Vierundfünfzigstes Kapitel


Vierundfünfzigstes Kapitel

Enthält das endliche Abtreten des Herrn Jingle und Job Trotter nebst einem großen Geschäftsmorgen in Gray’s Inn Square. Es schließt mit einem doppelten Klopfen an Herrn Perkers Tür.

Als Arabella nach manchen zarten Vorbereitungen und vielen Versicherungen, daß durchaus kein Grund da sei, den Mut sinken zu lassen, von Herrn Pickwick das unbefriedigende Resultat seines Besuches in Birmingham erfahren hatte, brach sie in Tränen aus und klagte laut schluchzend in beweglichen Ausdrücken, daß sie die unglückselige Ursache einer Entfremdung zwischen Vater und Sohn sei.

»Mein liebes Kind«, sagte Herr Pickwick freundlich, »es ist nicht Ihre Schuld. Man konnte unmöglich voraussehen, daß der alte Herr so übel auf die Heirat seines Sohnes zu sprechen sein würde. Gewiß«, fügte er hinzu, indem er Arabella in das hübsche Gesichtchen schaute; »gewiß hat er nicht die entfernteste Vorstellung von dem Vergnügen, dessen er sich selbst beraubt.«

»Ach, mein teurer Herr Pickwick«, sagte Arabella: »was sollen wir tun, wenn er fortfährt, uns zu zürnen?«

»Nun, warten Sie es nur mit Geduld ab, liebes Kind, bis er besser von der Sache denkt«, erwiderte Herr Pickwick vergnügt.

»Aber, mein teurer Herr Pickwick, was soll aus Nathaniel werden, wenn sein Vater die Hand von ihm abzieht?« drängte Arabella.

»Für diesen Fall, meine Liebe«, versetzte Herr Pickwick, »will ich zu prophezeien wagen, daß er schon irgendeinen Freund finden wird, der ihm mit Vergnügen dazu hilft, es in der Welt zu etwas zu bringen.«

Der Sinn dieser Antwort war von Herrn Pickwick nicht so verschleiert gegeben, daß ihn Arabella nicht hätte verstehen können. Sie warf ihre Arme um seinen Nacken, küßte ihn zärtlich und schluchzte noch lauter als zuvor.

»Nur Mut!« sagte Herr Pickwick, ihre Hand ergreifend; »wir wollen hier noch einige Tage verweilen und sehen, ob er schreibt oder den Brief Ihres Mannes in einem andern Lichte auffaßt. Wo nicht, so habe ich schon ein Dutzend Pläne ausgesonnen, von denen jeder einzelne zu Ihrem Glücke führen muß. Beruhigen Sie sich nur, meine Liebe.«

Mit diesen Worten drückte Herr Pickwick freundlich Arabellas Hand und bat sie, ihre Augen zu trocknen und ihrem Mann keinen Kummer zu machen. Arabella, eines der besten Geschöpfe, die je gelebt haben, steckte auch wirklich ihr Taschentüchlein in ihren Pompadour, und als Herr Winkle zu ihnen kam, zeigte sie ihm in vollem Glanz dasselbe strahlende Lächeln und dieselben funkelnden Augen, die gleich im Anfang sein Herz gefesselt hatten.

»Die jungen Leute befinden sich doch in einer peinlichen Lage«, dachte Herr Pickwick, als er sich am folgenden Morgen ankleidete. »Ich will zu Perker gehen und ihn über die Sache um Rat fragen.«

Da Herr Pickwick noch einen andern sehnlichen Wunsch hatte, der ihn nach dem Grays Inn Square trieb, nämlich unverzüglich mit dem freundlichen kleinen Anwalt ein finanzielles Geschäft abzuwickeln, so nahm er in aller Geschwindigkeit ein Frühstück ein und führte seine Absicht so schleunig aus, daß es noch nicht zehn Uhr geschlagen hatte, als er Grays Inn erreichte.

Es fehlten noch zehn Minuten bis zehn Uhr, als er die Treppe hinaufgestiegen war, bei deren Stockwerk sich Perkers Zimmer befanden. Die Schreiber waren noch nicht da, und er vertrieb sich die Zeit mit Hinaussehen aus dem Treppenfenster.

Das gesunde Licht eines schönen Oktobermorgens machte sogar die trüben alten Häuser etwas erglänzen. Einige der staubbedeckten Fenster sahen wirklich lustig aus, als die Sonnenstrahlen sie anglühten; Schreiber um Schreiber eilten durch den einen oder andern Eingang in das Haus, blickten auf die Uhr der Halle und beschleunigten oder mäßigten ihre Art zu gehen je nach der Zeit, zu der ihre Kanzleistunden begannen. Die auf halb zehn Uhr bestimmten Leute schlugen plötzlich einen sehr raschen Schritt an, die auf zehn Uhr bestimmten Gentlemen wandelten mit höchst aristokratischer Gelassenheit einher. Es schlug zehn Uhr, und die Schreiber strömten schneller als je herein, immer einer in größerem Schritt als der andere. Das Geräusch des Schließens und Öffnens der Türen hallte von allen Seiten wider. Köpfe erschienen wie durch einen Zauberschlag an jeglichem Fenster; die Portiers stellten sich für das Heute auf ihre Posten; die Reinmachefrauen in ihren abgetretenen Schuhen eilten davon; der Briefträger rannte von Haus zu Haus, und der ganze juristische Bienenschwarm war in geschäftiger Aufregung.

»Sie kommen früh, Herr Pickwick«, sagte eine Stimme hinter ihm.

»Ah, Herr Lowten!« erwiderte dieser Gentleman, um sich blickend und seinen alten Bekannten erkennend.

»Köstlich warm heute«, sagte Lowten, indem er einen Bramahschlüssel mit einem kleinen Stöpsel darin, um ihn vom Staub rein zu halten, aus der Tasche zog.

»Ihnen scheint es wenigstens so zu sein«, versetzte Herr Pickwick, dem Schreiber, der wirklich feuerrot war, zulächelnd.

»Ich komme aber auch weit her, kann ich Ihnen sagen«, erwiderte Lowten. »Ich habe eine ganze halbe Stunde durch das Polygon gebraucht. Doch bin ich noch vor ihm hier, und das freut mich.«

Mit diesem Gedanken sich tröstend, zog Herr Lowten den Stöpsel aus dem Hausschlüssel, öffnete die Tür, verstöpselte und steckte seinen Bramah wieder ein, nahm die Briefe, die der Briefträger in den Kasten geworfen hatte und führte Herrn Pickwick ins Amtszimmer. Hier legte er hastig seinen Rock ab, zog eine fadenscheinige Jacke an, die er aus einem Kasten nahm, holte ein paar Bogen Schreib- und Löschpapier in abwechselnden Schichten hervor, steckte eine Feder hinter sein Ohr und rieb sich mit sehr vergnügtem Gesichte die Hände.

»Sehen Sie, Herr Pickwick«, sagte er; »jetzt bin ich fertig. Ich habe meinen Arbeitskittel angezogen, meine Schreibmaterialien in Bereitschaft gesetzt, und nun kann er kommen, sobald er mag. Haben Sie nicht vielleicht eine Prise Tabak bei sich?«

»Nein«, antwortete Herr Pickwick.

»Das tut mir leid«, sagte Lowten. »Doch gleichviel – ich will geschwind fortrennen und eine Flasche Sodawasser holen. Sehe ich nicht etwas sonderbar um die Augen herum aus, Herr Pickwick?«

Herr Pickwick betrachtete Herrn Lowtens Augen aus einiger Entfernung und meinte, es sei durchaus nichts Auffallendes daran zu sehen.

»Das freut mich«, sagte Lowten. »Wir waren gestern nacht ziemlich lange in der Elster, und es ist mir diesen Morgen nicht ganz geheuer. – Beiläufig gesagt, Perker hat das Geschäft für Sie zustande gebracht.«

»Welches Geschäft?« fragte Herr Pickwick – »die Kostensache für die Bardell?«

»Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Lowton, »sondern wegen des Burschen, für den wir auf Ihre Rechnung zehn Schilling vom Pfund bezahlten, um ihn, wie Sie wissen, aus dem Fleet zu befreien und nach Demerara zu schaffen.«

»Ah so, Herr Jingle«, sagte Herr Pickwick hastig: »wie ging’s?«

»Ist alles in Ordnung«, versetzte Lowten, seine Feder ausbessernd. »Der Agent in Liverpool sagte, Sie haben ihm, als Sie dort in Geschäften gewesen, so viele Gefälligkeiten erwiesen, daß er ihn auf Ihre Empfehlung sehr gern annehme.«

»Nun, das freut mich«, sagte Herr Pickwick.

»Aber der andere«, fuhr Lowten fort, die Rückseite seiner Feder22 vorläufig schabend, um einen frischen Schlitz zu machen, »was der für ein empfindsamer Kerl ist.«

»Welcher andere?«

»Je nun, der Diener oder Freund, oder was er ist – Sie wissen ja schon: der Trotter.«

»Ah, so«, sagte Herr Pickwick mit einem Lächeln. »Den habe ich immer für sein wahres Gegenstück gehalten.«

»Ich auch: und ich hatte es bloß aus dem wenigen geschlossen, was ich von ihm sah«, erwiderte Lowten: »aber da sieht man, wie man sich in den Menschen irren kann. Was halten Sie davon, daß er ebenfalls nach Demerara geht?«

»Wie? – Und er macht keinen Gebrauch von dem, was ich ihm hier angeboten habe?« rief Herr Pickwick.

»Perkers Angebot von achtzehn Schilling wöchentlich mit der Aussicht auf mehr, wenn er sich gut anstellte, machte durchaus keinen Eindruck auf ihn«, erwiderte Lowten. »Er sagte, er müsse mit dem andern gehen. Sie überredeten Perker, noch einmal zu schreiben, und nun ist er auch dort untergebracht, wo er es, sagt Herr Perker, nicht halb so gut hat, wie es ein Verbrecher in Neusüdwales haben würde, wenn er in einem neuen Anzug vor Gericht erscheint.«

»Ein närrischer Kerl«, sagte Herr Pickwick mit funkelnden Augen; »wirklich, ein ganz närrischer Kerl.«

»O, es ist noch mehr als närrisch: es ist geradezu heillos, müssen Sie wissen«, versetzte Lowten mit verachtungsvollem Gesicht, seine Feder spitzend. »Er sagt, dies sei der einzige Freund, den er je gehabt: deswegen könne er auch nicht von ihm lassen, und solches Zeug. Die Freundschaft mag immerhin eine recht schöne Sache sein. Wir zum Beispiel sind in Stumpf und Elster alle recht freundschaftlich und vergnügt bei unserm Grog. Jeder zahlt für sich selbst, aber der Teufel sollte einen holen, wenn man sich wegen eines andern etwas versagen müßte. Der Mensch sollte eigentlich nie mehr als zwei Neigungen haben – die erste zu Nummer 1, das heißt zu sich selbst, und die zweite zu den Frauenzimmern: damit basta!«

Herr Lowten schloß mit einem lauten, halb lustigen und halb höhnischen Gelächter, das jedoch schnell abgebrochen wurde durch das Geräusch von Perkers Fußtritten auf der Treppe, bei dessen Nahen er sich mit der merkwürdigsten Behendigkeit auf seinen Stuhl schwang und eifrig schrieb.

Die Begrüßung zwischen Herrn Pickwick und seinem Rechtsfreunde war warm und herzlich. Der Klient hatte sich aber kaum in den Armstuhl des Anwaltes geworfen, als ein Klopfen an der Tür gehört wurde und eine Stimme fragte, ob Herr Perker drinnen sei?

»Ah«, sagte Perker: »da ist einer von unseren vagabundierenden Freunden: – Jingle, mein lieber Herr. Wollen Sie ihn sehen?«

»Was meinen Sie?« fragte Herr Pickwick zögernd.

»Ich denke, es wird das beste sein. He da, Sir, wie Sie heißen: wollen Sie nicht hereinkommen?«

Auf diese zwanglose Einladung hin traten Jingle und Job ins Zimmer, blieben aber, als sie Herrn Pickwick erblickten, verlegen stehen.

»Nun«, sagte Perker: »kennen Sie diesen Herrn nicht?«

»Guten Grund dazu«, versetzte Jingle vortretend. »Herr Pickwick – tiefstes Dankgefühl – Lebensretter – einen Menschen aus mir gemacht – sollen es nie bereuen, Sir.«

»Es freut mich, Sie so zu hören«, sagte Herr Pickwick. »Sie sehen bedeutend besser aus.«

»Dank Ihnen, Sir – große Veränderung – Fleet – ungesunder Ort – sehr ungesund«, versetzte Jingle, den Kopf schüttelnd.

Er war anständig und reinlich gekleidet, ebenso auch Job, der kerzengerade hinter ihm stand und Herrn Pickwick mit eisernem Gesichte anstarrte.

»Wann gehen sie nach Liverpool?« fragte Herr Pickwick leise seinen Advokaten.

»Heute abend, Sir, um sieben Uhr«, sagte Job, einen Schritt vortretend. »Mit der Citypostkutsche, Sir.«

»Haben Sie Ihre Plätze schon?«

»Ja, Sir«, antwortete Job.

»So sind Sie also fest entschlossen, zu gehen?«

»Ja, Sir.«

»Was die nötige Ausrüstung für Jingle betrifft«, sagte Perker laut zu Herrn Pickwick, »so habe ich es auf mich genommen, die Anordnung zu treffen, daß ihm eine kleine Summe von seinem Vierteljahrsgehalt abgezogen wird, um diese Ausgabe zu decken, was in einem Jahre geschehen ist. Ich erkläre mich entschieden dagegen, mein lieber Herr, daß Sie irgend etwas für ihn tun, wofern er es nicht durch Fleiß und gute Aufführung verdient.«

»Wird gewiß geschehen«, unterbrach ihn Jingle mit großer Festigkeit. »Klarer Kopf – Mann von Welt – ganz recht – vollkommen.«

»Durch die Befriedigung seiner Gläubiger, die Auslösung seiner Kleider, die Unterstützung, die Sie ihm im Gefängnis zukommen ließen, und die Bezahlung der Überfahrtskosten«, fuhr Perker, ohne die mindeste Rücksicht auf Jingles Bemerkung, fort, »haben Sie bereits über fünfzig Pfund verloren.«

»Nicht verloren«, sagte Jingle hastig. »Alles bezahlen – fleißig arbeiten – sparen – jeden Heller. Gelbes Fieber vielleicht – kann nicht helfen – wenn nicht –«

Hier hielt Herr Jingle inne, schlug mit großer Heftigkeit auf seinen Hut, fuhr mit der Hand über die Augen und setzte sich nieder.

»Er will damit sagen«, erläuterte Job, ein paar Schritte vortretend, »daß er, wenn ihn das Fieber nicht wegraffe, das Gold zurückbezahlen werde. Bleibt er am Leben, so tut er es gewiß, Herr Pickwick. Ich will selbst dafür sorgen, daß es geschieht – ich weiß, daß er es tun wird, Sir«, fügte er mit großem Nachdruck hinzu. »Ich könnte darauf schwören.«

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick, der Perker ein paar Dutzend zornige Blicke zugeworfen hatte, um ihm zu bedeuten, daß er die Aufzählung seiner Wohltaten unterlassen solle, worauf jedoch der kleine Anwalt hartnäckig keinen Bedacht nahm; »Sie müssen sich nur hüten, keine so verzweifelten Kricketpartien mehr zu machen, Herr Jingle, oder Ihre Bekanntschaft mit Sir Thomas Blazo zu erneuern: dann zweifle ich nicht, daß Sie Ihre Gesundheit erhalten werden.«

Herr Jingle lächelte über diesen witzigen Einfall, sah aber doch ein wenig verdutzt aus, und so gab Herr Pickwick dem Gespräch eine andere Wendung.

»Wissen Sie nicht vielleicht«, fragte er, »was aus einem andern Freunde von Ihnen geworden ist – einem etwas demütigeren, den ich in Rochester sah?«

»Meinen Sie den trübsinnigen Jemmy?« fragte Jingle.

»Ja.«

Jingle schüttelte den Kopf.

»Ein verschmitzter Bursche – ein närrischer Kerl – ein Lügengenie – Jobs Bruder.«

»Jobs Bruder?« rief Herr Pickwick. »Ja wahrhaftig, wenn ich ihn so in der Nähe ansehe, entdecke ich eine Ähnlichkeit.«

»Man hat uns immer für ähnlich gehalten, Sir«, sagte Job mit einem verschmitzten Blick, der in seinen Augenwinkeln lauerte: »nur war ich von jeher ernsthafter Natur und er niemals. Er wanderte nach Amerika aus, Sir, weil man ihm hier zu sehr auf die Finger sah, als daß er sich hätte behaglich fühlen können: und seitdem hat man nichts von ihm gehört.«

»Deswegen habe ich also die ,Seite aus dem Roman des wirklichen Lebens‘ nicht bekommen, die er mir eines Morgens versprach, als er auf der Rochesterbrücke stand und offenbar mit Selbstmordgedanken umging?« sagte Herr Pickwick lächelnd. »Ich brauche nicht zu fragen, ob sein trübseliges Benehmen natürlich war oder bloß erkünstelt.«

»Er konnte sich in jede Rolle hineinfinden, Sir«, sagte Job, »und Sie dürfen von großem Glück sagen, daß Sie ihm so wohlfeil entronnen sind. Bei genauerem Umgang würde er noch ein gefährlicherer Bekannter für Sie geworden sein, als« – Job blickte nach Jingle, stockte und setzte endlich hinzu: »als – als – ich selbst sogar.«

»Eine recht hoffnungsvolle Familie, Herr Trotter« sagte Perker, indem er einen Brief versiegelte, den er soeben beendet hatte.

«Ja, gewiß, Sir«, versetzte Job.

»Nun gut«, fuhr der kleine Mann lachend fort: »Sie werden hoffentlich aus der Art schlagen. Übergeben Sie diesen Brief dem Agenten, wenn Sie nach Liverpool kommen, und nehmen Sie den Rat von mir an, meine Herren, in Westindien nicht gar zu pfiffig aufzutreten. Verscherzen Sie diese Gelegenheit, so werden Sie beide unbedingt verdienen, gehenkt zu werden, und ich glaube auch fest, daß dies dann geschehen wird. Jetzt aber muß ich bitten, mich mit Herrn Pickwick allein zu lassen, denn wir haben noch andere Sachen zu besprechen, und die Zeit ist kostbar.«

Bei diesen Worten sah Perker nach der Tür mit einem Gesicht, das unbeirrt den Wunsch ausdrückte, die Herren möchten den Abschied so kurz wie möglich machen.

Von Herrn Jingles Seite war er kurz genug. Er dankte dem kleinen Anwalt in wenigen herausgehaspelten Worten für die Güte und Bereitwilligkeit, womit er ihm Beistand geleistet, wandte sich sofort zu seinem Wohltäter und stand einige Sekunden unentschlossen da, was er sagen oder wie er sich benehmen solle. Job Trotter erlöste ihn aus seiner Verlegenheit, indem er mit einer demütigen, dankbaren Verbeugung gegen Herrn Pickwick seinen Freund sachte am Arme nahm und hinausführte.

»Ein würdiges Paar«, sagte Perker, als sich die Tür hinter ihnen schloß.

»Ich hoffe, daß sie es werden«, erwiderte Pickwick. »Was meinen Sie? Ist Aussicht auf bleibende Besserung vorhanden?«

Perker zuckte zweifelhaft die Achseln; als er aber Herrn Pickwicks unruhigen und mißvergnügten Blick bemerkte, sagte er –

»Aussicht ist allerdings vorhanden, und ich hoffe, sie wird sich erfüllen. Sie sind jetzt ohne alle Frage bußfertig, aber Sie müssen bedenken, daß die Erinnerung an ihre kürzlich erstandenen Leiden noch ganz frisch bei ihnen ist. Was aus ihnen werden wird, wenn diese nach und nach verschwindet, ist ein Problem, das ich so wenig lösen kann wie Sie. Aber, mein lieber Herr«, fügte Perker, seine Hand auf Herrn Pickwicks Schulter legend, hinzu, »der Erfolg mag sein, wie er will, Ihre Absicht bleibt immer gleich ehrenhaft. Ob jene Art von Wohlwollen, die so unendlich behutsam und vorsichtig zu Werke geht, daß sie sich nur selten in Anwendung bringen läßt; damit ja der, dem sie gilt, nicht in seiner Eigenliebe gekränkt werde, wirkliche Menschenfreundlichkeit ist, oder bloß ein verfälschter Nachdruck davon, überlasse ich klügeren Köpfen auszumitteln. Wenn indes die zwei Burschen morgen schon einen nächtlichen Einbruch begingen, meine Meinung von Ihrem Benehmen würde demungeachtet gleich hoch bleiben.«

Mit diesen Bemerkungen, die mit weit lebhafterem Mitgefühl und Ernst gesprochen waren, als es bei den Herren Juristen sonst der Fall zu sein pflegt, rückte Herr Perker seinen Stuhl an sein Pult und ließ sich von Herrn Pickwick die Hartnäckigkeit des alten Herrn Winkle erzählen.

»Geben Sie ihm eine Woche Zeit«, sagte Perker, prophetisch mit dem Kopfe nickend.

»Meinen Sie, er werde weich werden?« fragte Herr Pickwick.

»Ja«, erwiderte Perker. »Wo nicht, so müssen wir die Überredungsgabe der jungen Dame erproben, womit jeder andere, als Sie, es gleich im Anfang erprobt hätte.«

Herr Perker nahm eine Prise und zuckte die Achseln in betreff der Überredungskräfte junger Damen. Da hörte man in der äußern Stube fragen und antworten, und unmittelbar darauf klopfte Lowten an die Tür.

»Herein!« rief der kleine Mann.

Der Schreiber kam und schloß mit sehr geheimnisvoller Miene hinter sich zu.

»Was gibt’s?« fragte Perker

»Man fragt nach Ihnen, Sir.«

»Wer?«

Lowten sah Herrn Pickwick an und hustete.

»Wer fragt nach mir? Können Sie nicht sprechen, Herr Lowten?«

»Nun, Sir«, erwiderte Lowten,- »es sind die Herren Dodson und Fogg.«

»Wahrhaftig!« sagte der kleine Mann, auf seine Uhr sehend: »ich habe sie auf halb zwölf zu mir bestellt, um Ihre Angelegenheit mit ihnen abzumachen, Herr Pickwick. Ich gab ihnen eine Anweisung, gegen die sie mir Ihre Entlassung aus dem Gefängnis zuschickten. Die Leute kommen sehr ungelegen, mein teurer Sir, was wollen Sie tun? Wollen Sie vielleicht in das andere Zimmer treten?«

Das andere Zimmer war indessen dasselbe, worin sich die Herren Dodson und Fogg befanden, und Herr Pickwick erklärte, er werde bleiben wo er sei, zumal die Herren Dodson und Fogg sich schämen müßten, ihm ins Gesicht zu sehen, während er sich keineswegs vor ihnen zu schämen hätte. Das bat er mit glühendem Gesicht und allen Zeichen der Entrüstung, Herrn Perker nicht zu vergessen.

»Ganz gut, mein lieber Herr, ganz gut«, erwiderte Perker: »soviel muß ich Ihnen aber sagen: wenn Sie glauben, daß Dodson oder Fogg auch nur die geringste Beschämung oder Verlegenheit an den Tag legen werden, weil sie Ihnen oder sonst jemand ins Gesicht sehen sollen, so sind Sie in Ihren Erwartungen der größte Optimist, der mir je vorgekommen ist. Führen Sie die Leute herein, Lowten.«

Herr Lowten verschwand mit Grinsen und kam sogleich zurück, um in gehöriger Form die Firma, Dodson zuerst und dann Fogg, einzuführen.

»Sie kennen Herrn Pickwick bereits, dächte ich«, begann Perker zu Dodson, indem er seine Feder nach der Richtung neigte, wo der Gentleman saß.

»Ah, Herr Pickwick, guten Tag. Wie geht es Ihnen?« sagte Dodson mit lauter Stimme.

»Ach ja, Herr Pickwick, wie geht es Ihnen?« rief Fogg. »Recht gut, wie ich hoffe, Sir? Ich will’s doch meinen, daß ich den Herrn kenne«, fügte er hinzu, indem er einen Stuhl nahm und sich lächelnd umschaute.

Herr Pickwick nickte zur Erwiderung auf diese Grüße nur ebenhin, und als er Fogg einen Pack Papiere aus seiner Rocktasche ziehen sah, stand er auf und ging ans Fenster.

»Herr Pickwick braucht sich nicht zu entfernen, Herr Perker«, sagte Fogg, indem er den roten Bindfaden löste, der seine Papiere zusammenfaßte, und noch süßer lächelte als zuvor. »Herr Pickwick kennt unsere Verhandlungen ziemlich genau, und ich dächte, wir haben hier keine Geheimnisse voreinander. Hihihi!«

»Das meine ich auch«, sagte Dodson. »Hahaha!«

Und nun lachten die beiden Associés miteinander vergnügt und lustig, wie die Leute meist tun, die im Begriff sind, Geld in Empfang zu nehmen.

»Herr Pickwick soll seine Neugierde büßen«, sagte Fogg mit vielem natürlichen Humor, als er seine Papiere ordnete. »Die taxierten Kosten belaufen sich auf hundertunddreiunddreißig Pfund, sechs Schilling und vier Pence, Herr Perker.«

Während nun Fogg und Perker zur Ermittlung dieser Berechnung von Profit und Verlust die Papiere verglichen und manche Blätter umschlugen, sagte Dodson in verbindlichem Tone zu Herrn Pickwick: –

»Es scheint mir. Sie sehen nicht mehr ganz so kräftig aus, wie an dem Tage, wo ich zum letztenmal das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, Herr Pickwick.«

»Mag wohl sein, Sir«, erwiderte Herr Pickwick, der Blicke wilden Ingrimms auf die beiden Gauner losgeschossen hatte, ohne jedoch den mindesten Eindruck auf sie hervorzubringen. »Es ist auch kein Wunder, Sir, denn ich bin in der letzten Zeit von Schurken verfolgt und gequält worden, Sir.«

Perker hustete heftig und fragte Herrn Pickwick, ob er nicht vielleicht die Zeitung ansehen wolle; eine Frage, die Herr Pickwick mit der entschiedensten Verneinung beantwortete.

»Ja«, sagte Dodson, »ich will es gern glauben, daß Sie im Fleet gequält worden sind: es gibt gar verschiedenartige Leute dort. Wo waren Ihre Gemächer, Herr Pickwick?«

»Meine einzige Stube«, erwiderte der schwergekränkte Mann, »befand sich im Restaurationsgang.«

»So?« sagte Dodson. »Meines Wissens ist das ein sehr angenehmer Teil des Gebäudes.«

»Sehr«, entgegnete Herr Pickwick trocken.

Der ganze Ton dieser Unterhaltung war so frostig, daß ein Mann von erregbarem Temperament unter solchen Umständen leicht aufs äußerste gereizt werden konnte. Herr Pickwick bezwang indessen seinen Ingrimm durch gigantische Anstrengungen. Als aber Perker einen Schein für die ganze Summe schrieb und Fogg denselben in eine kleine Brieftasche legte mit einem triumphierenden Lächeln auf seinen sinnigen Zügen, das sich sogar dem strengen Gesicht Dodsons mitteilte, da fühlte er, daß ihm sein Blut vor Zorn in den Wangen kochte.

»Jetzt, Herr Dodson«, sagte Fogg, die Brieftasche einsteckend und seine Handschuhe anziehend; »jetzt stehe ich zu Ihren Diensten.«

»Sehr gut«, sagte Dodson aufstehend; »ich bin ebenfalls bereit.«

»Ich schätze mich sehr glücklich«, bemerkte Fogg, durch den Wechsel in die beste Laune versetzt, »daß ich das Vergnügen gehabt habe, Herrn Pickwicks Bekanntschaft zu machen. Ich hoffe. Sie werden von uns nicht mehr ganz so übel denken, Herr Pickwick, wie damals, als ich zum erstenmal das Vergnügen hatte. Sie zu sehen.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Dodson im hohen Ton beleidigter Tugend. »Herr Pickwick kennt uns jetzt ohne Zweifel besser. Was auch Ihre Meinung von den Herren unseres Standes sein mag, Sir, ich erlaube mir, Sie zu versichern, daß ich durchaus keine Spur von Groll oder Rachegefühl gegen Sie hege wegen der Gefühle, die Sie bei der Gelegenheit, auf die mein Kollege sich soeben bezogen hat, auf unserm Büro im Freemans Court, Cornhill, auszudrücken beliebten.«

»O nein, nein, ich auch nicht«, sagte Fogg in einem sehr verzeihenden Tone.

»Unser Benehmen, Sir«, fügte Dodson hinzu, »wird für sich selbst sprechen und sich hoffentlich bei jeder Veranlassung rechtfertigen. Wir haben schon einige Jährchen praktiziert, Herr Pickwick, und sind mit dem Vertrauen vieler ausgezeichneter Klienten beehrt worden. Ich wünsche Ihnen guten Morgen, Sir.«

»Guten Morgen, Herr Pickwick«, sagte Fogg, nahm seinen Regenschirm unter den Arm, zog seinen rechten Handschuh aus und streckte die Hand zur Versöhnung dem ergrimmten Gentleman hin, der aber beide Hände unter seine Rockschöße steckte und den Advokaten mit Blicken verachtungsvollen Erstaunens anschaute.

»Lowten!« rief Perker in diesem Augenblick: »öffnen Sie die Tür.«

»Warten Sie noch einen Augenblick«, sagte Herr Pickwick: »Perker, ich will sprechen.«

»Mein lieber Herr, bitte, lassen Sie die Sache beruhen«, fiel der kleine Anwalt ein, der während der ganzen Szene in der peinlichsten Angst gewesen war: »bitte, Herr Pickwick –«

»Ich lasse es mir nicht nehmen, Sir«, erwiderte Herr Pickwick hastig. »Herr Dodson, Sie haben einige Bemerkungen an mich gerichtet.«

Dodson drehte sich um, neigte verbindlich den Kopf und lächelte.

»Bemerkungen an mich!« wiederholte Herr Pickwick beinahe atemlos: »und Ihr Associé hat mir die Hand geboten, und Sie haben beide einen verzeihenden, großmütigen Ton gegen mich angenommen, was ein Grad von Unverschämtheit ist, den ich selbst von Ihnen nicht erwartet hätte.«

»Wie, Sir?« rief Dodson.

»Wie, Sir?« wiederholte Fogg.

»Wissen Sie, daß ich das Opfer Ihrer Ränke und Kniffe geworden bin?« fuhr Herr Pickwick fort. »Wissen Sie, daß ich der Mann bin, den Sie ins Gefängnis gebracht und beraubt haben? Wissen Sie, daß Sie die Anwälte für die Klägerin im Prozeß Bardell und Pickwick waren.«

»Ja, Sir, das wissen wir«, erwiderte Dodson.

»Versteht sich, Sir«, fügte Fogg hinzu, indem er – vielleicht zufällig – an seine Tasche schlug.

»Ich sehe, daß Sie sich mit Vergnügen daran erinnern«, sagte Herr Pickwick, und versuchte zum erstenmal in seinem Leben zu hohnlächeln, was ihm jedoch gänzlich mißlang. »So sehr ich es schon längst gewünscht habe. Ihnen mit deutlichen Worten sagen zu können, was ich von Ihnen denke, so würde ich dennoch aus Rücksicht auf die Wünsche meines Freundes Perker sogar diese Gelegenheit vorübergelassen haben, hätten Sie nicht diesen unverantwortlichen Ton gegen mich angenommen und sich diese schamlose Vertraulichkeit erlaubt – ich sage schamlose Vertraulichkeit, Sir.«

Und nun wandte sich Herr Pickwick mit so wütender Gebärde gegen Fogg, daß dieser sich eiligst nach der Tür zurückzog.

»Nehmen Sie sich in acht, Sir«, sagte Dodson, der, obgleich der größte von allen Anwesenden, sich dennoch klüglich hinter Fogg verschanzte und mit käsebleichem Gesicht über dessen Kopf herübersprach. »Lassen Sie ihn nur zuschlagen, Herr Fogg: geben Sie unter keiner Bedingung einen Streich zurück.«

»Nein, nein, da werde ich mich wohl hüten«, sagte Fogg, ein wenig zurückweichend, zum offenbaren Nutzen seines Associé, der dadurch allmählich in den Stand gesetzt wurde, das äußere Zimmer zu erreichen.

»Sie sind«, fuhr Herr Pickwick, den Faden seiner Rede wieder aufnehmend, fort. »Sie sind ein trefflich zusammenpassendes Paar von niederträchtigen, schuftigen, zungendrescherischen Gaunern.«

»Nun, ist da« alles?« fiel Perker ein.

»Ja«, versetzte Herr Pickwick, »es ist alles in den Worten begriffen: es sind niederträchtige, schuftige, zungendrescherische Gauner.«

»Jetzt«, sagte Perker in einem höchst versöhnlichen Tone: »jetzt, meine werten Herrn, hat er alles gesagt, was er zu sagen hatte: ich bitte, gehen Sie endlich. Lowten, ist die Tür offen?«

Herr Lowten bejahte mit einem schlecht unterdrückten Kichern.

»Nun, nun – guten Morgen – guten Morgen – bitte, meine werten Herren – Herr Lowten, die Tür!« rief der kleine Mann, die Herren Dodson und Fogg unwillig aus seinem Zimmer treibend; »dahin, meine werten Herren – bitte, halten Sie sich nicht länger auf – zum Kuckuck auch, Herr Lowten! – Die Tür, Sir – warum sind Sie nicht bei der Hand?«

»Wenn es Gesetze in England gibt, Sir«, sagte Dodson, gegen Herrn Pickwick gewendet, als er seinen Hut aufsetzte, »so sollen Sie dafür büßen.«

»Sie sind ein Paar niederträchtige –«

»Bedenken Sie wohl, Sir, Sie müssen teuer dafür bezahlen«, sagte Fogg, seine Faust schüttelnd.

»Schuftige, zungendrescherische Gauner«, fuhr Herr Pickwick fort, ohne die geringste Notiz von diesen Drohungen zu nehmen.

»Gauner!« rief Herr Pickwick, an die Treppe springend, als die zwei Advokaten hinabgingen.

»Gauner!« schrie Herr Pickwick, sich von Lowten und Perker losreißend und den Kopf zum Fenster hinausstreckend!

Als Herr Pickwick seinen Kopf wieder hereinbrachte, schwebte ein mildes Lächeln auf seinem Gesicht! er ging ruhig auf das Bureau zurück und erklärte, er habe jetzt eine große Last von seinem Herzen gewälzt und fühle sich wieder vollkommen behaglich und vergnügt.

Perker sprach kein Wort, bis er seine Dose geleert und Lowten fortgeschickt hatte, um sie wieder zu füllen. Dann aber brach er in ein lautes Gelächter aus, das volle fünf Minuten dauerte, und nach Verlauf dieser Zeit sagte er, er sollte eigentlich sehr unwillig sein, aber für den Augenblick könne er der Sache keine ernste Seite abgewinnen – er werde übrigens schon noch bös werden.

»Jetzt will ich auch mit Ihnen abrechnen«, sagte Herr Pickwick.

»Etwa auch in dieser Weise?« fragte Perker, abermals ein Gelächter anschlagend.

»Das nun eben nicht«, erwiderte Herr Pickwick, seine Brieftasche herausziehend und dem kleinen Mann herzlich die Hand schüttelnd: »ich will bloß meine Geldrechnung berichtigen. Sie haben mir viele Gefälligkeiten erwiesen, die ich nicht bezahlen kann und auch nicht zu bezahlen wünsche, denn ich ziehe es vor. Ihr Schuldner zu bleiben.«

Nach dieser Vorrede versenkten sich die zwei Freunde in sehr verwickelte Rechnungen und Dokumente, die, nachdem Herr Perker sie alle pflichtgemäß vorgelegt und durchgegangen hatte, von Herrn Pickwick unter wiederholten Versicherungen seiner Achtung und Freundschaft bezahlt wurden.

Kaum war diese Sache abgemacht, als man ein sehr heftiges und überraschendes Klopfen an der Tür hörte. Es war kein gewöhnliches doppeltes Klopfen, sondern eine fortlaufende, ununterbrochene Reihenfolge der lautesten Einzelschläge, gleich als wäre der Türklopfer mit ewiger Bewegung begabt, oder als hätte die Person draußen vergessen, einmal aufzuhören.

»Mein Gott, was ist das?« rief Perker erschreckend.

»Ich denke, es ist ein Klopfen an die Tür«, sagte Herr Pickwick, als ob über diese Tatsache der geringste Zweifel hätte obwalten können.

Der Klopfer antwortete weit kräftiger, als mit Worten möglich gewesen wäre: denn er fuhr fort mit überraschender Gewalt und großem Lärmen darauf loszuhämmern, ohne einen Augenblick auszusetzen.

»Wahrhaftig«, sagte Perker, die Klingel ziehend, »wir müssen Lärm im Hause machen. – Herr Lowten, hören Sie kein Klopfen?«

»Ich will die Tür im Augenblick öffnen«, erwiderte der Schreiber.

Der Klopfer schien die Antwort zu hören und zu versichern, daß es rein unmöglich sei, so lange zu warten. Er machte ein entsetzliches Getöse.

»Das ist ja schrecklich«, sagte Herr Pickwick, seine Ohren verstopfend.

»Tummeln Sie sich, Herr Lowten«, rief Perker hinaus, »sonst wird ja die Tür eingeschlagen.«

Herr Lowten, der eben in einem dunklen Nebenstübchen seine Hände gewaschen hatte, sprang an die Tür, drückte die Schnalle auf und erblickte die Erscheinung, die im nächsten Kapitel beschrieben werden soll.

  1. Die Feder, die Herr Lowton in der guten alten Zeit gebrauchte.

Zweiundvierzigstes Kapitel.


Zweiundvierzigstes Kapitel.

Wie es Herrn Pickwick in Fleet erging; was für Schuldner er daselbst antraf, und wie er die Nacht zubrachte.

Herr Tom Roker, der Gentleman, der Herrn Pickwick ins Gefängnis begleitet hatte, wandte sich unten auf der kurzen Treppe nach rechts und führte ihn durch ein offenstehendes eisernes Tor, sodann eine andere kurze Treppe hinauf in einen langen, engen, schmutzigen, niedrigen, mit Steinen bepflasterten Gang, der bloß durch ein einziges Fenster an jedem Ende ein höchst spärliches Licht erhielt.

»Dies«, sagte der Gentleman, seine Hände einsteckend und Herrn Pickwick nachlässig über die Schulter ansehend; »dies ist der Weg zur Halle.«

»So«, erwiderte Herr Pickwick, eine dunkle, schmutzige Treppe hinabblickcnd, die zu einer Reihe dumpfer, düsterer, unterirdischer Steingewölbe zu führen schien: »und dies da sind wohl die kleinen Keller, wo die Gefangenen ihre geringen Kohlenvorräte aufbewahren? Der Zugang ist sehr garstig: doch mögen sie zu diesem Zwecke wohl passen.«

»Ei, warum sollten sie nicht passen?« meinte der Gentleman, »es wohnen ja mehrere Leute ganz hübsch darin; das dürfen Sie mir wohl glauben.«

»Mein Freund«, sagte Herr Pickwick, »es wird Ihnen doch nicht ernst damit sein, daß menschliche Wesen in diesen Löchern wohnen?«

»Ei, warum denn nicht?« erwiderte Herr Roker mit unwilliger Verwunderung, »warum denn nicht?«

»Da unten leben also wirklich Menschen?« rief Herr Pickwick.

»Ja, sie leben da unten, und sehr oft sterben sie auch da unten«, erwiderte Herr Roker. »Was liegt denn daran? Wer kann etwas dagegen einwenden? Dies ist ein ganz guter Platz zum Leben.«

Da Roker bei diesen Worten sich etwas barsch gegen Herrn Pickwick umwandte und noch überdies in aufgereiztem Tone gewisse unfreundliche Äußerungen über seine Augen, seine Glieder und seine zirkulierenden Flüssigkeiten murmelte, so hielt es letzterer für ratsam, das Gespräch nicht weiter zu verfolgen. Herr Roker stieg sofort abermals eine Treppe hinauf, die so schmutzig war wie die letzte, und die Herren Pickwick und Weller folgten ihm auf der Ferse.

»Hier«, sagte Herr Roker, indem er Atem schöpfte, als sie eine andere Galerie von demselben Umfang wie die untere erreicht hatten: »hier ist der Gang ins Wirtszimmer! es sind noch zwei darüber, und das Zimmer, wo Sie heute nacht schlafen werden, gehört dem Gefängniswärter! hier bitte, treten Sie ein.«

Nachdem er das alles in einem Atem gesagt, stieg Herr Roker mit seinen Begleitern von neuem eine Treppe hinauf.

Diese Treppe erhielt ihr Licht von einigen niedrig angebrachten Fenstern, die auf einen mit Kies bedeckten und von einer hohen Backsteinmauer mit eisernen spanischen Reitern umgebenen offenen Raum sahen. Das war, wie aus Herrn Rokers Erklärung hervorging, der Ballplatz, und nach dem Bericht dieses Gentlemans befand sich in dem zunächst an die Farringdonstraße stoßenden Teile des Gefängnisses ein ähnlicher aber kleinerer Hofraum, der »gemalte Platz« genannt, weil man an seinen Mauern früher mehrere Abbildungen von Kriegsschiffen unter vollen Segeln sowie andere Kunstleistungen erblickt hatte, wodurch sich ein eingesperrter Maler in seinen Mußestunden hier verewigte.

Nachdem Herr Roker diese Notiz, augenscheinlich mehr um sein Gemüt durch Mitteilung einer wichtigen Tatsache zu erleichtern, als in der speziellen Absicht, Herrn Pickwick aufzuklären, mitgeteilt hatte, ging er mit ihm in eine andere Galerie und lenkte in einen kleinen Nebengang am äußersten Ende desselben ein; hier öffnete er eine Tür und erschloß ein Zimmer von keineswegs einladendem Aussehen, worin acht bis neun eiserne Bettstellen standen.

»Hier«, sagte er, die Tür offen haltend und Herrn Pickwick triumphierenden Blickes anschauend: »hier ist ein Zimmer.«

Herrn Pickwicks Gesicht verriet indessen ein so durchaus geringes Maß von Zufriedenheit, daß Herr Roker in den Mienen Samuel Wellers, der bis jetzt ein würdevolles Schweigen beobachtet hatte, nach Sympathie suchte.

»Hier ist ein Zimmer, junger Mann«, bemerkte Herr Roker.

»Ich sehe es«, erwiderte Sam mit einem freundlichen Kopfnicken.

»Was meinen Sie? So ein Zimmer würden Sie im Farringdon-Hotel nicht finden«, sagte Herr Roker mit selbstgefälligem Lächeln.

Statt aller Antwort drückte Herr Weller auf eine behagliche und unstudierte Weise ein Auge zu, was entweder bedeuten konnte, er denke auch so, oder er denke nicht so, oder er habe überhaupt noch gar nicht darüber nachgedacht, wie es der Beobachter nun auslegen mochte. Nachdem er das vollbracht und sein Auge wieder geöffnet hatte, fragte er Herrn Roker, welches die merkwürdige Bettstelle sei, worin es sich nach seiner lockenden Beschreibung so herrlich schlafen lasse.

»Diese da«, erwiderte Herr Roker, auf eine sehr rostige Bettlade in einem Winkel zeigend. »Jedermann schläft darin ein, er mag wollen oder nicht.«

»Dann wären ja«, meinte Sam, mit einem Blick unendlichen Widerwillens das fragliche Möbel betrachtend: »dann wären ja Mohnköpfe nichts dagegen.«

»Das ist wahr«, versetzte Herr Roker.

»Und«, fügte Sam mit einem Seitenblick auf seinen Herrn hinzu, ob er bei diesem nicht etwa einige Merkzeichen eines erschütterten Entschlusses zu erkennen vermöchte, »die andern Gentlemen, die hier schlafen, sind doch hoffentlich Gentlemen?«

»Das versteht sich«, sagte Herr Roker. »Einer von ihnen trinkt Tag für Tag zwölf Kannen Ale und läßt seine Pfeife nie kalt werden, nicht einmal beim Essen.«

»Das muß ja ein außerordentlicher Mann sein«, meinte Sam.

»Ja freilich, ich bin es selbst.«

Keineswegs eingeschüchtert durch diese Nachricht, kündigte Herr Pickwick seinen Entschluß an, die Wunderkräfte des narkotischen Bettes auf die nächste Nacht zu erproben: Herr Roker sagte ihm, er könne sich ohne weitere Anzeige oder Formalität zu jeder beliebigen Stunde zur Ruhe begeben und ließ ihn sofort mit Sam auf dem Gange stehen.

Es wurde dunkel, das heißt, an diesem niemals hellen Platze wurden aus Artigkeit gegen den Abend, der sich außen eingestellt hatte, einige Gaslichter angezündet. Da es ziemlich heiß war, so hatten die Bewohner einiger von den zahlreichen, auf beiden Seiten in den Gang sich öffnenden Stuben ihre Türen mehr oder weniger weit aufgemacht, und Herr Pickwick schaute im Vorübergehen mit großer Neugier und vielem Interesse hinein. Im ersten saßen vier oder fünf mäßig große Burschen, durch eine Wolke von Tabaksrauch beinahe unsichtbar gemacht, in lärmender, schreiender Unterhaltung über halbleeren Bierkannen und spielten mit schmutzigen Karten »Allevier«. Im nächsten Zimmer erblickte er einen einsamen Bewohner, der beim Schein eines schwachen Talglichts einen Packen beschmutzter, verwitterter, mit gelbem Staub bedeckter und vor Alter beinahe zerfallener Papier studierte und zum hundertstenmal ein langes Verzeichnis seiner Beschwerden für irgendeinen bedeutenden Mann niederschrieb, dessen Augen dies Schreiben niemals lesen, dessen Herz nie dadurch gerührt werden sollte. In einem dritten wohnte ein Mann mit seinem Weibe und einem ganzen Haufen Kinder, und bereitete für die jüngsten ein ärmliches Nachtlager auf der Erde oder auf ein paar Stühlen. Im vierten, fünften, sechsten und siebten wiederholte sich das Geschrei, das Biertrinken, der Tabaksrauch und das Kartenspiel in verstärktem Maße.

Auf den Gängen selbst und besonders auf den Treppen standen eine Menge Leute, die hierher kamen, einige, weil ihnen ihr Zimmer zu leer und zu einsam, andere, weil sie zu voll und zu heiß waren, die meisten aber, weil sie keine Ruhe fanden, sich unbehaglich fühlten und das Geheimnis nicht besaßen, mit Bestimmtheit zu wissen, was sie mit sich selbst anfangen sollten. Es waren Leute aus allen Klassen da, vom Arbeiter in der Barchentweste bis zu dem ruinierten Verschwender in seinem tuchenen Schlafrock mit den zerrissenen Ellenbogen. Aber alle hatten dieselbe Art sich zu benehmen, eine gewisse, leichtfertige Galgenvogelsorglosigkeit, ein großtuerisches, vagabundenhaftes Wesen, das sich mit Worten schlechterdings nicht beschreiben läßt. Doch jeder, der Lust hat, kann sogleich Einsicht nehmen, wenn er einen Fuß in den nächsten besten Schuldturm setzt und die nächste beste Gruppe, die er erblickt, mit ebensoviel Interesse anschaut, wie Herr Pickwick es tat.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, sich an das eiserne Geländer oben an der Treppe lehnend, »es scheint mir, als wenn die Einsperrung wegen Schulden kaum eine Strafe genannt werden könnte.«

»Meinen Sie das wirklich, Sir?« fragte Herr Weller.

»Du siehst, wie diese Burschen trinken, rauchen und schreien«, fuhr Herr Pickwick fort. »Ihre Lage kann ihnen unmöglich sehr zu Herzen gehen.«

»Das ist’s ja, Sir«, erwiderte Sam. »Die machen sich freilich nicht viel daraus, sondern haben alle Tage blauen Montag, saufen den ganzen Tag Porter und kegeln: aber es gibt auch noch andere, die kein Bier trinken und nicht Kegel schieben können, die gern bezahlen würden, wenn sie das Geld dazu hätten, und die ganz traurig und kleinmütig werden, wenn man sie einsperrt. Ich will Ihnen sagen, wie die Sachlage ist, Sir: denen, die den ganzen Tag in den Wirtshäusern herumliegen, schadet es nichts, denen aber, die immer arbeiten, wenn sie Gelegenheit haben, schadet es vielzuviel. Es ist gar zu ungleich, wie mein Vater zu sagen pflegte, wenn sein Grog nicht gerade halb Rum und halb Wasser war, es ist gar zu ungleich, und da liegt der Hase im Pfeffer.«

»Du hast recht, Sam«, sagte Herr Pickwick nach einigen Augenblicken des Nachdenkens, »du hast ganz recht.«

»Vielleicht gibt es dann und wann auch einige ehrliche Leute, denen es gefällt«, bemerkte Herr Weller gedankenvoll: »aber ich habe doch von keinem gehört, ausgenommen von dem kleinen Mann mit dem schmutzigen Gesicht und dem braunen Rock, und da war es die Macht der Gewohnheit.«

»Wer war es denn?« fragte Herr Pickwick.

»Eben das ist die Sache, die kein Mensch jemals erfahren hat«, erwiderte Sam.

»Was hat er denn getan?«

»Was manche viel berühmtere Leute ihrer Zeit auch getan haben, Sir; er hat seine Ausgaben und seine Einnahmen nicht ins rechte Verhältnis zueinander zu setzen gewußt.«

»Das heißt, er hat Schulden gemacht?« fragte Herr Pickwick.

»Eben das, Sir«, erwiderte Sam; »und so kam er endlich im Verlauf der Zeit hierher. Es war nicht viel – Pfändung wegen neun Pfund geradeaus, multipliziert mit fünf Pfund Unkosten, und doch mußte er siebzehn Jahre lang hierbleiben. Wenn er Runzeln ins Gesicht bekam, so wurden sie mit Schmutz verstopft, denn das schmierige Gesicht wie der braune Rock hatten ganz dieselbe Farbe am Ende dieser Zeit wie im Anfang. Er war ein stilles, harmloses, kleines Männchen, das sich immer etwas zu schaffen machte oder Ball spielte und nie gewann, bis endlich die Schließer sich ganz in ihn vernarrten und ihn jeden Abend auf ihr Zimmer kommen ließen, wo er mit ihnen schwatzen und Geschichten erzählen mußte und dergleichen. Eines Abends war er wie gewöhnlich auch da, und ganz allein mit einem alten Freunde, der gerade die Schlüssel hatte: da fing er auf einmal an und sagte: ›Bill, ich habe den Markt draußen schon siebzehn Jahre nicht mehr gesehen‹, (dazumal war gerade der Fleetmarkt). – ›Ich weiß wohl‹, sagte der Schließer und rauchte seine Pfeife. – ›Ich möchte ihn gar zu gern auf eine Minute wiedersehen, Bill‹, fuhr der Kleine fort. – ›Glaub’s wohl‹, sagte der Schließer und dampfte mächtig, um sich das Ansehen zu geben, als ob er den kleinen Mann nicht verstände. – ›Aber‹, sagte dieser immer dringlicher, ›ich habe es mir nun einmal in den Kopf gesetzt. Laßt mich die Straße noch einmal vor meinem Tode sehen, und wenn mich der Schlag nicht rührt, so bin ich in fünf Minuten wieder da.‹ – ›Aber‹, sagte der Schließer, ›was soll aus mir werden, wenn der Schlag Euch wirklich rührt?‹ – ›Ach‹, erwiderte das kleine Männchen, ›wer mich findet, der wird mich schon bringen, denn ich habe meine Karte in der Tasche: Nr. 20, Gefängnishallengang.‹ Und das war wirklich so, denn wenn er mit einem Neuangekommenen Bekanntschaft machen wollte, so zog er jedesmal eine kleine biegsame Karte mit den obengenannten Worten und sonst gar nichts darauf aus der Tasche, daher sie ihn auch die ›Nummer 20‹ nannten. Der Schließer sah ihn scharf an und sagte zuletzt sehr feierlich: ›Zwanzig, ich will Euch trauen: Ihr werdet Euren alten Freund nicht in Verlegenheit bringen.‹ – ›Nein, mein Schatz‹, antwortete das kleine Männchen, ›ich hoffe, es steckt etwas Besseres hier unten‹, dabei schlug er mit Macht auf sein kleines Westchen, und in jedem Auge stand ihm eine Träne, was ganz außerordentlich war, denn er galt dafür, daß nie Wasser sein Gesicht berührte. Er schüttelte dem Schließer die Hand, ging hinaus –«

»Und kam nie wieder?« fragte Herr Pickwick.

»Diesmal haben Sie fehlgeraten, Sir«, erwiderte Herr Weller, denn er erschien zwei Minuten vor der Zeit, kochend vor Wut, wieder und sagte, eine Mietkutsche habe ihn beinahe überfahren: er sei an so etwas nicht gewöhnt und er wolle ein schlechter Kerl sein, wenn er es nicht dem Lordmayor schreibe. Sie beschwichtigten ihn endlich, aber fünf ganze Jahre hernach hat er nie mehr auch nur ein einziges Mal zum Tore hinausgeschaut.«

»Und nach Verlauf dieser Zeit ist er wohl gestorben?« fragte Herr Pickwick.

»Nein, Sir, das nicht«, erwiderte Sam. »Er bekam ein Gelüst, in dem neuen Wirtshaus über der Straße am Eingang das Bier zu versuchen, und dort war ein so hübsches Zimmer, daß er sich’s in den Kopf setzte, jeden Abend dahin zu gehen, was er eine geraume Zeitlang tat. Regelmäßig etwa eine Viertelstunde vor Torschluß kam er dann immer wieder zurück. Das war nun alles ganz schön und gut, aber endlich wurde er so lustig und ausgelassen, daß er die Zeit ganz vergaß oder sich gar nichts mehr daraus machte, und immer später und später zurückkam, bis er zuletzt eines Abends vor dem Tore erschien, als sein guter Freund eben zuschließen wollte und bereits den Schlüssel umgedreht hatte. – ›He da, Bill, halt!‹ ruft er ihm zu. – ›Seid Ihr denn noch nicht zu Hause, Zwanzig?‹ sagte der Schließer; ›ich dachte, Ihr wäret längst da.‹ – ›Nein, noch nicht‹, erwiderte der Kleine und lächelte. – ›Dann will ich Euch etwas sagen, guter Freund‹, sprach der Schließer und machte das Tor sehr langsam und gemächlich wieder auf: ›ich habe mit großem Leidwesen gesehen, daß Ihr in der neuesten Zeit in schlechte Gesellschaften geraten seid. Ich will nun nicht hart mit Euch verfahren, aber wenn Ihr Euch nicht zu gesetzten Leuten haltet und zur regelmäßigen Stunde wieder heimkommt, so schließe ich Euch ganz und gar aus, so wahr ich da stehe.‹ Der kleine Mann fing heftig an zu zittern und zu beben und verließ seitdem nie wieder die Gefängnismauern.«

Als Sam geendet hatte, ging Herr Pickwick langsam die Treppe wieder hinab, und nachdem er einige Male auf dem bemalten Platz, wo er, da es jetzt dunkel war, beinahe allein sein konnte, gedankenvoll auf und ab gegangen, sagte er zu Herrn Weller, es scheine ihm hohe Zeit zu sein, zu Bett zu gehen,- er solle in einem nahen Wirtshaus eine Unterkunft suchen und am andern Morgen beizeiten wieder kommen, um für die Herbeischaffung seiner Garderobe aus dem Georg und Geier Sorge zu tragen. Herr Samuel Weller schickte sich an, diesem Befehl mit so gutem Anstand wie er anzunehmen vermochte, zu gehorchen, legte aber dennoch einen bedeutenden Widerwillen an den Tag. Er ging sogar soweit, durch allerhand wirkungslose Winke anzudeuten, daß es passend wäre, wenn er sich für heute nacht auf den Kiesboden hinstreckte: da er aber Herrn Pickwick für alle solche Anspielungen hartnäckig taub fand, so zog er sich endlich zurück.

Die Tatsache darf nicht verschwiegen werden, daß Herr Pickwick äußerst niedergedrückt war und sich durchaus unbehaglich fühlte – nicht wegen mangels an Gesellschaft, denn das Gefängnis war sehr voll, und mit einer Flasche Wein konnte er sich ohne alle förmliche Einführungszeremonie die beste Kameradschaft einiger auserwählten Geister erkaufen. Allein er fühlte sich einsam unter einem rohen Gesindel, und der Gedanke, ohne Aussicht auf Befreiung eingekäfigt zu sein, benahm ihm allen frohen Mut. Dessenungeachtet fiel es ihm aber nicht von ferne ein, sich damit loszukaufen, daß er der Betrügerei Dodsons und Foggs Vorschub leistete.

In dieser Stimmung begab er sich noch einmal in den Gefängnishallengang und spazierte langsam auf und ab. Der Platz war unerträglich schmutzig und der Tabaksdampf beinahe erstickend. Die Leute warfen unaufhörlich die Türen zu, wenn sie aus- und eingingen, und das Geräusch ihrer Stimmen und Fußtritte hallte beständig durch den Gang. Eine junge Frau mit einem Kind auf den Armen, das vor Magerkeit und Elend kaum kriechen zu können schien, ging mit ihrem Manne, der keinen andern Platz hatte, um sie zu sehen, den Gang auf und ab. Als sie an Herrn Pickwick vorbeikamen, konnte er die Frau bitterlich schluchzen hören, und einmal brach sie in ein so heftiges Jammern aus, daß sie sich an der Wand halten mußte, während der Mann das Kind in seine Arme nahm und sie zu beruhigen versuchte.

Herrn Pickwicks Herz war wirklich zu voll, um das zu ertragen: er ging die Treppen hinauf und ins Bett.

Obgleich nun das Zimmer des Gefängniswärters in Beziehung auf Möblierung und Einrichtung durchaus unwohnlich und um mehrere hundert Grad schlechter war als das gemeinste Krankenzimmer in einem Grafschaftsgefängnis, so hatte es doch für den Augenblick den Vorzug, ganz verlassen und nur von Herrn Pickwick bewohnt zu sein. Er setzte sich am Fuß seiner kleinen eisernen Bettstelle nieder und begann zu berechnen, wieviel der Gefängniswärter wohl jährlich aus diesem schmutzigen Zimmer lösen könne. Er brachte auf mathematischem Wege heraus, daß es vielleicht soviel eintrage, wie eine kleine Straße in den Vorstädten Londons. Dann fing er an, sich zu wundern, warum wohl eine düster blickende Fliege, die auf seinen Beinkleidern herumkroch, in ein so enges Gefängnis gekommen sein mochte, während sie doch unter so vielen luftigen Wohnungen die Wahl habe: eine Betrachtung, die ihn zu dem unausweichlichen Schluß leitete, das Insekt müsse verrückt sein. Nachdem er darüber ins reine gekommen, merkte er, daß er schläfrig sei. Er zog daher seine Nachtmütze aus der Tasche, die er morgens einzustecken die Vorsicht gebraucht, kleidete sich gemächlich aus, ging ins Bett und schlummerte ein.

»Bravo! die Füße in Schwung! Munter! Juchheisa, Zephyr! Ich will mich hängen lassen, wenn nicht das Opernhaus Ihre eigentliche Heimat ist. Holla ho!« Diese und ähnliche mit dem tobendsten Geschrei hervorgelärmte und von lautem, schallendem Gelächter begleiteten Ausdrücke erweckten Herrn Pickwick aus einem jener gesunden Schlummer, die in Wirklichkeit nur eine halbe Stunde andauern, dem Schläfer aber drei bis vier Wochen lang gewährt zu haben scheinen.

Die Stimme hatte nicht sobald aufgehört, als das Zimmer mit solcher Heftigkeit erschüttert wurde, daß die Fenster in ihren Rahmen rasselten und die Bettstellen erzitterten. Herr Pickwick schrak auf und blieb einige Minuten lang in stummes Erstaunen über die seinen Augen sich darstellende Szene versunken.

In seinem eigenen Zimmer nämlich führte ein Mann in einem grobgesäumten schwarzen Rock, manchesternen Kniehosen und grauen wollenen Strümpfen die gewöhnlichste Art eines Hornpipetanzes mit einer spitzbübisch-burlesken Karikatur von Anmut und Leichtigkeit auf, die, verbunden mit dem eigentümlichen Charakter seines Kostüms, unaussprechlich abgeschmackt war. Ein anderer Mann, der offenbar sehr betrunken und wahrscheinlich von seinem Kameraden in ein Bett geworfen worden war, saß zwischen den Tüchern und trillerte, soweit es ihm sein Gedächtnis erlaubte, ein komisches Lied mit den sentimentalsten Empfindungen und Phrasen, während ein dritter, der gleichfalls auf einem Bette saß, den beiden Künstlern mit tiefer Kennermiene zujubelte und sie durch solche Aufwallungen von Gefühl, die Herrn Pickwick bereits aus dem Schlafe gestört hatten, ermutigte.

Dieser letztere war ein bewunderungswürdiges Musterstück von einer Klasse Leute, die in ihrer gänzlichen Vollkommenheit nur an solchen Orten zu sehen sind: – im unvollkommenen Zustand kann man sie gelegentlich auch in der Gegend von Viehställen und in öffentlichen Häusern treffen, aber ihre volle Blume erhalten sie nur in diesen Mistbeeten, die von der Gesetzgebung klüglicherweise einzig und allein zu ihrer Erzielung geschaffen zu sein scheinen.

Er war ein langer Kerl von olivenartiger Gesichtsfarbe, hatte lange dunkle Haare und einen sehr dicken, buschigen Schnurrbart, der unter dem Kinn zusammenlief. Er trug kein Halstuch, da er den ganzen Tag Ball gespielt hatte, und sein offener Hemdkragen enthüllte die volle Üppigkeit seines Nackens. Auf dem Kopf hatte er eine gewöhnliche französische Mütze zu achtzehn Pence sitzen, mit bunten Trotteln daran, die ihm zu dem gemeinen Barchentrock sehr hübsch stand. Seine Beine, die lang und schwach waren, schmückten ein Paar Oxforder Pumphosen, geeignet, die ganze Symmetrie seiner Glieder ins gehörige Licht zu stellen. Da sie indessen etwas nachlässig geschnallt und außerdem auch unvollständig zugeknöpft waren, so fielen sie in einer Reihe nicht eben sehr anmutsvoller Falten über ein Paar Schuhe gerade soweit auf die Ferse herab, um ein Paar schmutzige, weiße Strümpfe zu zeigen. In seinem ganzen Wesen sprach sich eine gewisse gaunerhafte, vagabundenmäßige Lebhaftigkeit und eine Art großtuerischer Spitzbüberei aus, die wenigstens eine Goldmine wert war.

Diese Person war die erste, die bemerkte, daß Herr Pickwick zuschaute: sie winkte hierauf dem Zephyr zu und bat ihn mit drolliger Gravität, den Herrn nicht aufzuwecken.

»Gott segne den ehrlichen Gentleman in Zeit und Ewigkeit«, rief der Zephyr sich abwendend und die äußerste Überraschung an den Tag legend, »der Gentleman ist bereits erwacht. Hallo, Shakespeare! Wie geht es Ihnen, Sir? Was machen Marie und Sara, Sir? und die liebwerteste alte Madame zu Hause, Sir? – He, Sir? Wollen Sie die Güte haben, in das erste Paketchen, das Sie abschicken, meine Komplimente zu legen und dabei zu melden, ich würde sie schon früher abgesandt haben, wenn ich nicht gefürchtet hätte, sie möchten im Wagen zerbrochen werden. Nicht wahr, Sir?«

»Belästigen Sie den Gentleman nicht mit gewöhnlichen Höflichkeiten, da Sie sehen, daß er ungemein durstig ist«, sagte der Schnurrbart in scherzhaftem Tone. »Warum fragen Sie den Gentleman nicht, was er befehle?«

»Beim Himmel, das habe ich ganz vergessen«, erwiderte der andere. »Was wollen Sie trinken, Sir? Wollen Sie Portwein, Sir? oder Xeres, Sir? Auch das Ale kann ich empfehlen, Sir: oder vielleicht wünschen Sie lieber Porter, Sir? Gönnen Sie mir das Glück, Ihre Nachtmütze aufzuhängen, Sir.«

Mit diesen Worten schnappte der Sprecher den genannten Artikel von Herrn Pickwicks Kopf weg und setzte ihn in einem Nu dem Betrunkenen auf, der im festen Glauben, eine zahlreiche Versammlung zu ergötzen, fortfuhr, in möglichst melancholischen Tönen sein Lied abzuleiern.

Jemanden mit Gewalt die Nachtmütze vom Kopf reißen und einem unbekannten Schmutznickel aufsetzen, mag an und für sich ein geistreicher Witz sein, gehört aber unstreitig in die Klasse der handgreiflichen Späße. Auch Herr Pickwick betrachtete die Sache von diesem Gesichtspunkte aus. Ohne seine Absicht im mindesten vorher zu verkünden, sprang er wie ein Blitz aus dem Bett und versetzte dem Zephyr13 einen so derben Schlag auf die Brust, daß er ihm einen bedeutenden Teil der Bequemlichkeit raubte, die zuweilen sein Name mit sich bringt; sodann riß er seine Mütze wieder an sich und nahm kühn eine defensive Stellung an.

»Nur herbei!« rief Herr Pickwick keuchend vor Zorn wie infolge des ungewöhnlichen Kraftaufwandes: »kommt nur alle beide!«

Diese kecke Aufforderung begleitete der würdige Gentleman mit wiederholten Schwingungen seiner geballten Fäuste, um seinen Gegnern durch Entwicklung seiner Kunstfertigkeit Schrecken einzujagen.

War es Herrn Pickwicks höchst unerwartete Tapferkeit, oder war es die verwickelte Art, wie er aus dem Bett gesprungen und ohne Umstände den Hornpipemann überfallen hatte, was seine Gegner rührte – kurz und gut, gerührt waren sie, und statt Mordversuche zu machen, wie Herr Pickwick unbedingt von ihnen vorausgesetzt, wurden sie auf einmal still, starrten einander ein paar Augenblicke an und begannen dann aus vollem Halse zu lachen.

»Sie sind ein wackerer Mann«, sagte der Zephyr zu ihm, »und gefallen mir sehr wohl. Gehen Sie jetzt nur wieder ins Bett, sonst erkälten Sie sich. Sie werden doch hoffentlich keinen Zorn auf uns haben.« Zugleich streckte er ihm eine Hand hin, ähnlich dem gelben Fingerklumpen, den man hier und da über dem Laden eines Handschuhmachers hängen sieht.

»O gewiß nicht«, sagte Herr Pickwick recht munter; denn jetzt, da die Aufregung vorüber war, begann er Kälte in seinen Füßen zu verspüren.

»Gestatten Sie mir die Ehre, Sir«, sagte der Gentleman mit dem Schnurrbart, ihm seine rechte Hand anbietend.

»Mit vielem Vergnügen, Sir«, erwiderte Herr Pickwick und stieg nach einem langen, feierlichen Händeschütteln wieder in sein Bett.

»Mein Name ist Smangle, Sir«, sprach der Mann mit dem Schnurrbart.

»Ah, schön«, sagte Herr Pickwick.

»Ich heiße Mivins«, sprach der Mann mit den Strümpfen.

»Freut mich, es zu hören«, erwiderte Herr Pickwick.

»Hm«, hustete Herr Smangle.

»Sagten Sie etwas, Sir«, fragte Herr Pickwick.

»Nein, Sir«, erwiderte Herr Smangle.

»Dann habe ich mich geirrt, Sir«, versetzte Herr Pickwick.

Alles das war sehr artig und angenehm; um aber auf einen noch freundlicheren Fuß zu gelangen, versicherte Herr Smangle den Herrn Pickwick zu wiederholten Malen, daß er eine sehr hohe Verehrung für die Gefühle eines Gentleman hege: eine Gesinnung, die wirklich laut zu seinen Gunsten sprach, da durchaus kein Grund war, vorauszusetzen, daß er dieselben verstanden hätte.

»Kommen Sie durch den Hof hierher, Sir?« fragte Herr Smangle.

»Durch was?« sagte Herr Pickwick.

»Durch den Hof – Portugalstraße – Sie wissen ja schon.«

»O nein«, erwiderte Herr Pickwick.

»Das Geld ausgegangen vielleicht?« erwiderte Mivins.

»Ich fürchte nicht«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich weigere mich bloß, Schadenersatz zu bezahlen und bin deshalb hier.«

»So?« sagte Herr Smangle. »Mein Verderben war Papier.«

»So sind Sie vielleicht ein Buchhändler, Sir?« fragte Herr Pickwick unschuldig.

»Buchhändler? Gott bewahre. Nichts so Niederträchtiges. Kein Geschäftsmann. Wenn ich Papier sage, so meine ich Wechsel.«

»Aha, jetzt verstehe ich Sie«, sagte Herr Pickwick.

»Gott straf mich, ein Gentleman muß Unglücksfälle zu ertragen verstehen«, fügte Smangle hinzu. »Was ist es auch? Ich bin hier im Fleetgefängnis; nun gut, bin ich deswegen schlimmer daran als vorher?«

»Nein, um kein Haar«, versetzte Herr Mivins.

Und er hatte ganz recht: Herr Smangle war sogar weit besser daran, weil er, um sich für seinen neuen Wohnort zu versorgen, in den unentgeltlichen Besitz gewisser Schmucksachen gekommen war, die schon lange vorher den Weg zu einem Pfandleiher gefunden hatten.

»Schön, aber kommen Sie«, sagte Herr Smangle: »das ist trockene Arbeit. Spülen wir den Mund mit einem Tröpfchen Glühwein aus; der letzte Ankömmling hat ihn zu bezahlen, Mivins wird ihn holen, und ich helfe ihn austrinken. Das ist, Gott straf mich, eine billige und gentlemanische Teilung der Arbeit.«

Herr Pickwick, der keine Lust hatte, sich abermaligen Handgreiflichkeiten auszusetzen, nahm den Vorschlag mit Vergnügen an, gab Herrn Mivins Geld, und dieser verlor, da es nahe an elf Uhr war, keine Zeit, sondern eilte sogleich in die Restauration.

»He, was haben Sie ihm gegeben?« flüsterte Smangle im Augenblick, wo sein Freund das Zimmer verlassen hatte.

»Einen halben Sovereign«, sagte Herr Pickwick.

»Er ist ein verteufelt angenehmer, gentlemanischer Kerl«, fuhr Herr Smangle fort – »ganz höllisch angenehm. Ich kenne keinen besseren Kameraden, aber –«

Hier brach Herr Smangle kurz ab und schüttelte bedenklich den Kopf.

»Sie werden damit doch nicht sagen wollen, daß er imstande wäre, das Geld für sich selbst zu verwenden?« fragte Herr Pickwick.

»O nein, Gott bewahre, das sage ich nicht; ich sage ausdrücklich, daß er ein verteufelt gentlemanischer Kerl ist«, erwiderte Herr Smangle. »Aber ich denke, wenn vielleicht jemand hinunterginge, um zu sehen, ob er nicht zufälligerweise seinen Schnabel in den Krug steckt oder tölpelhaft genug ist, die Treppe herauf das Geld zu verlieren, so könnte das nicht schaden. He da, Sie, gehen Sie hinab und sehen Sie nach diesem Gentleman.«

Diese Aufforderung galt einem kleinen, schüchtern um sich blickenden, nervenschwachen Manne, dessen ganze Erscheinung große Armut verriet, und der sich die Zeit über offenbar völlig betäubt über die Neuheit seiner Lage auf einem der Betten zusammengeduckt hatte.

»Sie wissen doch die Restauration?« sagte Smangle. »Laufen Sie hinunter und sagen Sie jenem Herrn, Sie kämen, um ihm den Krug herauftragen zu helfen. Doch wie? – warten Sie noch einmal – ich will Ihnen etwas sagen – ich will Ihnen sagen, wie wir ihn bekommen werden«, fügte Smangle mit einem pfiffigen Blick hinzu.

»Und wie denn?« fragte Herr Pickwick.

»Lassen Sie ihm sagen, daß er für das übrige Geld Zigarren kaufen solle. Ein großartiger Einfall! Laufen Sie schnell hinab und melden Sie es ihm. Sie sollen nicht zugrunde gehen; ich werde sie rauchen.«

Dieses Manöver war so ausnehmend scharfsinnig und wurde mit so unerschütterlicher Ruhe und Kaltblütigkeit ausgeführt, daß Herr Pickwick es nicht stören wollte, wenn es auch in seiner Macht gestanden hätte. In kurzer Zeit kam Herr Mivins mit dem Getränk zurück, das Herr Smangle in zwei kleine, zersprungene und schmutzige Krüge schüttete. Er machte dabei die kluge Bemerkung, ein Gentleman müsse unter solchen Umständen nicht zu ekel sein: wenigstens er für seine Person schäme sich nicht, aus einem irdenen Kruge zu trinken. Um seine Aufrichtigkeit sogleich zu beweisen, tat er der Gesellschaft Bescheid mit einem Zuge, der seinen Krug zur Hälfte leerte.

Nachdem nun auf diese Weise ein vortreffliches Einverständnis herbeigeführt worden war, begann Herr Smangle seine Zuhörer mit einem Bericht von verschiedenen romantischen Abenteuern zu unterhalten, die er seinerzeit bestanden, und ließ dabei allerhand interessante Anekdoten von einem Vollblutpferde einfließen, sowie von einer prachtvollen Jüdin, beide von ausnehmender Schönheit und sehr gesucht von dem hohen und niederen Adel dieser Königreiche.

Lange bevor diese eleganten Auszüge aus der Biographie eines Gentleman zu Ende waren, hatte sich Herr Mivins ins Bett begeben und schnarchte; dem schüchternen Fremdling und Herrn Pickwick gönnte er den vollen Genuß von Herrn Smangles Erfahrungen.

Übrigens wurden auch die zwei letztgenannten Gentlemen von den rührenden Aussagen, die man ihnen vortrug, nicht halb genug erbaut. Herr Pickwick war schon geraume Zeit in einem Zustande von Halbschlummer und hatte nur noch eine dunkle Vorstellung davon, daß der Betrunkene aufs neue mit seinem komischen Lied losbrach, worauf er von Herrn Smangle mit dem Wasserkrug die artige Andeutung erhielt, daß die Zuhörerschaft für den Augenblick nicht musikalisch gestimmt sei. Er, das heißt Herr Pickwick, nickte aber gleich wieder ein und hatte dabei noch das verschwommene Bewußtsein, daß Herr Smangle immer noch eine lange Geschichte erzähle, deren Hauptpunkt sich darauf belief, daß er bei gewissen ausführlich auseinandergesetzten Gelegenheiten eine Zeche und zugleich einen Gentleman gemacht habe.

  1. Der Zephyr ist der Frühlingswind, der in den Dichtungen der Griechen und Römer viel gepriesen wird.

Dreiundvierzigstes Kapitel.


Dreiundvierzigstes Kapitel.

Worin, wie im vorhergehenden, das alte Sprichwort sich bewährt, daß das Unglück mit sonderbaren Schlafkameraden zusammenführt. Zugleich enthält es Herrn Pickwicks ganz außerordentliche und überraschende Erklärung gegen Herrn Samuel Weller.

Als Herr Pickwick am andern Morgen die Augen öffnete, war der erste Gegenstand, auf dem sie ruhten, Samuel Weller, der auf einem kleinen schwarzen Koffer saß und offenbar gänzlich in Betrachtung der stattlichen Figur des lustigen Herrn Smangle versunken war, während Herr Smangle selbst bereits halb angekleidet auf dem Bette saß, mit dem verzweifelt hoffnungslosen Versuche beschäftigt, Herrn Weller durch starres Anschauen aus der Fassung zu bringen. Wir nannten diesen Versuch verzweifelt hoffnungslos, weil Sam nach einem umfassenden Blick auf Herrn Smangles Mütze, Füße, Kopf, Gesicht, Beine und Schnurrbart unverdrossen fortfuhr, ihn mit allen Zeichen lebhaften Vergnügens im Auge zu behalten, ohne jedoch auf Herrn Smangles persönliche Gefühle hierbei mehr Rücksicht zu nehmen, als er bei der Betrachtung einer hölzernen Statue oder einer mit Stroh ausgestopften Vogelscheuche getan haben würde.

»Nun, kennen Sie mich jetzt?« begann Herr Smangle endlich mit finsterem Stirnrunzeln.

»Ich wollte auf Sie schwören, Sir«, erwiderte Sam heiter.

»Seien Sie nicht unverschämt gegen einen Gentleman, Sir«, sagte Herr Smangle.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Sam. »Wenn Sie mir sagen wollen, wann er aufwacht, so werde ich mich ganz extrafein gegen ihn benehmen.«

Da in dieser Bemerkung die entfernte Absicht lag, Herrn Smangle für keinen Gentleman gelten zu lassen, so geriet er in Zorn.

»Mivins!« rief er heftig.

»Was gibt’s?«, antwortete dieser Gentleman von seinem Bette aus.

»Wer zum Teufel ist dieser Bursche da?«

»Was weiß ich?« sagte Herr Mivins, schläfrig unter der Decke hervorsehend. »Darum muß ich Sie fragen. Hat er hier etwas zu tun?«

»Nein«, erwiderte Herr Smangle.

»So werfen Sie ihn die Treppe hinab und sagen Sie ihm, er solle sich nicht einfallen lassen, wieder heraufzukommen; denn sonst werde ich ihn windelweich schlagen«, erwiderte Herr Mivins.

Und mit diesem guten Rat fing der vortreffliche Gentleman aufs neue an einzuschlummern.

Da das Gespräch solche recht persönliche Wendung genommen hatte, hielt es Herr Pickwick für Zeit, sich ins Mittel zu legen.

»Sam«, sagte er.

»Sir«, erwiderte dieser Gentleman,

»Ist seit gestern abend nichts Neues vorgefallen?«

»Nichts Besonderes, Sir«, erwiderte Sam mit einem Blick auf Herrn Smangles Schnurrbart. »Das Vorherrschen einer abgeschlossenen, dicken Luft ist dem Wachstum des Unkrauts auf eine beunruhigende und drohende Art günstig gewesen; sonst aber ist allein Ordnung.«

»Ich will aufstehen«, sagte Herr Pickwick. »Gib mir die Wäsche.«

Was für feindliche Absichten Herr Smangle auch gehegt haben mochte, seine Gedanken erhielten schnell eine ganz andere Richtung durch das Auspacken des Koffers, dessen Inhalt ihn auf einmal mit einer höchst günstigen Meinung nicht bloß von Herrn Pickwick, sondern auch von Sam zu erfüllen schien. Daher begann er laut genug, um von diesem außerordentlichen Mann gehört zu werden, Herrn Weller für ein wahrhaft vollkommenes Original und ganz für den Mann nach seinem Herzen zu erklären. Was Herrn Pickwick betrifft, so kannte die Neigung, die er für ihn empfand, keine Grenzen.

»Kann ich Ihnen in etwas dienen, mein teurer Sir?« fragte Herr Smangle.

»Wüßte nicht; danke bestens«, erwiderte Herr Pickwick.

»Haben Sie nichts der Wäscherin zu schicken? Ich kenne eine herrliche Wäscherin, nicht weit von da, die zweimal in der Woche zu mir kommt und – beim Teufel, wie schön sich das trifft! – heute ist gerade ihr Tag. Soll ich etwas von Ihren Sachen zu den meinen nehmen? Es macht mir ja durchaus keine Mühe. Der Henker soll mich holen, was müßte man von der menschlichen Natur denken, wenn nicht ein Gentleman in Bedrängnis einem andern Gentleman, der in derselben Lage ist, aushelfen wollte?«

So sprechend rückte Herr Smangle so nahe wie möglich an den Koffer, und seine Blicke strahlten die glühendste, uneigennützigste Freundschaft.

»Haben Sie nicht vielleicht etwas zum Ausbürsten für den Aufwärter?« fuhr Smangle fort.

»Ganz und gar nichts, mein Wertester«, erwiderte Sam, für seinen Herrn antwortend. »Vielleicht würde es angenehmer für alle Teile sein, wenn einer von uns das Bürsten übernähme, ohne den Mann zu bemühen, wie der Schulmeister sagte, als die jungen Gentlemen sich nicht vom Büttel durchprügeln lassen wollten.«

»Haben Sie denn gar nichts, das ich in meinem Köfferchen der Wäscherin schicken könnte?« fragte Smangle, indem er sich etwas entmutigt von Sam zu Herrn Pickwick wandte.

»Nicht das Mindeste, Sir«, antwortete Sam abermals. »Ich fürchte, der kleine Koffer dürfte von Ihren eigenen Sachen schon übervoll sein.«

Diese Worte begleitete ein besonderer Blick auf Herrn Smangles Anzug, nach dem man die Geschicklichkeit einer Wäscherin beurteilen konnte. So drehte dieser sich um und gab wenigstens für den Augenblick alle Absichten auf Herrn Pickwicks Portemonnaie und Garderobe auf. Grimmig begab er sich zum Ballplatz, wo er als leichtes und gesundes Frühstück ein Paar von den in der letzten Nacht gekauften Zigarren rauchte.

Herr Mivins, der kein Raucher war, und für den kein Kaufmann mehr eine Feder, kein Wirt eine Kreide anrührte, blieb im Bett und »schlief zum Frühstück«, wie er sich ausdrückte.

Herr Pickwick nahm in einem kleinen Stübchen neben der Restauration, das den imponierenden Namen »Heimlicher Winkel« führte, das Frühstück. Jeder augenblickliche Gast in diesem »Heimlichen Winkel« genoß hier gegen eine kleine Vergütung den unschätzbaren Vorteil, die ganze Unterhaltung in der Restauration anzuhören. Herr Pickwick schickte dann Herrn Weller mit einigen notwendigen Aufträgen fort und ging auf sein Zimmer zurück, um sich nun mit Herrn Roker wegen seiner künftigen Einrichtung zu besprechen.

»Einrichtung? So, so!« sagte dieser Gentleman, ein großes Buch zu Rate ziehend. »Einrichtung und Bequemlichkeit genug, Herr Pickwick, Ihr Gesellschaftsbillett lautet Nummer 27 im dritten Stock.«

»Wie? Was sagen Sie?« fragte Herr Pickwick.

»Ihr Gesellschaftsbillett«, erwiderte Herr Roker: »verstehen Sie mich nicht?«

»Nicht ganz«, erwiderte Herr Pickwick lächelnd.

»Es ist doch so klar wie Tinte«, sagte Herr Roker. »Sie haben ein Gesellschaftsbillett auf Nummer 27 im dritten Stock, und die Leute, die im Zimmer sind, sind Ihre Gesellschaft.«

»Sind es viele?« fragte Herr Pickwick bedenklich.

»Drei«, erwiderte Herr Roker.

Herr Pickwick hustete.

»Der eine ist ein Pfarrer«, sagte Herr Roker, ein Stück Papier überschreibend: »der andere ein Metzger.«

»Was?« rief Herr Pickwick.

»Ein Metzger«, wiederholte Herr Roker, die Spitze seiner Feder an das Pult schlagend, damit sie besser Tinte lassen sollte. »Was der für ein reicher, vornehmer Mann früher war! Sie erinnern sich doch des Tom Martin, Neddy?« fragte Roker einen andern Mann in der Stube, der soeben mit einem fünfundzwanzigklingigen Taschenmesser den Schmutz von seinen Schuhen abschabte.

»Das will ich meinen«, erwiderte der Angeredete mit starkem Nachdruck auf dem »Ich«.

»So wahr Gott lebt«, sagte Herr Roker, seinen Kopf langsam hin und her wiegend und zerstreut zu dem vergitterten Fenster hinausstarrend, als wolle er sich irgendeine friedliche Szene aus seiner früheren Jugend zurückrufen, »es ist mir noch, als wäre es erst gestern geschehen, wie er den Kohlenträger bei Foggs-under-the- Hill die Werfte hinabschleuderte. Ich kann ihn noch sehen, wie er zwischen zwei Polizeidienern den Strand heraufkam, ein wenig nüchtern geworden durch den Sturz, mit einem Essigumschlag und einem braunen Pflaster über seinem rechten Augenlid. Das war ein Hauptspaß, wie die kleinen Buben auf der Gasse ihm nachsprangen. Was für ein sonderbares Ding doch die Zeit ist, Neddy!«

Der Gentleman, an den diese Beobachtungen gerichtet waren, schien schweigsam und gedankenvoll zu sein; denn er sprach bloß die Fragen nach. Herr Roker aber schüttelte jetzt die poetische schwermütige Gedankenreihe, in die er sich hatte hineinreißen lassen, ab, ließ sich zu dem gewöhnlichen Geschäft des Lebens hernieder und nahm seine Feder aufs neue zwischen die Finger.

»Wissen Sie auch, wer der dritte Gentleman ist?« fragte Herr Pickwick, nicht sehr befriedigt durch diese Beschreibung von seinem künftigen Kameraden.

»Wer ist dieser Simpson, Neddy?« sagte Herr Roker zu seinem Gesellschafter.

»Was für ein Simpson?« fragte Neddy.

»Der in Nummer 27 im dritten Stock, wohin dieser Gentleman hier auch kommt.«

»So der«, erwiderte Neddy: »der ist eigentlich nicht«. Er war früher ein Pferdeanpreiser, jetzt aber hat man ihm das Handwerk gelegt.«

»Ah, das dachte ich mir doch«, versetzte Herr Roker, das Buch schließend und das kleine Stückchen Papier Herrn Pickwick in die Hand gebend; – »hier ist das Billett, Sir.«

Sehr verblüfft durch dieses summarische Verfügen über seine Person ging Herr Pickwick in das Gefängnis zurück und besann sich, was er tun sollte. Da er es jedoch für ratsam hielt, bevor er weitere Schritte einleite, mit den drei Gentlemen, denen er als Stubengenosse zugewiesen war, in persönlichen Verkehr zu treten, so begab er sich schnell in den dritten Stock.

Nachdem er einige Zeit im Gange herumgetappt und bei der schwachen Beleuchtung umsonst die verschiedenen Stubennummern zu entziffern versucht hatte, wandte er sich endlich an einen Bierwirtejungen, der seiner gewöhnlichen Morgenbeschäftigung nachging, die zinnernen Kannen wieder zusammenzuholen.

»Wo ist Nummer 27, Kleiner?« rief er ihm zu.

»Fünf Türen weiter unten«, erwiderte der Junge. »Außen an die Türe ist mit Kreide ein Galgen hingemalt, woran einer hängt und dabei seine Pfeife raucht.«

Herr Pickwick ging sofort langsam den Gang hinab, bis er an das oben beschriebene Porträt eines Gentleman gelangte, auf dessen Gesicht er mit dem Knöchel seines Zeigefingers das erstemal ganz sachte, sodann aber etwas vernehmlicher anklopfte. Nachdem er diesen Prozeß mehrere Male vergeblich wiederholt hatte, wagte er es, die Tür zu öffnen und hineinzublicken.

Es war bloß ein einziger Bewohner anwesend, der sich, soweit er konnte, ohne Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, zum Fenster hinauslehnte und mit großer Beharrlichkeit geschäftig war, auf den Hut eines seiner Freunde im untern Gang zu spucken. Weder Sprechen, Husten, Niesen, Klopfen, noch irgendeine andere gewöhnliche Art, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, konnte diesem Manne die Anwesenheit eines Fremden begreiflich machen. So schritt Herr Pickwick nach einiger Zeit aufs Fenster zu und zupfte ihn sachte am Rockflügel. Das Individuum brachte Kopf und Schultern mit großer Schnelligkeit herein, musterte Herrn Pickwick von oben bis unten und fragte ihn in einem grämlichen Tone, was er zum Henker wolle.

»Wenn ich nicht irre«, sagte Herr Pickwick, sein Billett zu Rate ziehend, »so ist das Nummer 27 im dritten Stock.«

»Nun ja«, erwiderte der Gentleman.

»Ich bin hierhergekommen, weil man mir dies Papier gegeben hat«, sagte Herr Pickwick.

»Zeigen Sie es einmal«, sprach der Gentleman.

Herr Pickwick tat es.

»Roker hätte Sie auch anderswo unterbringen können«, entgegnete Herr Simpson (denn dieser war es) nach einer sehr mißvergnügten Pause.

Herr Pickwick dachte auch so, hielt es jedoch unter allen Umständen für eine Forderung der gesunden Politik, zu schweigen.

Herr Simpson sann einige Augenblicke nach, dann streckte er den Kopf zum Fenster hinaus, tat einen gellenden Pfiff und rief mehrmals ein Wort. Was dieses Wort war, konnte Herr Pickwick nicht erraten, doch schien es ihm ein Spitzname auf Herrn Martin zu sein, weil eine Menge Gentlemen unten sogleich anfingen »Metzger« zu schreien und dabei den Ton nachmachten, in dem diese nützliche Klasse der Gesellschaft ihre Anwesenheit kundzutun pflegt.

Herr Pickwick fand seine Mutmaßung alsbald bestätigt; denn wenige Sekunden darauf stürzte beinahe atemlos ein für seine Jahre übermäßig dicker Gentleman in einem zunftmüßigen blauen Frack, mit Stulpenstiefeln und zirkelrunden Zehen ins Zimmer, und hinter ihm ein anderer Gentleman in einem abgeschabten schwarzen Rock und mit einer Mütze von Seehundsfell.

Der letztere, der seinen Rock abwechselnd vermittels einer Nadel oder eines Knopfes bis ans Kinn zumachte, hatte ein sehr plumpes, rotes Gesicht und sah aus wie ein dauernd dem Trunke ergebener Kaplan, was er auch in der Tat war.

Nachdem die beiden Gentlemen, einer nach dem andern, Herrn Pickwicks Billett gelesen hatten, drückte der eine seine Meinung dahin aus, dies sei ein verdammter Streich, und der andere erklärte, das könne nie und nimmermehr geschehen.

Als sie sofort in diesen sehr verständlichen Ausdrücken ihre Willensmeinung kundgetan, sahen sie Herrn Pickwick und einander selbst mit unhöflichem Schweigen an.

»Eine widerwärtige Sache jetzt, da wir gerade so hübsche Betten haben«, sagte der Kaplan und blickte auf drei schmutzige Matratzen, die in weißwollene Decken gewickelt waren und den Tag über in einer Ecke des Zimmers neben dem Tische lagen. Auf diesem Tisch prangten ein altes zerbrochenes Waschbecken, eine Gießkanne und ein Seifenschälchen von gemeiner gelber Töpferarbeit mit einer blauen Blume verziert. »Sehr widerwärtig«, wiederholte er.

Herr Martin erklärte sich in noch stärkeren Ausdrücken für die gleiche Ansicht, und Herr Simpson schlug, nachdem er eine Menge ausfüllender Adjektive ohne die begleitenden Substantive über die Gesellschaft losgelassen, seine Ärmel zurück und begann das Gemüse für das Mittagessen zu waschen.

Inzwischen hatte Herr Pickwick das Zimmer zur Genüge betrachtet: es war abscheulich schmutzig und der Geruch darin ganz unerträglich. Keine Spur von einem Teppich, einem Fenster- oder Bettvorhang. Nicht einmal ein Schrankverschlag war dabei. Man hätte zwar wenig hineinzulegen gehabt, wenn einer da gewesen wäre, aber dem sei wie ihm wolle, Überreste von Brotlaiben, Käsestückchen, schmierige Handtücher, alte Fleischbrocken, Kleidungsstücke, zerbrochenes Geschirr, Blasbälge ohne Röhren und verrostete Gabeln ohne Zacken geben, wenn sie untereinander auf dem Boden umherliegen, einem kleinen Zimmer, das die gemeinschaftliche Wohn- und Schlafstube dreier müßiger Leute ist, ein für allemal ein höchst unbehagliches Ansehen.

»Ich dächte, es ließe sich doch noch helfen«, sagte der Metzger nach einer ziemlich langen Pause. »Was verlangen Sie dafür, daß Sie sich fortpacken?«

»Bitte um Verzeihung«, erwiderte Herr Pickwick. »Was haben Sie gesagt? Ich verstehe Sie nicht recht.«

»Wie wir Sie ausbezahlen sollen?« fragte der Metzger. »Die gewöhnliche Taxe ist zwei Schillinge und sechs Pence. Wir wollen Ihnen drei geben.«

»Und einen Spanner«, fügte der geistliche Herr hinzu.

»Nun gut, wir bezahlen Ihnen wöchentlich drei Schillinge und sechs Pence, wenn Sie uns allein lassen«, sagte Herr Martin; »damit werden Sie doch wohl zufrieden sein?«

»Und obendrein noch ein Maß Bier hier zu trinken«, stimmte Herr Simpson ein.

»Ja, und zwar gleich jetzt«, rief der Kaplan.

»Ich bin wirklich mit den Regeln dieses Hauses noch so vollkommen unbekannt«, erwiderte Herr Pickwick, »daß ich Sie immer noch nicht begreife. Kann ich denn eine andere Wohnung bekommen? Ich glaubte, das ginge nicht an.«

Bei dieser Frage blickte Herr Martin seine zwei Freunde äußerst verwundert an, und dann deutete jeder der Gentlemen mit seinem rechten Daumen über seine linke Schulter. Diese Handlung, die sich in Worten mit dem schwachen Ausdruck »links« nur höchst unvollkommen bezeichnen läßt, hat, wenn sie von einer Anzahl Damen oder Herren, die miteinander im Einklang stehen, vollzogen wird, eine sehr anmutige und lustige Wirkung: ihr Ausdruck ist der eines munteren, mutwilligen Sarkasmus.

»Ob Sie können?« wiederholte Herr Martin mit einem mitleidigen Lächeln.

»Wenn ich mich so wenig aufs Leben verstände, würde ich meinen Hut fressen und die Schnalle hinunterschlucken«, sagte der geistliche Herr.

»Das täte ich auch«, fügte der andere feierlich hinzu.

Nach dieser Einleitung benachrichtigten die drei Stubengenossen Herrn Pickwick in einem Atem, das Geld sei im Fleet gerade, was es auch außerhalb dieser Anstalt sei; er könne sich damit alles, was er wünsche, sogleich anschaffen, und wenn er zahlen könne und wolle, so brauche er nur seinen Wunsch auszudrücken, um binnen einer halben Stunde ein wohleingerichtetes und möbliertes Zimmer für sich allein zu beziehen.

Hierauf trennten sich beide Teile zu großer gegenseitigen Zufriedenheit. Herr Pickwick verfügte sich abermals ins Zimmer des Aufwärters, und die drei Kameraden begaben sich in die Restauration, um daselbst die fünf Schillinge zu verzehren, die der geistliche Herr mit bewunderungswürdiger Klugheit und Geistesgegenwart zu diesem Zwecke von ihm geborgt hatte.

»Das wußte ich doch«, sagte Herr Roker, aus vollem Halse lachend, als Herr Pickwick ihm seinen Wunsch mitteilte. »Habe ich’s nicht gesagt, Neddy?«

Der philosophische Eigentümer des universalen Federmessers knurrte bejahend.

»Das habe ich mir wohl gedacht, daß Sie ein eigenes Zimmer verlangen würden«, sagte Herr Roker. »Nicht wahr. Sie wünschen anständige Möbel? Sie möchten ohne Zweifel das meine mieten? Dies ist eine ganz hübsche Wohnung.«

»Mit großem Vergnügen«, erwiderte Herr Pickwick.

»Auf dem Gange zur Restauration befindet sich ein vortreffliches Zimmer, das einem Kanzleigefangenen angehört«, sagte Herr Roker. »Ich will es Ihnen gegen ein Pfund wöchentlich abtreten. Sie finden das hoffentlich nicht teuer?«

»Nicht im geringsten«, erwiderte Herr Pickwick.

»Nun, so kommen Sie mit mir«, sagte Herr Roker, mit großer Munterkeit seinen Hut aufsetzend: »die Sache ist in fünf Minuten im reinen. Warum haben Sie’s auch nicht gleich gesagt, daß Sie etwas Hübsches verlangen?«

Die Angelegenheit war, wie der Schließer vorhergesagt, bald abgemacht. Der Kanzleigefangene hatte lange genug hier verweilt und Freunde und Vermögen, Heimat und Glück verloren, um sich das Recht auf ein eigenes Zimmer zu erwerben. Da er aber an dem kleinen Ungemach litt, oft kein Stückchen Brot zu besitzen, so nahm er Herrn Pickwicks Vorschlag, ihm das Zimmer abzutreten, mit Vergnügen an und überließ ihm gerne den ungestörten Besitz desselben gegen eine Vergütung von zwanzig Schillingen in der Woche, mit welcher Summe er sich anheischig machte, alle Personen abzukaufen, die man in sein Zimmer verweisen möchte.

Als sie den Handel abmachten, betrachtete ihn Herr Pickwick mit schmerzlicher Teilnahme. Er trug einen alten Schlafrock und Pantoffeln und war ein langer, hagerer Mann von leichenhafter Gesichtsfarbe, mit eingesunkenen Wangen und lebhaften, unruhigen Augen. Seine Lippen waren blutlos und seine Knochen scharf, dünn und eckig. Gott helfe ihm! Der Eisenzahn des Gefängnisses und der Entbehrung hatte ihn seit zwanzig Jahren langsam zernagt und zerfeilt.

»Aber wo werden Sie dann wohnen, Sir?« fragte Herr Pickwick, als er das Geld für die erste Woche ihm auf den wackelnden Tisch legte.

Der Mann raffte es mit zitternder Hand zusammen und erwiderte, er wisse es noch nicht: er müsse sich nun umsehen, wo er sein Bett aufschlagen könne.

»Ich fürchte, Sir«, sagte Herr Pickwick, ihn freundlich und mitleidsvoll am Arme fassend – »ich fürchte. Sie kommen an irgendeinen lärm- und geräuschvollen Ort. Bitte, betrachten Sie dieses Zimmer als Ihr eigenes, so oft Sie der Ruhe bedürfen, oder wenn Ihre Freunde Sie besuchen.«

»Freunde?« wiederholte der Mann mit röchelnder Stimme. »Wenn ich tot in der Tiefe des tiefsten Schachtes oder im engen Sarge eingeschlossen läge und in dem dunklen garstigen Graben verfaulte, dessen Schleim die Grundmauern dieses Gefängnisses umgibt, ich könnte nicht vergessener und unbeachteter sein als jetzt. Ich bin ein Toter – tot für die Gesellschaft, aber ohne daß mir das Mitleid zuteil wird, das sie denjenigen widmet, deren Seelen bereits vor den ewigen Richterstuhl getreten sind. Besuche von Freunden? Mein Gott! Ich bin an diesem Orte hier von der Blüte meines Gebens zum schwachen Greis herabgesunken. Niemand wird seine Hand auf mein Bett legen, wenn ich tot liege, und sprechen: ›es ist ein Gottessegen, daß er dahin ist!‹«

Die Aufregung, die ein ungewohntes Licht über das Gesicht des Unglücklichen geworfen hatte, solange er sprach, legte sich jetzt wieder; er schlug verstört und hastig seine welken Hände zusammen und verließ schnell das Zimmer.

»Der Mann ist etwas mürrisch«, sagte Herr Roker lächelnd. »Ja, sie sind wie die Elefanten: sie fühlen es dann und wann, und das macht sie wild.«

Nach dieser tief verständigen Bemerkung traf Herr Roker seine Anordnungen mit solcher Schnelligkeit, daß das Zimmer in kurzem mir einem Teppich, sechs Stühlen, einem Tisch, einem Sofabett, einem Teekessel und verschiedenen kleinen Gegenständen versehen war, wofür er den äußerst billigen Preis von siebenundzwanzig Schillingen und sechs Pencen in der Woche zu bezahlen hatte.

»Kann ich sonst mit etwas dienen, Sir?« fragte Herr Roker, mit großer Zufriedenheit um sich blickend und voll Vergnügen mit dem ersten Wochenzins in der Hand klappernd.

»Ja«, sagte Herr Pickwick nach tiefem Nachsinnen. »Gibt es wohl Leute hier, die mir meine Aufträge in der Stadt und sonst meine Angelegenheiten besorgen könnten?«

»Also keine Gefangenen?« fragte Herr Roker.

»Nein, sie müssen auch in die Stadt gehen können.«

»Wohl«, sagte Herr Roker. »Da ist so ein armer Teufel, der einen Freund in der Armenabteilung hat, und der froh sein würde, ein solches Geschäft zu bekommen. Er arbeitet schon seit zwei Monaten dort in der Frone. Soll ich nach ihm schicken?«

»Ja, wenn Sie die Güte haben wollen«, erwiderte Herr Pickwick. »Doch nein. – Die Armenabteilung, sagten Sie? Ich möchte sie gerne in Augenschein nehmen: – ich will selbst zu ihm gehen.«

Die Armenabteilung in einem Schuldturm ist, wie es schon der Name mit sich bringt, der Aufenthaltsort für die armseligste und elendeste Klasse von Schuldnern. Wer in diese Abteilung bestimmt wird, bezahlt weder Wohnung noch Kost. Er bekommt ein dürftiges Essen, das aus einigen kleinen Legaten bestritten wird, die menschenfreundliche Leute von Zeit zu Zeit gestiftet haben. Die meisten unserer Leser werden sich erinnern, daß bis vor einigen wenigen Jahren in der Mauer des Fleetgefängnisses eine Art eiserner Käfig angebracht war, in den ein Mensch von hungrigem Aussehen hineingesteckt

wurde. Dieser rasselte von Zeit zu Zeit mit einer Geldbüchse und rief in kläglichem Tone: »Erbarmet euch der armen Schuldner! Erbarmet euch der armen Schuldner!« Was in die Kasse einging, wurde unter die armen Gefangenen geteilt, die sich einander in diesem erniedrigenden Geschäft ablösten.

Diese Gewohnheit ist nun zwar abgeschafft und der Käfig entfernt. Aber die trostlos elende Lage dieser Unglücklichen ist dieselbe geblieben. Wir gestatten es nicht mehr, daß sie an den Toren des Gefängnisses das Mitleid und die Menschenliebe der Vorübergehenden anrufen. Aber in den Blättern unseres Gesetzbuches lassen wir zur Verehrung und Bewunderung der kommenden Zeiten noch immer das ebenso gerechte als heilsame Gesetz stehen, kraft dessen der ruchloseste Verbrecher gespeist und gekleidet wird, der geldlose Schuldner aber vor Hunger und Elend umkommen muß. Und das ist leider keine Erdichtung. Keine Woche geht über unsern Häuptern dahin, ohne daß in jedem unserer Schuldgefängnisse mehrere dieser Unglücklichen den langsamen Qualen des Hungertodes erliegen müßten, wenn sie nicht von ihren Mitgefangenen unterstützt würden.

Unter solchen Betrachtungen stieg Herr Pickwick die enge Treppe hinan, an deren Fuß Roker ihn verlassen hatte, und arbeitete sich allmählich hinauf; er war indessen so aufgeregt, daß er in das Zimmer, wohin man ihn gewiesen, hineinstürmte, ehe er noch eine deutliche Vorstellung von dem Platz, wo er war, oder von dem Zweck seines Besuches hatte.

Der allgemeine Anblick des Zimmers rief ihn auf einmal wieder zu sich; doch hatte er nicht sobald seine Augen auf einen Mann geworfen, der am staubigen Kamine niederkauerte, als ihm der Hut entsank. Er stand starr und regungslos vor Staunen da.

Ja, in zerlumpten Fetzen, ohne einen Rock, sein gewöhnliches Musselinhemd gelb und zerrissen, die Haare über das Gesicht herabhängend, sein Gesicht von Leiden entstellt und vor Hunger eingefallen –, so saß Herr Alfred Jingle da; den Kopf hatte er auf die Hand gestützt, die Augen starr aufs Feuer geheftet, und seine ganze Erscheinung verkündete das Elend in seiner schauderhaftesten Gestalt.

Nicht weit von ihm stand nachlässig an die Wand gelehnt ein kräftiger Bauersmann, der mit einer abgenutzten Jagdpeitsche den Stulpenstiefel flickte, der seinen rechten Fuß zierte; den linken hatte er in einen Pantoffel gestellt. Pferde, Hunde und Saufgelage hatten ihn soweit gebracht. Er hatte an dem einzelnen Stiefel einen verrosteten Sporn, den er gelegentlich in die leere Luft stieß, während er zugleich mit der Reitgerte auf den Stiefel schlug. Dabei murmelte er Ausdrücke, wie sie der Jäger braucht, um sein Pferd aufzumuntern. Er bildete sich in diesem Augenblick ein, auf irgendeinem verzweifelten Kirchturmrennen zu sein. Der arme Teufel! er war bei keinem Wettrennen auf dem flinksten Pferde seines kostbaren Marstalls halb so geschwind über die Erde dahingeflogen, als er die Laufbahn durchgemacht hatte, die im Fleet endete.

An der entgegengesetzten Seite des Zimmers saß ein alter Mann auf einem kleinen Holzbock. Er hatte seine Augen auf den Boden geheftet, und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck der tiefsten, hoffnungslosesten Verzweiflung. Ein junges Mädchen, seine kleine Enkelin, bemühte sich mit tausend kindlichen Kunstgriffen, seine Aufmerksamkeit zu erregen; allein der alte Mann sah und hörte sie nicht. Die Stimme, die einst Musik für sein Ohr, und die Augen, die einst sein Licht gewesen, ließen ihn jetzt ganz ungerührt. Seine Glieder schlotterten krankhaft und sein Geist war wie vom Schlage gelähmt.

Noch zwei oder drei andere Männer standen in einer Gruppe zusammen und schwatzten laut miteinander. Eine hagere, bleiche Frau – die Gattin eines Gefangenen – begoß mit großer Sorgfalt den elenden Rumpf einer ausgetrockneten, verwelkten Pflanze, die offenbar nie wieder einen grünen Schößling treiben konnte – ein vielleicht nur zu wahres Sinnbild für den Zweck, der sie hierher geführt.

Das waren die Gegenstände, die sich Herrn Pickwicks Blicken darboten, als er voll Erstaunen um sich schaute. Das Geräusch, das ein hastig Hereintretender machte, erweckte ihn wieder. Er wandte seine Augen nach der Tür; sie begegneten dem neuen Ankömmling, und trotz aller seiner Lumpen, alles seines Schmutzes und seines Elends erkannte er die nicht fremden Züge des Herrn Job Trotter.

»Herr Pickwick!« rief Job laut.

»He!« sagte Jingle, von seinem Sitz aufspringend.

»Herr –! Ja, so ist’s – kurioser Ort – sonderbare Dinge – ist mir recht geschehen – ganz recht.«

Mit diesen Worten steckte Herr Jingle seine Hände an den Ort, wo früher seine Hosentasche gewesen war, dann aber ließ er den Kopf auf seine Brust herabfallen und sank in seinen Stuhl zurück.

Herr Pickwick war im Innersten ergriffen: die zwei Leute sahen unendlich elend aus. Der scharfe, unwillkürliche Blick, den Jingle nach einem Stückchen rohen Hammelfleisch, das Job mitgebracht, geworfen hatte, zeigte ihre entsetzliche Lage deutlicher als es eine zweistündige Auseinandersetzung vermocht hätte. Herr Pickwick sah Jingle freundlich an und sagte:

»Ich möchte Sie gerne allein sprechen. Wollen Sie einen Augenblick mit mir herauskommen?«

»Sehr gern«, erwiderte Jingle und stand hastig auf. »Kann nicht weit gehen – keine Gefahr, daß man sich hier überläuft – ein dichtes Gehege – schöner Boden – romantisch, aber nicht ausgedehnt – offen für allgemeine Besichtigung – die Familie immer in der Stadt– der Hausvogt verzweifelt vorsichtig.«

»Sie haben Ihren Rock vergessen«, sagte Herr Pickwick, als sie auf die Treppen hinauskamen, und schloß die Tür hinter sich.

»O nein«, sagte Jingle. »Teures Leben – Onkel Tom – konnte nicht helfen – mußte essen. Sie wissen ja. Naturbedürfnisse – das ist’s.«

»Was meinen Sie damit?«

»Dahin, mein lieber Herr – der letzte Rock – konnt’s nicht ändern – lebte von einem Paar Stiefeln – ganze vierzehn Tage. Seidener Regenschirm – elfenbeinerner Griff – letzte Woche – es ist geschehen – auf Ehre – fragen Sie Job – weiß es.«

»Drei Wochen von einem Paar Stiefeln und einem seidenen Regenschirm gelebt?« rief Herr Pickwick, der von solchen Dingen nur bei Schiffbrüchen gehört oder in Constables Miscellany gelesen hatte.

»Ja freilich«, sagte Jingle, mit dem Kopf nickend. »Pfandleiher – bloß das halbe Geld – elende Summen – soviel wie gar nichts – lauter Spitzbuben.«

»O«, sagte Herr Pickwick, dem es bei dieser Erklärung leichter ums Herz wurde: »Sie haben also Ihre Garderobe bloß versetzt?«

»Ja alles – Job ebenfalls – alle Hemden fort – tut nichts – erspart den Wäscherlohn – bald alles vorbei – auf den Schrägen liegen – verhungern – sterben – Untersuchung – Anatomie – armer Gefangener – die gemeinsten Bedürfnisse – fort damit – die Herren von der Jury – Gefängnisarbeit – alles in Ordnung – natürlicher Tod – Leichenbeschauererklärung – Armenhausbegräbnis – recht geschehen – alles vorbei – Vorhang herab.«

Jingle entwickelte diesen sonderbaren Inbegriff seiner Lebensaussichten mit seiner gewohnten Zungenfertigkeit und mit mancherlei Grimassen, um ein Lächeln zu erzwingen. Herr Pickwick bemerkte aber leicht, daß ihm seine Sorglosigkeit nichts weniger als von Herzen kam; er sah ihm voll aber nicht unfreundlich ins Gesicht und gewahrte, daß seine Augen von Tränen feucht waren.

»Guter Mensch«, sagte Jingle, seine Hand drückend, jedoch mit abgewandtem Gesicht. »Undankbarer Schurke – kindisch zu jammern – kann’s nicht lassen – böses Fieber – schwach – krank – hungrig. Alles wohlverdient; aber viel gelitten – sehr viel.«

Ganz unfähig, den Schein länger zu wahren und durch seine Anstrengungen vielleicht unwohler gemacht, setzte sich der arme Landstreicher auf die Treppe nieder, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und schluchzte wie ein Kind.

»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte Herr Pickwick sehr gerührt, »wir wollen sehen, was sich machen läßt. Heda, Hiob: wo ist er?«

»Hier, Sir«, erwiderte Hiob, sich auf der Treppe einstellend.

Wir haben schon früher beiläufig von ihm gesagt, daß er in seinen besten Zeiten tief eingesunkene Augen hatte; jetzt sah er aus, als ob diese Teile seines Gesichts gänzlich verschwunden wären.

»Hier, Sir«, sagte Hiob.

»Kommen Sie, Sir«, sprach Herr Pickwick, der sich Mühe gab, einen strengen Blick zu machen, wiewohl ihm vier große Tränen auf die Weste hinabfielen. »Nehmen Sie das, Sir.«

Was nehmen? Unter den obwaltenden Umständen hätte man bei diesen Worten an einen Hieb oder wenigstens, wie einmal die Menschen sind, an einen derben, tüchtigen Puff denken sollen. Denn Herr Pickwick war von dem elenden Auswürfling, der jetzt gänzlich in seiner Gewalt stand, hinters Licht geführt, betrogen und beeinträchtigt worden. Sollen wir die Wahrheit sagen? Es war etwas aus Herrn Pickwicks Westentasche, das hell klang, als es in Hiobs Hand gegeben wurde. Daß Herr Pickwick also aber Böses mit Gutem vergelten konnte, das ließ das Äuge unseres vortrefflichen alten Freundes funkeln und machte sein Herz schwellen, als er hinwegeilte.

Auf seinem Zimmer angelangt, traf Herr Pickwick Sam an, der die komfortablen Einrichtungen seines Herrn mit einer Art grimmigen Vergnügens, das sehr lustig anzusehen war, in Augenschein nahm. Da Herr Weller eine entschiedene Abneigung gegen das Verbleiben seines Herrn allda hegte, so schien er es für eine hohe moralische Pflicht zu halten, nichts was hier getan, gesagt, geraten oder vorgeschlagen wurde, mit gar zu großem Beifall zu beehren.

»Schön, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Nun, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Nicht wahr, recht behaglich, Sam?«

»Ja, so ziemlich, Sir«, erwiderte Sam, indem er geringschätzig um sich blickte.

»Hast du Herrn Tupman und unsere andern Freunde gesehen?«

»Ja, ich habe sie gesehen, Sir, und sie werden morgen kommen. Ich wunderte mich sehr, daß sie nicht heute schon da waren«, bemerkte er weiter.

»Hast du die Sachen gebracht, die ich verlangte?«

Herr Weller deutete statt der Antwort auf verschiedene Pakete, die er so ordentlich wie möglich in eine Ecke der Stube gelegt hatte.

»Sehr gut, Sam«, sagte Herr Pickwick nach einigem Zögern; »höre jetzt, was ich dir zu sagen habe, Sam.«

»Ich höre, Sir«, erwiderte Herr Weller; »legen Sie los, Sir.«

»Ich habe vom ersten Augenblick an gefühlt, Sam«, begann Herr Pickwick mit vieler Feierlichkeit, »daß dies kein Platz für einen jungen Menschen ist.«

»Auch nicht für einen alten, Sir«, entgegnete Herr Weller.

»Du hast ganz recht, Sam«, sagte Herr Pickwick. »Aber alte Leute können durch ihre eigene Unbedachtsamkeit und ein allzu großes Zutrauen gegen andere hierher gebracht werden, und junge durch die Selbstsucht derer, denen Sie dienen. Jedenfalls ist es übrigens für einen jungen Menschen viel besser, nicht hier zu bleiben. Verstehst du mich, Sam?«

»Ich? Nein, Sir«, versetzte Sam, sich etwas dumm stellend.

»So überlege dir’s«, entgegnete Herr Pickwick.

»Wohl Sir«, erwiderte Sam nach einer kurzen Pause. »Ich glaube, zu merken, wo Sie hinaus wollen; und wenn ich hierbei wirklich auf dem rechten Wege bin, so muß ich meine Meinung dahin aussprechen, daß Sie mir zu dicke kommen, wie der Kutscher zu dem Schneegestöber sagte, das ihn auf seiner Fahrt beunruhigte.«

»Ich sehe, du begreifst mich, Sam«, sagte Herr Pickwick. »Abgesehen von meinem Wunsche, dich in den nächsten Jähren nicht an einem Orte wie diesem müßig herumlungern zu sehen, fühle ich auch, daß es eine ungeheure Abgeschmacktheit wäre, wenn ein Schuldner im Fleetgefängnis einen eigenen Diener halten wollte. – Sam«, fügte Herr Pickwick bei, »wir müssen uns für eine Zeitlang trennen.«

»Ah, für eine Zeitlang meinen Sie, Sir?« versetzte Herr Weller etwas bitter.

»Ja, für die Dauer meines hiesigen Aufenthalts«, entgegnete Herr Pickwick. »Deinen Lohn zahle ich dir fort. Einer von meinen drei Freunden wird sich glücklich schätzen, dich aufzunehmen, wäre es auch nur aus Achtung gegen mich. Und wenn ich je diesen Ort wieder verlasse«, fuhr Herr Pickwick mit erkünstelter Heiterkeit fort – »wenn es je der Fall ist, so hast du mein Wort, daß du augenblicklich wieder in meine Dienste treten kannst.«

»Ich will Ihnen meine Ansicht von der Sache sagen, Sir«, erwiderte Herr Weller mit ernster und feierlicher Stimme. »Es geht nicht, und deshalb lassen Sie mich nichts mehr davon hören.«

»Es ist mein fester, unabänderlicher Wille, Sam«, erklärte Herr Pickwick.

»So? Ist das wirklich bei Ihnen der Fall?« fragte Sam mit Festigkeit. »Ganz gut, Sir; dann geht es mir gerade ebenso.«

Mit diesen Worten drückte Herr Weller mit großer Bestimmtheit seinen Hut auf den Kopf und verließ das Zimmer.

»Sam!« rief ihm Herr Pickwick nach. »Sam! Komm noch einmal her.«

Aber die sich entfernenden Fußtritte verhallten in dem langen Gange. Sam Weller war fort.

Vierundvierzigstes Kapitel.


Vierundvierzigstes Kapitel.

Zeigt, wie Herr Samuel Weller in Ungelegenheiten gerät.

In einem hohen, schlecht erleuchteten und noch schlechter gelüfteten Gemach in der Portugalstraße, Lincolns Inn Fields, sitzen beinahe jahraus und jahrein, wie es der Zufall mit sich bringt, einer, zwei, drei oder vier Perücken tragende Herren hinter kleinen Schreibpulten, wie sie gewöhnlich die Richter auf dem Lande haben, die dem französischen Geschmacke unzugänglich sind. Zu ihrer Rechten steht man eine Advokatenkapsel, zu ihrer Linken eine Insolventenschachtel und vor ihnen eine geneigte Ebene von Schmutzgesichtern. Diese Herren sind die Komissare des »Zahlungsunfähigkeits- Gerichtshofes«, und der Ort, an dem sie ihre Sitzungen halten, ist eben der »Zahlungsunfähigkeits-Gerichtshof« selbst.

Dieser Gerichtshof hat und hatte schon seit undenklichen Zeiten das Schicksal, von der ganzen Sippschaft der bankrotten Steifbettler von London allgemein als gemeinschaftliches Asyl und tägliche Zufluchtsstätte angesehen und behandelt zu werden. Er ist immer voll. Der Bier- und Branntweindunst steigt unaufhörlich zur Decke empor und träufelt, von der Wärme verdichtet, gleich einem Regen an den Wänden herab. Hier sieht man an einem Tage mehr alte Trachten, als im ganzen Houndsditch in einem Jahre feilgeboten weiden, und mehr ungewaschene Gesichter und schmutzige Barte, als alle Brunnen und Barbierstuben zwischen Tyburn und Whitechapel vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne zu säubern imstande sind.

Man darf keineswegs glauben, es habe irgendeiner von diesen Herren nur den geringsten Schatten von Geschäft hier oder stehe nur in der entferntesten Verbindung mit dem Platze, den sie so unermüdet besuchen. Wäre dies der Fall, so hätte die Sache durchaus nichts Besonderes an sich, und das Auffallende würde im Augenblick verschwinden. Einige schlafen den größeren Teil der Sitzung hindurch, andere führen kleine, tragbare Mittagsmahle bei sich, die entweder in Taschentücher eingewickelt sind oder aus ihren abgenutzten Taschen hervorsehen, und kauen und horchen mit gleicher Lust. Aber noch keinen hat man gesehen, der auch nur das entfernteste persönliche Interesse an einem Falle gehabt hätte, der je vorgebracht wurde. Was sie auch immer tun, hier sitzen sie vom ersten Augenblick bis zum letzten. Bei starkem Regenwetter kommen sie ganz durchnäßt, und dann dunstet es im Gerichtssaale wie in einer Pilzgrube.

Wer zufälligerweise hineinkommt, könnte diesen Ort für einen dem Genius des Schmutzes geheiligten Tempel halten. Im ganzen Hause sieht man keinen dazugehörigen Gerichtsboten, der einen ihm auf den Leib gemachten Rock trüge, kein Gesicht, das auch nur einen Anstrich von Lebensfrische und Gesundheit hätte, außer einem kleinen rotbackigen Gerichtsdiener mit weißen Haaren, und sogar dieser scheint wie eine wurmdurchnagte Kirsche, die in Weingeist aufbewahrt wird, das gute Aussehen, auf das er von Natur keinen Anspruch hatte, der Hand der Kunst zu verdanken, die ihn trocknete und dörrte. Selbst die Advokatenperücken sind schlecht gepudert, und ihre Locken schmachten nach dem Haarkräusler.

Doch die Anwälte, die an einem großen nackten Tische unter den Kommissaren sitzen, sind die merkwürdigsten Persönlichkeiten. Die gewerbliche Ausstattung der wohlhabenderen dieser Herren besteht in einem blauen Beutel und einem Jungen, der gewöhnlich dem Glauben der Hebräer zugetan ist. Sie haben keine bestimmten Schreibstuben; denn ihre Rechtsgeschäfte werden in den Wirtshäusern und in den Gefängnishöfen abgehandelt, in die sie sich scharenweise eindringen, und wo sie sich so aufdringlich wie die Omnibusjungen nach Kunden umsehen. Ihr Äußeres ist schmutzig und mit Staub bedeckt, und wenn ihnen überhaupt Laster zugeschrieben werden können, so ist vielleicht der Hang zum Trinken und Betrügen das hervorragendste unter denselben. Ihre Wohnungen haben sie meistens in den Vorstädten der sogenannten Rules, die hauptsächlich im Umkreise von einer Meile um den Obelisk in St. Georg Fields herumliegen. Ihre Gesichter sind nicht einnehmend und ihre Manieren recht sonderbar.

Herr Salomo Pell, einer von dieser gelehrten Körperschaft, war ein fetter Mann mit einem blassen, welken Gesicht und trug einen Überrock, der in einem Augenblicke grün und im nächsten braun aussah, mit einem Samtkragen von denselben Chamäleonsfarben. Seine Stirn war schmal, sein Gesicht breit, sein Kopf groß und seine Nase auf die Seite gedrückt, als hätte ihr die Natur im Ärger über die Neigungen, die sie bei seiner Geburt an ihm entdeckte, einen Hieb versetzt, von dem sich besagte Nase nicht wieder erholen konnte. Da Herr Pell jedoch kurzhalsig und engbrüstig war, so beschränkte sich sein Atemholen beinahe einzig auf dieses Organ, das dadurch an Nützlichkeit ersetzte, was ihm an Schönheit abging.

»Ich versichere Sie, ich führe es durch«, sagte Herr Pell.

»Meinen Sie?« versetzte die Person, an die diese Versicherung gerichtet war.

»Ich bin fest überzeugt«, erwiderte Pell; »aber wenn er an irgendeinen Winkeladvokaten geraten wäre, so hätte ich nicht für die Folgen stehen mögen.«

»So?« rief der andere mit offenem Munde aus.

»Ja, ich hätte nicht dafür stehen mögen«, wiederholte Herr Pell, und warf die Lippen auf, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf mit geheimnisvoller Miene.

Der Ort, an dem dieses Gespräch geführt wurde, war das Wirtshaus, das dem Zahlungsunfähigkeits-Gerichtshofe gegenüber steht, und die Person, mit der es geführt wurde, niemand anders, als der ältere Herr Weller, der hierhergekommen war, um einem Freunde Trost und Stärkung zu bringen, dessen Liquidationsprozeß an diesem Tage verhandelt werden sollte, und dessen Anwalt er in diesem Augenblick um seine Meinung befragte.

»Und wo ist Georg«, fragte der alte Herr.

Herr Pell winkte mit dem Kopfe nach einem Hinterzimmer, in das sich Herr Weller alsbald begab und zur Beglückwünschung von einem halben Dutzend Kollegen aufs wärmste und schmeichelhafteste begrüßt wurde. Der zahlungsverlegene Herr, der eine zwar berechnende aber trotzdem unkluge Leidenschaft für lange Verbindlichkeiten gefaßt hatte, die ihn in seine gegenwärtige Verlegenheit versetzte, sah äußerst heiter aus und bekämpfte die Aufregung seiner Gefühle mit Krabben und Porter.

Die Begrüßung zwischen Herrn Weller und seinen Freunden hielt sich ganz in den Schranken der Gewerbsfreimaurerei und bestand nur in einem die Runde machenden Händedrücken und einem gleichzeitigen Schnalzen mit dem kleinen Finger der Linken. Wir kannten einmal zwei berühmte Kutscher (sie sind jetzt tot, die armen Kerle), die Zwillinge waren, und zwischen denen eine ungeheuchelte und innige Zuneigung bestand. Sie kamen seit zwanzig Jahren jeden Tag auf der Dowerstraße aneinander vorüber und wechselten nie einen andern Gruß als diesen; und doch, als der eine starb, welkte der andere dahin und folgte ihm bald nach.

»Nun, Georg«, sagte Herr Weller senior, seinen Oberrock aufnehmend und sich mit der gewohnten Würde niedersetzend. »Wie steht’s? Alles in Ordnung hinten, und innen voll?«

»Alles in Ordnung, alter Kamerad«, erwiderte der Zahlungsverlegene.

»Ist die graue Stute jemandem in Pflege gegeben?« fragte Herr Weller mit ängstlicher Neugier.

Georg nickte bejahend.

»Nun, das ist alles recht«, sagte Herr Weller. »Die Kutsche auch wohl aufgehoben?«

»In einen sicheren Verwahrungsort gebracht«, versetzte Georg, einem Halbdutzend Krabben die Köpfe abreißend und sie ohne weitere Umstände verschlingend.

»Ganz gut, ganz gut«, bemerkte Herr Weller. »Nur immer rückwärts gesehen, wenn’s bergab geht. Ist der Wegzettel deutlich und geradeaus?«

»Der Schein, Sir«, sagte Pell, erratend, was Herr Weller sagen wollte, «der Schein ist so klar und bestimmt, als ihn nur Tinte und Feder machen können.«

Herr Weller nickte billigend und sagte dann, auf seinen Freund Georg deutend, zu Herrn Pell:

»Wann glauben Sie wohl, daß er sich zur Verhandlung in Gang setzen darf?«

»Nun«, versetzte Herr Pell, »er ist der dritte auf der Liste, und ich glaube, es wird ungefähr in einer halben Stunde an ihm die Reihe sein. Ich gab meinem Schreiber die Weisung, er solle herüberkommen und melden, wann ein Parteiwechsel vorkomme.«

Herr Weller betrachtete den Anwalt von Kopf bis zu Fuß mit großer Bewunderung und sagte dann mit Emphase –

»Und was wollen Sie trinken, Sir?«

»Nun, wirklich«, erwiderte Herr Pell, »Sie sind sehr – – auf meine Ehre, es ist nicht meine Gewohnheit, des – – es ist noch so früh am Tage, daß ich wirklich beinahe – – doch, Sie können mir für drei Pence Rum bringen, meine Liebe.«

Die Kellnerin, die dem Befehl bereits zuvorgekommen war, setzte Herrn Pell ein Glas Branntwein vor und entfernte sich.

»Meine Herren«, sagte Herr Pell, sich rings in der Gesellschaft umsehend; »auf gut Glück für Ihren Freund! Ich will mich nicht rühmen, meine Herren; das ist nicht meine Sache; aber ich muß bemerken, daß, wenn Ihr Freund nicht so glücklich gewesen wäre, in Hände zu fallen, die – – doch ich will still sein. Meine Herren, auf Ihre Gesundheit!«

Herr Pell leerte sein Glas in einem Augenblick, schnalzte dann mit den Lippen und sah die versammelten Kutscher, die offenbar eine Art göttlichen Wesens in ihm erblickten, nacheinander mit großer Selbstgefälligkeit an.

»Nun, laßt uns sehen«, sagte die juristische Autorität, – »was wollte ich sagen, mein« Herren?«

»Ich glaube. Sie bemerkten, daß Sie gegen ein zweites vom Gleichen nichts einzuwenden wüßten, Sir?« antwortete Herr Weller mit würdevoller Heiterkeit.

»Ha, ha!« lachte Herr Pell. »Nicht übel, nicht übel. Versteht sein Fach, der Mann. Um diese Morgenstunde könnte es auch nicht schaden – –. Nun, ich weiß nicht, meine Liebe – – Sie können es ja wiederholen, wenn es Ihnen recht ist. Hem!«

Es folgte ein feierliches und würdevolles Husten, das Herr Pell glaubte verlautbaren zu müssen; denn er sah einige Zuhörer recht unziemlich schmunzeln.

»Der letzte Lordkanzler, meine Herren, hielt große Stücke auf mich«, sagte Herr Pell.

»Und vertraute ihm auch sehr viel an«, fiel Herr Weller ein.

»Hört, hört«, rief Herrn Pells Klient aus. »Und warum sollte er das nicht?«

»Ja – in der Tat!« bemerkte ein Mann mit einem hochroten Gesicht, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte und gar nicht danach aussah, als wollte er mehr sagen. »Warum sollte er nicht?«

Ein Beifallsgemurmel lief durch die Gesellschaft.

»Ich erinnere mich, meine Herren«, sagte Herr Pell, »daß ich einmal bei ihm zu Mittag speiste; – wir waren nur unser zwei, aber es war alles so glänzend, als ob man zwanzig Personen erwartet hätte. Das große Siegel lag rechts auf einem Drehtisch, und ein Mann mit einer Zopfperücke und einem Harnisch bewachte das Zepter mit gezücktem Schwert und seidenen Strümpfen, was immer der Fall ist, meine Herren, Tag und Nacht; – als er sagte, ›Pell‹, sagte er: ›keine falsche Bescheidenheit, Pell. Sie sind ein Mann von Talent Sie vermögen alles im Zahlungunfähigkeits-Gerichtshofe, Pell, und Ihr Land darf auf Sie stolz sein.‹ Das waren seine eigenen Worte. – ›Mylord‹, erwiderte ich, ›Sie schmeicheln.‹ – ›Pell‹, sagte er, ›wenn ich schmeichle, so soll mich der Teufel holen.‹

»Sagte er das?« fragte Herr Weller.

»Ja, das sagte er«, erwiderte Pell.

»Gut denn«, bemerkte Herr Weller; »so hätte das Parlament wegen Fluchens einschreiten sollen, und wenn es ein armer Mann gewesen wäre, so wäre es sicherlich auch geschehen.«

»Aber, mein lieber Freund«, erwiderte Herr Pell, »es war im Vertrauen gesprochen.«

»In was?« fragte Herr Weller.

»Im Vertrauen.«

»Ah! ganz gut!« versetzte Herr Weller nach einigem Nachdenken, »wenn er sich im Vertrauen vom Teufel hat holen lassen, so ist das natürlich etwas anderes.«

»Natürlich war es etwas anderes«, sagte Herr Pell. »Der Unterschied springt in die Augen, wie Sie gleich sehen werden.«

»Ändert die Sache ganz«, bemerkte Herr Weller. »Fahren Sie fort, Sir.«

»Nein; ich will nicht fortfahren, Sir«, versetzte Herr Pell mit gedämpftem, ernsthaften Tone. »Sie haben mich daran erinnert, Sir, daß diese Unterredung eine geheime war – eine geheime und vertrauliche, meine Herren. Meine Herren, ich bin ein Mann vom Fach. Es mag sein, daß ich in den Augen meiner Kollegen dadurch gehoben wurde – möglich aber auch, daß dies nicht der Fall war. Die meisten Leute wissen das. Ich sage nichts. Bemerkungen sind schon in diesem Zimmer gemacht worden, die den Ruf meines edlen Freudes antasteten. Sie werden mich entschuldigen, meine Herren, ich war unvorsichtig. Ich fühle, daß ich nicht recht daran tat, diesen Gegenstand ohne seine Beistimmung zu berühren. Danke Ihnen, Sir, danke Ihnen.«

Sich also rechtfertigend, steckte Herr Pell seine Hände in die Taschen und ließ mit einem grimmigen Stirnrunzeln und furchtbarer Entschlossenheit drei Halbpencestücke klingen.

Dieser tugendhafte Entschluß war kaum gefaßt, als der Junge und der blaue Sack, die unzertrennliche Gefährten waren, ins Zimmer hereinstürmten und sagten (wenigstens der Junge sagte; denn der blaue Sack nahm keinen Teil an der Meldung), die Sache komme im Augenblick daran. Die Nachricht war kaum vernommen worden, als die ganze Gesellschaft auf die Straße eilte und sich zu dem Gerichtshof Bahn brach – eine Vorbereitung, die in gewöhnlichen Fällen auf eine Zeit von fünfundzwanzig bis dreißig Minuten berechnet wird.

Herr Weller, ein starker Mann, warf sich ohne weiteres ins Gedränge, mit der verzweifelten Hoffnung, um jeden Preis einen Platz zu erobern, der für ihn angemessen wäre. Der Erfolg entsprach aber seinen Erwartungen nicht ganz. Es wurde ihm nämlich sein Hut, den er abzunehmen vergessen hatte, von einer unsichtbaren Person, der er ziemlich stark auf die Zehen getreten hatte, über die Augen heruntergeschlagen. Offenbar bereute dieses Individuum seine Heftigkeit im Augenblick; denn einen unbestimmten Ausruf der Überraschung murmelnd, zog es den alten Mann in die Halle und befreite ihn durch eine heftige Anstrengung von dieser Zwangsmaske.

»Samuel?« rief Herr Weller, als er auf diese Art in den Stand gesetzt wurde, seinen Befreier zu sehen.

Sam nickte.

»Du bist ein zärtlicher Knabe, der seiner Pflicht eingedenk ist – nicht wahr?« sagte Herr Weiler, »da du deinem Vater in seinen alten Tagen den Deckel über den Kopf schlägst.«

»Wie konnte ich wissen, wer Ihr wäret?« erwiderte der Sohn. »Glaubt Ihr, ich könnte Euch an der Schwere Eurer Füße erkennen?«

»Ja, da« ist sehr wahr, Sammy«, versetzte Herr Weller, alsbald besänftigt. »Aber was tust du hier? Dein Herr kann sich hier nicht sehen lassen. Sie wollen das Verdikt nicht passieren lassen, sie wollen es nicht passieren lassen, Sammy.«

Und Herr Weller schüttelte den Kopf mit juristischer Feierlichkeit.

»Was ist das für ein verkehrtes Altweibergeschwätz!« rief Sam.

»Immer nur von Verdikten und Alibis und dergleichen Zeug. Wer sagte etwas von Verdikt?«

Herr Weller gab keine Antwort, sondern schüttelte nur dem Kopf mit einer noch gelehrteren Miene.

»Kümmert Euch nicht um das, was Ihr nicht versteht«, sagte Sam ungeduldig, »und sprecht vernünftig. Ich ging gestern abend, um Euch zu treffen, in den Marquis von Granby.«

»Sahst du die Marquise von Granby, Sammy?« fragte Herr Weiler mit einem Seufzer.

»Ja, ich sah sie«, erwiderte Sam.

»Wie sah das liebe Kind aus?«

»Sehr sonderbar«, versetzte Sam. »Ich glaube, sie richtet sich allmählich selbst zugrunde mit zu viel Ananasrum und andern starken Medizinen der Art.«

»Glaubst du?« fragte der Ältere mit ernstem Tone.

»Ja, gewiß«, versetzte der Jüngere.

Herr Weller ergriff die Hand seines Sohnes, drückte sie und ließ sie dann wieder fallen. Es lag während dieses Verfahrens ein Ausdruck auf seinem Gesichte, nicht von Besorgnis oder Angst, sondern vielmehr von dem süßen, wohltuenden Gefühle der Hoffnung. Ein Schimmer von Ergebung und sogar von Heiterkeit ging über sein Gesicht, als er langsam sagte –

»Ich bin meiner Sache nicht gewiß, Sammy; ich möchte nicht sagen, ich sei ganz positiv, ich könnte mich noch täuschen; aber ich meine fast, – ich meine fast, der Hirtenhelfer hat sich ein Leberleiden zugezogen.«

»Sieht er schlecht aus?« fragte Sam.

»Er ist ungemein blaß«, erwiderte sein Vater, »nur um die Nase herum nicht, die röter schimmert als je. Sein Appetit ist so so, aber trinken kann er außerordentlich.«

Während dieser Äußerung schienen sich Herrn Wellers Geist auch einige Gedanken an Rum aufzudringen, denn er sah trübsinnig und nachdenklich aus: aber bald sammelte er sich wieder, wie sein vollkommenes Alphabet von Gebärdensprache verriet, der er nur dann nachzuhängen pflegte, wenn er besonders aufgeräumt war.

»Wohlan denn«, sagte Sam; »jetzt von meinen Angelegenheiten. Spitzt Eure Ohren und unterbrecht mich nicht, bis ich fertig bin.«

Nach dieser kurzen Einleitung erzählte Sam so gedrängt wie möglich die letzte merkwürdige Unterredung, die er mit Herrn Pickwick gehabt hatte.

»Sitzt da allein, der arme Mensch!« rief der ältere Herr Weller aus, »und niemand nimmt Anteil an ihm! Das kann nicht gehen, Samuel, das kann nicht gehen.«

»Natürlich nicht«, bestätigte Sam; »ich wußte das, ehe ich kam.«

»Wollen ihn lebendig fressen, Sammy«, rief Herr Weller aus.

Sam nickte beistimmend.

»Hinein geht er in den Schuldturm etwas grün, Sammy«, sagte Herr Weller umschreibend, »und heraus kommt er so entsetzlich braun, daß ihn seine vertrautesten Freunde nicht mehr kennen. Ein gebratenes Täubchen ist nichts dagegen, Sammy.«

Wieder nickte Sam Weller.

»Das sollte nicht sein, Samuel«, bemerkte Herr Weller ernst.

»Es darf nicht sein«, sagte Sam.

»Gewiß nicht«, bestätigte Herr Weller.

»Nun ja«, bemerkte Sam, »Ihr wäret ein trefflicher Wahrsager, wie die rotbackigen Elfen, die sie immer auf den Sechspencebüchsen abbilden.«

»Was war der, Sammy?« fragte Herr Weller.

»Daran liegt nichts, was er war«, erwiderte Sam; »es war wenigstens kein Kutscher, das muß für Euch genügen.

»Ich kannte einen Hausknecht dieses Namens«, sagte Herr Weller nachdenkend.

»Er war es nicht«, erwiderte Sam. »Der Gentleman, den ich meine, war ein Prophet.«

»Was ist ein Prophet?« fragte Herr Weller, seinen Sohn forschend ansehend.

»Nun, ein Mensch, der die Zukunft voraussagt«, antwortete Sam.

»Ich wollte, ich hätte ihn gekannt, Sammy«, meinte Herr Weller; »vielleicht hätte er mir einigen Aufschluß über das Leberleiden geben können, von dem ich soeben sprach. Da er aber jetzt toi ist, und niemandem sein Geschäft hinterlassen hat, so ist die Sache vorüber. Fahre fort, Sam«, sagte Herr Weller mit einem Seufzer.

»Nun wohlan«, bemerkte Sam, »Ihr sagtet die Zukunft voraus, die meinen Herrn erwarten würde, wenn man ihn allein ließe. Wißt Ihr kein Mittel, wie man für ihn sorgen kann?«

»Nein, ich weiß keins, Sammy«, versetzte Herr Weller mit nachdenkendem Gesicht.

»Gar kein Mittel?« fragte Sam.

»Kein einziges«, versetzte Herr Weller: »außer« – und der Schein eines inneren Lichtes überstrahlte sein Gesicht, als er seine Stimme zu einem Geflüster dämpfte und seinen Mund an das Ohr seines Sprößling« hielt, »außer er würde sich in einem Bettkasten ohne Wissen des Schließers heraustragen lassen oder sich in ein altes Weib mit einem grünen Schleier verkleiden.«

Sam Weller nahm beide Vorschläge mit einer unerwarteten Verachtung auf und wiederholte seine Frage.

»Nein«, sagte der alte Herr: »wenn er dich nicht bei sich lassen will, so sehe ich durchaus kein Mittel. Es läßt sich nicht machen, Sammy – läßt sich nicht machen.«

»Nun denn, so will ich Euch was sagen«, versetzte Sam. »Leiht mir fünfundzwanzig Pfund.«

»Wozu das?« fragte Herr Weller.

»Das ist gleichgültig«, erwiderte Sam. »Ihr könnt allenfalls nach fünf Minuten fragen; vielleicht sage ich dann, ich will nicht bezahlen und fahre euch grob an. Ihr werdet doch nicht daran denken, Euren eigenen Sohn wegen Geldes verhaften und nach dem Fleet bringen lassen – oder würdet Ihr das tun. Ihr unnatürlicher Landstreicher?«

Darauf wechselten Vater und Sohn ein ganzes Buch schlauer telegraphischer Winke und Gebärden. Schließlich setzte sich der ältere Herr Weller auf eine steinerne Bank und lachte, bis er ganz blau war.

»Was ist doch das für ein altes dummes Tier!« rief Sam unwillig über diesen Zeitverlust. »Was sitzt Ihr jetzt da und verdreht Euer Gesicht zu einer Haustürklingel, wo es so viel zu tun gibt. Wo ist das Geld?«

»Im Kutschkasten, Sammy, im Kutschkasten«, antwortete Herr Weller, sich sammelnd. »Halte meinen Hut, Sammy!«

Nachdem er sich’s leicht gemacht hatte, gab Herr Weller seinem Körper plötzlich einen Schwung auf die Seite und brachte vermöge einer geschickten Wendung seine rechte Hand in eine sehr geräumige Tasche, aus der er, nach großer Anstrengung, schnaufend eine dicke Brieftasche in großem Oktavformat hervorzog, die mit einem starken ledernen Riemen umwickelt war. Aus dieser nahm er ein paar Peitschenschnüre, drei oder vier Schnallen, eine Musterkarte und endlich ein Röllchen beschmutzter Banknoten heraus, von dem er die verlangte Summe ablöste und seinem Sohne einhändigte.

»Und nun Sammy«, sagte der alte Herr, als Peitschenschnüre, Schnallen und Musterkarte wieder eingepackt und das Schreibbuch in der gleichen Tasche in Verwahrung gebracht waren. »Nun, Sammy, kenne ich hier einen Herrn, der im Augenblick den übrigen Teil unseres Geschäftes besorgen wird – ein Glied der Gesetzgebung, Sammy, der ein Froschhirn hat, das durch seinen Körper verbreitet ist und bis in die äußersten Spitzen der Finger geht, ein Freund des Lordkanzlers, Sammy, dem man nur sagen darf, was man will, und er sorgt bestens für dich auf dein ganzes Leben.«

»Nichts davon«, sagte Sam.

»Nichts wovon?« fragte Herr Weller.

»Nun, nichts von solchen verfassungswidrigen Mitteln«, erwiderte Sam.

Die Gefühle seines Sohnes respektierend, suchte Herr Weller alsbald den gelehrten Salomo Pell auf und teilte ihm seinen Wunsch mit, unverzüglich gegen einen gewissen Samuel Weller einen Verhaftsbefehl wegen der Summe von fünfundzwanzig Pfund und der Gerichtskosten ergehen zu lassen, wofür die Gebühren des Herrn Salomo Pell im voraus entrichtet werden sollten.

Der Anwalt war sehr aufgeräumt; denn der zahlungsverlegene Pferdelenker war angewiesen worden, sogleich liquidieren zu lassen. Er lobte Sams Anhänglichkeit an seinen Herrn außerordentlich, erklärte, daß er ihn da ganz an seine eigenen Gefühle der Ergebenheit gegen seinen Freund, den Kanzler, erinnere, und führte den älteren Herrn Weller alsbald nach dem Temple, um ihn daselbst die Richtigkeit seiner Schuldforderung beschwören zu lassen – ein Akt, der denn auch unter Beihilfe des blauen Sacks, den der Junge nachgetragen, vollzogen wurde.

Mittlerweile war Sam dem weißgewaschenen Herrn und seinen Freunden förmlich als Sprößling des Herrn Weller von Belle Sauvage vorgestellt worden. Man behandelte ihn mit ausgezeichneter Achtung und lud ihn ein, sich zu Ehren des Anlasses mit der übrigen Gesellschaft gütlich zu tun – eine Einladung, die Sam keineswegs verschmähte.

Die Fröhlichkeit von Herren dieses Berufes hat gewöhnlich einen ernsten und ruhigen Charakter; aber der gegenwärtige Anlaß war ein besonders festlicher, und sie ließen deshalb einmal alle Fünf gerade sein.

Nach mehreren lärmenden Toasten auf den Oberkommissar und Herrn Salomo Pell, der an diesem Tage so bewunderungswürdige Fähigkeiten entwickelt hatte, machte ein Herr mit buntscheckigem Gesicht und blauer Halsbinde den Vorschlag, es solle jemand einen Gesang anstimmen. Natürlich erfolgte darauf das Ersuchen, der Buntscheckige möchte selbst singen, wenn es ihm so sehr um Gesang zu tun sei; aber das lehnte der Buntscheckige standhaft und einigermaßen beleidigt ab, worauf, wie gewöhnlich in solchen Fällen, sich ein Wortwechsel erhob.

»Meine Herren«, sagte der Pferdelenker; »um die Eintracht des köstlichen Festes nicht zu stören, wird vielleicht Herr Samuel Weller die Gesellschaft mit einer Gabe erfreuen.«

»In der Tat, meine Herren«, erwiderte Sam, »ich bin es eigentlich nicht gewohnt, ohne Begleitung eines Instruments zu singen; aber nichts geht über ein ruhiges Leben, wie der Mann sagte, als er die Stelle eines Leuchtturmwächters annahm.«

Nach dieser Vorbemerkung stimmte Herr Samuel Weller sogleich eine wilde und schöne Legende an, die wir, in der Voraussetzung, daß sie nicht allgemein bekannt sei, hier einzulegen so frei sind. Wir bitten, eine besondere Aufmerksamkeit der Endsilbe in der zweiten und vierten Versecke zu schenken, die es nicht nur dem Sänger möglich macht, an dieser Stelle Atem zu schöpfen, sondern auch das Versmaß sehr unterstützt.

Romanze.
I.

Kühn Turpin einst auf der Hounslowhald‘ Seine kühne Mähre ri-itt, Als er den Wagen des Erzbischofs Sich entgegenkommen sie-ieht. Er sprengt alsbald im Galopp herbei Und steckt seinen Kopf hinein, Und der Bischof sagt: »Ist ein Ei ein Ei. Muß das kühn Turpin sein.« (Chor.) Und der Bischof sagt: »Ist ein Ei ein Ei, Muß das kühn Turpin sein.«

2.

Sagt Turpin: »Da freßt nun Euer Wort Im bleiernen Kügelei-ein.« Und setzt ihm ein Pistol an den Mund Und jagt ihm den Schuß hinei-ein.

Der Kutscher hat die Schüsse dick Und sprengt im Galopp davon. Doch Dick jagt ihm eins ins Genick, Da hält der Bursche schon. (Chor, sarkastisch.) Doch Dick jagt ihm eins ins Genick, Da hält der Bursche schon.

»Das Lied ist ganz für die Leinwand geeignet«, fiel nun der Buntscheckige ein. »Ich bitte um den Namen des Kutschers.«

»Es kannte ihn niemand«, erwiderte Sam, »er hatte keine Karte in seiner Tasche.«

»Ich protestiere gegen die Einführung der Politik«, sagte der Buntscheckige. »Ich behaupte, daß das Lied für die gegenwärtige Gesellschaft politischer Natur ist, und was so ziemlich dasselbe ist, daß es nicht wahr ist. Ich glaube, daß der Kutscher nicht davonsprengte, sondern daß er auf einer ordentlichen Jagd erschossen wurde – auf der Jagd wie ein Fasan, und rate es niemandem, mir zu widersprechen.«

Da der Buntscheckige sehr energisch und bestimmt sprach und die Ansichten der Gesellschaft über diesen Gegenstand voneinander abzuweichen schienen, so drohte wieder ein neuer Streit auszubrechen, als gerade im rechten Augenblicke die Herren Weller und Pell erschienen.

»Alles in Ordnung, Sammy«, sagte Herr Weller.

»Der Gerichtsbote wird um vier Uhr hier sein«, ergänzte Herr Pell. »Ich hoffe. Sie werden während der Zeit nicht davonlaufen – nicht wahr? Ha, ha!«

»Vielleicht läßt sich mein grausamer Papa bis dahin noch erweichen«, versetzte Sam mit einem breiten, grinsenden Gesichte.

»Nein«, sagte der ältere Herr Weller.

»O doch!« bat Sam.

»Unter keiner Bedingung«, erwiderte der unerbittliche Gläubiger.

»Ich will Scheine zu sechs Pence des Monats ausstellen«, sagte Sam.

»Ich nehme sie nicht an«, entgegnete Herr Weller.

»Ha, ha, ha! sehr gut, sehr gut!« lachte Herr Salomo Pell, der seine kleine Rechnung vorlegte. »In der Tat ein sehr lustiger Fall. Benjamin, schreibe das ab.«

Und Herr Pell lächelte wieder, als er Herrn Wellers Aufmerksamkeit auf den Betrag der Summe lenkte.

»Danke Ihnen, danke Ihnen«, sagte der Mann vom Fach, eine von den schmutzigen Banknoten in Empfang nehmend, die Herr Weller aus seiner Brieftasche hervorgezogen hatte. »Drei Zehner und ein Zehner machen fünf. Sehr verbunden, Herr Weller. Ihr Sohn ist ein sehr verdienstvoller junger Mann – in der Tat, Sir. Es ist ein sehr schöner Zug im Charakter eines jungen Mannes – wirklich ein sehr schöner Zug«, fügte Herr Pell hinzu, indem er sich mit süßem Lächeln in der Gesellschaft umsah und das Geld einsteckte.

»Was da für ein Spaß ist!« sagte der ältere Herr Weller mit Lachen. »Ein wahres Wunderkind.«

»Ein Wunder von Verschwendung14, Sir«, verbesserte Herr Pell mit sanftem Tone.

»Hat nichts zu sagen, Sir«, versetzte Herr Weller mit Würde. »Ich weiß, was die Glocke geschlagen hat, Sir, und wenn ich es nicht weiß, so will ich Sie fragen, Sir.«

Jetzt erschien der Gerichtsbote. Sam hatte sich so außerordentlich beliebt gemacht, daß sämtliche Herren, die hier versammelt waren, den Entschluß faßten, als Gesamtkorporation ihm ins Gefängnis das Geleit zu geben. Man brach auf; der Kläger und der Beklagte gingen Arm in Arm, der Gerichtsbote schritt voran und acht wohlgenährte Kutscher bildeten den Nachtrab. Beim Prokuratie-Café machte die ganze Gesellschaft halt, um Erfrischungen zu sich zu nehmen, und als die gesetzlichen Einleitungen getroffen waren, setzte sich der Zug wieder in Bewegung.

In der Fleetstraße trat durch die Laune der acht Herren in der Nachhut, die durchaus zu vieren nebeneinandergehen wollten, eine kleine Störung ein. Man hielt es für notwendig, den Buntscheckigen zurückzulassen, um sich mit einem Zettelträger zu balgen und erst nach Ausfechtung dieses Kampfes von seinen Freunden wieder mitgenommen zu werden. Außer diesen unbedeutenden Zufällen ereignete sich unterwegs nichts Denkwürdiges. Als sie das Fleettor erreichten, nahm die Karawane vom Kläger Abschied und brachte dem Beklagten drei donnernde Lebehoch; und nachdem ihm alle nacheinander die Hand gegeben hatten, verließen sie ihn.

Als Sam zum ungeheuren Erstaunen Rokers und sogar zur augenscheinlichen Rührung des phlegmatischen Teddy dem Wärter förmlich in Gewahrsam gegeben war, ging er alsbald in den Kerker, schritt auf das Zimmer seines Herrn zu und pochte an die Tür.

Herr Pickwick rief: »Herein«.

Sam trat ein, nahm den Hut ab und lächelte.

»Ach, Sam, mein guter Junge«, sagte Herr Pickwick, offenbar erfreut, seinen ergebenen Freund wieder zu sehen. »Es lag nicht in meiner Absicht, gestern durch meine Worte deine Gefühle zu verletzen, mein treuer Junge. Lege ab, Sam, ich will mich jetzt näher erklären.«

»Im Augenblick, Sir?« fragte Sam.

»Jawohl«, antwortete Herr Pickwick: »doch warum soll ich es jetzt nicht?«

»Es wäre mir lieber. Sie verschöben das auf ein anderes Mal, Sir«, sagte Sam.

»Warum?« fragte Herr Pickwick.

»Weil –« begann Sam zögernd.

»Weil was?« fragte Herr Pickwick, durch das Benehmen seines Dieners beunruhigt. »Sprich dich aus, Sam.«

»Weil –« fing Sam wieder an, »weil ich ein kleines Geschäft übernommen habe, das ich jetzt ausführen muß.«

»Welches Geschäft?« fragte Herr Pickwick, über Sams verlegenes Benehmen erstaunt.

»Nichts Besonderes, Sir«, versetzte Sam.

»O, wenn es nichts Besonderes ist«, sagte Herr Pickwick, lächelnd, »so kannst du mir es jetzt gleich sagen.«

»Ich meine, es wäre besser, nachher auf einmal«, erwiderte Sam immer noch zögernd.

Herr Pickwick sah verblüfft drein, sagte aber nichts.

»Die Sache ist die – –«, fing Sam an und blieb stecken.

»Nun«, sagte Herr Pickwick. »Sprich doch aus, Sam.«

»Nun, die Sache ist die –« begann Sam wieder mit verzweifelter Anstrengung. »Aber vielleicht wäre es am besten, ich sähe zuerst nach meinem Bett, ehe ich etwas anderes tue.«

»Nach deinem Bett?« rief Herr Pickwick voll Erstaunen.

»Ja, nach meinem Bett, Sir«, versetzte Sam. »Ich bin ein Gefangener. Ich wurde diesen Nachmittag wegen Schulden verhaftet.«

»Du wegen Schulden verhaftet?« rief Herr Pickwick in einen Stuhl sinkend.

»Ja, wegen Schulden, Sir«, erwiderte Sam; »und der Mann, der mich setzen ließ, will mich nicht mehr herauslassen, bis Sie gehen.«

»Gütiger Himmel! was willst du damit sagen?« rief Herr Pickwick aus.

»Was ich damit sagen will, Sir?« wiederholte Sam. »Wenn es vierzig Jahre lang dauert, so will ich Gefangener bleiben, und ich bin recht froh darüber; und wenn ich zu Newgate säße, so wäre es ganz dasselbe. Jetzt ist die Geschichte heraus, und, hol‘ mich der Henker, das ist das Ende vom Lied.«

Mit diesen Worten, die er sehr pathetisch und energisch wiederholte, warf Sam Weller aufs stärkste erregt den Hut auf den Boden, schlug die Arme ineinander und sah seinem Herrn mit einem festen und starren Blick ins Gesicht.

 

  1. Hier ein unübersetzliches Wortspiel zwischen prodigy und prodigal.

Fünfundvierzigstes Kapitel.


Fünfundvierzigstes Kapitel.

Handelt von verschiedenen Kleinigkeiten, die im Fleet vorfielen und von Herrn Winkles geheimnisvollem Benehmen; zeigt auch, wie der Kanzleigefangene endlich erlöst wird.

Herr Pickwick war von Sams inniger Anhänglichkeit zu sehr gerührt, um über seinen raschen Schritt, nämlich seine freiwillige Gefangengebung auf unbestimmte Zeit, Zorn oder Mißfallen zu äußern. Der einzige Punkt, worüber er beharrlich Aufschluß verlangte, war der Name von Sams Gläubiger; aber gerade das wollte Herr Weller beharrlich verschweigen.

»Das bringt durchaus keinen Nutzen«, sagte er nur immer und immer wieder. »Es ist ein nichtsnutziger, schlechtgesinnter, weltlich denkender, bösartiger, rachsüchtiger Kerl mit einem harten Herzen, das nichts zu erweichen imstande ist, wie der tugendhafte Geistliche von dem alten wassersüchtigen Gentleman sagte, als dieser der Meinung war, im ganzen halte er es für besser, seine Habe seinem Weibe zu hinterlassen, als eine Kapelle damit zu bauen.«

»Aber bedenke, Sam«, setzte Herr Pickwick auseinander, »die Summe ist so unbedeutend, daß sie leicht bezahlt werden kann, und wenn du dir vorgenommen hast, bei mir zu bleiben, so solltest du auch daran denken, daß du mir weit mehr zu nützen vermagst, wenn du außerhalb dieser Mauern spazierengehen kannst.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir«, versetzte Herr Weller ernst, »aber ich habe das nicht im Sinn.«

»Was nicht im Sinn, Sam?«

»Nun, Sir, ich habe nicht im Sinn, mich so weit zu demütigen, um diesen gewissenlosen Feind um Gnade zu bitten.«

»Aber das heißt nicht um Gnade bitten, wenn du ihm sein Geld gibst, Sam«, urteilte Herr Pickwick.

»Bitte um Verzeihung, Sir«, versetzte San»: »aber eine sehr große Gnade wäre es für ihn, wenn ich es ihm gäbe, und die verdient er nicht; da liegt der Hase im Pfeffer.«

Als sich Herr Pickwick mit einer verlegenen Miene an der Nase rieb, fand es Herr Weller für gut, das Thema der Unterhaltung zu verändern.

»Ich fasse meine Entschlüsse aus Grundsatz, Sir«, bemerkte Sam, »und Sie fassen die ihrigen aus dem nämlichen Grunde, und dabei fällt mir der Mann ein, der sich aus Grundsatz tötete, wovon Sie natürlich schon gehört haben werden, Sir.«

Hier verstummte Herr Weller und warf einen verschmitztkomischen Blick auf seinen Herrn.

»Ich finde darin nichts Natürliches«, erwiderte Herr Pickwick, trotz der Unbehaglichkeit, in die ihn Sams Beharrlichkeit versetzt hatte, in ein Lächeln übergehend. »Der Nuf des fraglichen Mannes ist mir noch nie zu Ohren gekommen.«

»Nicht doch, Sir«, rief Herr Weiler. »Sie setzen mich in Erstaunen, Sir: es war ein Schreiber bei einer Regierungsbehörde, Sir.«

»So«, entgegnete Herr Pickwick.

»Ja, das war er, Sir«, versetzte Herr Weller: »und ein sehr artiger Herr dazu – einer von jener exakten und empfindlichen Art, der bei nasser Witterung seine Füße in wärmende Hüllen steckte und keine anderen Busenfreunde hatte als Hasenbälge. Er sparte sein Geld aus Grundsatz, trug jeden Tag ein frisches Hemd aus Grundsatz, sprach nie mit einem von seinen Verwandten aus Grundsatz (denn er fürchtete, sie möchten ihm etwas abborgen), und war in der Tat ein ganz scharmanter Mann. Er ließ sich aus Grundsatz alle vierzehn Tage das Haar schneiden und trug enge Kleider aus ökonomischem Grundsatz – drei Anzüge des Jahrs, die abgelegten schickte er zurück. Da er ein sehr ordnungsliebender Herr war, so speiste er jeden Tag an dem gleichen Orte, wo das Gedeck einen Schilling und neun Pence kostete, und es war wirklich einen Schilling und neun Pence wert, wie der Wirt mit Tränen in den Augen oft bemerkte, wenn der Herr zur Winterszeit das Feuer anzuschüren pflegte, was täglich wenigstens ein Verlust von fünfthalb Pen« für ihn war, um gar nicht den Verdruß zu erwähnen, den ihm dieser Anblick verursachte. Dabei war er auch außerordentlich vornehm. ›Die Post nach dem nächsten Herrn‹, singt er täglich dem Kellner vor, wenn er hereintritt. ›Sehen Sie nach den Times, Thomas: bringen Sie mir den Morning-Herald, wenn er frei ist, vergessen Sie nicht, mir das Chronicle15zu bestellen: und holen Sie mir auch das Wochenblatt, wollen Sie so gut sein?‹ Und dann setzt er sich nieder, heftet seine Augen starr auf die Uhr und rennt gerade eine Viertelstunde vor der Zeit hinaus, um dem Boy in den Weg zu stehen, wenn er mit den Abendzeitungen kommt. Diese liest er dann mit einer Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit, die die andern Gäste an den Rand der Verzweiflung und des Wahnsinns bringen, besonders aber einen reizbaren alten Herrn, auf den der Kellner während dieser Zeit ein besonders wachsames Auge haben muß, weil zu befürchten steht, er möge versucht sein, mit dem Tranchiermesser eine allzu rasche Handlung zu begehen. Gut, Sir: und hier sitzt er drei Stunden lang auf dem besten Platz und erquickt sich nach seinem Mittagessen mit nichts andern, mehr, als mit Schlaf. Dann geht er in ein Kaffeehaus, das einige Straßen weiter oben ist, und läßt sich eine kleine Kanne Kaffee und vier Milchwecken geben, worauf er nach seiner Wohnung zu Kinsington schlendert und sich zur Ruhe legt. Eines Abends fühlt er sich sehr unwohl: schickt nach dem Doktor. Der Doktor kommt in einem grünen Fly mit einer Art von Robinson-Crusoe-Leiter, die er niederlassen konnte, wenn er ausstieg, und heraufziehen, wenn er eingestiegen war, um den Kutscher der Notwendigkeit zu überheben, ihm herauszuhelfen, damit das Publikum nicht gewahr werde, daß derselbe nur einen Livreerock, aber keineswegs dazu passende Hosen anhatte. ›Was fehlt Ihnen?‹ fragte der Doktor. – ›Ich bin sehr krank‹, sagte der Patient. – ›Was haben Sie gegessen?‹ fragte der Doktor. – ›Kalbsbraten‹, sagte der Patient. – ›Was haben Sie zuletzt zu sich genommen?‹ fragte der Doktor. – ›Milchwecken‹, sagte der Patient. – ›Da haben wir’s‹, sagte der Doktor. ›Ich will Ihnen sogleich ein Schächtelchen voll Pillen schicken, und nehmen Sie nie wieder etwas der Art zu sich‹, sagte er. – ›Was soll ich nie wieder zu mir nehmen?‹ fragte der Patient: ›Pillen?‹ – ›Nein, Milchwecken‹, sagte der Doktor. – ›Warum?‹ fragte der Patient, sich schnell aufrichtend. ›Fünfzehn Jahre lang habe ich aus Grundsatz jeden Abend vier Milchwecken gegessen.‹ – ›Nun, so lassen Sie es aus Grundsatz künftig bleiben‹, sagte der Doktor. – ›Milchwecken sind gesund, Sir‹, sagte der Patient. – ›Milchwecken sind nicht gesund, Sir‹, sagte der Doktor mit sehr strengem Tone. – ›Aber sie sind so wohlfeil‹, sagte der Patient, etwas verstimmt, ›und so sättigend für ihren Preis.‹ – ›Für Sie sind sie um jeden Preis zu teuer gewesen, zu teuer, weil Sie jetzt dafür büßen müssen‹, sagte der Doktor. ›Vier Milchwecken an einem Abend‹, sagte er, ›werden Sie in sechs Monaten vollends liefern!‹ – Der Patient sieht ihm fest ins Gesicht, überlegt sich das Ding lange und sagte endlich: ›Wissen Sie gewiß, daß die Wecken ungesund sind, Sir?‹ – ›Ich setze meinen ärztlichen Ruf zum Pfande‹, sagte der Doktor. – ›Wie viele Milchwecken müßte ich wohl auf einem Sitz essen, um auf einmal umzukommen?‹ fragte der Patient. – ›Ich weiß nicht‹, sagte der Doktor. – ›Glauben Sie, mit Wecken für eine halbe Krone wäre es geschehen?‹ fragte der Patient. – ›Ich denke fast‹, sagte der Doktor. – ›Können es nicht auch drei Schilling tun?‹ fragte der Patient. – ›Jawohl‹, sagte der Doktor. – ›Schon recht‹, sagte der Patient; ›gute Nacht.‹ Am nächsten Morgen steht er auf, macht Feuer, läßt für drei Schilling Milchwecken kommen, bäht sie alle, ißt sie alle und haucht seinen Geist aus.«

»Warum tat er das?« fragte Herr Pickwick plötzlich; denn er war durch den tragischen Ausgang der Erzählung außerordentlich ergriffen.

»Warum er das tat, Sir?« wiederholte Sam. »Nun, aus Treue gegen seinen erhabenen Grundsatz, daß Milchwecken gesund seien, und um zu zeigen, daß er sich von niemandem seine Meinung rauben lasse!«

Mit dergleichen Wendungen und Abschweifungen im Gange der Unterhaltung begegnete Herr Weller den Fragen seines Herrn den ganzen ersten Abend über, an dem er seine Residenz im Fleet aufgeschlagen hatte; und als sich Herr Pickwick von der Nutzlosigkeit aller seiner Gegenvorstellungen überzeugte, erlaubte er es endlich, daß er sich für eine Woche bei einem kahlköpfigen Schuhflicker einlogierte,

der in einem der oberen Gänge ein kleines, schmales Gemach bewohnte. In dieses bescheidene Kämmerchen schaffte Herr Weller eine Matratze und ein Bett, die er von Herrn Roker mietete. Als er während der Nacht darauf lag, fühlte er sich so heimisch, als ob er im Kerker erzogen worden wäre und seit drei Menschenaltern seine ganze Familie darin gehaust hätte.

»Raucht Ihr immer, nachdem Ihr zu Bett gegangen seid, alter Kautz?« fragte Herr Weller seinen Zimmergenossen, als sie sich beide zur Ruhe gelegt hatten.

»Ja, das tue ich, junger Mann«, versetzte der Schuhmacher.

»Gestatten Sie mir die Frage, warum Sie Ihr Bett unter diesem tannenen Tische aufschlagen?« sagte Sam.

»Weil ich immer an einen Vierpfosten gewöhnt war, bevor ich hierher kam, und ich finde, daß es diese vier Beine ebenso gut tun«, versetzte der Schuhmacher.

»Sie sind ein Mann von Charakter, Sir«, meinte Sam.

»Ich habe noch nie etwas Derartiges an mir entdeckt«, sagte der Schuhflicker mit Kopfschütteln, »und wenn Sie einen guten haben, so fürchte ich, es möchte Ihnen schwer fallen, sich mit diesem Bureau zu befreunden.«

Dies kurze Zwiegespräch fand statt, als Herr Weller an dem einen und der Schuhmacher an dem andern Ende des Gemachs auf seinem Bett ausgestreckt lagen, während das Kämmerchen von dem Schein eines Nachtlichtes und der Pfeife des Schuhmachers, die wie eine rotglühende Kohle unter dem Tische schimmerte, erleuchtet war. So kurz die Unterhaltung auch war, so nahm sie doch Herrn Weller sehr für seinen Zimmergenossen ein. Sich auf den Ellbogen stützend, schenkte er seinem Äußern eine weit längere Aufmerksamkeit, als er bisher dazu Zeit oder Neigung gehabt hatte.

Es war ein schmutzig aussehender Mann – alle Schuhmacher sind es – und hatte eine starken, struppigen Bart – alle Schuhmacher haben ihn; sein Gesicht war ein seltsames, gutmütiges, krummgezogenes Exemplar aus der Tagelöhnersippschaft, mit einem Paar Augen, die einst einen sehr jovialen Ausdruck gehabt haben mußten, denn sie glänzten auch jetzt noch. Das Alter hatte den Mann auf sechzig und das Gefängnis, der Himmel weiß, auf wieviel Jahre gebracht, so daß sein an Heiterkeit oder Zufriedenheit grenzendes Gesicht sonderbar genug aussah. Es war ein kleiner Mann, und da er durch sein Bett in zwei Hälften geteilt war, so erschien er ungefähr gerade so groß, wie er ohne Beine gewesen sein mußte. Er hatte eine große, rote Pfeife im Munde stecken, aus der er kräftige Wolken blies, und starrte mit einem Ausdrucke beneidenswerter Behaglichkeit ins Licht.

»Sind Sie schon lange hier?« fragte Sam, das Stillschweigen unterbrechend, das seit einiger Zeit drückend auf ihnen lastete.

»Zwölf Jahre«, versetzte der Schuhmacher, bei diesen Worten an dem Mundstück seiner Pfeife kauend.

»Wahrscheinlich einen Befehl des Gerichtshofes verachtet?« fragte Sam.

Der Schuhmacher nickte.

»Schön«, versetzte Sam ernst; »warum beharren Sie in Ihrem Starrsinn, daß Sie Ihr kostbares Leben in diesem großartigen Pfandstall dahinschwinden lassen? Warum geben Sie nicht nach und erklären der Kanzlerschaft, es tue Ihnen sehr leid, daß Sie den Gerichtshof verachtet hätten; Sie wollten es aber nicht wieder tun?«

Der Schuhmacher schob lächelnd seine Pfeife in einen Mundwinkel, brachte sie dann wieder an ihren alten Platz zurück und sagte nichts.

»Warum tun Sie es nicht?« fragte Sam mit eindringlicherem Ernste.

»Ach«, erwiderte der Schuhmacher, »das verstehen Sie nicht. Was glauben Sie, das mich zugrunde gerichtet hat?«

»Nun«, sagte Sam, das Nachtlicht putzend, »vermutlich begann die Sache damit, daß Sie in Schulden kamen, nicht wahr?«

»Noch nie schuldete ich einen Heller«, versetzte der Schuhmacher; »raten Sie noch einmal.«

»Wohlan, Sie kauften vielleicht Häuser, was hier zu Land schwierig genug ist, um wahnsinnig zu werden; oder bauten gar, was ein medizinischer Kunstausdruck für Unheilbarkeit ist?«

Der Schuhmacher schüttelte den Kopf und sagte: »Raten Sie weiter.«

»Sie prozessierten doch hoffentlich nicht?« sagte Sam argwöhnisch.

»In meinem Leben nie«, versetzte der Schuhmacher. »Die Sache ist die, ich wurde durch eine Erbschaft ruiniert.«

»Gehen Sie, gehen Sie«, sagte Sam; »das ist nicht wahr. Ich wünschte mir einen reichen Feind, der mich auf diese Art zu ruinieren suchte. Ich ließe ihn gewähren.«

»Ich dachte mir wohl. Sie würden’s nicht glauben«, fuhr der Schuhmacher, ruhig seine Pfeife rauchend, fort. »An Ihrer Stelle ginge es mir ebenso; aber es ist bei all’dem wahr.«

»Wie ist das aber möglich?« fragte Sam, durch den Blick, den ihm der Schuhmacher zuwarf, schon in seiner Zweifelsucht wankend gemacht.

»Es kam so«, versetzte der Schuhmacher: »Ein alter Herr im Lande drunten, für den ich arbeitete, und von dem ich eine arme Verwandte heiratete – sie starb, Gott habe sie selig, und Dank sei ihm dafür gesagt – ward vom Schlag getroffen und ging heim.«

»Wohin?« fragte Sam, den die zahlreichen Ereignisse des Tages schläfrig gemacht hatten.

»Was weiß ich, wohin er ging?« erwiderte der Schuhmacher, im Hochgenüsse seiner Pfeife durch die Nase sprechend. »Er ging zu den Toten.«

»Ah, so meinen Sie’s?« bemerkte Sam. »Gut.«

»Gut«, sagte der Schuhmacher; »er hinterließ fünftausend Pfund.«

»Und das war sehr schön von ihm«, fiel Sam ein.

»Wovon er mir eintausend vermachte«, fuhr der Schuhmacher fort, »weil ich seine Verwandte geheiratet hatte. Sie verstehen mich?«

»Sehr gut«, murmelte Sam.

»Und von einer großen Menge Nichten und Neffen umringt, die sich unaufhörlich um das Vermögen stritten und zankten, machte er mich zum Vollstrecker seines letzten Willens und gab mir das übrige in Verwahrung, um es vorschriftsmäßig unter sie zu verteilen.«

»Was meinen Sie mit dem in ›Verwahrung geben?‹« fragte Sam, etwas wach werdend. »Wenn es kein bar Geld ist, wozu nützt es dann?«

»Es ist ein juristischer Fachausdruck, weiter nichts«, antwortete der Schuhmacher.

»Daran dachte ich nicht«, sagte Sam, den Kopf schüttelnd. »In diesem Gewölbe liegt wenig in Verwahrung. Indessen, fahren Sie nur fort.«

»Gut«, sagte der Schuhmacher, »als ich im Begriff war, einen gerichtlichen Bestätigungsschein ausfertigen zu lassen, gaben die Nichten und Neffen, die über die Enttäuschung, daß sie nicht alles erhalten sollten, in Verzweiflung waren, ein Caveat ein.«

»Was ist das?« fragte Sam.

»Eine gerichtliche Eingabe, die so viel sagen will, wie ›wir leiden’s nicht‹«, erwiderte der Schuhmacher.

»Ich verstehe«, sagte Sam: »eine Art Stiefbruder von dem hafis corpus16. Gut.«

»Aber«, fuhr der Schuhmacher fort, »als sie fanden, daß sie untereinander selbst nicht eins werden und folglich auch das Testament nicht anfechten konnten, zogen sie das Caveat wieder zurück, und ich bezahlte sämtliche Vermächtnisse aus.

Kaum habe ich dies getan, als ein Neffe eine Schrift eingibt, die auf Umstoßung des Testaments anträgt. Der Fall kommt einige Monate darauf vor einen alten tauben Herrn in einem Hinterzimmer in der Gegend vom Pauls-Kirchhof: und nachdem ihn vier Advokaten einen Tag lang schrecklich überlaufen haben, um ihn noch künstlich zu betäuben, zieht er die Sache acht bis vierzehn Tage lang in Erwägung und entlehnt seine Entscheidung aus sechs Bänden, die dahin ausfällt, daß der Erblasser im Oberstübchen nicht recht zu Haus gewesen sei und ich das ganze Geld wieder herausgeben und alle Kosten bezahlen müsse. Ich appellierte: die Sache kam vor drei oder vier Schlafmützen, die die Verhandlung schon im ersten Gerichtshöfe mit angehört hatten, wo sie Anwälte ohne Geschäft sind: der einzige Unterschied bestand darin, daß sie hier Doktoren und im andern Gerichtshofe Delegaten heißen, wenn Sie das verstehen: und sie bestätigten pflichtschuldigst das Urteil des alten Herrn. Daraufhin wanderten wir in die Kanzlei, wo wir noch sind, und wo ich zeitlebens bleiben werde. Meine Anwälte hatten sich schon lange vorher in den Besitz meiner sämtlichen tausend Pfund gesetzt, und was den Stand, wie sie es nennen, und die Kosten betrifft, so sitze ich hier für zehntausend, und werde hier sitzen, bis meine letzten Schuhe geflickt sind. Einige Herren haben davon gesprochen, die Sache dem Parlamente vorzulegen, und ich glaube, sie würden es getan haben: aber sie hatten keine Zeit, zu mir zu kommen, und ich keine Erlaubnis, zu ihnen zu gehen: und der langen Episteln wurden sie müde, und so ließen sie die Sache fallen. Das ist Gottes Wahrheit und kein Jota zu wenig oder zu viel, wie fünfzig Personen, sowohl in als außer diesen Mauern, sehr genau wissen.«

Der Schuhmacher schwieg, um die Wirkung zu beobachten, die seine Erzählung auf Sam gemacht hatte: aber da er sah, daß derselbe eingeschlafen war, so klopfte er die Asche aus seiner Pfeife, seufzte, legte sie beiseite, zog die Bettlaken über den Kopf und überließ sich gleichfalls dem Schlafe.

Am folgenden Morgen war Sam im Kämmerchen des Schuhmachers eifrig damit beschäftigt, seines Herrn Schuhe zu wichsen und dessen schwarze Gamaschen auszubürsten. Herr Pickwick saß allein beim Frühstück, als jemand an seine Tür pochte. Ehe Herr Pickwick »Herein« rufen konnte, wurde ein Kopf sichtbar, der von Haar umwallt und mit einer Mütze von Baumwollsamt bedeckt war – Bekleidungsstücke, die man ohne große Schwierigkeit als persönliches Eigentum Herrn Smangles erkannte.

»Wie geht es Ihnen?« fragte der würdige Mann, seine Frage mit einem oder zwei Dutzend Bücklingen begleitend. »Erwarten Sie heute morgen jemand? Drei Herren – verteufelt gentlemanmäßige Burschen – haben unten nach Ihnen gefragt und auf der Hausflur an jede Tür gepocht, so daß sie von den Mitgliedern des hiesigen Kollegiums, die aufmachen mußten, ganz teuflisch angefahren wurden.«

»Lieber Himmel, wie töricht von ihnen«, sagte Herr Pickwick aufstehend. »Ja, ich zweifle nicht, es sind Freunde von mir, die ich schon gestern erwartete.«

»Freunde von Ihnen?« rief Smangle, Herrn Pickwick bei der Hand fassend. »Sprechen Sie nicht weiter. Bei Gott, von diesem Augenblick an sind es auch Freunde von mir und Freunde von Mivins. Ein verteufelt fixer, gentlemanmäßiger Bursche, der Mivins, nicht wahr?« sagte Smangle voller Empfindung.

»Ich kenne diesen Herrn zu wenig«, sagte Herr Pickwick zögernd, »als daß ich – –«

»Ich weiß es«, unterbrach ihn Smangle, Herrn Pickwick auf die Schulter klopfend. »Sie werden ihn besser kennenlernen. Sie werden entzückt von ihm sein. Dieser Mann, Sir«, sagte Smangle mit feierlichem Gesichte, »hat Anlagen zum Komiker, die dem Drury-Lane-Theater17 Ehre machen würden.«

»Wirklich?« entgegnete Herr Pickwick.

»Ja, beim Zeus, das hat er!« versetzte Smangle. »Hören Sie 195 ihn einmal die vier Kater auf dem Schiebkarren spielen – vier ausgezeichnete Kater, Sir, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Nun, Sie wissen, es ist verteufelt hübsch: Gott verdamme mich. Sie müssen einen Mann liebgewinnen, wenn Sie solche Eigenschaften an ihm entdecken. Er hat nur einen Fehler – das Fehlerchen, von dem ich Ihnen gesagt habe. Sie wissen es.«

Als Herr Smangle bei diesen Worten seinen Koff auf eine vertrauliche, Beifall fordernde Weise schüttelte, fühlte Herr Pickwick, daß man eine Antwort von ihm erwartete. Er sagte deshalb »Ja« und sah unverwandt nach der Tür.

»Ja«, wiederholte Herr Smangle mit einem langen Seufzer. »Er ist ein trefflicher Gesellschafter, dieser Mann, Sir – ich kenne keinen besseren Gesellschafter: aber er hat die eine abstoßende Eigenschaft: wenn ihm heute der Geist seines Großvaters erschiene, so würde er ihn um ein Darlehen von achtzehn Pence ersuchen.«

»Ach du mein Himmel!« rief Herr Pickwick aus.

»Ja«, setzte Herr Smangle hinzu, »und wenn er Macht hätte, ihn wieder zu rufen, so würde er ihn zwei Monate und drei Tage nach diesem Zeitpunkt um die gleiche Summe bitten.«

»Das sind äußerst merkwürdige Eigenschaften«, sagte Herr Pickwick, »aber ich fürchte, meine Freunde möchten, während wir hier miteinander sprechen, in großer Verlegenheit sein, wenn Sie mich nicht finden.«

»Ich will ihnen den Weg zeigen«, sagte Smangle, nach der Tür gehend. »Guten Tag. Ich möchte Sie nicht stören, während sie hier sind, Sie wissen es. Beiläufig gesagt – – «

Bei den beiden letzten Worten blieb Herr Smangle stehen, drückte die Tür, die er geöffnet hatte, wieder zu, kehrte zu Herrn Pickwick zurück, stellte sich dicht neben ihm auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ganz leise ins Ohr –

»Könnten Sie mir nicht bis gegen Ende der nächsten Woche eine halbe Krone vorstrecken?«

Herr Pickwick konnte sich kaum des Lächelns enthalten, zwang sich jedoch, seinen Ernst beizubehalten, zog das Geld hervor und legte es Herrn Smangle in die Handfläche, worauf dieser Herr mit verschiedenem Winken und Gebärden, die auf Geheimhaltung des großen Mysteriums hindeuteten, verschwand, um die drei Fremden aufzusuchen. Mit diesen kehrte er im nächsten Augenblick zurück, und nachdem er dreimal gehustet und ebensooft genickt hatte, um Herrn Pickwick zu verstehen zu geben, er werde es nicht vergessen, das Geliehene wieder heimzugeben, schüttelte er allen Anwesenden sehr verbindlich die Hand und ging endlich ab.

»Meine teuren Freunde«, sagte Herr Pickwick, Herrn Tupman, Herrn Winkle und Herrn Snodgraß – denn das waren die drei fraglichen Gäste – nacheinander die Hand drückend: »ich bin entzückt. Sie zu sehen.«

Das Triumvirat war sehr gerührt. Herr Tupman schüttelte kläglich sein Haupt: Herr Snodgraß zog mit unverstellter Bewegung sein Taschentuch hervor und Herr Winkle trat ans Fenster und schluchzte laut.

»Guten Morgen, meine Herren«, sagte Sam, in diesem Augenblick mit den Schuhen und Gamaschen eintretend: »weg mit der Melancholie, wie der kleine Junge sagte, als seine Schulmeisterin starb. Willkommen in der Akademie, meine Herren!«

»Dieser närrische Bursche«, sagte Herr Pickwick, Sam an den Kopf tätschelnd, als er niederkniete, um seinem Herrn die Gamaschen zu knöpfen – »dieser närrische Bursche hat sich selbst setzen lassen, um in meiner Nähe zu sein.«

»Was?« riefen die drei Freunde.

»Ja, meine Herren«, sagte Sam: »ich bin – halten Sie gefälligst Ihren Fuß ruhig, Sir – ich bin ein Gefangener, meine Herren; ein bißchen in der Soße, wie die Dame sagte.«

»Ein Gefangener!« rief Herr Winkle mit unaussprechlicher Empörung.

»Holla, Sir!« versetzte Sam in die Höhe sehend. »Was gibt’s, Sir?«

»Ich hatte gehofft, Sam, daß – nichts, nichts«, sagte Herr Winkle plötzlich.

In Herrn Winkles Benehmen lag etwas so Hastiges und Unentschlossenes, daß Herr Pickwick unwillkürlich einen um Aufschluß bittenden Blick auf seine beiden Freunde warf.

»Wir wissen nichts«, sagte Herr Tupman, diese stumme Aufforderung laut erwidernd. »Er ist schon seit zwei Tagen außerordentlich aufgeregt, und sein ganzes Benehmen ist anders, als es bisher zu sein pflegte. Wir fürchteten, es möchte etwas vorgefallen sein, aber er leugnet hartnäckig.«

»Nein, nein«, sagte Herr Winkle, unter Herrn Pickwicks Forscherblick errötend: »es ist wirklich nichts: ich versichere Sie, es ist nichts, mein Teuerster. Ich werde wegen eines Privatgeschäftes in kurzem die Stadt verlassen müssen, und ich hatte gehofft, Sie zu der gütigen Erlaubnis bewegen zu können, Sam mitgehen zu lassen.«

Herrn Pickwicks Gesicht drückte noch größeres Erstaunen aus als zuvor.

»Ich glaubte«, stammelte Herr Winkle, »Sam würde nichts dagegen haben. Aber natürlich, wenn er Gefangener ist, so ist die Sache unmöglich und ich muß allein gehen.«

Während Herr Winkle also sprach, fühlte Herr Pickwick mit einigem Erstaunen, daß Sams Finger an den Gamaschen zitterten, als ob er überrascht oder bestürzt wäre. Er sah auch auf Herrn Winkle, als dieser geredet hatte, und obgleich der Blick, den sie wechselten, nur die Zeit eines Augenblicks wegnahm, so schienen sie einander doch zu verstehen.

»Weißt du etwas von dieser Sache, Sam?« fragte Herr Pickwick scharf.

»Nein, Sir«, versetzte Herr Weller, mit außerordentlicher Emsigkeit zu knöpfen anfangend.

»Gewiß; Sam?« sagte Herr Pickwick.

»Nun, Sir«, antwortete Herr Weller: »soviel ist wenigstens gewiß, daß ich von diesem Augenblick noch nie etwas über diesen Gegenstand gehört habe. Wenn ich auch etwas errate«, fügte Sam mit einem Blick auf Herrn Winkle hinzu, »so bin ich nicht befugt, es zu sagen, denn ich könnte auch falsch geraten haben.«

»Ich habe kein Recht, weiter in die Privatangelegenheiten meines Freundes zu dringen, und wenn wir auch noch so vertraut sind«, sagte Herr Pickwick nach kurzem Schweigen. »Laßt mich nur noch soviel sagen, daß ich von all dem nicht das mindeste verstehe. Es – doch genug über diesen Punkt.«

Hierauf lenkte Herr Pickwick das Gespräch auf verschiedene Dinge, und Herr Winkle wurde allmählich unbefangener, wiewohl er immer noch weit von der eigentlichen Behaglichkeit entfernt war. Sie hatten so viel miteinander zu besprechen, daß der Vormittag schnell verfloß, und als Herr Winkle um drei Uhr auf dem kleinen Tische eine Hammelkeule und eine ungeheure Fleischpastete mit verschiedenen Platten Gemüse und Flaschen Porter aufstellte, die auf den Stühlen oder auf dem Ruhebette oder wo sonst Platz war, standen, fühlte sich jeder in die Stimmung versetzt, dem Mahle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, obgleich es die abstoßende Küche des Gefängnisses war, wo das Fleisch gekauft und zubereitet und die Pastete gemacht und gebacken worden war.

Den Nachtisch bildeten ein paar Flaschen vorzüglichen Weines, die Herr Pickwick aus dem Kaffeehaus Horn in Doktor Commons hatte holen lassen. Die paar Flaschen hätte man eigentlich richtiger ein Halbdutzend nennen können, und als der Wein getrunken und der Tee vorüber war, läutete die Glocke zum Zeichen, daß sich die Fremden jetzt entfernen müßten.

Aber war Herrn Winkles Benehmen am Morgen unerklärlich gewesen, so wurde es jetzt völlig übersinnlich und feierlich, als er sich unter dem Einflüsse seiner Gefühle und seines Anteils an dem Halbdutzend zum Abschied vorbereitete. Er blieb zurück bis die Herren Tupmann und Snodgraß verschwunden waren, und drückte dann Herrn Pickwick feurig die Hand, mit einem Gesicht, auf dem feste Entschlossenheit und Gram zusammen brennend kämpfen.

»Gute Nacht, mein Teuerster«, murmelte Herr Winkle zwischen den Zähnen.

»Gott segne Sie, mein lieber Freund«, versetzte der gerührte Herr Pickwick, als er den Händedruck seines jungen Freundes erwiderte.

»Rasch, rasch!« erscholl Herrn Tupmans Stimme im Gang.

»Ja, ja, im Augenblick«, antwortete Herr Winkle. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Herr Pickwick.

Es wurde noch einmal gute Nacht gesagt und noch einmal, und nach diesem noch ein Halbdutzendmal, und immer noch hielt Herr Winkle die Hand seines Freundes fest und sah ihm mit demselben seltsamen Ausdruck ins Gesicht.

»Ist denn etwas vorgefallen?« fragte Herr Pickwick, als ihm vor lauter Schütteln sein Arm weh tat.

»Nichts«, erwiderte Herr Winkle.

»Nun denn, gute Nacht«, sagte Herr Pickwick, seine Hand loszumachen suchend.

»Mein Freund, mein Wohltäter, mein verehrter Gefährte«, murmelte Herr Winkle, ihn am Handgelenk fassend; »beurteilen Sie mich nicht hart; tun Sie das nicht, wenn Sie hören, daß ich, durch unüberwindliche Hindernisse dazu genötigt – – «

»Wird’s bald?« sagte Herr Tupman, sich wieder in der Tür zeigend. »Kommen Sie oder sollen wir eingesperrt werden?«

»Ja, ja, ich bin bereit«, erwiderte Herr Winkle.

Und mit furchtbarer Anstrengung riß er sich los.

Als ihnen Herr Pickwick mit stummem Erstaunen durch den Gang nachblickte, erschien Sam Weller oben an der Treppe und flüsterte einen Augenblick Herrn Winkle etwas ins Ohr.

»O gewiß, verlassen Sie sich auf mich«, sagte dieser Herr laut.

»Danke Ihnen, Sir; aber Sie vergessen es doch nicht, Sir?« bemerkte Sam.

»Auf keinen Fall«, erwiderte Herr Winkle.

»Wünsche Ihnen Glück, Sir«, sagte Sam, an seinen Hut greifend. »Es hätte mich recht sehr gefreut. Sie begleiten zu können, Sir; aber die Herrschaft kommt natürlich zuerst.«

»Es ist ein sehr empfehlender Zug von Ihnen, daß Sie hier bleiben«, versetzte Herr Winkle.

Mit diesen Worten ging das Kleeblatt die Treppe hinab und verschwand.

»Höchst sonderbar«, sagte Herr Pickwick, in sein Zimmer zurückkehrend und sich in nachdenklicher Haltung an den Tisch setzend. »Was kann der junge Mann vorhaben?«

Er hatte einige Zeit über diesen Punkt nachgedacht, als die Stimme Rokers, des Schließers, fragte, ob er eintreten dürfe.

»Ich bringe Ihnen hier ein weicheres Kissen, Sir«, sagte Roker, »statt des bisherigen, das Sie gestern nacht gehabt haben.«

»Ich danke Ihnen«, versetzte Herr Pickwick. »Wollen Sie ein Glas Wein trinken?«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, erwiderte Herr Roker, das dargebotene Glas annehmend. »Ihre Gesundheit, Sir.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Herr Pickwick.

»Ich bedaure. Ihnen sagen zu müssen, daß es Ihrem Gefährten diesen Abend sehr schlecht geht, Sir«, bemerkte Roker, das Glas niederstellend und das Futter seines Hutes musternd, um den Hut zum Aufsetzen vorzubereiten.

»Was? der Kanzleigefangene?« rief Herr Pickwick.

»Er wird nicht mehr lange Kanzleigefangener sein, Sir«, erwiderte Roker, seinen Hut umwendend, so daß er oben auf der rechten Seite den Namen des Hutmachers erblickte, wenn er hinein sah.

»Ich bin starr!« sagte Herr Pickwick. »Was meinen Sie damit?«

»Er ist schon lange schwindsüchtig gewesen«, versetzte Herr Roker, »und diesen Abend hat er außerordentliche Atmungsbeschwerden bekommen. Der Arzt sagt schon seit einem halben Jahre, nur eine Luftveränderung könne ihn retten.«

»Großer Gott!« rief Herr Pickwick; »so ist dieser Mann ein halbes Jahr lang von der Gerechtigkeit langsam gemordet worden?«

»Das verstehe ich nicht, Sir«, erwiderte Roker, den Hut zwischen beiden Händen an der Krempe wägend. »Es wäre ihm vermutlich an jedem andern Orte auch so gegangen. Diesen Morgen kam er aufs Krankenzimmer. Der Doktor sagt, man müsse ihm so viel als möglich stärkende Sachen geben, und der Vorsteher schickt ihm Wein, Fleischbrühe und dergleichen aus seinem eigenen Hause. Der Vorsteher ist unschuldig, das wissen Sie, Sir.«

»Natürlich«, erwiderte Herr Pickwick schnell.

»Ich fürchte jedoch«, sagte Roker kopfschüttelnd, »es ist alles umsonst. Ich bot Neddy soeben erst eine Wette von zwei Gläsern Schnaps gegen eines an, aber er wollte nicht, und da hatte er ganz recht. Danke Ihnen, Sir. Gute Nacht, Sir.«

»Halt«, rief Herr Pickwick mit ernstem Tone. »Wo ist das Krankenzimmer?«

»Gerade über Ihrem Schlafgemach, Sir«, antwortete Roker. »Ich will es Ihnen zeigen, wenn Sie mitkommen wollen.«

Herr Pickwick ergriff in Eile schweigend seinen Hut und folgte auf der Stelle.

Der Schließer ging still voran, und die Türklinke leise aufdrückend, forderte er Herrn Pickwick auf, einzutreten. Es war ein großes, kahles, ödes Zimmer mit einer Menge eiserner Halbbettstellen, auf deren einer der Schatten eines Menschen lag – bleich und geisterhaft. Er atmete hart und schwer und ächzte vor Schmerzen, so oft sich die Brust hob und so oft sie sich senkte. Am Bette saß ein kleiner, alter Mann in einer Schuhmacherschürze, der eine Hornbrille auf der Nase hatte und laut aus der Bibel vorlas. Es war jener uns bekannte »glückliche« Testamentsvollstrecker.

Der Kranke legte seine Hand auf den Arm seines Trösters und bat ihn, innezuhalten. Dieser machte das Buch zu und legte es aufs Bett.

»Öffnen Sie doch das Fenster«, sagte der Kranke.

Er tat es. Das Gepolter der Wagen und Karren, das Gerassel der Räder, das Geschrei der Männer und Kinder, der ganze Lärm des Lebens und Webens einer geschäftigen Menge wogte in dumpfem Gemurmel in das Zimmer. Aus dem dumpfen Summen erhob sich von Zeit zu Zeit ein schallendes Gelächter, oder schlug das Bruchstück eines fröhlichen Liedes, das von einem lustigen Haufen gesungen wurde, auf einen Augenblick ans Ohr und verhallte dann im allgemeinen Lärm der Stimmen und Fußtritte – die Brandung der rastlosen See des Lebens, die draußen ihre Wogen wälzt. Das sind jederzeit melancholische Töne für einen ruhigen Zuhörer, aber wie melancholisch müssen sie dem Ohre des Menschen klingen, der am Sterbebette wacht.

»Es fehlt an Luft hier«, sagte der Kranke mit schwacher Stimme. »Der Ort verpestet sie: sie war ringsum frisch, als ich vor Jahren hierher kam: aber sie wird schwül und drückend auf ihrem Wege durch diese Mauern. Ich kann sie nicht atmen.«

»Wir haben sie lange miteinander geatmet«, versetzte der Alte. »Es wird schon wieder besser werden.«

Es folgte eine kurze Pause, während der die beiden Zuschauer näher ans Bett traten. Der Kranke zog eine von den beiden Händen seines alten Mitgefangenen an sich, drückte sie zärtlich zwischen den seinen und hielt sie lange umschlungen.

»Ich hoffe«, stöhnte er nach einiger Zeit mit so schwacher Stimme, daß man das Ohr hart ans Bett halten mußte, um die halben Laute zu vernehmen, die über seine blauen Lippen zitterten – »ich hoffe, mein gnädiger Richter wird meiner schweren Buße auf Erden gedenken. Zwanzig Jahre, mein Freund, zwanzig Jahre in diesem scheußlichen Grabe! Mein Herz brach, als mein Kind starb, und ich konnte es nicht einmal küssen in seinem kleinen Sarge. Meine Verlassenheit seitdem ist, trotz all dieses Lärmens und Tosens, wahrhaft fürchterlich gewesen. Möge mir Gott vergeben! Er hat meine Einsamkeit, meinen langsamen Tod gesehen.«

Er faltete die Hände, und noch etwas murmelnd, was man nicht verstehen konnte, fiel er in Schlaf – nur in Schlafanfang: denn sie sahen ihn lächeln.

Eine kurze Zeit lang flüsterten sie miteinander und der Schließer, der das Kissen hinaufziehen wollte, fuhr schnell zurück.

»Bei Gott, er ist erlöst!« sagte der Mann.

Er war es. Aber er war schon im Leben so totenähnlich geworden, daß sie nicht wußten, wann er gestorben war.

  1. Alles englische Tageszeitungen, die der wirtschaftliche Herr dann im Gasthaus umsonst zu lesen bekam.
  2. Verdrehung des lateinischen » Habeas corpus«, womit gesetzliche Bestimmungen anfingen.
  3. ein beliebtes Theater in London

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Das nur von der Gerichtspraxis und verschiedenen großen, darin erfahrenen Autoritäten handelt.

In verschiedene Höhlen und Winkel des Temples1 sind gewisse dunkle und schmutzige Zimmer zerstreut. Dort findet man den ganzen Morgen während der Freistunden, sowie den halben Abend während der Kanzleistunden, ständig eine unabsehbare Reihe von Schreibern, die mit Papierstößen unter dem Arm und in den Taschen, daraus sie hervorragen, eiligst ab- und zugehen.

Es gibt verschiedene Klassen von Schreibgehilfen. Da ist ein Praktikant, der bezahlt hat und ein Rechtsanwalt in spe ist. Er macht eine lange Schneiderrechnung, erhält Einladungen in Privatzirkel, kennt eine Familie in der Gowerstraße und eine andere in Tavistocksquare, besucht in den Feiertagen jedesmal seinen Vater in der Stadt, der eine Menge Pferde hält, und ist, kurz gesagt, der eigentliche Aristokrat unter den Schreibern. Da ist ferner der salarierte Schreiber – außer der Gerichtsstube oder in der Gerichtsstube, je nachdem es ausgemacht ist –, der den größten Teil der dreißig Schilling, die er wöchentlich bezieht, seinem Privatvergnügen und seiner Bekleidung widmet, wenigstens dreimal wöchentlich auf den Olymp im Adelphitheater geht, darauf in den Mostkellern einen großartigen Aufwand macht und eine Schmutzkarikatur der vor einem halben Jahre abgekommenen Mode ist. Dann ist ferner der Kopist von mittlerem Alter mit einer zahlreichen Familie: immer schäbig gekleidet und öfters betrunken. Und dann kommen die Anfänger in ihren ersten Überröcken, die auf die Schulknaben mit Verachtung herabsehen, wenn sie abends die Schreibstube verlassen und in die Kneipe rennen, wobei sie denken, es gehe doch nichts übers »Leben«.

Doch die Spielarten der Gattung sind zu zahlreich, um sie alle anzuführen; aber wie zahlreich sie auch sein mögen, so kann man sie zu gewissen festgesetzten Kanzleistunden an den vorerwähnten Orten hin- und hereilen sehen.

Diese abgelegenen Winkel sind die Werkstätten des Gesetzes, wo Insinuationen ausgefertigt, Gutachten unterzeichnet, Klagen eingeleitet und eine Menge anderer sinnreicher Einrichtungen zur Marter der getreuen Untertanen Seiner Majestät und zu Nutz und Frommen der Gerichtspersonen in Bewegung gesetzt werden. Die meisten dieser Stuben sind niedere, dumpfe Gemächer, worin zahllose Pergamentrollen, die schon im vergangenen Jahrhundert beschaulich stanken, einen angenehmen Geruch verbreiten, mit dem sich den Tag über das Arom der Trockenfäule und abends die verschiedenen Ausdünstungen der dampfenden Mäntel, der triefenden Regenschirme und der schlechtesten Talglichter verbinden.

Eines Abends, ungefähr zehn bis vierzehn Tage nach der Rückkehr des Herrn Pickwick und seiner Freunde, rannte gegen halb acht Uhr in eine dieser Gerichtsstuben ein Jemand in braunem Überrock mit messingenen Knöpfen. Der Betreffende trug langes Haar unter dem Rande eines abgetragenen Hutes sorgfältig gescheitelt. Seine beschmutzten groben Hosen lag so straff über den Blücherstiefeln an, daß die Knie jeden Augenblick aus ihrer Verhüllung hervorzuplatzen drohten. Dieser junge Mann zog aus seiner Rocktasche einen langen, schmalen Pergamentstreifen, auf den der amtierende Schreiber einen unleserlichen schwarzen Stempel drückte. Dann legte er vier Papierschnitzel von gleicher Größe vor, deren jeder eine gedruckte Abschrift des Pergamentstreifens enthielt und unten noch freien Raum für einen Namen hatte. Nachdem diese freien Räume ausgefüllt waren, steckte er die fünf Dokumente wieder in die Tasche und eilte fort.

Der Mann mit dem braunen Rock und den geheimnisvollen Dokumenten war kein anderer als unser alter Freund, Herr Jackson, von dem Hause Dodson und Fogg Freemans-Court-Cornhill. Statt in die Schreibstube zurückzukehren, aus der er gekommen, lenkte er seine Schritte gerade auf Sun Court zu und ging in den »Georg und Geier«, wo er nach Herrn Pickwick fragte.

»Rufe Herrn Pickwicks Diener Tom«, sagte das Kellermädchen im »Georg und Geier«.

»Bemühen Sie sich nicht«, sagte Herr Jackson; »ich komme in Geschäftsangelegenheiten. Wenn Sie mir Herrn Pickwicks Zimmer zeigen wollen, will ich selbst hinaufgehen.«

»Ihr Name, Sir?« fragte der Kellner.

»Jackson«, erwiderte der Schreiber.

Der Kellner eilte die Treppe hinauf, um Herrn Jackson zu melden; aber Herr Jackson überhob ihn dieser Mühe, indem er ihm auf dem Fuße nachfolgte und ins Zimmer trat, ehe jener eine Silbe hervorbringen konnte. Herr Pickwick hatte an diesem Tage seine drei Freunde zu Tisch geladen, und sie saßen alle vor dem Feuer beim Weine, als, wie gesagt, Herr Jackson hereintrat.

»Wie geht’s, Sir?« fragte Herr Jackson, Herrn Pickwick zuwinkend.

Dieser verbeugte sich und sah ihn etwas verblüfft an; denn Herrn Jacksons Züge waren seinem Gedächtnisse nicht mehr gegenwärtig.

»Ich komme von Dodson und Fogg«, bemerkte Herr Jackson im Tone eines Dolmetschers.

Bei diesem Namen stieg Herrn Pickwick das Blut zu Kopf.

»Ich verweise Sie an meinen Anwalt, Sir: Herrn Perker, Grays-Inn«, sagte er. »Kellner, begleiten Sie diesen Herrn hinaus.«

»Bitte um Verzeihung, Herr Pickwick«, fiel Jackson ein, indem er unbefangen seinen Hut ablegte und den Pergamentstreifen aus der Tasche zog. »Aber persönliche Einhändigung durch einen Schreiber oder Agenten; in solchen Fällen – Sie wissen ja, Herr Pickwick, bei Rechtsgeschäften geht nichts über die Vorsicht – wie?«

Hier warf Herr Jackson einen Blick auf das Pergament, stützte sich mit den Händen auf den Tisch, sah sich mit einem gewinnenden und beredten Lächeln ringsum und sagte:

»Nun, lassen Sie uns über eine solche Kleinigkeit nicht viel Worte machen. Wer von diesen Herren heißt Snodgraß?«

Auf diese Frage machte Herr Snodgraß eine so unzweideutige und unwiderstehliche Geste, daß es keiner ferneren Erklärung bedurfte.

»Ah, ich habe mir’s doch gedacht«, sagte Herr Jackson noch freundlicher als zuvor. »Ich habe hier eine Kleinigkeit, womit ich Sie belästigen muß, Sir.«

»Mich?« rief Herr Snodgraß.

»Es ist nur eine Vorladung in der Prozeßsache Bardell gegen Pickwick, im Namen der Klägerin zu erscheinen«, erwiderte Jackson, einen von den Papierschnipseln aussondernd und einen Schilling aus seiner Westentasche hervorziehend. »Sie wird dem anberaumten Termin zufolge am 14. Februar fällig; wir haben ein Spezialgericht beantragt, aber es sind erst zehn Zeugen angesetzt. Hier ist Ihre Vorladung, Herr Snodgraß.«

Während Jackson so sprach, zeigte er Herrn Snodgraß das Pergament und drückte ihm das Papier und den Schilling in die Hand.

Herr Tupman hatte dem Auftritt mit stummem Erstaunen zugesehen, als sich Jackson mit einem scharfen Blicke an ihn wandte.

»Ich irre wohl nicht«, sagte er, »wenn ich glaube, Sie heißen Tupman?«

Herr Tupman sah auf Herrn Pickwick, aber da er in den weitgeöffneten Augen dieses Herrn keine Aufforderung zur Verleugnung seines Namens entdeckte, sagte er:

»Ja, ich heiße Tupman.«

»Und dieser andere Herr ist vermutlich Herr Winkle?« fuhr Jackson fort.

Herr Winkle stotterte eine bejahende Antwort hervor; und beiden Herren wurde sofort von dem gewandten Herrn Jackson je ein Papierstreifen und ein Schilling zugesteckt.

»Ich besorge«, sagte Jackson, »Sie werden mich für aufdringlich halten, aber ich muß noch nach jemand fragen, wenn Sie es nicht anmaßend finden. Ich habe hier auch den Namen Samuel Weller, Herr Pickwick.«

»Schicken Sie nach meinem Diener, Kellner«, sagte Herr Pickwick. Der Kellner entfernte sich äußerst erstaunt, und Herr Pickwick bot Herrn Jackson einen Stuhl an.

Es trat eine ziemliche Pause ein, die endlich von dem unschuldig Beklagten unterbrochen wurde.

»Ich vermute, Sir«, bemerkte Herr Pickwick mit steigendem Unwillen; »ich vermute, Sir, Ihre Prinzipale haben die Absicht, mich durch das Zeugnis meiner eigenen Freunde zu stürzen?«

Herr Jackson legte seinen Zeigefinger mehrere Male an die linke Seite seiner Nase, um dadurch anzudeuten, daß er nicht aus der Schule schwatzen dürfe, und bemerkte: »Kann’s nicht sagen.«

»Wozu werden denn meine Freunde vorgeladen, wenn es nicht aus diesem Grunde geschieht?« fuhr Herr Pickwick fort.

»Eine verfängliche Frage, Herr Pickwick«, erwiderte Jackson mit langsamem Kopfschütteln. »Aber es geht nicht. Sie mögen es anstellen, wie Sie wollen; aus mir sollen Sie wenig herausbringen.«

Hier lächelte Herr Jackson die Gesellschaft wieder an, und seinen linken Daumen an die Nasenspitze setzend, ahmte er mit der rechten Hand die Bewegung nach, als drehe er eine Kaffeemühle – eine höchst graziöse Pantomime, die damals sehr beliebt war, aber jetzt leider beinahe ganz abgekommen ist und mit dem vertraulichen Namen »das Schleiferdrehen« bezeichnet wurde.

»Nein, nein, Herr Pickwick«, bemerkte Jackson noch schließlich: »Perkers Leute müssen den Zweck dieser Vorladungen selbst erraten. Wenn ihnen das nicht gelingt, so müssen sie eben warten, bis die Sache vorgenommen wird, und dann werden sie schon dahinterkommen.«

Herr Pickwick warf einen Blick höchsten Widerwillens auf seinen unwillkommenen Gast und würde wahrscheinlich irgendeinen schauderhaften Fluch auf die Häupter der Herren Dodson und Fogg herabgerufen haben, hätte ihn nicht in diesem Augenblick Sams Eintritt unterbrochen.

»Samuel Weller?« bemerkte Herr Jackson im Tone der Frage.

»Eine von den wenigen wirklichen Wahrheiten, die Sie seit vielen Jahren gesagt haben«, versetzte Sam mit dem gelassensten Tone.

»Hier ist eine peremtorische Vorladung für Sie, Herr Weller«, sagte Jackson.

»Was heißt das in unserer guten Muttersprache?« fragte Sam.

»Hier ist das Original«, fuhr Jackson fort, ohne sich auf die verlangte Erklärung einzulassen.

»Welches?« fragte Sam.

»Das hier«, erwiderte Jackson, ihm das Pergament hinhaltend.

»So, das ist das Riginal«, sagte Sam. »Nun, es freut mich sehr, das Riginal zu sehen, denn es ist ein hübsches Ding und macht einem Spaß.«

»Und hier ist der Schilling«, fuhr Jackson fort. »Er ist von Dodson und Fogg.«

»Nun, es ist doch recht schön von Dodson und Fogg, die mich so wenig kennen, daß sie mir ein Geschenk schicken«, sagte Sam. »Ich bin ihnen für diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit sehr verbunden, Sir: und es macht ihnen sehr viel Ehre, daß sie das Verdienst zu belohnen wissen, wo sie es finden. Ja, es muß einen rühren.«

Bei diesen Worten rieb sich Herr Weller nach der beliebten Manier der Schauspieler, wenn sie rührende Szenen darstellen, mit dem Rockärmel das rechte Augenlid.

Herr Jackson schien durch Sams Benehmen etwas aus dem Konzept gebracht: aber da er die Vorladungen überreicht hatte und nichts weiteres zu sagen wußte, machte er eine Bewegung, als wenn er den einzigen Handschuh, den er Renommage halber gewöhnlich in der Hand trug, anziehen wollte, und kehrte in seine Schreibstube zurück, um Bericht zu erstatten.

Herr Pickwick schlief in dieser Nacht wenig: sein Gedächtnis war durch die Erinnerung an seinen Prozeß auf eine höchst unangenehme Weise aufgefrischt worden. Er frühstückte am folgenden Morgen beizeiten und machte sich in Sams Begleitung nach dem Grays- Innviertel auf den Weg.

»Sam!« sagte Herr Pickwick, als sie ans Ende von Cheapside gekommen waren, sich rings umsehend.

»Sir?« erwiderte Sam stehenbleibend.

»Welchen Weg?«

»Die New-Gate-Straße hinauf.«

Herr Pickwick schlug den bezeichneten Weg nicht sogleich ein, sondern sah einige Sekunden lang seinem Diener mit einem undurchsichtigen Blick ins Gesicht und stieß einen schweren Seufzer aus.

»Was ist Ihnen, Sir?« fragte Sam.

»Diese Klagsache, Sam, soll also am 14. des nächsten Monats vorkommen«, sagte Herr Pickwick.

»Ein merkwürdiges Zusammentreffen das, Sir«, versetzte Sam.

»Wieso merkwürdig, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»’s ist gerade Valentinstag2, Sir«, erwiderte Sam: »ein sehr geeigneter Tag, um über den Bruch eines Eheversprechens zu Gericht zu sitzen.«

Herrn Wellers Anspielung rief nicht das geringste Lächeln auf seines Herrn Gesicht. Herr Pickwick wandte sich alsbald um und ging schweigend seines Weges.

Sie waren eine Strecke weit gegangen, – Herr Pickwick in tiefes Nachdenken versunken, und Sam mit einem Gesichte, das den beneidenswertesten Gleichmut gegen all und jedes ausdrückte, hinter ihm drein, – als er, der immer darauf bedacht war, seinem Herrn mitzuteilen, was er wußte, seine Schritte beschleunigte, bis er hart hinter Herrn Pickwick stand und auf ein Haus, an dem sie vorüberkamen, deutend, sagte:

»Ein sehr hübscher Fleischladen das, Sir.«

»Ja, es scheint so«, erwiderte Herr Pickwick.

»Berühmte Wurstfabrik«, bemerkte Sam.

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Ja, wirklich«, wiederholte Sam mit wichtigem Tone: »das will ich meinen. Nun, Sir, Gott segne Ihre unschuldigen Augen: das ist dasselbe Haus, wo vor vier Jahren ein achtbarer Handelsmann auf so geheimnisvolle Weise verschwand.«

»Er wurde doch nicht ermordet, Sam?« fragte Herr Pickwick, sich hastig umsehend.

»Nein, das nicht, Sir«, erwiderte Herr Weller, »aber ich wollte, er wäre ermordet worden, denn es ging ihm noch viel schlimmer. Er war der Eigentümer dieses Ladens und der Erfinder der Patentwurstdampfmaschinen, die einen Pflasterstein, der ihr zu nahe kam, ergriff, und so leicht, wie wenn es ein kleines Kind wäre, in Würste zerhackte. Er war sehr stolz auf diese Maschine, wie sich von selbst versteht, stand im Keller und sah ihr zu, wenn sie in voller Tätigkeit war, bis er vor Freude ganz melancholisch wurde. Die Maschinen nebst zwei lieblichen Kindern hätten ihn zu einem sehr glücklichen Mann machen können, wenn ihn nicht seine Frau daran verhindert hätte, die eine wilde Hexe war. Sie verfolgte ihn überall und lag ihm immer in den Ohren, bis er es endlich nicht mehr aushalten konnte.

›Ich will dir was sagen, meine Liebe‹, sagte er eines Tages: ›wenn du diese Unterhaltungsart beibehältst‹, sagte er, ›will ich verdammt sein, wenn ich nicht nach Amerika gehe; und damit Punktum.‹ – ›Du bist ein Taugenichts!‹ sagte sie, ›und ich wünsche den Amerikanern zu dieser Erwerbung Glück.‹ Auf das tut sie ihm noch eine halbe Stunde lang den Rost herunter, läuft dann in das Ladenstübchen und fängt an zu schreien: er werde noch ihr Tod sein, und bekommt einen Anfall, der drei volle Stunden dauert – einen von jenen Anfällen, wobei man unaufhörlich schreit und mit Händen und Füßen um sich schlägt. Gut, am andern Morgen wurde der Mann vermißt. Er hatte nichts aus der Kasse genommen, hatte sogar nicht einmal seinen großen Mantel angezogen, es war also augenscheinlich, daß er nicht nach Amerika gegangen war. Kam am andern Tag nicht, kam in der andern Woche nicht: die Frau läßt in öffentlichen Blättern bekanntmachen, wenn er zurückkomme, so solle ihm alles vergeben sein (was sehr großmütig war, da sie sah, daß er nichts getan hatte). Alle Kanäle wurden untersucht, und wenn man in den nächsten zwei Monaten eine Leiche fand, so wurde sie in den Wurstladen gebracht, wie wenn sich das von selbst verstände. Da man aber in keiner von ihnen den Vermißten erkannte, so streute man aus, er sei davongelaufen, und sie setzte das Geschäft fort. Eines Sonnabends abends kommt ein kleiner, hagerer, alter Herr in großer Aufregung in den Laden und sagt: ›Sind Sie die Herrin dieses Ladens?‹ – ›Ha, das bin ich‹, sagt sie. – ›Gut, Madame‹, sagt er, ›dann habe ich Ihnen zu sagen, daß ich und meine Familie für nichts und wieder nichts beinahe erstickt waren: und noch mehr, Madame‹, sagte er, ›Sie werden mir eine Bemerkung erlauben: da Sie nicht gerade das auserlesenste Fleisch in Ihrer Wurstfabrik verwenden, so meine ich, Rindfleisch würde Sie nicht viel mehr kosten als Hosenknöpfe.‹ – ›Hosenknöpfe, Sir?‹ sagt sie. – ›Ja, Hosenknöpfe, Madame‹, sagt der kleine, alte Herr, ein Papier aufmachend und ihr zwanzig bis dreißig halbe Knöpfe zeigend. ›Hosenknöpfe, Madame, sind ein hübsches Gewürz für Würste.‹ – ›Das sind meines Mannes Knöpfe‹, sagt die Witwe und wird ohnmächtig. – ›Was?‹ schreit der kleine, alte Herr erbleichend. – ›Jetzt geht mir ein Licht auf‹, sagte die Witwe: ›er hat sich in einem Anfall vorübergehenden Wahnsinns voreilig in Würste verwandelt!‹ Und so war es denn auch«, fügte Herr Weller, Herrn Pickwick ruhig in das schreckensbleiche Gesicht sehend; »oder er wurde sonstwie in die Maschine geworfen, aber es mag nun sein, wie es will, der kleine, alte Herr, der schon von Kindheit auf in diese Würste vernarrt war, stürzte ganz außer sich aus dem Laden und ließ nie wieder etwas von sich hören.«

Bei dem Schlusse dieser rührenden Erzählung aus dem Privatleben waren Herr und Diener in der Wohnung Herrn Perkers angekommen. Lowten unterhielt sich in der halb offenen Tür mit einem schlecht gekleideten, erbärmlich aussehenden Mann in Stiefeln ohne Zehen und Handschuhe ohne Finger. Sein eingefallenes und abgehärmtes Gesicht trug die Spuren der Entbehrung und des Leidens, ja, beinahe der Verzweiflung; er fühlte seine Armut, denn er trat beim Nahen Herrn Pickwicks in den Schatten der Treppe zurück.

»Es ist sehr mißlich«, sagte der Fremde mit einem Seufzer.

»Allerdings«, erwiderte Lowten, seinen Namen mit dem Kiele an den Türpfosten kritzelnd und mit der Fahne der Feder wieder auswischend. »Soll ich ihm etwas ausrichten?«

»Wann glauben Sie wohl, daß er zurückkommt?« fragte der Fremde.

»Ganz unbestimmt«, erwiderte Lowten, Herrn Pickwick zuwinkend, als der Fremde die Augen zu Boden schlug.

»Glauben Sie nicht, daß ich ihn hier erwarten kann?« fragte der Fremde mit einem sehnsüchtigen Blick in die Schreibstube.

»O nein, das können Sie nicht«, erwiderte der Schreiber, sich mehr in die Mitte der Tür stellend. »In dieser Woche kommt er nicht mehr zurück, und es ist eine Frage, ob es in der nächsten der Fall sein wird; denn wenn Perker einmal in die Stadt geht, so hat es mit seiner Rückkehr keine sonderliche Eile.«

»Er ist in der Stadt?« sagte Herr Pickwick; »ach Gott, wie mißlich!«

»Bleiben Sie doch, Herr Pickwick«, sagte Lowten, »ich habe einen Brief an Sie.«

Der Fremde schien unschlüssig und sah abermals auf den Boden, und der Schreiber warf Herrn Pickwick einen schlauen Blick zu, als wollte er ihm bedeuten, daß es einen höchst ergötzlichen Spaß absetzen würde; worin jedoch der Spaß bestände, konnte Herr Pickwick um alle Welt nicht erraten.

»Treten Sie ein, Herr Pickwick«, sagte Lowten. »Nun, wollen Sie mir einen Auftrag geben, Herr Watty, oder wollen Sie wieder vorsprechen?«

»Bitten Sie ihn freundlichst, zu hinterlassen, was in meiner Sache geschehen sei«, sagte der Mann; »aber ich bitte Sie um Gottes willen, vergessen Sie es nicht, Herr Lowten.«

»Nein, nein, ich werde es nicht vergessen«, erwiderte der Schreiber. »Treten Sie ein, Herr Pickwick. Guten Morgen, Herr Watty; ein schöner Tag zum Spazierengehen – nicht wahr?«

Und als er sah, daß der Fremde immer noch zögerte, winkte er Sam Weller, mit seinem Herrn einzutreten und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

»Einen solchen lästigen Bankerotteur hat es, glaube ich, seit Erschaffung der Welt nicht gegeben«, sagte Lowten, seine Feder mit der Miene eines schwer gekränkten Mannes auf den Tisch werfend. »Seine Sachen liegen noch nicht volle vier Jahre in unserer Kanzlei, und ich will verdammt sein, wenn er uns nicht jede Woche zweimal zur Last fällt. Treten Sie hier ein, Herr Pickwick. Perker ist zu Hause und wird Sie empfangen; ich weiß es. Teuflisch kalt«, setzte er verdrießlich hinzu. »Unter der Tür stehen und sich von einem solchen lumpigen Landstreicher um seine Zeit bringen lassen zu müssen!«

Und nachdem er in großer Aufregung mit einem außerordentlich kleinen Eisen ein außerordentlich großes Feuer angeschürt hatte, ging er in das Studierzimmer seines Prinzipals und meldete Herrn Pickwick an.

»Ach, mein lieber Herr«, sagte der kleine Herr Perker, von seinem Stuhl aufspringend: »was gibt’s neues in Ihrer Angelegenheit? Wieder etwas von unsern Freunden in Freemans Court? Ich weiß, sie haben diese Zeit über nicht geschlafen. O, es sind rührige Burschen – sehr rührig, ich versichere Sie!«

Als der kleine Mann seine Rede schloß, nahm er mit wichtiger Miene eine Prise Tabak, um dadurch der Rührigkeit der Herren Dodson und Fogg seine Huldigung darzubringen.

»Große Spitzbuben sind es«, sagte Herr Pickwick.

»Nun, nun«, versetzte der kleine Mann, »wie man’s nimmt. Wir wollen nicht über Worte streiten, denn natürlich kann man von Ihnen nicht erwarten, daß Sie die Sache mit den Augen eines Mannes vom Fache ansehen. Gut, wir haben alles getan, was zu tun war. Ich habe den Prokurator Snubbin gewonnen.«

»Ist er gut?« fragte Herr Pickwick.

»Gut?« erwiderte Perker. »Beim Himmel, mein lieber Herr, Snubbin ist das vollendete Muster eines Rechtsanwalts. Hat dreimal soviel zu tun, als irgendein anderer Advokat – ist bei allen Gerichtssachen beteiligt. Sie brauchen es nicht weiter zu sagen, aber wir Leute vom Fach meinen, der Prokurator Snubbin führe den Gerichtshof an der Nase herum.«

Bei dieser Mitteilung nahm der kleine Mann eine zweite Prise und warf Herrn Pickwick einen geheimnisvollen Wink zu.

»Man hat meine drei Freunde vorgeladen«, sagte Herr Pickwick.

»Das war natürlich«, erwiderte Perker. »Wichtige Zeugen; sahen Sie in einer delikaten Situation.«

»Aber sie wurde mit Willen ohnmächtig«, warf Herr Pickwick ein: »sie fiel mir absichtlich in die Arme.«

»Sehr wahrscheinlich, mein lieber Herr«, versetzte Perker; »sehr wahrscheinlich und sehr natürlich. Nichts natürlicher, mein lieber Herr – durchaus nichts. Aber womit beweisen Sie das?«

»Sie haben auch meinen Diener vorgeladen«, sagte Herr Pickwick, diesen Punkt fallen lassend, denn Herrn Perkers Frage hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht.

»Sam?« fragte Perker.

Herr Pickwick bejahte.

»Natürlich, mein lieber Herr, natürlich. Sie mußten das tun; ich hätte Ihnen das schon vor einem Monat sagen können. Es versteht sich von selbst, mein lieber Herr, wenn Sie Ihre Sache selbst führen wollen, nachdem Sie dieselbe Ihrem Sachwalter übergeben haben, müssen Sie auch die Folgen davon tragen.«

Hier richtete sich Herr Perker im Bewußtsein seiner Würde auf und streifte einige verirrte Schnupftabakskörner von seiner Hemdkrause ab.

»Und was wollen Sie denn durch ihn beweisen?« fragte Herr Pickwick nach einer Pause von zwei bis drei Minuten.

»Ich vermute, Sie haben ihn zu der Klägerin geschickt, um ihr einen Vergleich anzubieten«, erwiderte Perker. »Es hat aber nicht viel zu sagen, denn ich glaube, aus ihm werden sie wenig herausbringen.«

»Dieser Ansicht bin ich auch«, bemerkte Herr Pickwick, trotz seiner Verstimmung bei dem Gedanken an Sams Auftreten vor Gericht lächelnd. »Was sollen wir aber anfangen?«

»Es steht uns nur ein Weg offen, mein lieber Herr«, erwiderte Perker; »nämlich den Zeugen Querfragen vorzulegen, Snubbins Beredsamkeit zu vertrauen, dem Richter Staub in die Augen und der Juri uns selbst in die Arme zu werfen.«

»Und gesetzt, der Spruch fiel gegen mich aus?« sagte Herr Pickwick.

Herr Perker lächelte, nahm ganz gemächlich eine Prise Tabak, schürte das Feuer, zuckte die Achseln und beobachtete ein bedeutungsvolles Stillschweigen.

»Sie glauben, daß ich in diesem Falle die Entschädigung zahlen müßte?« fragte Herr Pickwick, der die eilige Antwort mit großer Aufmerksamkeit beobachtet hatte.

Perker gab dem Brennstoff noch einen höchst unnötigen Stoß und sagte:

»Ich fürchte, ja.«

»Dann erlauben Sie mir, Ihnen meinen unabänderlichen Entschluß kund zu tun, durchaus keine Entschädigung zu zahlen«, sagte Herr Pickwick mit großem Nachdruck. »Durchaus keine, Perker. Nicht ein Pfund, nicht einen Pfennig von meinem Gelde soll den Weg in Dodson und Foggs Taschen finden. Das ist mein wohlüberlegter und unwiderruflicher Entschluß.«

Und zur Bestätigung der Unwiderrruflichkeit seiner Absicht schlug Herr Pickwick heftig auf den Tisch.

»Ganz recht, mein lieber Herr, ganz recht«, sagte Herr Perker; »Sie müssen das natürlich am besten wissen.«

»Natürlich«, erwiderte Herr Pickwick hastig. »Wo wohnt Prokurator Snubbin?«

»In Lincolns Inn, Old Square«, versetzte Perker.

»Ich möchte ihn sprechen«, sagte Herr Pickwick.

»Prokurator Snubbin sprechen, mein lieber Herr?« fiel Perker im Tone des höchsten Erstaunens ein. »Aber – aber, mein lieber Herr, das ist unmöglich. Prokurator Snubbin sprechen! Wo denken Sie hin, mein lieber Herr? So was ist noch nie erhört worden, ohne daß die Konsultationsgebühr vorher entrichtet und die Konsultation anberaumt war. Es geht durchaus nicht, mein lieber Herr, geht durchaus nicht.«

Aber Herr Pickwick hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß es nicht nur gehen könne, sondern daß es sogar gehen müsse; und die Folge davon war, daß er zehn Minuten, nachdem er die Versicherung erhalten, es könne unmöglich sein, von seinem Sachwalter in das Vorzimmer des großen Prokurators Snubbin geführt wurde.

Es war ein ziemlich geräumiges Gemach, in dem man Fußteppiche vermißte. Vor dem Feuer stand ein großer Schreibtisch, dessen wollener Überzug längst seine Ansprüche auf sein ursprüngliches Grün aufgegeben hatte, und mit Ausnahme der Stellen, deren natürliche Farbe durch Tintenflecke verwischt war, vom Staub und Alter allmählich grau geworden war. Auf dem Tische lagen eine Menge kleiner Bündel Papiere, die mit rotem Zwirn zusammengebunden waren, und hinter diesen saß ein ältlicher Schreiber, dessen stattliches Äußere und schwere goldene Uhrkette den imponierenden Beweis von der ausgedehnten und einträglichen Praxis des Herrn Prokurator Snubbin ablegte.

»Herr Mallard, ist der Prokurator auf seinem Zimmer?« fragte Perker, mit aller erdenklichen Höflichkeit dem Schreiber seine Dose hinhaltend.

»Ja«, war die Antwort, »hat aber vollauf zu tun. Sehen Sie hier, in all diesen Sachen ist noch kein Gutachten ausgestellt, und von allen sind bereits die Expeditionsgebühren bezahlt.«

Bei diesen Worten lächelte der Schreiber und schnupfte mit einem Behagen, das teils von seiner Vorliebe für den Schnupftabak, teils von seiner Lust an Gebühren herzurühren schien.

»Das heißt eine Praxis«, bemerkte Perker.

»Ja«, antwortete der Schreiber des Rechtsgelehrten, seine eigene Dose aus der Tasche nehmend und sie mit der größten Freundlichkeit anbietend, »Und das beste dabei ist, daß niemand des Prokurators Handschrift lesen kann als ich, und die Leute also, nachdem die Gutachten schon ausgestellt sind, warten müssen, bis ich sie abgeschrieben habe, ha, ha, ha!«

»Was noch außer dem Prokurator einem gewissen Jemand zugut kommt, der aus den Klienten noch etwas mehr herauslockt – nicht wahr?« sagte Perker: »ha, ha, ha!«

Darauf lachte des Prokurators Schreiber wieder – aber nicht laut, sondern still im Innern, was Herrn Pickwick gar nicht gefiel. Wenn jemand innerlich blutet, so ist es gefährlich für ihn selbst: aber wenn er innerlich lacht, so bedeutet es andern Leuten nichts Gutes.

»Haben Sie mir die Gebühren noch nicht ausgeschrieben, die ich Ihnen noch schulde?« fragte Herr Perker.

»Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen«, erwiderte der Schreiber.

»Es wäre mir lieb, wenn Sie’s täten«, sagte Perker. »Stellen Sie mir die Rechnung zu, dann werde ich Ihnen eine Anweisung schicken: aber ich vermute, Sie haben zu viel mit der Einnahme des Laufenden zu tun, als daß Sie an ihre Ausstände denken könnten – nicht wahr? Ha, ha, ha!«

Dieser Witz schien den Schreiber außerordentlich zu kitzeln, und er lachte wieder innerlich.

»Aber Herr Mallard, mein teurer Freund«, sagte Perker, plötzlich wieder ernst werdend und den großen Gehilfen des großen Mannes am Rockzipfel in eine Ecke ziehend, »Sie müssen den Prokurator dazu bewegen, mich und meinen Klienten vor sich zu lassen.«

»Gehen Sie, gehen Sie,« erwiderte der Schreiber; »Sie sind wohl nicht bei Trost« – den Prokurator sprechen! Gehen Sie, das ist zu absurd.«

Ungeachtet der Absurdität des Gesuchs ließ jedoch der Schreiber Herrn Perker noch mehr darüber reden; und nach einem kurzen Geflüster ging er leise einen schmalen dunklen Gang hinab und verschwand in dem Allerheiligsten des Gesetzes, aus dem er bald nachher auf den Zehen wieder hervorkam und Herrn Perker und Herrn Pickwick eröffnete, der Prokurator sei dazu überredet worden, sie gegen alle hergebrachte Ordnung und Gewohnheit sogleich vor sich zu lassen.

Herr Prokurator Snubbin hatte ein mageres, erdfahles Gesicht und zählte ungefähr fünfundvierzig Jahre, oder wie die Novellisten sagen – er war ein Fünfziger. Er hatte jenes düstere, ausgebrannte Auge, das man so oft bei Leuten sieht, die sich eine Reihe von Jahren hindurch einem langwierigen und mühevollen Studium gewidmet haben – ein Auge, das auch ohne das Augenglas, das an einem breiten schwarzen Bande um seinen Nacken hing, einen Fremden auf den Gedanken bringen mußte, er sei sehr kurzsichtig. Sein Haar war dünn und kurz, was teils dem Mangel an Zeit für seine Toilette, teils einer neben ihm hängenden Juristenperücke, die er fünfundzwanzig Jahre lang getragen hatte, zugeschrieben werden mußte. Die Spuren von Puder auf seinem Rockkragen und das beschmutzte und verschobene weiße Halstuch deuteten darauf hin, daß er seit seiner Rückkehr vom Gerichtssaal noch keine Zeit gefunden hatte, eine Änderung in seinem Anzuge vorzunehmen, während die sonstige Nachlässigkeit in seinem Äußern die Vermutung begründete, seine Person würde wenig dabei gewonnen haben, wenn es auch der Fall gewesen wäre. Bücher über das Gerichtswesen, Stöße von Akten und offene Briefe waren ohne alle Rücksicht auf Anordnung und Symmetrie auf dem Tisch zerstreut. Die Einrichtung des Zimmers war alt und schadhaft; die Türen des Bücherschrankes rosteten in ihren Angeln. Bei jedem Schritt flog der Staub in kleinen Wolken von dem Fußteppich auf; die Vorhänge hatten vom Alter und Schmutz gelbbraune Farbe angenommen, und alles im Zimmer wies unzweideutig darauf hin, daß Herr Prokurator Snubbin viel zu viel mit seinen Berufsgeschäften zu tun hatte, als daß er seiner Person viel Aufmerksamkeit schenken konnte.

Der Prokurator schrieb, als seine Klienten eintraten; er verbeugte sich kurz, als Herr Pickwick durch seinen Sachwalter vorgestellt wurde, und ersuchte sie dann, Platz zu nehmen, steckte seine Feder sorgfältig in das Tintenfaß, strich über sein linkes Bein und erwartete die Eröffnung des Vortrags.

»Herr Pickwick ist der Beklagte in der Sache Bardell und Pickwick, Prokurator Snubbin«, sagte Perker.

»Bin ich dabei interessiert?« fragte der Prokurator.

»Ja, Sir«, erwiderte Perker.

Der Prokurator nickte mit dem Kopfe und wartete auf weiteres.

»Herr Pickwick wünschte mit Ihnen zu sprechen, Prokurator Snubbin«, sagte Perker, »um Sie vorläufig zu versichern, daß er es in Abrede stellt, irgendeinen Grund oder Vormund zu der Klage gegen ihn gegeben zu haben; und daß er gar nicht vor Gericht aufträte, wenn er nicht mit reinem Gewissen und mit der festesten Überzeugung, daß er das größte Recht habe, die Klage zurückzuweisen, erscheinen könnte. Ich glaube, Ihre Ansicht ganz richtig auszusprechen, nicht wahr, lieber Herr?« sagte der kleine Mann, sich an Herrn Pickwick wendend.

»Ganz richtig«, erwiderte dieser Gentleman.

Herr Prokurator Snubbin nahm seine Lorgnette, hielt sie vor die Augen, betrachtete Herrn Pickwick einige Sekunden lang mit großer Aufmerksamkeit, wandte sich dann an Herrn Perker und fragte mit leichtem Lächeln:

»Ist die Sache Herrn Pickwicks sicher?«

Der Anwalt zuckte die Achseln.

»Lassen Sie Zeugen vorladen?«

»Nein.«

Das Lächeln auf dem Gesicht des Prokurators nahm einen bestimmteren Ausdruck an: er wiegte sein Bein stärker, und sich in seinem bequemen Stuhl zurücklehnend, hustete er zweideutig.

Diese Andeutungen der Gedanken des Prokurators über den Gegenstand mochten so unbedeutend sein, wie sie wollten, sie entgingen der Aufmerksamkeit Herrn Pickwicks nicht. Er setzte die Brille, durch die er das Mienenspiel des Rechtsgelehrten beobachtete, fester auf die Nase und sagte ohne alle Rücksicht auf Herrn Perkers Winke und Stirnrunzeln mit großem Nachdruck –

»Mein Wunsch, Sie in solcher Angelegenheit zu sprechen, Sir, erscheint einem Mann, der notwendig so viel mit derlei zu tun hat, ohne Zweifel höchst sonderbar.«

Der Prokurator machte den Versuch, mit ernster Miene aufs Feuer zu sehen, aber das Lächeln kam ihm wieder.

»Herren von Ihrem Fach, Sir«, fuhr Herr Pickwick fort, »sehen die schlechteste Seite der menschlichen Natur – alle ihre Streitsucht, alle ihre Böswilligkeit und Gehässigkeit entschleiert sich

vor Ihnen. Sie wissen aus Erfahrung, wieviel bei den Geschworenengerichten auf den äußeren Eindruck ankommt (ich will damit weder Ihnen, noch diesen zunahetreten): und die sind geneigt, bei andern ein Verlangen vorauszusetzen, die Mittel, die Sie aus den reinsten, ehrenvollsten Gründen und in der löblichen Absicht, Ihren Klienten so nützlich wie möglich zu werden, stets in Anwendung zu bringen und die sie in der Praxis nach ihrem vollen Wert schätzen gelernt haben – Sie sind geneigt, sage ich, bei andern die Neigung vorauszusetzen, diese Mittel zum Betrug und zu selbstsüchtigen Zwecken zu mißbrauchen. Ich glaube in der Tat, daß dieser Umstand die gemeine, aber sehr verbreitete Ansicht hervorgerufen hat, als wäre Ihr Stand ein argwöhnischer, mißtrauischer und allzu vorsichtiger. Ich weiß, Sir, daß mir unter den gegebenen Verhältnissen eine solche Erörterung Ihnen gegenüber nur schaden kann. Trotzdem bin ich zu Ihnen gekommen, um in dem, was mein Freund Herr Perker gesagt hat, genau verstanden zu werden: nämlich daß ich an der Treulosigkeit, die mir zur Last gelegt wird, unschuldig bin. Wenn ich auch von dem unschätzbaren Wert Ihres Beistandes überzeugt bin, Sir, so erlauben Sie mir doch zu bemerken, daß ich, im Falle Sie mir nicht unbedingt Glauben schenken, die Unterstützung Ihrer Talente lieber entbehren, als genießen möchte.«

Lange bevor Herr Pickwick diese Rede, die wirklich im Verhältnis zum Geist des Redners sehr prosaisch war, beschlossen hatte, war der Prokurator in tiefes Nachdenken versunken. Nach einigen Minuten aber, während deren er seine Feder wieder ergriffen hatte, schien er sich der Anwesenheit seiner Klienten wieder zu erinnern, und den Kopf vom Papiere erhebend, fragte er etwas auffahrend –

»Wer ist mein Adjunkt in dieser Sache?«

»Herr Phunky, Prokurator Snubbin«, erwiderte der Anwalt.

»Phunky – Phunky«, sagte der Prokurator; »diesen Namen habe ich noch nie gehört. Es muß ein sehr junger Mann sein.«

»Ja, es ist ein sehr junger Mann«, versetzte der Anwalt. »Er ist erst kürzlich zugelassen. Warten Sie, ich will mich besinnen – ah, es fällt mir ein: es sind noch keine acht Jahre, daß er zugelassen ist.«

»Ah, das habe ich mir gedacht«, sagte der Prokurator in jenem mitleidigen Ton, in dem man gewöhnlich von kleinen, hilflosen Kindern spricht. – »Herr Mallard, schicken Sie nach Herrn – Herrn –«

»Phunky – Holborn Court, Grays Inn«, fiel Perker ein – (Holborn Court ist, beiläufig gesagt, das jetzige South-Square) – »Herr Phunky, und lassen Sie ihm sagen, es würde mich freuen, wenn er sich auf einen Augenblick hierher bemühen wollte.«

Herr Mallard entfernte sich, um seinen Auftrag auszurichten, und Prokurator Snubbin versank wieder in Nachdenken, bis Herr Phunky erschien.

Obgleich als Sachwalter noch ein Kind, war er doch ein völlig ausgewachsener Mann. Er war in seinem Benehmen außerordentlich schüchtern und sprach immer mit dem zitternden Ton der Befangenheit, was jedoch nicht von einem Naturfehler, sondern vielmehr von einer gewissen blöden Scheu herzurühren schien. Diese entsprang aus dem Bewußtsein, daß er durch den Mangel an Geld oder Gönner oder Verbindungen oder Unverschämtheit »niedergehalten« wurde. Er sah mit Ehrfurcht an dem Prokurator empor und machte dem Anwalt eine tiefe Verbeugung.

»Ich habe noch nie das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen, Herr Phunky«, sagte Prokurator Snubbin mit vornehmer Herablassung.

Herr Phunky verbeugte sich. Er hatte das Vergnügen gehabt, den Prokurator zu sehen und ihn auch mit dem ganzen Neide des armen Mannes schon acht und ein Vierteljahr lang beneidet.

»Wie ich höre, sollen Sie in dieser Sache mein Adjunkt sein?« fragte der Prokurator.

Wäre Herr Phunky ein reicher Mann gewesen, so hätte er augenblicklich nach seinem Schreiber geschickt, um seinem Gedächtnis nachhelfen zu lassen. Wäre er ein kluger Mann gewesen, so hätte er den Zeigefinger an die Stirn gelegt und sich zu erinnern gesucht, ob er bei der Unzahl seiner Geschäfte auch dieses übernommen habe oder nicht; so aber war er weder reich noch klug (wenigstens in diesem Sinne), errötete also und verbeugte sich.

»Haben Sie die Akten gelesen, Herr Phunky?« fragte der Prokurator.

Hier hätte Herr Phunky die Bemerkung hinwerfen sollen, er habe die ganze Sache vergessen; aber da er die Akten, die ihm im Laufe des Prozesses vorgelegt worden waren, gelesen und seit den zwei Monaten, während deren er zu Herrn Prokurator Snubbins Adjunkten erhoben worden war, Tag und Nacht an nichts anderes mehr gedacht hatte, errötete er noch tiefer und machte eine abermalige Verbeugung.

»Das ist Herr Pickwick«, sagte der Prokurator, mit seiner Feder nach der Stelle hindeutend, wo dieser Herr stand.

Herr Phunky verbeugte sich gegen Herrn Pickwick mit der Ehrerbietung, die ein erster Klient erwecken muß, und verneigte sich dann wieder gegen den Prokurator.

»Sie gehen vielleicht mit Herrn Pickwick«, sagte dieser, »und – und – und hören, was Herr Pickwick Ihnen mitzuteilen hat. Wir werden natürlich eine Besprechung darüber halten.«

Mit dieser Andeutung, daß er jetzt lange genug unterbrochen worden sei, hielt Herr Prokurator Snubbin, der nach und nach immer nachdenklicher geworden war, für einen Augenblick sein Glas vor die Augen, machte nach allen Seiten eine leichte Verbeugung und vertiefte sich wieder in die vor ihm liegenden Akten eines endlosen Prozesses, der durch die Handlung eines vor einigen hundert Jahren verstorbenen Mannes entstanden war. Er, d. h. der Mann, hatte nämlich einen Fußpfad gesperrt, der von einem Orte, wo niemand herkam, nach einem andern führte, wo niemand hinging.

Herr Phunky ließ sich nie darauf ein, durch eine Tür zu gehen, bevor Herr Pickwick und sein Anwalt durchgegangen waren, und so verstrich eine geraume Zeit, bis sie in das Viertel gelangten, Als sie es endlich erreicht hatten, gingen sie auf und nieder und hielten eine lange Konferenz, die darauf hinauslief, daß es sehr schwer zu bestimmen sei, wie der Spruch ausfallen würde; daß sich überhaupt niemand herausnehmen könne, den Ausgang eines Prozesses zu berechnen; daß es ein sehr großes Glück sei, der Gegenpartei in bezug auf die Akquisition des Herrn Snubbin zuvorgekommen zu sein: Ergebnisse, an die sie noch andere Bedenklichkeiten und Trostgründe knüpften, wie sie bei einer solchen Sachlage gewöhnlich vorgebracht werden.

Hierauf wurde Herr Weller von seinem Herrn aus einem süßen Schlafe erweckt, der eine Stunde lang gedauert hatte. Nachdem sie von Herrn Lowten Abschied genommen hatten, kehrten sie nach der City zurück.

  1. Einst Ordenshaus der Tempelherren in London, seit 1346 den Rechtsgelehrten und Gerichtspersonen überlassen.
  2. Am Valentinstag, (14. Februar) bestand in England die alle Sitte, daß junge Männer das Mädchen, dem sie am Valentinstag zuerst begegneten oder dessen Namen sie tags vorher durchs Los gezogen hatten, beschenkten und das ganze Jahr über als ihre Valentine betrachteten. Auch Eheversprechen waren zum Teil mit dem Valentinstag verbunden.

Dreiunddreißigstes Kapitel.


Dreiunddreißigstes Kapitel.

Beschreibt ausführlicher, als es die Staatszeitung je getan hat, eine lustige Abendgesellschaft, die Herr Bob Sawyer in seiner Wohnung im Borough gibt.

In der Gegend von Lantstreet herrscht eine Ruhe, die die Seele mit einer Art von Melancholie überschattet. In dieser Straße sind immer eine Menge Häuser zu vermieten; dazu handelt es sich um eine Nebenstraße, die immer in liebliches Helldunkel gehüllt ist. Ein Haus in Lantstreet würde den Namen einer Residenz erster Klasse im strengen Sinne des Wortes nicht rechtfertigen, aber trotzdem gehört sie zu den Gegenden, die wir jedermann empfehlen können. Hat jemand Lust, sich von der Welt zurückzuziehen, sich aus dem Bereiche der Verführung zu entfernen, der Möglichkeit einer Versuchung zu entgehen, zum Fenster hinauszusehen, so müssen wir ihm angelegentlichst raten, eine Wohnung in Lantstreet zu beziehen.

In dieser glücklichen Zurückgezogenheit haben sich einige Kleisterfabrikanten, eine Gesellschaft von Buchbindergesellen, ein paar Agenten für den Konkursgerichtshof, einige Hausbesitzer von geringerer Ordnung, die auf den Werften verwendet werden, mehrere Damenschneider und sonst noch Zuschneider angesiedelt. Die Mehrzahl der Inwohner richtet ihre Tätigkeit unmittelbar auf die Vermietung möblierter Zimmer zu, oder widmet sich dem gesunden und stärkenden Geschäfte des Mangelns.

Die Hauptschöpfungen in der leblosen Natur der Straße sind grüne Fensterläden, Mietzettel, messingene Türplatten und Glockenzüge; die Hauptarten der belebten sind der Küchenjunge, der Semmelbube und der Kartoffelmann. Die Einwohner sind eine Art von Zugvögeln, sie verschwinden gewöhnlich am Ende der Quartals und meistens zur Nachtzeit. Die Einkünfte seiner Majestät werden in diesem Paradiese nur selten eingesammelt, die Renten sind unsicher und die Wasserleitung wird sehr häufig entzogen.

An dem Abend, zu dem Herr Pickwick eingeladen worden war, zierte Herr Bob Sawyer im Vorderzimmer seines Erdgeschosses die eine und Herr Ben Allen die andere Seite des Kamins. Die Vorbereitungen zur Aufnahme der Gäste schienen bereits vollendet. Die Regenschirme im Hausgange waren in der kleinen Ecke vor der Stubentür untergebracht; die Haube und der Schal des Dienstmädchens vom Treppengeländer entfernt, nur zwei Paar Überschuhe standen auf der Strohmatte an der Haustür, und auf dem Gesimse des Treppenfensters brannte ein munteres Küchenlicht mit einer sehr langen Schnuppe. Herr Bob Sawyer hatte die Getränke in einem Weingeschäft in der Highstreet selbst gekauft und die Träger der Ware nach Hause begleitet, um der Möglichkeit der Ablieferung in einem unrechten Hause vorzubeugen. Der Punsch stand fertig in einem roten Topf im Schlafgemach. Ein mit grünem Tuch bedecktes Tischchen war von einem Mitbewohner des Hauses geborgt worden, um als Spieltisch verwendet zu werden. Die Gläser des Etablissements aber, samt denen, die man aus einem Wirtshause entlehnt hatte, waren alle auf einem Tisch aufgestellt, der auf dem Treppenplatz vor der Tür stand.

Trotz der höchst befriedigenden Art all dieser Anordnungen lag eine Wolke auf Herrn Bob Sawyers Gesicht, als er am Feuer saß. Auch die Züge Herrn Ben Aliens trugen das gleiche Gepräge, während er aufmerksam auf die Kohlen starrte, und seine Stimme hatte etwas Melancholisches, als er nach langem Stillschweigen also sprach:

»Nun, es ist doch fatal, daß sie sich gerade bei dieser Gelegenheit in den Kopf gesetzt hat, böse auszusehen. Sie hätte wenigstens bis morgen warten können.«

»Das ist lauter Bosheit«, versetzte Herr Bob Sawyer heftig: »das ist lauter Bosheit. Sie sagt, wenn ich Gesellschaft geben könne, so müsse ich auch imstande sein, ihre verdammt kleine Rechnung zu bezahlen.«

»Wie lange läuft sie denn jetzt?« fragte Herr Ben Allen.

Eine Rechnung ist, beiläufig gesagt das trefflichste Perpetuum mobile, das der menschliche Scharfsinn je erfunden hat. Sie würde das längste Menschenleben lang laufen, ohne je aus eigenem Antrieb stehenzubleiben.

»Nur etwa einen Monat über ein Vierteljahr«, erwiderte Herr Bob Sawyer.

Ben Allen hustete hoffnungslos und lichtete einen forschenden Blick auf den Berührungspunkt der beiden Stangen am Ofen.

»Es wäre doch eine verdammte Geschichte, wenn sie sich in den Kopf setzen würde, vor der Gesellschaft hier aufzubegehren, nicht wahr?« sagte endlich Herr Ben Allen.

»Schauderhaft«, versetzte Bob Sawyer, »schauderhaft.«

Ein leises Pochen ließ sich an der Zimmertür hören. Herr Bob Sawyer warf seinem Freund einen bedeutsamen Blick zu und rief: »Herein!« worauf ein schmutziges und schlumpiges Mädchen in schwarzen Baumwollenstrümpfen, die für die verwahrloste Tochter eines dienstunfähigen Straßenkehrers in sehr zurückgekommenen Umständen gelten konnte, den Kopf hereinsteckte und sagte:

»Verzeihung, Herr Sawyer, Frau Raddle wünscht Sie zu sprechen.«

Ehe Herr Bob Sawyer etwas erwidern konnte, verschwand das Mädchen plötzlich mit einem gellenden Schrei, wie wenn ihr jemand von hinten einen heftigen Stoß versetzt hätte. Unmittelbar nach diesem geheimnisvollen Verschwinden erfolgte ein abermaliges Klopfen an die Tür – ein kurzes, entschiedenes Klopfen, das zu sagen schien: »Hier bin ich und ich werde hineinkommen.«

Herr Bob Sawyer starrte seinen Freund mit einem Blick hoffnungsloser Angst an und rief abermals:

»Herein!«

Der Hereinruf wäre indessen nicht notwendig gewesen, denn ehe Herr Bob Sawyer das Wort ausgesprochen hatte, stürzte ein trotziges Weiblein ins Zimmer, an allen Gliedern zitternd vor Zorn und blaß vor Wut.

»Nun, Herr Sawyer«, sagte das trotzige Weiblein, indem sie sich bemühte, möglichst ruhig zu erscheinen: »wenn Sie die Güte haben wollen, meine kleine Rechnung da zu berichtigen, werden Sie mich sehr verbinden, denn ich muß heute mittag ebenfalls meine Miete bezahlen, und der Hausbesitzer wartet unten.«

Hier rieb das Weiblein die Hände und blickte entschieden über Herrn Sawyers Kopf hin nach der Wand, vor der er saß.

»Es tut mir sehr leid. Sie in irgendeine Verlegenheit bringen zu müssen, Frau Raddle«, erwiderte Bob Sawyer demütig, »aber –«

»O, es ist keine Verlegenheit«, entgegnete die kleine Frau mit einem gellenden Lachen. »Ich brauchte es vor heute nicht, und da ich es doch sogleich meinem Hausherrn geben muß, so war es mir ganz gleichgültig, ob Sie es hatten, oder ich, Sie haben mir es auf heute nachmittag versprochen, Herr Sawyer, und jeder Ehrenmann, der je hier wohnte, hat sein Wort gehalten, Sir, wie man auch natürlicherweise von jedem erwarten muß, der sich für einen Ehrenmann ausgibt.«

Und Frau Raddle schüttelte ihr Haupt, biß sich in die Lippen, rieb ihre Hände noch stärker und blickte trotziger als je nach der Wand hin. Man konnte deutlich sehen, wie Herr Bob bei einer späteren Gelegenheit in orientalisch-allegorischem Stil bemerkte, daß sie zu »dampfen« anfing.

»Es tut mir sehr leid, Frau Raddle«, sagte Bob Sawyer mit aller erdenklichen Demut; »allein das Geld, das ich heute in der City hätte erhalten sollen, ist ausgeblieben.«

Ein ganz merkwürdiger Platz – diese City. Wir kennen massenhaft viel Leute, die dort die ganze Zeit vergebens auf Gelder warten.

»Schön, Herr Sawyer«, sagte Frau Raddle, indem sie sich fest auf eine in den Kidderminster Fußteppich gewebte purpurfarbene Blume pflanzte; was geht das mich an, Sir?«

»Ich – ich – zweifle nicht, Frau Raddle«, erwiderte Herr Sawyer, die letzte Frage scheinbar überhörend: »daß wir noch vor Mitte der nächsten Woche miteinander abrechnen können, und dann soll es künftig besser gehen.« .

Mehr verlangte Frau Raddle nicht. Sie war mit so bestimmter Absicht zu rasen und zu toben in des unglücklichen Bob Sawyers Zimmer gestürzt, daß sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei baldiger Bezahlung nicht zufrieden gegeben hätte. Sie war in der besten Stimmung zu einer kleinen Herzensergießung, und hatte soeben in der Küche mit Herrn Raddle einige einleitende Liebenswürdigkeiten gewechselt.

»Meinen Sie denn, Herr Sawyer«, sagte Frau Raddle, ihre Stimme erhebend, so daß die ganze Nachbarschaft es hören konnte, »meinen Sie denn, ich werde einen Menschen noch länger bei mir wohnen lassen, der nie daran denkt, seine Miete zu bezahlen – ja nicht einmal die baren Auslagen für die frische Butter, den Zucker und die Milch, die ich ihm zu seinem Frühstück einkaufe? – Meinen Sie denn, eine fleißige Frau, die sich’s so sauer werden läßt und schon zwanzig Jahre in dieser Straße gewohnt hat (zehn Jahre auf der andern Seite und neununddreiviertel Jahre in diesem Hause), habe weiter nichts zu tun, als sich für ein paar faule Tagdiebe tot zu plagen, die den ganzen Tag nur rauchen, saufen und Maulaffen feilhaben, statt sich nach einem ehrlichen Verdienst umzusehen, um ihre Rechnungen bezahlen zu können? Meinen Sie –«

»Meine werte Frau«, unterbrach sie Herr Benjamin Allen begütigend.

»Seien Sie so gut und behalten Sie Ihre Bemerkungen für sich, Sir«, rief Frau Raddle, indem sie plötzlich dem reißenden Strom ihrer Rede Einhalt tat und sich mit nachdrucksvollem, langsamfeierlichem Tone an die dritte Person wandte. »Ich wüßte nicht, woher Ihnen ein Recht zukäme, mich anzureden. An Sie habe ich, soviel ich weiß, die Zimmer nicht vermietet.«

»Das weiß ich wohl«, sagte Herr Benjamin Allen.

»Nun gut, Sir, erwiderte Frau Raddle mit stolzer Höflichkeit: »so werden Sie sich wohl darauf beschränken müssen, den armen Leuten in den Spitälern Arme und Beine zu zerbrechen und vor ihrer eigenen Tür zu kehren, Sir, oder es möchten einige Leutchen da sein, die Sie daran erinnern könnten, Sir.«

»Sie sind aber eine unangenehme Person«, entgegnete Herr Benjamin Allen.

»Bitte sehr um Verzeihung, junger Mann«, sagte Frau Raddle, indem der Zorn ihr kalten Schweiß auf die Stirn trieb. »Werden Sie vielleicht die Güte haben, das noch einmal zu sagen, Sir?«

»Ich wollte Sie durchaus nicht beleidigen, Madame«, erwiderte Herr Benjamin Allen, dem jetzt um seinen eigenen Kopf bang zu werden anfing,

»Ich bitte um Verzeihung, junger Mann«, fuhr Frau Raddle in gebieterischem und lauterem Tone fort, »aber wen nannten Sie eine Person? Meinten Sie mich damit, Sir?«

»Aber so beruhigen Sie sich doch«, sagte Herr Benjamin Allen.

»Haben Sie mich gemeint, Sir, frage ich noch einmal?« schrie Frau Raddle in wildem Ingrimm und riß die Tür weit auf.

»Nun ja, allerdings«, erwiderte Herr Benjamin Allen.

»Also allerdings«, rief Frau Raddle, allmählich nach der Tür zurückgehend und ihre Stimme aufs äußerste anstrengend, damit Herr Raddle in der Küche alles vernehmen möchte. »Allerdings haben Sie es getan, und jedermann weiß, daß man mich in meinem eigenen Hause ungestraft beleidigen kann, indessen mein Mann ganz ruhig da unten schnarcht und sich so wenig um mich bekümmert wie um einen Hund auf der Straße. Er sollte sich schämen (hier schluchzte Frau Raddle), daß er seine Frau von ein paar Menschen so behandeln läßt, die die Leute lebendig zerschneiden und zusammenmetzgen und ein wahrer Schimpf für das Haus sind. Ja, ich muß mir alles gefallen lassen, und dieser niederträchtige, elende, feige Kerl wagt nicht, herauszukommen, und den unverschämten Burschen den Mann zu zeigen – er wagt es nicht – nein, er wagt es nicht, zu kommen.«

Hier hielt Frau Raddle inne, um zu horchen, ob die Wiederholung dieser Aufforderung ihre bessere Hälfte aufgestachelt habe. Als sie aber sah, daß sie erfolglos blieb, ging sie unter endlosem Schluchzen und Seufzen die Treppe hinab, während man lautes Doppelklopfen an der Haustür vernahm. Jetzt brach sie in ein hysterisches Weinen aus, verbunden mit einem jammervollen Geächze und Gewimmer, das so lange dauerte, bis das Klopfen sechsmal wiederholt worden. Dann warf sie in einem unwiderstehlichen Anfall von Wut alle Möbel, die ihr im Wege standen, um, verschwand sofort im Hinterzimmer und schlug die Tür zu, daß das Haus erbebte.

»Wohnt Herr Sawyer hier?« fragte Herr Pickwick, als das Haus endlich geöffnet wurde.

»Ja«, sagte das Mädchen; »im ersten Stock; die erste Tür vor Ihnen, wenn Sie die Treppe hinaufkommen.«

Nach dieser Anweisung verschwand das Mädchen, das unter den Ureinwohnern Southwarks aufgewachsen war, mit dem Lichte in der Hand nach der Küche hin, vollkommen mit sich selbst zufrieden, da sie alles getan zu haben glaubte, was unter diesen Umständen von ihr verlangt werden konnte.

Herr Snodgraß, der zuletzt eintrat, verschloß die Tür nach mehreren vergeblichen Versuchen durch Vorziehen der Kette, und die Freunde stolperten die Treppe hinauf, wo sie von Herrn Bob Sawyer empfangen wurden, der aus Angst, Frau Raddle möchte ihm den Weg versperren, sich nicht hinunter gewagt hatte.

»Wie geht es Ihnen?« fragte der Student, der sich von seiner Niederlage noch nicht ganz erholt hatte. – »Freut mich, Sie zu sehen – nehmen Sie sich in acht wegen der Gläser.« –

Diese Warnung galt Herrn Pickwick, der seinen Hut auf den Tisch gelegt hatte.

»Ach, bitte um Entschuldigung«, sagte Herr Pickwick.

»Hat durchaus nicht« zu sagen«, erwiderte Bob Sawyer. »Ich bin im Raum etwas beschränkt; aber man muß überall einige Nachsicht haben, wenn man zu einem Junggesellen kommt. Treten Sie ein. Diesen Herrn kennen Sie wohl schon?«

Herr Pickwick drückte Herrn Benjamin Allen die Hand, und seine Freunde folgten diesem Beispiel. Sie hatten sich kaum gesetzt, als man abermals ein Doppelklopfen vernahm.

»Das wird hoffentlich Jack Hopkins sein«, sagte Bob Sawyer. »Ja, er ist’s. Nur herauf, Jack, herauf!«

Man hörte schwere Fußtritte auf der Treppe, und Jack Hopkins trat ein. Er trug eine schwarze Samtweste mit Donner- und Blitzknöpfen und ein blaugestreiftes Hemd mit einem angeknöpften weißen Kragen.

»Sie kommen spät, Jack?« fragte Benjamin Allen.

»Ich wurde in Bartholomä aufgehalten«, erwiderte Hopkins.

»Was gibt’s Neues?«

»Nichts von Belang: doch kam ein ganz eigentümlicher Fall vor.«

»Und was denn, Sir?« fragte Herr Pickwick.

»Es ist ein Mann vom vierten Stockwerk aus dem Fenster gestürzt; aber es ist ein schöner Fall, wirklich ein sehr schöner Fall.«

»Meinen Sie damit, daß der Kranke Hoffnung habe, wieder aufzukommen?« fragte Herr Pickwick.

»Nein«, entgegnete Hopkins gleichgültig: »im Gegenteil, ich bezweifle es stark. Aber morgen muß eine glänzende Operation stattfinden, ein prachtvoller Anblick, wenn Slasher sie vornimmt.«

»Sie halten also Herrn Slasher für einen geschickten Operateur?« fragte Herr Pickwick.

»Es lebt kein besserer auf Erden«, erwiderte Hopkins. »In der letzten Woche nahm er einem Knaben das Bein ab, der dabei fünf Äpfel und einen Pfefferkuchen aß, und zwei Minuten nachdem alles vorüber war, sagte der Knabe, er liege nicht da, um sich für’n Narren halten zu lassen, und wenn sie nicht bald anfingen, so werde er es seiner Mutter sagen.«

»Wirklich?« sagte Herr Pickwick erstaunt.

»O, das ist noch gar nichts«, versetzte Jack Hopkins, »nicht wahr, Bob?«

»Ganz und gar nichts«, bekräftigte Herr Bob Sawyer.

»Beiläufig gesagt, Bob«, fuhr Hopkins mit einem kaum bemerkbaren Seitenblick auf Herrn Pickwicks aufmerksames Gesicht fort, »gestern abend wurde ein Kind gebracht, das ein Halsband verschluckt hatte.«

»Was verschluckt, Sir?« unterbrach ihn Herr Pickwick.

»Ein Halsband«, wiederholte Jack Hopkins. »Es versteht sich, nicht auf einmal, denn das wäre zuviel gewesen – Sie selbst können keins verschlucken, viel weniger das Kind. – Habe ich nicht recht, Herr Pickwick? Ha, ha!« ,

Herr Hopkins schien mit seinem Witze sehr zufrieden zu sein und fuhr fort:

»Die Sache war so. Die Eltern des Kindes sind arme Leute und wohnen auf einem Hof. Das älteste Mädchen kaufte ein Halsband – ein gewöhnliches Halsband von großen, schwarzen, hölzernen Perlen. Das Kind hat seine Freude daran, versteckt das Halsband, spielt damit, zerreißt die Schnur und verschluckt eine Perle. Dies dünkt ihm ein Hauptspaß zu sein, es macht sich am folgenden Tage wieder daran und verschluckt eine zweite Perle.«

»Bei meiner Seele«, rief Herr Pickwick, »das ist ja etwas Schreckliches. Doch entschuldigen Sie meine Unterbrechung, Sir, und erzählen Sie weiter.«

»Am Tage darauf verschluckte das Kind zwei Perlen, am vierten drei und so fort, bis es in einer Woche das ganze Halsband, bestehend aus fünfundzwanzig Perlen, im Leibe hatte. Die Schwester, ein fleißiges Mädchen, die sich nur selten ein bißchen Putz anschaffte, weinte sich fast die Augen aus über den Verlust des Halsbandes und durchsuchte das Haus von oben bis unten; aber ich brauche wohl nicht zu sagen, daß sie es nicht fand. Einige Tage darauf sitzt die Familie beim Mittagessen um eine gebratene Hammelkeule nebst Kartoffeln, und das Kind, das nicht hungrig ist, spielt im Zimmer, als man auf einmal einen verteufelten Lärm, gleich einem kleinen Hagelsturm, vernimmt. ›Lärme doch nicht so, Junge‹, sagte der Vater. – ›Ich mache ja nichts‹, antwortete das Kind. – ›Nun gut, bleib ruhig‹, ermahnte der Vater. – Einige Zeit war alles still, aber auf einmal begann der Lärm aufs neue ärger als zuvor. ›Wenn du mir nicht folgst, Junge‹, sagte der Vater, ›so mußt du augenblicklich ins Bett.‹ Dabei schüttelte er das Kind, um sich seines Gehorsams besser zu vergewissern; aber nun erfolgte ein Gerassel, wie noch nie jemand gehört hatte. ›Gott straf‘ mich‹, sagte der Vater, ›in dem Jungen ist etwas; er hat das Kreuz nicht am rechten Ort.‹ – ›Ach nein, Vater‹, sagte das Kind und fing an zu weinen, ›das Halsband ist’s, ich habe es verschluckt, Vater.‹ Der Vater nahm das Kind schnell und rannte damit ins Spital; die Perlen in seinem Magen rasselten bei der schnellen Bewegung dermaßen, daß die Leute bald in die Luft hinauf-, bald in die Keller hinabsahen, um diesem ungewöhnlichen Geräusche auf die Spur zu kommen. »Das Kind ist noch im Spital«, fügte Jack Hopkins hinzu, »und macht beim Gehen einen so teufelmäßigen Lärm, daß man es in einen großen Mantel wickeln mußte, damit die übrigen Patienten nicht aus dem Schlafe geweckt würden.«

»Das ist doch der außerordentlichste Fall, von dem ich je gehört habe«, sagte Herr Pickwick mit einem tüchtigen Schlag auf den Tisch.

»O nein«, erwiderte Jack Hopkins; »das will auch noch nicht viel heißen, nicht wahr, Bob?«

»Freilich nicht«, entgegnete Herr Bob Sawyer.

»In unserm Beruf kommen höchst seltsame Dinge vor, das kann ich Sie versichern«, fuhr Hopkins fort.

»Ich glaube es recht gern«, erwiderte Herr Pickwick.

Ein neues Klopfen an die Tür verkündete einen dickköpfigen jungen Mann in einer schwarzen Perücke, der einen hagern, mit dem Skorbut behafteten Jüngling mitbrachte. Der nächste Ankömmling war ein Herr, der ein mit kleinen goldenen Ankern geschmücktes Hemd trug, und unmittelbar darauf folgte ein blasser Jüngling mit einer plattierten Uhrkette. Die Ankunft eines geckenhaften Burschen mit sehr sauberer Wäsche und Tuchstiefeln machte die Gesellschaft vollzählig. Der kleine Tisch mit dem grünen wollenen Teppich wurde auseinandergezogen, die erste Punschauflage in einem gewaltigen Humpen herbeigebracht, und die ersten drei Stunden dem edlen Vingt-un-Spiel, das Dutzend Marken zu sechs Pence, gewidmet – nur ein einziges Mal unterbrochen durch einen kleinen Streit zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern, wobei der skorbutische Jüngling das glühende Verlangen ausdrückte, dem Herrn mit den Sinnbildern der Hoffnung die Nase einzuschlagen, dieser aber mit großer Entschiedenheit zu verstehen gab, er lasse sich unter keinen Umständen etwas gefallen, weder von dem zornigen jungen Herrlein mit dem skorbutischen Gesicht, noch von sonst irgendeinem Menschen, der einen Kopf zwischen den Schultern habe.

Als das letzte Spiel gemacht und Gewinn und Verlust zur allgemeinen Zufriedenheit verteilt waren, klingelte Herr Bob Sawyer nach dem Abendessen, und seine Gäste drückten sich in die verschiedenen Stubenecken, bis es fertig war.

Das ging indes nicht so schnell, wie manche Leute vielleicht glauben möchten. Vor allem mußte man die Magd wecken, die mit dem Kopf auf dem Küchentisch eingeschlafen war. Dadurch ging einige Zeit verloren, und selbst als sie endlich auf das wiederholte Klingeln erschien, wurde noch eine Viertelstunde mit den fruchtlosen Bemühungen zugebracht, ihr einen schwachen, entfernten Begriff von ihrer Pflicht beizubringen. Dem Mann, bei dem man die Austern bestellt, hatte man nicht gesagt, daß er sie auch öffnen solle; nun ist es aber sehr schwer, eine Auster mit einem schwachen Messer oder einer zweizinkigen Gabel zu öffnen, und so ging die Sache gar schwer und langsam. Das Ochsenfleisch war auch nicht zum besten ausgefallen, und die Hammelkeule, aus dem deutschen Wurstladen an der Ecke geholt, verdiente gleichfalls kein sonderliches Job. Dagegen war in einer zinnernen Kanne eine Menge Porter vorhanden, und der Käse fand großen Beifall, denn er war sehr pikant. So war denn das Essen im ganzen vielleicht gerade so gut, wie solche Dinge überhaupt zu sein pflegen.

Nach Tisch wurde eine neue Auflage Punsch nebst mehreren andern Flaschen mit geistigen Getränken und ein Teller mit Zigarren hereingebracht. Nun aber entstand eine unheimliche Pause, veranlaßt durch einen in solchen Häusern sehr gewöhnlichen Umstand, der aber eine Menge Verlegenheiten herbeiführt.

Das Mädchen spülte nämlich die Gläser. Das Haus konnte sich des Besitzes von dreien rühmen – eine Tatsache, die wir durchaus nicht zuungunsten der Frau Raddle anführen wollen; denn es gab nie ein Privathaus, worin es nicht an diesem Artikel gefehlt hätte. Die Gläser der Hausfrau waren kleine, dünne, leicht zerbrechliche Gefäße, die aus dem Wirtshause dagegen große, dickbäuchige, inhaltschwere Stücke mit gewaltigen Henkeln. Das allein hätte die Gesellschaft über den wahren Zustand der Dinge aufklären können; aber die Magd schnitt auch jede Möglichkeit einer Mißdeutung dadurch ab, daß sie jedem, noch ehe er ausgetrunken hatte, mit Gewalt das Glas wegnahm, und trotz aller Winke und Unterbrechungen Bob Sawyers laut genug sagte: sie sei beauftragt, die Gläser hinabzubringen und wieder zu putzen.

Ein sehr schlimmer Wind, der niemanden etwas Gutes zubläst. Der Geck in den Tuchstiefeln, der sich die ganze Zeit über vergeblich bemüht hatte, einen Witz vorzubringen, sah jetzt die Gelegenheit dazu und benutzte sie. In dem Augenblick, da die Gläser verschwanden, begann er eine lange Geschichte von einem großen Tier der Öffentlichkeit, dessen Namen er jedoch vergessen hatte. Dieses große Tier hatte einem andern ausgezeichneten und berühmten Mann, dessen Namen er aber auch nie in Erfahrung zu bringen vermocht, eine ungemein treffende Antwort gegeben. Er verbreitete sich mit vieler Weitschweifigkeit und großer Detailkenntnis über verschiedene Nebenumstände, die mit der fraglichen Anekdote in genauer Verbindung standen, konnte aber gerade augenblicklich um alles in der Welt sich der Anekdote selbst nicht mehr erinnern, ungeachtet er sie seit den letzten zehn Jahren schon sehr häufig mit dem größten Beifall erzählt hatte.

»Weiß Gott«, sagte der Geck in den Tuchstiefeln, »es ist eine höchst merkwürdige Geschichte.«

»Es tut mir sehr leid, daß Sie sie vergessen haben«, versetzte Herr Bob Sawyer, gierige Blicke nach der Tür werfend, da er jeden Augenblick Gläsergeklingel zu hören meinte.

»Mir tut es auch sehr leid«, antwortete der Geck, »denn ich bin gewiß, daß sich die ganze Gesellschaft sehr daran ergötzt haben würde. Doch, gleichviel: in einer halben Stunde ungefähr wird sie mir schon wieder einfallen.«

Endlich erschienen die Gläser wieder, worauf Herr Bob Sawyer, der die ganze Zeit über in tiefen Gedanken dagesessen hatte, sich unwiderstehlich bemüßigt fühlte, das Ende der Geschichte zu hören, denn so weit sie gediehen sei, gehöre sie zu den schönsten, die ihm bis jetzt zu Ohren gekommen.

Der Anblick der Gläser erhob Bob Sawyer wieder zu einer Gemütsruhe, wie er sie seit seiner Unterhaltung mit der Hausfrau nicht besessen hatte. Sein Gesicht heiterte sich auf, und es wurde ihm wieder ganz gesellig zu Mut.

»Jetzt, Betsy«, sagte Herr Bob Sawyer sehr freundlich, indem er den ungeordneten Haufen Gläser austeilte, den das Mädchen

mitten auf den Tisch gestellt hatte; »jetzt, Betsy, bring‘ das warme Wasser, und eil dich ein bißchen, liebes Kind.«

»Sie können kein warm‘ Wasser haben«, erwiderte Betsy.

»Kein warmes Wasser?« rief Herr Bob Sawyer.

»Nein«, sagte das Mädchen mit sehr nachdrücklichem Kopfschütteln, nachdrücklicher als der größte Aufwand von Worten. »Frau Raddle hat gesagt, ich dürfe Ihnen keins bringen.«

Das Erstaunen, das sich auf den Gesichtern seiner Gäste malte, flößte dem Wirt neuen Mut ein.

»Bring‘ sofort das warme Wasser – sofort!« gebot Herr Bob Sawyer mit verzweifelter Strenge.

»Nein, ich kann nicht«, erwiderte das Mädchen; »Frau Raddle hat das Feuer in der Küche ausgelöscht, ehe sie zu Bett ging, und den Kessel eingeschlossen.«

»Macht nichts, macht nichts. Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen einer solchen Kleinigkeit«, sagte Herr Pickwick, der den Konflikt der auf Bob Sawyers Angesicht sich spiegelnden Bedrängnisse wohl bemerkte; »kaltes Wasser ist auch sehr gut.«

»O freilich«, fügte Herr Benjamin Allen hinzu.

»Meine Wirtin hat zuweilen Anfälle von Geistesabwesenheit«, bemerkte Bob Sawyer mit einem seltsamen Lächeln. »Ich fürchte, ich muß ihr kündigen.«

»Ach nein, tun Sie das nicht«, sagte Ben Allen.

»Ich werde wohl müssen«, erwiderte Bob mit heroischer Festigkeit. »Ich will ihr morgen meine Rechnung bezahlen und auf übermorgen kündigen.«

Der arme Bursche – wie sehnlich wünschte er, es tun zu können.

Herrn Bob Sawyers herzzerreißende Bemühungen, sich von diesem letzten Schlage zu erholen, übten einen entmutigenden Einfluß auf die Gesellschaft, und der größere Teil suchte seine Heiterkeit dadurch wiederzugewinnen, daß er dem kalten Branntwein und Wasser recht fleißig zusprach. Die ersten sichtbaren Wirkungen davon zeigten sich in einer Erneuerung der Feindseligkeiten zwischen dem skorbutischen Jüngling und dem Herrn mit den vergoldeten Ankern. Die beiden kriegführenden Parteien machten ihren Gefühlen gegenseitiger Verachtung einige Zeit lang durch trotziges Stirnrunzeln und höhnisches Naserümpfen Luft, bis zuletzt der skorbutische Jüngling es für nötig hielt, sich deutlicher zu erklären, und es zu folgender unzweideutiger Auseinandersetzung kam:

»Sawyer«, jagte der skorbutische Jüngling mit lauter Stimme.

»Was gibts, Noddy?« fragte Bob Sawyer.

»Es tut mir sehr leid, Sawyer«, sagte Herr Noddy, »am Tisch eines Freundes, und besonders an dem Ihren, Sawyer, eine Störung zu veranlassen; allein ich muß diese Gelegenheit ergreifen, um Herrn Gunter zu sagen, daß er kein Gentleman ist.«

»Und mir«, erwiderte Herr Gunter, »mir würde es sehr leid tun, Sawyer, in Ihrer Behausung eine Störung zu veranlassen. Aber ich fürchte, ich werde notwendigerweise die Nachbarschaft

dadurch beunruhigen müssen, daß ich den Menschen, der soeben gesprochen hat, zum Fenster hinauswerfe.«

»Was meinen Sie damit, Sir?« fragte Herr Noddy.

»Nichts anderes, als was ich gesagt habe«, erwiderte Herr Gunter.

»Dann möchte ich doch sehen, wie Sie das machen, Sir«, sagte Herr Noddy.

»Sie werden es in einer halben Minute fühlen, Sir«, erwiderte Herr Gunter.

»Ich bitte Sie um Ihre Karte«, sagte Herr Noddy.

»Sie bekommen sie nicht, Sir«, entgegnete Herr Gunter.

»Warum nicht, Sir?« fragte Herr Noddy.

»Weil Sie sie an Ihren Spiegel stecken und dadurch die, die Sie besuchen, auf den falschen Glauben bringen würden, es sei ein Gentleman bei Ihnen gewesen, Sir«, entgegnete Herr Gunter.

»Sir, ich werde morgen früh einen meiner Freunde zu Ihnen schicken«, sagte Herr Noddy.

»Ich bin Ihnen für diese Mitteilung sehr verbunden, Sir, und werde meiner Magd den schärfsten Befehl geben, die Löffel wegzuschließen«, erwiderte Herr Gunter.

Jetzt legten sich die übrigen Gäste dazwischen und machten beide Teile auf die Unziemlichkeit ihres Benehmens aufmerksam. Herr Noddy bat darauf um die Erlaubnis, versichern zu dürfen, daß sein Vater ein ebenso ehrenwerter Mann gewesen sei wie Herrn Gunters Vater, und Herr Gunter erwiderte, sein Vater sei in jeder Beziehung so ehrenwert gewesen wie Herrn Noddys Vater: und seines Vaters Sohn sei alle sieben Tage in der Woche ein ebenso rechtschaffener Mann wie Herr Noddy. Da diese Äußerungen als Vorspiel zur Erneuerung der Feindseligkeiten betrachtet wurden, so mischte sich die Gesellschaft zum zweiten Mal dazwischen. Nun aber entstand ein heftiges Hin- und Herreden und Gelärme, in dessen Verlauf Herr Noddy sich allmählich von seinen Gefühlen überwältigen ließ und laut bekannte, er habe von jeher eine aufrichtige Neigung für Herrn Gunter gehegt. Herr Gunter erwiderte, Herr Noddy sei ihm lieber als sein eigener Bruder: als Herr Noddy dies Geständnis hörte, stand er großmütig von seinem Sitz auf und bot Herrn Gunter seine Hand. Herr Gunter ergriff sie mit liebevoller Wärme, und alle sagten, der Streit sei auf eine Art geführt worden, die beiden Teilen zu hoher Ehre gereiche.

»Um aber jetzt wieder recht ins Geleise zu kommen, Bob«, sagte Jack Hopkins, »so dächte ich, singen wir ein Liedlein«; worauf Hopkins unter stürmischem Applaus das »Den König segne Gott« anstimmte und, so laut er konnte, aber nach einer ganz neuen und nicht darauf passenden Melodie sang. Der Chor war das beste an der Sache, und da jeder der Herren nach der ihm bekanntesten Melodie sang, so konnte eine durchschlagende Wirkung nicht ausbleiben.

Als der Chor mit dem ersten Verse zu Ende war, erhob Herr Pickwick bedeutungsvoll seine Hand und sagte unter allgemeinem Schweigen:

»Ich bitte um Entschuldigung: ich glaube aber, es hat unten jemand gerufen.«

Alles war mäuschenstill, und Herr Bob Sawyer erbleichte sichtbarlich.

»Ich glaube, ich höre es wieder«, sagte Herr Pickwick. »Haben Sie doch die Güte, die Tür zu öffnen.«

Dies war kaum geschehen, als alle Zweifel verschwanden.

»Herr Sawyer! Herr Sawyer!« kreischte eine Stimme von unten herauf.

»Es ist meine Wirtin«, sagte Bob Sawyer, in großer Verlegenheit um sich blickend. »Ja, Frau Raddle.«

»Was soll das heißen, Herr Sawyer«, rief die gellende Stimme mit ungemeiner Zungenfertigkeit. »Ist es nicht genug, daß man um seinen Hauszins und um die baren Auslagen geprellt, und von Ihren Freunden, die doch Männer von Bildung sein wollen, geplagt und geschunden wird? Es scheint, Sie wollen auch noch das Haus einreißen, und lassen um zwei Uhr morgens einen Lärm aufführen, daß man mit den Feuerspritzen angefahren kommen könnte. Schicken Sie mir die sauberen Vögel fort.«

»Sie sollten sich vor sich selber schämen«, schallte jetzt in einiger Entfernung die Stimme des Herrn Raddle, wie es schien, unter einer Bettdecke hervor.

»Nein, du solltest dich schämen«, schrie Frau Raddle. »Warum kommst du nicht und wirfst alle miteinander die Treppe hinab? Wenn du ein rechter Mann wärest, so tätest du es.«

»Ja, wenn ich noch ein Dutzend bei mir hätte, mein Schatz«, erwiderte Herr Raddle friedfertig: »allein die Herren sind mir an Zahl überlegen, mein Schatz.«

»Pfui, du Memme«, erwiderte Frau Raddle mit unaussprechlicher Verachtung. »Wollen Sie diese Gauner fortjagen oder nicht, Herr Sawyer?«

»Sie sind eben im Begriff zu gehen, Frau Raddle; sie gehen ja schon«, erwiderte der erbarmungswürdige Bob. Und zu seinen Freunden sagte Herr Bob Sawyer: »Ich dachte, es wäre am besten, Sie gingen jetzt. Ich bin auch der Meinung, daß Sie zu viel Lärm machen.«

»Das ist aber sehr schade«, sagte der Geck. »Jetzt fangen wir erst an, recht in Stimmung zu kommen.«

Der Grund für diese Äußerung aber war, daß dem Gecken eben jetzt eine dunkle Erinnerung von seiner vergessenen Geschichte aufzudämmern begann.

»Nein, man kann es sich nicht gefallen lassen«, sagte er, um sich blickend: »das ist wahrhaftig zu arg.«

»Ja, unausstehlich«, erwiderte Jack Hopkins; »wir wollen wenigstens noch einen Vers singen, Bob, kommen Sie!«

»Nein, nein, Jack«, fiel Bob Sawyer ein. »Das Lied ist zwar vortrefflich; allein ich denke, es wäre besser, den Vers nicht mehr zu singen. Die Leute im Hause da sind sehr grob.«

»Soll ich einmal hinaufgehen und mit dem Hausherrn anbinden?« fragte Hopkins; »oder soll ich tüchtig schellen, mich auf die Treppe stellen und zu brüllen anfangen? Sie haben nur zu befehlen, Bob.«

»Ich danke Ihnen sehr für Ihren guten Willen und Ihre Freundschaft, Hopkins«, sagte Bob Sawyer kläglich, »allein um weiteren Zank zu vermeiden, halte ich’s fürs beste, wenn wir sogleich auseinandergehen.«

»Nun, Herr Sawyer«, keifte die gellende Stimme der Frau Raddle abermals, »wann gehen denn diese Herren endlich?«

»Sie sehen bloß nach ihren Hüten, Frau Raddle«, entgegnete Bob, »und werden dann gleich gehen.«

»Gehen?« rief Frau Raddle, ihre Nachthaube hinaufdrückend, als Herr Pickwick, gefolgt von Herrn Tupman, ans einmal vor ihren Blicken auftauchte. »Gehen? Was hatten Sie überhaupt hier zu suchen?«

»Meine teure Madame«, beschwichtigte Herr Pickwick aufblickend.

»Scheren Sie sich zum Teufel, Sie alter Spitzbube«, erwiderte Frau Raddle, ihre Nachthaube schnell wieder herabzupfend. »Alt genug, um sein Großvater sein zu können, Sie garstiger Mensch, Sie! Sie sind der schlimmste von ihnen allen,«

Herr Pickwick hielt es für vergebliche Mühe, seine Unschuld zu beteuern, und rannte die Treppe hinab auf die Straße, wohin ihm die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß auf dem Fuße folgten. Herr Ben Allen, den das Trinkgelage und die verschiedenen Auftritte gewaltig angegriffen hatten, begleitete sie bis zur Londoner Brücke und vertraute unterwegs Herrn Winkle, als einem Mann von ausgezeichneter Schweigsamkeit, an, daß er entschlossen sei, außer Herrn Bob Sawyer jeden, der es wagen würde, sich um die Neigung seiner Schwester Arabella zu bewerben, die Kehle abzuschneiden. Nachdem er seine Entschlossenheit, diese peinliche Bruderpflicht zu erfüllen, noch auf angemessene Weise bekräftigt hatte, brach er in Tränen aus, schlug seinen Hut bis über die Augen herab, und indem er so gut wie möglich seinen Heimweg suchte, klopfte er zu wiederholten Malen an dem Tor von Borough Market an; schlummerte abwechselnd hier und da auf den Treppen bis Tagesanbruch, in der festen Meinung, er wohne hier und habe nur seinen Schlüssel vergessen.

Als nun die Gäste auf die dringende Aufforderung der Frau Raddle sich alle entfernt hatten, blieb der unglückliche Bob Sawyer allein zurück und dachte noch lange über die wahrscheinlichen Ereignisse des morgigen Tages, sowie über die Vergnügungen des Abends nach.