Achtundfünfzigstes Kapitel.


Achtundfünfzigstes Kapitel.

In dem der Pickwick-Klub endlich aufgelöst wird und alles zur allgemeinen Zufriedenheit endet.

Eine ganze Woche lang nach der glücklichen Ankunft des Herrn Winkle von Birmingham waren Herr Pickwick und Sam Weller den ganzen Tag über von Haus abwesend und kehrten nur zum Mittagessen zurück, wobei sie ein geheimnisvolles, wichtiges Wesen zur Schau trugen, das ihren Naturen sonst ganz fremd war! Offenbar waren sehr ernste und ereignisschwere Dinge am Werk, über deren bestimmten Charakter allerhand Vermutungen schwebten. Einige – und unter ihnen Herr Tupman – waren geneigt, zu glauben, Herr Pickwick beabsichtige eine eheliche Verbindung: aber diese Idee wurde von den Damen aufs entschiedenste verworfen. Andere neigten sich der Ansicht zu, er trage sich mit einem großen Reiseprojekt und beschäftige sich gegenwärtig mit den vorläufigen Anordnungen dazu. Aber das wurde entschieden von Sam selbst verneint, der auf die Kreuz- und Querfragen seiner Marie unzweideutig erklärte, es würden keine neuen Reisen mehr unternommen. Endlich, als sich der ganze Freundeskreis sechs Tage lang durch fruchtlose Vermutungen das Gehirn abgemartert hatte, wurde einhellig beschlossen, Herrn Pickwick zur Erklärung seines Benehmens aufzufordern und ihn geradezu zu fragen, warum er sich auf diese Art von der Gesellschaft seiner ihn bewundernden Freunde zurückziehe.

In dieser Absicht lud Herr Wardle den ganzen Zirkel zum Mittagessen in die Adelphi ein, und man stellte die große Frage, als die Flaschen zweimal die Runde gemacht hatten.

»Wir sind allesamt sehr begierig, zu erfahren«, begann der alte Herr, »was wir Ihnen zuleide getan haben, daß Sie sich so gänzlich von uns absondern und immer diese einsamen Spaziergänge machen.«

»Möchten Sie es wirklich wissen?« fragte Herr Pickwick. »Merkwürdig, daß ich gerade heute im Sinn hatte, mich von freie» Stücken darüber zu erklären: geben Sie mir noch ein Glas Wein, so will ich Ihre Wißbegierde befriedigen.«

Die Flaschen gingen mit ungewohnter Schnelligkeit von Hand zu Hand, und Herr Pickwick fuhr, indem er mit vergnügtem Lächeln die Gesichter seiner Freunde nacheinander anschaute, also fort:

»Die Veränderungen, die in unserm Kreise stattgefunden haben, ich meine die bereits eingetretene und die demnächst bevorstehende Hochzeit nebst den Wandlungen, die notwendig daraus erfolgen werden, haben mich genötigt, ernstlich an einen künftigen Lebensplan für mich zu denken. Ich beschloß, mich in eine hübsche Gegend in der Nähe von London zur Ruhe zurückzuziehen und fand da ein Haus, das meinen Wünschen gänzlich entspricht. Ich habe es gemietet und wohnlich eingerichtet, so daß ich kommen kann, wann ich will. Ich gedenke nun in der nächsten Zeit meinen Einzug zu halten und hoffe noch manches friedliche Jährchen in stiller Zurückgezogenheit daselbst zuzubringen, während meines Lebens erfreut durch die Gesellschaft meiner Freunde, und nach meinem Tode fortlebend in ihrer liebevollen Erinnerung.«

Hier hielt Herr Pickwick inne, und ein leises Gemurmel lief rings um die Tafel.

»Das Haus, das ich gemietet habe«, sprach Herr Pickwick weiter, »liegt in Dulwich: es hat einen großen Garten und befindet sich in einer der reizendsten Gegenden von Londons Umgebung. Es ist die größte Aufmerksamkeit darauf verwendet worden, es so behaglich wie möglich, vielleicht auch ein bißchen elegant einzurichten! doch darüber sollen Sie selbst urteilen. Sam begleitet mich dahin. Ich habe auf Perkers Vorstellung eine Haushälterin in Dienst genommen – eine sehr alte Person – und werde noch so viele andere Domestiken annehmen, wie diese für nötig hält. Ich möchte nun mein kleines Idyll durch irgendeine Festlichkeit, die ich sehr gern feiern würde, eingeweiht sehen. Wenn mein Freund Wardle nichts dagegen hat, so möchte ich ihn bitten, die Vermahlung seiner Tochter in meinem neuen Hause an demselben Tage vollziehen zu lassen, wo ich Besitz davon nehme. Das Glück junger Leute«, sagte Herr Pickwick ein wenig bewegt, »war von jeher die größte Freude meines Lebens. Es wird mir das Herz erwärmen, unter meinem eigenen Dache Zeuge des Glückes meiner Freunde zu sein.«

Herr Pickwick hielt abermals inne: Emilie und Arabella schluchzten laut.

»Ich habe«, begann Herr Pickwick aufs neue, »dem Klub sowohl mündliche als schriftliche Mitteilungen gemacht und ihn von meinen Absichten in Kenntnis gesetzt. Er hat während unserer Abwesenheit viel durch innere Zwistigkeiten gelitten, und die Zurückziehung meines Namens, verbunden mit diesen und andern Umständen, hat seine Auflösung herbeigeführt. Der Pickwick-Klub existiert nicht mehr.«

»Ich werde es niemals bereuen«, setzte Herr Pickwick mit leiserer Stimme hinzu – »ich werde es niemals bereuen, daß ich mich beinahe zwei volle Jahre hindurch unter verschiedenen Gattungen und Schattierungen des menschlichen Charakters umhergetrieben habe, so töricht meine Abenteuersucht auch vielen erschienen sein mag. Fast mein ganzes früheres Leben war Geschäften und trockenem Gelderwerb gewidmet, jetzt aber bin ich mit zahlreichen Szenen bekannt geworden, von denen ich früher keine Ahnung gehabt hatte – und ich hoffe, daß sich mein geistiger Gesichtskreis dadurch erweitert und meinen Verstand mehr ausgebildet hat. Wenn ich nur wenig Gutes getan habe, so glaube ich doch, noch weniger Böses getan zu haben, und hoffe, daß meine sämtlichen Abenteuer mir am Abend meines Lebens nur eine Quelle angenehmer und ergötzlicher Erinnerungen sein werden. Gott segne euch alle.«

Bei diesen Worten füllte und leerte Herr Pickwick mit bebender Hand sein Glas; seine Augen feuchteten sich, als sämtliche Freunde sich wie verabredetermaßen erhoben und ihm von ganzem Herzen Bescheid taten.

Zur Vermählung des Herrn Snodgraß waren nur noch sehr wenige Vorbereitungen erforderlich. Da er weder Vater noch Mutter, und während seiner Minderjährigkeit unter Herrn Pickwicks Vormundschaft gestanden hatte, so kannte dieser seine Vermögens- und sonstigen Umstände aufs genaueste. Wardle war mit seiner Auskunft über beides vollkommen zufrieden; wie denn der gute alte Herr in dieser Zeit, wo er von Heiterkeit und Zärtlichkeit überfloß, fast mit allem zufrieden gewesen wäre. Emilien wurde eine hübsche Mitgift ausgesetzt und der vierte Tag zur Vermählung anberaumt; eine Eilfertigkeit, die drei Putzmacherinnen und einen Schneider bis an den Rand des Verrücktwerdens brachte.

Der alte Wardle nahm am folgenden Tage Postpferde, um seine Mutter nach der Stadt zu bringen. Da er der alten Dame diese Nachricht mit seinem charakteristischen Ungestüm mitteilte, so fiel sie augenblicklich in Ohnmacht, kam aber sehr bald wieder zu sich, befahl, das durchwirkte Seidenkleid einzupacken, und fing an, verschiedene Umstände ähnlicher Art, die sich bei der Verheiratung der ältesten Tochter der verstorbenen Lady Tollimglower zugetragen, herzuzählen, womit sie nach drei vollen Stunden noch nicht zur Hälfte fertig war.

Frau Trundle mußte ebenfalls von den gewaltigen Vorbereitungen zu London in Kenntnis gesetzt werden, und da sie sich in einem zarten Gesundheitszustände befand, so erfolgte die Mitteilung durch Herrn Trundle selbst, damit ihr die Überraschung nicht schaden möchte. Allein sie schadete ihr keineswegs: denn sie schrieb sogleich nach Muggleton, bestellte sich eine neue Haube und ein schwarze« Atlaskleid und erklärte, unter allen Umstanden an der Hochzeitsfeier teilnehmen zu wollen. Herr Trundle ließ den Arzt rufen, und der Arzt sagte, Frau Trundle müsse am besten wissen, wie sie sich befinde, worauf Frau Trundle erwiderte, sie fühle sich vollkommen stark genug und habe einmal ihren Kopf darauf gesetzt, mitzugehen, worauf wiederum der Arzt, der ein weiser und verständiger Arzt war, und wußte, was sowohl für ihn selbst als für andere Leute gut war, erklärte, wenn Frau Trundle zu Hause bliebe und sich ärgerte, so würde ihr dies vielleicht mehr schaden, als wenn sie ginge, und deshalb würde sie vielleicht besser daran tun, mitzureisen. Sie reiste also wirklich mit, nachdem ihr der Arzt mit gewissenhafter Sorgfalt ein halbes Dutzend Arzneiflaschen zugesandt hatte, die sie unterwegs austrinken sollte.

Zu den Aufträgen, die Herr Wardle bekommen hatte, gehörte auch die Besorgung zweier Briefchen an zwei junge Dämchen, die die Brautjungfern vorstellen sollten und durch diese Einladung in Verzweiflung gerieten, denn sie jammerten, sie hätten gar keine Sachen in Bereitschaft für ein so wichtiges Geschäft und könnten sich in der kurzen Zeit auch nicht mehr damit versehen: ein Umstand, der den beiden würdigen Papas der beiden jungen Dämchen nicht ganz unerfreulich zu sein schien. Indessen wurden alte Kleider neu zugestutzt, neue Hauben gemacht, und die jungen Dämchen sahen darin so gut aus, wie man von ihnen nur erwarten konnte; da sie überdies während der Trauung bei den geeigneten Stellen weinten und immer zur rechten Zeit zitterten, so erwarben sie sich die Bewunderung sämtlicher Zuschauer.

Wie die zwei armen Bäschen nach London kamen, ob zu Fuß, zu Wagen oder zu Pferd, ist unbekannt. Jedenfalls aber trafen sie vor Wardle ein, und die ersten Leute, die an dem Hochzeitsmorgen an Herrn Pickwicks Haustür anklopften, waren die zwei armen Bäschen, hochaufgedonnert und voll Freundlichkeit.

Sie wurden indessen aufs herzlichste bewillkommt, denn Reichtum und Armut hatten keinen Einfluß auf Herrn Pickwick. Die neuen Diener waren die Munterkeit und Bereitwilligkeit selbst; Sam befand sich in der unvergleichlichsten Festlaune, und Marie glänzte von Schönheit und prächtigen Bändern.

Der Bräutigam, der sich schon zwei oder drei Tage vorher im Hause aufgehalten hatte, fuhr stattlich angetan in die Dulwicher Kirche, begleitet von Herrn Pickwick, Ben Allen, Bob Sawyer und Herrn Tupman, auch Sam Weller nicht zu vergessen, der im Knopfloch eine weiße Bandschleife, ein Geschenk der Dame seines Herzens trug, und überdies in einer neuen, prachtvollen, ausdrücklich für den Tag erfundenen Livree prangte. Sie trafen dort Herrn und Frau Wardle, Herrn und Frau Winkle, Braut und Brautjungfern und Herrn und Frau Trundle! und nach beendigter Feierlichkeit rasselten sämtliche Kutschen zum Frühstück nach Herrn Pickwicks Hause, wo der kleine Herr Perker sie bereits erwartete.

Nachdem sich hier die leichten Wolken des ernsteren und feierlichen Teils der Tagesereignisse zerteilt hatten, erglänzten alle Gesichter von Freude, und man hörte nichts als Glückwünsche und Lebehochrufe. Es war alles so schön! Der Grasplatz vor dem Hause, der Garten hinter demselben, das kleine Gewächshaus, das Speise-, das Gesellschafts-, das Rauch- und die Schlafzimmer, vor allem aber das Studierzimmer mit seinen Gemälden, den behaglichen Sesseln, den merkwürdigen Wandschränken, den sonderbar geformten Tischen und zahllosen Büchern, nebst seinem großen heiteren Fenster, das sich gegen einen hübschen Grasplatz hin öffnete und eine reizende Landschaft beherrschte: hübsche Villen im Grün der Bäume; und dann die Vorhänge, die Teppiche, die Stühle und die Sofas – alles war so schön, so sein berechnet, so zierlich und so geschmackvoll, daß jedermann sagte, man wisse wirklich nicht, was am meiste» Bewunderung verdiene.

Und mitten zwischen alledem stand Herr Pickwick, dessen Gesicht von einem seligen Lächeln strahlte, dem das Herz keines Mannes, keiner Frau, keines Kindes widerstehen konnte: er selbst der Glücklichste im ganzen Kreise, immer denselben Leuten wieder die Hände schüttelnd, und wenn die seinigen nicht gerade geschüttelt wurden, sie voll Vergnügen reibend; bei jedem neuen Ausbruch der Freude voll Teilnahme sich überall hinwendend und durch seine wonnestrahlendcn Blicke alle begeisternd.

Das Frühstück wird angekündigt. Herr Pickwick führt die alte Dame, die sehr beredt über das Thema von der Lady Tollimglower gewesen, oben an die lange Tafel hin; Wardle setzt sich an das andere Ende, die Freunde reihen sich auf beiden Seiten, Sam faßt hinter dem Stuhle seines Herrn Posten, das Gelächter und Geplauder hört auf; Herr Pickwick spricht das Tischgebet, schweigt dann einen Augenblick und blickt rund um sich; aber wahrend er das tut, rollen ihm in der Fülle seiner Freundlichkeit die Tränen über die Wangen herab.

Und nun laßt uns von unserm alten Freunde Abschied nehmen – in einem jener Augenblicke ungetrübten Glückes, von denen uns, wenn wir sie nur suchen, immerhin einige zur Erheiterung unseres flüchtigen Daseins beschieden sind. Die Erde hat finstere Schatten, aber der Kontrast hebt ihre Lichtseiten um so stärker hervor. Es gibt Leute, die wie die Fledermäuse und Eulen bessere Augen für die Finsternis haben, als für das Licht; wir, denen solche optische Fähigkeiten nicht gegeben sind, finden mehr Vergnügen daran, den geträumten Gefährten mancher einsamen Stunden unsern letzten Abschiedsblick zuzuwerfen, wenn der kurze Sonnenschein der Welt in vollem Glänze über sie erstrahlt.

 

Es ist das Los der meisten Menschen, die sich in der Welt bewegen und es zu einem gewissen Alter bringen, daß sie sich viele wirkliche Freunde erwerben und sie durch den Lauf der Natur wieder verlieren. Es ist das Los aller Autoren oder Dichter, daß sie sich eingebildete Freunde schaffen und sie im Verlauf der Kunst wieder verlieren. Damit ist indessen das Maß ihres Unglücks noch nicht erschöpft: man verlangt von ihnen auch noch eine umständliche Erzählung, was aus diesen allen geworden ist.

Indem wir uns hiermit dieser unbestreitbaren bösen Gewohnheit fügen, setzen wir noch einige wenige biographische Notizen über die bei Herrn Pickwick versammelte Gesellschaft bei.

Herr und Frau Winkle, von dem alten Herren vollkommen in Gnaden aufgenommen, bezogen bald darauf ein eigenes neugebautes Haus, nur eine halbe Meile von Herrn Pickwick entfernt. Herr Winkle wurde der Cityagent oder Stadtkorrespondent seines Vaters, vertauschte sein altes Kostüm mit der gewöhnlichen Kleidung der Engländer und zeigte hernach immer das Äußere eines zivilisierten Christen.

Herr und Frau Snodgraß ließen sich in Dinglen Dell nieder, wo sie mehr der Beschäftigung als des Gewinn« halber ein kleines Gut kauften und bewirtschafteten. Herr Snodgraß, der zuweilen zerstreut und melancholisch ist, gilt bis auf den heutigen Tag unter seinen Freunden und Bekannten für einen großen Dichter, obgleich wir nicht finden, daß er je etwas geschrieben hätte, was diesen Glauben bestätigen könnte. Wir kennen freilich viele literarische, philosophische und andere Berühmtheiten, deren bedeutender Ruf keinen festeren Boden hat.

Herr Tupman ließ sich, als seine Freunde geheiratet und Herr Pickwick sich zurückgezogen hatte, in Richmond nieder, allwo er bis setzt geblieben ist. In den Sommermonaten geht er beständig auf der Terrasse spazieren, und zwar mit einer jugendlichen Munterkeit, die ihm die Bewunderung all der zahlreichen ältlichen Damen ledigen Standes gewonnen hat, die in der Nähe wohnen. Er hat indessen nie wieder einen Heiratsantrag gemacht.

Herr Bob Sawyer inserierte einige Male in den Zeitungen und ging dann, begleitet von Herrn Benjamin Allen, nach Bengalen, beide als wohlbestellte Chirurgen in Diensten der ostindischen Kompagnie. Sie haben vierzehnmal das gelbe Fieber gehabt und sich endlich zu einiger Enthaltsamkeit entschlossen. Seitdem ergeht es ihnen sehr gut.

Frau Bardell vermietete ihr Haus noch an manchen umgänglichen ledigen Herrn mit großem Profit, hat jedoch seitdem nicht mehr wegen gebrochenen Eheversprechens geklagt. Ihre Anwälte, die Herren Dodson und Fogg, betreiben ihr Geschäft noch immer mit gewohnter Rührigkeit, beziehen ein bedeutendes Einkommen daraus und gelten allgemein für die Schlauesten unter den Schlauen.

Sam Weller hielt sein Wort und blieb noch zwei Jahre unverheiratet. Als nach Verfluß dieser Zeit die alte Haushälterin starb, beförderte Herr Pickwick Marie zu diesem Posten, jedoch unter der Bedingung, Herrn Weller unverweilt zu heiraten, was sie ohne Murren tat. Aus dem Umstand, daß am Tore des Gartens hinter dem Hause zu wiederholten Malen ein paar derbe kleine Buben erblickt worden sind, glauben wir schließen zu können, daß Sam Familie hat.

Der ältere Herr Weller regierte noch zwölf Monate lang eine Postkutsche, bekam aber die Gicht, die ihn nötigte, sich zurückzuziehen. Herr Pickwick hatte den Inhalt seiner Brieftasche so gut für ihn angelegt, daß er eine recht hübsche jährliche Rente besitzt, von der er gemächlich in einem vortrefflichen Gasthause in der Nähe von Shooters Hill lebt. Dort wird er als ein wahres Orakel verehrt; er rühmt sich gewaltig seiner vertrauten Freundschaft mit Herrn Pickwick und hegt fortwährend den unüberwindlichen Widerwillen gegen Witwen.

Herr Pickwick aber wohnt dauernd in seinem neuen Hause und verwendet seine Mußestunden dazu, die Memoiren aufzuzeichnen, die er später dem Sekretär des einst so berühmten Klubs mitteilt. Oder er ist damit beschäftigt, sich von Sam Weller vorlesen zu lassen, dessen Bemerkungen, wie sie sich ihm gerade aufdrängen, Herrn Pickwick stets großes Vergnügen bereiten. Im Anfang wurde er sehr durch die zahlreichen Gesuche der Herren Snodgraß, Winkle und Trundle belästigt, bei ihrer Nachkommenschaft Gevatter zu stehen; allein er hat sich setzt daran gewöhnt und betrachtet diesen Dienst als eine Sache, die sich nun einmal nicht abändern läßt. Er hat niemals Veranlassung gehabt, seine Güte gegen Herrn Jingle zu bereuen; denn sowohl er als Job Trotter sind mit der Zeit würdige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden, haben indessen jede Aufforderung, nach den Schauplätzen ihres früheren Unwesens zurückzukehren, standhaft zurückgewiesen. Herr Pickwick ist etwas kränklich geworden, sein Geist aber hat alle seine Jugendfrische behalten, und man sieht ihn noch häufig die Gemälde in der Dulwicher Galerie betrachten, oder an schönen Tagen in seiner hübschen Nachbarschaft lustwandeln. Die Armen in der Gegend kennen ihn alle und unterlassen es nie, mit großer Ehrerbietung die Hüte abzuziehen, wenn er vorübergeht. Die Kinder vergöttern ihn, und die ganze Nachbarschaft tut es wahrhaftig auch. Er begibt sich alljährlich zu einem großen Familienfest in Herrn Wardles Haus; und, wie überall hin, begleitet ihn auch hier der getreue Sam. Zwischen diesem und seinem Herrn waltet eine feste Anhänglichkeit, der nur der Tod ein Ende machen wird.

 

Sechsundvierzigstes Kapitel


Sechsundvierzigstes Kapitel

Schildert eine rührende Zusammenkunft Herrn Samuel Wellers mit einem Familienkreis. Herr Pickwick macht die Runde in der kleinen Welt, darinnen er wohnt, und faßt den Entschluß, künftighin so wenig wie möglich mit ihr zu verkehren.

Einige Tage nach seiner Gefangensetzung ging Herr Samuel Weller des Morgens, nachdem er das Zimmer seines Herrn mit aller möglichen Sorgfalt in Ordnung gebracht hatte und seinen Herrn behaglich über seinen Büchern und Papieren sitzen sah, mit sich selbst zu Rate, wie er die nächsten zwei Stunden am angemessensten verwenden könnte. Der Morgen war schön, und Sam kam aus den Gedanken, daß eine Flasche Porter in der freien Luft seine nächste Viertelstunde ebensogut erheitern würde, als irgendeine andere kleine Erholung, deren er sich erfreuen könnte.

Auf diesen Schluß gekommen, ging er in die Schenkstube, und nachdem er das Bier und überdies noch die ehegestrige Zeitung bekommen hatte, begab er sich auf die Kugelbahn, setzte sich auf eine Bank und begann, sich auf eine sehr gesetzte und systematische Methode zu unterhalten.

Vor allem nahm er einen erfrischenden Schluck Bier zu sich, sah dann zu einem Fenster empor und beglückte eine junge Dame, die hinter diesem Kartoffeln schälte, mit einem platonischen Blinzeln. Dann entfaltete er die Zeitung und gab sich Mühe, die Polizeiberichte nach außen zu wenden. Da das bei dem sich darin verfangenden Winde eine anstrengende und schwierige Arbeit war, so nahm er nach deren Vollendung einen zweiten Schluck Bier. Dann las er zwei Zeilen und unterbrach diese Beschäftigung, um einigen Männern zuzusehen, die ein Racketspiel zum Schluß brachten, nach dessen Beendigung er beifälligerweise »sehr gut« rief. Dann ließ er seine Augen im Kreise der Zuschauer die Runde machen, um sich zu überzeugen, ob ihre Gefühle mit den seinen zusammenträfen. Weiter sah er sich veranlaßt, auch das Fenster hinaufzusehen: und da die junge Dame noch immer dort stand, so erforderte es die allgemeine Höflichkeit, ihr wieder zuzublinzeln und in einem andern Schluck Bier mit stummem Wink ihre Gesundheit zu trinken, was Sam sofort tat. Nachdem er einem jungen, der solchem Beginnen mit weitgeöffneten Augen zusah, einen furchtbaren Zornblick zugeworfen hatte, schlug er seine Beine übereinander und begann nun, die Zeitung mit beiden Händen haltend, in allem Ernste zu lesen.

Kaum hatte er sich in den erforderlichen Zustand des Nachdenkens versetzt, als er aus einem entfernten Gange seinen eigenen Namen zu hören glaubte. Das war auch keine Täuschung, denn der Name lief alsbald von Mund zu Mund, und in wenigen Sekunden erzitterte die Luft mit lauter »Weller«.

»Hier!« schrie Sam mit Stentorstimme. »Was gibt’s? Wer fragt nach ihm? Ist ein Eilbote gekommen, um zu melden, daß mein Landhaus in Flammen steht?«

»In der Halle fragt jemand nach Ihnen«, sagte ein Mann, der neben ihm stand.

»Geben Sie auf das Blatt und den Krug acht, alter Kamerad, wollen Sie?« bat Sam. »Ich komme. Bei Gott, wenn sie mich vor die Schranken riefen, so könnten sie keinen größeren Lärm machen.«

Diese Worte unterstrich er durch einen sanften Schlag an den Kopf des vorerwähnten jungen Herrn, der, die unmittelbare Nähe der verlangten Person nicht ahnend, aus Leibeskräften »Weller« schrie. Sam eilte über den Hof und sprang die Treppe hinauf in die Halle. Hier war das erste, was seine Augen sahen, sein geliebter Vater, der mit dem Hute in der Hand auf der untersten Treppenstufe saß und alle halbe Minuten aus vollem Halse »Weller« rief.

»Warum schreit Ihr denn so?« fragte Sam energisch, als der alte Herr eben einen weiteren Schrei ausgestoßen hatte. »Ihr macht Euch ja so heiß, daß Ihr wie ein geplagter Glasbläser ausseht. Was gibt’s?«

»Aha!« rief der alte Herr: »ich fürchtete schon, du möchtest einen Gang um den Regentschaftspark gemacht haben, Sammy.«

»Still!« sagte Sam, »niemand verhöhnt das Opfer des Geizes. Und geht von dieser Treppe weg. Warum sitzt Ihr denn hier? Da ist doch gewiß mein Logis nicht.«

»Ich muß dir einen Spaß erzählen, Sammy«, versetzte der ältere Weller aufstehend.

»Wartet einen Augenblick«, sagte Sam. »Ihr seid ganz weiß hinten.«

»Das ist recht, Sammy, bürste mich ab«, versetzte Herr Weller, als ihn sein Sohn abstäubte. »Es möchte hier ein außerordentliches Ereignis sein, wenn jemand etwas Weißes auf dem Leibe hätte – nicht wahr, Sammy?«

Als Herr Weller sich vor Lachen schütteln wollte, winkte ihm Sam, innezuhalten.

»Seid ruhig«, sagte Sam. »Ein solcher alter Narr ist doch noch nie auf die Welt gekommen. Was habt Ihr jetzt zu lachen?«

»Sammy«, versetzte Herr Weller sich die Stirne abwischend, »ich fürchte, mich trifft dieser Tage noch der Schlag vor lauter Lachen.«

»Warum setzt Ihr Euch dem aus?« fragte Sam. »Nun was wolltet Ihr mir erzählen?«

»Wer, glaubst du, daß mit mir hierher gekommen sei, Samuel?« fragte Herr Weller, einen oder zwei Schritte zurücktretend, indem er den Mund aufsperrte und die Brauen in die Höhe zog.

»Pell?« sagte Sam.

Herr Weller schüttelte den Kopf und dehnte seine roten Backen durch das Gelächter aus, das er hervorzudrängen versuchte.

»Der Buntscheckige vielleicht?« riet Sam.

Herr Weller schüttelte wieder den Kopf.

»Nun, wer, denn?« fragte Sam.

»Deine Stiefmutter«, erwiderte Herr Weller.

Und es war ein Glück, daß er das endlich verriet, sonst wären seine Backen bei der unmäßigen Anstrengung unvermeidlich geborsten.

»Deine Stiefmutter, Sammy«, sagte Herr Weller, »und die Rotnase, mein Junge, die Rotnase. Ho! Ho! Ho!«

Bei diesen Worten bekam Herr Weller Lachkrämpfe, während ihn Sam mit einem breiten Grinsen ansah, das sich allmählich über sein ganzes Gesicht verbreitete.

»Sie sind hierher gekommen, um dir ins Gewissen zu reden, Samuel«, sagte Herr Weller, sich die Augen wischend. »Laß nur nichts von deinem merkwürdigen Gläubiger merken, Sammy.«

»Was? Wissen sie nicht, wer es ist?« fragte Sam.

»Nicht im mindesten«, versetzte sein Vater.

»Wo sind sie?« fragte Sam, mit dem Alten um die Wette lachend.

»In der Snuggerey«, versetzte Herr Weller. »Glaubst du, die Rotnase gehe hin, wo es nichts Gebranntes gibt? Nie, Samuel – nie. Wir hatten diesen Morgen eine sehr hübsche Fahrt vom Marquis hierher«, sagte Herr Weller, als er vom Lachen wieder mehr zu sich kam. »Ich spannte den alten Schecken in das alte Wägelchen, das dem ersten Manne deiner Stiefmutter gehört hatte. Man hob einen Armstuhl für den Hirten hinauf; und ich will verdammt sein«, fügte Herr Weller mit dem Blicke tiefer Verachtung bei, »wenn sie nicht eine tragbare Treppe auf die Straße herausschleppten, um dem Hirten das Aufsteigen bequem zu machen.«

»Das kann doch unmöglich Euer Ernst sein?« bemerkte Sam.

»Purer Ernst«, versetzte sein Vater, »und ich wünschte nur, du hättest es gesehen, wie er sich beim Aufsteigen an den Leitern festklammerte, als fürchtete er, sechs volle Fuß hinabzustürzen und in Million Stücke zerschmettert zu werden. Endlich plumpte er hinein; wir fuhren von dannen, und ich meine fast, – ich sage, ich meine fast, Samuel – daß er ordentlich gerüttelt wurde, wenn’s um die Ecken ging.«

»Vermutlich fuhret Ihr an ein Paar Pfosten an?« fragte Sam.

»Ich fürchte«, versetzte Herr Weller im Feuer seines Gebärdenspiels – »ich fürchte, ich streifte an einem oder zwei vorbei, Sammy: er flog nach allen Seiten aus seinem Armstuhl heraus.«

Hier schüttelte der Alte seinen Kopf gewaltig und wurde von einem heiseren inneren Kollern befallen, das sein Gesicht bis zum Sprengen auftrieb – Symptome, die seinen Sohn nicht wenig beunruhigten.

»Sei unbesorgt, Sammy – sei unbesorgt«, sagte der Alte, als er nach ungeheurer Anstrengung und verschiedenen konvulsivischen Stößen gegen den Boden seine Stimme wiedererlangt hatte. »Es ist nur eine Art von stillem Lachen, das ich zum Ausbruch kommen lassen will, Sammy.«

»Nun, wenn es ist, was es ist«, sagte Sam, »so wäre es besser. Ihr ließet’s drinnen. Ihr werdet finden, daß diese Erfindung etwas gefährlicher Natur ist.

»Gefällt sie dir nicht, Sammy?« fragte der Alte.

»Nicht im geringsten«, versetzte Sam.

»Gut«, sagte Herr Weller, indem ihm immer noch die Tränen über die Wangen liefen, »es wäre eine große Erleichterung für mich gewesen, wenn mir’s gelungen wäre, und hätte mir und deiner Stiefmutter eine große Menge Reden erspart: aber ich fürchte, du hast recht, Sammy: es grenzt zu nahe an das Schlagartige – viel zu nahe, Samuel.«

So weit war die Unterhaltung gediehen, als sie an der Tür der Snuggery ankamen, in die Sam alsbald eintrat, nachdem er zuvor einen Augenblick stehengeblieben war, um über die Schulter weg einen schlauen Blick auf seinen verehrten Erzeuger zu werfen, der immer noch kicherte.

»Stiefmutter«, sagte Sam, die Dame höflich grüßend, »sehr verbunden für Ihren gütigen Besuch. Hirte, wie geht es Ihnen?«

»O Samuel!« sagte Frau Weller, »das ist fürchterlich.«

»Nicht im mindesten, Madame«, versetzte Sam; »oder ist es, das Hirte?«

Herr Stiggins hob seine Hände empor und verdrehte seine Augen, bis nur noch das Weiße oder vielmehr das Gelbe allein sichtbar war, erwiderte aber nichts.

»Ist der Herr mit einem schmerzhaften Leiden behaftet?« fragte Sam, seine Stiefmutter mit einem Blicke ansehend, der um Aufschluß bat.

»Der gute Mann ist bekümmert, Sie hier zu sehen, Samuel«, versetzte Frau Weller.

»So; wirklich?« sagte Sam. »Sein Betragen machte mich besorgter möchte es vergessen haben, die letzten Gurken, die er zu sich nahm, mit Pfeffer zu bestreuen. Setzen Sie sich, Sir; wir machen keine Zeche für das Sitzen, wie der König bemerkte, als er seine Minister absetzte.«

»Junger Mann«, versetzte Herr Stiggins hochtrabend, »ich fürchte, das Gefängnis hat Sie noch nicht gedemütigt.«

»Bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte Sam, »was waren Sie so gütig zu bemerken?«

»Ich fürchte, junger Mann, Ihr Charakter ist durch diese Züchtigung nicht demütiger geworden«, sagte Stiggins mit lauter Stimme.

»Sie sind sehr gütig, Sir«, erwiderte Sam. »Ich hoffe, meine Natur gehört nicht zu den demütigen. Sehr verbunden für Ihre gute Meinung, Sir.«

Bei diesem Teile des Gesprächs ließen sich in der Gegend des Stuhles, auf dem der ältere Herr Weller saß, aufreizende, gelächterartige Laute vernehmen, über die Frau Weller nach schneller Überlegung aller obwaltenden Umstände allmählich hysterische Krämpfe zu bekommen für ihre unerläßliche Pflicht hielt.

»Weller«, sagte Frau Weller (der Alte saß in einem Winkel): »Weller, komm hervor!«

»Sehr freundlich, meine Liebe«, versetzte Herr Weller: »aber ich fühle mich ganz behaglich, wo ich bin.«

Daraufhin brach Frau Weller in Tränen aus.

»Was fehlt Ihnen, Madame?« fragte Sam.

»O Samuel!« versetzte Frau Weller, »Ihr Vater macht mich ganz unglücklich. Will ihm denn gar nichts zur Raison bringen?«

»Hört Ihr’s«, rief Sam. »Die Dame möchte wissen, ob Euch gar nichts zur Raison bringen würde.«

»Ich bin der Frau Weller für ihre höflichen Fragen sehr viel Dank schuldig, Sammy«, erwiderte der Alte. »Ich denke, eine Pfeife würde mich zur Raison bringen. Könnte ich eine bekommen, Sammy?«

Hier vergoß Frau Weller einige Tränen weiter und Herr Stiggins schluchzte.

»Holla! diesem unglücklichen Herrn wird wieder übel«, sagte Sam, sich rund umsehend. »Wo schmerzt e« Sie jetzt, Sir?«

»Immer noch an der gleichen Stelle, junger Mann«, erwiderte Herr Stiggins: »immer noch an der gleichen Stelle.«

»Wo mag das sein, Sir?« fragte Sam anscheinend mit großer Einfalt.

»Im Herzen, junger Mann«, entgegnete Herr Stiggins, seinen Regenschirm an die Weste setzend.

Bei dieser rührenden Antwort konnte Frau Weiter ihre Gefühle unmöglich unterdrücken. Sie schluchzte laut und stellte die Behauptung auf, der Mann mit der roten Nase sei ein Heiliger; worauf Herr Weller senior mit gedämpftem Tone die Äußerung wagte, er müsse der Vertreter der vereinigten Gemeinden des heiligen Simon Außen und des heiligen Walker Innen sein.

»Ich fürchte, liebe Verwandte, dieser Herr mit seinen verdrehten Gesichtszügen bekommt Durst von dem traurigen Anblick, den er vor sich hat. Ist das der Fall, Frau Mutter?«

Die würdige Dame sah Herrn Stiggins forschend an, und der Herr ließ seine Augen rollen und faßte seine Kehle mit der rechten Hand an, wobei er die Handlung des Schlingens mimisch darstellte, um dadurch anzudeuten, daß er Durst habe.

»Ich fürchte, seine Gefühle haben ihn durstig gemacht«, bemerkte Herr Weller düster.

»Was ist Ihr gewöhnliches Getränk, Sir?« fragte Sam.

»O, mein lieber junger Freund!« versetzte Herr Stiggins, »Getränke sind Eitelkeiten.«

»Nur zu wahr; zu wahr, in der Tat«, bemerkte Frau Weller schluchzend, mit beifälligem Kopfnicken.

»Wohlan«, sagte Sam, »ich gebe es zu, Sir, aber Ihre Lieblingseitelkeit. Welche Eitelkeit schmeckt Ihnen am besten, Sir?«

»Ach mein lieber junger Freund«, versetzte Herr Stiggins, »ich verachte alle. Wenn«, fuhr Herr Stiggins fort, »wenn es eins gibt, das weniger gehässig ist, als ein anderes, so ist es der Geist, den man Rum nennt – warm, mein lieber junger Freund, mit drei Stückchen Zucker für das Glas.«

»Tut mir sehr leid. Ihnen sagen zu müssen«, versetzte Sam, »daß es nicht gestattet ist, Ihre Lieblingseitelkeit in diesem Lokale zu verkaufen.«

»Ach, über die Hartherzigkeit dieser verstockten Menschen!« rief Herr Stiggins aus. »Ach, über die fluchenswürdige Grausamkeit dieser unmenschlichen Verfolger!«

Mit diesen Worten hob Herr Stiggins wieder seine Augen auf und stieß den Regenschirm gegen seine Brust. Wir lassen dem ehrwürdigen Mann nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn wir sagen, sein Unwille war in der Tat aufrichtig und ungeheuchelt.

Nachdem Frau Weller und der Mann mit der roten Nase über diesen unmenschlichen Gebrauch aus allen Kräften losgezogen und gegen die Urheber desselben eine Menge frommer und heiliger Verwünschungen ausgestoßen hatten, schlug der letztere eine Flasche Portwein mit etwas warmem Wasser, Gewürz und Zucker vor, weil dieses dem Magen sehr dienlich sei und weniger nach Eitelkeit schmecke, als viele andere Mischungen. Es war also befohlen, ihn zu bereiten und während der Bereitung sahen der Mann mit der roten Nase und Frau Weller auf den älteren Weller und schluchzten.

»Nun, Sammy«, sagte dieser Gentleman, »ich hoffe, du bist über diesen leibhaftigen Besuch sehr erfreut? Eine sehr heitere und lehrreiche Unterhaltung, Sammy, nicht wahr?«

»Ihr seid ein Verworfener«, entgegnete Sam; »und ich wünschte, Ihr richtetet keine so ruchlosen Bemerkungen an mich.«

Weit entfernt, durch diese höchst zeitgemäße Erwiderung erbaut zu werden, verzog der ältere Herr Weller sein Gesicht plötzlich zu einem breiten Grinsen. Da dieses unveränderliche Benehmen die Dame und Herrn Stiggins veranlaßte, die Augen zu schließen und unruhig auf ihren Stühlen hin- und herzurücken, so führte er noch mehrere Pantomimen aus, die das Verlangen andeuteten, vorbesagten Stiggins eins auf die Nase zu versetzen – ein Verlangen, dessen Befriedigung sein Herz sehr zu erleichtern versprach. Die Gesten des alten Weller blieben übrigens jenen beiden kaum unbekannt. Herr Stiggins war nämlich bei einem zufälligen Blick auf den ankommenden Glühwein mit seinem Kopf heftig gegen die geballte Faust gestoßen, die Herr Weller einige Minuten lang, nur zwei Zoll von seinem Ohre entfernt, wie ein Feuerrad kreisen ließ.

»Was reckt Ihr Eure Hand auf diese rohe Weise nach dem Becher aus?« rief Sam plötzlich. »Seht Ihr denn nicht, daß Ihr den Herrn da stoßt?«

»Ich wollte das nicht, Sammy«, sagte Herr Weller, durch den Zusammenprall denn doch einigermaßen in Verlegenheit gebracht.

»Versuchen Sie einmal eine innerliche Medizin, Sir«, bemerkte Sam, als der rotnasige Herr sich mit kläglicher Miene am Kopf scheuerte. »Was halten Sie von einer solchen warmen Eitelkeit, Sir?«

Herr Stiggins antwortete nicht mit Worten, aber sein Benehmen war verständlich. Er kostete den Inhalt des Glases, das ihm Sam in die Hand gegeben hatte, und stieß seinen Regenschirm auf den Boden. Dann kostete er wieder, die Magengegend zwei- bis dreimal behaglich mit der Hand streichend; schließlich trank er das Ganze auf einen Zug aus, schmatzte mit den Lippen und hielt den Becher hin, um ihn zum zweitenmal füllen zu lassen.

Auch Frau Weller blieb nicht zurück, wo es galt, der Mischung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die gute Dame protestierte anfangs, sie könne keinen Tropfen trinken, – dann trank sie eine kleinen Tropfen –- dann einen großen Tropfen – und dann eine große Menge Tropfen, und da ihre Gefühle von der Natur derjenigen Substanzen waren, die durch Anwendung gebrannter Wasser stark angegriffen werden, so ließ sie bei jedem Tropfen Glühwein einen Tränentropfen fallen und ihre Gefühle so sehr zerfließen, daß sie endlich eine sehr anständige und imposante Höhe des Elends erreichte.

Der ältere Herr Weller gab bei der Beobachtung dieser Zeichen und Merkmale sein Mißfallen auf mannigfache Weise zu erkennen. Als nun Herr Stiggins, nach einem zweiten Kruge desselben Inhalts, kläglich zu seufzen anfing, so legte er seine Unzufriedenheit mit der ganzen Aufführung durch verschiedenes zorniges Gebrumme und Bemerkungen wie »Alfanzereien« offen an den Tag.

»Ich will dir sagen, was es ist, Samuel, mein Junge«, flüsterte der alte Herr, nach einer langen, aufmerksamen Beobachtung seiner Frau und Herrn Stiggins, seinem Sohn ins Ohr: »ich glaube, es muß deiner Stiefmutter und dem Rotnasigen im Leib nicht recht wohl sein.«

»Wie meint Ihr das?« fragte Sam.

»Ich meine, Sammy«, versetzte der alte Herr, »was sie trinken, scheint ihnen nicht zur Nahrung zu dienen: es verwandelt sich alles plötzlich in warmes Wasser und kommt durch die Augen wieder heraus. Ich versichere dich, Sammy, es ist ein Fehler in ihrer Konstitution.«

Herr Weller brachte seine wissenschaftliche Ansicht mit einer Menge bestätigender Winke und Gebärden vor: und als Frau Weller dieselben bemerkte und irgendeine mißliebige Beziehung auf sich oder Herrn Stiggins oder beide bezog, stand sie im Begriff, außerordentlich unwohl zu werden, während Herr Stiggins, sich so gut wie möglich auf die Beine helfend, in einer erbaulichen Rede fortfuhr, die auf das Seelenheil der Gesellschaft, insbesondere aber Herrn Samuels, abzielte. Er beschwor Weller Junior in rührenden Ausdrücken, die Sünde zu fliehen, der er anheimgefallen sei, alle Heuchelei und allen Hochmut zu meiden, und in allen Stücken ihn (Stiggins) zum Neuster und Vorbild zu nehmen. Dann könne er früher oder später zu dem köstlichen Bewußtsein gelangen, daß er, gleich ihm, ein höchst achtbarer und tadelloser Charakter und alle seine Bekannten und Freunde rettungslos verloren und verworfen seien – ein Bewußtsein, sagte er, das ihm die größte Seligkeit bereiten würde.

Er beschwor ihn ferner, vor allen Dingen das Laster der Trunkenheit zu fliehen, das er den unflätigen Gewohnheiten der Schweine und den giftigen und verderblichen Arzneien verglich, die in den Mund aufgenommen, das Gedächtnis vernichteten. An dieser Stelle seiner Rede wurde der ehrwürdige Herr mit der roten Nase besonders unzusammenhängend, und im Feuer der Beredsamkeit hin- und herschwankend, mußte er sich an der Stuhllehne halten, um das Gleichgewicht zu behaupten.

Herr Stiggins suchte seine Zuhörer zwar nicht vor den falschen Propheten und elenden Spöttern über die Religion zu warnen, die ohne den Verstand, die ersten Lehrsätze de« Glaubens auszulegen, oder ohne das Herz, die Grundwahrheiten zu empfinden, gefährlichere Mitglieder der Gesellschaft sind, als der gemeine Verbrecher: denn sie üben notwendig auf die Schwächsten und am wenigsten Unterrichteten die stärkste Herrschaft aus, setzen alles, was am heiligsten gehalten werden sollte, herab, machen es verächtlich und bringen ganze Klassen von tugendhaften und sittlich guten Menschen vieler wertvollen Sekten und Glaubenspartien in üblen Ruf. Aber da Herr Stiggins sich eine geraume Zeitlang an der Stuhllehne festhielt und das eine Auge geschlossen hatte, während er mit dem andern fortwährend blinzelte, so läßt sich annehmen, daß er an all das dachte, aber es weislich bei sich behielt.

Während dieser Predigt seufzte und weinte Frau Weller am Schlüsse der Abschnitte, während Sam mit übergeschlagenen Beinen und auf der Seitenlehne seines Stuhles ruhenden Armen den Sprecher mit einem süßen, milden Lächeln betrachtete, und gelegentlich einen Blick des Verständnisses auf den alten Herrn warf, der im Anfang entzückt war und ungefähr in der Mitte einschlief.

»Bravo! ganz vortrefflich!« rief Sam, als der Mann mit der roten Nase nach dem Schlüsse der Rede seine abgetragenen Handschuhe anzog und, während dieses Geschäft«, die Finger durch die durchlöcherten Enden steckte, bis die Knöchel sichtbar wurden – »ganz vortrefflich.«

»Ich hoffe, es wird bei Ihnen anschlagen, Samuel«, sagte Frau Weller feierlich.

»Ich denke auch, Stiefmutter«, versetzte Sam.

»Ich wollte, es schlüge auch bei Ihrem Vater an«, sagte Frau Weller.

»Danke dir, meine Teure«, erwiderte Herr Weller senior. »Welchen Eindruck macht es denn auf dich selbst, meine Liebe?«

»Spötter!« rief Frau Weller.

»Unerleuchteter Mann!« sagte der ehrwürdige Herr Stiggins.

»Wenn ich kein besseres Licht bekomme, als Ihren Mondschein, mein würdiges Goldkind«, versetzte der ältere Herr Weller, »so ist es sehr wahrscheinlich, daß ich ewig eine Nachtkutsche fahren werde, bis ich ganz von der Lebensstraße Abschied nehme. Jetzt aber, Frau Weller, wenn der Schecke noch länger am Futtertrog steht, so hält er mir auf dem Heimweg nicht mehr Stand und wirft vielleicht den Armstuhl samt dem Hirten in diese oder jene Hecke.«

Auf diese Bemerkung nahm Herr Stiggins in augenscheinlicher Bestürzung Hut und Regenschirm und drang auf alsbaldige Abreise, womit Frau Weller ebenfalls zufrieden war. Sam ging mit ihnen bis ans Gefängnistor, wo er einen zärtlichen Abschied von seinen Gästen nahm.

»Adio, Samuel«, sagte der alte Herr.

»Was heißt das, Adio?« fragte Sam.

»Nun denn: so lebe wohl«, sagte der alte Herr,

»Weiter habt Ihr nichts gewußt?« fragte Sam. »Nun, so lebt wohl, alter Racker.«

»Sammy«, flüsterte Herr Weller, vorsichtig um sich blickend, »meine Empfehlung an deinen Prinzipal, und wenn er sich einmal eines Besseren besinne, so solle er es nur mich wissen lassen. Ich und der Kunsttischler haben miteinander einen Plan ausgeheckt, ihn herauszukriegen. Ein Piano, Samuel – ein Piano!« fügte Herr Weller hinzu, indem er seinen Sohn mit der Rückseite seiner Hand auf den Brustkasten schlug und ein paar Schritte zurücktrat.

»Was meint Ihr damit?« fragte Sam.

»Ein Pianoforte, Samuel«, erwiderte Herr Weller noch geheimnisvoller; »er kann es mieten: so eins, wo man nicht darauf spielt, Sammy.«

»Und wozu soll das gut sein?« meinte Sam.

»Er soll zu meinem Freund, dem Kunsttischler schicken, und es holen lassen«, erklärte Herr Weiler. »Verstehst du mich jetzt?«

»Nein«, versicherte Sam.

»Es ist gar nichts dabei zu riskieren«, flüsterte sein Vater. »Er kann sich mit seinem Hut und seinen Schuhen hineinlegen, und durch das Gestell, das hohl ist, frische Luft schöpfen. Wir halten ein Schiff nach Amerika für ihn bereit. Die amerikanische Regierung gibt ihn nicht heraus, sobald sie sieht, daß er Geld zu verzehren hat, Sammy. Dort kann dein Prinzipal bleiben, bis Frau Bardell tot ist, oder die Herren Dodson und Fogg am Galgen hängen, welches letztere wahrscheinlich zuerst geschehen wird, Sammy. Dann soll er zurückkommen und ein Buch über die Amerikaner schreiben, das ihm alle seine Reisekosten und noch mehr einträgt, wenn er ihnen nur tüchtig heimleuchtet.«

Herr Weller flüsterte diesen kurzen Abriß von seinem Komplott dem Sohne erregt ins Ohr; dann aber gab er, als fürchte er, durch ein weiteres Gespräch die Wirkung seiner unerhörten Mitteilung zu schwächen, den Kutschergruß und verschwand.

Sam hatte kaum seine gewöhnliche Ruhe wieder erlangt, die durch die geheime Mitteilung seines verehrten Vaters gewaltig gestört worden war, als Herr Pickwick zu ihm trat.

»Sam«, sprach dieser Gentleman.

»Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Ich wünsche einen Gang durch das ganze Gefängnis zu machen, und du sollst mich dabei begleiten. Da kommt ja eben ein Gefangener, den wir kennen, Sam«, fügte Herr Pickwick lächelnd hinzu.

»Wer ist es, Sir?« fragte Herr Weller; »der Gentleman mit dem Krauskopf oder der interessante Herr in den Strümpfen?«

»Keiner von beiden«, erwiderte Herr Pickwick. »Ein viel älterer Freund von dir, Sam.«

»Von mir, Sir?« rief Herr Weller.

»Du mußt dich dieses Herrn noch ganz gut erinnern«, sagte Herr Pickwick, »sonst hättest du ja ein weit schlechteres Gedächtnis für alte Bekannte, als ich dir zutrauen kann. Still! kein Wort mehr, Sam – keine Silbe. Da ist er.«

Während Herr Pickwick sprach, kam Jingle herbei. Er sah weniger elend aus, als zuvor; denn er trug seine bloß halbabgenutzten Kleider, die er mit Herrn Pickwicks Hilfe aus der Gefangenschaft des Leihhauses gelöst hatte. Auch hatte er ein weißes Hemd an, und seine Haare waren frisch gestutzt. Gleichwohl war er sehr blaß und mager, und als er, auf einen Stock sich stützend, langsam heranschlich, konnte man ihm leicht ansehen, daß er durch Krankheit und Mangel hart gelitten hatte und noch immer äußerst schwach war. Er zog seinen Hut, als Herr Pickwick ihn grüßte, und beim Anblick Sam Wellers schien er sehr gedemütigt und beschämt.

Dicht hinter ihm erschien Job Trotter, in dessen Sündenregister jedenfalls Mangel an Treue und Anhänglichkeit an seinen Kameraden keinen Platz findet. Er war noch immer zerlumpt und schmutzig, sein Gesicht aber nicht mehr ganz so hohl, wie bei seinem ersten Zusammentreffen mit Herrn Pickwick vor einigen Tagen. Als er gegen unsern wohlwollenden alten Freund den Hut abnahm, murmelte er einige abgebrochene Ausdrücke der Dankbarkeit und stammelte etwas von Errettung vorm Hungertode.

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick, ihn ungeduldig unterbrechend, »Sie können mit Sam nachkommen. Ich wünsche Sie zu sprechen, Herr Jingle. Können Sie gehen ohne seinen Arm?«

»O ja, Sir – ganz zu Diensten – nicht zu schnell – Beine schlottrig – Kopf betäubt – immer im Ring herum – erdbebenartige Empfindung – ganz erdbebenartig.«

»Da, geben Sie mir Ihren Arm«, sagte Herr Pickwick.

»Nein, nein«, erwiderte Jingle, »unmöglich, – zu viel Güte.«

»Unsinn!« sagte Herr Pickwick; »stützen Sie sich auf mich, ich will es so haben, Sir.«

Da Herr Pickwick sah, daß Jingle äußerst aufgeregt, verwirrt und unschlüssig war, so brach er den Handel kurz ab, indem er den Arm des kranken Komödianten durch den seinen steckte und ihn fortführte, ohne noch ein Wort darüber zu verlieren.

Während dieser ganzen Zeit zeigte Herrn Samuel Wellers Angesicht einen Ausdruck des überwältigendsten und überschwenglichsten Erstaunens, das sich die Einbildungskraft nur vormalen kann. Nachdem er in tiefem Schweigen von Job zu Jingle und von Jingle zu Job geblickt, stieß er endlich leise die Worte aus: »Nun, das ist wirklich …!« und wiederholte sie wenigstens zwanzig Mal. Nach dieser Übung aber schien er seiner Stimme gänzlich beraubt zu sein, und warf in Arger, Verworrenheit und Verwunderung seine Augen aufs neue zuerst auf den einen und dann auf den andern.

»Nun, Sam«, sagte Herr Pickwick sich umsehend.

»Ich komme, Sir«, erwiderte Herr Weller, indem er seinem Herrn mechanisch nachfolgte; und noch immer wandte er seine Augen nicht von Herrn Job Trotter ab, der schweigend ihm zur Seite ging.

Job heftete seine Blicke einige Zeit auf den Boden, und Sam, der die seinigen an Jobs Gesicht gleichsam geklebt hatte, rannte gegen alle Leute, die ihm begegneten, an, fiel über kleine Kinder, stolperte an Treppen und Geländern und schien von all dem nichts zu bemerken, bis Job verstohlen aufblickte und sagte:

»Wie geht es Ihnen, Herr Weller?«

»Ja, er ist’s!« rief Sam, und nachdem er Jobs Identität zweifellos festgestellt, schlug er sich auf das Bein und machte seinen Gefühlen in einem langen, lauten Pfeifen Luft.

»Mit mir hat es sich sehr geändert, Sir«, sagte Job.

»Das sehe ich«, rief Herr Weller, mit unverstellter Verwunderung die Lumpen seines Begleiters betrachtend. »Es ist aber ein schlechter Tausch gewesen, wie der Bauer sagte, als er zwei verdächtige Schillinge und sechs Pence in kleiner Münze für eine gute halbe Krone eingehandelt hatte.«

»Ja, es ist wahr«, versetzte Job den Kopf schüttelnd. »Die Zeit des Betrugs ist jetzt vorbei, Herr Weller. Tränen«, fügte er halb verschmitzt hinzu, – »Tränen sind weder die einzigen Beweise von Kummer und Elend, noch die besten.«

»Das weiß der liebe Gott!« erwiderte Sam ausdrucksvoll.

»Man kann sie auch künstlich hervorrufen, Herr Weller«, fuhr Job fort.

»Sehr richtig bemerkt«, versetzte Sam; »es gibt Leute, die immer welche in Bereitschaft halten und den Stöpsel herausziehen können, wann es ihnen paßt.«

»Ja, ja«, sagte Job; »aber, mein lieber Herr Weller, diese Dinge lassen sich doch nicht so leicht nachmachen, und es ist ein gar schmerzhafter Prozeß, sie künstlich hervorzurufen.«

So sprechend deutete er auf seine blassen, eingesunkenen Wangen, schlug seinen Rockärmel zurück und entblößte einen Arm, der aussah, als ob man ihn durch die geringste Berührung abbrechen könnte, so dünn und spitzig stachen die Knochen unter seiner dünnen Fleischdecke hervor.

»Was haben Sie mit sich selbst angefangen?« fragte Sam zusammenschauernd.

»Nichts«, erwiderte Job.

»Nichts?« wiederholte Sam.

»Ich habe schon viele Wochen gar nichts getan«, sagte Job, »und beinahe ebensowenig gegessen und getrunken.«

Sam warf einen umfassenden Blick auf Herrn Trotters dünnes Gesicht und seine ganze jammervolle Erscheinung; dann ergriff er ihn beim Arm und zog ihn rasch mit sich fort.

»Wohin wollen Sie, Herr Weller?« stöhnte Job, der sich aus dem mächtigen Griff seines alten Feindes vergeblich loszuringen suchte.

»Kommen Sie«, sagte Sam, »kommen Sie.«

Er würdigte ihn keiner weiteren Erklärung, bis sie die Snuggery erreicht hatten, wo er einen Krug Porter bestellte, der sogleich gebracht wurde.

»Da«, sagte Sam, »trinken Sie alles bis auf den letzten Tropfen, und dann kehren Sie den Krug um, damit ich sehe, wie Sie die Arznei eingenommen haben.«

»Aber mein bester Herr Weller«, wendete Job ein.

»Hinunter damit«, sprach Sam gebieterisch.

Dieser Aufforderung zufolge erhob Herr Trotter den Krug zu seinen Lippen und leerte ihn in kleinen, beinahe unmerkbaren Schlucken bis auf den Grund. Einmal, aber auch nur ein einziges Mal, pausierte er, um einen langen Atemzug zu tun, ohne aber sein Gesicht von dem Gefäße zu erheben, das er einige Augenblicke darauf mit ausgestrecktem Arm umgekehrt hinhielt. Nichts fiel auf den Boden, als ein paar Tröpfchen Schaum, die sich langsam vom Rande losmachten und träge hinabträufelten.

»Bravo«, sagte Sam. »Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Besser, Sir, ich glaube besser«, antwortete Job.

»Das versteht sich«, sagte San, überzeugt. »Es ist gerade, wie wenn man Gas in einen Luftballon bläst. Ich kann’s mit bloßen Augen sehen, daß Sie unter der Operation stärker werden. Was würden Sie von einer zweiten, ebenso kräftigen Dosis halten?«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Sir«, antwortete Job; »aber sie würde mir nicht gut sein.

»Nun, meinetwegen«, sagte Sam. »Aber etwas zwischen die Zähne; was würden Sie dazu sagen?«

»Dank sei Ihrem würdigen Herrn, Sir«, antwortete Herr Trotter; »wir haben heute um drei Viertel auf drei Uhr eine gebackene Hammelkeule nebst Kartoffeln gehabt, so daß uns das Kochen erspart war.«

»Was? Hat er für Sie gesorgt?« fragte Sam nachdrucksvoll.

»Ja, Sir«, erwiderte Job, »und noch mehr als das, Herr Weller. Da mein Herr sehr unwohl war, so hat er ein Zimmer für uns gemietet – wir bewohnten vorher ein wahres Hundeloch – und es bezahlt, Sir; auch ist er bei Nacht zu uns gekommen, damit es niemand erfahren sollte. Ja, Herr Weller«, fügte Job, diesmal mit wirklichen Tränen in den Augen hinzu, »diesem Gentleman könnte ich dienen, bis ich tot zu seinen Füßen niedersänke.«

»Bemühen Sie sich nicht, mein Freund«, entgegnete Sam, »kein Wort mehr.«

Job Trotter sah ihn verwundert an.

»Kein Wort mehr, junger Mann, sage ich«, wiederholte Sam fest. »Niemand dient ihm, als ich. Und da wir gerade daran sind, so will ich Sie noch in ein Geheimnis einweihen«, fügte Sam hinzu, indem er das Bier bezahlte. »Ich habe niemals gehört, oder in Geschichtsbüchern gelesen, oder auf Gemälden etwas gesehen von Engeln mit knappen Beinkleidern und Gamaschen – ja auch nicht einmal in Komödien, so viel ich mich erinnere, obgleich das auch aus andern Gründen geschehen sein mag: aber merken Sie sich’s, Job Trotter, er ist dessenungeachtet ein ganz echter und vollkommener Engel, und den Mann möchte ich sehen, der mir zu sagen wagte, er kenne eine besseren.«

Mit dieser Herausforderung steckte Herr Weller das herausbekommene Geld in eine Seitentasche, und unter bekräftigenden Winken und Gesten machte er sich auf, den Gegenstand seiner Rede zu suchen.

Sie fanden Herrn Pickwick auf dem Ballplatze, in einem sehr ernsthaften Gespräch mit Jingle begriffen. Er würdigte die buntscheckigen hier versammelten Gruppen keines Blickes, obschon sie es wohl verdient hätten, daß man sie wenigstens aus Neugier etwas näher ins Auge faßte.

»Gut«, sagte Herr Pickwick, als Sam und sein Begleiter näher kamen, »Sie werden sehen, wie Ihre Gesundheitsumstände sich gestalten, und die Sache inzwischen näher überlegen. Machen Sie mir eine Berechnung, sobald Sie sich stark genug fühlen; ich will es dann bedenken und weiter mit Ihnen sprechen. Jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer. Sie sind müde und dürfen nicht zu lange außen bleiben.«

Ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Funken von seiner alten Lebhaftigkeit oder auch nur von der trübseligen Heiterkeit, die er angenommen hatte, als Herr Pickwick zum ersten Mal in seinem Elend auf ihn stieß, verbeugte sich Herr Alfred Jingle tief, winkte Job, ihm noch nicht zu folgen, und ging langsam hinweg.

»Eine kuriose Szene das, nicht wahr, Sam?« sagte Pickwick, vergnügt um sich blickend.

»Ja, sehr kurios, Sir«, erwiderte Sam. »Die Wunder hören ja gar nicht auf«, fügte er mit sich selbst sprechend hinzu. »Ich müßte mich sehr irren, wenn dieser Jingle da sich nicht mit dem Wasserkarrengeschäft abgegeben hat.«

Der freie Raum, den die Mauer in dem Teile des Fleet, wo Herr Pickwick stand, bildete, war gerade groß genug, um einen passenden Ballplatz abzugeben. Die eine Seite bestand, wie sich von selbst begreift, aus der Mauer selbst, die andere aus dem Teile des Gefängnisses, der nach der St.-Pauls-Kirche18 zu lag. Hier schlenderten oder saßen in allen möglichen Stellungen gedankenlosen Müßiggangs eine Masse Schuldner herum, die größtenteils im Gefängnis den Tag abzuwarten hatten, wo ihre Sache vor dem Zahlungsunfähigkeits- Gericht verhandelt werden sollte, während andere auf verschiedene Termine verwiesen waren, die sie so gut wie möglich hinwegzufaulenzen sich bemühten. Einige waren schäbig gekleidet, andere geputzt, die meisten schmutzig und nur wenige reinlich: alle aber hungerten, waren Tagediebe und schlichen ohne Absicht und Zweck herum, wie die Tiere in einer Menagerie.

An den Fenstern, die die Aussicht auf den Spaziergang beherrschten, räkelten sich ebenfalls eine Menge Leute: Einige in geräuschvoller Unterhaltung mit ihren Bekannten unten begriffen, andere die Bälle auffangend und zurückschleudernd, die ihnen von außen zugeworfen wurden, noch andere den Ballspielern zusehend oder das lärmvolle Getreibe der Kinder überwachend. Schmutzige Weibspersonen mit abgetretenen Schuhen gingen hin und wieder nach der Küche, die sich in einem Winkel des Ballplatzes befand. Kinder schrien, balgten sich herum und spielten miteinander; das Gerassel der Kegel, das Geschrei der Spielenden vermischte sich unaufhörlich mit diesen und hundert andern Tönen. Ringsumher nichts als Getöse und Getümmel, nur in dem kleinen elenden Schuppen wenige Schritte davon nicht, wo ruhig und blaß der Leib des in der vorigen Nacht gestorbenen Kanzleigefangenen lag und das Possenspiel einer Totenschau erwartete. Der Leib! Dies ist der gerichtsgesetzliche Ausdruck für die ruhelos wirbelnde Masse von Sorgen und Ängsten, Gemütsbewegungen, Hoffnungen und Bekümmernissen, die den lebenden Menschen ausmachen. Dem Gesetz war sein Leib verfallen, und da lag er, in’s Grabtuch eingehüllt, ein schauderhafter Zeuge für dessen zärtliche, mitleidsvolle Fürsorge.

»Wünschen Sie vielleicht einen Pfeifladen zu sehen, Sir?« fragte Job Trottet.

»Was verstehen Sie darunter?« fragte Herr Pickwick.

»Ein Pfeifladen, Sir?« fiel Herr Weller ein.

»Was ist das, Sam? – etwa der Laden eines Vogelhändlers?« fragte Herr Pickwick.

»Gott bewahre«, erwiderte Job; »ein Pfeifladen, Sir, ist ein Laden, wo geistige Getränke verkauft werden!«

Herr Job Trotter setzte sofort kurz auseinander, es sei bei schwerer Strafe verboten, Spirituosen in die Schuldgefängnisse einzuführen. Da jedoch diese Artikel bei den allda befindlichen Ladies und Gentlemen in hohem Werte stehen, so sei ein spekulativer Schließer auf den sinnreichen Einfall geraten, zwei oder drei Gefangenen gegen gewisse einträgliche Erkenntlichkeiten den Kleinhandel mit ihrem Lieblingsartikel, Wacholderbeerbranntwein genannt, zu ihrem eigenen Nutzen und Vorteil zu gestatten.

»Dieses System«, fügte Herr Trotter hinzu, »ist, wie Sie sich überzeugen können, allmählich in allen Schuldtürmen eingeführt worden.«

»Ja«, sagte Sam, »und es hat den außerordentlichen Vorteil, daß die Schließer äußerst bedacht sind, jedermann, der diese Schlechtigkeit begehen will, ohne sie bezahlt zu haben, abzufangen, worauf die Sache in die Zeitungen kommt und sie wegen ihrer Wachsamkeit belobt werden. So fangen sie zwei Mücken auf einmal; andere Leute werden von dem Handel abgeschreckt, und sie selbst stellen sich in ein besseres Licht bei ihren Vorgesetzten.«

»Sehr wahr, Herr Weller«, bemerkte Job.

»Gut, aber werden denn diese Zimmer nie untersucht, ob keine geistigen Getränke eingeschmuggelt sind?« fragte Herr Pickwick.

»Freilich, Sir«, erwiderte Sam; »aber die Schließer wissen es vorher und melden es den Pfeifern; dann pfeift man dem Untersuchungsbeamten etwas, wenn er kommt.«

Mittlerweile hatte Job an eine Tür geklopft, die von einem Gentleman mit ungekämmtem Kopf geöffnet wurde. Er verriegelte sie sogleich wieder, als sie darin waren, und die Zähne fletschte, worauf Job ebenfalls die Zähne fletschte und Sam desgleichen. Herr Pickwick aber, in der Meinung, man erwarte dies von ihm, lächelte während der ganzen Dauer des Besuchs unausgesetzt.

Der Gentleman mit dem ungekämmten Kopf schien von dieser stummen Ankündigung ihres Begehrens vollkommen befriedigt. Er zog einen platten steinernen Krug, der etwa zwei Quart halten mochte, unter seiner Bettstelle hervor und schenkte drei Gläser Wacholderbranntwein ein, über die Job Trotter und Sam auf sehr fachmännische Weise verfügten.

»Noch ein Gläschen?« fragte der pfeifende Gentleman.

»Nein«, erwiderte Job Trotter.

Herr Pickwick bezahlte, die Tür wurde aufgeriegelt, und sie gingen hinaus, wobei der ungekämmte Gentleman Herrn Roker, den sein Weg in diesem Augenblick zufällig vorbeiführte, freundlich zuwinkte.

Herr Pickwick durchwanderte von da an noch sämtliche Galerien, ging alle Treppen auf und ab, und machte noch einmal die Runde um den ganzen Hofraum. Die große Masse der Bevölkerung des Gefängnisses schien auf und ab der Rasse Mivius oder Smangle, des Pfarrers, des Metzgers oder des Roßmaklers anzugehören. In allen Winkeln, den besten, wie den schlechtesten, derselbe Schmutz, dasselbe Getümmel und Getöse, dieselben allgemeinen Merkmale. In dieser ganzen Sphäre ein ruhelos verworrenes Umhertreiben: die Leute drängten und wälzten sich hin und her gleich den Schatten in einem unbehaglichen Traum.

»Jetzt habe ich genug gesehen«, sagte Herr Pickwick, als er sich auf seinem kleinen Zimmer in einen Stuhl warf. »Der Kopf tut mir weh von all diesen Szenen, und das Herz nicht minder. Ich will hinfort auf meinem eigenen Stübchen Gefangener bleiben.«

Und Herr Pickwick verharrte standhaft bei diesem Beschlusse. Drei lange Monate blieb er den ganzen Tag eingeschlossen und stahl sich nur bei Nacht, wenn der größere Teil seiner Mitgefangenen im Bett war oder auf seinen Zimmern zechte, hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Seine Gesundheit begann infolge dieses selbstauferlegten strengen Gewahrsam sichtbarlich zu leiden. Allein weder die vielfach wiederholten Bitten Perkers und seiner Freunde, noch die weit öfter wiederholten Warnungen und Mahnungen des Herrn Samuel Weller konnten ihn vermögen, auch nur ein Jota an seinem unbeugsamen Entschlusse zu ändern.

  1. Berühmte alte Kirche und Wahrzeichen Londons.

Siebenundvierzigstes Kapitel.


Siebenundvierzigstes Kapitel.

Erzählt einen rührenden, ober nicht betrüblichen Vorfall, herbeigeführt durch das Zartgefühl der Herren Dodson und Fogg.

Es war in der letzten Woche des Monats Juli, als eine Mietdroschke, jedoch ohne hintenanhängende Nummer, in raschem Trab die Goswellstraße hinauffuhr. Drei Personen waren darinnen eingepfercht, ohne den Kutscher, der, wie natürlich, seinen eigenen kleinen äußern Sitz auf der Seite hatte. Am ledernen Deckel hingen zwei Schals, allem Anschein nach zwei kleinen, streitsüchtig aussehenden Damen gehörig, zwischen denen, auf einen äußerst kleinen Umfang beschränkt, ein Gentleman von linkischem, unterwürfigem Benehmen eingezwängt saß, der, wenn er je eine Bemerkung zu machen wagte, jedesmal von einer der obenerwähnten streitsüchtigen Damen barsch angefahren wurde. Zu guter Letzt gaben die beiden Keiferinnen und der linkische Gentleman dem Kutscher widersprechende Anweisungen, die sämtlich auf den einen Punkt hinzielten, daß er vor Frau Bardells Tür anhalten solle, die, wie der linkische Gentleman in direkter Opposition gegen die streitsüchtigen Damen und ihnen zu Trotz behauptete, eine grüne Tür war und keine gelbe.

»An dem Haus mit der grünen Tür halt‘ an, Schwager«, sagte der linkische Gentleman.

»O du dummer, einfältiger Kerl!« rief eine der streitsüchtigen Ladies. »Nein, an dem Haus mit der gelben Tür, Kutscher!«

Daraufhin ließ der Kutscher, der bei seiner hastigen Bemühung, am Haus mit der grünen Tür zu halten, das Pferd so straff angezogen hatte, daß es beinahe rückwärts in die Droschke hineinfiel, die Vorderfüße seiner Mähre wieder auf den Boden sinken und pausierte.

»Wo soll ich denn halten?« fragte er. »Machen Sie es unter sich aus. Ich frage nur, wo?«

Hier erneuerte sich der Streit mit vermehrter Heftigkeit, und da das Pferd in diesem Augenblick von einer Fliege an seiner Nase beunruhigt wurde, so verwandte der Kutscher humanerweise seine Aufmerksamkeit, nach dem Grundsatz des Gegenreizes mit der Peitsche um dessen Kopf herumzufuchteln.

»Ein langweiliger Tag heute«, sagte endlich eine der streitsüchtigen Damen. »Das Haus mit der gelben Tür, Kutscher.«

Als aber die Droschke in Pracht und Herrlichkeit vor dem Haus mit der gelben Tür vorfuhr, wobei es, wie eine der streitsüchtigen Ladies triumphierend bemerkte, »wahrhaftig mehr Lärm machte, als wenn einer in seinem eigenen Wagen kommt«, und der Kutscher bereits abgestiegen war, eine der Damen herauszuhelfen – siehe, da steckte sich auf einmal der kleine Rundkopf des Masters Thomas Bardell zum Fenster eines Hauses mit einer roten Tür, wenige Nummern weiter, heraus.

»Eine ärgerliche Geschichte«, sagte die Keiferin, dem linkischen Gentleman einen vernichtenden Blick zuwerfend.

»Ich bin nicht daran schuld, liebe Frau«, versetzte der Gentleman.

»Sprich nicht mit mir, du Dummkopf!« erwiderte die Dame. »Das Haus mit der roten Tür, Kutscher. O, wenn je eine Frau mit einem boshaften Taugenichts betrogen worden ist, der seinen Stolz und sein Vergnügen darin sucht, sie bei jeder möglichen Gelegenheit vor Fremden zu blamieren, so bin ich’«!«

»Sie sollten sich vor sich selbst schämen, Raddle«, sagte das andere Frauchen, das niemand anders war als Frau Cluppins.

»Was habe ich denn getan?« fragte Herr Radle.

»Sprich nicht mit mir, du Vieh; ich könnte mich sonst bewogen finden, mein Geschlecht zu vergessen und dich zu schlagen«, sagte Frau Raddle.

Während dieses Zwiegesprächs führte der Kutscher höchst schimpflicherweise das Pferd am Zügel vor das Haus mit der roten Tür, das Master Bardell bereits geöffnet hatte. Wahrhaftig, eine niedrige, schmähliche Art, vor einem Freundeshaus anzukommen! – Kein ungestüm feuriges Heranfliegen von seiten des Tieres, kein Herabspringen und lautes Anklopfen von seiten des Kutschers, kein hastiges, knarrendes Aufreißen der Kutschentür, damit die Ladies nicht im Zug sitzen mußten, und dann der Mann, der die Schals bereithielt – gerade wie ein gemeiner Kutscher! Der ganzen Sache war der Eindruck bereits genommen – es wäre noch anständiger gewesen, zu Fuß zu erscheinen.

»Nun, Tommy«, begann Frau Cluppins, »wie geht es deiner lieben Mutter?«

»O, sehr gut«, erwiderte Master Bardell: »sie ist im Vorderzimmer – alles bereit. Ich bin auch bereit.«

Hier steckte Herr Bardell seine Hände in die Taschen und trippelte auf der untersten Stufe der Haustreppe hin und her.

»Geht sonst niemand mit, Tommy?« sagte Frau Cluppins, ihren Mantel zurechtmachend.

»Frau Sanders auch«, erwiderte Tommy. »Und ich gleichfalls.«

»Der verdammte Bube!« sagte die kleine Frau Cluppins. »Er denkt an nichts, als an sich selbst. Komm her, lieber Tommy!«

»Da bin ich«, sagte Master Bardell.

»Wer sonst noch, mein Lieber?« fuhr Frau Cluppins in einschmeichelnder Weise zu fragen fort.

»Frau Rogers auch, erwiderte Master Bardell, seine Augen sehr weit aufreißend, als er mit dieser Kunde heranrückte.

»Wie? die Dame, die bei euch wohnt?« rief Frau Cluppins.

Herr Bardell steckte seine Hände noch tiefer in seine Taschen und nickte geradezu fünfunddreißigmal, um anzudeuten, daß es wirklich diese Dame und keine andere sei.

»Wahrhaftig«, sagte Frau Cluppins, »das ist ja eine hübsche Gesellschaft!«

»Ja, und wenn Sie wüßten, was wir in der Speisekammer haben, dann würden Sie erst so sagen«, versetzte Master Bardell.

»Was ist’s, Tommy?« sagte Frau Clupping liebkosend. »Du sagst es mir gewiß, Tommy.«

»Nein, nein«, erwiderte Master Bardell, den Kopf schüttelnd und auf der Türschwelle hin- und hertänzelnd.

»Der Blitzjunge!« murmelte Frau Cluppins. »Wie der kleine Spitzbube einen necken kann! Komm, Tommy, sag es deiner lieben Cluppy!«

»Die Mutter hat gesagt, ich dürfe nicht«, entgegnete Master Bardell. »Ich bekomme auch etwas davon.«

Und voll Freude über diese Aussicht tänzelte der frühreife Knabe mit vermehrter Lebhaftigkeit weiter.

Während dieses Verhörs mit dem Kinde hatten Herr und Frau Raddle mit dem Kutscher Streit wegen des Fahrlohns, und als der Sieg sich für den letzteren entschieden hatte, wankte Frau Raddle die Treppe hinauf.

»He, Marianne! was gibt’s?« rief Frau Cluppins.

»Ich zittere am ganzen Leibe, Betty«, stöhnte Frau Raddle. »Raddle ist auch gar kein Mann; er hängt mir alles an den Hals.«

Das war gewiß nicht schön gegen den unglücklichen Herrn Raddle, der beim Beginn des Streits von seiner sanften Ehehälfte auf die Seite gestoßen worden war und den energischen Befehl erhalten hatte, sein Maul zu halten. Trotzdem war ihm keine Gelegenheit vergönnt, sich zu verteidigen: denn Frau Raddle entwickelte unzweideutige Zeichen einer Ohnmacht. Als Frau Bardell, Frau Sanders, ferner die Hausbewohnerin und ihre Magd vom Stubenfenster aus dies bemerkten, stürzten sie eifrig herbei und führten sie ins Haus, wobei sie alle zugleich sprachen und verschiedene Ausdrücke des Mitgefühls fallen ließen, als wäre die gute Frau eine der beklagenswertesten Sterblichen auf Erden. Sie wurde in das Vorderzimmer gebracht und auf ein Sofa niedergelassen. Die Dame vom ersten Stock rannte in den ersten Stock, kehrte mit einem Fläschchen Riechsalz zurück, und indem sie Frau Raddle in den Armen hielt, brachte sie das Riechsalz mit aller weiblichen Sorglichkeit und Zärtlichkeit an ihre Nase, bis diese Dame unter vielem Gestöhne und Sträuben endlich erklärte, es gehe ihr entschieden besser.

»Ach, die Ärmste«, sagte Frau Rogers; »ich kann mir nur zu gut denken, wie es ihr ums Herz sein mag.«

»Die Ärmste! ja, ich kann mir« auch denken«, sagte Frau Sanders.

Und nun fingen die Damen alle im Verein an, zu klagen und zu jammern, sagten, sie könnten sich’s denken, was es sei, und bemitleideten sie von ganzem Herzen; selbst das dreizehn Jahr alte und drei Fuß hohe Dienstmädchen murmelte sein Mitgefühl.

»Aber was hat’s denn gegeben?« fragte Frau Bardell.

»Ach, was hat Sie so angegriffen, Madame?« fragte Frau Rogers.

»O, ich bin abscheulich mißhandelt worden«, erwiderte Frau Raddle in vorwurfsvollem Ton.

Sämtliche Damen warfen entrüstete Blicke auf Herrn Raddle.

»Die ganze Sache ist die«, begann dieser unglückliche Gentleman vortretend: »als wir hier abstiegen, erhob sich ein Streit mit dem Droschkenkutscher – «

Bei Erwähnung dieses Wortes stieß seine Frau ein lautes Geschrei aus, das jede weitere Erklärung unverständlich machte.

»Sie würden besser daran tun, sie ganz uns zu überlassen, Raddle«, sagte Frau Cluppins. »So lange Sie da sind, wird es ihr nicht besser.«

Sämtliche Damen stimmten in dieser Ansicht überein. Herr Raddle wurde aus dem Zimmer getrieben und angewiesen, sich im hintern Hofraum zu ergehen, was er auch etwa eine Viertelstunde Während dieses Zwiegesprächs führte der Kutscher höchst schimpflicherweise das Pferd am Zügel vor das Haus mit der roten Tür, das Master Bardell bereits geöffnet hatte. Wahrhaftig, eine niedrige, schmähliche Art, vor einem Freundeshaus anzukommen! – Kein ungestüm feuriges Heranfliegen von seiten des Tieres, kein Herabspringen und lautes Anklopfen von seiten des Kutschers, kein hastiges, knarrendes Aufreißen der Kutschentür, damit die Ladies nicht im Zug sitzen mußten, und dann der Mann, der die Schals bereithielt – gerade wie ein gemeiner Kutscher! Der ganzen Sache war der Eindruck bereits genommen – es wäre noch anständiger gewesen, zu Fuß zu erscheinen.

»Nun, Tommy«, begann Frau Cluppins, »wie geht es deiner lieben Mutter?«

»O, sehr gut«, erwiderte Master Bardell; »sie ist im Vorderzimmer – alles bereit. Ich bin auch bereit.«

Hier steckte Herr Bardell seine Hände in die Taschen und trippelte auf der untersten Stufe der Haustreppe hin und her.

»Geht sonst niemand mit, Tommy?« sagte Frau Cluppins, ihren Mantel zurechtmachend.

»Frau Sanders auch«, erwiderte Tommy. »Und ich gleichfalls.«

»Der verdammte Bube!« sagte die kleine Frau Cluppins. »Er denkt an nichts, als an sich selbst. Komm her, lieber Tommy!«

»Da bin ich«, sagte Master Bardell.

»Wer sonst noch, mein Lieber?« fuhr Frau Cluppins in einschmeichelnder Weise zu fragen fort.

»Frau Rogers auch, erwiderte Master Bardell, seine Augen sehr weit aufreißend, als er mit dieser Kunde heranrückte.

»Wie? die Dame, die bei euch wohnt?« rief Frau Cluppins.

Herr Bardell steckte seine Hände noch tiefer in seine Taschen und nickte geradezu fünfunddreißigmal, um anzudeuten, daß es wirklich diese Dame und keine andere sei.

»Wahrhaftig«, sagte Frau Cluppins, »das ist ja eine hübsche Gesellschaft!«

»Ja, und wenn Sie wüßten, was wir in der Speisekammer haben, dann würden Sie erst so sagen«, versetzte Master Bardell.

»Was ist’s, Tommy?« sagte Frau Clupping liebkosend. »Du sagst es mir gewiß, Tommy.«

»Nein, nein«, erwiderte Master Bardell, den Kopf schüttelnd und auf der Türschwelle hin- und hertänzelnd.

»Der Blitzjunge!« murmelte Frau Cluppins. »Wie der kleine Spitzbube einen necken kann! Komm, Tommy, sag es deiner lieben Cluppy!«

»Die Mutter hat gesagt, ich dürfe nicht«, entgegnete Master Bardell. »Ich bekomme auch etwas davon.«

Und voll Freude über diese Aussicht tänzelte der frühreife Knabe mit vermehrter Lebhaftigkeit weiter.

Während dieses Verhörs mit dem Kinde hatten Herr und Frau Raddle mit dem Kutscher Streit wegen des Fahrlohns, und als der – ein Versuch, der dadurch im Keime erstickt wurde, daß es dem lieben Jungen einfiel, hinterm Rücken der Großen ein halbes Glas von dem alten Portwein hinabzugießen, wodurch sein Leben auf einige Sekunden in Gefahr geriet – brach die Gesellschaft auf, um eine Kutsche nach Hampstead zu suchen. Diese fand sich bald, und in ein paar Stunden langten sie wohlbehalten im spanischen Teegarten an, wo des unglücklichen Herrn Raddle erste Handlung seiner Gemahlin beinahe einen Rückfall zuzog; denn sie bestand in nichts Geringerem, als daß er sieben Portionen Tee bestellte, während doch, wie die Damen alle einstimmig bemerkten, nichts leichter gewesen wäre, als daß Tommy aus irgendeiner andern beliebigen Tasse getrunken hätte, wenn es der Kellner nicht gerade sah, wodurch dann eine ganze Portion von dem teuren Tee erspart worden wäre.

Aber die Sache ließ sich nun einmal nicht mehr ändern; das Teebrett kam mit sieben Ober- und sieben Untertassen und ebenso vielen Portionen Brot und Butter. Frau Bardell wurde einstimmig zur Präsidentin ernannt, Frau Rogers pflanzte sich zu ihrer Rechten, Frau Raddle zu ihrer Linken auf, und nun ging der Schmaus mit großer Lustigkeit und bestem Erfolg vor sich.

»Wie herrlich es doch auf dem Lande ist!« seufzte Frau Rogers; »ich möchte das ganze Jahr da leben.«

»Das kann unmöglich Ihr Ernst sein, Madame«, erwiderte Frau Bardell schnell; denn auf Rücksicht auf die zu vermietenden Wohnungen war es durchaus nicht ratsam, solche Ansichten zu er mutigen; »es würde Ihnen gewiß nicht gefallen, Madame.«

»Meiner Ansicht nach«, sagte die kleine Frau Cluppins, »sind Sie viel zu lebhaft und gesellschaftlich, um gern auf dem Lande zu wohnen, Madame.«

»Ja, das mag sein, Madame, das mag sein«, seufzte die Bewohnerin de« ersten Stocks.

»Für einsame Leute, die niemand haben, der für sie sorgt oder für den sie selbst sorgen müssen, oder deren Gemüt verletzt ist, oder etwas der Art«, bemerkte Herr Raddle, einige Lustigkeit erringend und um sich blickend, »für solche Leute ist das Landleben ganz gut. Das Land ist für ein krankes Herz, pflegt man zu sagen.«

Der unglückliche Mann hätte alles in der Welt sagen können, es wäre mehr am Platze gewesen, nur das nicht. Frau Bardell brach sogleich in Tränen aus und bat, man möchte sie augenblicklich vom Tische wegführen, worauf das liebe Kind ebenfalls höchst jämmerlich zu schreien begann.

»Sollte man es glauben, Madame«, rief Frau Raddle, sich ingrimmig an die Bewohnerin des ersten Stocks wendend, »sollte man es glauben, daß man einen so dummen Esel zum Mann haben kann, der imstande ist, den ganzen Tag mit den Gefühlen des weiblichen Herzens Spott zu treiben?«

»Aber, liebe Frau«, wandte Herr Raddle ein. »Ich habe es nicht bös gemeint, liebe Frau.«

»Du hast es nicht bös gemeint?« wiederholte Frau Raddle mit unaussprechlicher Verachtung. »Geh‘ mir aus den Augen, ich kann dich nicht mehr ansehen, du Meerkalb.«

»Sie müssen sich nicht so erhitzen, Marianne«, fiel Frau Cluppins ein. »Sie sollten wirklich auf sich selbst mehr Rücksicht nehmen, was Sie nie tun. – Gehen Sie jetzt, Raddle, Sie machen der guten Seele nur Kummer.«

»Sie hätten besser daran getan, Sir, Ihren Tee für sich allein zu trinken«, sagte Frau Rogers, die dampfende Kanne aufs neue handhabend.

Frau Sanders, die ihrer Gewohnheit gemäß sehr mit dem Butterbrot beschäftigt war, drückte dieselbe Ansicht aus, und Herr Raddle zog sich gänzlich zurück.

Jetzt zappelte und wand sich Master Bardell, der fast schon zu groß zu solchen Liebkosungen war, gewaltig in den Armen seiner Mutter, bei welcher Operation er seine Stiefel auf den Teetisch brachte und einige Verwirrung unter den Tassen und Kannen anrichtete. Doch diese Art von Ohnmachtsanfällen, die bei den Frauen seuchenartig ist, dauert selten lange, und nachdem er sie tüchtig abgeküßt und auch ein wenig angeschrien hatte, kam Frau Bardell wieder zu sich, stellte ihn auf den Boden, wunderte sich, daß sie habe so närrisch sein können, und schenkte aufs neue Tee ein.

In diesem Augenblick vernahm man das Gerassel herannahender Räder. Die Damen blickten auf und sahen eine Mietkutsche am Gartentor anhalten.

»Da kommt noch mehr Gesellschaft«, sagte Frau Sanders.

»Es ist ein Gentleman«, bemerkte Frau Raddle.

»Ach du meine Güte! ist das nicht Herr Jackson, der junge Schreiber bei Dodson und Fogg?« rief Frau Bardell. »Lieber Himmel, am Ende hat Herr Pickwick doch die Entschädigung bezahlt.«

»Oder er will Sie jetzt heiraten!« sagte Frau Cluppins.

»Wahrhaftig, wie langsam der Gentleman ist!« rief Frau Rogers. »Warum tummelt er sich denn nicht?«

Während sie diese Worte sprach, wandte sich Herr Jackson von der Kutsche ab, wo er einige Bemerkungen an einen schäbig gekleideten Mann in schwarzen Beinkleidern gerichtet hatte, der soeben mit einem dicken Eschenstock in der Hand aus dem Wagen hervorgetaucht war, und ging, die Haare unter den Rand seines Hutes streichend, gerade auf die Damen zu.

»Was gibt’s? Ist etwas neues vorgefallen?« rief ihm Frau Bardell voll Eifer entgegen.

»Ganz und gar nichts, Madame«, erwiderte Herr Jackson. »Wie geht es Ihnen, meine Gnädigen? Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich mich eindränge – aber das Geschäft, meine Gnädigen, das Geschäft.«

Mit dieser Entschuldigung lächelte Herr Jackson, verbeugte sich vor allen zugleich und strich sein Haar abermals hinauf. Frau Rogers flüsterte Frau Raddle zu, es sei wirklich ein scharmanter junger Mensch.

»Ich war in der Goswellstraße«, fuhr Jackson fort, »und da ich von dem Mädchen hörte, daß Sie hier seien, nahm ich eine Kutsche und fuhr Ihnen nach. Meine Prinzipale bedürfen Ihrer sogleich in der Stadt, Frau Bardell.«

»Um Gottes willen!« rief die Dame, erschrocken über diese plötzliche Mitteilung.

»Ja«, sagte Jackson, sich in die Lippen beißend. »Es ist ein sehr wichtiges und dringendes Geschäft, das unter keinen Umständen aufgeschoben werden kann. Dodson hat es mir ausdrücklich gesagt, und Fogg ebenfalls. Ich habe die Kutsche eigens deshalb genommen, um Sie nach London zurückzuführen.«

»Sehr merkwürdig!« rief Frau Bardell.

Die Damen erklärten es ebenfalls für sehr merkwürdig, sprachen aber einstimmig ihre Ansicht dahin aus, die Sache müsse von großer Wichtigkeit sein, sonst würden Dodson und Fogg nicht nach ihr geschickt haben; und wegen dieser Dringlichkeit des Geschäfts solle sie sich unverzüglich zu ihrem Anwalt begeben.

Es war Frau Bardell keineswegs unlieb, daß ihre Rechtsfreunde in so besonderer Eile nach ihr verlangten. Sie glaubte dadurch sowohl überhaupt, als namentlich auch in den Augen der Bewohnerin ihres ersten Stocks bedeutend an Wichtigkeit zu gewinnen, ein Gedanke, der ihrer Eitelkeit nicht wenig schmeichelte. Sie lachte ein bißchen, stellte sich, als ob es ihr höchst unangenehm wäre und sie sich nicht entschließen könnte, kam aber doch zuletzt zu der Meinung, sie glaube, gehen zu müssen.

»Aber wollen Sie nach Ihrer Fahrt nicht eine kleine Erfrischung einnehmen, Herr Jackson?« fragte Frau Bardell in einladendem Ton.

»Ich danke vielmal, habe wirklich keine Zeit zu verlieren«, erwiderte Jackson; »auch habe ich einen Freund bei mir«, fuhr er fort, indem er auf den Mann mit dem Eschenstock sah.

»Aber so bitten Sie doch Ihren Freund hierher, Sir«, sagte Frau Bardell.

»Rufen Sie ihn doch zu uns, Sir.«

»Nein, ich danke sehr«, erwiderte Herr Jackson einigermaßen verlegen. »Er ist an Damengesellschaft nicht gewöhnt und wird da immer ganz blöde. Wenn Sie dem Kellner auch den Auftrag geben wollten, ihm ein Gläschen zu bringen, er würde es wahrhaftig nicht annehmen. – Doch, Sie können ja einen Versuch machen.«

Herrn Jacksons Finger wanderten dabei spielend um seine Nase, um seine Zuhörerinnen aufmerksam zu machen, daß er ironisch spreche.

Der Kellner wurde alsbald an den blöden Gentleman entsandt, und der blöde Gentleman genehmigte etwas; Herr Jackson genoß ebenfalls etwas und die Damen genossen, ihrem Gaste zu Ehren, auch noch etwas. Herr Jackson sagte sofort, er fürchte, es sei die höchste Zeit zu gehen, worauf Frau Sanders, Frau Cluppins und Tommy, die der Verabredung gemäß Frau Bardell begleiten und die übrigen dem Schutz des Herrn Raddle überlassen sollten, sich alsbald in die Kutsche verfügten.

»Jsack«, sagte Jackson, als Frau Bardell sich anschickte, einzusteigen und blickte dabei den Mann mit dem Eschenstock an, der auf dem Bock saß und eine Zigarre rauchte.

»Sir.«

»Das ist Frau Bardell.«

»O, ich wußte es schon lange«, sagte der Mann.

Frau Bardell stieg ein, Herr Jackson gleichfalls, und sie fuhren fort. Frau Bardell konnte nicht umhin, sich allerhand Gedanken darüber zu machen, was Herrn Jacksons Freund wohl gemeint habe.

»Schlaue Gesellen, diese Anwälte«, meinte sie: »Gott steh uns bei, wie sie die Leute überall ausfindig zu machen wissen.«

»Ein verdrießliches Ding um unsere Prozeßkosten«, sagte Jackson, als Frau Cluppins und Frau Sanders eingeschlafen waren: »die Kosten für Ihren Prozeß, meine ich.

»Es tut mir sehr leid, daß Sie nicht dazu kommen können«, versetzte Frau Bardell. »Aber wenn ihr Anwälte solche Sachen auf Spekulation übernehmt, so müßt ihr euch dann und wann auch einen Verlust gefallen lassen.«

»Sie haben Ihnen aber, soviel ich weiß, nach dem Prozeß eine Erkenntlichkeitsbestätigung für die Kosten ausgestellt«, sagte Jackson.

»Ja, aber bloß der Form wegen«, erwiderte Frau Bardell.

»Gewiß«, versetzte Jackson trocken. »Eine bloße Formsache – bloße Formsache.«

Sie fuhren weiter und Frau Bardell druselte ein. Nach einiger Zeit wurde sie durch das Anhalten der Kutsche geweckt.

»Mein Gott«, sagte die Dame, »sind wir schon in Freemans Court?«

»Wir fahren nicht ganz so weit«, erwiderte Jackson. »Haben Sie die Güte, hier auszusteigen.«

Frau Bardell tat es noch schlaftrunken. Es war ein sonderbarer Platz: – eine große Mauer mit einem Tor in der Mitte, und innen brannte ein Gaslicht.

»Nun, meine Damen«, rief der Mann mit dem Eschenstock, in die Kutsche hineinsehend und Frau Sanders aus dem Schlafe rüttelnd: »kommen Sie!«

Frau Sanders weckte ihre Freundin und stieg aus. Frau Bardell war, an Jacksons Arm gelehnt und Tommy bei der Hand führend, bereits zum Portal eingegangen. Die übrigen folgten.

Der Raum, in den sie jetzt traten, sah noch weit sonderbarer aus, als das Portal. Es standen so viele Leute herum und sie starrten einen so an!

»Wo sind wir denn?« fragte Frau Bardell, stehenbleibend.

»Bloß in einem unserer öffentlichen Büros«, erwiderte Jackson, sie schnell durch eine Tür ziehend und um sich blickend, ob die übrigen Damen nachfolgten. »Passen Sie gut auf, Isack.«

»Soll gar nicht fehlen«, erwiderte der Mann mit dem Eschenstock. Die Tür wurde rasch hinter ihnen zugeschlagen, und sie stiegen eine kleine Treppe hinab.

»Endlich wären wir da. Es ist alles nach Wunsch gegangen, Frau Bardell«, sagte Jackson, triumphierenden Blickes um sich schauend.

»Was meinen Sie damit?« fragte Frau Bardell mit klopfendem Herzen.

»Nichts Besonderes«, erwiderte Jackson, sie ein bißchen auf die Seite ziehend: »erschrecken Sie nur nicht, Frau Bardell. Es gibt keinen zartfühlenderen Mann als Dodson und keinen billigdenkenderen als Fogg. Als Geschäftsmänner wäre es ihre Pflicht gewesen. Ihnen wegen der Kosten Exekution einlegen zu lassen! aber sie wünschten um jeden Preis, Ihre Gefühle möglichst zu schonen. Wie tröstlich muß Ihnen der Gedanke sein, daß es so gegangen ist! Wir sind im Fleet, Madame. Wünsche Ihnen gute Nacht, Frau Bardell. Gute Nacht, Tommy.«

Da Jackson jetzt in Gesellschaft des Mannes mit dem Eschenstock davoneilte, so führte ein anderer Mann mit einem Schlüssel in der Hand, der bisher bloß zugeschaut hatte, die bestürzten Damen an eine zweite kleine Treppe, die zu einem Tor führte. Frau Bardell schrie laut auf: Tommy heulte; Frau Cluppins schauerte zusammen, und Frau Sanders nahm ohne weiteres Reißaus. Denn hier stand der schwerbeleidigte Herr Pickwick, der eben auf seinem nächtlichen Spaziergange begriffen war, und neben ihm lehnte Samuel Weller, der, als er Frau Bardell erblickte, mit spöttischer Ehrerbietung seinen Hut abnahm, während sein Gebieter unwillig ihr den Rücken zukehrte.

»Vexieren Sie die Frau nicht«, sagte der Schließer zu Weller: »sie ist soeben angekommen.«

»Als Gefangene?« sagte Sam, schnell den Hut wieder aufsetzend, »Wer sind die Kläger? Warum? Sprich, alter Knabe!«

»Dodson und Fogg«, erwiderte der Mann: »Exekution wegen Prozeßkosten.«

»He da, Job! Job!« rief Sam, sich in den Gang stürzend, »laufen Sie so schnell als Sie können zu Herrn Perker. Ich wünsche ihn sogleich zu sprechen. Das kann zu etwas Gutem führen. Ein Kapitalspaß! Hurra! Juchhe! Wo ist der Prinzipal?«

Aber diese Fragen blieben sämtlich unbeantwortet: denn Job war gleich nach Empfang seines Auftrags wie wild davongerannt: Frau Bardell aber war in wirklichem vollen Ernst in Ohnmacht gesunken.

 

Achtundvierzigstes Kapitel.


Achtundvierzigstes Kapitel.

Ist hauptsächlich Geschäftsangelegenheiten und dem zeitlichen Vorteil der Herren Dodson und Fogg gewidmet. – Herr Winkle tritt unter außerordentlichen Umständen wieder auf, und Herrn Pickwicks Wohlwollen erweist sich stärker als seine Hartnäckigkeit.

Job Trotter rannte, ohne von seiner Eilfertigkeit im mindesten abzulassen, Holborn hinauf, bald mitten in der Straße, bald auf dem Pflaster und bald in der Rinne, je nachdem die Gelegenheiten zu gehen mit dem Gedränge der Männer, Weiber, Kinder und Wagen auf jedem Teil des Weges abwechselten. Ohne auf irgendein Hindernis Rücksicht zu nehmen, blieb er keinen Augenblick stehen, bis er das Tor von Grays Inn erreicht hatte. Trotz aller seiner Hast war aber das Tor schon eine gute halbe Stunde geschlossen, als er davor anlangte. Er sah sich daher um und machte endlich Herrn Perkers Wäscherin ausfindig, die mit einer verheirateten Tochter zusammenlebte. Diese hatte ihre Hand fürs Leben einem nicht in London residierenden Kellner gegeben und bewohnte ein paar Zimmer in einer Straße dicht bei einer Brauerei etwas hinter Grays Inn Lane. Es waren noch fünfzehn Minuten bis zur allnächtlichen Schließungszeit des Gefängnisses. Herr Lowten mußte aus dem hinteren Zimmer der Elster herausgeklopft werden, und Job hatte dies Geschäft kaum vollendet und Sam Wellers Botschaft mitgeteilt, als die Glocke zehn Uhr schlug.

»Es ist zu spät«, sagte Lowten. »Sie können nicht mehr hineinkommen, oder haben Sie vielleicht den Schlüssel, mein Platze wären?« [**hier fehlt offenbar etwas]

»Sorgen Sie nicht für mich«, erwiderte Job; »ich kann überall schlafen. Aber würde es nicht besser sein, Herrn Perker heute nacht noch aufzusuchen, damit wir morgen in aller Frühe auf dem Platze wären?«

»Meinetwegen«, versetzte Lowten nach kurzer Überlegung. »Wenn es sich um irgend etwas anderes handelte, so würde Herr Perker über einen so späten Besuch sehr ungehalten sein; da es aber Herrn Pickwicks Sachen sind, so glaube ich wohl, einen Wagen nehmen und bei den Kosten berechnen zu dürfen.«

Nachdem Herr Lowten sich zu dieser Maßregel entschlossen hatte, nahm er seinen Hut, bat die versammelte Gesellschaft, während seiner zeitlichen Abwesenheit einen andern Präsidenten zu ernennen, steuerte auf den nächsten Kutschenplatz los, bestellte den Wagen, dessen Aussehen am meisten versprach, und befahl dem Kutscher, nach dem Montagueplatz, Russell Square zu fahren.

Herr Perker gab an diesem Tage einen Schmaus, wie aus den Lichtern hinter den Fenstern des Gesellschaftzimmers, aus den Tönen eines vervollkommneten großen Pianos, aus einer daraus hervordringenden, aber der Vervollkommnung noch sehr bedürftigen Stimme und dem beinahe überwältigenden Speiseduft im Entree zur Genüge hervorging. Da zufällig einige recht gute Kunden vom Lande zu gleicher Zeit in die Stadt gekommen waren, so hatte sich zu ihrem Empfang ein angenehmes Gesellschaftchen zusammengefunden, bestehend aus Herrn Snicks, dem Sekretär der Lebensversicherung, aus Herrn Prosee, dem ausgezeichneten Rechtskonsulenten, aus drei Anwälten, einem Kommissar vom Fallitengericht, einem speziellen Advokaten vom Temple, einem kleinäugigen, schmissigen jungen Gentleman, seinem Mündel, der ein scharfes Buch über das Legatengesetz mit einer ungeheuren Menge Randnoten und Zitaten geschrieben hatte, und mehreren andern hervorragenden, ja wirklich ausgezeichneten Personen. Von dieser Gesellschaft machte sich der kleine Herr Perker los, als ihm die Ankunft seines Schreibers zugeflüstert wurde. Er begab sich in das Speisezimmer und traf dort Herrn Lowten und Job Trotter beim trüben Dämmerschein eines Küchenlichtes, das der Gentleman, der sich herabließ, gegen vierteljährlichen Lohn in kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen zu erscheinen, mit gebührender Verachtung für den Schreiber und für alle das Geschäft berührenden Dinge auf den Tisch gestellt hatte.

»Nun, Lowten«, sagte der kleine Perker, die Tür schließend, »was gibt’s? Sind wichtige Briefe angekommen?«

»Nein, Sir«, erwiderte Lowten; »aber da ist ein Bote von Herrn Pickwick, Sir.«

»Von Pickwick?« fragte das kleine Männchen, sich schnell zu Job wendend. »Nun, was will er?«

»Dodson und Fogg haben Frau Bardell wegen der Prozeßkosten verhaften lassen«, sagte Job.

»S’ist nicht möglich!« rief Perker, seine Hände in die Taschen steckend und sich rücklings an den Kredenztisch lehnend.

»Es ist wirklich so«, sagte Job. »Wie es scheint, haben sie sich von ihr unmittelbar nach der Gerichtsverhandlung eine Erkenntlichkeitsbestätigung für die Prozeßkosten ausstellen lassen.«

»Bei Gott!« rief Herr Perker, beide Hände aus den Taschen ziehend und die Knöchel seiner Rechten an die Fläche der Linken schlagend, »das sind doch die gerissensten Kerle, mit denen ich je zu tun gehabt habe.«

»Die abgefeimtesten Spitzbuben, die mir je vorgekommen sind, Sir«, bemerkte Lowten.

»Abgefeimt?« wiederholte Perker. – »Ja, allerdings, es ist ihnen nicht beizukommen.«

»Sehr wahr, Sir«, erwiderte Lowten. Und dann sannen beide, Meister und Geselle, einige Sekunden lang recht lebhaft nach, gleich als ob sie über eine der schönsten und sinnreichsten Entdeckungen nachdächten, die der menschliche Verstand je ausgeklügelt. Als sie sich einigermaßen von ihrer Bewunderungsverzückung erholt hatten, entledigte sich Job Trotter des Restes seines Auftrags. Perker nickte gedankenvoll mit dem Kopfe und zog seine Uhr heraus.

»Schlag zehn Uhr will ich dort sein«, sagte der kleine Mann. »Sam hatte vollkommen recht. Sagen Sie ihm das. Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten, Lowten?«

»Nein, ich danke Ihnen, Sir.«

»Sie meinen ›Ja‹, denke ich«, sagte das Männlein, sich an den Kredenztisch wendend, um eine Flasche und Gläser zu holen.

Da Lowten wirklich ›Ja‹ meinte, so verlor er kein Wort mehr über die Sache, sondern fragte Job mit einem hörbaren Flüstern, ob das gegenüber vom Kamin hängende Porträt Perkers nicht zum Sprechen ähnlich sei, worauf Job natürlich antwortete, ja, es sei so. Inzwischen war der Wein eingeschenkt, und Lowten trank die Gesundheit der Frau Perker und ihrer Kinder, und Job trank die Gesundheit des Herrn Perker. Da der Gentleman in den kurzen Plüschhosen und wollenen Strümpfen es nicht für seine Amtspflicht hielt, den Leuten zum Büro hinauszuleuchten, lehnte er es beharrlich ab, dem Geklingel zu entsprechen, und sie mußten den Weg selbst suchen. Der Anwalt verfügte sich in sein Besuchzimmer, der Schreiber in die Elster zurück, und Job ging auf den Covent-Garden-Markt, um die Nacht in einem Gemüsekorb zu verbringen.

Pünktlich zur bestimmten Stunde klopfte am andern Morgen der heitere kleine Anwalt an Herrn Pickwicks Tür, die von Sam Weller recht munter geöffnet wurde.

»Herr Perker, Sir«, sagte Sam, den Besuch Herrn Pickwick ankündigend, der gedankenvoll am Fenster saß. »Sehr erfreut, daß Sie gelegentlich auch einmal nach uns sehen, Sir. Ich denke, der Prinzipal möchte gern einige Worte mit Ihnen sprechen, Sir.«

Perker warf einen Blick des Einverständnisses auf Sam, um ihm zu bedeuten, er verstehe schon, daß er nicht sagen solle, man habe nach ihm geschickt. Dann winkte er ihn zu sich und flüsterte ihm etwas ins Öhr.

»Nicht möglich, Sir!« rief Sam, in der äußersten Überraschung einige Schritte zurückfahrend.

Perker nickte und lächelte.

Herr Samuel Weller blickte den kleinen Advokaten, dann Herrn Pickwick, dann die Stubenecke, dann wieder Herrn Perker an, grinste, lachte laut auf, nahm endlich seinen Hut vom Nagel und verschwand ohne eine weitere Erklärung.

»Was soll das bedeuten?« fragte Herr Pickwick, indem er Perker verwundert anblickte. »Was ist mit Sam los?«

»O nichts, nichts«, erwiderte Perker. »Kommen Sie, mein lieber Herr, rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch. Ich habe viel mit Ihnen zu sprechen.«

»Was sind das für Papiere?« fragte Herr Pickwick, als der kleine Mann ein mit roter Schnur zusammengebundenes Paket Dokumente auf den Tisch legte.

»Die Papiere in der Sache Bardell und Pickwick«, erwiderte Perker, den Knoten mit den Zähnen öffnend.

Herr Pickwick stieß die Füße seines Stuhles gegen den Boden, warf sich sodann hinein, faltete seine Hände und blickte seinen Rechtsfreund grimmig an, wenn anders Herr Pickwick grimmig blicken konnte.

»Sie hören diesen Namen nicht gern?« fragte der kleine Mann, noch immer mit dem Knoten beschäftigt.

»Nein, wirklich nicht«, entgegnete Herr Pickwick.

»Tut mir leid«, fuhr Perker fort; »denn eben darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.«

»Von dieser Sache darf zwischen uns keine Rede mehr sein, Perker«, unterbrach ihn Herr Pickwick hastig.

»Gemach, gemach! mein teurer Sir«, sagte der kleine Mann, das Paket aufbindend und Herrn Pickwick anblickend. »Wir müssen davon sprechen. Ich bin ausdrücklich deshalb hierher gekommen. Sind Sie bereit, mich anzuhören, mein lieber Herr? Es hat keine Eile: wenn es Ihnen nicht genehm ist, so kann ich warten. Ich habe die Zeitungen von heute früh mitgenommen. Sie dürfen nur sagen, wann es Ihnen paßt. So.«

Mit diesen Worten schlug der kleine Mann ein Bein über das andere und gab sich den Anschein, als begänne er mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu lesen.

»Gut, gut«, sagte Herr Pickwick mit einem Seufzer, worauf aber unmittelbar ein Lächeln folgte; »sprechen Sie, was Sie zu sagen haben. Ohne Zweifel immer wieder die alte Geschichte?«

»Nur mit einem Unterschied, mein lieber Herr, mit einem Unterschied«, versetzte Perker, indem er sein Zeitungsblatt bedächtig zusammenlegte und wieder in die Tasche steckte. »Frau Bardell, die Klägerin in diesem Prozeß, befindet sich innerhalb dieser Mauern, Sir.«

»Das weiß ich«, war Herrn Pickwicks Antwort.

»Sehr gut!« erwiderte Perker. »Und ohne Zweifel wissen Sie auch, wie sie hierher gekommen ist; ich meine, aus was für Gründen und auf wessen Verlangen?«

»Ja; wenigstens hat mir Sam davon gesagt«, versetzte Herr Pickwick mit erkünstelter Gleichgültigkeit.

»Sams Erzählung«, erwiderte Perker, »ist gewiß vollkommen richtig; wenigstens möchte ich es zu behaupten wagen. Nun, mein lieber Herr, die erste Frage, die ich an Sie zu richten habe, ist, ob die Frau hierbleiben soll?«

»Hierbleiben!« wiederholte Herr Pickwick.

»Ja, hierbleiben, mein teurer Sir«, entgegnete Perker, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und seinen Klienten fixierend.

»Wie können Sie mich so fragen?« sagte dieser Gentleman. »Es hängt ganz von Dodson und Fogg ab. Sie wissen das recht gut.«

»Nein, ich weiß nichts davon«, entgegnete Perker fest. »Es hängt mitnichten von Dodson und Fogg ab. Sie kennen die Leute ebensogut wie ich, mein teurer Sir: es hängt ganz und gar nur von Ihnen ab.«

»Von mir?« rief Herr Pickwick, von seinem Stuhle aufspringend und sich gleich wieder setzend.

Der kleine Mann klopfte zweimal auf den Deckel seiner Schnupftabaksdose, öffnete sie, nahm eine große Prise, schlug die Dose zu und wiederholte:

»Von Ihnen.«

»Ja, mein lieber Herr«, fuhr der kleine Mann fort, der durch die Prise Zuversicht zu gewinnen schien; »ich sage, ihre schleunige Befreiung oder lebenslängliche Einkerkerung hängt von Ihnen ab, lediglich nur von Ihnen. Hören Sie mich gefälligst zu Ende, mein lieber Herr, und erhitzen Sie sich nicht so gewaltig; denn Sie kommen dadurch in Schweiß, und das hilft zu nichts. Ich sage«, fuhr Perker fort, indem er jeden Satz, den er vorbrachte, mit einem andern Finger bezeichnete, »ich sage, daß niemand als Sie die arme Frau aus dieser Höhle des Elends erlösen kann, und daß Sie das nur können, wenn Sie sämtliche Kosten dieses Prozesses, sowohl die für die Klägerin als für den Beklagten, diesen Gaunern vom Freemans Court, bezahlen. Lassen Sie mich gefälligst ruhig ausreden, mein lieber Herr.«

Herr Pickwick, dessen Mienenspiel währenddem sich lebhaft betätigt hatte, und der eigentlich seinen Unwillen kräftig bekunden wollte, beschwichtigte dessenungeachtet seinen Zorn so gut wie möglich; und Herr Perker fuhr, indem er seine Überredungskraft durch eine neue Prise Schnupftabak stärkte, also fort:

»Ich habe die Frau heute morgen gesehen. Wenn Sie die Prozeßkosten bezahlen, so kann Ihnen die Entschädigungssumme gänzlich erlassen werden, und überdies bekommen Sie von ihr – was, wie ich wohl weiß, in Ihren Augen von weit größerer Bedeutung ist, mein lieber Herr – eine freiwillige, eigenhändige Erklärung in der Form eines Schreibens an mich, daß diese Leute da, Dodson und Fogg, an dem ganzen Prozeß schuld, sind. Sie brachten nämlich Frau Bardell durch glänzende Vorspiegelungen auf den Gedanken zu prozessieren. Und weiter erhalten Sie die Erklärung, daß sie es aufs tiefste bedauert, sich zum Werkzeug ihrer Kränkungen und Beeinträchtigungen hergegeben zu haben, und daß sie mich dringend ersucht, die Sache zu vermitteln und Sie um Verzeihung anzuflehen.«

»Wenn ich die Kosten für sie bezahle?« sagte Herr Pickwick entrüstet. »Wahrhaftig ein wertvolles Dokument!«

»Es ist von keinem Wenn mehr die Rede, mein teurer Sir«, sagte Perker triumphierend, »Hier ist das Schreiben. Es wurde mir heute früh um neun Uhr von einer Frau auf mein Büro gebracht, ehe ich noch einen Fuß in dieses Haus gesetzt oder die geringste Unterhandlung mit Frau Bardell gepflogen hatte; das kann ich Sie auf Ehre versichern.«

Und der kleine Advokat suchte den Brief aus dem Paket heraus, legte ihn an Herrn Pickwicks Seite nieder und schnupfte zwei Minuten hintereinander, ohne zu blinzeln.

»Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« sagte Herr Pickwick, etwas sanfter.

»Noch nicht«, erwiderte Herr Perker. »Ich kann in diesem Augenblick noch nicht sagen, ob die Abfassung der Erkenntlichkeitbestätigung, die Natur des scheinbaren Kontrakts und der Beweis, den wir über das ganze Benehmen bei diesem Prozeß bekommen können, hinreichend sein wird, um eine Klage wegen eines Komplotts zur Betrügerei zu begründen. Ich fürchte, nein, mein lieber Herr; denn diese Herren sind gar zu schlau. Jedenfalls aber werden sämtliche Tatsachen zusammengenommen mehr als hinreichend sein, Sie in den Augen aller vernünftigen Menschen zu rechtfertigen. Und nun, mein lieber Herr, überlasse ich die Sache ganz Ihnen. Diese 150 Pfund oder was es sein mag, wenn man eine runde Summe annimmt, sind ja gar nichts für Sie. Eine Jury hat gegen Sie entschieden; ihr Ausspruch war ungerecht: allein die Geschworenen entschieden einmal, wie sie es für recht hielten, und der Spruch ist gegen Sie ausgefallen. Sie haben jetzt eine Gelegenheit, unter sehr annehmbaren Bedingungen eine weit höhere Stellung in der öffentlichen Meinung einzunehmen, als Sie durch Ihr Hierbleiben jemals erlangen können. Denn glauben Sie mir, mein lieber Herr, jeder, der Sie nicht kennt, wird es Ihnen als baren, verrückten, lächerlichen und abgeschmackten Eigensinn auslegen. Können Sie noch zögern, diese Gelegenheit zu benützen, wodurch Sie Ihren Freunden, Ihren alten Beschäftigungen und Vergnügungen zurückgegeben werden und Ihre Gesundheit wieder herstellen können? – eine Gelegenheit, die zugleich Ihren treuen anhänglichen Diener, den Sie sonst für die ganze Dauer Ihres Lebens zur Einkerkerung verurteilen, befreit – und vor allem eine Gelegenheit, die Sie in den Stand setzt, eine höchst großmütige Rache zu nehmen. Ich weiß, daß eine solche ganz Ihrem Herzen entspricht, wenn Sie diese Frau von einem Schauplatz des Elends und Lasters erlösen, wo man nach meiner Ansicht nicht einmal Männer einsperren sollte. Aber es ist vollends wahrhaft schauerlich und barbarisch, hier Damen einzusperren. Nun frage ich Sie, mein lieber Herr, nicht bloß als ihr juristischer Ratgeber, sondern als wohlmeinender treuer Freund, ob Sie die Gelegenheit, all das zu erreichen und all das Gute zu tun, unterlassen wollen wegen der armseligen Rücksicht auf ein paar Pfund, die in die Tasche zweier Schufte wandern? Diese werden dadurch auch nicht glücklicher, wohl aber nur um so habsüchtiger werden und sich vielleicht um so eher zu irgendeinem Bubenstreich verleiten lassen, der mit ihrem Sturze endet. So schwach und unzulänglich ich Ihnen alle diese Rücksichten auch vorgelegt haben mag, mein lieber Herr, so ersuche ich Sie doch, recht, recht gründlich zu überlegen. Ich werde geduldig wie ein Lamm auf Ihre Antwort harren.«

Ehe Herr Pickwick erwidern konnte und ehe Herr Perker den zwanzigsten Teil der Prise zu sich genommen hatte, die eine so ungewöhnlich lange Rede gebieterisch erheischte, vernahmen sie ein leises Gemurmel von außen und dann ein schüchternes Klopfen an die Tür.

»Mein Gott!« rief Herr Pickwick, den die letzten Bemerkungen seines Freundes sichtbarlich aufgeregt hatten; »wie ärgerlich, daß wir gestört werden! Wer ist da?«

»Ich, Sir«, erwiderte Sam Weller, den Kopf hereinsteckend.

»Ich kann dich jetzt nicht brauchen, Sam«, sagte Herr Pickwick. »Ich bin beschäftigt, Sam.«

»Bitte um Verzeihung, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Aber hier ist eine Dame, Sir, die sagt, sie habe Ihnen ganz besondere Mitteilungen zu machen.«

»Ich kann jetzt keinen Damenbesuch annehmen«, entgegnete Herr Pickwick, dessen Geist lauter Gestalten, wie Frau Bardell, vorschwebten.

»Das möchte ich doch nicht so bestimmt behaupten, Sir«, drängte Herr Weller kopfschüttelnd. »Wenn Sie wüßten, wer hier ist, Sir, so würden Sie, meine ich wohl, aus einem andern Ton pfeifen, wie der Habicht mit einem lustigen Lachen zu sich selbst sagte, als er das Rotkehlchen um die Ecke singen hörte.«

»Wer ist’s denn?« fragte Herr Pickwick.

»Wollen Sie selbst sehen, Sir?« fragte Herr Weller, die Tür in der Hand haltend, als hätte er draußen irgendein lebendiges, merkwürdiges Tier.

»Nun, so bring‘ sie einmal«, sagte Herr Pickwick, mit einem Blick auf Perker.

»Recht so«, rief Sam, »jetzt geht der Tanz an. Die Geigen gestimmt, den Vorhang aufgezogen, und herein treten die zwei Verschwörer.«

So sprechend riß Sam Weller die Tür auf, und herein stürmte Herr Nathanael Winkle, an seiner Hand dieselbe junge Dame führend, die in Dingley Dell die Pelzstiefelchen getragen hatte und jetzt – eine höchst anmutige Mischung von Erröten, Verwirrung, lila Seide und Spitzenschleierhut – reizender aussah als je.

»Miß Arabella Allen!« rief Herr Pickwick, von seinem Stuhle aufspringend.

»Nein«, erwiderte Herr Winkle, sich auf ein Knie niederlassend! »Frau Winkle. Verzeihen Sie, mein teurer Freund, verzeihen Sie!«

Herr Pickwick mochte kaum seinen Sinnen trauen und würde es vielleicht auch nicht getan haben, wäre dieses Zeugnis nicht durch das lächelnde Gesicht Perkers, sowie durch die leibliche Anwesenheit Sams und des hübschen Hausmädchens im Hintergrund, die die Szene mit der lebhaftesten Befriedigung zu betrachten schienen, bekräftigt worden.

»Ach, Herr Pickwick«, sagte Arabella mit leiser Stimme, als ob sein Stillschweigen sie beunruhigt hätte, »können Sie meine Unklugheit verzeihen?«

Herr Pickwick antwortete nicht mit Worten, sondern nahm in großer Hast seine Brille ab, ergriff beide Hände der jungen Dame, küßte sie mehrmals, vielleicht öfter, als unbedingt notwendig war, und sagte dann, indem er fortwährend ihre eine Hand in der seinigen hielt, Herr Winkle sei ein verwünschter Schwerenöter, er solle übrigens nur aufstehen; was Herr Winkle auch, nachdem er gleich einem reuigen Sünder einige Sekunden lang mit dem Rande seines Hutes sich an der Nase gerieben hatte, alsbald tat. Herr Pickwick schlug ihn hierauf mehrere Male auf den Rücken und schüttelte sodann Herrn Perker herzlich die Hand, der, um mit seinen Komplimenten nicht zurückzubleiben, sowohl die junge Frau, als das hübsche Dienstmädchen voll Freundlichkeit begrüßte. Nachdem er Herrn Winkle aus lauter Freundschaft beinahe die Hand aus dem Gelenk gerissen hatte, beschloß er seine Freudenbezeugungen damit, daß er Schnupftabak genug nahm, um ein Halbdutzend Leute mit gewöhnlich konstruierten Nasen zeitlebens niesen zu machen.

»Aber mein liebes Mädchen«, sagte Herr Pickwick endlich: »wie ist denn das alles gekommen? Setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie. Wie sie so hübsch aussieht – nicht wahr, Herr Perker?« setzte Herr Pickwick hinzu und schaute dabei Arabella mit so viel Stolz und Wonne ins Angesicht, als ob sie seine eigene Tochter gewesen wäre.

»Zum Entzücken, mein lieber Herr«, erwiderte der kleine Mann. »Wäre ich nicht selbst schon verheiratet, so könnte es mich ankommen, Sie zu beneiden. Sie Tausendsasa.«

Bei diesen Worten klopfte der kleine Advokat Herrn Winkle auf den Rücken, und nun fingen sie beide an zu lachen, doch nicht so laut wie Herr Samuel Weller, der seinen Gefühlen soeben dadurch Luft verschafft hatte, daß er unter dem Schutz der Tür das hübsche Hausmädchen küßte.

»Wahrhaftig, ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein, Sammy«, sagte Arabella mit dem süßesten Lächeln, das sich denken läßt. »Ich werde Ihre Bemühungen im Garten zu Clifton nie vergessen.«

»Sprechen Sie nicht davon, Madame«, erwiderte Sam. »Ich bin bloß der Natur zu Hilfe gekommen, Madame, wie der Doktor zur Mutter des Knaben sagte, als er ihn solange zur Ader gelassen hatte, bis er tot war.«

»Setzen Sie sich doch, liebe Marie«, sagte Pickwick, diese Komplimente kurz abschneidend. »Und nun, wie lange sind Sie denn schon verheiratet?«

Arabella blickte ihren Herrn und Gebieter verschämt an, und dieser erwiderte:

»Erst drei Tage.«

»Erst drei Tage?« fragte Herr Pickwick; »aber was habt Ihr denn in diesen drei Monaten getrieben?«

»Ja, ja«, fiel Herr Perker ein, »rechtfertigen Sie sich nur wegen Ihrer Faulheit. Sie sehen, Herr Pickwick wundert sich nur darüber, daß Sie nicht schon vor Monaten ans Ziel gekommen sind.« ,

»Die Sache ging so zu«, erwiderte Herr Winkle, indem er seine errötende junge Frau ansah: »ich konnte Bella lange nicht überreden, davonzulaufen, und als es mir endlich gelungen war, wollte sich lange keine Gelegenheit dazu finden. Auch Marie mußte einen Monat zuvor aufkündigen, ehe sie ihren Platz verlassen konnte, und ihr Beistand war uns durchaus notwendig.«

»Auf mein Wort«, rief Herr Pickwick, der inzwischen seine Brille wieder aufgesetzt hatte und mit soviel Entzücken seine Blicke von Arabella auf Winkle und von Winkle auf Arabella schweifen ließ, wie ein warmes Herz und freundliche, liebevolle Teilnahme nur einem menschlichen Antlitz verleihen kann – auf mein Wort, Ihr scheint sehr systematisch zu Werke gegangen zu sein. Und weiß Ihr Bruder schon alles, mein liebes Kind?«

»Ach nein, nein«, erwiderte Arabella, die Farbe wechselnd, »Lieber Herr Pickwick, er darf es nur von Ihnen, – nur aus Ihrem Munde erfahren. Er ist so heftig, so voll von Vorurteilen, und hatte so – so lebhafte Wünsche für seinen Freund, Herrn Sawyer«, fügte sie, die Augen niederschlagend, hinzu, »daß ich die entsetzlichste Angst vor den Folgen habe.«

»Ja, ja«, sagte Herr Perker ernsthaft. »Sie müssen diese Sache für sie ausfechten, mein lieber Herr. Vor Ihnen werden diese jungen Männer Respekt haben, wenn sie auf niemanden sonst hören: Sie müssen Unglück verhüten, mein lieber Herr. Heißes Blut – heißes Blut.«

»Sie vergessen nur, liebes Kind«, sagte Herr Pickwick freundlich, »Sie vergessen nur, daß ich ein Gefangener bin,«

»Nein, mein lieber Herr Pickwick«, erwiderte Arabella, »das nicht. Ich habe es nie vergessen und beständig daran gedacht, wie entsetzlich Sie an diesem abscheulichen Orte leiden müssen. Allein ich hoffte, wozu keine Rücksicht auf Ihre eigene Person Sie bewegen könnte, dazu würden Sie sich vielleicht durch Ihre Wünsche für unser Glück bestimmen lassen. Wenn mein Bruder es von Ihnen zuerst erfährt, so hoffe ich mit Bestimmtheit aus Versöhnung. Er ist mein einziger Verwandter in der Welt, Herr Pickwick, und wenn Sie nicht für mich sprechen, so fürchte ich, auch ihn verloren zu haben. Ich habe unrecht getan – sehr, sehr unrecht; ich weiß es wohl.«

Hier hielt sich die arme Arabella ihr Tuch vor das Gesicht und weinte bitterlich.

Herrn Pickwicks Natur war schon durch diese Tränen gewaltig erschüttert; als aber Frau Winkle ihre Augen trocknete und gar anfing, mit den süßesten Tönen ihrer überaus süßen Stimme ihn zu liebkosen und zu bestürmen, da wurde er sehr unruhig und war offenbar zweifelhaft, was er tun sollte, wie aus seinem mehrfach wiederholten krampfhaften Reiben an den Brillengläsern, an Nase und Schenkeln, Kopf und Gamaschen, hervorging.

Herr Perker, dem es schien, als müsse das junge Paar diesen Morgen große Eile gehabt haben, benutzte diese Symptome von Unentschlosscnheit und setzte mit juristischer Gewandtheit und Advokatenschlauheit auseinander, wie Herr Winkle senior, der Vater, von dem wichtigen Fortschritt, den sein Sohn auf seiner Lebensleiter gemacht habe, noch nichts wisse; wie die künftigen Aussichten des besagten Sohnes gänzlich davon abhingen, daß besagter Winkle senior ihn fortwährend mit unverminderten Gefühlen der Liebe und Zuneigung betrachte, was höchst unwahrscheinlich sei, wenn dieses große Ereignis lange vor ihm geheimgehalten werde. Er setzte weiter auseinander, wie Herr Pickwick, wenn er sich nach Bristol begebe, um Herrn Allen zu besuchen, ebensogut auch nach Birmingham gehen und Herrn Winkle senior aufsuchen könne; wie endlich Herr Winkle senior alles Recht und vollkommene Befugnis habe, Herrn Pickwick einigermaßen als Mentor und Ratgeber seines Sohnes zu betrachten, und wie es folglich diesem Gentleman gezieme, ja er es sogar seiner persönlichen Ehre schuldig sei, den vorbesagten Winkle senior persönlich und in mündlicher Besprechung mit dem ganzen Verhalten der Sache, sowie mit seinem eigenen Anteil bei der Verhandlung bekannt zu machen.

So standen die Unterhandlungen, als sehr zur gelegenen Zeit Herr Tupman und Herr Snodgraß erschienen, und da man ihnen alles Vorhergegangene nebst den verschiedenen Gründen für und wider auseinandersetzen mußte, so wurden sämtliche Beweisgründe wieder aufgeführt und von einem jeden auf seine Weise und nach seiner Weltanschauung dargetan. Endlich wurde Herr Pickwick geradezu aus allen seinen Entschlüssen hinausdisputiert und widerlegt. Da er nun in augenscheinlicher Gefahr schwebte, auch aus seinem Verstand hinausdisputiert und widerlegt zu werden, so nahm er Arabella in seine Arme, erklärte, sie sei ein unendlich liebenswürdiges Geschöpf; er wisse selbst nicht, wie es zugegangen, aber er habe sie vom ersten Augenblick an außerordentlich liebgewonnen: er könne es nicht übers Herz bringen, dem Glück der jungen Leute im Wege zu stehen, und sie könnten jetzt mit ihm anfangen, was sie wollten.

Als Herr Weller diese Nachgiebigkeit vernahm, war sein Erstes, daß er Job Trotter zu dem berühmten Herrn Pell schickte, mit der Aufforderung, dem Boten die förmliche Quittung zu übergeben, die sein kluger Vater in den Händen dieses gelehrten Gentlemans zu lassen die Vorschrift gehabt hatte. Sein Zweites war, daß er seinen ganzen Vorrat an barem Gelde zum Ankauf von fünfundzwanzig Gallonen schmackhaften Porters verwandte, die er in eigener Person auf dem Bauplätze an alle Interessenten austeilte. Endlich jagte er mit Hallo in verschiedenen Teilen des Hauses herum, bis er seine Stimme verloren hatte, und schließlich versank er wieder gänzlich in seine philosophische Ruhe und Sammlung.

Um drei Uhr nachmittags warf Herr Pickwick seinen letzten Blick auf sein kleines Zimmer und bahnte sich, so gut er konnte, seinen Weg durch den Haufen von Schuldnern, die sich begierig herandrängten, um ihm noch die Hand zu schütteln, bis er die Treppe erreicht hatte. Hier drehte er sich noch einmal um und sein Auge leuchtete dabei. Unter dem Gedränge all der bleichen, abgemagerten Gesichter sah er kein einziges, das er nicht durch sein wohlwollendes Mitgefühl glücklicher gemacht hätte.

»Perker«, sagte Herr Pickwick, einen jungen Mann zu sich winkend, »dies ist Herr Jingle, von dem ich Ihnen gesagt habe.«

»Sehr wohl, mein lieber Herr«, erwiderte Perker, Jingle scharf ins Auge fassend. »Sie werden mich morgen wieder sehen, junger Mann. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird Ihnen hoffentlich zeitlebens in Erinnerung bleiben, Sir.«

Jingle verbeugte sich ehrerbietig, zitterte sehr, als er Herrn Pickwicks dargebotene Hand ergriff, und entfernte sich.

»Den Job kennen Sie doch?« sagte Herr Pickwick, diesen Gentleman vorstellend.

»Ja, ich kenne den Spitzbuben«, erwiderte Perker lustig. »Sehen Sie nach Ihrem Freund, und seien Sie morgen um ein Uhr an Ort und Stelle. – Vergessen Sie’s nicht. – Nun, gibt es sonst noch was?«

»Nichts«, entgegnete Herr Pickwick. »Sam, du hast doch das Päckchen abgeliefert, das ich dir für deinen alten Stubenburschen gab?«

»O freilich, Sir«, erwiderte Sam. »Er hat laut aufgeheult, Sir, und sagte, es sei sehr generös von Ihnen, daß Sie auch an ihn dächten, und er wünsche nur, Sie hätten ihm die galoppierende Schwindsucht einimpfen können: denn sein alter Freund, der solange hier gelebt, sei gestorben, und jetzt könne er sich nach keinem neuen mehr umsehen.

»Der arme, arme Kerl«, sagte Herr Pickwick. »Lebt wohl, meine Freunde, Gott segne euch.«

Als Herr Pickwick diese Abschiedsworte sprach, erhob die Menge ein lautes Geschrei, und viele drängten sich vorwärts, um ihm die Hand noch einmal zu drücken. Allein er nahm Perkers Arm und eilte für den Augenblick weit betrübter und niedergeschlagener aus dem Gefängnis hinaus, als er es betreten hatte. Ach, wie viele unglückliche, trostlose Wesen hatte er dort zurückgelassen! Und wie viele davon liegen noch darin eingekäfigt!

Ein glücklicher Abend war es indessen für eine Gesellschaft im »Georg und Geier«; und leicht und fröhlich waren zwei Herzen, die am nächsten Morgen die gastliche Tür dieses Hauses verließen. Die Inhaber dieser fröhlichen Herzen aber waren Herr Pickwick und Sam Weller. Jener wurde schnell in eine behagliche Postkutsche befördert, auf deren kleinen äußeren Rücksitz sich dieser mit großer Munterkeit schwang.

»Sir«, rief Herr Weller seinem Gebieter zu.

»Was ist’s, Sam?« erwiderte Herr Pickwick, den Kopf zum Fenster hinausstreckend.

»Ich wollte nur, diese Pferde da wären Ihre guten drei Monate im Fleet gewesen, Sir.«

»Und warum, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Ei, Sir«, rief Herr Weller, sich die Hände reibend, » die würden laufen!«

Neunundvierzigstes Kapitel.


Neunundvierzigstes Kapitel.

Berichtet, wie Herr Pickwick mit Hilfe Samuel Wellers das Herz des Herrn Benjamin Allen zu erweichen und den Zorn des Herrn Robert Sawyer zu besänftigen sucht.

Herr Ben Allen und Herr Bob Sawyer saßen zusammen in ihrer kleinen Doktorstube hinter dem Laden, mit gehacktem Kalbfleisch und künftigen Aussichten beschäftigt, da das Gespräch sich sehr natürlicher Weise um die Praxis, die besagter Bob bereits hatte, und um seine gegenwärtigen Hoffnungen handelte, aus dem ehrenwerten Geschäft, dem er sich gewidmet, sich die Mittel zu einem anständigen, unabhängigen Leben zu erwerben.

»Ich meine«, bemerkte Herr Bob Sawyer, den Faden des Gespräches weiterspinnend, »ich meine, Ben, es ist immer noch zweifelhaft.«

»Was ist zweifelhaft?« fragte Herr Ben Allen, indem er seine Verstandeskräfte mit einem Schluck Bier schärfte. »Was ist zweifelhaft?«

»Nun, die Aussichten«, antwortete Herr Bob Sawyer.

»Ich hatte das ganz vergessen«, sagte Herr Ben Allen. »Das Bier hat mich daran erinnert, daß ich es vergessen hatte; ja Bob, sie sind allerdings zweifelhaft.«

»Es ist zum Bewundern, wie die Armen des Ortes mich begünstigen«, sagte Bob Sawyer nachdenklich. »Sie klopfen mich zu allen Stunden der Nacht aus dem Bette, nehmen Arzneien ein in Quantitäten, die ich für rein unmöglich gehalten hätte, lassen sich mit einer Beharrlichkeit, die einer besseren Sache würdig wäre, Blasenpflaster und Blutegel setzen, und vermehren ihre Familie auf eine wahrhaft erschreckliche Weise; – sechs solche kleine Solawechselchen, Ben! alle am gleichen Tage ausgestellt und alle mir anvertraut.«

»Das ist ja höchst erfreulich«, sagte Herr Ben Allen, seinen Teller hinhaltend, um sich noch einiges gehacktes Kalbfleisch zu langen.

»Ja, gewiß«, erwiderte Bob; »aber noch erfreulicher wäre mir das Zutrauen von Patienten, die auch einige Schillinge erübrigen könnten. Ein solches Geschäft habe ich in meiner Ankündigung vor Augen gehabt, Ben. Nun habe ich zwar eine Praxis, eine sehr ausgedehnte Praxis; aber das ist auch alles.«

»Bob«, sagte Herr Ben Allen, Messer und Gabel niederlegend und seine Augen auf das Gesicht des Freundes heftend. »Bob, ich will dir etwas sagen.«

»Und das wäre?« fragte Herr Bob Sawyer.

»Du mußt dich so bald wie möglich in den Besitz von Arabellas tausend Pfund setzen.«

»Dreiprozentige konsolidierte Bank-Leibrenten, gegenwärtig auf ihren Namen in das Buch oder die Bücher des Gouverneurs und der Kompagnie der englischen Bank eingetragen«, fügte Bob Sawyer in juristischer Phraseologie hinzu.

»Ganz recht«, sagte Ben. »Diese bekommt sie, wenn sie mündig wird oder heiratet. Mündig wird sie in einem Jahr, und wenn es dir nicht ganz an Mut gebricht, so braucht sie keinen Monat mehr zu warten, um einen Mann zu haben.«

»Sie ist ein allerliebstes, entzückendes Geschöpf«, erwiderte Herr Robert Sawyer, »und hat meines Wissens nur einen einzigen Fehler. Dieser einzige Makel aber besteht unglückseligerweise im Mangel an Geschmack. Sie liebt mich nicht.«

»Meiner Ansicht nach weiß sie selbst nicht, was sie liebt«, sagte Herr Ben Allen verächtlich.

»Das mag sein«, bemerkte Herr Bob Sawyer. »Aber meiner Ansicht nach weiß sie recht gut, was sie nicht liebt, und das ist noch weit wichtiger.«

»Ich möchte nur«, entgegnete Herr Ben Allen, indem er die Zähne zusammenbiß und mehr wie ein wilder Krieger sprach, der rohes Wolfsfleisch mit den Fingern zerreißt und ißt, als wie ein friedlicher junger Gentleman, der gehacktes Kalbfleisch mit Messer und Gabel speist. – »Ich möchte nur wissen, ob irgendein Schuft wirklich Absichten auf sie hat und sich um ihre Gunst bemüht. Ich würde ihn, glaube ich, erdolchen, Bob.«

»Und ich würde ihm eine Kugel durch den Leib jagen, wenn ich ihn fände«, sagte Herr Sawyer, unterbrach sich aber gleich wieder durch einen langen Schluck Bier, wobei er giftig über den Rand des Kruges hinausschaute. »Und wenn es damit noch nicht getan wäre, so würde ich sie ihm hernach wieder herausziehen und ihn auf diese Art töten.« ‚

Herr Benjamin Allen starrte seinen Freund einige Minuten lang mit düsterem Schweigen an und sagte dann:

»Hast du ihr nie geradezu einen Antrag gemacht, Bob?«

»Nein, denn ich sah wohl ein, daß es mir nichts nützen würde«, erwiderte Herr Robert Sawyer.

»So mußt du es tun, bevor du vierundzwanzig Stunden älter bist«, entgegnete Ben mit verzweifelter Ruhe. »Sie soll dich haben, oder ich will den Grund wissen warum? – ich werde meine ganze Gewalt anwenden.«

»Gut«, sagte Herr Bob Sawyer, »wir werden sehen.«

»Wir werden allerdings sehen, mein Freund«, erwiderte Herr Ben Allen mit grimmigem Trotz. Er schwieg einige Augenblicke und fügte dann mit zornbebender Stimme hinzu: »Du hast sie schon als Kind geliebt, mein Freund – du liebtest sie, als wir noch Schulknaben waren, und schon damals war ste eigensinnig und verschmähte deine jungen Gefühle. Erinnerst du dich noch, wie du einst mit aller Inständigkeit eines verliebten Kindes in sie drangst, sie möchte doch zwei kleine Kümmelbiskuitchen und einen süßen Apfel von dir annehmen, die du ihr gar zierlich in einer aus einem Schreibheftblatt gedrehten Tüte anbotest?«

»Ich weiß es noch sehr gut«, erwiderte Herr Bob Sawyer.

»Und sie schlug es aus, nicht wahr?« sagte Ben Allen.

»Ja freilich«, versetzte Bob. »Sie sagte, ich habe die Tüte so lange in den Taschen meiner Manchesterhosen getragen, daß der Apfel ganz unangenehm warm sei.«

»Ja, so war es«, sagte Herr Ben Allen düster. »Wir aßen ihn dann zusammen, indem einer nach dem andern hineinbiß.«

Bob Sawyer gab mit einem melancholischen Stirnrunzeln zu verstehen, daß er sich des Umstandes, auf den zuletzt angespielt wurde, recht wohl entsinne; und die beiden Freunde blieben einige Zeit, jeder in seine eigenen Betrachtungen versunken.

Während diese Bemerkungen zwischen Herrn Bob Sawyer und Herrn Benjamin Allen ausgetauscht wurden und der Junge in der grauen Livree voll Verwunderung über die ungewöhnliche Ausdehnung des Mahles von Zeit zu Zeit einen ängstlichen Blick nach der Glastür warf, von schlimmen Ahnungen ergriffen ob des Restes von gehacktem Kalbfleisch, das für seine Zähne übrigbleiben würde – rollte ganz ehrbarlich durch die Straßen von Bristol eine dunkelgrün bemalte, von einem dickköpfigen braunen Pferde gezogene Privatkutsche. Auf dieser thronte ein sauertöpfisch aussehender Kutscher, der Beinkleider wie ein Groom, im übrigen aber die gewöhnliche Uniform eines Mietskutschers trug. Solche Erscheinungen sind etwas Gewöhnliches bei manchen Fuhrwerken, die alten Damen von sparsamen Gewohnheiten angehören und die von ihnen gehalten werden. Auch saß in dem Wagen wirklich eine alte Dame, die Besitzerin und Eigentümerin desselben.

»Martin!« sagte die alte Dame, vom vorderen Fenster aus dem sauertöpfischen Manne zurufend.

»Madame?« erwiderte der Sauertöpfische, mit der Hand an seinen Hut fahrend.

»Zu Herrn Sawyer«, sagte die alte Dame.

»Ich war eben im Begriff zu halten«, versetzte der sauertöpfische Mann.

Die alte Dame nickte zufrieden über diese Umsichtigkeit des sauertöpfischen Mannes, und der Sauertöpfische gab seinem dickköpfigen Pferde einen derben Hieb, worauf sie sich alle nach Herrn Bob Sawyers Haus begaben.

»Martin!« sagte die alte Dame, als die Kutsche vor der Tür des Herrn Robert Sawyer, weiland Nockemorf, hielt.

»Madame!« erwiderte Martin.

»Sagen Sie dem Jungen, er soll herauskommen und das Pferd halten.«

»Das werde ich schon selbst besorgen«, sagte Martin, seine Peitsche auf das Kutschendach legend.

»Nein, nein«, meinte die alte Dame; »ich kann das unter keinen Umständen zugeben; Ihr Zeugnis ist von höchster Wichtigkeit, und Sie müssen durchaus mit mir ins Haus kommen. Sie dürfen während der ganzen Unterredung nicht von meiner Seite weichen. Verstehen Sie mich?«

»Ja, ich verstehe«, erwiderte Martin.

»Nun also, auf was warten Sie noch?«

»Auf nichts«, versetzte Martin.

Also sprach der sauertöpfische Mann und stieg gemächlich vom Rade herab, auf dem er sich mit den Zehenspitzen seines rechten Fußes gewiegt hatte, rief den Burschen in der grauen Livree, öffnete die Kutschentür, schlug die Tritte herunter, streckte eine in einem dunklen waschledernen Handschuh gehüllte Hand hinein und zog die alte Dame ungefähr mit derselben Manierlichkeit heraus, wie wenn sie eine Putzschachtel gewesen wäre.

»Ach du mein Gott«, rief die alte Dame, »es ist mir ganz angst und bange, seit ich hier bin, Martin, und ich zittere an allen Gliedern.«

Herr Martin hustete hinter seinem dunklen waschledernen Handschuh, drückte aber kein weiteres Mitgefühl aus, und nachdem die alte Dame sich gesammelt hatte, wackelte sie Herrn Bob Sawyers Treppe hinauf, woselbst Herr Martin nachfolgte.

Unmittelbar nachdem die alte Dame in den Laden getreten war, stürzten Herr Benjamin Allen und Herr Bob Sawyer, die inzwischen die geistigen Getränke auf die Seite geschafft und übelriechende Arzneien ausgeschüttet hatten, um den Tabaksgeruch zu dämpfen, voll Entzücken, Freundlichkeit und Zärtlichkeit herein.

»Ach meine liebe Tante«, rief Herr Ben Allen: »wie schön, daß Sie auch nach uns sehen! – Herr Sawyer, Tante! Mein Freund, Herr Bob Sawyer, von dem ich Ihnen schon gesagt habe wegen – Sie wissen schon was, Tante.«

Herr Ben Allen, der in diesem Augenblick nicht besonders nüchtern war, fügte das Wort Arabella bei, zwar nur flüsternd, wie er meinte, aber immerhin noch laut und vernehmlich genug, daß es alle Anwesenden hören mußten, wenn sie überhaupt ein Gehör hatten.

»Mein lieber Benjamin«, begann die alte Dame, die sehr kurzatmig war und am ganzen Leibe zitterte – »erschrick nur nicht, guter Junge: aber ich möchte gern Herrn Sawyer einen Augenblick allein sprechen – nur einen Augenblick.«

»Bob«, sagte Herr Ben Allen, »führe meine Tante ins Stübchen.«

»Sehr gern«, erwiderte Bob in einem sehr würdigen Ton. »Hierher, meine verehrteste Madame. Haben Sie nur keine Angst, Madame. Ich zweifle keinen Augenblick, daß wir Sie in kurzer Zeit vollkommen wiederherstellen werden. Hier, meine teuerste Madame. Jetzt schütten Sie gefälligst Ihr Herz aus.«

Das erste, was die alte Dame tat, war, daß sie sehr oft den Kopf schüttelte und dann zu schluchzen begann.

»Nervös«, sagte Bob Sawyer verbindlich. »Kampferspiritus und Wasser dreimal des Tages und einen beruhigenden Trank für die Nacht.«

»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, Herr Sawyer«, sagte die alte Dame. »Es ist so namenlos peinlich und schmerzlich.«

»Sie brauchen nicht anzufangen, Madame«, erwiderte Herr Bob Sawyer. »Ich weiß von vornherein alles, was sie sagen wollen. Ihr Leiden sitzt im Kopfe.«

»Ach nein, im Herzen«, sagte die alte Dame mit schwachem Gestöhne.

»Da ist nicht die geringste Gefahr, Madame«, erwiderte Bob Sawyer. »Der Magen ist die Hauptsache.«

»Herr Sawyer!« rief die alte Dame zusammenfahrend.

»Man kann nicht im geringsten zweifeln, Madame«, fuhr Bob mit wunderbar weiser Miene fort: »Arznei zu rechter Zeit würde alles verhütet haben, meine teuerste Madame.«

»Herr Sawyer«, sagte die alte Dame, noch aufgeregter als zuvor; »Ihr Benehmen gegen eine Frau in meiner Lage ist entweder eine große Unverschämtheit oder ein Beweis, daß Sie über den Zweck meines Besuches gänzlich im Irrtum sind. Hätte ich das, was geschehen ist, durch Arzneien oder Vorsicht verhüten können, so hätte ich es gewiß getan. Es ist übrigens am besten, ich wende mich unmittelbar an meinen Neffen«, fügte die Alte hinzu, indem sie voll Entrüstung ihren Strickbeutel herumdrehte und aufstand.

»Bleiben Sie doch noch einen Augenblick, Madame«, sagte Bob Sawyer: »ich fürchte, ich habe Sie mißverstanden, Um was handelt es sich denn, Madame?«

»Um meine Nichte, Herr Sawyer«, sagte die alte Dame – »um die Schwester Ihres Freundes.«

»Nun ja, Madame«, erwiderte Bob voll Ungeduld, denn die alte Dame sprach trotz ihrer äußersten Aufgeregtheit mit der peinigendsten Langsamkeit, wie alte Damen oft tun. »Nun ja, Madame.«

»Sie verließ mein Haus vor drei Tagen, Herr Sawyer, angeblich, um meine Schwester, eine andere Tante von ihr, zu besuchen, die unmittelbar jenseits des dritten Meilensteins die große Pension hält, dort, wo der große Bohnenbaum und das eichene Tor steht«, sagte die alte Dame und hielt inne, um ihre Augen zu trocknen.

»Der Teufel hole den Bohnenbaum, Madame«, sagte Bob, der in der Angst seine Amtswürde ganz vergaß. »Ein bißchen schneller, wenn ich bitten darf: wenden Sie ein bißchen mehr Dampf an, Madame.«

»Heute morgen«, fuhr die alte Dame langsam fort, »heute morgen ist sie –«

»Zurückgekommen, ohne Zweifel?« fiel Bob sehr aufgeregt ein: »zurückgekommen?«

»Nein, sie kam nicht – sie schrieb«, erwiderte die alte Dame.

»Und was schrieb sie?« fragte Bob voll Eifer.

»Sie schrieb, Herr Sawyer«, fuhr die Alte fort: – »und darauf bitte ich Sie, Benjamin allmählich und vorsichtig vorzubereiten – sie schrieb – sie sei – ich habe den Brief in meiner Tasche, Herr Sawyer: aber meine Brille liegt noch im Wagen, und es würde zu viel Zeit kosten, wenn ich Ihnen die betreffende Stelle ohne Brille vorlesen wollte: kurz und gut, Herr Sawyer, sie schrieb, sie sei verheiratet.«

»Was!« sagte oder schrie vielmehr Bob Sawyer.

»Verheiratet«, wiederholte die Alte.

Herr Bob Sawyer wollte nichts mehr hören: er stürzte aus dem Hinterstübchen in den äußeren Laden und rief mit Stentorstimme:

»Ben, lieber Freund, sie ist durchgegangen!«

Herr Ben Allen, der hinter dem Ladentisch eingeschlummert war und seinen Kopf etwa einen halben Fuß unter den Knien hängen hatte, vernahm nicht so bald diese Schreckensnachricht, als er urplötzlich auf Herrn Martin losstürzte, den schweigsamen Diener an seinem Halstuch faßte und die verbindliche Absicht ausdrückte, ihn auf der Stelle zu erwürgen – eine Absicht, die er auch sogleich mit einer Raschheit, wie sie oft nur die Verzweiflung zu geben vermag, und dabei mit großer Kraft und chirurgischer Geschicklichkeit auszuführen begann.

Herr Martin, ein Mann von wenig Worten und geringer Beredsamkeit oder Überzeugungsgabe, unterwarf sich dieser Operation einige Augenblicke mit einem sehr ruhigen und heitern Ausdruck in seinem Gesichte. Als er aber sah, daß diese Operation ihn schnell für alle künftigen Zeiten außerstand setzen könnte, auf Lohn, Schmerzensgeld oder sonst etwas zu warten, so murmelte er eine unverständliche Erwiderung und schlug Herrn Benjamin Allen zu Boden. Da aber dieser Gentleman die Hände in seiner Krawatte verwickelt hatte, so blieb ihm keine Wahl übrig, als ihm nachzufolgen. So kämpften sie beide noch liegend, als die Ladentür aufging und die Gesellschaft durch die Ankunft zweier höchst unerwarteten Gäste, nämlich der Herren Pickwick und Weller, vermehrt wurde.

Der erste Eindruck, den das, was er sah, auf Herrn Weller machte, war, daß Herr Martin von dem Etablissement Sawyer, weiland Nockemorf, gedungen sei, um starke Arzneien einzunehmen, Anfälle zu bekommen und Experimente mit sich anstellen zu lassen, oder auch um dann und wann ein Gift zu verschlucken, damit die Wirksamkeit einiger neuen Gegengifte sich erproben ließe, oder sonst etwas zu tun, was die große Wissenschaft »Medizin« befördern und den glühenden Wissensdurst befriedigen könnte, der in der Brust ihrer beiden jungen Anhänger brannte. Er machte daher keinen Versuch, sich ins Mittel zu legen, sondern blieb ruhig, gelassen und sah zu, als ob er auf das Ergebnis des schwebenden Experiments äußerst begierig wäre. Nicht so Herr Pickwick. Er warf sich sogleich mit seiner gewohnten Energie auf die Kämpfer und ermunterte die Umstehenden laut, die Feinde zu trennen.

Sein Geschrei brachte Herrn Bob Sawyer zur Besinnung, der bisher durch den Wahnsinn seines Freundes wie gelähmt dagestanden hatte; und mit Hilfe dieses Gentlemans brachte Herr Pickwick Ben Allen wieder auf die Beine. Herr Martin, der sich nun allein auf dem Boden sah, stand ebenfalls auf und blickte wild um sich.

»Herr Allen«, sagte Herr Pickwick, »was gibt es denn hier?«

»Das geht Sie nichts an, Sir«, erwiderte Herr Allen mit hochmütigem Trotz.

»Was ist denn los?« fragte Herr Pickwick, sich gegen Bob Sawyer wendend? »ist er unwohl?«

Ehe jedoch Bob antworten konnte, ergriff Herr Ben Allen Herrn Pickwick bei der Hand und murmelte in demütigem Tone:

»Meine Schwester, lieber Herr Pickwick, meine Schwester!«

»O, ist das alles?« fragte Herr Pickwick. »Diese Sache werden wir hoffentlich bald ins reine bringen. Ihre Schwester ist wohl und gesund und ich bin hier, mein teurer Sir, um –«

»Es tut mir leid, etwas zu tun, was so äußerst angenehme Verhandlungen unterbrechen kann, wie der König sagte, als er das Parlament auflöste«, fiel Herr Weller ein, der durch die Glastür geschaut hatte; »aber es ist noch ein anderes Experiment zu machen, Sir. Da liegt eine ehrwürdige alte Dame auf dem Teppich und wartet auf Sektion oder Galvanisierung oder sonst eine andere wiederbelebende und wissenschaftliche Erfindung.«

»Ach, das habe ich ganz vergessen«, rief Herr Ben Allen. »Es ist meine Tante.«

»Um Gottes willen«, sagte Herr Pickwick, »Die arme Dame! Nur sachte, Sam, sachte,«

»Eine sonderbare Lage für jemand aus der Familie«, bemerkte Sam Weller, indem er die Tante auf einen Stuhl hob. »Heda, Meister Knochensäger, das Riechfläschchen her!«

Diese Aufforderung war an den Burschen in der grauen Livree gerichtet, der das Fuhrwerk der Fürsorge eines Straßenaufsehers überlassen hatte und herbeigeeilt war, um zu sehen, was der Lärm bedeute. Durch die Bemühungen dieses Burschen nun, sowie des Herrn Bob Sawyer und des Herrn Benjamin Allen (der, nachdem er seine Tante in eine Ohnmacht geschreckt hatte, voll Zärtlichkeit und Eifer geschäftig war, sie wieder herzustellen), wurde die alte Dame endlich wieder zum Bewußtsein gebracht. Nun wandte sich Herr Ben Allen mit verstörtem Geiste an Herrn Pickwick und fragte ihn, was er habe sagen wollen, als er auf eine so beunruhigende Weise unterbrochen worden sei.

»Wir sind doch lauter gute Freunde hier?« sagte Herr Pickwick, sich räuspernd und nach dem wortkargen Mann mit dem sauertöpfischen Gesicht blickend, dem die Kutsche mit dem dickköpfigen Pferde angehörte.

Das erinnerte Herrn Bob Sawyer, daß der Bursche in der grauen Livree mit weit geöffneten Augen und gierigen Ohren zuschaute. Nachdem daher dieser angehende Chemiker an seinem Rockkragen in die Höhe gehoben und zur Tür hinausbefördert war, versicherte Bob Sawyer Herrn Pickwick, er könne jetzt ohne Rückhalt sprechen.

»Ihre Schwester, mein teurer Sir«, begann Herr Pickwick, sich gegen Benjamin Allen wendend, »befindet sich in London und ist wohl und glücklich.«

»Ich habe nichts mit ihrem Glück zu schaffen, Sir«, sagte Herr Benjamin Allen mit einer raschen Bewegung der Hand.

»Ich aber habe mit ihrem Gemahl zu schaffen, Sir«, sagte Bob Sawyer. »Ich will auf zwölf Schritte mit ihm zu schaffen haben, Sir, und will ihn gehörig verarbeiten, diesen niederträchtigen Schurken!«

Das war nun eine sehr runde, großherzige Erklärung; Herr Bob Sawyer aber schwächte ihre Wirkung dadurch, daß er einige Gemeinplätze, das Schädelzerklopfen und Augenausschlagen betreffend, mit einflocht.

»Nur sachte, Sir«, sagte Herr Pickwick: »bevor Sie auf den fraglichen Gentleman solche Beiwörter anwenden. Erwägen Sie einmal leidenschaftslos den Umfang seiner Schuld, und bedenken Sie vor allem, daß er ein Freund von mir ist.«

»Was?« sagte Herr Bob Sawyer.

»Wie heißt er? Wer ist er?« rief Ben Allen.

»Herr Nathaniel Winkle«, erklärte Herr Pickwick mit Festigkeit.

Herr Benjamin Allen zertrat ganz bedächtig seine Brille mit dem Absatz seines Stiefels, und nachdem er die Stücke aufgelesen und in drei verschiedene Taschen gesteckt hatte, legte er die Arme übereinander, biß sich in die Lippen und blickte mit drohender Gebärde in das sanfte Gesicht des Herrn Pickwick.

»Dann haben also Sie, Sir, und niemand anders als Sie, diese Verbindung ermutigt und zustande gebracht?« fragte Herr Benjamin Allen endlich.

»Und dann ist es«, fiel die alte Dame ein, »vermutlich der Diener dieses Gentleman gewesen, der um mein Haus herumschlich und meine Dienerschaft zu einer Verschwörung gegen mich zu verleiten suchte. Martin!«

»Madame?« sagte der sauertöpfische Mann vortretend.

»Ist das der junge Mann, den Sie in der Gasse sahen und von dem Sie mir heute früh erzählten?«

Herr Martin, der, wie es sich bereits herausgestellt hat, ein kurz angebundener, wortkarger Mann war, sah Sam Weller an, nickte mit dem Kopfe und brummte:

»Ja, der ist’s.«

Herr Weller, der keineswegs stolz war, lächelte zum Zeichen freundlichen Wiedererkennens, als seine Augen denen des griesgrämigen Groom begegneten, und gestand in höflichen Ausdrücken, daß er ihn schon von früher kenne.

»Und diesen treuen Menschen«, rief Herr Ben Allen, »hätte ich beinahe erwürgt! Herr Pickwick, wie konnten Sie es wagen, Ihrem Kerl zu erlauben, daß er sich bei der Entführung meiner Schwester gebrauchen ließ? Ich verlange eine Erklärung von Ihnen, Sir.«

»Erklären Sie sich, Sir«, schrie Bob Sawyer trotzig.

»Es ist eine Verschwörung«, sagte Ben Allen.

»Ein hinterlistiger, niederträchtiger Betrug«, fügte Bob Sawyer hinzu.

»Eine schändliche Büberei«, bemerkte die alte Dame.

»Ein echtes Schurkenstück«, meinte Martin.

»Bitte, hören Sie mich doch an«, bat Herr Pickwick, als Herr Ben Allen auf den Stuhl sank, wo er seinen Patienten zur Ader zu lassen pflegte, und seine Zuflucht zu seinem Taschentuche nahm. »Ich war bei der Sache durchaus unbeteiligt, außer daß ich einer Zusammenkunft der beiden jungen Leute beiwohnte. Ich konnte deren Liebe nun einmal nicht verhindern, und zwar tat ich dies in der Überzeugung, daß meine Anwesenheit auch den geringsten Schein von Unschicklichkeit, den die Sache sonst gehabt hätte, verbannen müsse. Weiter habe ich die Hand nicht im Spiele gehabt. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung davon, daß eine so schnelle Verbindung beabsichtigt werde. Im übrigen will ich nicht sagen, daß ich sie verhindert haben würde, wenn ich etwas davon gewußt hätte.«

»Sie hören es alle? Sie hören es?« sagte Herr Benjamin Allen.

»Hoffentlich«, bemerkte Herr Pickwick sanft, indem er um sich blickte, »und«, fügte er hinzu, indem ihm die Röte ins Gesicht stieg, »Sie hören hoffentlich auch das, Sir, daß ich Ihnen, nach allen eingezogenen Erkundigungen, versichern muß, wie Sie keineswegs berechtigt waren, den Neigungen ihrer Schwester einen Zwang anzutun. Sie hätten sich vielmehr bestreben sollen, ihr durch freundliches, zärtliches Benehmen alle andern näheren Verwandten zu ersetzen, deren sie von Kindheit auf keine gekannt hat. Was meinen jungen Freund betrifft, so erlaube ich mir hinzuzusetzen, daß er in Beziehung auf Glücksgüter und äußere Verhältnisse zum mindesten auf gleichem Fuße mit Ihnen steht, wo nicht auf einem weit besseren. Im übrigen werde ich nicht mehr über die Angelegenheit reden, wenn sie nicht mit geziemender Mäßigung und dem gebührenden Anstand verhandelt wird.

»Ich möchte auch noch einige wenige Bemerkungen zu dem machen, was von dem ehrenwerten Herrn Vorredner gesagt worden ist«, begann Herr Weller, vortretend, »nämlich das: ein Individuum in der Gesellschaft hat mich einen Kerl genannt.«

»Das hat durchaus nichts mit der Sache zu schaffen, Sam«, unterbrach ihn Herr Pickwick. »Sei so gut und schweig.«

»Ich will auch gar nichts über die Sache sagen, Sir«, erwiderte Sam, »als bloß dieses. Vielleicht denkt der Gentleman, es sei eine frühere Zuneigung vorhanden gewesen; aber das ist durchaus nicht der Fall; denn die junge Dame sagte gleich im Anfang der Bekanntschaft, daß sie ihn nicht ausstehen könne. Es hat ihn also niemand ausgestochen; und es wäre ganz der gleiche Fall für ihn gewesen, wenn die junge Dame den Herrn Winkle nie gesehen hätte. Das habe ich nur sagen wollen, Sir, und ich hoffe, das Gemüt des Gentlemans wird sich jetzt beruhigen.«

Auf diese trostreichen Bemerkungen des Herrn Weller folgte eine kurze Pause. Dann sprang Herr Ben Allen von seinem Stuhle auf und beteuerte, Arabella dürfe ihm nie wieder vor die Augen treten, während Herr Bob Sawyer, trotz Sams schmeichelhafter Versicherung, dem glücklichen Bräutigam schreckliche Rache gelobte.

Doch gerade in dem Augenblick, als die Sache das feindseligste Ansehen gewann und zu behalten drohte, fand Herr Pickwick einen mächtigen Beistand an der alten Dame, der die Art, wie er die Sache ihrer Nichte verfochten hatte, offenbar sehr gefiel, und die es daher wagte, Herrn Benjamin Allen einige tröstende Bemerkungen vorzuhalten: es sei doch vielleicht gut, daß es nicht noch schlimmer gekommen wäre. Beim Lichte betrachtet, stünden die Sachen doch nicht so gar schlimm: zu geschehenen Dingen müsse man das beste reden, und was man nicht abändern könne, darein müsse man sich in Geduld fügen. Dann fuhr die Tante noch eine ganze Weile in gleichen erbaulichen Betrachtungen fort. Herr Benjamin Allen erwiderte bloß, er habe allen möglichen Respekt vor seiner Tante und vor jedermann; dies ändere aber an der Sache nichts; man müsse ihm erlauben, seinem eigenen Kopf zu folgen, und er werde sich das Vergnügen nehmen, seine Schwester bis zu ihrem Tode und noch nach demselben zu hassen.

Endlich, nachdem er diesen Entschluß einhalbhundertmal angekündigt hatte, brauste die alte Dame auf einmal auf, blickte höchst majestätisch um sich und verlangte zu wissen, was sie getan habe, um so wenig Ehrerbietung für ihre Jahre und Verhältnisse zu verdienen und diese Sprache gegen ihren eigenen Neffen führen zu müssen, dessen sie seit den fünfundzwanzig Jahren seiner Geburt stets eingedenk gewesen sei, den sie gekannt habe, noch ehe er einen Zahn im Munde gehabt; nicht zu gedenken ihrer Anwesenheit, als man ihm zum erstenmal das Haar geschnitten, und ihrer Mitwirkung bei vielen andern Vorgängen und Feierlichkeiten während seiner Kindheit; lauter Dinge, die wichtig genug seien, um ihre Ansprüche auf seine Liebe, seinen Gehorsam und sein Mitgefühl auf immer zu begründen.

Während die gute Dame solchergestalt Herrn Ben Allen den Text las, hatten sich Herr Bob Sawyer und Herr Pickwick in eifriger Unterhaltung nach dem Hinterstübchen zurückgezogen, wo man den ersteren zu wiederholten Malen eine schwarze Flasche ansetzen sah, unter deren Einfluß seine Züge allgemach einen vergnügten und sogar heiteren Ausdruck gewannen. Endlich trat er sogar mit der Flasche in der Hand aus der Stube, erklärte, es tue ihm sehr leid, sagen zu müssen, daß er ein Narr gewesen sei, trank die Gesundheit und das Wohlergehen des Herrn und der Frau Winkle und sagte, daß er sie nicht nur nicht um ihr Glück beneide, sondern auch der erste sein wolle, der ihnen dazu gratuliere. Als Herr Ben Allen das hörte, sprang er von seinem Stuhle auf, ergriff die schwarze Flasche und trank gleichfalls auf die ausgebrachte Gesundheit so herzlich, daß er von dem starken Likör beinahe ebenso schwarz im Gesicht wurde wie die Flasche selbst. Endlich machte die schwarze Flasche die Runde, bis sie leer war, und da gab es denn ein Händeschütteln und einen Komplimentenaustausch, daß sogar Herr Martin mit dem metallenen Gesichte sich herabließ, zu lächeln.

»Und jetzt«, sagte Bob Sawyer, sich die Hände reibend, »jetzt wollen wir eine lustige Nacht haben.«

»Es tut mir leid«, sagte Herr Pickwick, »daß ich in meinen Gasthof zurückkehren muß. Ich bin seit längerer Zeit an keine Strapazen mehr gewöhnt, und die Reise hat mich gewaltig angegriffen.«

»Aber eine Tasse Tee werden Sie doch annehmen, Herr Pickwick?« sagte die alte Dame mit unwiderstehlicher Freundlichkeit.

»Danke sehr, ich kann wirklich nicht«, erwiderte der Gentleman,

Und in der Tat war die sichtbarlich zunehmende Zuvorkommenheit der alten Dame für Herrn Pickwick ein Hauptgrund, zu gehen. Er dachte an Frau Bardell, und jeder Strahl aus den Augen der Alten ließ ihn in kalten Schweiß geraten.

Da Herr Pickwick unter keinen Umständen zu bewegen war, zu bleiben, so wurde auf seinen eigenen Antrag beschlossen, Herr Benjamin Allen solle ihn auf seiner Reise zu dem älteren Herrn Winkle begleiten und die Kutsche am nächsten Morgen um neun Uhr vor der Tür stehen. Er nahm also Abschied und ging mit Samuel Weller nach dem Busch zurück. Es verdient bemerkt zu werden, daß Herrn Martins Gesicht sich schrecklich und eigentlich krampfhaft verzog, als er beim Abschied Sam die Hand schüttelte, und daß er sich dabei eines Lächelns und zugleich eines Fluches nicht enthalten konnte. Daraus zogen die, die mit den Eigenheiten des Herrn Martin am besten bekannt waren, den Schluß, er habe hierdurch seine große Freude über Herrn Wellers Gesellschaft ausdrücken wollen und bitte um die Ehre seiner ferneren Bekanntschaft.

»Soll ich ein besonderes Zimmer bestellen, Sir?« fragte Sam, als sie den Busch erreichten.

»Nein«, erwiderte Herr Pickwick; »da ich im Kaffeezimmer zu Mittag gespeist habe und bald zu Bett gehen werde, so ist es kaum der Mühe wert. Sieh einmal nach, wer im Gastzimmer ist.«

Herr Weller ging diesen Auftrag auszurichten und kam bald mit der Nachricht zurück, daß niemand da wäre, als ein einäugiger Gentleman und der Wirt, die miteinander eine Bowle Bischof19 tränken.

»Ich will mich zu ihnen setzen«, sagte Herr Pickwick.

»’s ist ein sonderbarer Kauz, dieser Einäugige«, bemerkte Herr Weller, als er ihm den Weg zeigte. »Er lügt den Wirt dermaßen an, Sir, daß er nimmer recht weiß, ob er auf den Sohlen seiner Stiefel oder auf der Krone seines Hutes steht.«

Das Individuum, dem diese Bemerkung galt, saß am oberen Ende des Zimmers, als Herr Pickwick, eintrat, und rauchte aus einer großen holländischen Pfeife; sein Auge hatte er fest auf das runde Gesicht des Wirts, eines lustigen alten Burschen, geheftet, dem er weben eine wunderbare Geschichte erzählt hatte, wie aus den verschiedenen abgebrochenen Ausrufungen desselben: »Ei, ei, wer hätte das geglaubt.« – »Die merkwürdigste Sache, die ich je gehört habe!« – »Nein, nicht möglich!« und andern Ausdrücken des Erstaunens hervorging, die unaufhörlich von seinen Lippen flossen, wenn er dem einäugigen Mann sein starres Anschauen zurückgab.

»Ihr Diener, Sir«, sagte der Einäugige zu Herrn Pickwick. »Ein schöner Abend, Sir.«

»Ja, sehr schön«, erwiderte Herr Pickwick, als der Kellner eine kleine Flasche Branntwein nebst einigem heißen Wasser vor ihm aufpflanzte.

Während Herr Pickwick seinen Branntwein mit Wasser mischte, blickte der Einäugige von Zeit zu Zeit ernsthaft um sich und sagte endlich:

»Ich glaube. Sie schon irgendwo gesehen zu haben.«

»Ich erinnere mich nicht«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sehr möglich«, sagte der Einäugige. »Sie kannten mich nicht, aber ich kannte zwei Freunde von Ihnen, die sich zur Zeit der Wahl im Pfauen zu Eatanswill aufgehalten haben.«

»Ah, wirklich?« rief Herr Pickwick.

»Ja«, erwiderte der Einäugige. »Ich erzählte ihnen eine kleine Geschichte von einem meiner Freunde, namens Tom Smart. Vielleicht hat man zu Ihnen davon wieder gesprochen?«

»O ja, oft«, erwiderte Herr Pickwick lächelnd. »Er war Ihr Onkel, wenn ich nicht irre.«

»Nein, nein – nur ein Freund meines Onkels«, versetzte der Einäugige.

»Das war ein wunderbarer Mann, Ihr Onkel«, bemerkte der Wirt, den Kopf schüttelnd.

»Allerdings, man darf es wohl sagen«, antwortete der Einäugige. »Ich könnte Ihnen von demselben Onkel eine Geschichte erzählen, meine Herren, worüber Sie gewiß staunen würden.«

»Nun, so lassen Sie hören«, sagte Herr Pickwick.

Der einäugige Hausierer schöpfte sich ein Glas voll aus der Bowle, trank es, tat einen langen Zug aus der holländischen Pfeife und rief Sam Weller, der an der Tür zögerte, zu, er brauche sich nicht zu entfernen, wenn man es nicht von ihm verlange: denn die Geschichte sei kein Geheimnis. Sofort heftete er sein Auge auf den Wirt und erzählte, was das nächste Kapitel vermelden wird.

  1. Ein Getränk aus Rotwein, Zucker und Apfelsinenschalen.

Fünfzigstes Kapitel.


Fünfzigstes Kapitel.

Die Geschichte von dem Onkel des Hausierers.

»Mein Onkel – verehrte Herren«, sagte der Hausierer, »war einer der lustigsten, angenehmsten und gescheitesten Burschen, die je gelebt haben. Ich wollte, Sie hätten ihn gekannt, meine Herren. Aber wenn ich die Sache näher überlege, so wünsche ich es nicht; denn wenn Sie ihn gekannt hätten, so würden Sie jetzt, nach dem gewöhnlichen Laufe der Natur, wo nicht tot, doch jedenfalls dem Tode so nahe sein, daß Sie zu Hause bleiben und alle Gesellschaft meiden müßten. Dadurch würde ich denn um das unschätzbare Vergnügen gekommen sein, jetzt mit Ihnen zu sprechen. Nein, meine Herren, ich wünsche, daß Ihre Väter und Mütter meinen Onkel gekannt hätten. Sie würden ganz gewiß erstaunlich viel auf ihn gehalten haben, besonders ihre ehrwürdigen Mütter. Wenn unter den zahlreichen Tugenden, die seinen Charakter zierten, zwei vorherrschten, so möchte ich sagen, es waren dies seine Punschbereitung und seine Gesänge nach dem Nachtessen. Entschuldigen Sie mein langes Verweilen bei diesen melancholischen Erinnerungen an entschwundenes Verdienst; aber einen Mann, wie meinen Onkel, findet man nicht alle Tage.

Ich habe es allezeit als einen Hauptzug im Charakter meines Onkels betrachtet, daß er der vertraute Freund und Kamerad des Tom Smart aus dem großen Hause Bilson und Slum, Cateatonstraße in der City, war. Mein Onkel reiste für Tiggin und Welps, nahm aber lange Zeit so ziemlich dieselbe Route wie Tom, und gleich am ersten Abend, an dem sie zusammentrafen, faßte mein Onkel eine Zuneigung für Tom, die von Tom in gleichem Grade erwidert wurde. Noch ehe sie einander eine halbe Stunde lang kannten, wetteten sie einen neuen Hut, wer am besten ein Quart Punsch brauen und am schnellsten austrinken könne. Mein Onkel gewann die Wette um das Brauen, aber Tom Smart überwand ihn im Trinken um etwa einen halben Salzlöffel voll. Sie machten jeder ein neues Quart aus, um gegenseitig ihre Gesundheit zu trinken und waren von der Zeit an immer die treuesten Freunde. In solchen Dingen waltet eine Fügung des Himmels, meine Herren; man kann ihr nicht entgehen.

Was sein Äußeres betrifft, so war mein Onkel ein bißchen unter der Mittelgröße, aber um einen Grad Verstand stärker als die gewöhnlichen Menschenkinder, und vielleicht war auch sein Gesicht um eine Schattierung röter. Er hatte das lustigste Gesicht, das man sich nur denken kann, meine Herren; etwas Hanswurstartiges darin, aber Nase und Kinn viel hübscher; seine Augen sprühten und funkelten von guter Laune; und ein Lächeln – aber kein so nichtssagendes, hölzernes Gegrinse, sondern ein echtes, fröhliches, herzliches, gutmütiges Lächeln schwebte ständig um seinen Mund. Er wurde einmal aus seinem Zweiradwagen herausgeschleudert und fiel mit dem Kopf gegen einen Meilenstein. Da lag er nun betäubt, und sein Gesicht war von den Steinen dermaßen zerschunden, daß ihn, um seinen eigenen starken Ausdruck zu gebrauchen, seine leibliche Mutter nicht erkannt hätte, wenn sie auf die Erde zurückgekommen wäre. Und in der Tat, wenn ich näher über die Sache nachdenke, meine Herren, so glaube ich selbst, daß sie ihn nicht erkannt haben würde, denn sie starb, als mein Onkel zwei Jahre und sieben Monate alt war; und schon seine Stulpenstiefel würden die gute Frau nicht wenig verlegen gemacht haben, um auch nichts von den Kiessteinen oder gar von seinem lustigen roten Gesicht zu sprechen. Nun, er lag also da; und ich habe meinen Onkel oft sagen hören, der Mann, der ihn aufgehoben, habe erzählt, daß er so lustig gelächelt habe, wie wenn er zu seinem Vergnügen herausgepurzelt wäre. Nachdem man ihn zur Ader gelassen, habe sich der erste schwache Schimmer der rückkehrenden Lebenskraft darin gezeigt, daß er in seinem Bett hoch aufgesprungen und in lautes Lachen ausgebrochen sei, das junge Frauenzimmer, das das Becken gehalten, geküßt, und auf der Stelle Hammelrippchen und eingemachte Nüsse gefordert habe. Er aß eingemachte Walnüsse für sein Leben gern, meine Herren. Er sagte, er habe immer gefunden, daß sie, ohne Weinessig genossen, so gut schmeckten wie Bier.

Meines Onkels große Reise fand zur Zeit statt, wo die Blätter fallen. Er kassierte dann die ausstehenden Schulden ein und nahm Aufträge für den Norden an. Von London ging er nach Edinburg, von Edinburg nach Glasgow, von Glasgow nach Edinburg zurück und von da zu Wasser wieder nach London. Sie müssen mich wohl verstehen, daß er nur seines Vergnügens halber zum zweitenmal nach Edinburg reiste. Er pflegte dort eine Woche zuzubringen, um nach seinen alten Freunden zu sehen und mit dem einen zu frühstücken, mit dem andern zu lunchen, mit dem dritten zu Mittag und mit einem vierten zu Abend zu speisen. So trieb er es eine volle Woche. Ich weiß nicht, meine Herren, ob einer von Ihnen schon einmal an einem echten, substantiellen, gastlichen schottischen Frühstück teilgenommen und dann ein kleines Lunch von einigen Körben Austern, einem Dutzend Flaschen guten Ales und zum Beschluß ein paar Maß Whisky genehmigt hat. Wenn Sie schon dabei waren, so werden Sie mir zugeben, daß dazu eine ziemlich gute Konstitution gehört, um nachher noch ein Mittag- und Abendessen einzunehmen.

Aber, Gott sei Lob und Dank, das alles war für meinen Onkel nichts. Er hatte sich so gut daran gewöhnt, daß es bloßes Kinderspiel für ihn war. Ich habe ihn sagen hören, er wolle die Dundeer einen Tag um den andern unter den Tisch trinken und, ohne zu taumeln, nach Hause gehen. Und doch, meine Herren, haben die Dundeer so starke Köpfe und einen so starken Punsch, wie man es zwischen beiden Erdpolen nur finden kann. Ich habe einmal von einem Glasgower und einem Dundeer erzählen hören, die in einer einzigen Sitzung fünfzehn Stunden lang miteinander um die Wette tranken. Sie erstickten zwar beide, und so gut es sich ermitteln ließ, im gleichen Augenblick; aber mit Ausnahme dieser Kleinigkeit, meine Herren, befanden sie sich noch genau so wohl wie vorher, meine Herren.

Eines Abends in den letzten vierundzwanzig Stunden vor seiner Einschiffung nach London speiste mein Onkel bei einem seiner ältesten Freunde, einem Baillie Mac oder so ähnlich, der in der alten Stadt Edinburg lebte. Des Baillies Frau war da, ferner seine drei Töchter, ein erwachsener Sohn und drei oder vier stämmige, lustige, alte, schottische Kumpane mit buschigen Augenbrauen, die der Baillie meinem Onkel zu Ehren und um einen recht lustigen Abend zu haben, eingeladen hatte. Es war ein glorreicher Schmaus. Da gab es geräucherte Lachse, finnländische Schellfische, Lammköpfe und Hachis – ein berühmtes schottisches Gericht, meine Herren, von dem mein Onkel zu sagen pflegte, wenn es auf den Tisch kam, es komme ihm vor wie ein Götterfraß; – außerdem noch eine Menge andere Sachen, deren Namen ich vergessen habe, übrigens jedenfalls lauter gute Sachen. Die Mädchen waren hübsch und munter, die Frau des Baillies eines der besten Geschöpfe, die je gelebt haben, und mein Onkel in seiner besten Stimmung. Die Folge war, daß die jungen Damen in einem fort kicherten, die alte Dame laut lachte, der Baillie und die andern alten Kumpane aber die ganze Zeit über brüllten und schrien, bis sie feuerrot wurden. Ich kann nicht mit Bestimmtheit angeben, wieviel Humpen Toddy- Whisky jeder der Herren nach dem Essen trank, aber soviel weiß ich, daß etwa um ein Uhr nach Mitternacht der erwachsene Sohn des Baillie kaum mehr lallen konnte, als er den ersten Vers des Liedes: ›Wilhelm braut ein gut Getränk usw.‹ zu singen versuchte. Da mein Onkel nun schon eine halbe Stunde neben diesem Sohn der einzige über dem Mahagonitisch noch sichtbare Mann gewesen war, so fiel es ihm ein, es möchte Zeit sein, aufzubrechen, besonders da sie schon um sieben Uhr zu trinken angefangen hatten, damit er zeitig nach Hause kommen möchte. Indessen meinte er doch, es dürfte nicht ganz höflich sein, sich gerade in diesem Augenblick zu entfernen. Er ernannte sich daher zum Präsidenten, mischte sich noch ein Glas, stand auf, um seine eigene Gesundheit auszubringen, hielt eine wohlgesetzte und sehr schmeichelhafte Rede auf sich selbst und trank den Toast mit großem Enthusiasmus. Da niemand mehr wachte, so nahm mein Onkel noch ein Tröpfchen zu sich, aber diesmal lauter und unvermischt, damit der Whisky ihm nicht verleidet werden möchte. Schließlich faßte er doch einen festen Entschluß, griff nach seinem Hut und wankte auf die Straße hinaus.

Es war eine wilde stürmische Nacht, als mein Onkel die Tür des Baillie schloß; er drückte den Hut fest auf den Kopf, damit ihn der Wind nicht nehme, steckte die Hände in die Taschen, schaute nach dem Himmel und nahm eine kurze Inspektion über den Zustand des Wetters vor. Die Wolken trieben in der schwindelndsten Eile über den Mond hin und verdunkelten ihn bald völlig; bald ließen sie ihn in seinem vollen Glanze hervorleuchten und über alle Gegenstände ringsum sein Licht verbreiten. Unmittelbar darauf aber jagten sie wieder mit vermehrter Schnelligkeit über ihn hin und verhüllten alles in Dunkel. ›Wahrhaftig, das will mir nicht gefallen‹, sagte mein Onkel, indem er das Wetter anredete, als fühlte er sich persönlich von ihm beleidigt. ›Das paßt durchaus nicht zu meiner Reise; nein, das geht wahrhaftig nicht‹, fügte er mit großem Nachdruck hinzu. Nachdem er diese Worte mehrere Male wiederholt, gewann er mit einiger Mühe sein Gleichgewicht wieder – er war nämlich durch sein langes Hinaufsehen an den Himmel schwindlig geworden – und ging vergnügt seines Wegs.

Der Baillie wohnte in Canongate, und mein Onkel mußte eine ganze Meile weit ausschreiten bis zum andern Ende von Leith Walk. Auf beiden Seiten schossen hohe, schmale, zuweilen einzelnstehende Häuser gegen den schwarzen Himmel empor mit verwitterten Vorderseiten und Fenstern, die das Los der Menschenaugen geteilt zu haben, d. h. vor Alter düster geworden und eingesunken zu sein schienen. Sechs, sieben, acht Stock hoch waren die Häuser; Stockwerk auf Stockwerk gehäuft, wie Kinder mit Karten bauen. – Sie warfen ihren düsteren Schatten über die rauh gepflasterten Straßen und machten die Nacht noch finsterer. Einige wenige Öllampen hingen in langen Zwischenräumen hier und da, dienten aber nur dazu, den schmutzigen Eingang in irgendein schmales Gäßchen zu bezeichnen, oder zu zeigen, wie irgendein steiler und verwickelter Steg wieder auf die verschiedenen ebenen Wege führte. All das mit der Miene eines Mannes betrachtend, der so etwas schon zu oft gesehen hat, um sie einer Beachtung wert zu finden, ging mein Onkel, die Daumen in seiner Westentasche, mitten auf der Straße dahin, sang dabei von Zeit zu Zeit zu seiner Unterhaltung allerlei Liedchen, und zwar so kräftig und wohlgemut, daß die ruhigen, ehrsamen Leute aus ihrem ersten Schlaf aufschraken und zitternd im Bette lagen, bis die Töne in der Ferne erstarben. Dann trösteten sie sich mit dem Gedanken, es sei wohl nur irgendein betrunkener Taugenichts, der den Weg nach Hause suche, deckten sich warm zu und versanken wieder in den Schlaf.

Wenn ich so weitläufig erzähle, wie mein Onkel mit den Daumen in seinen Westentaschen mitten auf der Straße einherwandelte, so geschieht das deshalb, meine Herren, weil, wie er, und zwar mit allem Recht, zu sagen pflegte, an der ganzen Geschichte nichts Außerordentliches ist, wenn man sich nicht gleich im Anfang gehörig merkt, daß er keineswegs in einer zum Wunderbaren geneigten oder romantischen Stimmung war.

Mein Onkel wandelte also mit seinen Daumen in den Westentaschen dahin, indem er die Mitte der Straße einnahm, bald einen Vers aus einem Liebes-, bald aus einem Trinkliede sang, und wenn er beides genug hatte, gar melodisch pfiff, bis er die Nordbrücke erreichte, die hier die Alt- und Neustadt von Edinburg verbindet. Er stand eine Minute lang still, um die seltsam unregelmäßige Masse von übereinanderhängenden Lichtern zu betrachten, die in der Entfernung meist so hoch in der Luft flimmerten, daß sie aussahen wie Sterne, die von den Kastellmauern auf der einen und von dem Caltonhill auf der andern Seite herabfunkelten. Es war, als ob sie wirkliche Kastelle in der Luft beleuchteten, während die alte malerische Stadt unten in Dunkel und Finsternis schwer schlief. Der Palast und die Kapelle von Holyrood aber, die, wie ein Freund meines Onkels zu sagen pflegte, Tag und Nacht von des alten Arthurs Sitz aus bewacht werden, ragte düster und finster wie ein grämlicher Genius über die bejahrte Stadt hin, die er so lange gehütet. Hier, meine Herren, blieb also mein Onkel eine Minute lang stehen, um sich umzuschauen. Dann machte er dem Wetter, das sich, obgleich der Mond im Untergehen war, ein wenig aufgeklärt hatte, sein Kompliment und schritt so königlich wie vorher wieder weiter, mit großer Würde die Mitte der Straße behauptend und um sich blickend, als wünschte er gar sehr auf jemand zu stoßen, der ihn den Besitz dieser Straßenmitte streitig machen wollte. Zufälligerweise zeigte jedoch niemand Lust zu diesem Kampfe, und so zog er mit den Daumen in seinen Westentaschen friedlich wie ein Lamm dahin.

Als mein Onkel das Ende von Leith Walk erreichte, mußte er über einen ziemlich großen, unangebauten Platz schreiten, der ihn von einer kurzen nach seiner Wohnung führenden Straße trennte. Auf diesem unangebauten Platze befand sich dazumalen eine Einfriedigung, die einem Wagenbauer gehörte. Dieser pflegte der Post ihre alten abgenutzten Kutschen abzukaufen. Da nun mein Onkel eine besondere Vorliebe für Kutschen, alte, junge oder mittelalterliche hatte, so kam ihm auf einmal der Gedanke, von seiner Straße ein bißchen abzugehen, um sich durch die Pfahleinfriedigung hindurch diese Kutschen anzusehen. Er glaubte deren ungefähr ein Dutzend in einem höchst verwahrlosten Zustand und teilweise zertrümmert in dem genannten Raum zu bemerken. Mein Onkel war ein sehr enthusiastisches, kurz angebundenes Menschenkind, meine Herren. Als er merkte, daß er durch die Umzäunung nicht gut hindurchsehen konnte, kletterte er über sie hinein, setzte sich ganz ruhig auf eine alte Wagenachse und begann mit großem Ernst sich die Postkutschen zu betrachten.

Es mochten ein Dutzend oder auch ein paar mehr sein – mein Onkel kam über diesen Punkt nie ganz ins reine, und da er in Beziehung auf Zahlen ein Mann von peinlicher Wahrheitsliebe war, so sprach er sich nicht bestimmt darüber aus – aber da standen sie alle, in der trostlosesten Lage durcheinander gerückt, die man sich nur denken kann. Die Türen waren aus den Angeln gerissen und fehlten, das Futter war gleichfalls abgerissen, und nur noch dann und wann hing ein Läppchen an einem rostigen Nagel. Die Laternen waren dahin, die Deichseln schon längst verschwunden, das Eisen rostig, die Farbe abgeschabt; der Wind pfiff durch die Ritzen des entblößten Holzwerks, in den Dächern hatte sich der Regen gesammelt und fiel in hohlem melancholischem Ton tropfenweise hinein. Es waren nur noch die zerfallenen Skelette dahingeschwundener Postkutschen; und an diesem einsamen Orte, um diese Zeit der Nacht, sahen sie gar düster und jammervoll aus.

Mein Onkel stützte den Kopf auf seine Hände und gedachte der geschäftigen, unruhigen Leute, die vor Jahren in den alten Kutschen dahingerasselt und jetzt ebenfalls schweigsam und ganz verändert waren. Er gedachte der zahllosen Leute, denen eines dieser gebrechlichen, vermoderten Fuhrwerke viele Jahre lang Nacht um Nacht und bei jedem Wetter die ängstlich erwartete Kunde, den sehnsüchtig verlangten Wechsel, die versprochene Versicherung der Gesundheit und des Wohlseins, die plötzliche Nachricht von Krankheit und Tod gebracht hatte. Der Kaufmann, der Liebhaber, die Gattin, die Witwe, die Mutter, der Schulknabe, das Kind, das beim Klopfen des Briefträgers nach der Tür hintrippelte – wie neugierig hatten sie alle der Ankunft der alten Kutsche entgegengesehen! und wo waren sie jetzt alle??

Meine Herren, mein Onkel pflegte zu sagen, daß er damals an all das gedacht habe; allein ich vermute eher, daß er es nachher in einem Buche gelesen, denn er erklärte selbst ganz ausdrücklich, daß er, wie er so auf der alten Wagenachse saß und die zerfallenen Postkutschen betrachtete, in eine Art Dösen versunken sei. Daraus hätten ihn plötzlich die dumpfen Töne der Kirchenuhr geweckt, die zwei geschlagen. Überdies war mein Onkel niemals ein gewaltiger Denker, und wenn er an alle diese Sachen gedacht hätte, so bin ich überzeugt, daß solche Gedanken ihn wenigstens bis halb drei Uhr beschäftigt haben würden. Deshalb, meine Herren, bin ich entschieden der Ansicht, daß mein Onkel eingedöst ist, ohne an derlei zu denken.

Dem sei nun, wie es wolle, eine Kirchenuhr schlug zwei. Mein Onkel erwachte, rieb sich die Augen und sprang verwundert auf.

In dem Augenblick, da die Glocke ausgeschlagen hatte, verwandelte sich dieser ruhige und verlassene Platz auf einmal in eine Szene von Leben und Bewegung. Die Kutschentüren waren in den Angeln, das Futter ganz in Ordnung, das Eisenwerk so gut wie neu, die Farben wieder hergestellt, die Laternen brannten, Kissen und große Mäntel lagen auf jedem Bock; die Packer steckten Pakete in die Kutschenschläge, die Schaffner verwahrten ihre Briefe, die Hausknechte schütteten Kübel voll Wasser über die frischen Räder, viele Leute stürzten herbei und merkten sich die betreffende Kutsche; Passagiere kamen, die Koffer wurden aufgepackt, die Pferde angespannt; kurzum, es war vollkommen klar, daß jede Kutsche sogleich abfahren mußte. Mein Onkel sperrte ob alledem die Augen so weit auf, daß er bis zum letzten Augenblick seines Lebens zu sagen pflegte, er wundere sich nur, wie er imstande gewesen sei, sie wieder zu schließen.

›He da‹, sagte eine Stimme, und mein Onkel fühlte eine Hand auf seiner Schulter. ›Sie haben ein Billett auf einen inneren Platz. Steigen Sie ein.‹

›Ich ein Billett?‹ rief mein Onkel, sich umwendend.

›Freilich.‹

Mein Onkel konnte kein Wort sprechen, denn er war vor Erstaunen ganz außer sich. Das närrischste an der Sache aber war, daß bei all dem Gedränge, und obgleich jeden Augenblick neue Gesichter auftauchten, doch niemand sagen konnte, woher sie kamen; sie schienen auf irgendeine seltsame Art aus dem Boden zu wachsen oder aus der Luft herabzukommen und ebenso wieder zu verschwinden. Wenn ein Packknecht sein Gepäck in die Kutsche gelegt und sein Trinkgeld empfangen hatte, wandte er sich um und war fort. Ehe mein Onkel recht angefangen hatte, sich zu verwundern, was aus ihm geworden sei, traten einhalb Dutzend frische auf und wankten unter der Last von Koffern, die schwer genug schienen, daß sie darunter hätten zusammenbrechen können, einher. Die Passagiere waren ebenfalls sonderbar gekleidet – weite, breit gesäumte Tressenröcke mit großen Aufschlägen und ohne Kragen und Perücken, meine Herren – große förmliche Perücken mit einem Knoten hinten. Mein Onkel konnte nicht klug daraus werden.

›Nun, werden Sie bald einsteigen?‹ fragte der Mann, der meinen Onkel zuerst angeredet hatte. Er war wie ein Schaffner gekleidet, hatte eine Perücke auf dem Kopf, ungeheure Ärmelaufschläge an dem Rock und in der einen Hand eine Laterne, in der andern eine gewaltige Doppelbüchse, die er eben in seinen kleinen Sack stecken wollte. ›Werden Sie bald einsteigen, Jack Martin?‹, sagte er und hielt meinem Onkel die Laterne vors Gesicht.

›Ei, der Teufel!‹ sagte mein Onkel, ein paar Schritte zurücktretend; ›das nenne ich wirklich sehr vertraulich.‹

›Es steht so im Passagierverzeichnis‹, erwiderte der Schaffner.

›Und steht kein Herr davor?‹ fragte mein Onkel – denn er fühlte, meine Herren, daß es sich für einen Schaffner, den er gar nicht kannte, keineswegs schicke, ihn schlechtweg Jack Martin anzureden, und daß das Postamt diese Freiheit gewiß nicht gutheißen würde, wenn er das anzeigte.

›Nein‹, erwiderte der Schaffner kaltblütig.

›Ist für mich bezahlt?‹ fragte mein Onkel.

›Versteht sich‹, erwiderte der Schaffner.

›So, so; schon gut‹, sagte mein Onkel. ›In welcher Kutsche fahre ich?‹

›In dieser da‹, entgegnete der Schaffner, auf eine altmodische Edinburg-Londoner Postkutsche deutend, wo der Tritt bereits heruntergelassen war und die Tür offen stand. ›Doch halt – da sind die andern Passagiere; lassen Sie diese zuerst einsteigen.‹

Als der Schaffner so sprach, erschien auf einmal gerade vor meinem Onkel ein junger Gentleman in einer bepuderten Perücke und einem himmelblauen silberbordierten Rock mit vollen breiten Schößen, die mit Steifleinwand gefüttert waren. Auf dem gedruckten Kattun und im Westenfutter stand Tiggin und Welps zu lesen, meine Herren, und so kannte mein Onkel sämtliche Stoffe im Augenblick. Der junge Mann trug Kniehosen, eine Art Gamaschen über seinen seidenen Strümpfen und Schnallenschuhe. Um seine Handgelenke kräuselten sich Manschetten, und auf dem Kopfe hatte er einen dreieckigen Hut, während an seiner Seite ein langer, spitzer Degen hing. Die Flügel seiner Weste reichten ihm bis über die Hälfte der Schenkel hinab, und die Zipfel seines Halstuches hingen bis an die Mitte des Leibes hinunter. Er schritt gravitätisch auf den Kutschenschlag zu, nahm seinen Hut ab, hielt ihn auf Armlänge über den Kopf empor und streckte dabei seinen kleinen Finger in die Luft, wie Gecken manchmal tun, wenn sie eine Tasse Tee nehmen. Darauf – rückte er die Hacken zusammen, machte eine tiefe, steife Verbeugung und streckte dann seine linke Hand aus. Mein Onkel war eben im Begriff vorzutreten und sie herzlich zu schütteln, als er bemerkte, daß diese Aufmerksamkeit nicht an ihn gerichtet war, sondern an eine junge Dame in einem altmodischen Samtkleid mit langer Taille und einem ebensolchen Brustlatz, die soeben an dem Kutschentritte erschien. Sie hatte keinen Hut auf dem Kopfe, meine Herren, dafür jedoch eine schwarze seidene Haube. Aber sie sah sich einen Augenblick um, als sie Anstalten machte, in die Kutsche zu steigen, und ein so schönes Gesicht, wie sie zeigte, hatte mein Onkel noch nie gesehen, nicht einmal auf einem Gemälde. Sie stieg endlich wirklich ein, wobei sie mit einer Hand das Kleid aufhob, und mein Onkel beteuerte jedesmal, wenn er diese Geschichte erzählte, mit feierlichem Schwur, er hätte es nie für möglich gehalten, daß Beine und Füße einen solchen Grad von Vollkommenheit erlangen könnten, wenn er diese nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.

Aber bei diesem einzigen Lichtstrahl des schönen Gesichtes sah mein Onkel, daß die junge Dame einen flehenden Blick auf ihn geworfen hatte, und daß sie äußerst betrübt und niedergeschlagen aussah. Er bemerkte auch, daß sie der junge Mann mit der bepuderten Perücke, trotz seiner scheinbaren Galanterie, die allerdings sehr fein und großartig war, fest beim Handgelenk faßte, als sie einstieg, weshalb er ihr unmittelbar nachfolgte. Ein Kerl von äußerst boshaftem Aussehen, mit einer dunkelbraunen Perücke, einem pflaumfarbigen Rock, einem gewaltigen Schwert an der Seite und Stiefeln, die ihm bis an die Hüften reichten, gehörte ebenfalls zu der Gesellschaft. Als er sich nun unmittelbar neben die junge Dame setzte, die sich bei seiner Annäherung in eine Ecke zusammendrückte, da bestätigte sich meinem Onkel sein ursprünglicher Eindruck, daß hier irgendeine geheimnisvolle finstere Tat im Werk sein müsse, oder wie er sich gewöhnlich ausdrückte, daß es hier nicht ganz geheuer sein könne. Es verdient wirklich Bewunderung, wie schnell er den Beschluß faßte, auf jede Gefahr hin der Dame Hilfe zu leisten, wenn sie ihrer bedürfen sollte.

›Tod und Blitz!‹ rief der junge Gentleman, an sein Schwert schlagend, als mein Onkel in die Kutsche stieg.

›Donner und Blut!‹ brüllte der andere Gentleman.

Zugleich riß er sein Schwert aus der Scheide und machte ohne weitere Umstände einen Ausfall auf meinen Onkel. Mein Onkel hatte keine Waffen bei sich, aber mit großer Gewandtheit riß er dem boshaft aussehenden Gentleman seinen dreieckigen Hut von dem Kopf, fing die Spitze des Schwertes mit der Krone dieses Hutes auf, drückte dann die Seiten zusammen und hielt die Klinge damit fest.

›Durchbohren Sie ihn von hinten!‹ schrie der Kerl mit der Galgenphysiognomie seinem Begleiter zu, während er sich bemühte, sein Schwert wieder an sich zu reißen.

›Er wird gut tun, das bleiben zu lassen‹, rief mein Onkel, indem er den Absatz eines seiner Stiefel mit drohender Gebärde schwang. ›Ich schlage ihm das Hirn aus dem Kopf, wenn er welches darin hat, oder zermalme ihm wenigstens den Schädel, wenn er keines hat.‹

Dabei nahm mein Onkel seine ganze Kraft zusammen, riß dem Kerl mit der Galgenphysiognomie das Schwert aus der Hand und warf es geradezu zum Kutschenfenster hinaus, worauf der junge Gentleman abermals Tod und Blitz rief und mit ingrimmiger Gebärde auf das Heft seines Degens schlug, dasselbe aber nicht zog. Vielleicht, meine Herren – (pflegte mein Onkel lächelnd zu sagen) vielleicht fürchtete er, der Dame Angst zu machen.

›Nun, meine Herren‹, sagte mein Onkel, indem er mit vieler Ruhe seinen Platz einnahm, ›ich wünsche nicht, daß in Gegenwart einer Dame mit oder ohne Blitz ein Todesfall vorkäme. Blut und Donner haben wir für eine Reise jetzt schon genug gehabt; wenn es Ihnen also gefällig ist, so wollen wir uns wie friedliebende Postwagenpassagiere auf unsere Plätze setzen. He da, Schaffner, geben Sie doch das kleine Käsemesser des Gentlemans herein!‹

Sobald mein Onkel diese Worte gesagt hatte, erschien der Schaffner an der Kutschentür mit des Gentlemans Schwert in der Hand. Er hielt seine Laterne empor und blickte dabei meinem Onkel ernst ins Gesicht, und mein Onkel sah bei diesem Lichte zu seiner großen Verwunderung, daß eine riesige Menge Schaffner um den Wagen herumschwärmte, die ihn sämtlich ebenso fest ins Auge faßte. Er hatte zeitlebens noch nie ein solches wogendes Meer von weißen Gesichtern, roten Körpern und ernsthaften Augen gesehen.

›So etwas Wunderbares ist mir doch noch nie vorgekommen‹, dachte mein Onkel – ›erlauben Sie mir, Ihnen Ihren Hut zurückzugeben, Sir!‹

Der boshaft blickende Gentleman nahm seinen dreieckigen Hut schweigend zurück, betrachtete mit forschender Miene das Loch in der Mitte und steckte ihn endlich auf die Spitze seiner Perücke mit einer Feierlichkeit, deren Wirkung jedoch durch ein plötzliches, heftiges Niesen etwas geschwächt wurde; denn infolgedessen purzelte der Hut wieder herunter.

›Alles in Ordnung!‹ rief der Schaffner, mit der Laterne auf seinen kleinen Sitz hinten hinaufsteigend, und nun fuhren sie ab.

Mein Onkel sah zum Kutschenfenster hinaus, als sie vor den Posthof hinauskamen, und bemerkte, daß die andern Kutschen samt den Postillionen, Schaffnern, Pferden und Passagieren fortwährend in einem langsamen Trott, so daß sie etwa fünf Meilen in der Stunde zurückgelegt hätten, im Kreise herumfuhren. Meine Herren, da entbrannte mein Onkel vor Entrüstung. Als Handelsmann fühlte er, daß man mit den Postpaketen nicht so fahrlässig umgehen dürfe, und er beschloß, unmittelbar nach seiner Ankunft in London, dem Postamt die gebührende Anzeige davon zu machen.

Für den Augenblick waren jedoch seine Gedanken mit der jungen Dame beschäftigt, die in der äußersten Ecke der Kutsche saß und ihr Gesicht gänzlich in ihre Haube gehüllt hatte. Der Gentleman im himmelblauen Rocke saß ihr gerade gegenüber, der andere Herr mit dem pflaumfarbigen Kleid an ihrer Seite, und beide beobachteten sie sehr genau. Wenn sie nur die geringste Bewegung machte, wenn nur die Falten ihrer Haube ein wenig sich bewegten, so konnte er den boshaft aussehenden Mann an sein Schwert schlagen hören und aus dem Schnauben des andern (es war nämlich so dunkel, daß er dessen Gesicht nicht sehen konnte) entnehmen, daß jener sich so wütend gebärdete, als wollte er sie mit Haut und Haar verschlingen. Dies machte meinen Onkel immer aufmerksamer, und er beschloß, es komme was da wolle, das Ende der Geschichte mit anzusehen. Er hegte eine große Bewunderung für glänzende Augen, süße Gesichtchen und hübsche Beine; kurz, er war in das ganze schöne Geschlecht verliebt. Es liegt das so in unserer Familie, meine Herrn; mir ergeht es auch nicht anders.

Mein Onkel kam auf eine Menge listiger Erfindungen, um die Aufmerksamkeit der Dame auf sich zu ziehen, oder jedenfalls mit dem geheimnisvollen Herrn ein Gespräch anzuknüpfen. – Allein vergeblich. Die Herren wollten nichts sprechen und die Dame wagte es nicht. Er steckte von Zeit zu Zeit den Kopf zum Kutschenfenster hinaus und schrie die Postillione an, warum sie nicht schneller führen. Er schrie sich heiser; aber niemand widmete ihm die geringste Aufmerksamkeit. Er lehnte sich in die Kutsche zurück und dachte an das schöne Gesicht, an die schönen Beine. Das schlug besser an; es vertrieb ihm die Zeit und verscheuchte den Gedanken, wohin es gehe und in welch sonderbarer Lage er sich befinde. Doch hätte er sich auch darüber nicht sehr gegrämt, denn, meine Herren, mein Onkel war ein gewaltig lustiger und leichtfertiger Kamerad, der sich um keinen Teufel scherte.

Auf einmal hielt die Kutsche an.

›He da!‹ rief mein Onkel, ›schon an Ort und Stelle?‹

›Ja‹, sagte der Schaffner, indem er die Tritte hinunterließ, ›steigen Sie aus.‹

›Hier?‹ rief mein Onkel.

›Ja‹, erwiderte der Schaffner.

›Das tue ich nicht‹, sagte mein Onkel.

›Nun gut, so bleiben Sie, wo Sie sind‹, erklärte der Schaffner.

›Das werde ich auch‹, sagte mein Onkel.

›Meinetwegen‹, erwiderte der Schaffner.

Die andern Passagiere hatten dieses Zwiegespräch sehr aufmerksam mit angehört, und da sie fanden, daß mein Onkel entschlossen war, nicht auszusteigen, so drückte sich der jüngere Herr an ihm vorüber, um der Dame hinauszuhelfen. In diesem Augenblick besichtigte der boshaft aussehende Mann das Loch in der Spitze seines Dreimasters. Als die junge Dame an meinem Onkel vorüberhuschte, ließ sie einen ihrer Handschuhe in seine Hand fallen und flüsterte ihm mit ihren Lippen so nahe an seinem Gesicht, daß er ihren warmen Atem an seiner Nase spürte, das einzige Wörtchen: ›Hilfe!‹ zu. Jetzt, meine Herren, sprang mein Onkel auf einmal mit solcher Heftigkeit hinaus, daß die Kutsche in ihren Federn schwankte.

›So, haben Sie sich eines Besseren besonnen?‹ sagte der Schaffner, als er meinen Onkel auf dem Boden stehen sah.

Mein Onkel blickte den Schaffner einige Sekunden lang an, etwas zweifelhaft, ob es nicht besser wäre, ihm seine Doppelbüchse aus der Hand zu reißen, den Mann mit dem großen Schwert niederzuschießen, den andern mit dem Kolben niederzuschlagen, die junge Dame in seine Arme zu nehmen und sich wie der Blitz mit ihr aus dem Staube zu machen. Bei näherer Überlegung gab er jedoch diesen Plan auf, weil ihm seine Ausführung um einen Schatten zu melodramatisch vorkam, und folgte den beiden geheimnisvollen Herren, die, die Dame in ihrer Mitte, gerade in ein altes Haus traten, vor dem die Kutsche angehalten hatte. Sie lenkten in die Hausflur ein, und mein Onkel hielt sich dicht hinter ihnen.

Mein Onkel hatte schon viele trostlos verfallene Häuser gesehen, aber noch keines so wie dieses. Dem Anschein nach mußte es früher ein großes Wirtshaus gewesen sein. Allein das Dach war an manchen Stellen eingefallen und die Treppen waren steil, holperig und zerbrochen. In dem Zimmer, worein sie traten, befand sich ein ungeheurer Ofensitz, der Kamin war von Rauch geschwärzt, aber es brannte kein Feuer darin. Der weiße leichte Staub von verbranntem Holz war noch über den Herd gestreut, aber der Ofen war kalt und alles finster und düster.

›Schön‹, sagte mein Oheim, als er um sich blickte, ›eine recht saubere Einrichtung, daß man sechs und eine halbe Stunde lang in einer Postkutsche gefahren ist und dann auf unbestimmte Zeit in einer solchen Höhle anhalten soll. Das muß bekanntgemacht werden; ich setze es in die Zeitungen.‹

Mein Onkel sagte das mit ziemlich lauter Stimme und in offener, rückhaltloser Manier, um womöglich mit den zwei Fremdlingen ein Gespräch anzuknüpfen. Aber keiner von beiden nahm Notiz von ihm, außer daß sie einander zuflüsterten und ihm dabei finstere Blicke zuwarfen. Die Dame war am andern Ende des Zimmers, und einmal wagte sie es, ihre Hand zu bewegen, als ob sie meinen Onkel um Beistand anflehte.

Endlich näherten sich die beiden Fremden ihm etwas und die Unterhaltung begann wirklich.

›Sie scheinen nicht zu wissen, Kerl, daß dies ein Privatzimmer ist‹, redete ihn der Gentleman mit dem himmelblauen Rock an.

›Nein, ich weiß es nicht, Kerl‹, antwortete mein Onkel; ›wenn dies übrigens ein besonders für die Reisenden eingerichtetes Privatzimmer ist, dann muß das Gastzimmer wohl höchst lieblich und bequem sein.‹

Mit diesen Worten setzte sich mein Onkel auf einen hochlehnigen Stuhl und maß den Gentleman so genau mit den Augen, daß er der Schneiderfirma Tiggin und Welps bloß nach dieser Schätzung genau hätte angeben können, wieviel Stoff sie bei einem Rock für diesen Gentleman hätten reservieren müssen. Da wäre kein Zoll zu viel noch zu wenig gewesen.

›Verlassen Sie das Zimmer‹, sagten die beiden Männer, nach ihren Degen greifend.

›Was sagen Sie?‹ bemerkte mein Onkel, der sich stellte, als ob er ihre Aufforderung schlechterdings nicht begriffe.

›Verlassen Sie das Zimmer oder Sie sind ein Mann des Todes‹, sprach der boshaft Blickende mit dem großen Degen, indem er ihn sogleich zog und in der Luft schwang.

›Nieder mit ihm!‹ rief der Himmelblaue, indem er ebenfalls seinen Degen zog und zwei oder drei Schritte ausfiel, ›nieder mit ihm!‹ Die Dame stieß einen lauten Schrei aus.

Nun hatte sich mein Onkel von jeher durch großen Mut und ungewöhnliche Geistesgegenwart ausgezeichnet. Er hatte sich diese Zeit über zwar scheinbar vollkommen gleichgültig verhalten, aber dabei listigerweise immer nach irgendeiner Verteidigungswaffe umgesehen und in dem Augenblick, wo die Degen gezogen wurden, wirklich im Kaminwinkel ein altes Rapier mit einem Korb und in einer rostigen Scheide erspäht. Mit einem Sprung hatte es mein Onkel in der Hand, zog es, schwang es tapfer über seinem Kopfe, rief der Dame laut zu, sie möchte auf die Seite treten, schleuderte nach dem Himmelblauen den Stuhl, nach dem Pflaumfarbigen die Scheide, benutzte dann die Verwirrung, über beide herzufallen, und hieb wacker auf sie los.

Meine Herren, es ist eine alte Geschichte, und deshalb ist sie nicht schlechter, weil sie wahr ist: nämlich, daß ein junger irischer Gentleman auf die Frage, ob er die Geige spielen könne, zur Antwort gab, er zweifle nicht daran, vermöge es jedoch nicht mit Bestimmtheit zu sagen, da er es noch nie versucht habe. Diese Geschichte paßt einigermaßen auf meinen Onkel und sein Fechten. Er hatte nie zuvor einen Degen in seiner Hand gehabt, außer ein einzigesmal, als er auf einem Privattheater Richard III. spielte. Dabei war mit Richmond verabredet worden, daß er von hinten durchrannt werden solle, ohne vorher überhaupt fechten zu müssen. Aber hier stieß und hieb er sich mit zwei erfahrenen Fechtern herum, schlug und parierte, fiel aus und voltierte, und erwies sich dabei überhaupt so mannhaft und gewandt wie möglich, obgleich er bis auf diesen Augenblick nicht gewußt, daß er auch nur den geringsten Begriff von dieser Kunst habe. Ein mächtiger Beweis für die Wahrheit des alten Sprichworts: Probieren gehe über Studieren.

Der Kampf verursachte einen schrecklichen Lärm, da alle drei wie Matrosen fluchten und ihre Degen mit solcher Macht gegeneinander schlugen, daß es sich anhörte, als rasselten auf einmal alle Messer und Stähle auf dem Newportmarkt zusammen. Als das Gefecht am hitzigsten war, zog die Dame, höchstwahrscheinlich um meinen Onkel zu ermutigen, ihre Haube ganz von ihrem Gesichte weg und enthüllte ein Antlitz von solch blendender Schönheit, daß er gerne mit fünfzig Männern gefochten hätte, nur um ihm ein Lächeln abzugewinnen und dann zu sterben. Er hatte schon vorher Wunder getan, jetzt aber fing er an, sich anzustrengen wie ein rasender Riese.

In diesem Augenblick wandte sich der Himmelblaue um, und als er die junge Dame mit enthülltem Gesicht sah, stieß er vor Wut und Eifersucht einen Schrei aus, wandte seine Waffe gegen ihren schönen Busen und stieß nach ihrem Herzen. Mein Onkel schrie vor Angst um sie dermaßen, daß das ganze Haus widerhallte. Die Dame aber trat schnell auf die Seite, riß dem jungen Mann den Degen aus der Hand, bevor er sein Gleichgewicht wiedererhalten hatte, trieb ihn an die Wand und stieß ihm den Degen bis ans Heft in den Leib, so daß die Klinge noch in das Täfelwerk drang und er selbst festgespießt war. Das war einmal ein glänzendes Exempel. Mein Onkel nötigte mit einem lauten Triumphgeschrei und unwiderstehlicher Kraft seinen Gegner, in gleicher Richtung zurückzuweichen, stieß ihm das alte Rapier mitten durch eine große rote Blume in seiner Weste und spießte ihn neben seinen Freund an die Wand, so daß die beiden Gentlemen dastanden und im Todeskampf mit ihren Armen und Beinen zappelten, gleich Marionettenfiguren, die man am Faden tanzen läßt. Mein Onkel sagte nachher immer, dies sei eines der sichersten Mittel, die er wisse, um einen Feind loszuwerden, nur sei wegen des Kostenpunktes etwas einzuwenden, da jedesmal dabei ein Degen verlorengehe.

›Die Kutsche! die Kutsche!‹ rief die Dame, indem sie auf meinen Onkel zurannte und ihm ihren schönen Arm um seinen Nacken warf; ›wir können vielleicht entfliehen.‹

Vielleicht?‹ sagte mein Onkel. ›Wie meine Teuerste, ist noch einer umzubringen?‹

Mein Onkel war etwas ärgerlich, ihr Herren, denn er hatte gedacht, nach dem Gemetzel würde es sehr angenehm sein, in der Ruhe ein bißchen der Liebe zu pflegen, und wäre es auch nur um der Abwechslung willen.

›Wir dürfen hier keinen Augenblick verlieren‹, sagte die junge Dame. ›Er (dabei deutete sie auf den jungen Herren im himmelblauen Rock) ist der einzige Sohn des mächtigen Marquis von Filletoville.‹

›Schon gut, meine Teuerste; ich fürchte nur, er wird nie seinen Titel erlangen‹, sagte mein Onkel, indem er gleichgültig nach dem jungen Herrn blickte, der in der oben beschriebenen Maikäfermanier an die Wand gespießt dastand. ›Sie haben ihm die Erbfolge abgeschnitten, meine Liebe.‹

›Diese Schurken haben mich von meinem Haus und meinen Freunden fortgerissen‹, erklärte die junge Dame, indem ihre Züge vor Entrüstung glühten. ›Der Elende wollte mich in der nächsten Stunde mit Gewalt heiraten.‹

›Pfui über seine Unverschämtheit‹, sagte mein Onkel, indem er einen höchst verächtlichen Blick auf den sterbenden Erben von Filletoville warf.

›Wie Sie aus dem Gesehenen schließen können‹, fuhr die junge Dame fort, ›ist die Rotte entschlossen, mich zu ermorden, sobald Sie jemand zum Beistand auffordern. Wenn ihre Spießgesellen uns hier finden, so sind wir verloren. In zwei Minuten kann es zu spät sein. Ach, die Kutsche! –‹

Und mit diesen Worten sank sie, überwältigt von ihren Gefühlen und der Anstrengung, den jungen Marquis von Filletoville aufzuspießen, meinem Onkel in die Arme. Mein Onkel fing sie auf und trug sie an die Tür. Da stand der Wagen mit vier langgeschweiften, flattermähnigen, schwarzen Rossen bereits aufgeschirrt; aber weit und breit waren weder Postillione, noch Schaffner, noch Hausknecht zu schauen.

Meine Herren, ich hoffe, das Andenken meines Oheims nicht zu beschimpfen, wenn ich die Meinung ausspreche, daß er, obgleich ein Junggeselle, schon vorher mehr als eine Dame im Arm gehabt hatte; ich glaube in der Tat, daß es eine Gewohnheit von ihm war, die Kellnerinnen zu küssen; und es sind mir mehrere Beispiele bekannt, daß glaubwürdige Zeugen es gesehen haben, wie er auf eine sehr wahrnehmbare Weise eine Wirtin umarmte. Ich erwähne das, um zu zeigen, welch eine höchst ungewöhnliche Art von Frauenzimmer diese schöne junge Dame gewesen sein muß, um auf meinen Oheim einen solchen Eindruck zu machen. Als ihr langes Haar über seinen Arm herabhing und ihre schönen schwarzen Augen, nachdem sie wieder erwacht, sich auf sein Gesicht hefteten, wäre es ihm, wie er bekannte, so sonderbar zumute geworden, daß seine Beine gezittert hätten. Doch wer kann in ein süßes, sanftes, schwarzes Augenpaar sehen, ohne wundersam erregt zu werden! Ich, meine Herren, kann es nicht und scheue mich deshalb sogar, in manche Augen, die ich kenne, zu schauen, wie Sie mir aufs Wort glauben dürfen.

›Sie werden mich doch nicht verlassen‹, flüsterte die junge Dame.

›Nie‹, sagte mein Onkel, und er meinte es aufrichtig.

›Mein teurer Retter!‹ rief die junge Dame. ›Mein teurer, menschenfreundlicher, ritterlicher Beschützer!‹

›Still, still!‹ sagte mein Onkel, sie unterbrechend.

›Und warum denn?‹ fragte die junge Dame.

›Weil Ihr Mund so schön ist, wenn Sie sprechen‹, erwiderte mein Onkel, ›daß ich fürchte, ich könnte dreist genug sein, ihn zu küssen.‹

Die junge Dame hob ihre Hand auf, als wollte sie meinen Onkel warnen, es nicht zu tun, und sagte – doch nein, sie sagte nichts – sie lächelte bloß.

Wenn man auf ein Paar der wonnigsten Lippen von der Welt blickt und diese so köstlich zu einem schelmischen Lächeln aufbrechen sieht, – wenn man ihnen ganz nahe ist und sonst niemand dabei – da kann man seine Bewunderung für ihre schöne Form und Farbe nicht besser betätigen, als durch einen schnellen Kuß. Mein Onkel tat es, und ich ehre ihn dafür.

›Horch!‹ rief die junge Dame aufschreckend. ›Das Geräusch von Rädern und Rossegestampfe!‹

›Ja, es ist so‹, sagte mein Onkel lauschend.

Er hatte ein gutes Ohr für Räder und Fußtritte; aber es schienen so viele Pferde und Wagen in einiger Entfernung gegen sie herzurasseln, daß es rein unmöglich war, einen Schluß auf ihre Anzahl zu machen. Es war ein Getöse, wie von fünfzig Sechsspännern.

›Wir werden verfolgt!‹ rief die Dame, ihre Hände zusammenschlagend. ›Wir werden verfolgt und Sie sind meine einzige Hoffnung.‹

Es lag ein solcher Ausdruck des Schrecks in ihrem schönen Gesicht, daß mein Onkel sogleich seinen Entschluß faßte. Er hob sie in die Kutsche, sagte ihr, sie solle guten Mutes sein, preßte seine Lippen noch einmal auf die ihrigen, riet ihr, das Fenster zu schließen, um nicht vom Zugwind belästigt zu werden, und stieg auf den Bock.

›Warten Sie noch, mein Lieber‹, rief die junge Dame.

›Was gibt’s?‹ fragte mein Onkel vom Kutschenbock aus.

›Nur noch ein Wort‹, sagte die junge Dame, ›nur noch ein einziges Wort.‹

›Muß ich hinabkommen?‹ fragte mein Onkel.

Die Dame antwortete nicht, aber sie lächelte wieder. Solch ein Lächeln, meine Herren, das geht über alles. Mein Onkel stieg in einem Augenblick von seinem Bock herab.

›Was ist’s, meine Teure?‹ sagte mein Onkel, zum Kutschenfenster hineinsehend.

Die Dame beugte sich zufällig in demselben Augenblick vorwärts und mein Onkel glaubte, sie sehe schöner aus als je zuvor. Er war ihr eben jetzt ganz nahe, meine Herren, und so mußte er es wirklich wissen.

›Was ist’s, meine Liebe?‹ sagte mein Onkel.

›Werden Sie auch nie eine andere lieben als mich – nie eine andere heiraten als mich?‹ fragte die junge Dame.

Mein Onkel schwur einen teuren Eid, daß er nie eine andere heiraten wolle, und die junge Dame zog ihren Kopf zurück und schloß das Fenster. Er schwang sich wieder auf den Bock, zog die Ellbogen zurück, machte sich die Leine zurecht, ergriff die Peitsche, die auf dem Dach lag, gab dem Leitroß einen Hieb, und fort flogen die vier langgeschweiften, flattermähnigen, schwarzen Pferde, fünfzehn gute englische Meilen in der Stunde, und hinter ihnen die alte Postkutsche – hui, wie sie zogen und sprangen.

Aber das Geräusch wurde immer lauter. Je schneller die alte Postkutsche dahinflog, um so schneller kamen die Verfolger – Männer, Pferde und Hunde hatten sich vereinigt, auf sie Jagd zu machen. Das Getöse war schrecklich, aber alles überragte die Stimme der jungen Dame, die in jammervollen Tönen meinem Onkel zurief: ›Schneller, schneller!‹

Mein Onkel gebrauchte Peitsche und Zügel, und die Pferde flogen dahin, bis sie weiß waren von Schaum; aber immer erschrecklicher wurde der Lärm hinter ihnen, und immer angstvoller schrie die junge Dame: ›Schneller! Schneller!‹ In der Bedrängnis dieses Augenblicks stampfte mein Onkel kräftig auf den Boden und fand – daß der Morgen graute und er selbst in dem Gerätschaftslager des Wagners auf dem Bock einer alten Edinburger Postkutsche saß, schauernd vor Kälte und Nässe und mit den Füßen stampfend, um sie zu erwärmen. Er stieg herab und sah sich eifrig nach der schönen jungen Dame um – aber ach, die Kutsche hatte weder Tür noch Sitz – sie war ein bloßer Rumpelkasten.

Natürlich sah mein Oheim sehr wohl ein, daß etwas Geheimnisvolles an der Sache sein müsse, und daß alles sich genau so ereignet hatte, wie er zu erzählen pflegte. Er blieb dem großen Eid, den er der schönen, jungen Dame geschworen, treu, schlug ihr zuliebe mehrere Wirtinnen, die er hätte wählen können, aus und starb endlich als Junggeselle. Er sagte immer, wie gar wunderbar es sei, was er durch einen bloßen Zufall, wie durch sein Klettern über das Staket, ausfindig gemacht habe, daß die Geister der Postkutschen und Pferde, der Schaffner, Postillione und Passagiere regelmäßig jede Nacht Reisen machen, und dann pflegte er hinzuzusetzen, er halte sich für die einzige lebendige Person, die jemals auf einer dieser Fahrten als Passagier mitgenommen worden sei. Ich glaube auch, daß er recht hat, meine Herren; wenigstens habe ich nie von einer andern gehört.«

 

»Ich möchte nur wissen, was diese Geister von Postkutschen in ihren Beuteln stecken haben«, sagte der Wirt, der die ganze Erzählung mit großer Aufmerksamkeit angehört hatte.

»Natürlich die Totenbriefe«, antwortete der Hausierer.

»Ach ja, das ist wahr«, antwortete der Wirt, »daran hatte ich nicht gedacht.«

Einundfünfzigstes Kapitel


Einundfünfzigstes Kapitel

Wie Herr Pickwick die Ausführung seines Auftrags beeilte und gleich im Anfang durch einen höchst unerwarteten Bundesgenossen Verstärkung erhielt.

Am andern Morgen pünktlich um dreiviertel neun Uhr waren die Pferde angespannt. Herr Pickwick und Sam Weller nahmen ihre Plätze ein, der eine in der Kutsche, der andere draußen auf dem Hintersitz, und dem Postillion wurde die gebührende Weisung erteilt, zunächst vor Herrn Bob Sawyers Hause vorzufahren, um daselbst Herrn Benjamin Allen abzuholen.

Als die Kutsche vor der Tür mit der roten Lampe und der weithin sichtbaren Inschrift »Sawyer, weiland Nockemorf« anhielt und Herr Pickwick seinen Kopf zum Fenster hinausstreckte, bemerkte er mit nicht geringer Verwunderung den Knaben in der grauen Livree sehr eifrig beschäftigt, die Läden zu schließen. Da nun dies zu solcher Morgenstunde ein höchst ungewöhnliches und für einen Geschäftsmann keineswegs geziemendes Verfahren war, so verfiel Herr Pickwick sogleich auf zwei Vermutungen: entweder müsse irgendein guter Freund oder Patient von Herrn Bob Sawyer gestorben sein oder Herr Bob Sawyer selbst Bankrott gemacht haben.

»Was gibt’s da?« fragte Herr Pickwick den Jungen.

»Nichts, Sir«, erwiderte dieser, seinen Mund bis zur ganzen Breite seines Gesichts lachend dehnend.

»Alles in Ordnung«, rief Bob Sawyer, der plötzlich mit einer kleinen, dünnen, schmutzigen, ledernen Reisetasche in der einen Hand und einem groben Mantel nebst Halstuch über den Arm an der Tür erschien. »Ich komme sogleich, alter Freund.«

»Sie?« rief Herr Pickwick.

»Ja, ich!« erwiderte Bob Sawyer; »und wir werden eine ganz regelmäßige Expedition machen. Hier, Sam – geben Sie acht.«

Damit appellierte Herr Bob Sawyer kurzerhand an Herrn Wellers Aufmerksamkeit und warf die lederne Reisetasche in den äußeren Rücksitz, wo sie alsbald von Sam, der dieses Verfahren sehr erstaunt betrachtete, unter das Polster gebracht wurde. Hierauf arbeitete sich Bob Sawyer mit Hilfe des Jungen gewaltsam in den groben Mantel, der ihm um ein gutes zu eng war, trat sofort an das Kutschenfenster, steckte den Kopf hinein und lachte wie toll.

»Ein Hauptspaß, nicht wahr?« sagte Bob und wischte sich mit einem Ärmel des groben Mantels die Tränen aus den Augen.

»Mein lieber Herr«, erwiderte Herr Pickwick ziemlich verlegen, »ich erwartete nicht, daß Sie uns begleiten würden.«

»Das ist’s ja eben«, sagte Bob, Herrn Pickwick am Rockflügel fassend. »Das ist ja eben der Spaß.«

»So, ein Spaß soll es sein?« fragte Herr Pickwick.

»Versteht sich«, erwiderte Bob. »Die ganze Sache, müssen Sie wissen, ist die, daß ich das Geschäft für sich selbst sorgen lasse, da es nun einmal für mich nicht sorgen zu wollen scheint.«

Bei dieser Erklärung des Phänomens mit den Fensterläden deutete Herr Bob Sawyer auf seine Apotheke und verfiel aufs neue in ausgelassene Lustigkeit.

»Sie werden doch wahrhaftig nicht so wahnsinnig sein, Ihre Patienten zu verlassen, ohne sie der Pflege eines andern zu übergeben?« wandte Herr Pickwick in sehr ernstem Tone ein.

»Ei, warum nicht?« fragte Bob dagegen. »Ich spare dadurch, müssen Sie wissen. Kein einziger bezahlt mich. Zudem«, setzte er hinzu und dämpfte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, – »wird es ihnen um kein Haar schlechter gehen; denn meine Arzneien sind bereits auf der Neige, und da ich eben jetzt nicht imstande bin, meine Rechnung zu vergrößern, so könnte ich dem einen wie dem andern nichts als Rizinusöl geben, und dies würde gewiß bei mehreren unangenehme Folgen haben – somit ist jetzt allen geholfen.«

In dieser Antwort lag eine Philosophie und eine Logik, auf die Herr Pickwick nicht vorbereitet war. Er schnappte einige Augenblicke nach Luft und fügte dann weniger entschieden als vorher hinzu:

»Aber, mein junger Freund, der Wagen ist nur zweisitzig, und ich muß Herrn Allen mitnehmen.«

»Seien Sie meinetwegen ohne Sorgen«, erwiderte Bob. »Ich habe schon alles bedacht; Sam und ich werden den Rücksitz miteinander teilen. Sehen Sie hier. Diesen Anschlag da hefte ich an die Ladentür: ›Sawyer, weiland Nockemorf. Zu erfragen gegenüber bei Frau Cripps.‹ – Frau Cripps ist die Mutter meines Burschen. – ›Es tut Herrn Sawyer sehr leid‹, sagt Frau Cripps, ›aber er konnte es nicht ändern – er wurde heute früh zu einer Beratung mit den berühmtesten Wundärzten auf das Land geholt – konnten ohne ihn nicht fertig werden – wollten ihn um jeden Preis haben – eine schreckliche Operation.‹ Die Wahrheit an der Sache ist«, fügte Bob schließlich hinzu, »daß ich den besten Erfolg davon erwarte. Kommt die Sache in eines der Lokalblätter, so bin ich ein gemachter Mann. Da kommt Ben – vorwärts Ben, hineingesprungen!«

Mit diesen schnell herausgehaspelten Worten stieß Herr Bob Sawyer den Postillion auf die Seite, hob seinen Freund in den Wagen, warf den Schlag zu, schlug die Fußtritte hinauf, klebte seinen Anschlag an die Haustür, verschloß sie, steckte den Schlüssel in die Tasche, schwang sich auf den äußeren Rücksitz, gab das Signal zum Abfahren, und tat das alles so im Handumdrehen, daß, bevor noch Herr Pickwick angefangen hatte, sich zu besinnen, ob Herr Bob Sawyer mitfahren solle oder nicht, der Wagen bereits mit Herrn Bob Sawyer davonrollte, der sich als Teil und förmliches Mitglied der Gesellschaft eingenistet hatte.

Solange sich ihre Fortschritte auf die Straßen von Bristol beschränkten, behielt der lustige Bob seine grüne Doktorbrille auf der Nase und benahm sich überhaupt mit gebührender Würde und voller Ernst, wobei er jedoch zum ausschließlichen Vorteil und Vergnügen des Herrn Samuel Weller verschiedene Witze zu reißen nicht unterlassen konnte. Als sie aber auf die offene Heerstraße gelangten, legte er seine grüne Brille und seine Gravität zugleich ab und führte eine Menge Späße aus, die wohl geeignet waren, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen und den Wagen nebst seinem Anhalt zu Gegenständen einer mehr als gewöhnlichen Neugier zu machen. Zu seinen geringsten und am wenigsten auffallenden Taten gehörte die höchst lärmende Nachahmung der Töne eines Klapphorns sowie die prahlerische Entfaltung eines karmoisinroten Taschentuchs, das er an seinen Spazierstock band und mit allerlei Gebärden vornehmtrotziger Herausforderung gelegentlich in der Luft schwenkte.

»Ich möchte doch wissen«, sagte Herr Pickwick, mitten in einer höchst gesetzten Unterredung mit Ben Allen, die sich auf die zahlreichen guten Eigenschaften des Herrn Winkle und seiner Schwester bezog, innehaltend – »ich möchte doch wissen, was die Leute an uns zu bewundern haben, daß sie uns alle so anstarren.«

»Ei, das kann ich mir wohl denken«, erwiderte Ben Allen mit einigem Stolz in seinem Tone. »Eine solche Equipage sehen sie nicht alle Tage.«

»Möglich«, sagte Herr Pickwick; »das könnte sein.«

Herr Pickwick hätte sich sehr wahrscheinlich selbst in den Glauben eingewiegt, daß es so sei, hätte er nicht zufällig eben jetzt zum Kutschenfenster hinausgesehen und bemerkt, daß die Blicke der Vorübergehenden keineswegs eine ehrfurchtsvolle Bewunderung verrieten, und daß verschiedene telegraphische Verbindungen zwischen ihnen und einigen Personen auf dem Außensitz des Wagens obzuwalten schienen, worauf es ihm schnell klar wurde, diese Demonstrationen könnten irgendeine entfernte Beziehung auf das humoristische Benehmen des Herrn Robert Sawyer haben.

»Ich will doch hoffen«, sagte Herr Pickwick, »daß unser leichtfertiger Freund da draußen keine Abgeschmacktheiten begeht.«

»Gott behüte«, erwiderte Ben Allen. »Bob ist das ruhigste Geschöpf, das da lebt, wenn er nicht gerade ein Gläschen zuviel getrunken hat.«

In diesem Augenblick traf eine verlängerte Nachahmung des Klapphorns, gefolgt von einem lustigen Geschrei und lauten Gebrüll, alles offenbar aus der Kehle und Lunge des ruhigsten Geschöpfes, das da lebt, oder, um mich deutlicher auszudrücken, des Herrn Bob Sawyer, ihre Ohren. Herr Pickwick und Herr Ben Allen sahen einander bedeutungsvoll an. Ersterer nahm den Hut ab und lehnte sich beinahe mit dem halben Leib zum Kutschenfenster hinaus, wodurch er endlich in den Stand gesetzt wurde, seinen spaßhaften Freund ins Auge zu fassen.

Herr Bob Sawyer saß nicht auf dem Rücksitz, sondern auf dem Kutschendache und hatte seine Beine so weit auseinander gespreizt wie nur möglich. Er hatte Herrn Samuel Wellers Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt, hielt in der einen Hand ein ungeheures Stück Butterbrot, in der andern eine stattliche, strohumflochtene Flasche und sprach mit innigem Behagen diesen beiden Gegenständen zu, wobei er sich die Eintönigkeit seiner Beschäftigung durch gelegentliches Geheul und Gebrüll oder durch den Austausch einiger lustigen, kurzweiligen Worte mit den nächsten besten Vorübergehenden unterhaltender zu machen suchte. Die karmoisinrote Flagge war mit großer Sorgfalt an die Lehne des Hintersitzes festgebunden, und Herr Samuel Weller saß mit Bob Sawyers Hut geschmückt im Zentrum desselben, ein zweites Butterbrot bearbeitend, und zwar mit so behaglichem Gesicht, daß seine gänzliche und vollkommene Zustimmung zu der ganzen Anordnung darin zu lesen war.

Das war genug, um die Galle eines Mannes von Herrn Pickwicks Schicklichkeitsgefühl rege zu machen. Aber es kamen noch mehr erschwerende Umstände hinzu; denn in diesem Augenblick fuhr eine sowohl innen als außen wohlbesetzte Postkutsche an ihnen vorüber, und die Passagiere gaben ihr Erstaunen auf eine sehr unzweideutige Art zu erkennen. Ebenso unangenehm waren die Gratulationen einer irischen Bettlerfamilie, die mit der Kutsche gleichen Schritt hielt, besonders ihres männlichen Oberhauptes, das zu glauben schien, es werde hier ein satirisch-politischer Triumphzug oder sonst etwas Ähnliches gefeiert.

»Herr Sawyer!« rief Herr Pickwick in großer Aufregung. »Herr Sawyer! – Sir!«

»Was beliebt?« antwortete dieser Gentleman mit der größten Kaltblütigkeit, auf der Seite des Wagens herabsehend.

»Sind Sie toll, Sir?« fragte Herr Pickwick.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Bob; »bloß lustig.«

»Lustig, Sir?« rief Herr Pickwick. »Nehmen Sie dieses skandalöse rote Tuch da herab. Ich bitte – ich bestehe darauf. Sam, nimm es hinweg.«

Ehe jedoch Sam sich ins Mittel legen konnte, strich Herr Bob Sawyer gutwillig seine Flagge, steckte sie in die Tasche, nickte Herrn Pickwick höflich zu, wischte den Mund der Flasche ab und setzte ihn an seinen eigenen, wodurch er Herrn Pickwick ohne allen unnötigen Wortaufwand zu verstehen gab, daß er ihm mit diesem Trank alles nur erdenkliche Glück und Heil wünsche. Als er das getan, pfropfte Bob mit großer Sorgfalt die Flasche wieder zu, sah mit holdseliger Freundlichkeit auf Herrn Pickwick nieder, nahm einen großen Bissen von dem Butterbrote und lächelte.

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick, dessen augenblicklicher Ärger gegen Bobs unerschütterliche Seelenruhe nicht standzuhalten vermochte; »aber ich bitte, lassen Sie jetzt diese Albernheiten unterwegs, Sir.«

»Ja, das will ich«, erwiderte Bob, mit Herrn Weller den Hut austauschend; »ich habe es nicht so bös gemeint; aber die Fahrt hat mich so lustig gemacht, daß ich nicht anders konnte.«

»Bedenken Sie doch, was die Leute sagen werden«, fuhr Herr Pickwick fort; »Sie müssen doch auch den Anstand wahren.«

»Ja gewiß«, sagte Bob; »ich will es nicht mehr tun und ganz ruhig sein, mein Verehrtester.«

Zufrieden mit dieser Versicherung steckte Herr Pickwick seinen Kopf wieder in den Wagen hinein und ließ das Fenster herab; kaum aber hatte er die durch Herrn Bob Sawyer unterbrochene Unterhaltung wieder aufgenommen, als er einigermaßen erschreckt wurde durch das Erscheinen eines kleinen dunklen Körpers von länglicher Gestalt an der Außenseite des Fensters, der zu wiederholten Malen gegen dieses anschlug, als ob er ungeduldig Einlaß begehrte.

»Was ist das?« rief Herr Pickwick.

»Es steht aus wie eine Flasche«, bemerkte Ben Allen, den fraglichen Gegenstand mit einigem Interesse durch seine Brille betrachtend. »Ich glaube, sie gehört Bob.«

Die Vermutung war vollkommen richtig; denn Herr Bob Sawyer hatte die Flasche an das Ende seines Stocks gebunden und schlug damit an das Fenster, zum Zeichen, daß er seine Freunde drinnen in guter Kameradschaftlichkeit und Harmonie am Inhalt derselben teilnehmen zu lassen wünschte.

»Was soll das nun wieder?« sagte Herr Pickwick, die Flasche betrachtend. »Dies Benehmen ist noch weit abgeschmackter, als das vorige.«

»Es wird wohl das beste sein«, erwiderte Herr Ben Allen, »wir nehmen die Flasche herein und behalten sie; es geschieht ihm dann ganz recht.«

»Ja, allerdings«, sagte Herr Pickwick. »Soll ich?«

»Es wird sich wohl nichts anderes tun lassen«, erwiderte Ben.

Da dieser Rat vollkommen mit seiner eigenen Ansicht zusammenfiel, so ließ Herr Pickwick das Fenster sachte herab und machte die Flasche von dem Stocke los, worauf der Stock wieder hinaufgenommen wurde, und sie Herrn Bob Sawyer herzlich lachen hörten.

»Ein Donnerwetterkerl!« sagte Herr Pickwick, mit der Flasche in der Hand seinen Gefährten anblickend.

»Ja, das ist er«, erwiderte Herr Allen.

»Man kann ihm unmöglich böse sein«, bemerkte Herr Pickwick.

»Nein, schlechterdings nicht«, erwiderte Benjamin Allen.

Während dieses kurzen Gesinnungsaustausches hatte Herr Pickwick in der Zerstreuung den Kork herausgezogen.

»Was ist darin?« fragte Ben Allen gleichgültig.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Herr Pickwick mit derselben Gleichgültigkeit. »Dem Geruch nach scheint es Punsch zu sein.«

»Ja, ohne Zweifel«, sagte Ben.

»Es scheint mir wenigstens so«, bemerkte Herr Pickwick, der sich jederzeit sehr gegen die Möglichkeit verwahrte, eine Unwahrheit zu sagen: »für gewiß kann ich es nicht zu behaupten wagen, ohne es versucht zu haben.«

»Nun, so tun Sie es«, sagte Ben: »dann kommen wir der Sache auf den wahren Grund.«

»Meinen Sie?« erwiderte Herr Pickwick. »Nun gut, wenn Sie es gerne wissen möchten, so habe ich nichts dagegen.«

Stets bereit, seine eigenen Gefühle den Wünschen seiner Freunde aufzuopfern, nahm Herr Pickwick einen ziemlich langen Schluck.

»Was ist es?« fragte Herr Ben Allen, ihn mit einiger Ungeduld unterbrechend.

»Sonderbar!« antwortete Herr Pickwick, mit den Lippen schmatzend: »ich weiß es selbst noch nicht. Doch ja«, fügte er nach einem zweiten Schluck hinzu, »es ist wirklich Punsch.«

Herr Ben Allen sah Herrn Pickwick an; Herr Pickwick sah Herrn Ben Allen an. Herr Ben Allen lächelte; Herr Pickwick lächelte nicht.

»Es würde ihm recht geschehen«, sagte Herr Pickwick mit einiger Strenge; »es würde ihm recht geschehen, wenn wir ihm alles bis auf den letzten Tropfen austränken.«

»Das meine ich auch«, bemerkte Ben Allen.

»Ja, ja«, versetzte Herr Pickwick. »Nun, so lassen Sie uns auf seine Gesundheit trinken.«

Mit diesen Worten nahm der vortreffliche Herr einen höchst energischen Zug aus der Flasche und übergab sie dann Ben Allen, der nicht säumte, sein Beispiel nachzuahmen. Das Lächeln wurde gegenseitig, und der Punsch allmählich und mit vielem Vergnügen ausgetrunken.

»Beim Lichte besehen«, sagte Herr Pickwick, als er den letzten Tropfen ausschlürfte, »sind seine Possen doch wirklich sehr lustig und unterhaltend.«

»Ja, das kann man nicht anders sagen«, erwiderte Herr Ben Allen.

Und zum Beweis, daß Bob Sawyer einer der drolligsten Burschen sei, die man finden könne, begann er Herrn Pickwick mit einer langen und umständlichen Erzählung zu unterhalten, wie Bob Sawyer sich einmal ein Fieber an den Hals getrunken und sich dann seinen ganzen Kopf abgeschoren habe; eine wirklich ergötzliche und anmutige Geschichte, deren Vortrag nur durch das Anhalten der Kutsche vor der Glocke in Berkeley Heath unterbrochen wurde, wo die Pferde gewechselt werden sollten.

»Wir werden hier doch zu Mittag speisen?« sagte Bob zum Fenster hineinsehend.

»Zu Mittag speisen?« erwiderte Herr Pickwick. »Ei, wir haben erst neunzehn Meilen zurückgelegt und müssen im ganzen siebenundachtzig und eine halbe machen.«

»Eben deshalb sollten wir uns in den Stand setzen, die Strapazen der Reise zu ertragen«, wendete Herr Bob Sawyer ein.

»Aber es ist ja rein unmöglich, um halb zwölf Uhr zu Mittag zu speisen«, erwiderte Herr Pickwick, auf seine Uhr sehend.

»Nun meinetwegen«, versetzte Bob; »so will ich es ein Lunch nennen. He da, Bursche! Ein Lunch für drei Personen; die Pferde können noch eine Viertelstunde im Stalle bleiben. Man soll alles Kalte, was die Küche vermag, auf den Tisch stellen, auch einige Flaschen Ale und von eurem besten Madeira.«

Nachdem Herr Bob Sawyer mit ungeheurer Wichtigkeit und großem Lärm diese Befehle erteilt hatte, eilte er sogleich ins Haus, um die Anordnungen zu überwachen; und noch ehe fünf Minuten vorüber waren, kam er zurück und erklärte, alles sei vortrefflich.

Die Qualität des Lunchs rechtfertigte vollkommen das von Bob ausgesprochene Lob; und nicht bloß dieser Gentleman, sondern auch Herr Ben Allen und Herr Pickwick ließen ihm alle Gerechtigkeit widerfahren. Unter den Auspizien dieses Kleeblattes waren die Flaschen Ale und Madeira bald geleert, und als man die Pferde wieder angespannt, sämtliche Passagiere ihre Sitze eingenommen und Bob die strohumflochtene Flasche mit dem besten Nachfolger seines früheren Punsches, den er in so kurzer Zeit erhalten konnte, angefüllt hatte, erschallte das Klapphorn aufs neue, und die rote Flagge wehte ohne den geringsten Widerspruch von seiten des Herrn Pickwick.

In der Hopfenstange zu Tewkesbury machten sie Mittag. Bei dieser Gelegenheit wurde noch mehr gepfropftes Ale, einige weitere Flaschen Madeira und überdies einiger Portwein getrunken, auch die strohumflochtene Flasche zum vierten Male wieder aufgefüllt. Über dem Einfluß dieser vereinigten Reizmittel schlummerten Herr Pickwick und Herr Ben Allen dreißig Meilen weit, während Bob und Herr Weller auf dem Rücksitze Duette sangen.

Es war schon ganz dunkel, als Herr Pickwick sich so weit aufraffte, um aus dem Fenster sehen zu können. Die einzeln stehenden Hütten an der Straße, die dunkle Farbe aller sichtbaren Gegenstände, die trübe Atmosphäre, die mit Schmiedekohlenasche und Ziegelmehl bestreuten Wege, das tiefrote Glühen der Ofenfeuer in der Ferne, die dicken Rauchwolken, die sich schwerfällig von den hohen Kaminen herauswälzten, alles ringsum schwärzend und verdunkelnd, die schweren Wagen, die sich, mit schwirrenden Eisenstäben beladen, oder mit sonstigen Frachtwaren bis oben angehäuft, langsam auf der Straße hinquälten – alles verkündete ihre schnelle Annäherung an die große Fabrikstadt Birmingham.

Als sie durch die engen Tore, die mitten in das Getümmel führen, hineinrasselten, wurden ihre Sinne mächtig angespannt durch den Anblick und das Getöse ernster Tätigkeit. Die Straßen waren voll von Arbeitern. Das Getöse harten Geschäftes drang aus jedem Hause hervor; Lichter glänzten von den langen Fensterflügeln der Dachstöcke her, und das Gewirbel der Räder sowie das Getöse der Maschinerien erschütterte die zitternden Wände. Die Feuer, deren trübselig bleicher Schein meilenweit sichtbar gewesen, brannten kräftig in den großen Fabriken und Arbeitshäusern der Stadt. Das Getöse der Hämmer, das Rauschen des Dampfes und das matte, schwerfällige Gerassel der Maschinen war die unliebliche Musik, die von allen Seiten herdrang.

Der Postillion fuhr rasch durch die offenen Straßen und an den hübschen, wohlbeleuchteten Läden vorbei, die zwischen den Vorstädten und dem alten Royal Hotel liegen, bevor Herr Pickwick angefangen hatte, sich über die höchst schwierige und kitzliche Natur des Geschäftes zu besinnen, das ihn hierher geführt.

Die Kitzlichkeit dieses Geschäftes und die Schwierigkeit, es befriedigend durchzuführen, wurden durch die freiwillige Gesellschaft des Herrn Bob Sawyer keineswegs verringert. Im Gegenteil fühlte Herr Pickwick, daß Bobs Anwesenheit, so gut gemeint und sonst angenehm sie auch sein mochte, keineswegs eine Ehre war, die er mit Willen selbst gewünscht hätte. Ja, er hätte gern eine ansehnliche Summe Geldes gegeben, wenn er Herrn Bob Sawyer unverzüglich auf nicht weniger als fünfzig Meilen hätte entfernen können.

Herr Pickwick kannte Herrn Winkle senior nicht persönlich, obgleich ihm dieser schon einige Male geschrieben und befriedigende Antworten auf seine Fragen betreffs des moralischen Charakters und Benehmens seines Sohnes von ihm erhalten hatte; auch fühlte er deutlich, daß, wenn er ihm das erstemal in Begleitung Bob Sawyers und Ben Allens, die beide etwas benebelt waren, besuchte, dies eben nicht das sinnreichste und praktischste Mittel sein dürfte, ihn für seine Zwecke sympathisch zu stimmen.

»Indes«, sagte Herr Pickwick, indem er sich zu beruhigen suchte; »ich muß es so gut machen, wie ich kann. Ich will noch heute abend zu ihm gehen, denn ich habe es heilig versprochen, und wenn sie darauf bestehen, mich zu begleiten, so muß ich den Besuch möglichst abkürzen, inzwischen aber mich mit der Hoffnung begnügen, daß sie sich um ihrer selbst willen anständig aufführen werden.«

Während er sich mit diesen Betrachtungen tröstete, hielt der Wagen vor dem Old Royal an. Ben Allen wurde dadurch teilweise aus seinem merkwürdig tiefen Schlafe erweckt und von Herrn Samuel Weller am Kragen herausgezogen; Herr Pickwick aber war selbst imstande auszusteigen. Sie wurden in ein behagliches Zimmer gewiesen, und Herr Pickwick fragte den Kellner sogleich nach Herrn Winkles Wohnung.

»Ganz in der Nähe, Sir«, sagte der Kellner; »nicht über fünfhundert Schritte. Herr Winkle ist Kajenmeister, Sir, am Kanal. Es ist keine Privatwohnung, Sir; nicht fünfhundert Schritte von hier, Sir.«

Hier blies der Kellner ein Licht aus und tat, als ob er es wieder anzünden wollte, um Herrn Pickwick Gelegenheit zu weitern Fragen zu geben, falls er Lust hätte.

»Befehlen Sie etwas, Sir?« fragte der Kellner endlich, indem er, in Verzweiflung über Herrn Pickwicks Schweigen, das Licht wieder anzündete. »Tee oder Kaffee, Sir? Ein Mittagessen?«

»Vorderhand nichts.«

»Sehr wohl, Sir. Wünschen Sie ein Nachtessen, Sir?«

»Für jetzt noch nicht.«

»Sehr wohl, Sir.«

Hier ging er sachte an die Tür, hielt aber schnell an, wandte sich um und sagte mit großer Freundlichkeit:

»Soll ich Ihnen das Kammermädchen schicken, meine Herren?«

»Ja, wenn Sie wollen«, erwiderte Herr Pickwick.

»Wenn Sie wollen, Sir.«

»Und bringen Sie auch etwas Sodawasser«, sagte Bob Sawyer.

»Sodawasser, Sir? Sehr wohl, Sir.«

Das Gemüt des Kellners war offenbar von einem überwältigenden Druck erlöst, weil er doch endlich irgendeine Bestellung erhalten hatte, und er verschwand unmerkbar. Kellner gehen oder laufen niemals; sie haben eine ganz eigentümliche, geheimnisvolle Gabe, zu den Zimmern hinauszuschweben, eine Gabe, die andere Menschenkinder nicht besitzen.

Nachdem durch das Sodawasser einige geringe Symptome von Lebenskraft in Herrn Ben Allen erweckt waren, ließ er sich herbei, Gesicht und Hände zu waschen, und endlich gestattete er auch Sam, ihn auszubürsten. Als nun Herr Pickwick und Bob Sawyer gleichfalls die Unordnung, die die Reise in ihren Aufzug gebracht, beseitigt hatten, brachen alle drei Arm in Arm auf, um zu Herrn Winkle zu gehen; wobei Bob Sawner unterwegs die Atmosphäre mit Tabakrauch schwängerte.

Etwa eine Viertelmeile vom Wirtshaus entfernt, in einer ruhigen, solid aussehenden Straße stand ein altes, aus roten Backsteinen gebautes Haus mit drei Staffeln vor der Tür und einem messingenen Schild darüber, das in dicken römischen Hauptbuchstaben das Wort »Winkle« enthielt. Die Staffeln waren sehr weiß, die Ziegel sehr rot, das Haus sehr niedlich, und hier standen Herr Pickwick, Herr Benjamin Allen und Herr Bob Sawyer, als die Glocke zehn Uhr schlug.

Ein hübsches Dienstmädchen erschien auf das Klopfen und fuhr zurück, als sie die drei Fremdlinge erblickte.

»Ist Herr Winkle zu Haus, mein liebes Kind?« fragte Herr Pickwick.

»Er hat sich soeben zu Tisch gesetzt, Sir«, erwiderte das Mädchen.

»Geben Sie ihm doch gefälligst diese Karte«, fuhr Herr Pickwick fort, »und sagen Sie ihm, es tue mir leid, ihn so spät noch stören zu müssen: allein es liege mir sehr viel daran, ihn heute nacht noch zu sehen, und ich sei soeben erst angekommen.«

Das Mädchen blickte schüchtern an Herrn Bob Sawyer hinauf, der durch allerhand wunderliche Grimassen seine Bewunderung für ihre persönlichen Reize ausdrückte: dann warf sie einen Blick auf die im Gange hängenden Hüte und Mäntel und rief einem andern Mädchen, um auf die Tür acht zu haben, während sie hinaufginge. Die Schildwache wurde bald abgelöst, denn das Mädchen kehrte im Augenblick zurück, bat die Herren um Verzeihung, daß sie sie auf der Straße gelassen habe, und führte sie in ein mit Teppichen geschmücktes Hinterzimmer, das halb eine Amtsstube, halb ein Toilettenzimmer zu sein schien, und worin die hauptsächlichsten, zum Nutzen und Schmuck dienenden Gerätschaftsartikel in einem Pult, einem Waschständer, nebst Rasierschüssel, einem Stiefelzieher, einem Schreibbock, vier Stühlen, einem Tisch und einer alten, acht Tage lang gehenden Uhr bestanden. Über dem Kamingesims befanden sich die eingesunkenen Türen eines eisernen Geldschrankes, während einige hängende Bücherständer, ein Wandkalender und mehrere Schichten bestaubten Papiers die Wände zierten.

»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie vor der Tür stehen ließ«, sagte das Mädchen, indem sie eine Lampe anzündete, mit einem gewinnenden Lächeln zu Herrn Pickwick: »aber Sie waren mir ganz fremd, und es gibt so viele Landstreicher, die nur kommen, um zu sehen, ob sie nichts wegfischen können, so daß ich wirklich –«

»Sie brauchen sich nicht im geringsten zu entschuldigen, liebes Kind«, sagte Herr Pickwick freundlich.

»Nein, durchaus nicht, mein Schätzchen«, setzte Bob Sawyer hinzu, indem er liebkosend die Arme ausstreckte und von einer Seite nach der andern hüpfte, als wollte er die junge Dame verhindern, das Zimmer zu verlassen.

Die junge Dame ließ sich jedoch durch alle diese Lockungen nicht im mindesten zur Milde stimmen; denn sie drückte ein für allemal ihre Meinung dahin aus, Herr Bob Sawyer sei ein höchst widerwärtiger, unverschämter Mensch, und als er mit seinen Aufmerksamkeiten immer zudringlicher wurde, schlug sie ihm ihre schönen Finger ins Gesicht und rannte unter vielen Ausdrücken der Abneigung und Verachtung aus dem Zimmer.

Nachdem Herr Bob Sawyer der Gesellschaft der jungen Dame beraubt war, begann er sich die Zeit damit zu vertreiben, daß er in das Pult hineinschaute, sämtliche Schubfächer durchsuchte und scheinbar Anstalten machte, das Schloß des eisernen Geldschrankes aufzudrücken. Dann drehte er den Kalender mit der Vorderseite gegen die Wand, probierte Herrn Winkle seniors Stiefel über seine eigenen an und stellte mit den andern Hausgerätschaften auch sonst noch allerlei humoristische Experimente an, die Herrn Pickwick mit unaussprechlicher Angst und wahrem Schauder erfüllten, Herrn Bob Sawyer aber ungemeines Ergötzen bereiteten.

Endlich ging die Tür auf, und ein kleiner alter Herr in einem schnupftabakfarbigen Rock, mit einem Kopf und Gesicht, die, abgesehen von der Kahlheit, ein wahres Gegenstück vom Kopf und Gesicht des Herrn Winkle junior waren, wackelte, Herrn Pickwicks Karte in der einen und einen silbernen Leuchter in der andern Hand, ins Zimmer.

»Ah, guten Abend, Herr Pickwick?« begann Herr Winkle senior, den Leuchter wegstellend und seine Hand ausstreckend. »Ich hoffe, Sie recht wohl zu sehen. Freut mich sehr. Setzen Sie sich doch, Herr Pickwick; ich bitte, Sir. Dieser Herr ist –«

»Mein Freund, Herr Sawyer«, fiel Herr Pickwick ein, »und auch ein Freund von Ihrem Sohne.«

»Ah!« sagte Herr Winkle senior mit einem ziemlich grämlichen Blick auf Bob. »Wie geht es Ihnen, hoffentlich gut, Sir?«

»Wie dem Fisch im Wasser«, erwiderte Bob Sawyer.

»Der andere Herr hier«, fuhr Herr Pickwick fort, »ist, wie Sie aus dem mir anvertrauten Briefe ersehen werden, ein sehr naher Verwandter, oder, ich sollte vielmehr sagen, ein ganz intimer Freund Ihres Sohnes. Er heißt Allen.«

»Dieser Herr da?« fragte Herr Winkle, mit der Karte auf Ben Allen deutend, der auf einem Stuhle eingeschlafen war, so daß man nichts von ihm sah, als seinen Rücken und seinen Rockkragen.

Herr Pickwick war im Begriff, die Frage zu beantworten und Herrn Benjamin Allens Namen nebst seinem ehrenwerten Stand und andern ausgezeichneten Eigenschaften lang und breit herzuzählen, als der mutwillige Herr Bob Sawyer seinen Freund, um ihn zum Bewußtsein seiner Lage zu bringen, dermaßen in das Fleisch seines Armes kniff, daß er zusammenschrak und mit einem lauten Schrei in die Höhe sprang. Auf einmal bemerkte er, daß ein Unbekannter dastand, trat vor, schüttelte Herrn Winkle äußerst verbindlich gegen fünf Minuten lang beide Hände, murmelte in einigen halbverständlichen Satzfragmenten sein unendliches Vergnügen, ihn zu sehen, und überhörte die gastfreundliche Frage, ob er nicht vielleicht nach seinem weiten Gange eine Erfrischung annehmen wolle, oder ob er es vorziehe, bis zum Mittagessen zu warten. Dann setzte er sich wieder und starrte mit so glasigen Augen umher, als ob er nicht den entferntesten Begriff davon hätte, wo er sei; denn er wußte das auch wirklich nicht.

Dies alles brachte Herrn Pickwick in die peinlichste Verlegenheit, zumal da Herr Winkle senior das unverkennbarste Erstaunen über das exzentrische – um nicht zu sagen unanständige Benehmen seiner zwei Gefährten an den Tag legte. Um der Sache ein schnelles Ende zu machen, zog er einen Brief aus der Tasche und überreichte ihn Herrn Winkle senior mit den Worten:

»Hier ist ein Brief von Ihrem Sohne, Sir. Sie werden daraus ersehen, daß sein ganzes Lebensglück und seine ganze Wohlfahrt von Ihrer wohlwollenden und väterlichen Erwägung seines Inhaltes abhängt. Haben Sie die Güte, ihn ruhig und kaltblütig durchzulesen und nachher den Gegenstand in dem Tone und Geist mit mir zu besprechen, in dem dergleichen Dinge allein besprochen werden dürfen. Wie hochwichtig Ihre Entscheidung für Ihren Sohn ist, und mit welcher Angst er dieser entgegensieht, mögen Sie daraus schließen, daß ich Ihnen in so später Stunde ohne vorhergegangene Anmeldung und –« fügte Herr Pickwick mit einem flüchtigen Blick auf seine zwei Begleiter hinzu – »unter so ungünstigen Umständen meine Aufwartung mache.«

Nach diesem Vorspiel legte Herr Pickwick vier eng geschriebene Seiten extrasuperfeinen, flordünnen Briefpapiers in die Hände des erstaunten Herrn Winkle senior, setzte sich sofort wieder auf seinen Stuhl und beobachtete dessen Blicke und Benehmen zwar einigermaßen ängstlich, jedoch mit der offenen Stirn eines Mannes, der sich bewußt ist, nichts getan zu haben, was einer Entschuldigung oder Bemäntelung bedurfte.

Der alte Kajenmeister drehte den Brief um und um, besah ihn von vorn, von hinten und von den Seiten, stellte eine mikroskopische Untersuchung mit dem dicken Bübchen auf dem Siegel an, erhob seine Augen zu Herrn Pickwicks Gesicht, dann aber setzte er sich auf den Schreibbock, zog die Lampe näher zu sich, erbrach das Siegel, öffnete die Epistel, hielt sie hoch an das Licht und schickte sich an zu lesen.

Eben in diesem Augenblick legte Herr Bob Sawyer, dessen Witz einige Minuten lang geschlafen hatte, seine Hände auf seine Knie und schnitt ein Gesicht, wie man es ungefähr in den Bildern des seligen Herrn Grimaldi20 als Clown sehen kann. Nun fügte es sich, daß Herr Winkle senior, statt, wie Herr Bob Sawyer meinte, tief in die Lesung des Briefes versunken zu sein, über den Rand desselben hinaus- und zufällig niemand anders anschaute, als Herrn Bob Sawyer selbst. Da er nun mit Recht schloß, besagte Grimasse habe den Zweck, seine eigene Person lächerlich zu machen und zu verhöhnen, so heftete er seine Augen mit solch ausdrucksvoller Strenge auf Bob, daß die Züge des seligen Herrn Grimaldi sich allmählich wieder in einen recht hübschen Ausdruck der Demut und Beschämung auflösten.

»Haben Sie etwas gesagt, Sir?« fragte Herr Winkle senior nach einer unheimlichen Pause.

»Nein, Sir«, erwiderte Bob, der nichts mehr von dem Clown an sich hatte, als einzig und allein die feurige Röte seiner Wangen.

»Sie haben wirklich nichts gesagt, Sir?« fuhr Herr Winkle senior fort.

»O nein, ganz gewiß nicht, Sir«, erwiderte Bob.

»Ich meinte es doch, Sir«, versetzte der alte Herr mit unwilligem Nachdruck. »Aber Sie haben mich doch angeschaut, Sir?«

»Bitte um Vergebung, Sir; ganz und gar nicht«, erwiderte Bob mit äußerster Höflichkeit.

»Nun, freut mich, Sir«, sagte Herr Winkle senior.

Nachdem der alte Herr sofort dem gedemütigten Bob mit großer Würde noch einen Zornblick zugeworfen, hielt er den Brief wieder ans Licht und begann ihn mit vielem Ernste zu lesen.

Herr Pickwick betrachtete ihn mit großer Spannung, als er von der untersten Linie der ersten Seite auf die oberste der zweiten und von der untersten der zweiten auf die oberste der dritten und von der untersten der dritten auf die oberste der vierten überging. Aber nicht die geringste Veränderung auf seinem Gesichte gab einen Schlüssel zu den Gefühlen, mit denen er die Nachricht von seines Sohnes Verheiratung aufnahm, die, wie Herr Pickwick wußte, gleich in den ersten sechs Zeilen verkündet wurde.

Er las den Brief bis zum letzten Wort, legte ihn mit der ganzen Sorgfalt und Pünktlichkeit eines Geschäftsmannes wieder zusammen, und als Herr Pickwick endlich einen großen Ausbruch seiner Gefühle erwartete, tunkte er eine Feder in das Tintenfaß und sagte so ruhig, als ob es sich um den allergewöhnlichsten Geschäftsgegenstand handelte:

»Nathanaels Adresse, Herr Pickwick?«

»Gegenwärtig Georg und Geier«, erwiderte Herr Pickwick.

»Georg und Geier? Wo ist das?«

»George-Yard. Lombardstraße.«

»In der City?«

»Ja.«

Der alte Herr schrieb mechanisch die Adresse auf den Rücken des Briefes, legte ihn dann in sein Pult, verschloß dasselbe und sagte, als er vom Bock aufstand und den Schlüsselbund in seine Tasche steckte:

»Sie haben ohne Zweifel nichts mehr zu sagen, was uns aufhalten könnte, Herr Pickwick?«

»Ganz und gar nichts, mein teurer Sir«, bemerkte der warmherzige Mann in unmutigem Erstaunen; »ganz und gar nichts! – Aber beliebt es Ihnen nicht vielleicht, Ihre Meinung über dieses wichtige Ereignis im Leben unseres jungen Freundes gegen mich auszusprechen? Wollen Sie ihm nicht vielleicht durch mich die Versicherung Ihrer fortdauernden Liebe und Unterstützung zukommen lassen? Haben Sie ihm nichts zu sagen, was ihn und die junge Dame, die angstvoll Trost und Ermutigung bei ihm sucht, erfreuen und aufrechterhalten könnte? Überlegen Sie es doch, mein teurer Herr.«

»Ich werde es allerdings überlegen«, antwortete der alte Gentleman: »für den Augenblick aber habe ich nichts zu sagen. Ich bin ein Geschäftsmann, Herr Pickwick; ich lasse mich nie über Hals und Kopf in eine Sache ein, und soweit mir diese bekannt ist, will sie mir durchaus nicht gefallen. Tausend Pfund ist nicht viel, Herr Pickwick.«

»Sie haben vollkommen recht, Sir«, fiel Ben Allen ein, der gerade wach genug war, um sich zu erinnern, daß er seine tausend Pfund ohne die geringste Schwierigkeit untergebracht hatte. »Sie sind ein gescheiter Mann. Bob, der Herr da ist wahrhaftig nicht auf den Kopf gefallen.«

»Ich schätze mich sehr glücklich, daß S i e mir diese Gerechtigkeit widerfahren lassen, Sir«, sagte Herr Winkle senior mit einem verächtlichen Blick auf Ben Allen, der eben bedächtig seinen Kopf schüttelte. »Die Sache ist die, Herr Pickwick: als ich meinem Sohn die Erlaubnis gab, auf ein Jahr zu reisen und sich in der Welt umzusehen (was er unter Ihren Auspizien getan hat), damit er nicht wie ein soeben der Schule entschlüpfter Milchbart ins Leben treten und sich vom nächsten besten übers Ohr hauen lassen sollte, da habe ich dies durchaus nicht mit in den Kauf genommen. Er weiß es sehr gut, und wenn ich jetzt die Hand von ihm abziehe, so hat er kein Recht, sich zu verwundern. Er soll von mir hören, Herr Pickwick. Gute Nacht, Sir. Margarete, öffne bitte die Tür.«

Bob Sawyer hatte die ganze Zeit über Herrn Ben Allen mit dem Ellbogen gestoßen, damit er ein begütigendes Wort sprechen sollte, und demgemäß hob jetzt Ben, ohne die geringste vorläufige Bemerkung, eine kurze, aber nachdrucksvolle Rede an:

»Sir«, sagte Herr Ben Allen, den alten Gentleman recht trist ansehend und heftig gestikulierend, »Sir – Sie sollten sich vor sich selber schämen.«

»Als der Bruder der jungen Dame sind Sie natürlich ein vortrefflicher Richter in der Sache«, versetzte Herr Winkle senior. »Gut, schon genug. Ich bitte, kein Wort mehr, Herr Pickwick. Gute Nacht, meine Herren.«

Mit diesen Worten nahm der Alte den Leuchter, öffnete die Tür und bewegte sich gemessenen Schrittes dem Gange zu.

»Sie werden es bereuen, Sir«, sagte Herr Pickwick, die Zähne zusammenbeißend, um seinen Zorn niederzuhalten; denn er fühlte, wie wichtig dieser Auftritt für seinen jungen Freund sein mußte.

»Ich bin vorderhand einer anderen Meinung«, erwiderte Herr Winkle senior kaltblütig. »Noch einmal, meine Herren, ich wünsche Ihnen gute Nacht.«

Herr Pickwick ging mit zornigen Schritten auf die Straße. Herr Bob Sawyer, durch die Entschiedenheit des alten Herrn gänzlich niedergedrückt, trollte nach; Herrn Ben Allens Hut war unmittelbar darauf die Treppe hinuntergerollt, und Herrn Ben Allens Körper folgte ebenfalls gleich. Alle drei gingen stumm und ohne Abendessen zu Bett, und Herr Pickwick dachte noch vor dem Einschlafen, wenn er gewußt hätte, daß Herr Winkle senior so durch und durch ein Geschäftsmann wäre, so würde er höchstwahrscheinlich niemals in einem solchen Auftrag zu ihm gegangen sein.

  1. Giovanni Grimaldi aus Bologna (1606-1680) war ein berühmter Maler, der auch für Ludwig XIV. von Frankreich viel Aufträge ausgeführt hat.

Vierunddreißigstes Kapitel.


Vierunddreißigstes Kapitel.

Herr Weller, der Ältere, teilt einige kritische Bemerkungen über ein literarisches Produkt mit, und übt mit Hilfe seines Sohnes Samuel eine kleine Wiedervergeltung an dem hochwürdigen Herrn mit der roten Nase

Am Morgen des 13. Februar, welcher Tag, wie die Leser dieser wahrhaftigen Erzählung so gut wie wir selbst wissen, dem unmittelbar voranging, an dem der Prozeß der Frau Bardell verhandelt werden sollte, hatte Herr Samuel Weller alle Hände voll zu tun. Er mußte nämlich unaufhörlich von morgens neun Uhr bis mittags zwei Uhr von dem Georg und Geier nach der Wohnung des Herrn Perker und wieder zurück gehen. Nicht als ob er etwas von besonderer Wichtigkeit zu erledigen gehabt hätte: denn die Beratung hatte bereits stattgefunden und alle zu nehmenden Maßregeln waren verabredet. Aber Herr Pickwick befand sich in äußerster Unruhe und schrieb seinem Anwalt unaufhörlich kleine Billetts, in denen bloß die Frage stand: »Lieber Perker, steht alles gut?« worauf Herr Perker einmal wie das andere unverändert erwiderte: »Lieber Pickwick, so gut wie möglich.« Übrigens konnte man, wie wir bereits angedeutet, noch nichts, weder Gutes noch Schlimmes sagen, bis die Sitzung des Gerichtshofs am folgenden Morgen vorüber war.

Aber freilich dürfen Leute, die nicht gern Prozesse führen oder dazu gezwungen werden, das erste Mal wohl etwas aufgeregt und ängstlich sein. Sam erfüllte mit allen gebührenden Rücksichten für die Schwachheiten der menschlichen Natur sämtliche Aufträge seines Herrn mit der unzerstörbaren guten Laune und der unbesiegbaren Seelenruhe, die zu seinen hervorstechendsten und liebenswürdigsten Eigenschaften gehörten.

Dann hatte er sich mit einem sehr angenehmen kleinen Mittagsmahl erquickt. Nun wartete er in der Schenkstube auf das warme Getränk, wodurch er sich Herrn Pickwicks Aufforderung gemäß nach den Mühseligkeiten seiner Morgenwanderung stärken wollte, als ein junger Bursche von etwa drei Fuß Höhe, dessen härene Mütze und barchente Überhosen, sowie seine ganze übrige Kleidung den lobenswerten Ehrgeiz verrieten, sich mit der Zeit zur Würde eines Stallknechts zu erheben, in den Hausflur des Georg und Geier trat, zuerst die Treppen, dann den Gang und endlich die Schenkstube durchmusterte, als suche er jemand, an den er einen Auftrag habe. Das Kellermädchen, die es für nicht unwahrscheinlich hielt, besagter Auftrag könne den Tee- und andern Löffeln gelten, rief dem Knaben zu:

»He da, Junge, was machst du hier?«

»Ist niemand namens Sam da?« fragte der Junge mit lauter Diskantstimme.

»Wie ist der Zuname?« fragte Sam, sich umblickend.

»Tjä, wie kann ich das wissen?« erwiderte der junge Herr unter der härenen Kappe barsch.

»Du bist ein hitziges Kerlchen, du«, sagte Herr Weller. »Aber ich würde an deiner Stelle die scharfe Kante nicht so sehr herauskehren, sie könnte dir einmal stumpf geschlagen werden. Wie kommst du dazu, in ein Hotel zu gehen und mit der Höflichkeit eines wilden Indianers nach einem Sam zu fragen?«

»Ein alter Herr hat es mich geheißen«, antwortete der Bursche.

»Was für ein alter Herr?« fragte Sam mit tiefer Verachtung.

»Der Herr, der die Postkutsche nach Ipswich führt und bei uns absteigt«, erwiderte der Knabe. »Er sagte gestern morgen zu mir, ich solle heute mittag in den Georg und Geier gehen und nach Sam fragen.«

»Das ist mein Vater, Schätzchen«, sagte Herr Weller mit einem erläuternden Blick auf die junge Dame in der Schenkstube: »ich glaube wahrhaftig, er weiß meinen Zunamen nicht mehr. Nun gut, was will er denn von mir, du Frechdachs?«

»Sie sollen«, erwiderte der Knabe, »heute abend um sechs Uhr nach unserm Hause kommen, wo er Sie zu sehen wünscht, – in den Blauen Bären auf dem Leadenhall-Markt. Soll ich sagen, daß Sie kommen werden?«

»Ja, Sie können das melden, Sir«, erwiderte Sam.

Und mit dieser Vollmacht entfernte sich der junge Gentleman, indem er sämtliche Echos in George Yard durch verschiedene keusche und äußerst korrekte Nachahmungen von Kutscherliedern aufweckte, die er mit einer wirklich sehr vollen und umfangreichen Stimme pfiff.

Nachdem Herr Weller Urlaub von Herrn Pickwick erhalten hatte, der in seinem Zustand der Aufregung und Angst gern allein blieb, machte er sich lange vor der bestimmten Stunde auf den Weg. Da er noch über hinreichende Zeit verfügte, schlenderte er nach Mansion House, machte dort halt und musterte mit der Ruhe eines Philosophen die zahllosen Kutschen, die dort standen. Sie treffen dort zusammen zum großen Schrecken und zur Beunruhigung der alten Damenwelt, die in diesem Viertel wohnt. Nachdem er dort etwa ein halbes Stündchen verweilt, kehrte Herr Weller um und begann durch eine Menge Nebenstraßen den Weg nach dem Leadenhall- Markt einzuschlagen. Da er nun seine überflüssige Zeit darauf verwandte, bei allen Gegenständen, die sich seinen Blicken darboten, stehenzubleiben und sie zu betrachten, so darf man sich nicht wundern, daß Herr Weller auch vor dem Fenster eines kleinen Buch- und Bilderhändlers halt machte. Das muß jedoch ohne weitere Erklärung auffallend erscheinen; denn Herr Weller fuhr beim Anblicke dieser zum Verkauf ausgestellten Bilder plötzlich zusammen, stieß mit dem rechten Fuß heftig auf den Boden und rief lebhaft aus:

»Hätte ich das nicht gesehen, so hätte ich wahrhaftig die ganze Geschichte vergessen, bis es zu spät gewesen wäre.«

Das Bild, an dem Sam Wellers Augen hingen, war ein mit starken Farben aufgetragenes Gemälde zweier durch einen Pfeil verbundener Menschenherzen, die auf einem lustigen Feuer gebraten wurden, indem ein Kannibale und eine Kannibalin, beide in modernem Schmuck, der Herr in einem blauen Frack und weißen Beinkleidern, die Dame in dunkelrotem Schal mit gleichfarbigem Sonnenschirm in der Hand, sich auf einem mit Kies bestreuten Schlangenpfade gierigen Blickes dem Mahle näherten. Ein entschieden unanständig gekleideter junger Herr mit ein paar Flügeln und sonst weiter nichts besorgte das Kochen. In einiger Entfernung erblickte man den Kirchturm von Langham Place. Das Ganze stellte einen Liebesbrief vor, wovon, laut der geschriebenen Ankündigung im Fenster, hier ein großes Lager vorrätig war. Der Buchhändler pries seinen Kunden das Stück zum herabgesetzten Preis von einem Schilling und sechs Pencen an.

»Ich hätte es vergessen; ich hätte es wahrhaftig vergessen«, sagte Sam, ging dann sogleich in den Laden und verlangte einen Bogen seines Briefpapier mit goldenem Rand, nebst einer hart geschnittenen Feder, die aber nicht spritzen dürfe. Nachdem er diese Artikel schnell erhalten, ging er, ganz anders als er gekommen war, mit eiligen Schlitten, nach dem Leadenhall-Markt. Hier sah er sich um und erblickte ein Schild, auf dem die Kunst des Malers etwas dargestellt hatte, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem himmelblauen Elefanten hatte. Der Elefant hatte nur statt des Rüssels eine Adlernase. Da Sam mit Recht schloß, dies sei leibhaftig der Blaue Bär, so trat er in das Haus und fragte nach seinem Vater.

»Er wird erst in drei Viertelstunden oder noch später kommen«, sagte die junge Dame, die den häuslichen Geschäften des Blauen Bären vorstand.

»Schön, mein Schatz«, antwortete Sam. »Haben Sie die Güte, mir für neun Pence Branntwein und Wasser und zugleich Schreibzeug zu geben.«

Das Verlangte wurde alsbald in das kleine Gastzimmer gebracht, und nachdem die junge Dame die Kohlen sorgfältig zusammengedrückt hatte, damit sie nicht zu hell lodern möchten, nahm sie das Schüreisen mit, um die Möglichkeit abzuschneiden, ohne vorher eingeholte Mitwissenschaft und Erlaubnis des »Blauen Bären« das Feuer noch mehr zu schüren. Sam Weller setzte sich an einen Tisch nahe am Kamin, zog sein goldgerändertes Briefpapier nebst der hartgeschnittenen Feder aus der Tasche. Sodann betrachtete er die Feder sorgfältig, ob sie nicht vielleicht ein Haar in der Spalte habe, blies den Tisch ab, um keine Brodkrumen unter das Papier zu bekommen, schlug seine Rockärmel zurück, legte seine Ellbogen auf und schickte sich an zu schreiben.

Für Damen und Herren, die sich in der Wissenschaft der Federführung keine praktischen Kenntnisse erworben haben, ist das Briefschreiben keineswegs eine leichte Aufgabe. Sie halten es in solchen Fällen für unumgänglich notwendig, daß der Schreibende seinen Kopf auf den linken Arm niederbeugt, so daß die Augen möglichst in gleicher Höhe mit dem Papier liegen, und daß, während Seitenblicke auf die eben entstehenden Buchstaben fallen, die Zunge die entsprechenden Laute ausspricht. So zweckmäßig und förderlich diese Bewegungen auch unbestreitbar für originelle Kompositionen sein mögen, so verzögern sie doch die Fortschritte des Verfassers einigermaßen. Sam hatte unbewußt schon volle anderthalb Stunden geschrieben, wobei er häufig mißratene Buchstaben mit seinem kleinen Finger auslöschte und neue an ihre Stelle setzte; dabei war oft große Nachhilfe nötig, um sie durch die alten Flecken hindurch sichtbar zu machen. Auf einmal wurde er durch das Aufgehen der Tür und den Eintritt seines Vaters in seinem Geschäft unterbrochen.

»Willkommen, Sammy!« sagte der Vater.

»Willkommen, Alter!« antwortete der Sohn, seine Feder niederlegend. »Wie lautet das letzte Bulletin von der Stiefmutter?«

»Frau Weller hatte eine recht gute Nacht; heute morgen aber ist sie äußerst launisch und widerwärtig; unterzeichnet: Tony Weller, Esquire. Das ist die letzte Nachricht, die ausgegeben wurde, Sammy«, antwortete Herr Weller, während er sein Halstuch löste.

»Also noch nicht besser?« fragte Sam.

»Im Gegenteil, alle Symptome sind schlimmer geworden«, entgegnete Herr Weller kopfschüttelnd. »Aber was hast du denn hier? – Willst du vielleicht gar ein gelehrter Mann werden? – He, Sammy?«

»Ich bin schon fertig«, sagte Sam etwas verlegen; »ich habe etwas geschrieben.«

»Das sehe ich«, erwiderte Herr Weller. »Aber hoffentlich doch nicht an ein junges Frauenzimmer, Sammy?«

»Warum soll ich es nicht sagen?« versetzte Sam. »Es ist ein Liebesbrief.«

»Was ist’s?« rief Herr Weller, bei diesem Wort sichtbarlich von Schauder erfüllt.

»Ein Liebesbrief«, wiederholte Sam.

»Samuel! Samuel!« sagte Herr Weller in vorwurfsvollem Tone: »das hätte ich von dir nicht erwartet. Nach den Warnungen, die dir deines Vaters fehlerhafte Neigungen hätten sein sollen, nachdem ich dir so viel über diese Sache gesagt, nachdem du sogar deine Stiefmutter gesehen hast und mit ihr zusammen gewesen bist, was doch, dächte ich, eine moralische Lehre war, die niemand bis zu seinem Sterbestündchen vergessen sollte: ei, ei, Sammy – nach alledem hätte ich so etwas nimmermehr von dir erwartet.«

Diese Betrachtungen schienen den guten alten Mann zu überwältigen. Er führte Sams Krug an seine Lippen und trank ihn aus.

»Was ist es denn aber so Arges?« sagte Sam.

»Ja gewiß, Sammy«, erwiderte Herr Weller: »es wird für mich in meinen alten Tagen ein großes Leid sein. Aber ich bin, Gott sei Dank, schon ziemlich zäh geworden, und das ist noch mein Trost, wie der alte Truthahn bemerkte, als der Pächter sagte, er werde ihn wohl für den Londoner Markt schlachten müssen.«

»Was wird euch denn das für große Schmerzen machen?« fragte Sam.

»Wenn ich dich verheiratet sehen muß, Sammy: wenn ich in dir ein betörtes Schlachtopfer erblicken muß, das in seiner Unschuld glücklich zu werden glaubt«, erwiderte Herr Weller. »Ach, Sammy, das ist eine schreckliche Prüfung für ein Vaterherz.«

»Unsinn!« sagte Sam. »Ich will mich ja nicht verheiraten: also braucht Ihr Euch deswegen keine Sorgen zu machen: ich weiß, daß ihr Euch auf solche Sachen versteht. Laßt Eure Pfeife kommen, und ich will Euch den Brief vorlesen.«

Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es die Aussicht auf die Pfeife oder der tröstliche Gedanke war, daß ein unwiderstehlicher Heiratstrieb im Blut der Familie stecke, was Herrn Wellers Unruhe beschwichtigte und seinen Kummer verscheuchte. Wir möchten übrigens fast behaupten, daß dieses Resultat durch die Vereinigung beider Trostgründe erzielt wurde, denn er wiederholte den zweiten sehr häufig leise für sich, während er klingelte, um sich den ersten zu verschaffen. Sodann zog er seinen Überrock aus, zündete die Pfeife an und stellte sich mit dem Rücken gegen das Feuer, damit er dessen volle Hitze empfing und sich zugleich an das Kamingesims anlehnen konnte. Schließlich wandte er sich an Sam, und bat ihn mit einer durch den besänftigenden Tabak bedeutend aufgeheiterten Miene um Feuer.

Sam tauchte seine Feder ein, um sich zu allen nötigen Verbesserungen bereit zu halten, und begann mit theatralischen Pathos:

»›Liebliches –‹«

»Halt!« sagte Herr Weller klingelnd. »Ein Doppelglas von dem Bewußten, liebes Kind!«

»Ganz recht, Sir«, erwiderte das Mädchen, das mit großer Schnelligkeit erschien und verschwand, wieder erschien und wieder verschwand.

»Sie scheinen Euren Geschmack hier schon zu kennen«, bemerkte Herr Sam.

»Ja«, erwiderte sein Vater, »ich bin früher oft hier gewesen. Aber fahr nur jetzt fort, Sammy.«

»›Liebliches Wesen!‹« wiederholte Sam.

»Das sind am Ende gar Verse?« unterbrach der Vater.

»Nein, nein!« erwiderte Sam.

»Das freut mich«, sagte Herr Weller. »Verse sind etwas ganz Unnatürliches: es spricht niemand in Versen, außer der Büttel an Boxtagen, oder die Leute, die Warrens Schuhwichse oder Makassaröl ausschreien, und anderes solches Lumpengesindel. Laß es dir darum nie einfallen, in Versen zu sprechen.«

Herr Weller führte mit kritischer Feierlichkeit seine Pfeife wieder an den Mund. Sam aber begann aufs neue und las wie folgt:

»›Liebliches Wesen, ich fühle mich ganz beschmiert –‹«

»Das ist kein schicklicher Ausdruck«, sagte Herr Weller, die Pfeife aus dem Mund nehmend.

»Nein, es heißt nicht ›beschmiert‹«, wandte Sam ein, den Brief ans Licht haltend, »es heißt ›beschämt‹, es ist ein Tintenklecks da – ›ich fühle mich beschämt!‹«

»Sehr gut«, sagte Herr Weller: »nur weiter.«

»›Fühle mich beschämt und gänzlich ver –‹ Da weiß ich schon wieder nicht, wie das Wort heißt«, sagte Sam, während er in vergeblichen Bemühungen, seinem Gedächtnis nachzuhelfen, mit der Feder am Kopf kratzte.

»Warum siehst du nicht hinein?« fragte Herr Weller.

»Ich sehe freilich hinein«, antwortete Sam; »aber da ist schon wieder so ein Tintenklecks; ich erkenne blos ein v und ein e«.

»Verloren vielleicht?« meinte Herr Weller.

»Nein, das nicht«, sagte Sam, ›»verzaubert‹ – das ist’s!«

»Das ist aber kein so gutes Wort als verloren, Sammy«, sagte Herr Weller ernsthaft.

»Meint Ihr nicht?« fragte Sam.

»Nein, gewiß nicht«, erwiderte sein Vater.

»Glaubt Ihr aber nicht, daß es eine stärkere Bedeutung hat?« fragte Sam weiter.

»Es mag vielleicht zärtlicher sein«, sagte Herr Weller nach einigem Bedenken. »Jetzt lies weiter, Sammy!«

»›Fühle mich beschämt und gänzlich verzaubert, indem ich an Sie schreibe, denn Sie sind ein gar zu hübsches Kind, wie es kein zweites gibt.‹«

»Das ist ein sehr hübscher Gedanke«, sagte Herr Weller senior, indem er die Pfeife aus dem Mund nahm, um seiner Bemerkung Platz zu machen.

»Ja, ich denke, es ist nicht übel«, bemerkte Sam, höchlich geschmeichelt.

»Was mir an dieser Art zu schreiben besonders gefällt«, sagte Herr Weller senior, »ist, daß keine solche fremde Namen darin vorkommen, keine Venusse und dergleichen: denn sag‘ einmal Sammy, wozu braucht man denn ein junges Mädchen eine Venus oder einen Engel zu heißen?«

»Ihr habt ganz recht«, erwiderte Sam.

»Ebensogut könntest du sie einen Greif oder ein Einhorn nennen, was doch bekanntlich bloß Fabeltiere sind«, fügte Herr Weller hinzu.

»Ganz richtig«, erwiderte Sam.

»Jetzt fahr fort, Sammy«, sagte Herr Weller.

Sam erfüllte diesen Wunsch und las, während sein Vater rauchend und mit einem höchst erbaulichen, gemischten Ausdruck von Weisheit und Wohlgefälligkeit ihm zuhörte.

»›Bevor ich Sie sah, meinte ich, alle Mädchen seien einander gleich –‹«

»Das sind sie aber auch«, bemerkte Herr Weller senior zwischendurch.

»›Jetzt aber‹«, fuhr Sam fort, »›sehe ich erst ein, was ich für ein hirnverrückter, abgeschmackter Dummerjan gewesen bin, denn es gibt kein Mädchen, das Ihnen gliche, und ich liebe Sie mehr als die andern alle zusammen.‹«

»Ich hielt es für gut, mich etwas stark auszudrücken«, sagte Sam aufschauend.

Herr Weller nickte beifällig. Sam las weiter:

»›So nehme ich mir denn, meine geliebteste Marie, das Privilegium dieses Tages – wie jener verschuldete Edelmann tat, als er Sonntags ausging – um Ihnen zu sagen, daß Ihr Bild sich das

erste und einzige Mal, als ich Sie sah, weit schneller und in glänzenderen Farben meinem Herzen eindrückte, als je ein Bild von der Silhouettiermaschine aufgefaßt wurde. (Sie haben vielleicht auch schon davon gehört, liebste Marie, obgleich diese ein Portrait nebst Rahmen, Glas und Haken zum Aufhängen in zwei und einer Viertelminute fix und fertigt macht.)‹«

»Ich besorge beinahe, Sammy, dies streift wieder ans Poetische,« sagte Herr Weller bedenklich.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Sani, der jetzt sehr schnell las, um weitere Erörterungen über diesen Punkt zu vermeiden.

»›Nehmen Sie mich als Ihren Verehrer an, schönste Marie, und überlegen Sie, was ich gesagt habe. – Meine teuerste Marie, jetzt will ich schließen.‹ – Das ist alles«, setzte Sam hinzu.

»Das heiß ich aber gar zu schnell abgebrochen, Sammy«, meinte Herr Weller.

»Bewahre«, erklärte Sam. »Sie wird wünschen, es käme noch mehr, und eben darin besteht die große Kunst de« Briefschreibens.«

»Nun gut«, antwortete Herr Weller; »das ist nicht ganz ohne, und ich wünschte nur, deine Stiefmutter möchte sich zu eben so vernünftigen Grundsätzen bekennen. Willst du deinen Namen nicht unterzeichnen?«

»Eben da steht die Kuh vorm neuen Tor«, sagte Sam: »ich weiß nicht, wie ich unterzeichnen soll.«

»Schreib: Weller«, erklärte der älteste der noch lebenden Träger dieses Namens.

»O nein«, sagte Sam. »Man darf einen Liebesbrief nie mit dem eigenen Namen unterzeichnen.«

»So schreib: Pickwick«, meinte Herr Weller: »das ist ein sehr hübscher Name und läßt sich auch leicht buchstabieren.«

»Ihr habt recht«, sagte Sam. »Da könnte ich auch mit einem Verse schließen. Was haltet Ihr davon?«

»Das will mir nicht gefallen, Sam«, versetzte Herr Weller. »Ich habe nie einen ehrenwerten Kutscher kennengelernt, der in Versen geschrieben hätte, außer einen. Der setzte in der Nacht, ehe er wegen Straßenraubs gehenkt wurde, herzzerbrechende Verse auf. Aber das war bloß ein Camberweller3, und muß also als eine Ausnahme betrachtet werden.«

Sam ließ sich jedoch von seiner poetischen Idee, die er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, nicht abbringen, und unterzeichnete den Brief:

»Von Lieb‘ berückt Ihr Pickwick.«

Sodann faltete er das Schreiben auf höchst umständliche Art zusammen und schrieb in einem schiefen Winkel die Adresse: ›An Marie, Hausmädchen bei Herrn Mayor Nupkins, Ipswich, Suffolk‹. Dann versiegelte er es und steckte es in seine Tasche, um es selbst auf die Post zu tragen. Als dies wichtige Geschäft beendet war, kam Herr Weller senior auf das zu sprechen, weswegen er seinen Sohn hatte rufen lassen.

»Vor allem, Sammy«, sagte er, »wollen wir von deinem Herrn sprechen. Wird nicht sein Prozeß morgen verhandelt werden?«

»Allerdings«, erwiderte Sam.

»Schön«, sagte Herr Weller; »ich habe gedacht, er werde vielleicht einige Zeugen nötig haben, um seinen guten Ruf oder vielleicht auch ein Alibi nachzuweisen. Die ganze Geschichte ist mir lange im Kopfe herumgegangen, und er kann jetzt ganz ohne Sorgen sein, Sammy. Ich habe einige Freunde zusammengebracht, die beides für ihn tun wollen; nur wäre mein Rat der, man sollte auf dem guten Ruf nicht so fest bestehen und sich mit dem Alibi begnügen. Ich versichere dich, Sammy, es geht nichts über ein Alibi.«

Herr Weller blickte sehr gelehrt um sich, als er dieses sein Rechtsgutachten abgab; dann begrub er seine Nase in dem Humpen und blinzelte über den Rand desselben hinüber seinem erstaunten Sohne zu.

»Tja, was meint Ihr denn?« fragte Sam; »glaubt Ihr vielleicht, sein Prozeß werde in Old Bailen4 verhandelt werden?«

»Das kommt hier gar nicht in Betracht, Sammy«, entgegnete Herr Weller. »Die Sache mag abgehandelt werden, wo sie will, ein Alibi muß seine Freisprechung bewirken. Wir brachten Tom Wildspark, der auf Totschlag angeklagt war, mit einem Alibi los, als alle die gelehrten Perücken meinten, ihn könne nichts mehr retten. Wenn daher dein Herr kein Alibi nachweisen kann, so ist er futsch, wie die Italiener sagen.«

Da der ältere Herr Weller die feste und unabänderliche Überzeugung in sich trug, Old Bailey sei der oberste Gerichtshof des Landes, und nach seinen Rechten und Formen müssen sich alle übrigen richten, so achtete er sehr wenig auf die Versicherungen und Beweisgründe seines Sohnes, der ihm auseinandersetzen wollte, daß ein Alibi hier nichts nütze. Er behauptete mit großer Heftigkeit, in diesem Fall werde Herr Pickwick ein Opfer. Als Sam sich endlich überzeugt hatte, daß weiteres Streiten über diesen Gegenstand doch zu nichts führen würde, brach er ab und fragte nach dem zweiten Punkt, worüber sein verehrter Vater sich mit ihm zu beraten wünsche.

»Es betrifft die häuslichen Angelegenheiten, Sammy«, sagte Herr Weller. »Dieser Stiggins da –«

»Der Rotnasige?« fragte Sam.

»Ja, derselbe«, erwiderte Herr Weller. »Dieser rotnasige Schuft besucht deine Stiefmutter mit einer Freundlichkeit und Beharrlichkeit, die ihresgleichen sucht. Er ist ein solcher Freund unserer Familie, Sammy, daß es ihm außerhalb unseres Hauses nirgends wohl ist, wofern er nicht irgendein Andenken an uns hat.«

»An Eurer Stelle«, sagte Sam, »würde ich ihm einen Denkzettel auf den Rücken schreiben, den er mir die nächsten zehn Jahre nicht vergessen sollte.«

»Soll er auch bekommen«, fuhr Herr Weller fort; »ich wollte eben sagen, daß er jedesmal eine Flasche mitbringt, die anderthalb Maß hält, und sie mit Ananasgrog füllt, ehe er geht.«

»Und wahrscheinlich jedesmal leert, bevor er wiederkommt?« fragte Sam.

»Bis auf den letzten Tropfen«, erwiderte Herr Weller. »Er läßt nichts mehr darin, als den Korken und den Geruch. Diese Spitzbuben wollen heute nacht an der monatlichen Versammlung der Brick-Lane-Abteilung des vereinigten großen Ebenezer- Mäßigkeitsvereins teilnehmen. Deine Stiefmutter wollte auch hingehen, Sammy, allein sie hat sich erkältet und kann nicht; nun habe ich die beiden Einlaßkarten zu mir gesteckt, die ihr geschickt wurden.«

Herr Weller teilte dieses Geheimnis seinem Sohne sehr fidel mit und blinzelte ihm so unermüdlich zu, daß Sam beinahe glaubte, er habe einen Krampf in seinem rechten Augenlid.

»Was ist denn da zu tun?« fragte der junge Gentleman.

»Das will ich dir sagen«, fuhr sein Erzeuger fort, indem er sehr vorsichtig um sich blickte; »wir beide wollen heute abend zur rechten Zeit hingehen. Und der Hirtenhelfer will nicht, Sammy, der Hirtenhelfer will nicht.«

Hier fing Herr Weller wie närrisch an, aus vollem Halse zu lachen, und lachte so lange, wie es ein ältlicher Herr nur wagen kann, wenn er nicht geradezu ersticken will.

»Meiner Lebetage habe ich noch nie so einen komischen alten Kauz gesehen«, rief Sam, dem alten Herrn derb den Rücken reibend, als ob er Feuer herausschlagen wollte. »Bitte lacht Euch nur nicht zu Tode; bei Eurer Korpulenz kann leicht etwas passieren.«

»Sammy«, flüsterte Herr Weller, mit größerer Vorsicht um sich blickend; »ich muß dir etwas erzählen. Zwei von meinen Freunden, die auf der Oxforder Straße fahren und gerne einen lustigen Spaß machen, haben den Hirtenhelfer ins Schlepptau genommen, und wenn er in den Ebenezer-Verein kommt (woran gar nicht zu zweifeln ist; denn sie werden ihn bis an die Tür führen und nötigenfalls auch hineinschieben), so wird er so voll von Grog sein, wie er es nur jemals im Marquis von Granby gewesen ist, und das heißt gewiß hoch geschworen.«

Bei diesen Worten schlug Herr Weller senior abermals ein außerordentliches Gelächter an und verfiel aufs neue in einen Zustand teilweiser Erstickung.

Nichts hätte mit Sam Wellers Gefühlen und Wünschen mehr übereinstimmen können, als dieser Plan zur Entlarvung des rotnasigen Heuchlers, und da die Zeit zur Versammlung herannahte, so begaben sich Vater und Sohn miteinander auf den Weg nach Bricklane. Sam vergaß indessen nicht, seinen Brief sorglich auf einem Postbureau abzugeben.

Die monatlichen Versammlungen der Bricklane-Abteilung des vereinigten großen Ebenezer-Mäßigkeitsvereins wurden in einem weiten, freundlich und luftig gelegenen Saale gehalten, zu dem man auf einer sichern und bequemen Leiter hinaufklettern konnte. Präsident war der auf dem rechten Wege wandelnde Herr Anthony Humm, ein bekehrter Spritzenmann, derzeit Schulmeister und gelegentlich reisender Prediger. Das Sekretariat bekleidete Herr Jonas Mudge, Inhaber eines Kramladens, ein enthusiastisches, uneigennütziges Mitglied, das an die Gesellschaft Tee verkaufte. Vor dem Beginn der Geschäfte nämlich tranken die Damen, auf Bänken sitzend, so lange Tee, bis sie endlich glaubten, es sei Zeit aufzuhören, während auf dem mit einem grünen Tuche überzogenen Amtstische, jedermann sichtbarlich, eine große hölzerne Geldbüchse stand, und hinter ihr der Sekretär, der jeden neuen Zuwachs der darin verborgenen Kupfermünzsammlung mit holdseligem Lächeln quittierte.

An diesem Abend nun tranken die Damen wirklich unglaublich viel Tee zum großen Abscheu des Herrn Weller senior, der trotz aller warnenden Winke Sams mit dem unverstelltesten Erstaunen nach allen Richtungen herumglotzte.

»Sammy«, flüsterte Herr Weller, »wenn man nicht morgen früh mehrere von diesen Weibsbildern abzapfen muß, so bin ich dein Vater nicht, und damit Punktum. Sieh nur die Alte neben mir, die ersäuft sich wahrhaftig noch im Tee.«

»Könnt Ihr denn gar nicht ruhig sein?« murmelte Sam.

»Sam«, flüsterte Herr Weller einen Augenblick darauf im Tone tiefer Bewegung; »merke dir, was ich sage: wenn der Sekretär dorten nur noch fünf Minuten lang so fortmacht, so muß er bersten vor lauter Butterbroten und Wasser.«

»Ja, so laßt ihn doch, wenn es ihm Vergnügen macht«, erwiderte Sam; »es geht Euch doch nichts an.«

»Wenn es noch länger so fortgeht, Sammy«, flüsterte Herr Weller in demselben Tone weiter, »so halte ich es für meine Menschenpflicht, aufzustehen und mich an den Präsidenten zu wenden. Dort auf der dritten Bank sitzt ein junges Frauenzimmer, das bereits fünfzehn große Tassen getrunken hat; sie quillt ja schon sichtbarlich vor meinen Augen auf«.

Ohne allen Zweifel hätte Herr Weller seine wohlwollende Absicht sofort ausgeführt, hätte ihn nicht zum Glück das laute Geräusch, das durch Abräumen der Tassen und Kannen entstand, zum Bewußtsein gebracht, daß die Teezeit vorüber war. Nach Entfernung des Geschirres wurde der grüne Tisch mitten in den Saal gestellt, und die Geschäfte des Abends von einem sehr lebhaften kleinen Mann mit Kahlkopf und lichtbraunen Kniehosen begonnen, der schnell und mit augenscheinlicher Gefahr, seine zwei in besagte lichtbraune Hosen eingeschlossene Beinchen zu verlieren, die Leiter hinaufkletterte und also sprach:

»Meine Herren und Damen, ich mache den Vorschlag, daß unser vortrefflicher Bruder, Herr Anthony Humm, den Präsidentenstuhl einnehme.«

Die Damen ließen auf diesen Vorschlag eine auserlesene Sammlung von Taschentüchern wehen, und der unruhige kleine Mann brachte Herrn Humm im buchstäblichen Sinne des Wortes auf den Präsidentenstuhl, indem er ihn an den Schultern nahm und in einen Mahagonisessel warf, der wenigstens früher einmal ein derartiges Möbel vorgestellt hatte.

Das Wehen der Taschentücher erneuerte sich: und Herr Humm, ein Mann mit glattem, aber blassem Gesichte, der beständig schwitzte, verbeugte sich holdselig zur großen Verwunderung der Damen, und nahm sofort mit würdevoller Feierlichkeit seinen Sitz ein. Der kleine Mann in den lichtbraunen Hosen gebot sofort Stillschweigen, worauf Herr Humm sich erhob und sagte, mit Erlaubnis seiner versammelten Brüder und Schwestern aus der Bricklane-Abteilung werde der Sekretär den Bericht des Bricklane- Abteilungs-Komitees vorlesen – eine Ankündigung, die abermals mit einer Demonstration vermittels der Taschentücher aufgenommen wurde. Nachdem sich sofort der Sekretär auf eine sehr eindrucksvolle Art geräuspert und der Husten, der eine Versammlung jedesmal befällt, wenn etwas von besonderer Wichtigkeit vorgenommen werden soll, in bester Form vorübergegangen war, las er folgendes Dokument vor:

Bericht des Komitees der Bricklane-Abteilung des vereinigten großen Ebenezer-Mäßigkeitsvereins.

»Ihr Komitee hat im verflossenen Monat seine dankbaren Arbeiten fortgesetzt, und kann mit unaussprechlichem Vergnügen folgende neue Bekehrungen zur Mäßigkeit mitteilen:

Herr Walker, Schneider, nebst seiner Frau und zwei Kindern. Er bekennt, in bessern Umständen täglich Ale und Bier getrunken zu haben, und weiß nicht mit Bestimmtheit anzugeben, ob er nicht seit zwanzig Jahren wöchentlich zweimal ›Hundsnase‹ genossen hat, ein Getränk, das den Nachforschungen unseres Komitees zufolge aus warmem Porter, Farinzucker, Wacholderbranntwein und Muskatnuß gebraut wird. (Stöhnen und ›das ist wahr‹ eines ältlichen Frauenzimmers.) Gegenwärtig ist er ohne Arbeit und ohne Geld; er glaubt, daran sei der Porter (Beifall) oder der Umstand schuld, daß er seine rechte Hand nicht mehr gebrauchen kann. Er ist zwar noch zweifelhaft darüber, hält es aber für sehr wahrscheinlich, daß, wenn er in seinem ganzen Leben nichts als Wasser getrunken hätte, sein Gesell ihn nicht mit einer verrosteten Nadel gestochen und dadurch sein Unglück herbeigeführt haben würde (stürmischer Beifall). Er hat jetzt nichts als kaltes Wasser zu trinken, und ist nicht mehr so durstig, wie zuvor (lauter Beifall).

»Betsy Martin, Witwe mit einem Kind und einem Auge. Sie wäscht für Taglohn, hat nie mehr als ein Auge gehabt, weiß aber, daß ihre Mutter starkes Doppelbier trank und würde sich nicht wundern, wenn dieser unglückliche Umstand davon herrührte (ungemeiner Beifall). Sie hält es für unmöglich, daß sie, wenn sie sich stets geistiger Getränke enthalten hätte, dadurch den Gebrauch ihres andern Auges auch erlangt haben würde (stürmischer Zuruf). Sie erhielt gewöhnlich wo sie wusch täglich achtzehn Pence, eine Maß Porter und ein Glas Branntwein, hat aber, seitdem sie Mitglied der Bricklane-Abteilung geworden, statt dessen immer drei Schillinge und sechs Pence verlangt.« (Die Mitteilung dieses höchst interessanten Falles wurde mit betäubendem Enthusiasmus aufgenommen.)

Henry Beller – war viele Jahre hindurch Toastausbringer bei den Diners mehrerer Vereine und hat in dieser Zeit eine Menge ausländischer Weine getrunken, mag auch zuweilen eine Flasche oder zwei mit nach Hause genommen haben, weiß dies zwar nicht ganz gewiß, ist aber überzeugt, daß er, wenn er es tat, sie auch ausgetrunken hat. Er fühlt sich sehr niedergeschlagen und melancholisch, hat oft Fieber, leidet an beständigem Durst und glaubt, das müsse von seinem früheren Weintrinken herkommen (Beifall). Ist gegenwärtig ohne Beschäftigung und rührt unter keinen Umständen mehr einen Tropfen fremden Wein an. (Schallender Beifall.)

»Thomas Burton – versorgt den Lordmajor, die Sheriffs und mehrere Mitglieder des Magistrats mit Katzenfleisch« (atemlose Aufmerksamkeit, als der Name dieses Gentleman genannt wird), »hat ein hölzernes Bein, findet es kostspielig, damit über das Pflaster zu gehen, pflegte sich alte, gebrauchte hölzerne Beine zu kaufen und jeden Abend ein Glas heißen Wacholderbranntwein mit Wasser zu trinken – manchmal auch zwei (tiefe Seufzer). Fand, daß die alten, schon gebrauchten hölzernen Beine sehr schnell zersplitterten und faulten, und ist fest überzeugt, daß ihre Konstitution durch den Wacholderbranntwein mit Wasser untergraben wurde (anhaltender Beifall). Kauft sich jetzt neue hölzerne Beine und trinkt nichts als Wasser und schwachen Tee. Die neuen Beine halten zweimal so lang wie die andern, und er schreibt dies einzig und allein seiner gegenwärtigen Mäßigkeit zu.« (Triumphierendes Beifallsgeschrei.)

Anthony Humm machte jetzt den Vorschlag, ein Lied zu singen. Mit besonderer Rücksicht auf ihre geistlich-sittlichen Genüsse habe Bruder Mordlin die schönen Worte:

»Wer kennt ihn nicht, den lust’gen Fährmann«

einer alten wohlbekannten Volksmelodie angepaßt, und er bitte nun, ihn bei diesem Liede zu begleiten (großer Beifall). Zugleich nahm er Gelegenheit, seine feste Überzeugung auszusprechen, daß der selige Herr Dibdin, nachdem er die Irrtümer seines früheren Lebens eingesehen, dieses Lied geschrieben habe, um die Vorteile der Enthaltsamkeit darzutun. »Es ist«, sagte er, »ein Mäßigkeitslied« (Wirbelwind von Beifall). »Der schmucke Anzug des interessanten jungen Mannes, die Gewandtheit seiner Bewegungen, der beneidenswerte Gemütszustand, kraft dessen er, um mit den schönen Worten des Dichters zu sprechen

»Dahingerudert aller Sorgen bar.«

»All das vereinigt sich mit dem Beweise, daß er ein Wassertrinker gewesen sein muß (Beifall). O welch ein Zustand tugendhafter Fröhlichkeit! (Entzückter Beifall.) Und was war der Lohn des jungen Mannes? Mögen alle anwesenden jungen Männer es sich merken:

»Die Mädchen hüpften alle in sein Boot«

(Lauter Beifall, in den die Damen einstimmen.) Welch ein glänzendes Exempel! Die Mädchen scharten sich um den jungen Wassermann und umgaben ihn auf dem Pfad der Pflicht und der Mäßigkeit. Aber waren es blos Mädchen niedrigen Standes, die ihn erfreuten, trösteten und aufrecht erhielten? O nein!

»Den schönsten Frauen der Stadt war er das erste Ruder«

(Unermeßlicher Beifall.) Das zarte Geschlecht« – hier bat er eine Dame um Verzeihung – »sammelte sich um den jungen Fährmann und wandte sich mit Verachtung ab von dem Trinker geistiger Flüssigkeiten. (Beifall). Die Brüder der Bricklane-Abteilung wären die Fährleute. (Beifall und Gelächter), Dieser Saal wäre ihr Boot! diese Zuhörerschaft wären die Mädchen, und er (Herr Anthony Humm) sei, wiewohl unwürdig, ›das erste Ruder‹«. (Grenzenloser Beifall).

»Was meint er mit dem zarten Geschlecht, Sammy«? fragte Herr Weller leise.

»Die Damen«, sagte Sam ebenso leise.

»Da braucht er sich nicht so anzustrengen, Sammy«, fuhr Herr Weller fort: »sie müssen freilich ein zartes Geschlecht sein, ja ein sehr zartes und gebrechliches Geschlecht, wenn sie sich von solchen Gaunern am Narrenseil herumführen lassen.«

Einige weitere Bemerkungen des entrüsteten alten Herrn wurden schnell durch den Anfang des Liedes unterbrochen, das Herr Anthony Humm, immer zwei Zeilen auf einmal, für diejenigen Hörer vorsagte, die mit dem Teil nicht bekannt waren. Während des Gesangs verschwand das kleine Männlein mit den lichtbraunen Hosen, kehrte aber, als das Lied zu Ende war, rasch zurück und flüsterte mit überaus wichtiger Miene Herrn Anthony Humm etwas ins Ohr.

»Meine Freunde und Freundinnen«, sprach Herr Humm, indem er bittend seine Hand emporhob, um diejenigen von den alten Damen, die noch um ein paar Zeilen zurück waren zum Schweigen zu bringen, »meine Freunde und Freundinnen, ein Abgesandter der Dorkingerabteilung unserer Gesellschaft, Bruder Stiggins, wartet unten.«

Die Taschentücher flogen aufs neue heraus und wehten stärker als je, denn Herr Stiggins war bei den weiblichen Mitgliedern von Bricklane außerordentlich beliebt.

»Er mag kommen, dächte ich«, sagte Herr Humm, mit einem plumpen Lächeln um sich blickend. »Bruder Tadger, führen Sie ihn herauf, uns zu begrüßen.«

Der kleine Mann mit den lichtbraunen Kniehosen, der auf den Namen Bruder Tadger hörte, huschte schleunigst die Leiter hinab, und bald darauf vernahm man ihn in Begleitung des ehrwürdigen Herrn Stiggins heraufkommen.

»Er kommt, Sammy«, flüsterte Herr Weller, der vor unterdrücktem Lachen purpurrot im ganzen Gesicht wurde.

»Sagt nichts zu mir«, erwiderte Sam, »denn ich kann mich sonst nicht halten. Er steht dicht an der Tür. Ich höre, wie er den Kopf an die Latten und an die Wand schlägt.«

Während Sam Weller noch sprach, flog die kleine Tür auf, und herein trat Bruder Tadger, gefolgt von dem ehrwürdigen Herrn Stiggins, dessen Anblick mit gewaltigem Händegeklatsch, Fußgetrampel und Taschentücherwehen begrüßt wurde. – Freudenbezeugungen, die Bruder Stiggins nur dadurch erwiderte, daß er mit wirren Augen und starrem Lächeln nach dem Licht auf dem Tische hinglotzte, wobei er höchst unstet und unsicher seinen Körper hin und her bewegte.

»Sind Sie unwohl, Bruder Stiggins?« flüsterte Herr Anthony Humm ihm zu.

»O, ich bin ganz in Ordnung, Sir«, erwiderte Herr Stiggins in trotzigem Ton, aber mit sehr schwerer Stimme; »ich bin ganz in Ordnung, Sir«.

»Ah, sehr wohl«, sagte Herr Anthony Humm, einige Schritte zurückweichend.

»Ich hoffe, daß hier niemand sich unterstehen wird, zu sagen, ich sei nicht ganz in Ordnung, Sir?« rief Herr Stiggins.

»O gewiß nicht«, sagte Herr Humm.

»Ich wollte es auch niemandem raten, Sir; ich wollte es niemandem raten«, lallte Herr Stiggins.

Inzwischen war die ganze Versammlung mäuschenstill geworden und sah mit Bangigkeit dem weiteren Verlauf der Dinge entgegen.

»Wollen Sie eine Rede an die Versammlung halten?« fragte Herr Humm mit einladendem Lächeln.

»Nein, Sir«, erwiderte Herr Stiggins; »nein, Sir; ich will nicht, Sir.«

Die Versammelten blickten einander mit großen Augen an, und ein Murmeln der Verwunderung lief durch den Saal.

»Meine Meinung, Sir, ist –« begann Herr Stiggins, indem er seinen Rock aufknöpfte, mit sehr lauter Stimme, »meine Meinung, Sir, ist – daß diese Versammlung betrunken ist, Sir. Bruder Tadger – Sir«, fuhr er fort, indem er immer wilder wurde und sich barsch gegen das kleine Männchen in den lichtbraunen Höslein umdrehte, » Sie sind betrunken, Sir.«

Da nun Herr Stiggins den löblichen Wunsch hegte, die Nüchternheit der Versammlung zu fördern und deshalb alle ungeeigneten Charaktere auszuschließen, schlug er nach Bruder Tadger und traf seine Nasenspitze mit solcher Sicherheit, daß die lichtbraunen Höslein wie ein Blitz verschwanden. Bruder Tadger war kopfüber die Leiter hinabgestürzt.

Jetzt erhoben die Frauenzimmer ein lautes Jammergeschrei, stellten sich in kleinen Abteilungen vor ihren Lieblingsbrüdern auf und schlangen die Arme um sie, um sie vor Gefahren zu schützen. Dieser Beweis von Zärtlichkeit wäre Herrn Humm beinahe schlecht bekommen, denn da er ungemein beliebt war, warfen sich ihm so viele fromme Schönen an den Hals und hingen sich so fest an ihn, daß er beinahe erstickt wäre. Der größere Teil der Lichter wurde ausgelöscht, und von allen Seiten hörte man nichts als Geschrei und wilden Lärm.

»Jetzt, Sammy«, sagte Herr Weller, mit großer Kaltblütigkeit seinen Überrock ausziehend, »jetzt geh hinaus und hole einen Polizisten.«

»Und was wollt Ihr einstweilen beginnen?« fragte Sam.

»Laß mich nur machen, Sammy«, erwiderte der alte Herr; »ich will inzwischen mit diesem Stiggins ein bißchen abrechnen.«

Und ehe noch Sam es verhindern konnte, war sein heroischer Vater in den entfernten Winkel des Saales gedrungen, wo er den ehrwürdigen Herrn Stiggins mit ungemeiner Handfertigkeit angriff.

»Kommt mit!« rief ihm Sam nach.

»Heran, du Halunke!« schrie Herr Weller seinem Gegner zu.

Und ohne weitere Aufforderung versetzte er dem ehrwürdigen Herrn Stiggins einen gewaltigen Faustschlag auf den Kopf und tanzte, während er ihn bearbeitete, so flink und lustig um ihr herum, wie man es von einem Herrn in seinem Alter nicht hätte erwarten sollen.

Da nun Sam alle seine Vorstellungen vergeblich fand, drückte er seinen Hut fest auf den Kopf, warf seines Vater Überrock über die Schultern, faßte den alten Mann fest um und zog ihn mit Gewalt die Leiter hinab und auf die Straße. Ja, er ließ ihn nicht eher los, und gönnte ihm keine Ruhe, bis sie die Ecke erreicht hatten. Von dort aus konnten sie das Geschrei der versammelten Volksmenge hören, die Zeuge der Abführung des ehrwürdigen Herrn Stiggins in ein wohlverwahrtes Nachtquartier war. Und sie konnten weiter den Lärm vernehmen, womit sich die Mitglieder der Bricklane- Abteilung des vereinigten großen Ebenezer-Mäßigkeitsvereins nach allen Richtungen zerstreuten.

  1. Camberwell, Verwaltungsbezirk Londons, in dem heute viele Deutsche wohnen, die dort eine eigene Kirche haben.
  2. Old Bailey heißt in volkstümlicher Sprache das Londoner Hauptkriminalgericht mitten in der City.

Zweiundfünfzigstes Kapitel


Zweiundfünfzigstes Kapitel

In dem Herr Pickwick einen alten Bekannten trifft

Der Morgen, der um acht Uhr über Herrn Pickwicks Angesicht anbrach, war keineswegs berechnet, seinen Mut zu heben oder die Niedergeschlagenheit, in die ihn der unvorhergesehene Erfolg seiner Gesandtschaft gesetzt hatte, zu vermindern. Der Himmel war düster und trübe, die Luft feucht und rauh, die Straßen naß und kotig. Der Rauch hing schwerfällig über den Schornsteinen, als gebräche es ihm an Mut, aufzusteigen; und der Regen fiel langsam und verdrossen herab, als hatte er keine rechte Lust, sich zu ergießen. Im Hof stand der Haushahn, ohne alle Funken seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit, verdrießlich auf einem Bein in einem Winkel. Der Esel träumte gesenkten Hauptes unter dem schmalen Dach des Holzschuppens, und seinem nachdenklichen, jammervollen Gesichte nach zu schließen, schien er auf Selbstmord zu sinnen. Auf der Straße sah man nichts als Regenschirme, und die einzigen Töne, die sich vernehmen ließen, waren das Schlürfen von Gummischuhen und das Plätschern der Regentropfen.

Das Frühstück wurde sehr wenig durch Unterhaltung unterbrochen; selbst Herr Bob Sawyer fühlte den Einfluß des Wetters und die Nachwehen vom gestrigen Tage. Er war, wie er in seiner höchst ausdrucksvollen Sprache erklärte, wie zu Boden geschlagen. Ebenso auch Herr Ben Allen und nicht anders Herr Pickwick.

In einer länger sich hinausziehenden Erwartung, daß das Wetter sich aufklären möchte, wurde das neueste Londoner Abendblatt mit einem Eifer und einem Interesse gelesen, wie sich dies nur in solchen Fällen äußerster Langeweile denken läßt; mit gleicher Beharrlichkeit wurde jeder Zoll des Bodens beim Auf- und Abwandeln ausgemessen. Endlich als der Mittag herankam, ohne daß das Wetter sich geändert hatte, zog Herr Pickwick entschlossen die Klingel und bestellte seinen Wagen.

Obgleich die Straßen schmutzig waren und der Sprühregen heftiger als bisher herabfiel, obgleich der Kot und die Feuchtigkeit durch die offenen Fenster des Wagens hereinspritzten, so daß die darinnen Sitzenden fast ebensosehr dadurch belästigt wurden wie die beiden Reisenden auf dem Rücksitze, so war man doch jedenfalls in der freien Luft. Das Gefühl, unterwegs zu sein und Bewegung zu haben, das so unendlich angenehmer ist, als die Eingeschlossenheit in eine trübe Stube, wo man nur den trüben Regen in eine trübe Straße träufeln sehen kann, ließ sie alle gestehen, daß sie durch den Tausch viel gewonnen hätten und eigentlich selbst nicht wüßten, wie sie dazu gekommen wären, solange mit dem Aufbruch zu zögern.

Als sie in Coventry anhielten, um die Pferde zu wechseln, stieg der Dampf in solchen Wolken von den Tieren auf, daß der Hausknecht ganz verdunkelt wurde. Aber man hörte ihn aus dem Nebel heraus erklären, er erwarte bei der nächsten Preisverteilung die erste goldene Medaille von dem Rettungsverein dafür, daß er dem Postillion seinen Hut abgenommen habe; denn von dem Rande desselben ströme eine solche Wassermasse herab, daß er, nämlich der Postillion, unfehlbar ertrunken sein würde, wenn er, nämlich der unsichtbare Hausknecht, ihm nicht kraft seiner großen Geistesgegenwart, den Hut schnell vom Kopfe gerissen und das Gesicht des schweratmenden Mannes mit einem Strohwisch abgetrocknet hätte.

»Eine erbauliche Fahrt«, sagte Bob Sawyer, als er seinen Rockkragen umschlug und sich den Schal über dem Munde zusammenzog, um die Düfte eines soeben verschluckten Glases Branntwein nachzukosten.

»Ja, sehr erbaulich«, erwiderte Sam mit Ruhe.

»Sie scheinen sich nicht viel daraus zu machen?« bemerkte Bob.

»Darum sehe ich nicht ein, was es mich nützen würde«, erwiderte Sam.

»Gegen diesen Grund läßt sich freilich nichts einwenden«, meinte Bob.

»Ganz gewiß nicht, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Was ist, ist recht, wie der junge Edelmann schmunzelnd bemerkte, als man ihn auf die Pensionsliste setzte, weil der Großvater der Frau von seiner Mutter Onkel einmal dem König mit einem Feuerzeug die Pfeife angesteckt hatte.«

»Nicht übel bemerkt«, sagte Herr Bob Sawyer beifällig.

»Eben das sagte der junge Edelmann auch nachher alle Tage viermal bis an sein seliges Ende«, erwiderte Herr Weller.

»Wurden Sie jemals«, fragte Sam nach einer kurzen Pause mit einem Blick auf den Kutscher, indem er seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern dämpfte; »wurden Sie jemals zu einem Postillion gerufen, solange Sie bei einem Knochensäger in der Lehre waren?«

»Ich erinnere mich nicht«, erwiderte Herr Bob Sawyer.

»Haben Sie auch nie einen Postillion in einem Spital gesehen, wenn Sie dort umgingen, wie man von den Geistern sagt?« fragte Sam.

»Nein«, erwiderte Bob Sawyer, »mit Wissen nicht.«

»Oder wissen Sie einen Kirchhof, wo der Leichenstein von einem Postillion ist, oder haben Sie schon einen toten Postillion gesehen?« fuhr Sam fort zu fragen.

»Nein«, sagte Bob.

»Also nicht?« erwiderte Sam triumphierend. »Nun, so werden Sie auch keinen zu sehen bekommen, und es gibt noch ein anderes Ding, das niemand sieht, nämlich einen toten Esel. – Niemand hat je einen toten Esel gesehen, außer der Gentleman in den schwarzen Kniehosen, der das junge Frauenzimmer kannte, das eine Ziege hielt und das war ein französischer Esel, also keiner von der gewöhnlichen Art.«

»Gut, was hat das aber mit den Postillionen zu schaffen?« sagte Bob Sawyer.

»Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte Sam. »Ich will nicht so weit gehen und, wie viele sehr gescheite Leute behaupten, daß die Postillione und Esel unsterblich seien. Aber das sage ich, wenn sie spüren, daß sie steif werden und nicht mehr arbeiten können, so machen sie sich, ein Postillon nach dem andern, auf dem gewöhnlichen Wege davon; was aus ihnen wird, weiß niemand; aber es ist sehr wahrscheinlich, daß sie sich entfernen, um ihr Vergnügen in der andern Welt zu suchen; denn kein lebendiger Mensch hat je gesehen, daß ein Postillion oder ein Esel sein Vergnügen in dieser gehabt hätte!«

Sam Weller breitete sich über diese gelehrte und merkwürdige Theorie noch weiter aus, führte zur Unterstützung derselben eine Menge merkwürdiger, statistischer und anderer Tatsachen an, und vertrieb sich damit die Zeit, bis sie nach Dunchurch kamen, wo für einen trockenen Postillion und frische Pferde gesorgt wurde. Die nächste Station war Daventry, die folgende Towcester, und am Ende jeder Station regnete es heftiger als am Anfang derselben.

»Ich sage nur«, bemerkte Bob Sawyer, zum Kutschenfenster hineinsehend, als sie vor dem Türkenkopf in Towcester anhielten, »ich sage nur, daß man so nicht weiterreisen kann.«

»Ja, wahrhaftig«, sagte Herr Pickwick, der eben aus einem Schläfchen erwachte; »ich fürchte, Sie sind durch und durch naß.«

»Ja, ganz unausstehlich«, erwiderte Bob: »und Sie ohne Zweifel auch ein wenig?«

Bob blickte verdrießlich drein, da ihm der Regen von seinem Nacken, von seinen Ellbogen, von den Ärmeln, den Rockschößen und Knien herabströmte: sein ganzer Anzug glänzte so von Feuchtigkeit, daß man ihn leicht hätte für Wachstuch halten können.

»Ja, ich bin naß«, sagte Bob, indem er sich schüttelte und einen Regenschauer aus sich trieb, »ich bin naß wie ein Pudel, den man ins Wasser geworfen hat.«

»Ich halte es für rein unmöglich, heute nacht weiter zu reisen«, fiel Ben ein.

»Ganz ohne Frage, Sir«, bemerkte Sam Weller, der sich gleichfalls zur Konferenz einstellte: »es ist Tierquälerei, Sir, wenn man Ihnen noch mehr zumuten will. Man bekommt hier Betten, Sir«, fügte er gegen seinen Herrn und Meister hinzu: »alles reinlich und behaglich. Ein recht gutes, kleines Mittagessen, Sir, und in einer halben Stunde schon fertig – ein paar Stücke Geflügel, Sir, und Kalbskoteletten, französische Bohnen, Pastetchen und Torten. Sie würden am besten tun, hier zu bleiben, Sir, wenn Sie mich etwas gelten lassen. Nehmen Sie Rat an, Sir, wie der Doktor sagte.«

Zum Glück erschien in diesem Augenblick der Wirt »Zum Türkenkopf«, bestätigte Herrn Wellers Bericht in betreff der Bequemlichkeiten seines Hotels und unterstützte seine Bitten mit allerhand trostlosen Vermutungen über den weiteren Zustand der Straßen, die Wahrscheinlichkeit, daß auf der nächsten Station keine frischen Pferde zu haben seien, die blanke Gewißheit, daß es die ganze Nacht hindurch regnen werde, die ebenso blanke Gewißheit, daß es sich am nächsten Morgen aufhelle, und andern bei den Wirten gebräuchlichen Beweisgründen.

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick: »aber ich muß durch irgendeine Gelegenheit einen Brief nach London absenden, so daß derselbe morgen in aller Frühe bestellt wird. Wenn das nicht möglich ist, so müssen wir unter allen Umständen weiterfahren.«

Der Wirt lächelte vergnügt. Nichts sei leichter, als einen Brief in einen Bogen Packpapier einzuwickeln und entweder mit der Post oder mit der Nachtdiligence von Birmingham weiterzubefördern. Wenn dem Herrn so außerordentlich viel an möglichst baldiger Besorgung desselben liege, so dürfe er ja nur auf die Adresse schreiben: »sogleich abzugeben«, was sicher beachtet würde; oder: »dem Überbringer für schleunige Besorgung eine halbe Krone extra«, was noch sicherer sei.

»Sehr gut«, sagte Herr Pickwick: »dann wollen wir also hierbleiben.«

»Lichter in die Sonne, John; mach das Feuer auf: die Herren sind naß. Hierher meine Herren: bekümmern Sie sich nicht mehr um den Postillion, Sir; ich werde ihn zu Ihnen senden, sobald Sie ihm läuten, Sir. Jetzt, John, die Kerzen.

Die Lichter wurden gebracht, das Feuer geschürt und ein frisches Scheit hineingeworfen. In zehn Minuten deckte ein Kellner den Tisch zum Mittagessen: der Vorhang wurde aufgezogen, das Feuer flackerte lustig, und alles sah (wie überhaupt immer in jedem anständigen englischen Gasthof) aus, als ob die Reisenden schon mehrere Tage vorher erwartet worden wären und ihre Bestellungen gemacht hätten.

Herr Pickwick saß an einem Seitentisch und schrieb schnell einen Brief an Herrn Winkle, worin er ihm einfach meldete, daß er durch das Unwetter zurückgehalten sei, aber unfehlbar am folgenden Tag sich in London einfinden werde; bis dahin wolle er den weiteren Bericht über seine Reise ausgesetzt sein lassen. Dieser Brief wurde schnell zusammengelegt und von Samuel Weller weiterbefördert.

Sam übergab ihn der Wirtin, und nachdem er sich selbst am Küchenfeuer getrocknet hatte, wollte er zurückkehren, um seinem Herrn die Stiefel auszuziehen, wobei er zufällig durch eine halboffene Tür hindurch einen rothaarigen Herrn erblickte, der einen großen Packen Zeitungen auf dem Tisch vor sich liegen hatte und den Leitartikel in einer von ihnen mit grimmigem Schmunzeln las, wobei seine Nase und sein ganzes Gesicht sich zu einem majestätischen Ausdruck hochmütiger Verachtung verzogen.

»Ho, ho!« sagte Sam, »den Kopf und dies Gesicht da sollt ich kennen; auch da« Augenglas und den breitkrempigen Deckel! Und ich will katholisch werden, wenn’s nicht in Eatanswill war.«

Sam wurde auf einmal von einem heftigen Husten befallen, um die Aufmerksamkeit des Herrn auf sich zu ziehen: der Herr fuhr zusammen, erhob seinen Kopf und sein Augenglas und enthüllte dem Blick die tiefen, gedankenvollen Züge des Herrn Pott, Redakteurs der Eatanswiller Zeitung.

»Bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Sam; »mein Herr ist hier, Herr Pott.«

»Pst, Pst!« rief Herr Pott, Sam ins Zimmer ziehend und die Tür verschließend, während sich geheimnisvolle Sorge und Beängstigung auf seinem Gesichte malte.

»Was gibt’s denn, Sir?« fragte Sam, indem er gleichmütig um sich blickte.

»Nennen Sie nur meinen Namen nicht«, erwiderte Pott – »es ist hier alles gelb. Wenn der aufgeregte und leicht erregbare Pöbel wüßte, daß ich hier bin, er würde mich in Stücke reißen.«

»Meinen Sie wirklich?« fragte Sam.

»Ja, ich würde das Opfer seiner Wut werden«, fuhr Pott fort, »Nun, junger Mann, was macht denn Ihr Herr?«

»Er ist auf der Reise nach London begriffen und übernachtet hier mit einigen Freunden.«

»Ist Herr Winkle dabei?« fragte Pott mit leichtem Stirnrunzeln.

»Nein, Sir«, antwortete Sam: »Herr Winkle bleibt jetzt zu Hause; er ist verheiratet.«

»Verheiratet?« rief Pott auffahrend.

Er schwieg einige Augenblicke, lächelte düster und setzte dann rachsüchtig hinzu: »Das geschieht ihm recht.«

Nachdem Herr Pott dieser grausamen Aufwallung seines tödlichen Hasses und kaltblütigen Triumphes über einen gefallenen Feind Luft gemacht, fragte er, ob Herrn Pickwicks Freunde blau seien: und als er von Sam, der soviel von der Sache wußte, wie Pott selbst, eine befriedigende bejahende Antwort erhalten hatte, entschloß er sich, ihn auf Herrn Pickwicks Zimmer zu begleiten, wo ein herzlicher Empfang seiner wartete, und sogleich die Übereinkunft getroffen wurde, daß sie alle zusammen speisen wollten.

»Und wie steht’s denn in Eatanswill?« fragte Herr Pickwick, als Herr Pott einen Stuhl ans Feuer gerückt, und die ganze Gesellschaft die nassen Stiefel ausgezogen und trockene Pantoffel angezogen hatte. »Existiert der Unabhängige noch?«

»Der Unabhängige, Sir«, erwiderte Pott, »schleppt noch immer sein elendes, erlöschendes Dasein hin, verabscheut und verachtet selbst von den wenigen, denen seine schmachvolle, erbärmliche Existenz bekannt ist, erstickt in demselben Schmutz, mit dem er so reichlich um sich wirft. Taub und blind gemacht durch die Ausdünstungen seines eigenen Unrats, versinkt dieses garstige Journal, das sich glücklicherweise seiner Gesunkenheit nicht einmal bewußt ist, rasch in dem verräterischen Schlamme, der, obgleich er ihm bei den niedrigen und verdorbenen Klassen der Gesellschaft einen festen Standpunkt zu geben scheint, dennoch über sein verruchtes Haupt hinauswächst und es bald auf ewig verschlingen wird.«

Nachdem der Redakteur dieses Manifest, das einen Teil eines seiner Leitartikel von der letzten Woche bildete, mit heftiger Betonung von sich gegeben, schwieg er, um Atem zu schöpfen, und blickte Bob Sawyer majestätisch an.

»Sie sind ein junger Mann, Sir«, sagte Pott.

Herr Bob Sawyer nickte.

»Und Sie auch, Sir«, fuhr Pott gegen Herrn Ben Allen fort,

Ben ließ sich diese freundliche Annahme gefallen.

»Und sind Sie auch beide tief durchdrungen von diesen blauen Grundsätzen, zu deren Aufrechthaltung und Verfechtung ich mich, solange ich lebe, gegen die Bevölkerung dieser Königreiche anheischig gemacht habe?« sprach Pott weiter.

»O freilich«, erwiderte Bob Sawyer: »ich verstehe nur die Sache nicht recht, ich bin –«

»Doch nicht gelb, Herr Pickwick?« unterbrach ihn Pott, mit seinem Stuhl zurückweichend. »Ihr Freund ist doch nicht gelb, Sir?«

»Nein, nein«, versetzte Bob; »ich bin in diesem Augenblick gewürfelt, ein Gemisch von allen Farbensorten.«

»Also ein Schwankender«, entgegnete Pott feierlich; ein Schwankender. Ich möchte Ihnen nur eine Reihe von acht Artikeln vorlegen, Sir, die in der Eatanswiller Zeitung erschienen sind. Ich glaube, behaupten zu dürfen, daß Sie dann bald Ihre Ansichten auf eine feste und solide Basis gründen würden, Sir.«

»Und ich«, antwortete Bob, »glaube behaupten zu dürfen, daß ich sehr blau würde, noch lange ehe ich sie ganz gelesen hätte.«

Herr Pott blickte Bob Sawyer noch einige Sekunden lang zweifelhaft an, wandte sich sofort zu Herrn Pickwick und sagte:

»Sie haben doch die literarischen Artikel gelesen, die im Laufe der letzten drei Monate in der Eatanswiller Zeitung erschienen sind und eine so allgemeine – ich kann wohl sagen, so universale Aufmerksamkeit und Bewunderung erregt haben?«

»Ich muß gestehen«, erwiderte Herr Pickwick, durch die Frage einigermaßen verlegen, »ich muß gestehen, ich war anderweitig so beschäftigt, daß ich wirklich keine Zeit hatte, sie zu lesen.«

»Sie sollten so etwas nicht unterlassen, Sir«, sagte Pott mit strengem Gesichte.

»Ja, Sie haben recht«, meinte Herr Pickwick.

»Sie sind in der Form einer ausführlichen Kritik eines Werks über die chinesische Metaphystik erschienen«, fuhr Pott fort.

»Ah, so?« bemerkte Herr Pickwick – »und hoffentlich aus Ihrer Feder?«

»Aus der meines Rezensenten, Sir«, antwortete Pott mit Würde.

»Und wahrscheinlich sehr gelehrt abgefaßt?« – fragte Herr Pickwick.

»Ja, ungeheuer«, antwortete Pott, unendlich weise um sich blickend. »Er ochste aber auch gehörig, um mich eines technischen, aber ausdrucksvollen Terminus zu bedienen; er las zu diesem Behuf auf mein Verlangen in der Enzyclopaedia britannica21

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick. »Ich wußte nicht, daß dieses schätzbare Werk auch Nachweise über die chinesische Metaphysik enthält.«

»Ja, Sir«, erklärte Pott, indem er seine Hand auf Herrn Pickwicks Knie legte und mit einem Lächeln geistiger Überlegenheit um sich blickte: »er las über die Metaphysik unter dem Buchstaben M und über China unter dem Buchstaben C, und produzierte so daraus einen eigenen neuen Artikel.«

Herrn Potts Züge nahmen bei dieser Erinnerung der in besagten gelehrten Ergießungen entwickelten Geistesschärfe und Kenntnissen etwas so Großartiges an, daß einige Minuten verstrichen, bevor Herr Pickwick sich kühn genug fühlte, das Gespräch fortzusetzen. Endlich, als das Gesicht des Redakteurs allmählich wieder in seinen gewöhnlichen Ausdruck moralischer Überlegenheit zurückfiel, wagte er es, die Unterhaltung durch die Frage wieder anzuknüpfen:

»Dürfte ich wohl erfahren, welcher große Zweck Sie so weit von Haus fort und hierher geführt hat?«

»Derselbe Zweck, der mich bei allen meinen riesigen Arbeiten antreibt und beseelt«, erwiderte Pott mit einem ruhigen Lächeln – »das Wohl meines Vaterlandes.«

»Ich dachte, es sei irgendeine öffentliche Mission«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ja, Sir, das ist es«, erwiderte Pott.

Hier beugte er sich zu Herrn Pickwick und flüsterte ihm mit tiefer hohler Stimme zu:

»Die Gelben haben morgen abend in Birmingham einen Ball.«

»Wie interessant!« rief Herr Pickwick.

»Ja, Sir, und ein Abendessen«, fügte Pott hinzu.

»Was Sie sagen!« rief Herr Pickwick.

Pott nickte mit unheilverkündender Miene.

Obgleich sich nun Herr Pickwick stellte, als wäre er durch diese Eröffnungen sehr überrascht, so war er doch mit der Lokalpolitik so wenig vertraut, daß er sich schlechterdings keinen angemessenen Begriff von der Wichtigkeit der schrecklichen Verschwörung machen konnte, auf die hier angespielt wurde. Herr Pott bemerkte dies auch, zog die letzte Nummer der Eatanswiller Zeitung aus der Tasche und las zur näheren Aufklärung seines Freundes folgenden Artikel vor:

Höhlen- und Winkelgelbtum.

Ein Ungeziefer, ein böser, schädlicher Wurm von Kollegen hat neulich sein schwarzes Gift ausgespien, in dem eitlen hoffnungslosen Versuch, den schönen Namen unseres ausgezeichneten und vortrefflichen Abgeordneten, des ehrenwerten Herrn Slumkey zu beflecken – desselben Slumkey, von dem wir lange, bevor er seine gegenwärtige edle und erhabene Stellung gewonnen, vorausgesagt, er werde werden, was er jetzt ist, die glänzendste Ehre seines Landes, sein höchster Ruhm, sein kühnster Verteidiger und seine herrlichste Zierde – unser ungezieferartig denkender Kollege, sagen wir, hat sich lustig gemacht über ein plattiertes, herrlich gearbeitetes Kohlengefäß, das diesem glorreichen Manne von seinen entzückten Wählern überreicht worden ist. Zu dessen Ankauf hat, wie der namenlose Wicht lästert, der ehrenwerte Herr Slumkey selbst durch einen vertrauten Freund seines Tafeldeckers mehr als dreiviertel der ganzen Summe beigesteuert. Wie! sieht denn dieses kriechende Geschmeiß nicht, daß selbst, wenn solches wahr wäre, der ehrenwerte Herr Slumkey uns in einem um so freundlicheren und strahlenderen Lichte als vorher erscheinen würde, wofern das überhaupt noch möglich wäre! Sicht sein Stumpfsinn nicht einmal soviel ein, daß dieser liebenswürdige, rührende Wunsch, dem Sehnen seiner Wähler entgegenzukommen, ihn den Herzen und Seelen derer unter seinen Mitbürgern nur noch teurer machen muß, die nicht verächtlicher sind als Schweine, oder mit andern Worten, die nicht ebenso niederträchtig sind als unser Kollege selbst? Aber das sind die elenden betrügerischen Kunstgriffe des Höhlen- und Winkelgelbtums! Indessen beschränkt es sich nicht darauf, Verrat ist das Losungswort. Wir verkünden es kühn, jetzt da wir zu dieser Erklärung genötigt sind und uns unter den Schutz des ganzen Landes und seiner Magistrate stellen dürfen: – wir verkünden es kühn, daß in diesem Augenblick geheime Vorbereitungen getroffen werden zu einem Balle der Gelben, der in einer gelben Stadt mitten im Herzen und Zentrum einer gelben Bevölkerung gehalten, von einem gelben Zeremonienmeister geleitet, von vier ultragelben Parlamentsmitgliedern besucht werden soll, und wozu man den Zutritt nur vermöge gelber Einlaßkarten erlangen kann. Unser feindlicher Kollege wird wohl ein Pfauenrad vor Stolz schlagen. Aber er winde sich in ohnmächtigem Grimm, wenn wir die Worte niederschreiben: » W ir werden auch dabei sein

»Sehen Sie, Sir«, sagte Pott, ganz erschöpft das Blatt zusammenlegend, »so stehen die Sachen.«

In diesem Augenblick traten der Wirt und der Kellner mit den Anfängen des Mittagsmahles herein, und nötigten Herrn Pott, den Finger auf seine Lippen zu legen, zum Zeichen, daß er sein Leben in Herrn Pickwicks Hände gelegt, und daß dasselbe von seiner Schweigsamkeit abhänge. Die Herren Bob Sawyer und Benjamin Allen, die während der Vorlesung des Artikels in der Eatanswiller Zeitung und der darauf folgenden Erörterung unehrerbietigerweise eingeschlafen waren, wurden durch das bloße Geflüster des talismanischen Wortes »Mittagessen« aufgeweckt und machten sich sofort an die Mahlzeit mit einem Appetit, der absonderlich gute Gesundheit und Verdauungskräfte erfordert.

Im Verlaufe des Mittagsmahles und der darauffolgenden Sitzung erklärte Herr Pott, der sich auf einige Augenblicke zu häuslichen Gegenständen herabließ, seinem Freunde, Herrn Pickwick, die Luft in Eatanswill sei seiner Gemahlin nicht gut bekommen, und deswegen mache sie eine Reise in die verschiedenen Luxusbäder, um ihre gewohnte Gesundheit und Munterkeit wieder zu erhalten. Im Grunde aber waren die Mitteilungen des Herrn Pott eine höchst zarte Verhüllung der Tatsache, daß Frau Pott ihre oft wiederholte Scheidungsdrohung endlich ausgeführt, und ihr Bruder, der Leutnant, mit ihrem Manne eine Übereinkunft abgeschlossen hatte, kraft deren sie sich nebst ihrer getreuen Leibwache von ihrem Manne trennte und die Hälfte seines jährlichen Einkommens und Gewinns von seiner Redaktion sowie von dem Verlage der Eatanswiller Zeitung erhielt.

Während der große Herr Pott bei diesen und ähnlichen Gegenständen verweilte und die Unterhaltung von Zeit zu Zeit mit verschiedenen Auszügen aus den Resultaten seiner nächtlichen Studien belebte, fragte ein griesgrämiger Passagier vom Fenster einer von London herkommenden Postkutsche her, die hier anhielt, um Pakete abzugeben, ob er für den Fall, daß er übernachten wolle, die nötigen Bequemlichkeiten, nämlich Bett und Zimmer, bekommen könne.

»Gewiß, Sir«, erwiderte der Wirt.

»Also wirklich?« fragte der Fremde, der aus Gewohnheit in Blick und Manieren argwöhnisch zu sein schien.

»Sie können sich darauf verlassen, Sir«, erklärte der Wirt.

»Gut«, sagte der Fremde. »Postillion, ich bleibe hier. Schaffner, meinen Koffer.«

Er wünschte den andern Passagieren auf eine etwas schnippische Weise gute Nacht und stieg aus. Der Fremdling war untersetzter Statur, hatte ein sehr straffes schwarzes Haar, das nach Stachelschweins- oder Stiefelbürstenart zugeschnitten war und auf seinem ganzen Kopfe, steif sich sträubend, emporstand. Seine Erscheinung war pomphaft und drohend, seine Manieren gebieterisch, seine Augen scharf und unruhig, und sein ganzes Wesen verkündete große Zuversichtlichkeit sowie das Bewußtsein unermeßlicher Überlegenheit über alle Menschenkinder.

Dieser Gentleman wurde in das Zimmer gewiesen, das ursprünglich für den patriotischen Herrn Pott bestimmt war. Der Kellner bemerkte, als er kaum die Lichter angezündet hatte, in dumpfem Erstaunen über das sonderbare Zusammentreffen, daß der Gentleman in seinen Hut griff, eine Zeitung hervorzog und mit demselben Ausdruck unwilliger Verachtung, die eine Stunde zuvor auf Potts majestätischen Zügen dessen ganze Geisteskraft darauf markiert hatte, zu lesen begann. Er bemerkte auch, daß, während Herrn Potts Verachtung durch eine Zeitung, betitelt: »Eatanswiller Unabhängiger«, rege gemacht worden war, der zermalmende Hohn dieses Gentlemans durch ein Prefseblatt erweckt wurde, das die »Eatanswiller Zeitung« hieß.

»Holen Sie den Wirt!« sagte der Fremde.

»Sehr wohl, Sir«, versetzte der Kellner.

Der Wirt wurde gerufen und erschien.

»Sind Sie der Wirt?« fragte der Gentleman.

»Aufzuwarten, Sir«, versetzte der Wirt.

»Kennen Sie mich?« fragte der Gentleman.

»Habe nicht das Vergnügen, Sir«, erklärte der Wirt.

»Mein Name ist Slurk«, sagte der Gentleman.

Der Wirt neigte den Kopf ein wenig.

»Slurk, Sir«, wiederholte der Gentleman hochmütig. »Kennen Sie mich jetzt. Mann?«

Der Wirt zog sich ein paar Schritte nach der Tür zurück, und sah dann den Fremdling an und lächelte gezwungen.

»Kennen Sie mich. Mann?« forschte der Fremdling zornig.

Der Wirt strengte sich gewaltig an und erwiderte endlich:

»Nein, Sir, ich kenne Sie nicht.«

»Guter Gott«, sagte der Fremde, die geballte Faust auf den Tisch schlagend, »und das ist Popularität!«

Der Wirt zog sich ein paar Schritte nach der Tür zurück, und der Fremde fuhr, seine Augen auf ihn heftend, also fort –

»Das also – das ist der Dank für jahrelange Bemühungen und Arbeiten zugunsten der Masse. Ich steige durchnäßt und müde aus. Keine enthusiastische Menge drängt sich vorwärts, um ihren Kämpen zu begrüßen. Die Glocken der Kirchen sind stumm; selbst der Name lockt kein entsprechendes Gefühl in solch kaltem Herzen hervor. Es ist genug«, setzte Herr Slurk hinzu, indem er in großer Aufregung auf und ab ging: »man sollte die Tinte in der Feder vertrocknen lassen und ihre Sache für immer aufgeben.«

»Haben Sie Branntwein und Wasser befohlen, Sir?« sagte der Wirt, ein Wort wagend.

»Num«, erwiderte Herr Slurk, sich trotzig gegen ihn, umwendend. »Haben Sie irgendwo Feuer?«

»Man kann sogleich eines anzünden«, sagte der Wirt.

»Das aber erst Wärme geben wird, wenn es Zeit ist, ins Bett zu gehen«, unterbrach ihn Herr Slurk. »Ist jemand in der Küche?«

»Keine Seele.«

Es war ein schönes Feuer dort; die Leute waren alle gegangen und die Tür für die Nacht geschlossen.

»Ich will«, sagte Herr Slurk, »meinen Grog am Küchenfeuer trinken.«

Somit nahm er seinen Hut und die Zeitung, folgte feierlich dem Wirte nach diesem niederen Gelasse, warf sich auf eine Bank am Herde, nahm sein höhnisches Gesicht wieder an und begann in stiller Würde zu lesen und zu trinken.

Nun flog in diesem Augenblick ein Dämon der Zwietracht über seinen Pfeifenkopf. Dieser Dämon ließ aus bloßer eitler Neugierde seine Augen umherschweifen, erblickte zufällig den behaglich am Küchenfeuer gelagerten Slurk und Herrn Pott, der etwas vom Weine erhitzt in einem andern Zimmer saß. Darauf schoß dieser bösartige Geist mit unbegreiflicher Schnelligkeit in das letzerwähnte Gemach herab, fuhr plötzlich dem Herrn Bob Sawyer in den Kopf und stiftete ihn an, zu seinen (nämlich des Dämons) schlimmen Zwecken folgendermaßen zu sprechen:

»Wir haben das Feuer ausgehen lassen. Nach dem Regen ist es unangenehm kalt hier.«

»Ja, das ist wahr«, versetzte Herr Pickwick schauernd.

»Es wäre meine ich, kein schlechter Einfall, am Küchenfeuer eine Zigarre zu rauchen«, fuhr Bob Sawyer fort, in dem vorgenannter Dämon immer stärker wirkte.

»Ich denke auch, es müßte ganz behaglich sein«, versetzte Herr Pickwick. »Was sagen Sie dazu Herr Pott?«

Herr Pott nickte bereitwillig Beifall, und sämtliche vier Reisende begaben sich, jeder mit seinem Glas in der Hand, nach der Küche, während Sam Weller die Prozession anführte, um den Weg zu zeigen.

Der Fremdling las noch immer; er sah auf und schrak zusammen. Herr Pott schrak ebenfalls zurück.

»Was gibt’s?« flüsterte Herr Pickwick.

»Dieses Ungeziefer da!« erwiderte Pott.

»Was für ein Ungeziefer?« fragte Herr Pickwick um sich blickend, aus Furcht, er möchte auf irgendeinen alten Käfer oder eine wassersüchtige Spinne treten.

»Dort, das Ungeziefer«, flüsterte Pott, Herrn Pickwick am Arme fassend und nach dem Fremden deutend. »Das Ungeziefer da – Slurk vom Unabhängigen.«

»Wir würden vielleicht besser tun, uns zurückzuziehen«, flüsterte Herr Pickwick.

»Niemals, Sir!« erwiderte Pott, der sich Mut angetrunken hatte: »niemals!«

Mit diesen Worten nahm er seinen Sitz auf einer entgegengesetzten Bank, zog sich aus einem kleinen Packen Zeitungen eine heraus und begann, seinem Feind gegenüber, zu lesen.

Herr Pott las natürlich den Unabhängigen, Herr Slurk ebenso natürlich die Eatanswiller Zeitung, und jeder der Herren drückte sehr vernehmlich seine Verachtung des jeweiligen fremden Zeitungsinhalts durch bitteres Lächeln und sarkastische Grimassen aus. Bald schritten sie zu noch offeneren Meinungsäußerungen, wie zum Beispiel »abgeschmackt« – »erbärmlich« – »schauderhaft« – »Aufschneiderei« – »Spitzbüberei« – »Kot« – »Mist« – »Schleim« – »Sumpfwasser« und andere kritische Bemerkungen dieser Gattung.

Herr Sawyer sowohl als Herr Ben Allen hatten die Symptome der Eifersucht und des Hasses mit einem Grad von Vergnügen betrachtet, der den Zigarren, die sie recht kräftig rauchten, einen höchst angenehmen Beigeschmack gab. In dem Augenblick, als die zwei Gegner zu ermatten begannen, wandte sich der boshafte Herr Bob Sawyer mit großer Höflichkeit an Slurk und sagte zu ihm:

»Würden Sie mir vielleicht erlauben. Ihr Blatt ein wenig anzusehen, Sir – wenn Sie es nämlich nicht mehr brauchen?«

»Sie werden in dem elenden Dinge da sehr wenig finden, was Sie für Ihre Mühe belohnt«, versetzte Slurk mit einem satanischen Stirnrunzeln gegen Pott.

»Sie können sogleich dieses da haben«, sagte Pott, indem er blaß vor Wut aufschaute und aus demselben Grunde seine Stimme zitterte. »Ha, ha! Die Frechheit dieses Kerls wird Ihnen gewiß Spaß machen.«

Ein schrecklicher Nachdruck war auf die Worte »Ding« und »Kerl« gelegt, und die Gesichter der beiden Zeitungsschreiber begannen vor herausforderndem Trotze zu glühen.

»Die Gemeinheit dieses elenden Menschen ist widerlich und ekelhaft«, sagte Pott, indem er sich an Bob Sawyer wandte, dabei aber Slurk einen giftigen Blick zuwarf.

Hier lachte Slurk recht herzlich, legte die Zeitung so, daß er bequem eine frische Spalte bekam und sagte, der Tölpel ergötze ihn wirklich.

»Wie der Kerl so unverschämt und dabei so dumm ist!« rief Pott, dessen Gesichtsfarbe vom Blaßroten ins Karmoisin überging.

»Haben Sie jemals etwas von den Albernheiten dieses Menschen gelesen, Sir?« fragte Slurk Herrn Bob Sawyer.

»Nie«, erwiderte Bob: »ist es sehr schlecht?«

»O abscheulich! über alle Maßen!« versetzte Slurk.

»Wahrhaftig, das ist zu schauderhaft!« rief Pott, der sich immer noch stellte, als wäre er in seine Lektüre vertieft.

»Wenn es Ihnen möglich ist, durch ein paar Sätze voll Bosheit, Niedertracht, Falschheit, Meineid, Verräterei und Betrügerei zu waten«, sagte Slurk, indem er das Blatt Herrn Bob übergab, »so werden Sie sich vielleicht dadurch belohnt finden, daß Ihnen der Stil dieses ungrammatikalischen Schwätzers ein Lachen abnötigt.«

»Was haben Sie gesagt, Sir?« fragte Pott aufblickend und am ganzen Leibe vor Wut zitternd.

»Was geht es Sie an, Sir?« erwiderte Slurk.

»Ungrammatikalischer Schwätzer, nicht wahr, Sir?« sagte Pott.

»Ja, Sir, so sagte ich, und blaues Rindvieh, Sir, wenn Sie das lieber hören.«

Herr Pott erwiderte auf diese schmerzhafte Beleidigung kein Wort, sondern faltete wohlbedächtig seine Nummer vom Unabhängigen auseinander, legte sie sorgfältig flach auf den Boden, trat sie unter seine Füße, spie mit vieler Feierlichkeit darauf und warf sie dann ins Feuer.

»Sehen Sie, Sir«, sagte Pott, indem er vom Kamin zurücktrat; »ebenso würde ich auch die Viper behandeln, die dieses Gift erzeugt, würde ich nicht zu ihrem Glück durch die Gesetze des Landes daran gehindert.«

»Tun Sie es nur, Sir«, rief Slurk aufspringend: »Man wird diese Gesetze in einer solchen Sache niemals zu Hilfe rufen. Versuchen Sie es einmal, Sir.«

»Hört, hört!« sagte Bob Sawyer.

»Etwas Schöneres ist mir noch nie vorgekommen«, bemerkte Ben Allen.

»Tun Sie es nur, Sir«, wiederholte Slurk mit lauter Stimme.

Herr Pott warf ihm einen verachtungsvollen Blick zu, der einen Anker hätte zermalmen können.

»Tun Sie es nur, Sir«, wiederholte Slurk noch lauter als vorher.

»Ich will nicht, Sir«, versetzte Pott.

»So, so! Sie wollen also nicht?« sagte Herr Slurk in höhnendem Tone. »Sie hören es, meine Herren! Er will nicht: nicht als ob er sich fürchtete; o ganz und gar nicht: aber er will nun einmal nicht: ha ha ha!«

»Ich betrachte Sie, Sir«, sagte Herr Pott, durch diesen Sarkasmus aufgebracht: »ich betrachte Sie als eine Viper. Ich halte Sie für einen Menschen, der sich durch sein höchst freches, schandbares und abscheuliches öffentliches Benehmen außer den Bereich der Gesellschaft gestellt hat. In meinen Augen, Sir, sind Sie sowohl von Ihrem persönlichen, wie von Ihrem politischen Standpunkt aus, weiter gar nichts, als eine nichtswürdige Viper, vor deren giftiger Bosheit man sich hüten muß.«

Der entrüstete Unabhängige wartete das Ende dieser persönlichen Anklage nicht ab, sondern nahm seinen wohlgefüllten Koffer, schwang ihn, als Pott sich eben abwandte, in der Luft, und ließ ihn gerade mit der Ecke, wo zufällig eine tüchtige, dicke Haarbürste eingepackt lag, auf den Kopf seines Gegners fallen, so daß dieser augenblicklich zu Boden stürzte, und man das Gekrach in der ganzen Küche hörte.

»Meine Herren!« rief Herr Pickwick, als Pott wieder aufsprang

und sich der Kohlenschaufel bemächtigte; »meine Herren, bedenken Sie doch ums Himmels willen – Hilfe – Sam! he da! – ich bitte, meine Herren, lassen Sie es doch nicht so weit kommen.«

Also rief er erregt und stürzte zwischen die wütenden Kämpfer, gerade im rechten Augenblick, um auf die eine Seite seines Körpers den Koffer und auf die andere die Kohlenschaufel zu bekommen. Ob nun die Repräsentanten der öffentlichen Meinung von Eatanswill durch Leidenschaft gänzlich geblendet waren, oder ob sie als kluge, scharfsinnige Köpfe sogleich den Vorteil einsahen, einen Dritten, der die Streiche auffange, zwischen sich zu haben – so viel ist gewiß, daß sie nicht die mindeste Notiz von Herrn Pickwick nahmen, sondern einander mit viel Mut Trotz boten und Koffer wie Kohlenschaufel aufs furchtbarste handhabten. Herr Pickwick hätte sein menschenfreundliches Dazwischentreten ohne Zweifel schwer zu büßen gehabt, wäre nicht Herr Weller auf das Geschrei seines Herrn im Augenblick hereingestürzt, und hätte dieser nicht dem Kampfe dadurch ein Ende gemacht, daß er einen Mehlsack ergriff, denselben dem mächtigen Pott über Kopf und Schultern herabzog und ihn auf diese Art bis an die Ellenbogen festhielt.

»Nehmen Sie dem andern Tollhäusler den Koffer weg«, sagte Sam zu Ben Allen und Bob Sawyer, die indessen ganz vergnügt müßig zugeschaut und nur eine Lanzette mit schildpattenem Heft in die Hand genommen hatten, um dem ersten, der ohnmächtig würde, zur Ader zu lassen. »Wollen Sie aufhören, Sie elendes, kleines Bürschchen, oder ich drücke Sie zusammen.«

Eingeschüchtert durch diese Drohung und ganz atemlos ließ sich der Unabhängige entwaffnen, worauf Herr Weller den erstickenden Sack von Pott wegnahm und ihn vorsichtig wieder in Freiheit setzte.

»Jetzt gehen Sie beide ruhig ins Bett«, sagte Sam, »oder ich stecke Sie miteinander in den Sack und lasse Sie die Sache mit zugebundener Öffnung ausfechten. Meinetwegen dürfte es ein ganzes Dutzend solcher Leute sein: ich würde mich nicht vor ihnen genieren. Und Sie, haben Sie die Güte, gefälligst hierher zu kommen, Sir.«

Mit diesen Worten nahm Sam seinen Herrn beim Arme und führte ihn fort, während die nebenbuhlerischen Journalisten von dem Wirt unter Aufsicht des Herrn Bob Sawyer und des Herrn Benjamin Allen nach verschiedenen Seiten hin in ihre Schlafzimmer gebracht wurden, wobei sie noch manche blutdürstige Drohungen ausstießen und vage Bestellungen auf einen tödlichen Zweikampf für den nächsten Tag machten. Bei weiterer Überlegung fiel es ihnen jedoch ein, daß sie ihren Kampf weit besser mit Druckerschwärze auskämpfen könnten: sie erneuerten daher ohne Verzug ihre Feindseligkeiten auf Tod und Leben und ganz Eatanswill staunte ob ihrer Kühnheit – auf dem Papier.

Sie waren am andern Morgen in der Frühe, jeder in einer besonderen Kutsche, abgereist, ehe die übrigen Passagiere sich regten, und da das Wetter sich nun wirklich aufgeklärt hatte, so wandte die Pickwicksche Reisegesellschaft aufs neue ihre Front der Stadt London zu.

 

  1. Das altberühmte große Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens und noch heute in England populärste Konversationslexikon.

Dreiundfünfzigstes Kapitel.


Dreiundfünfzigstes Kapitel.

Erzählt von einer wichtigen Veränderung in der Familie Weller und von dem frühzeitigen Sturze des rotnasigen Herrn Stiggins.

Herrn Pickwick erlaubte sein Zartgefühl nicht, Bob Sawyer oder Ben Allen dem jungen Paare vorzustellen, bevor er dasselbe gehörig zu ihrem Empfang vorbereitet hätte, und da er Arabellas Gefühle möglichst zu schonen wünschte, so machte er den Vorschlag, er und Sam sollten in der Nähe vom Georg und Geier absteigen, die beiden jungen Männer aber vor der Hand irgendwo anders ihre Quartiere nehmen. Dieser Vorschlag wurde bereitwillig angenommen und ausgeführt. Herr Ben Allen und Herr Bob Sawyer begaben sich in ein abgelegenes Bierhaus am äußersten Ende des Borough, wo ihre Namen schon früher sehr häufig an der Spitze langer und verwickelter Rechnungen, mit weißer Kreide geschrieben, hinter dem Schanktisch an der Tür zu lesen gewesen waren.

»Welche Überraschung, der Herr Weller!« rief das hübsche Hausmädchen, als ihr Sam an der Tür begegnete.

»Ja, das ist es auch, liebes Kind«, erwiderte Sam, etwas zurückbleibend, um seinen Herrn aus der Gehörweite kommen zu lassen. »Was für ein süßes, angenehmes Geschöpf Sie sind, Marie.«

»Aber, aber, Herr Weller; was schwatzen Sie doch für Unsinn«, sagte Marie. »Lassen Sie das, Herr Weller.«

»Was soll ich lassen, mein liebes Kind?« sagte Sam.

»Nun, eben das«, erwiderte das hübsche Hausmädchen. »Gehen Sie Ihres Weges.«

Mit dieser Mahnung stieß das hübsche Hausmädchen Sam lächelnd an die Wand und erklärte ihm, er habe ihr ihre Haube zerdrückt und ihr Haar ganz in Unordnung gebracht.

»Auch haben Sie mich gehindert, zu sagen, was ich wollte«, fügte sie hinzu. »Es liegt schon seit vier Tagen ein Brief für Sie da; Sie waren kaum eine halbe Stunde fort, als er kam, und auf der Adresse steht: ›Höchst eilig‹.«

»Wo ist er denn, meine Liebe?« fragte Sam.

»Ich habe ihn zu mir gesteckt, sonst wäre er ganz gewiß schon lange verlorengegangen«, erwiderte Marie. »Da ist er: es ist mehr, als Sie verdient haben.«

Mit diesen Worten und nach vielen artigen, kleinen, koketten Zweifeln, Befürchtungen und Wünschen, sie werde ihn doch nicht verloren haben, zog Marie den Brief hinter dem hübschesten und feinsten Musselinbusenstreif, den man sich denken kann, hervor und überreichte ihn Sam, der ihn mit ebenso vieler Galanterie als Innigkeit küßte.

»Ach, du meine Güte!« sagte Marie, den Busenstreif wieder zurecht drückend und sich stellend, als ob sie von nichts wüßte: »Sie scheinen sich ja auf einmal ganz darin verliebt zu haben.«

Herr Weller antwortete nur mit einem Blinzeln, von dessen eigentlicher voller Bedeutung keine Beschreibung auch nur den schwächsten Begriff geben könnte: dann setzte er sich neben Marie auf eine Fensterbank, erbrach den Brief und betrachtete seinen Inhalt.

»Hallo!« rief Sam; »was ist das?«

»Doch nichts Schlimmes?« fragte Marie, ihm über die Schultern sehend.

»Oh, Ihre Racker von Augen!« sagte Sam aufblickend.

»Kümmern Sie sich nicht um meine Augen: lesen Sie Ihren Brief«, sagte das hübsche Hausmädchen und ließ dabei ihre Augen so schalkhaft und schön blitzen, daß sie ganz unwiderstehlich waren.

Sam erfrischte sich mit einem Kuß und las wie folgt:

»Markis Gran. »By Dorken. »Mithewoch.

Mein liber Samele!

Es dut mier Sehr leith das ich daß vergnigen habe dir schlechte nachrichten fon deiner stiefmudder gäben zu müssen – sie hat sich verkeldet weil sie onforsichtiger weise im nasen Graß Im Regen saß um Einen schäfer zu Hören der erßt in der senkenden nacht aufhören konnte weil ehr sich mit Brandwein Und Wasser erhißt hadde und Sich nicht eher anhalden Konnte als biß er wieder ein bißgen nichtern Geworten wahr Was gar manche stunden weknam und der Dokter sagte wen Sie Gleich darauf warmmen Brandwein und waßer gedronken hette stadd vorhehr so hädde es ihr Nichts gedan ihre reder wurden Augenblücklich geschmiehrt und alles Gebraucht um sie wider in den gang zu brengen was Mann sich nur denken kan dein Vadder hadde hofnung sie werde sich wider Herausreisen wie gewenlich aber als sie wider um di ecke herumfuhr da kamm sie in dem falschen weg und rolte den Berg hennunter mit Einer geschwentigkeit wie mann noch nie gesehen had und droz dem das der Dokter sie kleich pesah, so half es doch alles nichts den sie bezalde am lezden schlagbaum 20. Minuten vor 6 Ur gestern abend und had also die krose reise weid under der gewenlichen zeit Gemacht waß vielleicht auch daher gekomen ist daß sie unterwegs Gar wennig gepäk eingenommen had dein vatter sagt wenn du komen wilst und mich Besuchen Sammi so wird er es als eine Grose Freide ansehen den ich ben so Gans allein Samel Nodabene er wird es dir schon Sagen das es recht wird und weil wir so vile denge mid einanter abzumachen haben so wird dein Brenzibal dir gewiß nichts in den weg Legen Sammi denn ich kene en besser und vermelte ihm Meinen resbegt und bin auf Ewig dein

Tony Weller.«

»Was für ein unbegreiflicher Brief!« sagte Sam: »wer kann aus diesen Geschichten allen klug werden? Auch ist es nicht meines Vaters Hand, sondern nur seine Unterschrift mit Kanzlei-Buchstaben. Die kenne ich.«

»Vielleicht hat er einen andern schreiben lassen und dann nur seinen Namen daruntergesetzt«, sagte das hübsche Hausmädchen.

»Warten Sie noch eine Minute«, versetzte Sam, den Brief noch einmal überlesend und dabei von Zeit zu Zeit innehaltend, um darüber nachzudenken. »Sie haben es erraten. Der Herr, der es geschrieben hat, hat das ganze Unglück gehörig erzählt, und dann ist mein Vater dazugekommen, hat ihm über die Achsel gesehen und den ganzen Handel dadurch verwirrt gemacht, daß er auch seinen Senf dazu gab. So macht er es immer. Sie haben ganz recht, liebe Marie.«

Nachdem er sich über diesen Punkt zufriedengestellt, überlas Sam den Brief noch einmal, und da er sich jetzt endlich einen klaren Begriff von seinem Inhalt zu bilden schien, sagte er schwermütig, als er ihn zusammenlegte:

»So ist also das arme Geschöpf tot! Es tut mir leid um sie. Sie war kein böses Weib; wenn nur die Schäfer sie in Frieden gelassen hätten. Ich bin recht betrübt darüber.«

Herr Weller äußerte diese Worte in einem so ernsthaften Tone, daß das hübsche Hausmädchen die Augen niederschlug und gleichfalls eine sehr ernsthafte Miene annahm.

»Und doch«, fuhr Sam fort, indem er den Brief mit einem leisen Seufzer in die Tasche steckte: »es hat einmal sein müssen, und nun es geschehen ist, läßt sich nimmer helfen, wie die alte Dame sagte, als sie ihren Diener geheiratet hatte – nicht wahr. Marie?«

Marie schüttelte den Kopf und seufzte ebenfalls.

»Ich muß meinen Herrn um Urlaub angehen«, sagte Sam.

Marie seufzte abermals – der Brief war so gar rührend.

»Adieu!« sagte Sam.

»Adieu!« erwiderte das hübsche Hausmädchen, den Kopf abwendend.

»Sie werden mir zum Abschied doch eine Hand geben?« sagte Sam.

Das hübsche Hausmädchen reichte ihm eine Hand, die, obwohl die Hand eines Hausmädchens, dennoch eine sehr kleine Hand war, und stand auf, um zu gehen.

»Ich werde nicht sehr lange fortbleiben«, sagte Sam.

»Ach, Sie sind immer fort«, erwiderte Marie, ihren Kopf ein ganz klein wenig emporwerfend. – »Kaum kommen Sie, Herr Weller, so gehen Sie schon wieder.«

Herr Weller zog die Haushaltungsschönheit näher an sich und knüpfte ein flüsterndes Gespräch mit ihr an, das noch nicht lange gedauert hatte, als sie ihr Gesichtchen umwendete und sich herabließ, ihn wieder anzublicken. Als sie sich trennten, war es auf irgendeine Art unumgänglich notwendig für sie geworden, auf ihr Zimmer zu gehen und ihre Haube und Locken zu ordnen, bevor sie daran denken konnte, sich ihrer Gebieterin zu zeigen, und als sie zu dieser Tätigkeit die Treppe hinauftrippelte, beglückte sie Sam noch mit manchem Gruß und Lächeln über das Geländer hinab.

»Ich werde nicht länger als einen oder höchstens zwei Tage ausbleiben, Sir«, sagte Sam, nachdem er Herrn Pickwick mit dem Verlust bekannt gemacht, den sein Vater erlitten.

»So lange du es für nötig findest, Sam«, erwiderte Herr Pickwick. »Du hast unbeschränkte Erlaubnis.«

Sam verbeugte sich.

»Sag‘ deinem Vater, Sam, wenn ich ihm in seiner gegenwärtigen Lage auf irgendeine Art von Nutzen sein könne, so sei ich von Herzen gern bereit, alles zu tun, was in meinen Kräften steht«, setzte Herr Pickwick hinzu.

»Danke Ihnen, Sir«, erwiderte Sam. »Ich werd’s melden, Sir.«

Unter solchen und ähnlichen Äußerungen gegenseitiger Geneigtheit und gegenseitiger Teilnahme trennten sich Herr und Diener.

Es war gerade sieben Uhr, als Samuel Weller vom Bock einer Postkutsche, die durch Dorking kam, einige hundert Schritte vom Marquis von Granby entfernt, abstieg. Der Abend war kalt und trübe, die kleine Straße sah düster und traurig aus, und das mahagonifarbige Gesicht des edlen und tapferen Marquis schien einen finstereren und melancholischeren Ausdruck zu haben als sonst, indem es wehmütig knarrend vom Winde hin und her geworfen wurde. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen, die Läden teilweise geschlossen; von dem Haufen Müßiggänger, die sich gewöhnlich an der Tür versammelten, war keine Spur zu sehen, und der Platz stand öde und verlassen.

Da Sam niemand erblickte, an den er einige vorläufige Fragen hätte richten können, so ging er sachte ins Haus, schaute sich um und fand schließlich rasch seinen Vater.

Der Witwer saß in dem kleinen Zimmer hinter dem Schanktisch an einem besonderen runden Tischchen, rauchte eine Pfeife und starrte mit unverwandtem Blick ins Feuer. Offenbar hatte das Begräbnis erst an diesem Tage stattgefunden; denn an seinem Hut, den er auf dem Kopfe behielt, hing ein etwa anderthalb Ellen langes Trauerband, das nachlässig über die Stuhllehne herabwallte.

Herr Weller war offenbar in sehr tiefe Betrachtungen versunken, denn obgleich Sam ihn mehrere Male beim Namen rief, so fuhr er doch mit demselben starren und ruhigen Gesichte zu rauchen fort, und blickte erst auf, als ihm sein Sohn endlich die flache Hand auf die Schulter legte.

»Sammy!« rief Herr Weller; »sei mir willkommen!«

»Ich habe Euch schon einhalbdutzendmal gerufen«, sagte Sam, seinen Hut an einen Nagel hängend; »aber Ihr hörtet mich ja gar nicht.«

»Nein, Sam, ich habe dich nicht gehört«, erwiderte Herr Weller und sah aufs neue gedankenschwer ins Feuer. »Ich war ganz in eine Träumerei versunken, Sammy.«

»Worüber habt Ihr denn so nachgesonnen?« fragte Sam, seinen Stuhl ans Feuer rückend.

»Ich habe an sie gedacht, Sammy«, erwiderte Herr Weller senior und warf seinen Kopf in der Richtung nach dem Dorkinger Kirchhof empor, als stumme Erklärung, daß seine Worte sich auf die selige Frau Weller bezögen.

»Ich dachte eben daran, Sammy«, fuhr Herr Weller fort, indem er seinen Sohn mit großem Ernst über seine Pfeife hinaus anblickte, als wollte er ihn versichern, daß seine Worte, so außerordentlich unglaublich sie auch klingen möchten, doch ruhig und mit gutem Bedacht erwogen seien: »ich habe eben daran gedacht, Sammy, daß es mir im ganzen sehr leid tut, daß sie abgefahren ist.«

»Das gebührt sich auch für Euch«, erwiderte Sam.

Herr Weller nickte zustimmend, senkte seinen Blick zum Feuer herab, hüllte sich in eine Wolke und versank aufs neue in tiefes Nachdenken. Nach einer langen Pause vertrieb er den Rauch mit der Hand und sagte:

»Ach, sie hat noch so gescheit gesprochen, Sammy.«

»Was hat sie denn gesprochen?« fragte Sam.

»Ich meine bloß das, was sie in ihrer Krankheit gesagt hat«, erwiderte der alte Herr.

»Und was denn?«

»Das will ich dir jetzt erzählen. ›Weller‹, sagte sie, ›ich fürchte, ich habe nicht ganz so an dir gehandelt, wie ich hätte handeln sollen: du bist ein sehr guter Mann, und ich hätte dir dein Haus angenehmer machen sollen. Jetzt, da es zu spät ist, fange ich an, einzusehen, wenn eine verheiratete Frau fromm zu sein wünscht, so soll sie damit anfangen, ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen und die, welche um sie sind, glücklich und fröhlich zu machen. Sie kann zwar wohl in die Kirche oder Kapelle oder was weiß ich alles gehen, aber sie soll dieses nicht als Entschuldigung für Müßiggang, für eigennützige Absichten oder etwas noch Schlimmeres verwenden. Ich habe das getan und habe Zeit und Vermögen an solche verschwendet, die es noch mehr getan haben als ich. Aber ich hoffe, wenn ich nicht mehr sein werde, Weller, so wirst du an mich denken, wie ich war, ehe ich diese Leute kennenlernte, und wie ich eigentlich von Natur gewesen.‹ – ›Susanne‹, sagte ich, denn ich war sehr angegriffen, Samuel: ich kann’s nicht leugnen, mein Junge – ›Susanne‹, sagte ich, ›du bist mir ein sehr gutes Weib gewesen, deswegen sprich nichts von alledem und sei guten Muts, mein Schatz: du wirst es gewiß noch erleben, daß ich diesem Stiggins den Kopf entzweischlage.‹ Sie lächelte darüber, Samuel«, fuhr der alte Herr fort, einen Seufzer durch seine Pfeife erstickend, »aber hernach starb sie.«

»Nun gut«, sagte Sam, der es nach drei oder vier Minuten, während denen der alte Herr beständig langsam den Kopf hin und her gewiegt und feierlich geraucht hatte, endlich wagte, mit einem kleinen Trostgrunde hervorzurücken: »Seht Ihr, Vater, wir müssen alle mal sterben, der eine früher, der andere später.«

»Ja, das müssen wir alle, Sammy«, sprach Herr Weller senior

»Die Vorsehung hat es einmal so eingerichtet«, sagte Sam.

»Ja, ja«, versetzte sein Vater mit ernstem Beifallsnicken. »Was würde denn sonst aus den Totengräbern werden, Sammy?«

Verloren in dem durch diese Betrachtungen eröffneten unermeßlichen Feld der Vermutungen, legte Herr Weller senior seine Pfeife auf den Tisch und schürte mit nachdenklichem Gesicht das Feuer.

Während der alte Herr damit beschäftigt war, trat eine wohlbeleibte Köchin in Trauerkleidung, die bisher in der Schenkstube beschäftigt gewesen war, ins Zimmer, nickte Sam zum Zeichen der Erkennung mehrere Male freundlich zu, stellte sich schweigend hinter seines Vaters Stuhl und kündigte ihre Anwesenheit durch ein leises Husten an, welchem, als es unbeachtet blieb, ein lauteres nachfolgte.

»Hallo«, sagte Herr Weller senior, indem er das Schüreisen fallen ließ, als er um sich schaute und hastig mit dem Stuhle wegrückte. »Was gibt’s?«

»Trinken Sie doch eine Tasse Tee, mein lieber Herr«, erwiderte das wohlbeleibte Frauenzimmer in schmeichelndem Tone.

»Ich mag nicht«, versetzte Herr Weiler in barschem Tone. »Ich wollte, Ihr wäret« – hier hielt Herr Weiler plötzlich inne und fügte in leisem Tone hinzu – »wo der Pfeffer wächst.«

»Ach du meine Güte! Wie doch das Unglück die Leute verändert!« sagte das Frauenzimmer emporblickend.

»Ja, das ist’s«, murmelte Herr Weller: »das Unglück ist der einzige Doktor, der meine Lage verändert.«

»Ich habe in meinem Leben nie einen so übellaunischen Mann gesehen«, sagte das wohlbeleibte Frauenzimmer.

»Doch was brauche ich mich zu betrüben«, fuhr der alte Herr fort; »es ist ja bloß zu meinem Besten, mit welcher Betrachtung der reuige Schulknabe seinen Kummer beschwichtigte, als er ausgepeitscht wurde.«

Das wohlbeleibte Frauenzimmer schüttelte mit mitleidig-teilnahmsvoller Miene den Kopf und berief sich auf Sam, ob sein Vater nicht wirklich sich zusammennehmen und gegen diese Niedergeschlagenheit ankämpfen solle.

»Sie sehen selbst, Herr Samuel«, sagte sie, »wie ich ihm schon gestern bemerkte, er wird sich einsam fühlen, und das kann er nicht ertragen: aber er sollte sich wieder ein Herz fassen, Sir; denn wahrhaftig, wir bedauern ihn alle wegen seines Verlustes und werden ihm gern alles zulieb tun. Es ist ja keine Lage im Leben so schlimm, Herr Samuel, daß sie nicht verbessert werden könnte, wie eine sehr würdige Person zu mir sagte, als mein seliger Mann starb.«

Hier hielt sich die Sprecherin die Hand vor den Mund, hustete abermals und blickte Herrn Weller senior liebreich an.

»Ich mag jetzt Ihr Geschwätz nicht haben. – Wollen Sie wohl so gut sein, uns allein zu lassen?« fragte Herr Weller mit ernster, fester Stimme.

»Ach du lieber Gott, Herr Weller«, sagte das beleibte Frauenzimmer; »ich habe ja nur aus christlicher Liebe so gesprochen.«

»Ja, das glaube ich«, versetzte Herr Weller. »Samuel, zeig ihr den Weg und mach die Tür hinter ihr zu.«

Das wohlbeleibte Frauenzimmer verstand diesen Wink, ging schnell hinaus und machte selbst die Tür hinter sich zu, worauf Herr Weller senior, dem große Schweißtropfen auf der Stirn standen, sich in seinen Stuhl zurückwarf und sagte:

»Sammy, wenn ich hier noch eine Woche allein bliebe – nur noch eine Woche, mein Junge – so würde mich dieses Weibsbild noch vor Ablauf derselben mit aller Gewalt heiraten.«

»Hm, ist sie denn so gar verliebt in Euch?« fragte Sam.

»Ach, was verliebt!« antwortete sein Vater. »Ich kann sie nun einmal nicht fern von mir halten. Wenn ich mich in einen feuerfesten Kasten mit einem Patentschloß einsperren würde, sie würde Mittel und Wege finden, an mich heranzukommen, Sammy.«

»Das ist ja etwas ganz Herrliches, wenn man so begehrt wird«, bemerkte Sam lächelnd.

»Ich bilde mir nichts darauf ein, Sammy«, erwiderte Herr Weller, heftig das Feuer schürend: »es ist eine schauderhafte Lage. Man vertreibt mich von Haus und Hof. Kaum war deiner armen Stiefmutter der Atem ausgegangen, so schickt mir so ein altes Weib einen Topf mit Marmelade, eine andere einen Krug mit Gelee, und noch eine andere kocht mir eine großmächtige Kanne voll Kamillentee und bringt sie mir höchsteigenhändig.«

Herr Weller pausierte ein wenig mit mannigfachen Zeichen tiefer Entrüstung, blickte dann umher und setzte flüsternd hinzu:

»Es waren lauter Witwen, Sammy, eine wie die andere; nur die Kamillenteefrau nicht – das war eine unverheiratete junge Dame von dreiundfünfzig Jahren.«

Sam antwortete nur mit einem schalkhaften Lächeln, und der alte Herr, nachdem er ein hartnäckiges Stück Kohle voll ernster Empörung zerschlagen hatte, als wäre diese Kohle der Kopf einer dieser Witwen, fuhr also fort:

»Kurz und gut, Sammy, ich fühle, daß ich nirgends sicher bin als auf dem Bock.«

»Und warum meint Ihr da sicherer zu sein, als sonstwo?« unterbrach ihn Sam.

»Weil ein Kutscher ein privilegiertes Individuum ist«, erwiderte Herr Weller, seinen Sohn fest ansehend. »Weil ein Kutscher, ohne Argwohn zu erregen, viel tun kann, was andere Leute nicht tun können; weil ein Kutscher auf achtzig Meilen Weges mit allen Frauenzimmern auf dem freundschaftlichsten Fuße stehen kann, ohne daß es einem Menschen einfällt, er wolle eine davon heiraten. Welcher andere Mann kann das sagen, Sammy?«

»Ja, es ist etwas daran«, sagte Sam.

»Wäre dein Herr ein Kutscher gewesen«, meinte Herr Weller weiter; »glaubst du, die Jury würde ihn dann verurteilt und die Sachen so zum äußersten haben kommen lassen? Ganz gewiß nicht!«

»Warum nicht?« sagte Sam verächtlich.

»Warum nicht?« versetzte Herr Weller; »weil es gegen ihr Gewissen gewesen wäre. Ein ordentlicher Kutscher ist eine Art Verbindungsglied zwischen dem ledigen und dem ehelichen Stande, und das weiß jeder praktische Mann.«

»Ihr meint also, die Kutscher seien überall der Hahn im Korbe, und es falle den Frauenzimmern nicht ein, sich an sie zu halten?«

Sein Vater nickte.

»Wie das so gekommen ist«, fuhr Vater Weller fort, »kann ich nicht sagen; aber es ist einmal so. Ein Kutscher, der seine bestimmten Stationen fährt, besitzt soviel liebenswürdige Eigenschaften, daß stets alle jungen Frauenzimmer in jeder Stadt, durch die er kommt, ihm nachsehen und – ich möchte fast sagen – ihn anbeten: ich weiß selbst nicht warum, denn ich weiß nur, daß es so ist. Es muß der Naturlauf so sein – eine Fügung, ein Dispensarium, wie deine selige Mutter zu sagen pflegte.«

»Eine Disposition«, sagte Sam, den alten Herrn verbessernd.

»Ganz recht, Samuel, eine Dispensition, wenn du lieber willst«, erwiderte Herr Weller: »ich sage einmal Dispensarium, und es ist überall so geschrieben an all den Arten, wo man umsonst Arzneien bekommt und bloß eine Flasche mitbringen muß; weiter sage ich nichts.«

Mit diesen Worten stopfte Herr Weller seine Pfeife aufs neue, zündete sie an, gab seinem Gesicht abermals einen gedankenvollen Ausdruck und fuhr also fort:

»Darum also, mein Junge, weil ich es nicht für ratsam ansehe, hier zu bleiben und zu heiraten, ich mag wollen oder nicht, und weil ich mich von diesen interessanten Mitgliedern der Gesellschaft nicht ganz und gar trennen möchte, habe ich den Entschluß gefaßt, wiederum mit meiner alten Kutsche zu fahren und mein Quartier abermals im Bell-Savage aufzuschlagen, das mein väterliches und angeborenes Element ist.«

»Was soll aber hier aus dem Geschäft werden?« fragte Sam.

»Das Geschäft, Samuel?« erwiderte der alte Gentleman, »das Haus und alles, was niet- und nagelfest ist, wird durch einen Privatkontrakt verkauft, und von dem Kaufgeld werden nach dem Wunsch deiner Stiefmutter, den sie ganz kurz vor ihrem Tode ausdrückte, zweihundert Pfund für dich angelegt, in den – wie heißt man doch diese Dinger –«

»Was für Dinger«, fragte Sani.

»Die Dinger, die in der City immer auf und ab fahren.«

»Omnibus?« meinte Sam.

»Unsinn!« erwiderte Herr Weller. »Die Dinger, die immer so schwanken und sich auf alle mögliche Arten mit der Nationalschuld und den Schatzkammerscheinen und all den Geschichten vermischen.«

»Ah so, die Fonds?« sagte Sam.

»Richtig, ja«, meinte Herr Weller: »die Fonds; zweihundert Pfund von dem Geld sollen für dich in den Fonds angelegt werden, Samuel, in Obligationen zu viereinhalb Prozent.«

»Sehr viel Güte von der alten Dame, daß sie an mich gedacht hat«, sagte Sam. »Ich bin ihr sehr verbunden.«

»Der Rest wird auf meinen Namen angelegt«, fuhr der ältere Herr Weller fort, »und wenn ich einmal von der Heerstraße abberufen werde, so fällt er auch an dich. Darum, mein Junge, bring nur nicht alles auf einmal durch und nimm dich in acht, daß keine Witwe aufspürt, du habest Vermögen, denn sonst bist du verloren.«

Nach dieser väterlichen Warnung nahm Herr Weller mit vergnügterem Gesichte seine Pfeife wieder zur Hand, indem die Auseinandersetzung dieser Dinge offenbar sein Herz bedeutend erleichtert hatte.

»Es klopft jemand an die Tür«, sagte Sam.

»Laß ihn nur klopfen«, versetzte sein Vater mit Würde.

Sam befolgte die Weisung: aber es wurde zum zweiten- und drittenmal geklopft. Das Klopfen schien gar nicht mehr aufhören zu wollen, und nun fragte Sam, warum der Klopfende nicht hereingelassen werde?

»Still still!« flüsterte Herr Weller mit ängstlichen Blicken: »nimm nur gar keine Notiz davon: vielleicht ist es eine von den Witwen.«

Da also keine Notiz von dem Klopfen genommen wurde, so wagte es der ungesehene Gast nach kurzer Pause, die Tür zu öffnen und hereinzusehen. Es war kein Weiberkopf, der sich zu der teilweise geöffneten Tür hereinsteckte, sondern die langen schwarzen Locken und das rote Gesicht des Herrn Stiggins. Herrn Weller fiel die Pfeife aus der Hand.

Der ehrwürdige Gentleman öffnete beinahe unmerklich allmählich die Tür, bis die Öffnung weit genug war, um seinen langen Leib hereinzulassen, worauf er ins Zimmer schlüpfte und es mit großer Sorgfalt sehr sachte verschloß. Er wandte sich sofort gegen Sam, hob zum Zeichen seiner unaussprechlichen Bekümmernis über den Unglücksfall, der die Familie betroffen, Hände und Augen empor, rückte den hochlehnigen Stuhl in seinen alten Winkel am Kamin, setzte sich auf die Ecke desselben, zog ein braunes Taschentuch hervor und hielt es an seine Augen.

Während dies vorging, hatte sich Herr Weller senior mit weit aufgerissenen Augen seine Hände auf die Knie gestemmt und mit einem Gesicht, da« grenzenlosestes und überwältigendstes Erstaunen ausdrückte, in seinen Stuhl zurückgelehnt. Sam saß ihm stumm gegenüber und wartete mit brennender Neugier den weiteren Verlauf der Sache ab.

Herr Stiggins hielt sich sein braunes Taschentuch mehrere Minuten lang vor die Augen, stöhnte zu verschiedenen Malen recht herzlich, bemeisterte aber endlich durch eine gewaltige Kraftanstrengung seine Gefühle, steckte das Tuch ein und knöpfte seinen Rock auf. Danach schürte er das Feuer, rieb sich sodann die Hände und blickte Sam an.

»Ach, mein junger Freund!« sagte Herr Stiggins, mit sehr leiser Stimme das Stillschweigen unterbrechend; »hier ist Trauer und Betrübnis eingetreten.«

Sam nickte ein ganz klein wenig.

»Auch für den Mann des Zorns!« fügte Herr Stiggins hinzu: »sie macht das Herz eines Auserwählten bluten.«

Sam hörte seinen Vater etwas murmeln, als ob er Lust hätte, die Nase eines Auserwählten bluten zu machen; Herr Stiggins aber hörte nichts davon.

»Wissen Sie nicht, junger Mann«, flüsterte Herr Stiggins, seinen Stuhl näher zu Sam rückend, »ob sie dem Immanuel etwas vermacht hat?«

»Wer ist das?« fragte Sam.

»Die Kapelle«, erwiderte Herr Stiggins: »unserer Kapelle, unserer Herde, Herr Samuel.«

»Sie hat dem Pferch nichts vermacht und dem Schäfer auch nichts und den Tieren darin ebensowenig; nicht einmal den Hunden hat sie etwas vermacht.«

Herr Stiggins blickte Sam verschmitzt an, warf einen Seitenblick auf den alten Herrn, der mit geschlossenen Augen dasaß, als ob er schliefe, rückte sodann seinen Stuhl immer näher und sagte:

»Auch mir nichts, Herr Samuel?«

Sam schüttelte den Kopf.

»Ich sollt doch denken, etwas«, sagte Stiggins, so blaß werdend, wie er nur konnte. »Besinnen Sie sich, Herr Samuel: nicht einmal ein kleines Andenken?«

»Nicht einmal soviel, wie Ihr alter Schirm da wert ist«, erwiderte Sam.

»Aber vielleicht«, fuhr Herr Stiggins nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens zögernd fort: »vielleicht hat sie mich dem Manne des Zornes zur Fürsorge empfohlen, Herr Samuel?«

»Nach allem, was er mir gesagt hat, könnte es sehr wohl sein«, antwortete Sam; »er hat soeben von Ihnen gesprochen.«

»Wirklich?« rief Stiggins aufstrahlend. »Ah, gewiß ist eine Änderung mit ihm vorgegangen. Wir können jetzt ganz angenehm miteinander leben; nicht wahr, Herr Samuel? Ich würde für seine Sachen sorgen, solange Sie fort sind – und ganz gewiß gut sorgen.«

Herr Stiggins stieß einen tief hervorgeholten Seufzer aus, schwieg und erwartete eine Antwort. Sam nickte, Herr Weller senior aber gab einen ganz außerordentlichen Ton von sich, einen Ton, der weder ein Seufzer, noch ein Gestöhne, weder ein Grunzen, noch ein Geknurr war, sondern von allen vieren etwas zu haben schien.

Stiggins deutete diesen Ton als ein Zeichen der Reue oder Gewissensangst, blickte ermutigt umher, rieb sich die Hände, weinte, lächelte, weinte wieder. Dann aber ging er sachte durch das Zimmer nach dem ihm wohlbekannten Schranke in der Ecke, nahm ein Glas herunter und warf mit großem Bedacht vier Stücke Zucker hinein. Hierauf blickte er abermals um sich, stöhnte jämmerlich, ging sachte hinaus in die Speisekammer, füllte das Glas mit Ananasrum, kam schnell zurück, trat an den Kessel, der lustig über dem Feuer sprudelte, mischte seinen Grog, rührte um, schlürfte, setzte sich, nahm sofort einen langen herzlichen Zug von dem Rum mit Wasser und hielt darauf an, um zu verschnaufen.

Herr Weller senior, der bis jetzt immer noch verschiedene, seltsame und wunderliche Versuche machte, sich schlafend zu stellen, sprach bei alledem kein Wort. Als aber Herr Stiggins innehielt, um Atem zu schöpfen, stürzte er auf ihn zu, riß ihm das Glas aus der Hand, schüttete ihm den Rest ins Gesicht und schleuderte das Glas in den Kamin. Zugleich packte er den ehrwürdigen Gentleman fest am Kragen und machte sich daran, ihn wütend durchzuprügeln und mit den Füßen zu zerstampfen, wobei er jeden Stoß seiner Stulpenstiefel mit verschiedenen heftigen und unzusammenhängenden Flüchen auf Herrn Stiggins Gliedmaßen, seine Augen und seinen Leib begleitete.

»Sammy!« rief Herr Weller: »drück mir den Hut fest auf den Kopf.

Sam drückte als ein gehorsamer Sohn seinem Vater den Hut mit dem langen Bande fester auf den Kopf. Darauf hämmerte der alte Gentleman mit neuer Munterkeit auf Herrn Stiggins los, trieb ihn durch das ganze Zimmer, durch den Gang, zur Haustür hinaus und auf die Straße. Dabei nahm seine Wut während der ganzen Aktion eher zu als ab, und er ward immer grimmiger, so oft er seinen Stulpenstiefel aufhob.

Es war ein schöner, erheiternder Anblick, den rotnasigen Mann in Herrn Wellers Griffen sich winden und seine ganze Gestalt vor Angst zittern zu sehen, während in rascher Reihenfolge Schlag auf Schlag fiel. Noch herrlicher aber war es anzuschauen, wie Herr Weller unter gewaltigem Widerstande Herrn Stiggins Kopf in einen vollen Pferdetrog tunkte und ihn solange unter dem Wasser hielt, bis er halb erstickt war.

»So!« sagte Herr Weller, seine ganze Energie in einen höchst konzentrierten letzten Fußtritt legend, als er Herrn Stiggins endlich mit dem Kopfe wieder aus dem Trog hervorkommen ließ; »jetzt schick‘ mir noch einen von diesen müßiggängerischen Schäfern daher, ich will ihn zu Brei zusammendrücken und nachher ersäufen. Sammy, hilf mir herein und reiche mir ein Gläschen Branntwein. Ich bin ganz echauffiert, mein Junge.«