verabschiedung verband:

»Bitte, Arthur, überlaß uns unsern Geschäften.«

»Mutter, ich tue es mit Widerstreben.«

»Laß dich das nicht kümmern oder überhaupt irgend etwas«, versetzte sie. »Bitte, verlasse uns; komm zu jeder andern Zeit wieder, wenn du es für deine Pflicht halten magst, eine halbe Stunde hier langweilig zu verbringen. Gute Nacht.«

Sie hielt ihm ihre eingehüllten Finger hin, damit er sie, wie gewöhnlich, mit den seinen berühre, und er beugte sich über ihren Rollstuhl herab, um ihr Gesicht mit seinen Lippen zu berühren. Es kam ihm vor, als wenn ihre Wange gespannter und kälter wäre denn sonst. Als er sich aufrichtete und der Richtung ihres Blickes auf Mr. Flintwinchs guten Freund, Mr. Blandois, folgte, schlug dieser mit seinem Zeigefinger und Daumen ein lautes und verächtliches Schnippchen. »Ich lasse Ihren – Ihren Geschäftsfreund mit großem Erstaunen und höchst ungern in meiner Mutter Zimmer zurück, Mr. Flintwinch«, sagte Clennam.

Die genannte Person schlug wieder mit Daumen und Zeigefinger ein Schnippchen.

»Gute Nacht, Mutter.«

»Gute Nacht!«

»Ich hatte einst einen Freund, mein lieber Kamerad Flintwinch«, sagte Blandois, mit ausgespreizten Beinen vor dem Feuer stehend, so deutlich in der Absicht, Clennams zögernde Schritte zu hemmen, daß dieser in der Nähe der Tür stehenblieb: »Ich hatte einst einen Freund, der soviel von der Nachtseite dieser Stadt und ihrem Treiben gehört, daß er sich nach eingetretener Dunkelheit keinen zwei Leuten anvertraut hätte, die Ursache hatten, ihn unter den Boden zu bringen, – meiner Treu! nicht einmal in einem respektablen Hause, wie dieses – außer wenn er ihnen an Körperkraft überlegen war. Bah! was für ein Hasenfuß, mein Flintwinch! Hm?«

»Ein Feigling, das, Sir.«

»Einverstanden. Ein Feigling. Aber er würde das nicht getan haben, mein Flintwinch, außer wenn er gewußt, daß sie den Willen haben, ihn verstummen zu machen, aber nicht die Macht. Er hätte unter diesen Verhältnissen nicht mal aus einem Glase Wasser getrunken – selbst nicht in einem respektablen Hause, wie dieses, mein Flintwinch –, wenn er nicht zuvor jemanden von ihnen daraus hätte trinken, ja schlucken sehen!«

Clennam, der zu antworten verschmähte und es wirklich auch kaum imstande war, da ihm der Atem benommen war, sah den Fremden nur noch beim Hinausgehen flüchtig an. Der Fremde grüßte ihn mit einem abermaligen Schnippchen zum Abschied, und seine Nase senkte sich über seinen Schnurrbart herab, und sein Schnurrbart bäumte sich unter seiner Nase empor, während er unheilverkündend und häßlich lächelte.

»Um’s Himmels willen, Affery«, flüsterte Clennam, als sie ihm in der dunkeln Halle die Tür öffnete und er den Weg hinaussuchte, bis er den Nachthimmel erblickte, »was geht hier vor?«

Ihre Erscheinung war wahrhaftig gespenstisch, wie sie mit der Schürze über dem Kopf in der Dunkelheit dastand und dahinter hervor mit leiser, gedämpfter Stimme sprach:

»Fragen Sie mich nach nichts, Arthur. Ich träume seit lange in einem fort. Gehen Sie!«

Er ging hinaus, und sie schloß die Tür hinter ihm. Er sah hinauf nach den Fenstern des Zimmers seiner Mutter, und das trübe Licht, durch die gelben Vorhänge noch gedämpft, schien hinter Afferys Warnung drein zu antworten und zu murmeln: »Frage mich nach nicht«. Geh!«

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Ein Brief von Klein-Dorrit.

Lieber Mr. Clennam!

Da ich Ihnen in meinem letzten Brief schrieb, daß es am besten sei, wenn mir niemand schreibe, und da ein Brief, den ich Ihnen sende, Ihnen keine andere Beschwerlichkeit bereiten kann, als ihn zu lesen (vielleicht finden Sie nicht mal dazu Gelegenheit, obgleich ich hoffe, daß auch dieser Tag kommen wird), so will ich nun eine Stunde einem Briefe an Sie widmen. Diesmal schreibe ich Ihnen von Rom.

Wir verließen Venedig vor Mr. und Mrs. Gowan, aber sie waren nicht so lange unterwegs wie wir und machten nicht denselben Weg, so daß wir sie bei unserer Ankunft in einer Wohnung hier, an der sogenannten Via Gregoriana, fanden. Ich bin überzeugt. Sie kennen sie.

Nun will ich Ihnen alles, was ich von ihnen weiß, erzählen, weil ich überzeugt bin, daß Sie das am liebsten hören. Sie haben keine sehr komfortable Wohnung, aber vielleicht erschien sie mir anfangs weniger so, als es bei Ihnen der Fall gewesen wäre, weil Sie in vielen Ländern waren und mancherlei verschiedene Sitten kennengelernt haben. Natürlich ist es eine viel, viel bessere Wohnung – millionenmal schöner – als diejenige, an die ich bis vor kurzem gewöhnt gewesen bin; ich bilde mir ein, sie nicht mit meinen Äugen, sondern mit den ihrigen zu betrachten. Denn es läßt sich leicht erkennen, daß sie stets in einer liebevollen und glücklichen Umgebung aufgewachsen ist, selbst wenn sie nicht mit so großer Anhänglichkeit davon gesprochen hätte.

Nun, es ist eine etwas kahle Wohnung, zu der eine ziemlich dunkle gemeinsame Treppe führt, und besteht aus beinahe nichts denn einem großen, dunklen Zimmer, wo Mr. Gowan malt. Die Fenster, durch die man hinaussehen könnte, sind versperrt, und die Wände sind über und über mit Kreide und Kohle von andern bemalt, die vorher dort gewohnt, – ach, vielleicht seit vielen Jahren! Ein Vorhang, der mehr staubfarbig als rot aussieht, teilt das Zimmer, und der Teil hinter dem Vorhang ist das Privatwohnzimmer. Als ich sie zuerst darin sah, war sie allein, die Arbeit war ihr aus der Hand gesunken, und sie blickte zum Himmel empor, der durch den obern Teil der Fenster hereinschaute. Bitte, grämen Sie sich nicht darüber, wenn ich es Ihnen sage, aber es war alles nicht ganz so luftig, noch so hell und freundlich, noch so glücklich und jugendfrisch, wie ich es wohl gewünscht hätte.

Durch den Umstand, daß Mr. Gowan Papas Bild malt (was ich wohl kaum an der Ähnlichkeit gemerkt, wenn ich nicht dabei gewesen wäre, wie er malte), hatte ich häufiger Gelegenheit, seit jener Zeit bei ihr zu sein, als es wohl ohne diesen glücklichen Zufall der Fall gewesen. Sie ist sehr viel allein. Wirklich sehr viel allein.

Soll ich Ihnen von meinem zweiten Besuch bei ihr erzählen? Ich ging eines Tages, als es sich gerade traf, daß ich allein zu ihr hinüberspringen konnte, um vier oder fünf Uhr nachmittags zu ihr. Sie speiste allein zu Mittag, und ihr einsames Mahl war ihr von irgendwo auf einer Art Kohlenbecken, mit Feuer darin, gebracht worden, und sie hatte keine Gesellschaft oder Aussicht auf Gesellschaft, soweit ich sehen konnte, als den alten Mann, der das Essen gebracht. Er erzählte ihr eine lange Geschichte (von Räubern, die draußen vor der Stadt von einem steinernen Heiligenbild festgenommen worden), um sie zu unterhalten, wie er zu mir sagte, als ich wegging, »weil er selbst eine Tochter habe, die aber nicht so schön sei.«

Ich muß nun auch Mr. Gowan erwähnen, ehe ich das wenige sage, was ich weiter von ihr mitzuteilen habe. Er muß ihre Schönheit bewundern und stolz auf sie sein, denn jedermann rühmt sie, und er muß sie lieb haben, und ich zweifle auch nicht, daß dies der Fall, aber, eben in seiner Weise. Sie kennen seine Weise, und wenn sie ebenso nachlässig und gleichgültig in Ihren Augen erscheint als in den meinen, so habe ich gewiß nicht unrecht, wenn ich meine, daß sie wohl etwas anders und besser für sie sein dürfte. Wenn das nicht auch Ihre Ansicht ist, so bin ich überzeugt, daß ich mich vollständig im Irrtum befinde; denn Ihr unverändertes, armes Kind vertraut ganz und gar auf Ihr Wissen und Ihre Güte, mehr als es Ihnen jemals sagen könnte, wenn es auch den Versuch machte; aber erschrecken Sie nicht, ich werde es niemals versuchen.

Mr. Gowans unbeständiges und unzufriedenes Wesen ist (wie ich glaube, wenn Sie auch der Ansicht sind) schuld daran, daß er sich seinem Berufe sehr wenig widmet. Er tut nichts mit Ausdauer und Geduld; er fängt die Sachen an und läßt sie ebenso wieder liegen, und nimmt sie in Angriff und schiebt sie wieder beiseite, ohne sich weiter darum zu kümmern. Wenn ich ihn während der Sitzungen mit Papa habe manchmal sprechen hören, dachte ich mir, ob er vielleicht an gar nichts glaube, weil er keinen Glauben an sich hat. Ist dem so? Ich bin neugierig zu erfahren, was Sie sagen werden, wenn Sie auf diesen Punkt kommen. Ich weiß, wie Sie es ansehen würden und kann beinahe die Stimme hören, mit der Sie zu mir auf der Iron Bridge sprechen würden.

Mr. Gowan begibt sich viel unter das, was hier für die beste Gesellschaft gilt – obgleich es nicht den Anschein hat, als wenn er viel Gefallen daran fände oder einen Genuß darin sähe, wenn er dort ist –, und sie begleitet ihn zuweilen, in letzter Zeit ist sie dagegen wenig ausgegangen. Ich glaube bemerkt zu haben, daß sie in einer sehr ungereimten Weise von ihr sprechen, als wenn sie durch die Heirat mit Mr. Gowan ein sehr eigennütziges Glück gemacht, obgleich ganz dieselben Leute sich nicht im Schlafe einfallen lassen würden, ihn für sich oder ihre Töchter zu nehmen. Dann geht er auch aufs Land hinaus, um zu überlegen, wo und wann er Skizzen machen wolle: und überall, wo Fremde sind, hat er zahlreiche Freunde und ist wohlbekannt. Außerdem hat er einen Freund, der viel in seiner Gesellschaft ist, zu Hause, wie auswärts, obgleich er diesen Freund sehr kühl behandelt und sehr launisch in seinem Benehmen gegen ihn ist. Ich weiß ganz gewiß (denn sie hat es mir gesagt), daß sie diesen Freund nicht gern sieht. Er hat auch für mich etwas so Abstoßendes, daß es eine wahre Erleichterung für meine Seele ist, daß er im Augenblick sich nicht hier befindet. Wieviel mehr für sie!

Was ich Ihnen jedoch ganz besonders mitteilen möchte, und weshalb ich mich entschlossen habe, Ihnen so viel zu schreiben, trotzdem ich fürchte, es möchte Sie ohne Grund etwas beunruhigen, ist dies. Sie ist so wahr und hingebend und weiß so vollkommen, daß all ihre Liebe und Pflicht für immer ihm gehören, daß Sie überzeugt sein können, sie wird ihn lieben, ihn bewundern, ihn loben und alle seine Fehler verheimlichen, bis sie stirbt. Ich glaube sogar, sich selbst verbirgt sie dieselben und wird sie sich ewig verbergen. Sie hat ihm ein Herz geschenkt, das nicht mehr zurückgenommen werden kann; und wie sehr er es auch versuchen mag, er wird ihre Liebe niemals erschöpfen. Sie wissen die Wahrheit von solchen Herzen weit besser als ich. Aber ich mußte Ihnen sagen, welches Gemüt sie an den Tag legt und daß Sie nie zu gut von ihr denken können.

Ich habe sie in dem ganzen Brief noch nicht beim Namen genannt, aber wir sind jetzt so befreundet, daß ich sie bei ihrem Vornamen nenne, wenn wir ruhig beieinander sitzen, und auch sie nennt mich – nicht bei meinem Taufnamen, sondern bei dem, den Sie mir gegeben haben. Als sie mich Amy zu nennen begann, erzählte ich ihr meine kurze Geschichte, und daß Sie mich immer Klein-Dorrit genannt. Ich sagte ihr, daß mir dieser Name viel teurer sei als irgendein anderer, und so nennt sie mich nun auch Klein-Dorrit.

Vielleicht hat es Ihnen ihr Vater oder ihre Mutter noch nicht mitgeteilt, und Sie wissen es deshalb noch nicht, daß sie einen kleinen Jungen hat. Er ist erst vor zwei Tagen geboren, gerade eine Woche nach ihrer Ankunft. Es hat sie sehr glücklich gemacht. Ich muß Ihnen jedoch sagen, da ich Ihnen alles sagen soll, daß es mir vorkommt, als ob sie mit Mr. Gowan etwas gespannt wären, und daß sie seine spöttische Art ihnen gegenüber bisweilen für eine Kränkung ihrer Liebe zu ihrem Kinde ansehen. Erst gestern, als ich drüben war, sah ich Mr. Meagles seine Farbe wechseln und aufstehen und hinausgehen, als ob er fürchtete, er möchte seinen Zorn laut werden lassen, wenn er es nicht auf diese Art hinderte. Und doch bin ich überzeugt, sie sind so rücksichtsvoll, gutmütig und vernünftig, daß er ihnen den Kummer ersparen könnte. Es ist hart von ihm, daß er nicht etwas mehr Rücksicht auf sie nimmt.

Ich unterbrach mich bei dem letzten Absatz, um alles noch einmal zu überlesen. Es kam mir anfangs vor, als wenn ich mir eigentlich bloß alles verständlich und deutlich machen wollte; deshalb war ich auch gesonnen, den Brief gar nicht abzusenden. Als ich mir die Sache jedoch ein wenig überlegt, glaubte ich, mich der Hoffnung hingeben zu dürfen, Sie würden gleich merken, daß ich bloß um Ihretwillen so auf alles geachtet und nur beachtet, was ich beobachtet zu haben glaube, weil mich das Interesse, das Sie daran nehmen, dazu anspornte. Wahrhaftig, Sie dürfen mir glauben, das ist die Ursache.

Und nun habe ich für den gegenwärtigen Brief mit dieser Sache abgeschlossen und weiß nur wenig mehr zu sagen.

Wir sind alle sehr wohl, und Fanny macht jeden Tag Fortschritte. Sie können sich kaum denken, wie freundlich sie gegen mich ist, und welche Mühe sie sich mit mir gibt. Sie hat einen Verehrer, der ihr gefolgt ist, erst den ganzen Weg von der Schweiz, dann den ganzen Weg von Venedig, und der mir eben anvertraut hat, daß er ihr überall hin zu folgen gedenke. Ich war sehr in Verlegenheit, als er mit mir davon sprach, aber er wollte nicht anders. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, zuletzt sagte ich ihm jedoch, daß ich es für besser halte, wenn er es nicht tun würde. Denn Fanny (das sagte ich ihm jedoch nicht) ist viel zu gescheit und gewandt, um für ihn zu taugen. Er sagte aber dennoch, er würde bei seinem Vorsatz beharren. Ich habe natürlich keinen Verehrer.

Wenn Sie je soweit in diesem lange Briefe kommen, so werden Sie vielleicht sagen, gewiß wird Klein-Dorrit nicht schließen, ohne mir etwas von ihren Reisen zu sagen, und sicher ist es jetzt auch Zeit dazu. Wahrhaftig der Meinung bin ich auch, aber ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Seit wir Venedig verließen, waren wir in vielen wundervollen Städten, wie Genua und Florenz, und haben so viele wundervolle Eindrücke gehabt, daß mir beinahe schwindlig wird, wenn ich an die große Masse von Dingen denke. Aber Sie könnten mir so viel mehr davon erzählen, als ich Ihnen, daß ich nicht wüßte, weshalb ich Sie mit meinen Berichten und Schilderungen ermüden sollte.

Lieber Mr. Clennam, da ich den Mut hatte, Ihnen zu sagen, in welch stille Verlegenheit früher diese Reiseeindrücke meinen Geist versetzten, so will ich auch jetzt nicht verzagt sein. Einer meiner häufigsten Gedanken ist der: So alt diese Städte sind, ist mir ihr Alter kaum so merkwürdig und bietet mir kaum so viel Stoff zum Nachdenken als der Umstand, daß sie die ganze Zeit an ihrem Orte standen, während ich von der Existenz von zweien oder dreien höchstens etwas wußte und kaum etwas außerhalb unserer alten Mauern kannte. Es liegt etwas Melancholisches in dem Gedanken, und doch weiß ich nicht warum. Als wir neulich den berühmten schiefen Turm zu Pisa betrachteten, war’s ein heller sonniger Tag, und der Turm und die Gebäude ringsumher sahen so alt aus und die Erde und der Himmel so jung und der Schatten auf dem Boden so weich und ruhig! Ich konnte anfangs gar nicht an das Schöne und Interessante dieses Bildes denken, sondern ich mußte mir sagen: »Oh, wie viele Male, wenn der Schatten der Mauer auf unser Zimmer fiel und die müden Schritte im Hofe drunten auf und ab gingen, – oh, wie viele Male war dieser Platz ebenso still und lieblich wie heute!« Es hat mich ganz überwältigt. Mein Herz war so voll, daß mir die Tränen aus den Augen traten, obgleich ich mir alle Mühe gab, sie zurückzuhalten. Und ich habe dasselbe Gefühl oft – oft. Wissen Sie, daß ich, seit die Veränderung in unsern Vermögensverhältnissen eingetreten ist, obgleich mir ist, als träumte ich öfter denn zuvor, immer von mir geträumt habe, als wäre ich sehr jung? Ich sei nicht sehr alt, werden Sie sagen. Nein, das ist’s aber auch nicht, was ich meine. Ich träumte immer von mir, als wäre ich ein Kind, das nähen lernt. Ich träumte oft von mir, als wäre ich wieder dort, schaute auf wenig bekannte Gesichter im Hofe drunten, die ich glauben sollte, ganz vergessen zu haben, aber ebensooft bin ich auf Reisen – in der Schweiz oder Frankreich oder Italien – irgendwo, wo wir gewesen sind – aber immer als das kleine Kind. Mir träumte, ich sei zu Mrs. General mit den geflickten Kleidern hinabgegangen, in denen ich mich meiner zuerst erinnerte. Gar häufig träumte mir, ich setze mich in Venedig in großer Gesellschaft zu Tisch in Trauer um meine arme Mutter, in den Kleidern, die ich trug, als ich acht Jahre alt war, und noch lange trug, nachdem sie ganz fadenscheinig geworden und sich nicht mehr flicken lassen wollten. (5s hat mir großen Kummer gemacht, wenn ich daran dachte, wie wenig passend die Gesellschaft meine Erscheinung zu dem Reichtum meines Vaters finden werde, und wie sehr ich mir sein und Fannys und Edwards Mißfallen und Ungnade dadurch zuziehen würde, daß ich so offen zur Schau trage, was sie geheimzuhalten wünschen. Aber ich bin bei diesem Gedanken doch nicht älter geworden; und im selben Moment träumte mir, ich hätte mit Kopfweh am Tisch gesessen und hätte die Kosten des Diners berechnet und wäre ganz verrückt geworden bei dem Gedanken, wie das wieder gutgemacht werden sollte. Ich habe nie von den Veränderungen in unsern Vermögensverhältnissen geträumt! Nie vor jenem denkwürdigen Morgen, als Sie mit mir nach Hause gingen, um es meinem Vater mitzuteilen; ich habe sogar von Ihnen nie geträumt.

Lieber Mr. Clennam, es ist möglich, daß ich an Sie – und andere – bei Tage so oft gedacht habe, daß ich des Nachts keine Gedanken mehr übrig habe, die sich mit Ihnen beschäftigen konnten. Denn ich muß Ihnen jetzt gestehen, daß ich an Heimweh leide – daß ich mich so lebhaft und ernstlich nach der Heimat sehne, daß ich mich manchmal, wenn es niemand sieht, recht darob abhärme. Der Gedanke ist mir unerträglich, mein Gesicht noch weiter davon abzuwenden. Mein Herz wird mir etwas leichter, wenn wir uns der Heimat zukehren, und wären’s auch nur ein paar Meilen, wenn ich selbst weiß, daß wir bald wieder umkehren müssen. So teuer ist mir der Schauplatz meiner Armut und Ihrer Güte. Oh, so teuer, oh, so teuer!

Der Himmel weiß, wann Ihr armes Kind England wiedersehen wird. Allen (außer mir) gefällt das Leben hier sehr, und es ist noch kein Projekt wegen unserer Heimkehr zur Sprache gekommen, 3I?ein Vater spricht davon, daß er nächsten Frühling wegen einiger Vermögensangelegenheiten nach London gehen werde, aber ich habe keine Hoffnung, daß er mich mitnehmen wird. Ich habe mir Mühe gegeben, unter Mrs. Generals Anleitung einige Fortschritte zu machen, und ich hoffe, daß ich nicht mehr ganz so schwerfällig bin wie früher. Ich fange an, die schweren Sprachen, von denen ich Ihnen sagte, ziemlich leicht zu verstehen und zu sprechen. Ich erinnerte mich nicht, als ich Ihnen das letztemal schrieb, daß Sie beide beherrschen, aber es fiel mir später ein, und das half mir vorwärts. Gott segne Sie, lieber Mr. Clennam. Vergessen Sie nicht

Ihre ewig dankbare und ergebene

Klein-Dorrit.

P. S. Besonders vergessen Sie nicht, daß Minnie Gowan des besten Andenkens würdig ist, das Sie ihr weihen können. Sie vermögen nicht zu edel oder zu hoch von ihr zu denken. Ich vergaß das letztemal Mr. Pancks. Bitte, wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn freundlichst von Ihrer Klein-Dorrit. Er war immer sehr gut gegen Klein-Dorrit.

Zwölftes Kapitel


Zwölftes Kapitel

In welchem eine große patriotische Konferenz gehalten wird.

Der berühmte Name Merdle wurde mit jedem Tage berühmter im Lande. Niemand wußte, daß dieser hochberühmte Merdle je irgend jemand, sei er noch am Leben oder bereits verstorben, oder überhaupt irgendeinem Ding auf Erden irgend etwas Gutes erwiesen; niemand wußte, daß er irgendeine Fähigkeit oder einen Willen besaß, die je für irgendein Geschöpf auch nur den schwächsten Lichtstrahl auf irgendeinen Pfad der Pflicht oder Erholung, des Kummers oder Vergnügens, der Anstrengung oder Ruhe, der Wirklichkeit oder Phantasie unter all den zahlreichen Pfaden jenes Labyrinthes geworfen, in dem sich die Söhne Adams bewegen; niemand fühlte den geringsten Grund anzunehmen, daß der Stoff, aus dem dieser Gegenstand der Verehrung gemacht war, anderer Art sei als der allergewöhnlichste Ton, und dazu mit einem so klumpigen, rauchenden Docht, wie je ein Menschenbild, ehe es auseinanderfiel. Alle Leute wußten oder glaubten zu wissen, daß er sich ungeheuer bereichert, und aus diesem Grunde allein warfen sie sich vor ihm nieder, und zwar auf eine entwürdigendere und unentschuldbarere Weise als der roheste Wilde, der aus seiner Höhle aus der Erde kriecht, um in einem Klotz oder Reptil die Gottheit seiner nachtumhüllten Seele gnädig für sich zu stimmen.

Ja, die Hohenpriester dieses Kultus hatten den Mann vor sich als einen Protest gegen ihre Niedrigkeit. Die Masse huldigte auf den Glauben hin – obgleich immer genau wissend warum –, aber die den Kultus verrichtenden Priester am Altare hatten gewöhnlich den Mann selbst vor Augen. Sie saßen bei seinen Festen, und er saß bei ihren Festen. Immer begleitete ihn ein Gespenst, das zu diesen Hohepriestern sagte: »Sind das die Zeichen, an die ihr glaubt und denen zu huldigen euch Vergnügen macht? Dieser Kopf, diese Augen, diese Art zu sprechen, der Ton und das Wesen dieses Mannes? Ihr seid die Stützen des Circumlocution Office und die Beherrscher der Menschen. Wenn ein halbes Dutzend von euch handgemein werden, so scheint die Mutter Erde keine andern Beherrscher mehr zeugen zu können. Liegt eure Berechtigung in der besseren Kenntnis der Menschen, die diesen Mann empfängt, denen er hofiert und die er stolz macht? Oder, wenn ihr imstande seid, die Zeichen richtig zu beurteilen, die ich nie verfehle, euch zu zeigen, wenn er unter euch erscheint, ist es denn eure größere Redlichkeit, die euch dazu berechtigt?« Zwei ziemlich häßliche Fragen, die immer mit Mr. Merdle in der Stadt umhergehen; und es war stillschweigend allgemein angenommen worden, daß man sie niederhalten müsse.

Während der Abwesenheit von Mrs. Merdle im Auslande hielt Mr. Merdle das Haus beständig für den großen Strom von Besuchen offen. Einige wenige von diesen nahmen freundlich Besitz von dem Hause. Drei bis vier Damen von Rang und lebhaftem Wesen pflegten zueinander zu sagen: »Wir wollen Donnerstag bei unserm lieben Merdle essen. Wen werden wir einladen?« Unser lieber Merdle erhielt dann seine Instruktion und saß schwerfällig unter der Gesellschaft bei Tisch und ging später schläfrig in seinen Empfangzimmern umher, einzig dadurch auffallend, daß er gar nichts mit der Unterhaltung, die lebhaft im Gange war, zu tun zu haben schien.

Der Oberhaushofmeister, der Rachegeist im Leben dieses großen Mannes, verlor nichts von seiner Strenge. Er sah bei diesen Diners, solange der Busen nicht da war, zu, wie er bei den andern Diners zugesehen, wenn der Busen da war; und sein Auge war ein Basilisk für Mr. Merdle. Er war ein strenger Mann und hätte nicht eine Unze Speise oder eine Flasche abgezogen. Er würde nicht erlaubt haben, daß ein Diner gegeben werde, wenn er nicht hätte zusehen können. Er arrangierte die Tafel für seine eigene Würde. Wenn die Gäste das zu genießen beliebten, was serviert wurde, hatte er nichts dagegen: aber serviert wurde es zur Aufrechthaltung seines Ranges. Wenn er so an dem Nebentisch stand, schien er sagen zu wollen: »Ich habe das Amt übernommen, das, was vor mir ist, zu beaufsichtigen und nichts Geringeres als dies zu beaufsichtigen.« Wenn er den Vorsitzenden Busen vermißte, so war es gewissermaßen ein Teil seiner eigenen Würde, dessen er, aus unabweisbaren Gründen, für den Augenblick beraubt war. Gerade wie wenn er einen Tischaufsatz oder einen kostbaren Weinkühler vermißte, die zum Bankier geschickt wären.

Mr. Merdle ließ Einladungen zu einem Barnaclediner ergehen. Lord Decimus sollte daran teilnehmen, Mr. Tite Barnacle sollte teilnehmen, der angenehme junge Barnacle sollte teilnehmen; und

Bankier Merdle.

der Chorus der Parlamentarbarnacles, die in den Provinzen umherzogen, wenn das Haus geschlossen war, und den Ruhm ihres Anführers sangen, auch diese sollten teilnehmen. Natürlich war dies ein großartiges Ereignis. Mr. Merdle wollte die Barnacles bei sich sehen. Einige zarte kleine Geschäfte waren zwischen ihm und dem edlen Decimus zustande gebracht worden – der junge Barnacle mit den einnehmenden Manieren hatte den Unterhändler gemacht –, und Mr. Merdle hatte beschlossen, das Gewicht seiner großen Rechtlichkeit und großen Reichtümer in die Wagschale der Barnacles zu werfen. Mäkelei war den Arglistigen verdächtig: vielleicht weil es unleugbar, daß, wenn die Ergebenheit des unsterblichen Menschenfeindes durch Mäkeln hätte gewonnen werden können, die Barnacles es sicher getan hätten – zum Besten des Landes, natürlich zum Besten des Landes.

Mr«. Merdle hatte an diesen ihren herrlichen Gemahl, den als etwas Geringeres anzusehen als alle britischen Kaufleute seit den Tagen Whittingtons1 zusammengenommen, und drei Fuß tief vergoldet, Ketzerei war – sie hatte von Rom an ihren Gemahl mehrere Briefe hintereinander geschrieben, worin sie ungestüm in ihn drang, daß jetzt oder nie die Zeit sei, für Edmund Sparkler zu folgen. Mrs. Merdle hatte ihm gezeigt, daß die Sache Edmunds dringend sei, und daß unendliche Vorteile daraus für ihn entständen, wenn er etwas Gutes sogleich bekäme. In der Grammatik von Mrs. Merdles auf diese Sache sich beziehenden Zeitwörtern war nur ein Modus: der Imperativ; und dieser Modus hatte nur eine Zeit: das Präsens. Mrs. Merdles Zeitwörter wurden Mr. Merdle so dringend zum Konjungieren empfohlen, daß sein träges Blut und seine langen Rockaufschläge in große Bewegung kamen.

In diesen, Zustande der Aufregung hatte Mr. Merdle – dessen Blicke sich ausweichend um des Oberhaushofmeisters Schuhe hin und her bewegten, ohne sich zu dem Index der Gedanken dieser ungeheuren Kreatur zu erheben, – Mr. Merdle hatte ihm seine Absicht kundgetan, ein spezielles Diner zu geben: nicht ein sehr großes Diner, sondern ein spezielles Diner. Der Oberhaushofmeister hatte darauf kundgetan, daß er nichts dagegen einzuwenden habe, wenn das Diner noch so kostbar sei und er es überwachen werde: und der Tag des Diners war nun erschienen.

Mr. Merdle stand in einem seiner Empfangszimmer, den Rücken dem Feuer zugekehrt und die Ankunft seiner wichtigen Gäste erwartend, da. Er nahm sich selten oder nie die Freiheit, mit dem Rücken an seinem Feuer zu stehen, wenn er nicht ganz allein war. In Gegenwart des Oberhaushofmeisters hätte er so etwas nicht getan. Er würde sich selbst in seiner Konstablerart am Handgelenk ergriffen haben und auf dem Teppich vor dem Kamin auf und ab gegangen sein oder wäre unter den rauhen Möbeln hin und her geschlichen, wenn sein tyrannischer Diener in diesem Augenblick im Zimmer erschienen wäre. Die hinterlistigen Schatten, die aus ihrem Versteck hervorzukommen schienen, wenn das Feuer emporflackerte, und sich wieder in dasselbe zurückzogen, wenn das Feuer zusammensank, waren der Zeugen genug, wenn er seiner Bequemlichkeit pflegte. Sie waren sogar mehr als genug, wenn man seinem scheuen Blick auf sie einen Gedanken unterschob.

Mr. Merdles rechte Hand war voll von Abendzeitungen und die Abendzeitungen waren voll von Mr. Merdle. Sein erstaunliches Unternehmen, sein erstaunlicher Reichtum, seine erstaunliche Bank war das mästende Futter der Abendzeitung dieses Tages. Die wundervolle Bank, deren Hauptbesitzer, Begründer und Vorstand er war, bildete das jüngste der vielen Wunder Merdles. Bei alledem und mitten in diesen prachtvollen Unternehmungen war Mr. Merdle so bescheiden, daß er weit eher wie ein Mann aussah, der sein gepfändetes Haus nur noch für den Augenblick besaß, als wie ein Handelskoloß, der auf seinem eigenen Kaminteppich stand, während die kleinen Schiffe zum Diner einliefen.

Betrachtet mal die in den Hafen steuernden Schiffe! Der gewinnende junge Barnacle war der erste, der kam; aber Advokat holte ihn auf der Treppe ein. Advokat, wie gewöhnlich durch sein doppeltes Augenglas und seine kleine Juryverbeugung unterstützt, war außerordentlich erfreut, den gewinnenden jungen Barnacle zu sehen, und sprach die Vermutung aus, daß sie beide »in Banco« zu sitzen beabsichtigten, wie wir Advokaten das heißen, wenn wir einen ausgezeichneten Fall haben.

»Gewiß«, sagte der geistreiche junge Barnacle, der Ferdinand hieß: »Wieso?«

»Nun«, lächelte Advokat, »Wenn Sie nicht wissen, wie kann ich wissen? Sie stehen ja im Allerheiligsten des Tempels; ich bin einer von der bewundernden Masse draußen auf dem freien Feld.«

Advokat konnte einen leichten oder schweren Ton anschlagen, je nach dem Manne, mit dem er es zu tun hatte. Mit Ferdinand Barnacle scherzte er. Advokat war ferner immer bescheiden und schien sich zu unterschätzen, aber auf seine Art. Advokat war ein Mann von sehr verschiedenem Wesen in seinem Benehmen: aber ein roter Faden2 zog sich durch das Gewebe aller seiner Muster. Jeder, mit dem er zu tun hatte, war in seinen Augen ein Geschworener; und diesen Geschworenen mußte er herumkriegen, wenn er konnte.

»Unser hochberühmter Wirt und Freund«, sagte Advokat, »unser glänzender Handelsstern, will sich in die Politik hineinbegeben.«

»Hineinbegeben? Er war einige Zeit, wie Sie wissen, im Parlament«, versetzte der gewinnende junge Barnacle.

»Allerdings«, sagte Advokat, mit seinem feinkomischen Lachen für ausgezeichnete Geschworene, das sehr verschieden war von dem niedrigkomischen Lachen für drollige Krämer bei gewöhnlichen Jurys, »er war einige Zeit im Parlamente. Aber bis jetzt war unser Stern ein unruhiger und schwankender Stern? Hm?«

Ein gewöhnlicher Zeuge wäre durch dieses »Hm?« zu einer bejahenden Antwort verführt worden. Aber Ferdinand Barnacle sah Advokat pfiffig an, während sie hinaufschlenderten, und gab ihm durchaus keine Antwort.

»Jawohl, jawohl«, sagte Advokat, mit dem Kopfe nickend, denn er war nicht auf solche Weise abzuspeisen, »und deshalb sprach ich davon, daß wir in Banco sitzen werden, um eine wichtige Sache zu erledigen – das heißt, es werde ein großer und feierlicher Anlaß sein, wo, wie Kapitän Macheath sagt, ‚die Richter versammelt sind: ein furchtbarer Anblick!‘ Wir Advokaten sind sehr liberal, wie Sie sehen, wir zitieren den Kapitän, obgleich der Kapitän sehr streng gegen uns ist. Nichtsdestoweniger glaube ich nachweisen zu können, daß der Kapitän zugibt«, sagte Advokat mit einem leichten scherzhaften Schütteln seines Kopfes, denn bei seinen gerichtlichen rednerischen Ergießungen nahm er immer die Miene an, als hätte er auf die liebenswürdigste Weise von der Welt sich selbst zum besten, »daß der Kapitän zugibt, das Gesetz habe im ganzen die Absicht, unparteiisch zu sein. Denn, wie der Kapitän sagt, wenn ich ihn richtig zitiere – und wenn nicht –« fügte er hinzu, indem er mit seinem Doppelglas feinkomisch die Schulter seines Begleiters berührte, »wird mich mein gelehrter Freund berichtigen:

›Seitdem’s Gesetze gibt für jeden Grad,
Verbrechen fein zu wenden und zu drehen.
Begreif‘ ich nicht, daß auf dem Rad
Wir nicht die nobelste Gesellschaft sehen‹«

Diese Worte brachten sie nach dem Empfangszimmer, wo Mr. Merdle vor dem Fenster stand. Mr. Merdle war so verwundert, als er Advokat mit einem solchen Zitat im Munde eintreten sah, daß Advokat sich dahin erklärte, er habe Gay zitiert. »Allerdings keine von unsern Westminster-Hall-Autoritäten«, sagte er, »aber doch keineswegs einer, der von einem Manne verschmäht zu werden verdient, der die große praktische Weltkenntnis Mr. Merdles besitzt.«

Mr. Merdle sah aus, als ob er etwas sagen wollte, sah aber später wieder aus, als wenn er nichts sagen wollte. Die Pause, die dadurch eintrat, erlaubte, daß man Bischof meldete.

Bischof trat sehr demütig, und doch mit festem und raschem Schritte ein, als ob er seine Siebenmeilenstiefel anzuhaben und eine Reise um die Welt zu machen wünschte, um zu sehen, ob alles in befriedigendem Zustande sei. Bischof hatte keine Idee, daß diese Gesellschaft eine besondere Bedeutung habe. Dies war der bemerkenswerteste Zug in seinem Benehmen. Er war höflich, frisch, heiter, leutselig, sanft: aber außerordentlich unschuldig!

Advokat kam herbei, um sich auf die höflichste Weise nach dem Befinden von Mrs. Bischof zu erkundigen. Mrs. Bischof habe sich unglücklicherweise bei einer Konfirmation etwas erkältet, im übrigen sei sie jedoch wohl. Der junge Mr. Bischof sei ebenfalls wohl. Er befinde sich mit seiner jungen Frau und seinen kleinen Kindern bei seiner Seelsorge.

Die Repräsentanten des Barnaclechorus liefen darauf ein und nach ihnen Mr. Merdles Arzt. Advokat, der ein bißchen von seinem Auge und ein bißchen von seinem Doppelglas für jeden Eintretenden hatte, gleichgültig, mit wem er sprach oder wovon er sprach, kam auf geschickte Weise mit allen in Berührung, ohne daß man sah, wie er sich an sie machte, und wußte jeden einzelnen Jurymann an seiner besonderen Liebhaberei zu packen. Mit einigen vom Chorus lachte er über das schläfrige Mitglied, das vergangene Nacht ins Vorzimmer hinausgegangen und dann falsch gestimmt hatte: mit andern bedauerte er den Neuerungsgeist der Zeit, der nicht mal daran gehindert werden könne, ein unnatürliches Interesse an dem Staatsdienst und dem Staatsgeld zu nehmen; mit dem Arzt wußte er ein Wort über den allgemeinen Gesundheitszustand zu sprechen; er hatte sich zu gleicher Zeit eine Belehrung bei ihm zu holen, bezüglich eines Handwerkers von unleugbarer Erziehung und artigen Manieren – aber derartige Beglaubigungen in ihrer größten Entfaltung, meinte er, seien im Besitze anderer Bekenner der Heilkunst (Juryverbeugung) –, den er zufällig vorvorgestern unter den beschworenen gehabt, und von dem er durch Querfragen herausgebracht hatte, daß er einer der Ausleger der neuen Heilkunst sei, die Advokat wirklich – ja – hm – Advokat scheine es so; Advokat habe gedacht und gehofft, der Arzt werde ihm das sagen. Ohne sich herauszunehmen zu entscheiden, wo Ärzte nicht einer Meinung seien, wolle es Advokat doch, wenn er es als eine Frage des gemeinen Menschenverstandes und nicht der sogenannten gesetzlichen Ergründung betrachte, bedenken, dieses neue System sei – wenn er das in Gegenwart einer so großen Autorität aussprechen dürfe, Humbug. Ah! gestützt auf solche Ermutigung könne er schon wagen, Humbug zu sagen; und nun fühlte sich Advokats Geist erleichtert.

Mr. Tite Barnacle, der wie Dr. Johnsons berühmte Bekanntschaft nur eine Idee in seinem Kopfe hatte, und zwar eine, die falsch war, erschien inzwischen. Dieser ausgezeichnete Mann und Mr. Merdle, die nach verschiedenen Richtungen blickend und wie Wiederkäuer aussehend auf einer gelben Ottomane im Licht des Feuers dasaßen, ohne in einem mündlichen Verkehr miteinander zu stehen, hatten eine große Ähnlichkeit mit den beiden Kühen auf dem Bilde von Cuyp, die ebenfalls abgewandt voneinander dasitzen.

Aber nun kam Lord Decimus. Der Oberhaushofmeister, der sich bisher auf einen Teil seiner gewöhnlichen Funktionen beschränkt hatte, indem er die eintretende Gesellschaft ansah (und dies mit mehr Trotz als Gnade), schritt so weit aus seinem Kreise, daß er heraufkam und ihn anmeldete. Da Lord Decimus ein Pair von überwältigendem Eindruck war, so schloß ein schüchternes junges Mitglied des Unterhauses, das der letzte von den Barnacles gefangene Fisch war und zu diesem Diner zur Erinnerung an seinen Fang eingeladen worden, die Augen, als Seine Lordschaft eintrat.

Lord Decimus war nichtsdestoweniger sehr erfreut, das Mitglied zu sehen. Er war ebenfalls erfreut, Mr. Merdle zu sehen, erfreut, Bischof zu sehen, erfreut, den Arzt zu sehen, erfreut, Tite Barnacle zu sehen, erfreut, den Chorus zu sehen, erfreut, Ferdinand, seinen Privatsekretär, zu sehen. Lord Decimus, obgleich einer der Größten auf Erden, zeichnete sich nicht durch einschmeichelnde Manieren aus, und Ferdinand hatte ihn bis zu dem Punkt gefahren, von wo er alle, die er hier finden sollte, überschauen und ihnen sagen konnte, daß er erfreut sei, sie zu sehen. Als er diesen ungestümen Anlauf von Lebhaftigkeit und Herablassung hinter sich hatte, brachte sich Seine Lordschaft in dem Gemälde von Cuyp an und bildete die dritte Kuh in der Gruppe.

Advokat, der fühlte, daß er die ganze Jury für sich gewonnen und sich nun an den Obmann machen müsse, kam bald, das Doppelglas in der Hand, herbeigeschlichen. Advokat bot das Wetter, als einen Gegenstand, der ziemlich fernab von offizieller Zurückhaltung liegt, der Erwägung des Obmannes an. Advokat versicherte, man habe ihm gesagt (wie man immer jedermann sagt, obgleich, wer es sagt und warum, stets ein Geheimnis bleiben wird), daß es in diesem Jahre kein Spalierobst geben werde. Lord Decimus hatte bis jetzt noch nicht gehört, daß seine Pfirsiche Schaden genommen, er glaube jedoch, wenn seine Leute recht hätten, daß er keine Äpfel bekommen werde. Keine Äpfel? Advokat war ganz aufgelöst in Erstaunen und Bestürzung. Es wäre ihm wirklich völlig einerlei gewesen, wenn es keinen einzigen Apfel auf der ganzen Erde gegeben hätte, aber das Interesse, das er an dieser Apfelfrage zur Schau trug, war wirklich schmerzlich. Welcher Ursache aber, Lord Decimus – denn wir schwierigen Advokaten wollen immer belehrt sein und können nicht sagen, wie sich uns das noch nützlich erweist –, welcher Ursache, Lord Decimus, ist das zuzuschreiben? Lord Decimus war außerstande, eine Theorie darüber aufzustellen. Damit hätte sich ein anderer Mensch begnügt: Advokat jedoch, der nicht davon losließ, fragte mit unermüdlichem Interesse: »Aber was nun die Birnen betrifft?«

Lange, nachdem Advokat Generalfiskus geworden, wurde dies von ihm als ein Meisterstreich erzählt. Lord Decimus erinnerte sich eines Birnbaumes, der früher in einem Garten nahe an der Rückmauer des Hauses seiner Wirtin in Eton stand, auf dem der einzige Scherz in seinem Leben immerfort blühte. Es sei ein Scherz von kompakter und tragbarer Natur, der sich um den Unterschied zwischen Eton-Birnen und Parlamentspairs drehte: aber es sei ein Scherz, dessen Feinheit man, nach Lord Decimus‘ Ansicht, gar nicht verstehen könnte, wenn man den Baum nicht ganz genau kenne. »Deshalb hatte die Geschichte anfangs keine Idee von einem solchen Baum, Sir, dann fand sie ihn nach und nach im Winter, brachte ihn durch die übrigen Jahreszeiten, sah ihn keimen, blühen, Früchte tragen, die Frucht reifen, kurz, kultivierte den Baum, ehe sie aus dem Schlafzimmerfenster die Früchte stahl, in jener fleißigen und sorgfältigen Weise, daß verspätete Lauscher ihren Dank aussprachen, daß der Baum von Lord Decimus Zeit gepflanzt und gepfropft worden war. Advokats Interesse an den Äpfeln wurde durch die entzückte Teilnahme, mit der er die Fortschritte dieser Birnen verfolgte, von dem Augenblick an, als Lord Decimus feierlich begann: »Da Sie die Birnen erwähnen, so erinnern Sie mich an einen Birnbaum«, bis zu dem prachtvollen Schluß: »Und so kommen wir durch die verschiedenen Wechsel des Lebens von Etonbirnen zu Parlamentspairs«, so sehr überboten, daß er mit Lord Decimus die Treppe hinabgehen und sich sogar neben ihn bei Tische setzen mußte, um die Anekdote zu Ende zu hören. Advokat fühlte nun, daß er den Obmann gewonnen und mit gutem Appetit zu Tische gehen könne.

Es war einer Diner, das den Appetit hätte wecken können, selbst wenn Advokat keinen gehabt hätte. Die seltensten Speisen, üppig gekocht und prachtvoll serviert; die ausgesuchtesten Früchte; die feinsten Weine; Wunder von Arbeit in Gold und Silber, Porzellan und Glas; unzählige Dinge, köstlich für Geschmack, Geruch und Gesicht, wurden zusammen aufgestellt. Oh! was für ein herrlicher Mann, dieser Merdle, was für ein großer Mann, was für ein ausgezeichneter Mann, wie gesegnet und in welch beneidenswerten Verhältnissen – mit einem Worte, was für ein reicher Mann!

Er nahm seine gewöhnliche Achtzehnpennyportion in seiner unverdaulichen Weise zu sich und hatte so wenig für sich zu sagen wie je ein ausgezeichneter Mann. Glücklicherweise war Lord Decimus einer von jenen erhabenen Männern, die es nicht nötig haben, daß man mit ihnen spricht, denn sie können jederzeit genugsam sich mit ihrer eigenen Größe beschäftigen. Dies gestattete auch dem jungen schüchternen Mitglied, zuweilen seine Augen lange genug offen zu halten, um seine Speisen zu sehen. Sobald Lord Decimus jedoch sprach, schloß er sie wieder.

Der angenehme junge Barnacle und Advokat waren die Sprecher der Gesellschaft. Bischof wäre gleichfalls außerordentlich angenehm gewesen, wenn seine Unschuld nicht im Wege gestanden. Auf diese Weise mußte er bald zurückstehen. Wenn auf irgend etwas nur hingedeutet wurde, daß etwas zu profitieren sei, so war er alsbald verloren. Weltliche Angelegenheiten waren ihm zu schwierig; er konnte nicht mit ihnen zurechtkommen.

Dies zeigte sich namentlich, als Advokat gelegentlich sagte, es freue ihn, zu hören, daß man bald das Vergnügen und den Vorteil haben sollte, den gesunden einfachen Scharfsinn – nicht den demonstrativen und prunkenden, sondern den durch und durch gesunden und praktischen – Scharfsinn des gemeinschaftlichen Freundes Edmund Sparkler in die gute Seite einreihen zu dürfen.

Ferdinand Barnacle lachte und sagte: ja, er glaube es. Ein Votum sei ein Votum und immer annehmbar.

Advokat bedauerte, den lieben Freund Sparkler heute vermissen zu müssen.

»Er ist auf Reisen mit Mrs. Merdle«, versetzte Mr. Merdle, langsam aus seinem tiefen Sinnen erwachend, während er einen Löffel in seinen Ärmel schob, »es ist nicht unumgänglich notwendig, daß er zur Stelle sei.«

»Der Zauber des Namens Merdle genügt vollkommen«, sagte Advokat mit der Juryverbeugung.

»O – ja – ich glaube wohl«, stimmte Mr. Merdle bei, indem er den Löffel weglegte und linkisch jede seiner Hände in den Rockärmel der andern steckte. »Ich glaube, die Leute dort, die mir verbunden sind, werden keine Schwierigkeiten machen.«

»Ausgezeichnete Leute, Muster von Menschen!« sagte Advokat.

»Ich freue mich, daß Sie denselben Ihren Beifall schenken«, sagte Merdle.

»Und die Leute an den andern beiden Orten«, fuhr Advokat mit einem Blitzen seines scharfen Auges fort, während er sich leicht seinem herrlichen Nachbar zuwandte, »wir Advokaten sind immer neugierig, forschen alles aus, speichern Kleinigkeiten in unsern Flickwerkköpfen auf, da man nie wissen kann, wo es noch irgendwo zu brauchen ist; – wie steht es mit den Leuten an den beiden andern Orten? Sind sie auf ebenso lobenswerte Weise dem großen und kumulativen Einflusse eines so unternehmungsreichen und berühmten Mannes zugänglich? Lassen sich diese kleinen Wässerchen so ruhig und leicht, und wie durch den Einfluß von Naturgesetzen, so schön von dem majestätischen Strome verschlingen, der auf seinem bewundernswürdigen Wege das umliegende Land fruchtbar macht, daß sich ihr Lauf berechnen und genau vorhersagen läßt?«

Mr. Merdle, den Advokats Beredsamkeit etwas in Verlegenheit setzte, sah unruhig einige Augenblicke auf die nächste Salzbüchse und sagte dann zögernd:

»Sie kennen ihre Pflicht gegen die Gesellschaft ganz genau. Sie werden jeden wählen, den ich ihnen zu diesem Zwecke sende.«

»Sehr erfreulich«, sagte Advokat, »sehr erfreulich, das zu erfahren.«

Die drei fraglichen Orte waren drei kleine faule Löcher dieser Insel, in denen drei kleine, unwissende, betrunkene, schlemmende, schmutzige, vollmachtgebende Körperschaften wohnten, die in Mr. Merdles Tasche geschwankt waren. Ferdinand Barnacle lachte auf seine behagliche Weise und sagte lustig, das sei eine hübsche Gesellschaft. Bischof, der innerlich auf Friedenspfaden wandelte, war ganz gedankenabwesend. »Bitte«, fragte Lord Decimus, indem er seine Blicke an der Tafel umherlaufen ließ, »was ist das für eine Geschichte, die ich hörte, von einem Gentleman, der lange in einem Schuldgefängnisse gesessen, inzwischen aber nachgewiesen hat, daß er aus reicher Familie sei, und nun eine große Menge Geld geerbt hat? Ich hörte auf sehr verschiedene Art davon sprechen. Wissen Sie etwas davon, Ferdinand?«

»Ich weiß nur so viel«, sagte Ferdinand, »daß er dem Departement, dem ich anzugehören die Ehre habe«, – dieser glänzende junge Barnacle sagte die Phrase in scherzhaftem Tone, als wollte er sagen: wir wissen, was wir von diesen Redeformeln zu denken haben, aber wir müssen darauf halten, wir dürfen sie nicht fallen lassen, – »endlose Verlegenheit bereitet hat und uns in unzählige Scheidewasser tauchte.«

»Scheidewasser?« wiederholte Lord Decimus mit so majestätischem Hin- und Herwägen des Wortes, daß das schüchterne Mitglied die Augen fest schloß. »Scheidewasser?«

»Es war ein sehr schwieriges Geschäft«, bemerkte Mr. Lite Barnacle mit dem Ausdruck tiefen Grolls.

»Welcher Art«, sagte Lord Decimus, »war dieses Geschäft? Welcher Art war dieses – ha – Scheidewasser, Ferdinand?«

»O, diese Geschichte ist so gut, wie je eine war«, versetzte dieser Gentleman, »eine Sache in ihrer Art so gut wie nur möglich. Dieser Mr. Dorrit (sein Name ist Dorrit) hat sich ganze Menschenalter, ehe die Fee aus der Bank kam und ihm sein Vermögen gab, gegen eine Kaution, die er unterzeichnete, für den Vollzug eines Kontraktes verbindlich gemacht, der nicht vollzogen worden war. Er war Teilhaber eines großen Geschäftes, das in Spirituosen oder Knöpfen oder Wein oder Stiefelwichse oder Hafermehl oder Wollwaren oder Schweinefleisch oder Haften und Haken oder Eisen oder Sirup oder Schuhen oder dem einen oder andern für Ausrüstung von Soldaten oder Matrosen oder in sonst etwas machte; das Haus fallierte, und wir waren unter den Gläubigern; man legte von seiten der Krone den gesetzmäßigen Beschlag auf dasselbe und so fort. Als die Fee erschien und er uns zu bezahlen wünschte, da waren wir mitten in einem solch exemplarischen Kollationieren und Gegenkollatonieren, Signieren und Kontrasignieren begriffen, daß es sechs Monate dauerte, bis wir wußten, wie wir das Geld in Empfang nehmen und eine Bescheinigung dafür geben sollten. Es war ein Triumph der Staatsgeschäfte«, sagte der hübsche junge Barnacle, indem er herzlich lachte. »Sie haben in Ihrem ganzen Leben noch keine solche Masse von Akten gesehen. »Ja«, sagte der Bevollmächtigte eines Tages zu mir, »wenn ich von diesem Bureau zwei- oder dreitausend Pfund zu bekommen wünschte, statt daß ich sie jetzt ihm auszahlen will, ich könnte kaum so viel Mühe haben.« – »Sie haben ganz recht, mein Lieber« sagte ich, »künftig werden Sie wissen, daß wir hier etwas zu tun haben.«« Der angenehme junge Barnacle schloß, indem er abermals herzlich lachte. Er war wirklich ein gewandter, angenehmer, junger Mann, und seine Manieren waren außerordentlich einnehmend.

Die Art, wie Mr. Tite Barnacle die Sache ansah, war weniger leichtfertig. Er nahm es übel auf, daß Mr. Dorrit dem Departement durch die Absicht zu bezahlen Mühe gemacht hatte und betrachtete es als eine gröbliche Verletzung der Form, es nach so vielen Jahren zu tun. Aber Mr. Tite Barnacle war ein zugeknöpfter Mann und folglich ein gewichtiger Mann. Alle zugeknöpften Männer haben Gewicht. Allen zugeknöpften Männern wird Glauben geschenkt. Ob nun die zusammengehaltene und nie geübte Kraft des Aufknöpfens die Leute bezaubert; ob man glaubt, die Weisheit werde größer und stärker, wenn sie zugeknöpft sei, und verdampfe, wenn sie aufgeknöpft werde – soviel ist gewiß, daß der Mann, dem man Bedeutung und Wichtigkeit zuschreibt, der zugeknöpfte Mann ist. Mr. Tite Barnacle würde in den Augen der Leute nicht halb den Wert gehabt haben, den man ihm jetzt zuerkannte, wenn sein Rock nicht immer bis unter die weiße Krawatte zugeknöpft gewesen wäre.

»Darf ich fragen«, sagte Lord Decimus, »ob Mr. Dorrit – oder Dorrit – Familie hat?«

Da niemand sonst antwortete, sagte der Wirt: »Er hat zwei Töchter, Mylord.«

»Oh! Sie sind mit ihm bekannt?« fragte Lord Decimus.

»Mrs. Merdle ist mit ihnen bekannt. Und Mr. Sparkler ebenfalls. Ja«, sagte Mr. Merdle, »ich glaube sogar, daß eine von den jungen Damen Eindruck auf Edmund Sparkler gemacht hat. Er ist sehr empfänglich und – ich – glaube – die Eroberung –« hier stockte Mr. Merdle und sah auf das Tischtuch, was er gewöhnlich tat, wenn er sich beobachtet sah oder merkte, daß man ihm zuhörte.

Advokat war außerordentlich erfreut, zu vernehmen, daß die Familie Merdle und diese Familie bereits in Berührung miteinander standen. Er setzte mit leiser Stimme dem Bischof über den Tisch hinüber auseinander, daß es eine Art analogen Beispiels zu dem physischen Gesetze sei, nach welchem Gleiches und Gleiches sich anziehe. Er betrachtete diese Anziehungskraft, die der Reichtum für den Reichtum habe, als etwas merkwürdig Interessantes und Sonderbares, – etwas, das auf unerklärliche Weise mit dem Magnet und dem Gesetze der Gravitation zusammenhänge. Bischof, der wieder auf die Erde herabgefallen war, als das gegenwärtige Gesprächsthema auf das Tapet gebracht wurde, stimmte zu. Er sagte, es sei allerdings höchst wichtig für die Gesellschaft, daß jemand, der sich plötzlich und unerwartet in der versuchungsvollen Lage sehe, mit der Kraft für das Gute und das Böse in der Gesellschaft ausgerüstet zu sein, sozusagen in der höheren Kraft einer legitimeren und riesenhafteren Potenz sich aufhebe, deren Einfluß (wie in dem Fall mit unserm Freund, an dessen Tisch wir sitzen) gewöhnlich mit den besten Interessen der Gesellschaft im Einklang stehe. Auf solche Weise bekämen wir, statt zwei rivalisierender und wetteifernder Flammen, einer größeren und einer geringeren, von denen jede ein trübes und unsicheres Licht verbreite, wenn sie zusammen als eins brennen, ein sanftes Licht, dessen angenehmer Strahl eine gleichmäßige Wärme durch das Land verbreite. Bischof schien seine Art, die Sache darzustellen, sehr zu lieben und verweilte deshalb lange dabei: Advokat (der keinen Geschworenen verlieren wollte) hatte das Ansehen, als säße er zu seinen Füßen und erquicke sich an seinen Lehren.

Da das Diner und Dessert drei Stunden lang dauerte, wurde das schüchterne Mitglied in dem Schatten von Lord Decimus rascher kühl, als er durch Speise und Trank warm geworden, und hatte nur ein Frösteln davon. Lord Decimus schien, wie ein großer Turm in einer flachen Gegend, seinen Schatten über das Tischtuch zu werfen, das Licht von dem ehrenwerten Mitgliede abzuhalten, das Mark des ehrenwerten Mitgliedes zu kühlen und ihm eine traurige Idee von Entfernung zu geben. Als er diesen unglücklichen Wanderer aufforderte, Wein zu trinken, hüllte er die schwankenden Schritte desselben in die dunkelsten Schatten, und als er sagte: »Ihre Gesundheit, Sir!« war alles rings um ihn her öde und trostlos.

Endlich begann Lord Decimus, mit einer Kaffeetasse in der Hand, unter den Bildern umherzuschweben und die interessante Erwägung in allen Gemütern hervorzurufen, wann er wohl aufhören würde, herumzuschweben, damit die kleineren Vögel in den zweiten Stock hinaufflattern könnten, was nicht anging, ehe er seine edlen Flügel in dieser Richtung geschwungen. Nach einigem Verweilen vor den Bildern und mehrmaligem Ausbreiten seiner Flügel, das zu nichts geführt, schwang er sich zu den Empfangszimmern empor.

Und hier entstand nun eine Schwierigkeit, die immer entsteht, wenn zwei Menschen speziell bei einem Diner zusammengebracht werden, um miteinander zu verhandeln. Jedermann (mit Ausnahme Bischofs, der keine Ahnung davon hatte) wußte genau, daß das Diner ausdrücklich gegessen und getrunken worden war, damit Lord Decimus und Mr. Merdle ein Gespräch von fünf Minuten miteinander führen könnten. Die so künstlich vorbereitete Gelegenheit war nun da, aber es schien von diesem Augenblick an kein einfach menschlicher Scharfsinn imstande zu sein, die beiden Häuptlinge in dasselbe Zimmer zu bringen. Mr. Merdle und sein edler Gast trieben sich beständig an den entgegengesetzten Enden der Perspektive umher. Es war vergeblich, daß der einnehmende Ferdinand Barnacle Lord Decimus veranlaßte, die bronzenen Pferde in der 3^ähe von Mr. Merdle sich anzusehen. Denn Mr. Merdle wich aus und schlich weg. Es war vergeblich, daß er Mr. Merdle zu Lord Decimus brachte, um ihm die Geschichte der Dresdener Vasen, die einzig in ihrer Art waren, zu erzählen. Denn nun wich Lord Decimus aus und schlich weg, während er seinen Mann im Auge behielt.

»Haben Sie je etwas dergleichen gesehen?« sagte Ferdinand zu Advokat, als er zwanzigmal gefoppt war.

»Oft!« versetzte Advokat. »Wenn ich nicht den einen von beiden in eine bestimmte Ecke dränge und Sie den andern«, sagte Ferdinand, »so bringt man die Sache nicht zustande.«

»Ganz wohl«, sagte Advokat. »Ich will Merdle auf mich nehmen, aber nicht Mylord.«

Ferdinand lachte mitten in seinem Ärger. »Zum Teufel mit beiden!« sagte er, auf seine Uhr sehend. »Ich sollte weggehen. Warum können sie auch, beim Teufel, nicht zusammenkommen. Sie wissen ja beide, was sie wünschen, und zu tun beabsichtigen. Sehen Sie sie nur einmal an!«

Sie zeigten sich beide an den entgegengesetzten Seiten, jeder mit dem absurden Gebaren, als wenn er nicht an den andern dächte, was nicht augenscheinlich lächerlicher hätte sein können, wenn es mit Kreide auf ihren Rücken geschrieben gewesen wäre. Bischof, der eben zu Advokat und Ferdinand getreten war, dessen Unschuld jedoch ihn abermals von der Sache ausgeschlossen und ihn in süßes Öl gewickelt hatte, sah man nun sich Lord Decimus nähern und ein Gespräch mit ihm anknüpfen.

»Ich glaube, ich muß Mr. Merdles Arzt zu bekommen suchen, daß er ihn festhält«, sagte Ferdinand; »und dann muß ich an meinen berühmten Verwandten Hand legen und ihn zu der Konferenz ködern, wenn ich kann, oder förmlich ziehen, wenn mir das erstere nicht gelingt.«

»Da Sie mir die Ehre erweisen«, sagte Advokat mit dem schlauesten Lächeln, »meine geringe Unterstützung in Anspruch zu nehmen, so ist sie mit größtem Vergnügen Ihnen zugesagt. Ich glaube nicht, daß es ein Mann tun kann. Wenn Sie jedoch versuchen wollen, den Lord in jenem entfernten Empfangzimmer, wo er jetzt im Gespräch vertieft ist, festzuhalten, so will ich versuchen, unsern lieben Merdle ebenfalls dahin zu bringen, ohne daß es ihm möglich werden soll, mir zu entwischen.«

»Top!« sagte Ferdinand. »Top!« sagte Advokat.

Advokat, der einen prachtvollen und höchst interessanten Anblick bot, wenn er sein Doppelglas an dem Bande lustig schweben ließ und sich freundlich vor einer ganzen Welt von Geschworenen verbeugte, Advokat stand plötzlich auf die scheinbar zufälligste Weise neben Mr. Merdle und ergriff diese Gelegenheit, eines kleinen Punktes zu erwähnen, über den er durch das Licht seiner praktischen Kenntnisse aufgeklärt zu sein wünschte. (Dabei nahm er Mr. Merdle beim Arme und führte ihn unvermerkt weg.) Ein Bankier, den er A.B. nennen wolle, leihe eine beträchtliche Summe Geldes, die er zu fünfzehntausend Pfund annehmen wolle, einem seiner Klienten oder Kunden, den er P.Q. nennen wolle. (Dabei hielt er Mr. Merdle fest im Arme, da sie Lord Decimus näher kamen.) Als Sicherheit für die Rückerstattung der Anleihe, die P.Q. gemacht, die er als verwitwete Dame annehmen wolle, wurden in A.B.’s Händen die Besitzdokumente eines Freiguts deponiert, die er Blinkitter Doddles nennen wolle. Nun sei die Sache die. Ein begrenztes Recht, in den Wäldern von Blinkitte Doddles Holz zu fällen, habe der Sohn von P.Q. besessen, der zu jener Zeit bereits majorenn gewesen und den er X.N. nennen wolle – aber nein, das wäre nicht recht. In Gegenwart von Lord Decimus unfern Wirt mit der trockenen Spreu der Gesetze hinzuhalten, wäre wirklich zu schlecht! Ein andermal. Advokat bedauerte wirklich und wollte kein Wort weiter sagen. Vielleicht gönne ihm Bischof ein halbes Dutzend Worte? (Er hatte Mr. Merdle auf ein Sofa dicht neben Lord Decimus niedergesetzt, und nun mußte die Sache in Gang kommen oder nie mehr.)

Und nun stand die ganze übrige Gesellschaft, lebhaft erregt und begierig, immer mit Ausnahme Bischofs, der nicht die leiseste Idee hatte, daß irgend etwas vorging, in einer Gruppe um den Kamin im nächsten Zimmer und gab sich das Ansehen, als ob sie über eine Menge kleiner Gesprächsgegenstände unbefangen plauderte, während im stillen aller Augen und Gedanken nach dem abgesonderten Paare schweiften. Der Chorus war ausnehmend ängstlich besorgt, da ihn vielleicht die bange Ahnung quälte, daß ihm etwas Bedeutendes entzogen werden sollte. Bischof allein sprach ruhig und unbekümmert fort. Er sprach mit dem großen Arzt über die Abspannung der Kehle, mit der junge Geistliche so häufig behaftet seien, und die Mittel, dem häufigen Vorkommen dieses Übels in der Kirche vorzubeugen. Der Arzt meinte, es sei im allgemeinen die beste Art dies zu vermeiden, wenn man wisse, wie man lesen solle, falls man das Lesen zur Profession mache. Bischof sagte zweifelnd, ob das wirklich seine Ansicht sei? Und der Arzt sagte, ganz entschieden sei das seine Ansicht.

Ferdinand war indes der einzige, der außerhalb des Kreises umherscharmützelte; er hielt ungefähr die Mitte zwischen diesem und den beiden, als wenn eine chirurgische Operation von Lord Decimus an Mr. Merdle oder von Mr. Merdle an Lord Decimus vorgenommen würde und seine Dienste zum Verbande jeden Augenblick notwendig sein könnten. Wirklich rief Lord Decimus nach einer Viertelstunde: »Ferdinand!«, und er ging hinein und nahm für fünf Minuten eine Stelle bei der Konferenz ein. Dann machte sich ein halbunterdrücktes Aufatmen unter der Gesellschaft Luft: denn Lord Decimus stand auf, um Abschied zu nehmen. Wiederum von Ferdinand nach dem Punkt geleitet, wo er sich herablassend zeigen konnte, schüttelte er der ganzen Gesellschaft auf die glänzendste Weise die Hand und sagte sogar zu Advokat: »Ich hoffe. Sie fühlen sich nicht durch meine Birnen verletzt?« Worauf Advokat entgegnete: »Eton, Mylord, oder Parlament?« was deutlich zeigte, daß er den Scherz verstanden hatte, da er darauf einging und zuletzt noch zart zu verstehen gab, daß er ihn sein ganzes Leben nicht vergessen werde.

All die große Bedeutung, die in Mr. Tite Barnacle eingeknöpft war, entfernte sich hierauf: nach diesem Ferdinand, der in die Oper ging. Einige von den übrigen blieben noch ein wenig, indem sie goldene Likörgläser durch klebrige Ringe mit Boule-Tischen vermählten, auf die Gefahr hin, daß Mr. Merdle etwas sage. Aber Mr. Merdle, der wie gewöhnlich träumerisch und verdrießlich in seinen Empfangszimmern umherschlenderte, sagte nie ein Wort.

Einige Tage später wurde der ganzen Stadt verkündigt, daß Edmund Sparkler, Esquire, der Stiefsohn des ausgezeichneten, weltberühmten Mr. Merdle, einer der Lords des Circumlocution Office geworden: und allen Treugläubigen wurde proklamiert, daß diese herrliche Ernennung als ein dankbares und schönes Zeichen der Huldigung begrüßt werden müsse, die der dankbare und herrliche Lord Decimus dem kommerziellen Interesse darbringe, das stets in einem großen Handelsstaat – und so weiter mit Pauken und Trompeten. Durch diesen Beweis der Huldigung gehoben, nahmen die herrliche Bank und alle übrigen herrlichen Unternehmungen ihren Fortgang: und Gaffer kamen nach Harley Street, Cavendish Square, nur um das Haus zu betrachten, wo das goldene Wunder lebte.

Und wenn sie den Oberhaushofmeister sahen, der in seinen herablassenden Augenblicken zur Flurtür herausschaute, sagten sich die Gaffer, wie reich er aussehe, und hätten gar gern gewußt, wieviel Geld er in der prachtvollen Bank habe. Aber wenn sie diese respektable Nemesis besser gekannt hätten, würden sie nicht neugierig gewesen sein und den Betrag mit der größten Genauigkeit haben angeben können.