Neunzehntes Kapitel.


Neunzehntes Kapitel.

Worin mit wenigen Worten zwei Momente dargetan werden: erstens, die Macht der Krämpfe, und zweitens, die Gewalt der Umstände.

Zwei Tage nach dem Frühstück bei Madame Hunter blieben die Pickwickier noch in Eatanswill und harrten ängstlich auf die Nachrichten von ihrem verehrten Meister. Herr Tupman und Herr Snodgraß waren wieder lediglich auf ihre eigenen geselligen Talente angewiesen; denn Herr Winkle wohnte auf die dringendsten Einladungen hin dauernd in Potts Hause, allwo er seine ganze Zeit der liebenswürdigen Gattin Potts widmete. Bisweilen vermehrte Herr Pott selbst die Gesellschaft, um das Glück der beiden vollständig zu machen. Tief in seine großartigen Pläne für die öffentliche Wohlfahrt und die Unterdrückung des Unabhängigen versunken, pflegte sich dieser große Mann von seinem hohen geistigen Standpunkt nicht in die niedrige Sphäre gewöhnlicher Geister herabzulassen. Bei dieser Gelegenheit aber und offenbar, um einen Pickwickier dadurch zu ehren, stieg er von seinem Thronsockel herab, um auf der ebenen Erde zu wandeln, wobei er gütig seine Bemerkungen dem Verständnisse der großen Menge anpaßte, und wenn auch nicht dem Geiste nach, doch wenigstens äußerlich ihr anzugehören schien.

Bei diesem Benehmen des berühmten Publizisten gegen Herrn Winkle kann man sich leicht denken, daß gewaltige Überraschung auf dem Gesichte dieses Herrn zu lesen war, als eines Morgens, während er allein frühstückte, Herr Pott hastig die Tür aufriß und ebenso hastig wieder zuschlug. Dann schritt er majestätisch auf ihn zu, stieß seine dargebotene Hand zurück, knirschte mit den Zähnen, als ob er dadurch seinen Worten noch größere Schärfe geben wollte, und donnerte ihm mit ingrimmiger Stimme zu:

»Schlange!«

»Sir!« rief Herr Winkle, von seinem Stuhle aufspringend.

»Schlange, Sir«, wiederholte Herr Pott, indem er seine Stimme erhob und sie dann plötzlich wieder dämpfte: »ich sagte Schlange, Sir – nehmen Sie den Ausdruck in seiner schärfsten Bedeutung.«

»Wenn du bis morgens um zwei Uhr in der vertrautesten Kameradschaft mit einem Manne zusammen saßest, und er kommt um halb zehn Uhr mit der ernsten Begrüßung: ›Schlange!‹ zu dir, so kannst du mit Fug und Recht schließen, daß sich in der Zwischenzeit irgend etwas Unangenehmes zugetragen hat.«

So dachte auch Herr Winkle. Er erwiderte Herrn Potts eherne Blicke und nahm auf Verlangen dieses Herrn die »Schlange« so stark er konnte. Er wußte sich aber die Sache so wenig zu erklären, und antwortete nach einem tiefen Stillschweigen von einigen Minuten:

»Schlange, Sir? Schlange, Herr Pott? Was meinen Sie damit, Sir? – Sie belieben zu scherzen.«

»Scherzen, Sir?« rief Pott mit einer Bewegung der Hand, die ein starkes Verlangen verriet, seinem Gaste den Teetopf aus britischem Metall an den Kopf zu schleudern. »Jawohl – Scherzen! Doch nein, ich will ruhig sein: ich will ruhig sein, Sir«; setzte Herr Pott hinzu, und warf sich zum Beweis seiner Ruhe mit schäumendem Munde in einen Stuhl.

»Mein lieber Herr!« versetzte Herr Winkle.

»Mein lieber Herr?« erwiderte Herr Pott. »Wie können Sie sich unterstehen, Sir, lieber Herr zu mir zu sagen? Wie können Sie es wagen, mir ins Gesicht zu sehen und so zu sagen?«

»Schon gut, mein Herr«, antwortete Winkle; »wenn es aber so gemeint ist, wie können Sie es wagen, mir ins Gesicht zu sehen und mich eine Schlange zu nennen, Sir?«

»Weil Sie eine sind«, erwiderte Herr Pott.

»Beweisen Sie es, Sir«, sagte Herr Winkle aufgebracht. »Beweisen Sie es.«

Grimme Wut spiegelte sich auf dem tiefsinnigen Gesichte des Redakteurs, als er den Unabhängigen von diesem Morgen aus der Tasche zog. Er legte den Finger auf einen bestimmten Artikel und warf das Blatt Herrn Winkle über den Tisch zu.

Herr Winkle nahm es und las wie folgt:

»Unser obskurer und schmutzig gesinnter Kollege hat die Frechheit gehabt, in einigen Ekel erregenden Bemerkungen über die letzte Wahl für diesen Flecken die unantastbare Heiligkeit des Privatlebens zu verletzen und auf eine Art, die nicht mißverstanden werden kann, die persönlichen Angelegenheiten unseres letzten Kandidaten, Herrn Fizkins, zu begeifern, der übrigens trotz seiner unverdienten Niederlage, wie wir mit Sicherheit hinzusetzen, das nächste Mal den Sieg davontragen wird. Was beabsichtigte unser erbärmlicher, feiger Kollege damit? Was würde der Schurke sagen, wenn wir, gleich ihm, alle dem Publikum schuldigen Rücksichten des Anstandes beiseite setzen und den Schleier lüften wollten, der glücklicherweise sein Privatleben vor dem allgemeinen Gelächter, um nicht zu sagen, vor dem allgemeinen Abscheu, noch schützt? Was würde er sagen, wenn wir Tatsachen und Umstände bezeugen und erklären wollten, die notorisch genug sind und von jedermann gesehen werden, nur nicht von unserem maulwurfsäugigen Kollega? Was würde er sagen, wenn wir nachfolgendes Gedichtchen drucken lassen wollten, das uns ein talentvoller Mitbürger und Korrespondent zugeschickt hat, als wir eben die ersten Worte dieses Artikels niederschrieben:

»Auf einen messingenen Pott.«

«Pott! hättest damals du gewußt,
Wie falsch das Weib an deiner Brust,
Vergangen wäre dir der Dünkel.
Du hättest sie (und wie so gern)
Gelassen jenem süßern Herrn,
Den sie jetzt küßt und drückt, dem W…«

»Was«, sagte Herr Pott feierlich, »was reimt sich auf Dünkel, mein feiner Herr?«

»Was sich auf Dünkel reimt?« erwiderte Madame Pott, die in diesem Augenblick eintrat und dem Befragten zuvorkam. »Was sich auf Dünkel reimt? Nun, ich dächte Winkle.«

So sprechend, lächelte Madame Pott den verblüfften Pickwickier süß an und streckte ihm die Hand entgegen. Der aufgeregte junge Mann wollte sie in seiner Verwirrung ergreifen, als Herr Pott zornig zwischen ihn und seine Frau trat.

»Zurück, Madame, zurück«, rief der Zeitungsschreiber. »Willst du ihm vor meinen eigenen Augen die Hand geben?«

»Herr Pott!« sagte seine Gattin erstaunt.

»Elende«, donnerte der Mann, »da sieh her. Hier Madame – ein Gedichtchen auf einen messingenen Pott. Ein messingener Pott, das bin ich, Madame. Das falsche Weib, Madame, das sind Sie.«

Voller Wut, während über das Gesicht seiner Frau etwas wie Zittern glitt, warf ihr Herr Pott die Tagesnummer des Eatanswiller Unabhängigen zu Füßen.

»Auf mein Wort, Sir«, sagte die erstaunte Madame Pott, indem sie das Blatt aufhob. »Auf mein Wort, Sir –«

Herr Pott krümmte sich unter den verachtungsvollen Blicken seiner Gemahlin. Er hatte einen verzweifelten Versuch gemacht, seinen Mut ein bißchen in die Höhe zu schrauben, aber vergebens.

In den unschuldigen Worten: »auf mein Wort, Sir«, scheint an und für sich nichts Schreckliches zu liegen, wenn man sie liest. Aber der Ton, in dem sie ausgesprochen, und der Blick, von dem sie begleitet wurden, schienen ein Unwetter zu verkünden, das sich über Potts Haupt zusammengezogen, und brachten ihre volle Wirkung hervor. Auch der ungeschickteste Beobachter hätte in seiner besorgten Miene die Bereitwilligkeit lesen können, seine Wellingtons-Stiefel jedem geeigneten Gehilfen abzutreten, der in diesem Augenblick Lust dazu verraten hätte.

Mrs. Pott las den Artikel, stieß einen lauten Schrei aus, warf sich ihrer ganzen Länge nach auf den Fußboden vor dem Kamin nieder, schrie dabei und stampfte dermaßen mit den Absätzen ihrer Schuhe, daß über den augenblicklichen Zustand ihrer Gefühle kein Zweifel obwalten konnte.

»Meine Teure«, sagte der erschreckte Pott, – »ich sagte ja nicht, daß ich glaube – ich – –«

Aber die Stimme des unglücklichen Mannes wurde von dem Geschrei seiner Ehehälfte übertäubt.

»Meine liebe Madame Pott, ich bitte Sie, beruhigen Sie sich«, sagte Herr Winkle: aber das Geschrei und Gestampfe wurde immer lauter und heftiger.

»Meine Teure«, begann Herr Pott von neuem, »es tut mir äußerst leid. Wenn du keine Rücksicht auf deine Gesundheit nehmen willst, so nimm doch Rücksicht auf mich, meine Teure. Wir werden bald einen Auflauf vor dem Hause haben.«

Aber je inständiger Herr Pott bat, um so gellender und kreischender wurde das Geschrei seiner Gemahlin.

Zum Glück befand sich eine Madame Pott sehr ergebene Leibwache im Hause: eine junge Dame, deren wichtiges Amt die Aufsicht über die Toilette ihrer Gebieterin war. Außerdem machte sie sich durch allerlei andere Dienste, hauptsächlich aber dadurch nützlich, daß sie ihr bei all ihren Wünschen und Neigungen, die denen des unglücklichen Potts zuwiderliefen, jeden erdenklichen Vorschub leistete. Das Geschrei drang natürlich zu den Ohren der jungen Dame und führte sie mit einer Eilfertigkeit in das Zimmer, die das ausgesuchte Arrangement ihrer Haube und Locken wesentlich zu verwirren drohte.

»O meine teuerste Gebieterin«, rief die Leibwache, indem sie sich wie wahnsinnig neben der zu Boden liegenden Madame Pott auf die Knie warf; »o meine teuerste Gebieterin, was ist hier vorgefallen?«

»Dein Herr – dieses Ungeheuer«, murmelte die Patientin.

Pott war sichtlich bereits auf dem Wege, nachzugeben.

»Es ist Spott und Schande«, sagte die Leibwache in vorwurfsvollem Tone. »Ja, er wird Sie noch zu Tode quälen, Madame. – O Sie arme, liebe Frau.«

Pott wurde immer weicher. Die Gegenpartei fuhr in ihren Angriffen fort.

»O, verlaß mich nicht – verlaß mich nicht, Goodwin«, murmelte Madame Pott, krampfhaft die Handgelenke besagter Goodwin umfassend. »Du bist das einzige Geschöpf auf der Welt, das es gut mit mir meint.«

Bei dieser liebevollen Ansprache spielte die Goodwin auf eigene Rechnung ein bißchen Haustragödie und vergoß einen Strom von Tränen.

»Niemals, Madame – niemals«, entgegnete Goodwin. »O Sir, Sie sollten sich mehr in acht nehmen – ja, wahrhaftig, das sollten Sie! Sie wissen nicht, wie sehr es Madame schaden kann; aber Sie werden es schon einmal bereuen – ich habe es immer gesagt.«

Der unglückliche Pott betrachtete angstvoll die Szene, sagte aber nichts.

»Goodwin«, sagte Madame Pott mit sanfter Stimme.

»Madame«, erwiderte Goodwin.

»O, wenn du wüßtest, wie ich diesen Mann geliebt habe – –«

»Verbannen Sie diese trüben Erinnerungen, Madame«, sagte die Leibgardistin.

Pott schnitt ein jammervoll ängstliches Gesicht. Es war Zeit zu einem Hauptangriff.

»Und jetzt«, schluchzte Madame Pott, – »jetzt muß ich mich so behandeln lassen, muß mir in Gegenwart eines Dritten, der so gut wie ein Fremder ist, Vorwürfe machen und mich ausschelten lassen. Aber, Goodwin, ich dulde es nicht länger«, fuhr Madame Pott fort, indem sie sich in den Armen ihrer Wärterin aufrichtete. »Mein Bruder, der Leutnant, soll auch ein Wort dazu sagen. Ich will mich scheiden lassen, Goodwin.«

»Es würde ihm jedenfalls recht geschehen«, sagte Goodwin.

Was für Gedanken die Bedrohung mit einer Scheidung in Herrn Potts Brust auch erregt haben mag, er unterließ es, ihnen Worte zu geben, und begnügte sich mit der de- und wehmütigen Anfrage:

»Willst du mich anhören, meine Teure?«

Irenes Schluchzen war die einzige Antwort. Die Krämpfe stellten sich immer heftiger ein. Madame Pott verlangte zu wissen, warum sie eigentlich geboren sei und stellte eine Menge Fragen dieser oder ähnlicher Art.

»Meine Teure«, sagte Herr Pott in möglichst überzeugendem Tone, »gib doch solchen peinigenden Empfindungen keinen Raum. Ich habe keinen Augenblick geglaubt, daß der Artikel auch nur die mindeste Begründung haben könnte. Nein, meine Teure, das wäre ja rein unmöglich. Es ärgerte mich nur, meine Liebe – ja ich darf wohl sagen, es machte mich wütend, daß das Unabhängigenpack sich erfrechen konnte, so etwas einrücken zu lassen – das ist ja alles.«

Und Herr Pott warf einen flehenden Blick auf die unschuldige Ursache des ganzen Unheils, als wolle er ihn bitten, ja nichts von der Schlange zu sagen.

»Und was für Maßregeln, mein Herr, gedenken Sie zu ergreifen, um Genugtuung zu erhalten?« fragte Herr Winkle, dessen Mut in eben dem Maße zunahm, als er Pott den seinigen verlieren sah.

»Ach, Goodwin«, ächzte Madame Pott, »will er vielleicht den Redakteur des Unabhängigen durchpeitschen? Will er das, Goodwin?«

»Still, still, Madame: bitte, seien Sie doch ruhig«, versetzte die Leibwache. »Ich glaube, daß er es tun will, wenn Sie es wünschen, Madame.«

»Allerdings«, sagte Pott, da sein Weib geneigt schien, die Krämpfe aufhören zu lassen. – »Es versteht sich von selbst, daß ich das tue.«

»Wann, Goodwin – wann?« sagte Mrs. Pott, noch unentschlossen wegen der Krämpfe.

»Auf der Stelle, das versteht sich«, erwiderte Herr Pott! »noch ehe sich der Tag neigt.

»Ach, Goodwin«, fing Madame Pott aufs neue an, »das ist das einzige Mittel, der Verleumdung zuvorzukommen und mich vor der Welt ins wahre Licht zu stellen.«

»Ganz gewiß, Madame«, erwiderte Goodwin. »Kein Mann, der wirklich ein Mann ist, könnte sich dessen weigern.«

Da die Krämpfe noch immer drohend im Hinterhalt lauerten, so versicherte also Herr Pott aufs neue, daß er es tun wolle. Aber Madame Pott war schon von dem bloßen Gedanken, daß ihre Ehre im mindesten in Zweifel gezogen wurde, dermaßen gekränkt, daß sie noch ein halb dutzendmal im Begriffe war, einen Rückfall zu bekommen. Und ohne Zweifel wäre das auch geschehen, hatte nicht die unverdrossene Goodwin durch unermüdliche Anstrengungen und der arme geschlagene Pott durch wiederholtes flehentliches Bitten um Verzeihung es verhindert. Endlich, als der unglückliche Mann wieder auf den ihm gebührenden Standpunkt heruntergeängstigt und heruntergeächzt war, erholte sich Madame Pott wieder, und die Gesellschaft ging zum Frühstück.

»Das niederträchtige Zeitungsgeträtsche wird Sie doch nicht veranlassen, Ihren Aufenthalt hier abzukürzen, Herr Winkle?« sagte Madame Pott, durch die Spuren ihrer Tränen hindurch lächelnd.

»Ich hoffe nicht«, fiel Herr Pott ein, in diesem Augenblick von dem inneren Wunsche durchdrungen, daß sein Gast an der gerösteten Brotschnitte, die er eben an seine Lippen führte, ersticken und dadurch seinem Aufenthalte auf immer ein Ende gemacht werden möchte! »Ich hoffe nicht.«

»Sie sind gar zu gütig«, sagte Herr Winkle, »aber ich habe heute früh, als ich noch in meinem Schlafzimmer war, einen Brief von Herrn Tupman erhalten, worin er mir meldet, es sei ein Schreiben von Herrn Pickwick eingetroffen, der uns bitte, noch heute zu ihm nach Bury zu kommen. Wir sind deshalb beide entschlossen, heute mittag abzureisen.«

»Sie werden aber doch wieder zurückkommen?« sagte Madame Pott.

»Ganz gewiß«, erwiderte Herr Winkle.

»Darf ich mich darauf verlassen?« fragte Madame Pott, ihrem Gast verstohlenerweise einen zärtlichen Blick zuwerfend.

»O, freilich«, antwortete Herr Winkle.

Das Frühstück wurde nun schweigend beendigt, denn jedes Mitglied der Gesellschaft brütete über seine eigenen persönlichen Angelegenheiten. Madame Pott bedauerte sehr, einen Verehrer zu verlieren. Ihr Ehegemahl ärgerte sich über sein unüberlegtes Versprechen, den Redakteur der Unabhängigen mit der Hetzpeitsche zu behandeln, und Herr Winkle bereute es, daß er sich in eine so widerwärtige Lage versetzt hatte. Der Mittag rückte heran, und nach manchem Lebewohl und vielfachen Versprechungen der Rückkehr riß er sich endlich los.

»Sobald er sich wieder zeigt, vergifte ich ihn«, schwur Herr Pott bei sich selbst, als er sich in seine Studierstube zurückzog, allwo er seine Donnerkeile schmiedete.

»Wenn ich je einmal wieder zurückkomme und mich aufs neue mit diesem Pack einlasse«, dachte Herr Winkle, als er seinen Weg nach dem Pfauen nahm, »so verdiene ich selbst eine Tracht Prügel – und damit Punktum.«

Seine Freunde waren bereit, die Kutsche und Pferde ebenfalls, und im Verlauf von einer halben Stunde befanden sie sich auf derselben Straße, auf der Herr Pickwick und Sam kürzlich ihre Reise gemacht hatten. Da wir jedoch über den Weg bereits gesprochen haben, so fühlen wir uns nicht berufen, Auszüge aus Herrn Snodgraß‘ schöner poetischen Beschreibung mitzuteilen.

Ehren-Sam stand an dem Tor des Engels, um sie zu empfangen, und führte sie in das Zimmer des Herrn Pickwick. Die Überraschung Winkles und Snodgraß‘ und die Verwirrung Tupmans waren nicht gering, als sie hier den alten Wardle und Trundle antrafen.

»Wie steht’s?« sagte der Alte, Herrn Tupmans Hand ergreifend. »Sehen Sie doch nicht so sentimental und empfindsam darein. Es läßt sich einmal nicht anders machen, alter Freund. Um ihretwillen hätte ich gewünscht, daß Sie sie bekommen hätten, aber in Ihrem Interesse freut es mich sehr, daß es anders gekommen ist. Ein junger Kerl, wie Sie, kann es heutzutage immer noch besser treffen – wie?«

Mit diesem Trost klopfte der alte Wardle Herrn Tupman auf die Schulter und lachte herzlich.

»Nun, und wie geht es denn Ihnen, meine verehrtesten Herren?« fuhr der alte Herr fort, Herrn Winkle und Herrn Snodgraß zu gleicher Zeit die Hände schüttelnd. »Ich habe soeben zu Pickwick gesagt, daß wir Sie über Weihnachten alle zu Gast haben müssen, es wird eine Hochzeit bei uns geben – und zwar diesmal eine Hochzeit im buchstäblichen Sinne des Wortes.«

»Eine Hochzeit?« rief Herr Snodgraß, blaß wie die Wand.

»Ja, eine Hochzeit. Erschrecken Sie nur nicht darüber«, sagte der muntere Alte: »es handelt sich nur um Trundle und Bella.«

»Ist das alles?« fragte Herr Snodgraß, erlöst von einem peinlichen Zweifel, der sich zentnerschwer auf seine Brust geworfen hatte. »Da gratuliere ich herzlich, Sir. Und was macht denn unser Joe?«

»O, der ist wohl«, erwiderte der alte Herr. »Noch immer sehr schläfrig.«

»Und Ihre Mutter, und der geistliche Herr und alle die andern?«

»Alles bei bestem Wohlsein.«

»Und wo«, – sagte Herr Tupman, sich anstrengend. »Wo ist – sie, Sir?«

Und er wandte den Kopf ab und bedeckte seine Augen mit der Hand.

» Sie?« sagte der alte Herr mit sachverständigem Kopfschüttcln. »Meinen Sie etwa meine ledige Verwandte – he?«

Herr Tupmann gab mit einem Wink zu erkennen, daß seine Frage sich auf die unglückliche Rachel beziehe.

»O, sie ist fort«, sagte der alte Herr. »Sie lebt bei Verwandten, weit von hier. Sie konnte sich mit den Mädchen nicht vertragen, und darum ließ ich sie ziehen. Aber kommen Sie jetzt, das Essen steht auf dem Tisch. Sie müssen nach Ihrer Fahrt hungrig geworden sein. Ich habe Appetit ohne Fahrt: greifen wir zu.«

Dem Mahl widerfuhr alle Gerechtigkeit, und beim Nachtisch erzählte Herr Pickwick zum ungemeinen Schrecken und Unwillen seiner Zuhörer das Abenteuer, das er bestanden, und welcher Erfolg die schändlichen Kunststücke des teuflischen Jingle gekrönt habe.

»Und der Rheumatismus, den ich in dem Garten geholt«, schloß Herr Pickwick, »macht mich bis auf den jetzigen Augenblick lahm.«

»Ich habe auch so eine Art Abenteuer gehabt«, sagte Herr Winkle lächelnd, und erzählte sofort von dem boshaften Schmähartikel im Eatanswiller Unabhängigen und der daraus entstandenen Unruhe im Hause seines Freundes, des Redakteurs.

Herrn Pickwicks Stimme verdunkelte sich während der Erzählung. Seine Freunde bemerkten es und beobachteten ein tiefes Stillschweigen, als Herr Winkle zu Ende war. Herr Pickwick schlug mit geballter Faust bedeutungsvoll auf den Tisch und sprach, wie folgt: –

»Ist es nicht ein verwunderlicher Umstand, daß wir bestimmt zu sein scheinen, keines Menschen Haus zu betreten, ohne ihm auf die eine oder andere Art Unruhe zu bereiten? Ich frage, beweist es nicht die Unbesonnenheit, oder noch schlimmer, die Schlechtigkeit – oh, so etwas aussprechen zu müssen! – meiner Freunde, daß sie, unter welchem Dach man sie auch einquartieren mag, jedesmal den Seelenfrieden und das Glück irgendeines arglosen weiblichen Wesens stören? Ist es nicht, sage ich – –«

Herr Pickwick würde wahrscheinlich noch einige Zeit so fortgefahren haben, wäre der Fluß seiner Beredsamkeit nicht durch Sam, der einen Brief überbrachte, unterbrochen worden. Er fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirne, nahm seine Brille herunter, rieb die Gläser ab und setzte sie dann wieder auf. Seine Stimme hatte die gewohnte Sanftheit des Tones wieder bekommen, als er folgendermaßen begann: –

»Was hast du da, Sam?«

»Ich war soeben auf der Post«, erwiderte Herr Weller, »und dort gab man mir diesen Brief, der schon zwei Tage da gelegen. Er ist mit einer Oblate versiegelt und von einer geübten Hand adressiert.«

»Ich kenne diese Hand nicht«, sagte Herr Pickwick, den Brief öffnend. »Barmherziger Gott, was ist das, es muß ein Scherz sein; es – es – kann nicht wahr sein.«

»Was ist’s denn?« fragten alle zugleich.

»Es ist doch niemand gestorben?« sagte Wardle, beunruhigt über die Bestürzung, die sich auf Herrn Pickwicks Gesicht malte.

Herr Pickwick gab keine Antwort, sondern stieß den Brief über den Tisch und bat Herrn Tupman, ihn vorzulesen; dabei sank er mit einem Schrecken erregenden Blick starren Entsetzens auf seinen Stuhl zurück.

Mit zitternder Stimme las Herr Tupman den Brief, wovon wir hier eine Abschrift geben:

»Freemans-Court, Cornhill, den 28. August 1830. Bardell gegen Pickwick. Sir!

Beauftragt von Frau Martha Bardell, eine Klage wegen Nichterfüllung eines Eheversprechens gegen Sie einzuleiten, wofür die Klägerin eine Entschädigung von 1500 Pfund verlangt, sind wir so frei, Sie zu benachrichtigen, daß der Prozeß von uns bei dem öffentlichen Zivil-Gerichtshof anhängig gemacht worden ist. Wir ersuchen Sie, uns mit umgehender Post Ihren Rechtsbeistand in London zu nennen, dem wir dann die weiteren Mitteilungen zu übermitteln haben.

Inzwischen verbleiben wir, Sir,

Ihre gehorsamsten Diener

Dodson und Fogg. An Herrn Samuel Pickwick.«

In dem stummen Erstaunen, womit jeder seinen Nachbar, und dann alle zusammen Herrn Pickwick anblickten, lag etwas so Ausdrucksvolles, daß lange Zeit keiner zu sprechen wagte. Endlich brach Herr Tupman das Stillschweigen.

»Dodson und Fogg«, wiederholte er mechanisch.

»Bardell und Pickwick«, sagte Herr Snodgraß nachdenkend.

»Seelenfrieden und Glück argloser weiblicher Wesen«, murmelte Herr Winkle in einer Art Zerstreutheit.

»Es ist eine Verschwörung«, sagte Herr Pickwick, als er endlich die Kraft zu sprechen wiedererhielt; »eine niederträchtige Verschwörung von diesen zwei hungerleidendcn Rechtsanwälten, Dodson und Fogg. Frau Bardell würde so etwas nie tun; – sie hat weder das Herz noch eine Veranlassung dazu. Es ist lächerlich – einfach lächerlich.«

»Was ihr Herz anbelangt«, sagte Wardle lächelnd, »so müssen Sie es freilich am besten beurteilen können. Ich will Ihnen Ihren guten Mut nicht benehmen, aber so viel kann ich wohl mit Zuversicht sagen, daß in Beziehung auf Ihren Prozeß den Herren Dodson und Fogg ein weit besseres Urteil zustehen dürfte, als jedem von uns.«

»Es ist ein niederträchtiger Versuch, mir Geld abzuzwacken«, sagte Herr Pickwick.

»Ich hoffe, daß es sonst weiter nichts ist«, versetzte Herr Wardle mit kurzem, trockenen Husten.

»Wer hat mich jemals anders mit ihr umgehen gesehen, als wie ein Hausbewohner mit seiner Hausbesitzerin umzugehen pflegt?« eiferte Herr Pickwick mit großer Heftigkeit weiter. »Wer hat mich jemals mit ihr allein gesehen? Nicht einmal meine Freunde hier – –«

»Ein einziges Mal ausgenommen«, sagte Herr Tupman.

Herr Pickwick wechselte die Farbe.

»Ah so«, sagte Wardle. »Nun, das ist von Wichtigkeit. Es ist doch hoffentlich dabei nichts Verdächtiges vorgefallen?«

Herr Tupman warf seinem Meister einen schüchternen Blick zu.

»Nein«, sagte er, »es war nichts Verdächtiges; aber – ich weiß nicht, wie es zuging! Denken Sie sich nur – sie lag in seinen Armen.«

»Gütiger Himmel«, schluchzte Herr Pickwick, als sich nun die volle Erinnerung an die betreffende Szene seiner bemächtigte; »was für ein schrecklicher Beweis von der Gewalt der Umstände! Ja, es war so – es war so.«

»Und unser Freund beschwichtigte ihren Kummer«, sagte Herr Winkle etwas boshaft.

»Ja, das tat ich«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich leugne es nicht; es ist so.«

»Sieh mal an!« sagte Wardle; »für einen gänzlich harmlosen Fall sieht dies doch etwas wunderlich aus – was meinen Sie, Herr Pickwick – wie? Ja, Sie sind ein Schelm – ein alter Fuchs!«

Dabei lachte er, daß die Gläser auf dem Kredenztisch erklirrten.

»Was für ein schreckliches Zusammentreffen von Scheingründen«, rief Herr Pickwick, sein Kinn in die Hände stützend. »Winkle – Tupman – ich bitte Sie wegen meiner Bemerkung von vorhin um Verzeihung. Wir sind samt und sonders Opfer der Umstände, und ich bin das beklagenswerteste.«

Nach dieser Verteidigungsrede begrub Herr Pickwick sein Haupt in seine Hände und sann still nach, während Herr Wardle den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft einem nach dem andern bedeutungsvolle Winke und Blicke zuwarf.

»Ich will aber doch mit der Sache ins klare kommen«, sagte endlich Herr Pickwick, sein Haupt erhebend und auf den Tisch schlagend. »Ich muß diesen Dodson und Fogg selbst sprechen. Morgen fahre ich nach London.«

»Morgen noch nicht«, sagte Wardle; »Sie sind noch zu lahm.«

»Nun gut, so gehe ich übermorgen.«

»Übermorgen ist der erste September, und Sie haben uns zugesagt, unter allen Umständen mit auf die Güter des Sir Geoffrey Maning zu gehen, um daselbst ein Frühstück mit uns einzunehmen, wenn Sie auch die Jagd nicht mitmachen wollen.«

»Nun gut, auf einen Tag soll es mir nicht ankommen«, sagte Herr Pickwick; »also am Donnerstag. – Sam!«

»Sir«, antwortete Herr Weller.

»Bestelle auf Donnerstag früh für uns beide zwei Plätze nach London.«

»Sehr wohl, Sir.«

Herr Weller verließ das Zimmer und schlenderte, die Hände in den Taschen und die Augen auf die Erde geheftet, langsam weiter, um seinen Auftrag auszurichten.

»Ein netter Vogel, mein Herr«, sagte Herr Weller, als er die Straße entlang ging. »Hängt sich da an Frau Bardell, die noch obendrein ein Kind hat. Aber so geht’s mit diesen alten Burschen, trotz ihres ehrlichen Aussehens. Hätt’s mir nicht träumen lassen, so etwas hinter ihm zu suchen – nein gewiß nicht.«

Und in diesem Tone weiter moralisierend, lenkte Herr Samuel Weller seine Schritte nach dem Postbureau.

Zwanzigstes Kapitel.


Zwanzigstes Kapitel.

Ein angenehmer Tag mit einem unangenehmen Schluß.

Die Vögel, die zum Glück für ihre Gemütsruhe und ihr körperliches Wohlbehagen in seliger Unwissenheit über die Vorbereitungen blieben, die am ersten September zu ihrer Beunruhigung getroffen wurden, begrüßten ohne Zweifel den Morgen dieses Tages als einen der schönsten, den sie in dieser Jahreszeit je gesehen hatten, Manches junge Rebhuhn, das mit der ganzen Ziererei der Jugend selbstgefällig auf dem Stoppelfelde einherstolzierte, und manches alte, das ebensowenig das Gericht ahnend, das über sie ergehen sollte, mit der verächtlichen Miene der Weisheit und Erfahrung dessen leichtfertigem Treiben aus den runden Äuglein zuschaute, badete sich voll wonnetrunkener Gefühle in der frischen Morgenluft und lag wenige Stunden nachher leblos am Boden. Doch wir werden sentimental. Fahren wir in unserm Texte fort.

Es war also, um prosaisch zu berichten, ein schöner Morgen – so schön, daß man kaum geglaubt hätte, die wenigen Monate eines englischen Sommers seien schon vorübergeflogen. Hecken, Felder und Bäume, Hügel und Moorland boten dem Auge die wechselreichen Schattierungen eines vollen, saftigen Grüns. Kaum ein Blatt war gefallen, kaum ein gelbes Pünktchen mischte sich mit der Farbe des Sommers und verriet den Anfang des Herbstes. Der Himmel war wolkenlos; die Sonne schien hell und warm. Der Gesang der Vögel und das Gesumme von Myriaden Sommerinsekten erfüllte die Luft. Die Gärten prangten voller Blumen jeglicher Farbe in üppiger Schönheit und funkelten im Morgentau gleich Beeten blitzender Juwelen. Alles trug den Stempel des Sommers und noch war nicht eine von seinen schönen Farben verblichen.

An einem solchen Morgen hielt ein offener Wagen mit drei Pickwickiern (Herr Snodgraß hatte es vorgezogen zu Hause zu bleiben) nebst den Herren Wardle, Trundle und Sam Weller, der neben dem Kutscher auf dem Bock saß, vor einem Tor an der Landstraße. Hinter diesem hatten sich ein großer, starkknochiger Wildhüter und ein Junge in Halbstiefeln und Lederhosen postiert, jeder mit einer Jagdtasche von bedeutender Größe und ein paar Hühnerhunden versehen.

»Sie denken doch nicht«, flüsterte Herr Winkle Herrn Wardle zu, als man den Wagentritt niederließ, »daß wir Hühner genug schießen werden, um diese Jagdtaschen zu füllen?«

»Füllen?« rief der alte Wardle. »Was denn sonst? Sie sollen die eine füllen und ich die andere; und wenn wir damit fertig sind, so geht es erst noch an die Taschen unserer Jagdwämser.«

Herr Winkle stieg ab, ohne auf diese Bemerkung etwas zu erwidern, dachte aber in seinem Herzen, wenn die Gesellschaft so lange im Freien bleiben würde, bis er eine von den Jagdtaschen gefüllt hatte, so würde sie sich wohl einen bedeutenden Schnupfen holen,

»Na, Juno, schön – na, altes Mädchen! – leg dich, Daphne, leg dich«, sagte Wardle, die Hunde liebkosend. »Herr Geoffrey ist natürlich noch in Schottland, Martin?«

Der große Wildhüter bejahte und sah staunend auf Herrn Winkle, der seine Flinte so hielt, als ob er den Wunsch hegte, seine Rocktasche möchte ihm die Mühe ersparen, den Hahn zu spannen und dann auf Herrn Tupman, der sie so trug, als ob er sich vor ihr fürchtete – welch letztere Annahme zu bezweifeln eigentlich auch kein vernünftiger Grund vorhanden war.

»Meine Freunde sind noch nicht oft dabei gewesen, Martin«, sagte Wardle, der den Blick bemerkte. »Da heißt’s: ›Leben und Lernen‹. Aber sie werden schon noch tüchtige Schützen werden. Bitte übrigens um Verzeihung, Herr Winkle, Sie haben etwas Übung.«

Herr Winkle lächelte auf dieses Kompliment aus seiner blauen Halsbinde hervor und verwickelte sich in seiner bescheidenen Verwirrung so seltsam in seine Flinte, daß er sich, wenn sie geladen gewesen wäre, notwendig auf der Stelle hätte erschießen müssen.

»Sie müssen das Ding da anders halten, wenn es einmal geladen ist«, sagte der große Wildhüter mürrisch, »oder der Teufel soll mich holen, wenn Sie so nicht einen von uns kalt machen.«

Herr Winkle, veränderte auf die Ermahnung plötzlich seine Stellung und brachte den Flintenlauf dabei in ziemlich kräftige Berührung mit Herrn Wellers Kopf.

»Holla«, rief Sam, den heruntergeschlagenen Hut aufhebend und seine Schläfe reibend: »holla, mein Herr: wenn Sie so kommen, können Sie mit einem Schlag eine von diesen Taschen füllen, und noch mehr dazu.«

Hier lachte der lederhosige Junge aus vollem Halse und versuchte dabei auszusehen, als ob es jemand anders gewesen wäre, worüber Herr Winkle voll Majestät die Stirn runzelte.

»Wo haben Sie dem Jungen gesagt, daß er uns mit dem Korbe erwarten solle?« fragte Wardle.

»Dort an dem großen Baume auf dem Hügel um zwölf Uhr, Sir.«

»Der gehört, glaube ich, nicht zu Herrn Geoffreys Gut – oder?«

»Nein, Sir, aber er ist nahe dabei. Der Platz gehört dem Kapitän Boldwig; aber es wird uns niemand stören. Auch ist dort prächtiger Rasen.«

»Sehr schön«, versetzte der alte Wardle. »Aber nun ist’s Zeit. Je bälder, je besser! Wollen Sie uns also um zwölf Uhr treffen, Pickwick?«

Herr Pickwick hatte eine besondere Sehnsucht, der Jagd zuzusehen, zumal, da es ihm um Herrn Winkles Leib und Leben bange war und es an einem so einladenden Morgen wahre Tantalusqual gewesen wäre, wieder umzukehren und seinen Freunden den Genuß allein zu überlassen. Er erwiderte deshalb mit einer sehr traurigen Miene:

»Tja, ich denke, daß ich wohl muß.«

»Ist der Herr kein Schütze, Sir?« fragte der lange Wildhüter.

»Nein«, antwortete Wardle: »und außerdem kommt er mit seinem Beine nicht recht fort.«

»Ich würde sehr gern mitgehen«, sagte Herr Pickwick – »sehr gern.«

Es entstand eine kleine Pause des Bedauerns.

»Jenseits der Hecke ist eine Schiebkarre«, sagte der Junge. »Wenn darauf der Diener seinen Herrn auf den Pfaden nachrollen würde, der Karren läßt sich leicht über die Schranken heben.«

»Ganz recht«, sagte Herr Weller, der recht interessiert war, weil er selbst ein brennendes Verlangen hatte, die Jagd mit anzusehen. »Ganz recht, ein guter Einfall, du Stöpsel: in einer Minute will ich ihn da haben.«

Aber es erhob sich eine Schwierigkeit. Der lange Wildhüter protestierte feierlich dagegen, daß ein Gentleman auf einer Schiebkarre zu einer Jagdpartie fahren sollte, und nannte das eine grobe Verletzung aller weidmännischen Regeln und Gebräuche.

Da war nun guter Rat teuer, aber er war nicht unbezahlbar. Der Wildhüter erhielt Geld und gute Worte, und machte nun seinem Herzen dadurch Luft, daß er dem erfinderischen Jungen, der zuerst das Vehikel vorgeschlagen hatte, eins hinter die Ohren versetzte. Herr Pickwick wurde auf den Karren gesetzt, und die Jagdgesellschaft brach auf, wobei Wardle und der lange Wildhüter den Zug anführten und Herr Pickwick von Sam hinterher geschoben wurde.

»Halt, Sam!« rief Herr Pickwick, als sie in der Mitte des ersten Feldes angekommen waren.

»Was gibt’s?« fragte Wardle.

»Der Karren soll mir keinen Schritt weiter«, sagte Herr Pickwick entschlossen, »bis Herr Winkle seine Flinte anders hält.«

»Wie soll ich sie denn halten?« fragte der unglückliche Winkle.

»Die Mündung gegen den Boden gekehrt«, versetzte Herr Pickwick.

»Das ist nicht weidmännisch«, meinte Winkle.

»Ich kümmere mich nicht darum«, erwiderte Herr Pickwick, »ob es weidmännisch ist oder nicht: ich will nun einmal niemanden zulieb – um einer bloßen Förmlichkeit willen, auf einen Karren erschossen werden.«

»Ich wette, der Herr wird den Schuß jemand in den Leib jagen, ehe er daran denkt«, brummte der Lange.

»Nun, mir soll’s auch so recht sein«, sagte der arme Herr Winkle, seinen Flintenschaft nach oben kehrend. – »So!«

»Es geht doch nichts über ein ruhiges Leben«, sagte Herr Weller; und der Zug bewegte sich wieder vorwärts.

»Halt!« rief Herr Pickwick, als sie wieder einige Meter vorwärts gedrungen waren.

»Was gibt’s schon wieder?« fragte Wardle.

»Tupmans Flinte ist nicht gesichert; ich seh es, sie ist nicht gesichert«, rief Herr Pickwick.

»Wie? was? nicht gesichert?« fragte Herr Tupman im Tone großer Angst.

»Ich meine, wie Sie sie tragen«, sagte Herr Pickwick. »Es tut mir leid, wieder eine Störung zu veranlassen, aber ich kann nicht zugeben, daß es weiter geht, bis Sie Ihr Gewehr halten, wie Herr Winkle.«

»Ich dächte auch, Sie ließen sich raten, Sir«, sagte der lange Wildhüter, »oder es könnte ebensowohl der Fall sein, daß der Schuß in Ihre eigene Hüfte führe, als in eine andere.«

Herr Tupman brachte mit der verbindlichsten Hast sein Feuergewehr in die verlangte Richtung, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die beiden Jagdliebhaber schritten mit umgekehrten Waffen daher, wie ein paar Soldaten bei einem königlichen Leichenbegängnis.

Plötzlich standen die Hunde. Die Gesellschaft stahl sich noch einen Schritt weiter und blieb gleichfalls stehen.

»Was machen denn die Hunde mit ihren Beinen?« flüsterte Herr Winkle. »Sie stehen so wunderlich da,«

»Pst! sehen Sie’s denn nicht?« versetzte Wardle leise: »sie stellen etwas.«

»Stellen etwas?« fragte Herr Winkle, umherschauend, als ob er irgend etwas Besonderes in der Landschaft zu entdecken erwartete, dem die scharfsinnigen Tiere eine vorzugsweise Aufmerksamkeit widmeten. »Stellen etwas? Und was stellen sie denn?«

»Sperren Sie Ihre Augen auf«, sagte Herr Wardle in der Aufregung des Augenblicks, ohne die Frage zu beachten. »Los!«

Ein scharfes, schwirrendes Geräusch, und Herr Winkle bebte zurück, als wäre er erschossen. Piff, paff erscholl es: der Rauch schwebte schnell über das Gefilde und verschwand in der Luft.

»Wo sind sie?« fragte Herr Winkle, in dem Zustande der höchsten Aufregung sich nach allen Richtungen umsehend. »Wo sind sie? Sagen Sie mir, wann ich schießen soll. Wo sind sie – wo sind sie?«

»Wo sie sind?« entgegnete Wardle, ein paar Hühner aufhebend, die die Hunde zu seinen Füßen gelegt hatten. »Wo sie sind? Nun, hier sind sie.«

»Nein, nein – ich meine die andern«, sagte der verwirrte Winkle.

»Für diesmal weit genug weg«, erwiderte Wardle, seine Flinte kaltblütig wieder ladend.

»In fünf Minuten werden wir wahrscheinlich eine zweite Kette antreffen«, sagte der lange Wildhüter. »Wenn der Herr jetzt zu schießen anfängt, so kann der Schuß gerade in dem Augenblicke aus dem Lauf kommen, wo sie auffliegen.«

»Ha, ha, ha!« lachte Herr Weller.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, der seinen Gefährten wegen seiner Verwirrung und Verlegenheit bemitleidete.

»Sir!«

»Lache nicht.«

»Gewiß nicht, Sir!« antwortete Herr Weller und verzerrte seine Gesichtszüge hinter dem Schiebkarren zur großen Belustigung des Jungen mit den Lederhosen, der deshalb in ein wieherndes Gelächter ausbrach und von dem langen Wildhüter einige Puffe bekam. D.h. dieser suchte damit nur einen Vorwand, sich umzudrehen und seine eigene Lachlust zu verbergen.

»Bravo, alter Kamerad«, sagte Herr Wardle zu Herrn Tupman: »Sie feuerten doch wenigstens.«

»O ja«, erwiderte Herr Tupman mit stolzem Selbstgefühl: »ich schoß.«

»Bravo: Sie werden das nächste Mal treffen, wenn Sie gut zielen. Es ist sehr leicht – nicht wahr?«

»Ja, es ist sehr leicht«, sagte Herr Tupman. »Übrigens erhielt ich dabei einen Stoß an die Schulter, der mich fast zu Boden geworfen hätte. Ich ließ mir’s nicht träumen, daß die kleinen Dinger hinten ausschlagen könnten.«

»Ah«, sagte der alte Herr lächelnd, »Sie werden sich daran mit der Zeit schon gewöhnen. Nun – alles bereit? – Alles in Ordnung mit dem Schiebkarren hier?«

»Alles in Ordnung, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»So komm.«

»Halten Sie sich fest, Herr«, sagte Sam, den Schiebkarren aufhebend.

»O weh, o weh«, rief Herr Pickwick; und vorwärts ging’s, so schnell wie es nötig war.

»Halten Sie jetzt mit dem Schiebkarren«, rief Wardle, als dieser über eine Schranke in das nächste Feld gehoben worden war und Herr Pickwick wieder darauf Platz genommen hatte.

»Ganz recht, Sir«, versetzte Herr Weller und hielt.

»Nun folgen Sie mir langsam, Winkle«, sagte der alte Herr, »und kommen Sie diesmal nicht zu spät.«

»Sorgen Sie nicht für mich«, antwortete Herr Winkle. »Stehen sie?«

»Nein, noch nicht; ruhig jetzt, ruhig.«

Sie schlichen vorwärts und würden in aller Stille hingekommen sein, hätte nicht Herr Winkle bei Ausführung einer sehr schwierigen Wendung mit seiner Flinte in dem entscheidenden Augenblick zufälligerweise den Drücker berührt. Der Schuß ging über den Kopf des Jungen weg genau dorthin, wo des großen Mannes Hirnschale geragt hätte, wenn dieser statt jenem dagestanden wäre.

»Was in aller Welt haben Sie gemacht?« fragte der alte Wardle, als die Hühner lustig davonflogen.

»Eine solche Flinte habe ich in meinem Leben nicht gesehen«, bemerkte der alte Winkle, das Schloß betrachtend, als ob das irgend etwas hülfe. »Sie geht von selbst los.«

»Ach was – geht von selbst los!« versetzte Wardle mit etwas gereiztem Tone; »ich wollte, sie würde auch von selbst etwas treffen.«

»Oh, das kann in kurzem geschehen, Sir«, bemerkte der Lange mit dumpfer, prophetischer Stimme.

»Was wollen Sie mit dieser Bemerkung, Sir?« fragte Herr Winkle ärgerlich.

»Nichts Besonderes, Sir – nichts Besonderes«, erwiderte der Wildhüter. »Ich selbst habe keine Familie, Sir; und dieses Jungen Mutter bekäme was Hübsches von Herrn Geoffrey, wenn er auf seinem Gute erschossen würde. Laden Sie wieder, Sir – laden Sie wieder.«

»Nehmt ihm die Flinte ab!« rief Herr Pickwick vom Schiebkarren herunter, über die schwarzen Ahnungen des Langen von Schauern geschüttelt, »Nehmt ihm die Flinte ab! Hört mich niemand?«

Aber niemand wollte dem Befehle Folge leisten, und Herr Winkle, der einen rebellischen Blick auf Herrn Pickwick schoß, lud seine Flinte auf’s neue und ging mit der übrigen Gesellschaft weiter.

Wir sind verpflichtet, unter Berufung auf Herrn Pickwicks Autorität ausdrücklich zu bemerken, daß Herr Tupman in seinem Verfahren weit mehr Klugheit und Besonnenheit an den Tag legte, als Herr Winkle. Doch wollen wir damit den Kenntnissen des letztgenannten Herrn in allen Fächern der Jagdwissenschaft keineswegs zunahe treten. Wie nämlich Herr Pickwick schon bemerkte, so ist es, was auch immer Schuld daran sein mag, schon seit fast undenklichen Zeiten immer wieder vorgekommen, daß oft gerade die besten und größten Philosophen, die in die Tiefe der Wissenschaft eingedrungen waren, nicht das Glück hatten, die Theorie auf die Praxis zu übertragen.

Herrn Tupmans Verfahren war, wie das bei den größten Entdeckungen gewöhnlich der Fall ist, äußerst einfach. Mit dem schnellen Scharfblick des Genies hatte er die beiden Hauptsachen, auf die es ankam, mit einem Male gefunden – erstens sein Gewehr abzuschießen, ohne sich selbst zu verletzen, und zweitens, es abzuschießen ohne Gefahr für die Umstehenden. Nachdem er nun die Schwierigkeit, überhaupt zu schießen, überwunden hatte, war natürlich das Beste, was er tun konnte, die Augen fest zuzudrücken und in die Luft zu feuern.

Einmal sah Herr Tupmann, als er nach dieser Heldentat die Augen wieder aufschlug, ein fettes Rebhuhn verwundet zu Boden fallen. Er stand eben im Begriff, Wardle zu seinem unwandelbaren Glück zu gratulieren, als dieser Herr auf ihn zutrat, und ihm warm die Hand drückte.

»Tupmann«, sagte der alte Herr, »Sie hatten es gerade auf dieses Huhn abgesehen?«

»Nein«, sagte Herr Tupman, »nein.«

»Sie haben es«, erwiderte Wardle; »ich sah es, wie Sie’s gemacht haben – ich bemerkte, wie Sie es herausgeschossen haben – ich beobachtete Sie, wie Sie Ihre Flinte nahmen und darauf zielten, und ich kann Ihnen sagen, der beste Schütze auf der Welt hätte es nicht hübscher machen können. Sie sind geschickter, als ich geglaubt hatte, Herr Tupman; – Sie sind schon besser bei der Sache.«

Vergeblich lehnte Herr Tupmann mit einem Lächeln und einer Selbstverleugnung, die sonst nie zu seinen Tugenden gehörte, die Ehre ab. Aber eben dieses Lächeln wurde für einen Beweis des Gegenteils angesehen; und von dem Augenblicke an stand sein Ruf fest begründet. Das ist aber nicht der einzige Ruhm, der so leicht erworben worden; auch sind so glückliche Umstände nicht allein auf die Hühnerjagd beschränkt.

Herr Winkle schoß fort und fort, und der Rauch wirbelte dahin, ohne weitere bemerkenswerte Ergebnisse herbeizuführen; bald feuerte er seine Flinte in die Luft, bald ging der Schuß so nahe am Boden hin, daß er das Leben der beiden Hunde in eine unsichere und heikle Lage versetzte. Als Liebhaberpröbchen betrachtet, hatten seine Schüsse sehr viel Abwechselndes und Kunstvolles. Sollte aber ein bestimmtes Ziel gesetzt sein, so waren seine Versuche wohl als ganz mißlungen zu betrachten. Es ist ein anerkannter Grundsatz, jede Kugel hat ihr Ziel. Wenden wir diesen Satz aber auf Herrn Winkles Schrotkörner an, so waren es unglückliche Findelkinder, die, ihrer natürlichen Rechte beraubt, nirgends zu Hause sind und ohne Zweck und Ziel umherirren.

»Das ist ein schwüler Tag – nicht wahr?« sagte Wardle, als er auf den Schiebkarren zuging und sich den Schweiß von seinem glühend roten Gesicht wischte.

»Sicherlich«, versetzte Herr Pickwick. »Die Sonne ist fürchterlich heiß, sogar für mich. Wie es erst Sie empfinden müssen!«

»Ja«, sagte der alte Herr; »es ist ziemlich heiß. Doch es ist zwölf Uhr vorbei. Sehen Sie dort den grünen Hügel?«

»Gewiß.«

»Dort werden wir unsern Lunch halten: und, bei Jupiter, da ist auch der, Junge schon mit dem Korbe, so pünktlich wie eine Sekundenuhr.«

»Das ist er«, sagte Herr Pickwirk aufgeheitert. »Ein guter Junge das. Ich will ihm gleich einen Schilling geben. Los, Sam, fahre mich hin!«

»Halten Sie sich fest, Sir«, sagte Herr Weller, durch die Aussicht auf den Jagdschmaus gestärkt: »aus dem Weg, du Lederhosenjunge. Wenn Ihr mein kostbares Leben schätzt, so werft mich nicht um, wie der Gentleman zu dem Kutscher sagte, als man ihn zum Galgen führte.«

Und seinen Schritt in starken Trab verwandelnd, fuhr Herr Weller seinen Herrn schnell auf den grünen Hügel, setzte ihn geschickt neben dem Korbe ab und fing mit der größten Eile an auszupacken.

»Eine Kalbspastete«, begann Herr Weller seinen Monolog, als er die Speisen auf den Rasen legte. »Etwas Gutes um eine Kalbspastete, wenn man die Dame kennt, die sie zubereitet hat, und man sicher ist, daß sie von keiner Katze kommt. Und doch – worin liegt der Unterschied, wenn beide einander so ähnlich sind, daß sie selbst die Pastetenbäcker nicht unterscheiden können?«

»Können Sie das in der Tat nicht, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Nein, Herr«, antwortete Herr Weller, nach seinem Hute greifend. »Logierte einmal im nämlichen Hause mit einem solchen Pastetenbäcker, und das war ein recht hübscher Mann – ein durchtriebener Kauz – konnte aus allem Pasteten machen. ›Was für ne Riesenmenge Katzen halten Sie doch, Herr Brooks?‹ fragte ich ihn im Vertrauen. – ›O ja‹, sagte er, ›es sind ziemlich viele.‹ – ›Sie müssen ein großer Katzenfreund sein‹, sagte ich. – ›Andere Leute sind’s‹, sagte er mir zuwinkend: ›sie haben aber jetzt ihre Zeit nicht bis der Winter kommt.‹ – ›Sie haben ihre Zeit nicht?‹ fragte ich. – ›Nein‹, sagte er: ›Früchte haben ihre im Sommer, Katzen im Winter.‹ – ›Was meinen Sie damit?‹ fragte ich. – ›Meinen?‹ sagte er. ›Nun, ich meine, daß ich mich mit der Schlächterzunft nicht einlassen will, um die Fleischpreise zu steigern‹, sagte er. ›Herr Weller‹, sagte er, meine Hand heftig drückend und mir in die Ohren flüsternd – ›sagen Sie das nicht weiter, es liegt nur an der Zubereitung. Meine Fabrikate werden aus lauter solchen edlen Tieren gemacht‹, sagte er, auf ein sehr hübsches, gestreiftes Kätzchen deutend, ›und ich stutze sie zu Ochsenfleisch, Kalbfleisch oder Nieren zu, wie es verlangt wird: und noch mehr‹, sagte er, ›ich kann in einer Minute aus Kalbfleisch Ochsenfleisch, oder aus Ochsenfleisch Nieren, oder aus einem von diesen Hammelfleisch machen, wie der Markt wechselt und der Geschmack verschieden ist.‹«

»Sam, das muß ein sehr erfinderischer junger Mann gewesen sein«, sagte Herr Pickwick mit einem leichten Schauder.

»Das war er, Sir«, versetzte Herr Weller, in seinem Zuge fortfahrend: »und die Pasteten waren schön. – Eine Zunge – es ist was Gutes um eine Zunge, wenn es keine Weiberzunge ist. Brot, Schweinsknöchel, man könnte sie nicht schöner malen – kaltes Rindfleisch in Schnitten, sehr gut. Was ist in den steinernen Krügen, du junger Dachs?«

»In diesen ist Bier«, antwortete der Junge, ein paar große steinerne Flaschen, die mit einem ledernen Riemen zusammengebunden waren, von der Schulter nehmend: »in den andern kalter Punsch.«

»Ein hübsche» Zwischenmahl, wenn man’s so im Ganzen beisammen hat«, sagte Herr Weller, die Gänge der Mahlzeit mit großem Behagen überblickend. »Nun, meine Herren: drauf los, wie der Engländer zu dem Franzosen sagte, als sie die Bajonette aufsteckten.«

Es bedurfte keiner zweiten Einladung für die Gesellschaft, dem Mahle seine volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ebenso waren keine dringenden Bitten nötig, Herrn Weller, den langen Wildhüter und die beiden Jungen dahin zu bringen, daß sie sich in einiger Entfernung ins Gras streckten und eine dezente Portion von den Speisen nahmen. Eine alte Eiche diente der Gruppe zu einem freundlichen Obdach, Ackerland und Wiesen, von üppigen Hecken durchschnitten, üppig mit Wald ausgeschmückt, lag zu ihren Füßen.

»Es ist entzückend – ganz entzückend!« sagte Herr Pickwick, dessen ausdrucksvolles Gesicht durch die Wirkung der Sonne schnell fast bis zum Bersten der Haut aufgetrieben wurde.

»Ja, das ist’s – das ist’s, alter Kamerad«, versetzte Wardle. »Kommen Sie: ein Glas Punsch.«

»Mit großem Vergnügen«, sagte Herr Pickwick, und die Heiterkeit seines Gesichtes, nachdem er es getrunken, zeugte von der Aufrichtigkeit seiner Antwort. »Gut«, meinte Herr Pickwick, mit den Lippen schnalzend. »Sehr gut. Ich möchte noch eins. Kühlend, sehr kühlend. Kommen Sie, meine Herren«, fuhr Herr Pickwick fort, noch immer den Krug festhaltend: »einen Toast. Unsere Freunde zu Dingley Dell!«

Der Toast wurde mit lautem Beifall aufgenommen.

»Ich will Ihnen sagen, was ich tun will, um wieder zu einem guten Schuß zu kommen«, sagte Herr Winkle, der Brot und Hammelfleisch mit einem Taschenmesser zerschnitt und verspeiste. »Ich will ein ausgestopftes Rebhuhn auf eine Stange stecken und mich daran üben, indem ich mich zuerst in geringer Entferung davon aufstelle und allmählich meine Schußlinie verlängere. Ich glaube, das ist eine treffliche Übung.«

»Ich kenne einen Gentleman, Sir«, sagte Herr Wellcr, »der es auch so machte und mit einem Meter anfing. Aber er versuchte es nicht zum zweitenmal, denn er blies den Vogel auf den ersten Schuß so rein herunter, daß niemand mehr eine Feder von ihm sah.«

»Sam«, rief Herr Pickwick.

»Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Sei so gut und behalte deine Anekdoten für dich, bis man dich fragt.«

»Sehr wohl, Sir.«

Und Freund Weller kniff das eine Auge zu, das nicht durch die eben an die Lippen geführte Bierkanne verdeckt war. Er tat es auf eine so spaßhafte Weise, daß die beiden Jungen mit Lachen nicht mehr aufhören konnten und sogar der Lange sich zu lächeln herabließ.

»Ja, gewiß, das ist ein vorzüglicher kalter Punsch«, bemerkte Herr Pickwick, den steinernen Krug betrachtend: »’s ist aber auch ein warmer Tag und – Tupman, mein lieber Freund, ein Glas Punsch?«

»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Herr Tupman.

Nachdem er das Glas geleert hatte, trank Herr Pickwick ein anderes, bloß mal, um zu sehen, ob Pomeranzenschalen in dem Punsch seien, denn Pomeranzenschalen waren ihm von jeher zuwider. Da er aber fand, daß keine darin waren, trank er noch ein weiteres Glas auf die Gesundheit ihres abwesenden Freundes, und dann fühlte er sich gebieterisch aufgefordert, noch ein anderes zu Ehren des unbekannten Punschbereiters vorzuschlagen.

Diese Reihe von Gläsern verfehlte nicht ihre entsprechende Wirkung auf Herrn Pickwick. Sein Gesicht funkelte im sonnigsten Lächeln: Fröhlichkeit spielte um seine Lippen, und rosige Laune glänzte in seinem Auge. Allmählich geriet Herr Pickwick immer mehr unter den Einfluß des Getränks, dessen anregende Eigenschaft durch die Hitze noch erhöht wurde. Herr Pickwick konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Gesang vorzutragen, den er in seiner Kindheit gehört hatte; und da der Versuch mißlang, suchte er sein Gedächtnis durch eine noch größere Anzahl von Gläsern zu erhöhter Tätigkeit anzuspornen. Das schien jedoch eine ganz entgegengesetzte Wirkung hervorzubringen. Hatte er nämlich zuvor die Worte des Gesangs vergessen, so vergaß er jetzt, wie man überhaupt in artikulierten Tönen sprechen muß; und endlich, nachdem er sich auf seine Beine gestellt hatte, um eine ergreifende Rede an die Gesellschaft zu halten, fiel er auf den Schiebkarren und schlief augenblicklich ein.

Nachdem der Korb wieder gepackt war, und man es rein unmöglich gefunden hatte, Herrn Pickwick aus seinem Todesschlafe zu wecken, fand eine Beratung statt, ob es besser sei, wenn Herr Weller seinen Herrn wieder zurückführe, oder wenn er ihn liegen lasse, wo er lag, bis sich alle wieder auf den Rückweg begeben würden. Schließlich entschied man sich für das Letztere. Da die weitere Expedition nur noch eine knappe Stunde dauern sollte und Herr Weller sehr inständig bat, die Gesellschaft begleiten zu dürfen, so wurde beschlossen, Herrn Pickwick auf dem Karren zu lassen und ihn auf dem Rückweg wieder mitzunehmen, Man machte sich also auf, und Herr Pickwick schnarchte ganz behaglich im Schatten fort.

Daß Herr Pickwick im Schatten fortgeschnarcht hätte, bis seine Freunde zurückgekommen wären, oder statt dessen geschnarcht hätte, bis sich die Schatten des Abends auf das Gefilde lagerten, scheint unzweifelhaft, wenn man nur voraussetzt, daß er es ungestört hätte tun können. Das war aber leider nicht der Fall. Es kam anders.

Kapitän Boldwig war ein kleiner rasch aufbrausender Mann, in einer steifen, schwarzen Halsbinde und einem blauen Überrock. Zuweilen ließ er sich herab, sein Gut zu inspizieren und vergaß dann nie, ein dickes spanisches Rohr mit messingner Zwinge, einen Gärtner und Untergärtner mit sehr ergebenen Gesichtern mitzunehmen. Diesen (den Gärtnern, nicht dem Stock) erteilte Kapitän Boldwig mit aller gebührenden Hoheit und Barschheit seine Befehle. Denn Kapitän Boldwigs Schwägerin hatte einen Marquis geheiratet, und des Kapitäns Wohnsitz war eine Villa. Sein Grundstück war ein Landgut, und es war alles sehr großartig und auf großen Fuß eingerichtet,

Herr Pickwick hatte noch keine halbe Stunde geschlafen, als der kleine Kapitän Boldwig, von seinen beiden Gärtnern begleitet, so schnell daherschritt, wie es seine Wichtigkeit und Würde erlaubte. Als nun Kapitän Boldwig an die Eiche kam, blieb er stehen, holte tief Atem, sah sich in der Gegend um, als ob die Gegend sich hochgeehrt fühlen müßte, daß er sie in Augenschein nahm, stieß dann mit seinem Stock kräftig auf den Boden und wandte sich an seinen Obergärtner.

»Hunt!« rief Kapitän Boldwig.

»Ja, Sir«, sagte der Gärtner.

»Harke diesen Platz morgen früh – hörst du, Hunt?«

»Ja, Sir.«

»Und sorge dafür, daß er überhaupt in ordentlichem Stande erhalten wird – hörst du, Hunt?«

»Ja, Sir.«

»Und erinnere mich daran, anschlagen zu lassen, daß niemand ungestraft mein Landgut betreten darf. Auch Selbstschüsse muß ich anbringen und überhaupt alles tun, was das gemeine Pack fernhält. Hörst du, Hunt? Hörst du?«

»Wird besorgt, Sir.«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte der andere, mit der Hand an den Hut greifend.

»Nun, Wilkins, was ist’s mit dir?« fragte Kapitän Boldwig.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir – aber ich meine, man hat heute schon Ihr Gebot übertreten.«

»Was!!« rief der Kapitän, sich rings umschauend.

»Ja, Sir. – Man hat, glaube ich, hier gezecht.«

»Gnade Gott den Verwegenen, wenn sie das riskierten!« sagte Kapitän Boldwig, als er die Überbleibsel, die auf dem Rasen zerstreut lagen, gewahrte. »Wahrhaftig, sie haben hier wirklich ein Gelag gehalten. Ich wollte, ich hätte die Landstreicher hier«, sprach der Kapitän, seinen Knotenstock schwingend.

»Ich wollte, ich hätte die Landstreicher hier«, wiederholte der Kapitän wütend.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sprach Wilkins, »aber –«

»Aber was? He?« brüllte der Kapitän, und den furchtsamen Blicken Wilkins folgend, fielen seine Augen auf den Schiebkarren und Herrn Pickwick.

»Wer seid Ihr, Spitzbube?« rief der Kapitän, Herrn Pickwick mit seinem Stocke einige Stöße versetzend. »Wie heißt Ihr?«

»Kalter Punsch«, murmelte Herr Pickwick und sank wieder in Schlaf.

»Wie?« fragte Kapitän Boldwig.

Keine Antwort.

»Wie sagte er, daß er heiße?« fragte der Kapitän wieder.

»Punsch Das englische Punch bezeichnet zugleich einen Hanswurst. glaube ich, Sir«, erwiderte Wilkins.

»Das ist eine Unverschämtheit, eine verfluchte Unverschämtheit«, sagte Kapitän Boldwig. »Er stellt sich nur, als ob er schlafe«, fuhr der Kapitän ganz empört fort. »Es ist ein Betrunkener; es ist ein betrunkener Plebejer. Bring‘ ihn weg, Wilkins, bring‘ ihn auf der Stelle weg.«

»Wohin soll ich ihn bringen, Sir?« fragte Wilkins ganz schüchtern.

»Bring‘ ihn zum Teufel«, antwortete Kapitän Boldwig.

»Sehr wohl, Sir«, entgegnete Wilkins.

»Halt!« rief der Kapitän.

Wilkins hielt.

»Führe ihn« – sagte der Kapitän – »sperr‘ ihn in einen Tierstall, und wir wollen sehen, ob er sich auch Punsch nennt, wenn er zu sich kommt. Er soll mich nicht für den Narren halten – nein, er soll mich nicht für den Narren halten. Schaff‘ ihn weg.«

Auf diesen diktatorischen Befehl wurde Herr Pickwick weggeschafft, und der große Kapitän Boldwig setzte voll Zorn seinen Spaziergang fort.

Unbeschreiblich war das Erstaunen der kleinen Gesellschaft, als sie bei ihrer Rückkehr fand, daß Herr Pickwick samt dem Schiebkarren verschwunden war. Es war das rätselhafteste, unerklärlichste Ereignis, von dem man jemals gehört hatte. Wenn sich ein Lahmer ohne weiteres auf die Füße geholfen hätte und auf und davon gegangen wäre, so würde das schon ein sehr außerordentlicher Fall gewesen sein. Aber wenn dazu noch ein schwerer Karren kam, den er zu seinem Vergnügen vor sich herschob, so steigerte das die Sache bis zum wahrhaften Wunder. Sie durchsuchten jeden Winkel im ganzen Umkreis, sowohl miteinander, als auch einzeln. Sie schrien, pfiffen, lachten, riefen ihn beim Namen – alles mit gleichem Mißerfolg. Herr Pickwick war nicht aufzufinden, und nach einigen Stunden fruchtlosen Nachsuchens gelangten sie zu dem unerfreulichen Schluß, daß sie ohne ihn nach Hause zurückkehren müßten.

Mittlerweile war Herr Pickwick nach dem Stall geschafft und dort glücklich abgesetzt worden. Zum außerordentlichen Vergnügen und zur Belustigung nicht nur aller Jungen im Dorfe, sondern von dreiviertel der Bevölkerung überhaupt, die sich rings um ihn versammelt hatten, um sein Erwachen abzuwarten, schlief er noch immer auf seinem Schiebkarren. Hatte es ihnen den höchsten Genuß gewährt, ihn hereingeschafft zu sehen, wieviel hundertmal größer war ihr Entzücken, als er ein paar Mal verdröselt nach Sam rief und sich auf seinem Schiebkarren halb aufrichtete. Mit grenzenlosem Erstaunen betrachtete er die Gesichter vor sich.

Sein Erwachen begleitete ein allgemeines Jubelgeheul. Seine vertatterte Frage: »Was ist denn los?« veranlaßte ein zweites, das womöglich noch lauter war als das erste.

»Das ist ein Hauptspaß«, brüllte das Volk.

»Wo bin ich?« rief Herr Pickwick.

»Im Tierstall«, hieß es.

»Wie kam ich hierher? Was hab ich getan? Von wem bin ich hergebracht worden?«

»Boldwig – Kapitän Boldwig«, war die einzige Antwort.

»Laßt mich hinaus«, rief Herr Pickwick. »Wo ist mein Diener? wo sind meine Freunde?«

»Ihr habt ja schöne Freunde, Hurra!«

Eine Rübe flog ihm an den Kopf, dann eine Kartoffel, dann ein Ei, dann folgten noch andere praktische Beweise der Volkslaune.

Wie lange dieser Auftritt gedauert, oder wieviel Herr Pickwick noch gelitten haben würde, kann niemand sagen, wäre nicht plötzlich ein Wagen herbeigekommen, aus dem der alte Wardle und Sam Weller stiegen. Der alte Wardle bahnte sich in kürzerer Zeit, als man es, wenn auch nicht lesen, doch wenigstens schreiben kann, zu Herrn Pickwick eine Gasse und hob ihn in demselben Augenblicke in den Wagen, als Freund Weller im Boxkampf mit dem Amtsbüttel den dritten und letzten Gang gemacht hatte.

»Lauft zur Polizei«, schrie ein Dutzend Stimmen.

»Lauft nur brav«, sagte Herr Weller, sich auf den Bock schwingend. »Mein Kompliment – Master Wellers Kompliment – an den Amtmann, und sagt ihm, ich habe ihm seinen Büttel lahmgeschlagen. Wenn er einen neuen anstellen wolle, so werde ich morgen wieder kommen und ihn gleichfalls lahmschlagen! Fahr zu, alter Knabe!«

»Ich werde vor allem eine Klageschrift gegen diesen Kapitän Boldwig wegen grundloser Verhaftung einreichen und sie gleich morgen nach London senden«, sagte Herr Pickwick, sobald die Kutsche zum Flecken hinausfuhr.

»Wir haben uns, scheint es, eine Überschreitung der Grenze zuschulden kommen lassen«, sagte Wardle.

»Das geht mich gar nichts an«, erwiderte Herr Pickwick: »ich bringe die Klage an.«

»Das lassen Sie lieber bleiben«, sagte Wardle.

»Nein, gewiß nicht; bei –« doch da Herr Pickwick Wardles ironisches Lächeln wahrnahm, so hielt er inne, und fragte – »Warum denn nicht?«

»Weil«, antwortete der alte Wardle, vor Lachen beinahe platzend, »weil man den Stiel umdrehen und sagen könnte, wir hätten zu viel kalten Punsch getrunken.«

Herrn Pickwicks Gesicht lächelte, er mochte sich sträuben wie er wollte: das Lächeln wurde zum Lachen, das Lachen zum Wiehern, und das Wiehern wurde allgemein. Um ihre gute Laune zu erhalten, stiegen sie am ersten Wirtshause an der Straße ab und befahlen ein Glas Grog pro Kopf und eine Flasche Steifen für Herrn Samuel Weller.

Einundzwanzigstes Kapitel.


Einundzwanzigstes Kapitel.

Das zeigt, wie Dodson und Fogg Männer vom Geschäft und ihre Schreiber Männer von Welt sind; und wie ein rührendes Zusammentreffen zwischen Herrn Weller und seinem lange vermißten Vater stattfindet; ferner zeigt es, was für ausgezeichnete Geister in der Elster zusammenkommen und was für ein Kapitalkapitel das folgende Kapitel sein wird.

In einem schmutzigen Hause am äußersten Ende von Freemans Court Cornhill saßen in einem Vorderzimmer des Erdgeschosses die vier Schreiber der Herren Dodson und Fogg, zweier Anwälte seiner Majestät bei den Gerichtshöfen von Kings Bench und Common Pleas zu Westminsier und Prokuratoren beim Oberkanzleigericht. Vorbesagte Schreiber erfreuten sich im Laufe ihrer Kanzleistunden ungefähr ebenso vieler günstiger Licht- und Sonnenblicke, wie jemand zu erhalten hoffen darf, der in einem Brunnen von ordentlicher Tiefe steht, ohne jedoch den Vorteil zu haben, den dieser seinem abgeschlossenen Aufenthalt verdankt – den Vorteil nämlich, die Sterne bei Tage zu sehen.

Die Schreibstube der Herren Dodson und Fogg war ein dunkles, dumpfiges, muffiges Zimmer mit einem Nebengemach, das die Schreiber durch eine hohe spanische Wand von dem gemeinen Volke trennte. Außerdem waren da ein paar alte hölzerne Stühle, eine sehr laut tickende Uhr, ein Kalender, ein Regenschirmständer, eine Reihe hölzerner Hutnägel, einige Wandbretter, worauf verschiedene schmutzige Aktenfaszikel lagen, einige alte hölzerne Schubladen mit Aufschriften und allerlei baufällige, steinerne Tintenkrüge von verschiedener Gestalt und Größe. Eine Glastür führte in das Vorzimmer der Amtsstube: und auf der andern Seite der Glastür zeigte sich am nächsten Freitag morgen nach dem Ereignis, von dem wir im letzten Kapitel getreuen Bericht erstatteten, Herr Pickwick nebst Herrn Weller, der seinem Gebieter auf dem Fuße folgte.

»Na los, herein!« rief eine Stimme aus dem Verschlag auf Herrn Pickwicks bescheidenes Anklopfen.

Also eingeladen, traten Herr Pickwick und Sam ein.

»Ist Herr Dodson oder Herr Fogg zu Hause?« fragte Herr Pickwick artig und näherte sich mit dem Hut in der Hand dem Verschlage.

»Herr Dodson ist nicht zu Hause und Herr Fogg hat dringende Geschäfte«, knurrte die Stimme; und zugleich sah der Kopf des Redners mit einer Feder hinter dem Ohr über die spanische Wand nach Herrn Pickwick.

Es war ein unförmlicher Kopf, feuerfarbenes Haar, sorgfältig nach der einen Seite gescheitelt und mit Pomade glattgestrichen, umschattete in kleinen, halbkreisförmigen Locken ein glattes Gesicht mit kleinen Äuglein, das von einem sehr schmutzigen Hemdkragen und einer schwarzen, strickartigen Halsbinde eingefaßt war.

»Herr Dodson ist nicht zu Hause und Herr Fogg hat dringende Geschäfte«, sagte der Mann, dem der Kopf gehörte.

»Wann wird Herr Dodson zurückkommen, Sir?« fragte Herr Pickwick.

»Weiß nicht.«

»Wird Herr Fogg lange beschäftigt sein, mein Herr?«

»Keine Ahnung.«

Nun begann der Mann mit großer Überlegung seine Feder zu schneiden, während ein anderer Schreiber, der ein abführendes Brausepulver mischte, unter dem Schutzdache seines Lichtschirmes beifällig lachte.

»So will ich warten«, sagte Herr Pickwick.

Keine Antwort folgte, und so setzte sich Herr Pickwick unaufgefordert und horchte auf die laut tickende Uhr, wie auch auf die murmelnde Unterhaltung der Schreiber.

»Das war ein Spaß, nicht wahr?« sagte einer von den Herren in einem braunen Rock mit messingnen Knöpfen und tintenfarbenen Tuchhosen am Schlusse einer unglaublichen Erzählung seiner Abenteuer vom vorigen Abend.

»Verdammt nett – verdammt nett«, sagte der Brausepulvermann.

»Tom Eummins führte den Vorsitz«, fuhr der Mann mit dem braunen Rock fort. »Es war halb fünf Uhr, als ich nach Somers Town kam, und ich hatte mir so schön einen angesäuselt, daß ich das Schlüsselloch nicht finden konnte und die Alte aus den Federn pochen mußte. Möchte nur wissen, was der alte Fogg sagen würde, wenn er das erführe. Ich könnte, glaub‘ ich, hier Abschied feiern, nicht wahr?«

Sie lachten zusammen über die geistreiche Glosse.

»Mit Fogg war es diesen Morgen ein rechter Spaß«, sagte der Mann in dem braunen Rock, »während Jack im obern Stock die Papiere sortierte und ihr beide auf dem Stempelbureau waret. Fogg war hier und las die Briefe durch, als der Kerl von Camberwell – ihr wißt es ja, der, dem wir die Klageschrift gemacht hatten – hereinkam; wie hieß er doch?«

»Ramsey«, antwortete der Schreiber, der mit Herrn Pickwick gesprochen hatte.

»Ach ja, Ramsey – ein amüsanter Kunde mit jämmerlichem Gesicht. ›Nun, Sir‹, sagte der alte Fogg mit einem stolzen Blick – Ihr kennt seine Weise – ›nun, Sir, kommen Sie, um die Sache abzumachen?‹ – ›Ja, Sir‹, sagte Ramsey, seine Hand in die Tasche steckend und das Geld herausziehend; ›die Schuld macht zwei Pfund, zehn Schilling, und die Kosten drei Pfund fünf Schilling; da –‹; und er seufzte tief, als er das Geld hinlegte, das in Löschpapier gewickelt war. Der alte Fogg sah zuerst auf das Geld, dann auf ihn, und endlich räusperte er sich in seiner Manier, daß ich schon merkte, wo er hinaus wollte. ›Sie wissen wohl nicht, daß eine Deklaration eingegeben ist, wodurch die Kosten bedeutend vermehrt werden?‹ sagte Fogg. – ›Das kann unmöglich sein, Sir‹, sagte Ramsey zurückbebend: ›die Zeit war erst gestern Abend abgelaufen, Sir.‹ – ›Ich sage Ihnen, es ist so‹, erwiderte Fogg! ›meine Schreiber haben sie soeben eingegeben. Herr Wicks, ist nicht Herr Jackson fort, um die Deklaration in der Sache Bullman und Ramsey einzureichen?‹ Natürlicherweise sagte ich ja, und dann hustete Fogg wieder und sah auf Ramsey. ›Mein Gott‹, sagte Ramsey, ›ich habe mich beinahe zu Tode gemartert, um dieses Geld aufzutreiben und es zu rechter Zeit abzuliefern, und jetzt soll alles umsonst gewesen sein?‹ – ›Durchaus nicht‹, versetzte Fogg kaltblütig!; ›Sie brauchen nur zurückzukehren, etwas mehr aufzutreiben und es zu rechter Zeit zu bringen.‹ – ›Ich kann’s, bei Gott, nicht mehr zusammenbringen‹, sagte Ramsey, mit der Faust auf den Tisch schlagend. ›Beleidigen Sie mich nicht, Sir‹, sagte Fogg, absichtlich aufbrausend. ›Ich beleidige Sie nicht, Sir‹, sagte Ramsey. – ›Sie entfernen sich, Sir‹, versetzte Fogg; ›Sie entfernen sich aus dieser Schreibstube, Sir, und kommen erst wieder, Sir, wenn Sie sich zu betragen gelernt haben.‹ Ramsey wollte etwas erwidern, aber Fogg ließ ihn nicht zum Wort kommen. Er, d. h. Ramsey, steckte daher sein Geld wieder ein und schlich hinaus. Die Tür war kaum geschlossen, als der alte Fogg sich mit süßem Lächeln zu mir wandte und die Deklaration aus seiner Rocktasche zog. ›Hier Wicks, nehmen Sie eine Droschke, fahren Sie so schnell wie möglich in den Temple hinab und reichen Sie das ein. Die Kosten stehen ganz sicher, denn es ist ein zuverlässiger Mann mit einer großen Familie und einem wöchentlichen Einkommen von fünfundzwanzig Schillingen. Wenn er es zu einem Verhaftbefehl kommen läßt, wie er schließlich muß, so weiß ich, daß die Leute, in deren Dienst er steht, schon für die Bezahlung Sorge getragen werden. So zwicken wir ihm ab so viel wir können, Herr Wicks; es ist das eine christliche Handlungsweise, denn bei seiner großen Familie und seinem schmalen Einkommen kann ihm solche Lektion nur eine heilsame Warnung sein, sich nicht wieder in Schulden zu stürzen – nicht wahr, Herr Wicks, nicht wahr?‹ – und Fogg lächelte beim Hinausgehen so gutmütig, daß es eine Lust war, ihn anzusehen. »Er ist ein Muster von Geschäftemann«, sagte Wicks im Tone der höchsten Bewunderung, »ein Muster – nicht wahr?«

Die drei andern stimmten von Herzen bei, und waren ganz begeistert von der Mitteilung.

»Feine Leute das, Sir«, flüsterte Herr Weller seinem Herrn zu: »haben einen sehr hübschen Begriff von einem Spaß, Sir.«

Herr Pickwick nickte beifällig und hustete, um die Aufmerksamkeit der jungen Herrn hinter dem Verschlage auf sich zu lenken.

 

Diese ließen sich nun nach dem Genuss ihrer Unterhaltung herab, von den Fremden Notiz zu nehmen.

»Ich möchte wissen, ob Fogg jetzt seine Geschäfte beendet hat«, sagte Jackson.

»Will nachsehen«, erwiderte Wicks, gemächlich vom Stuhle aufstehend. »Wen soll ich Herrn Fogg melden?«

»Pickwick«, antwortete der berühmte Held dieser Memoiren.

Herr Jackson ging die Treppe hinauf, kehrte aber bald wieder mit der Meldung zurück, Herr Fogg würde in fünf Minuten für Herrn Pickwick zu sprechen sein, und setzte sich wieder hinter sein Pult.

»Wie, sagte er, daß er heiße«, flüsterte Wicks.

»Pickwick«, antwortete Jackson. »Er ist der Beklagte in der Sache Bardell und Pickwick.«

Nun ließ sich ein Scharren mit den Füßen, verbunden mit dem Tone eines unterdrückten Lachens hinter dem Verschlag hören.

»Sie beobachten Sie, Sir«, flüsterte Herr Weller.

»Sie beobachten mich, Sam?« versetzte Herr Pickwick. »Was willst du damit sagen?«

Herr Weller deutete mit dem Daumen über seine Schulter, und als Herr Pickwick aufsah, bemerkte er die erfreuliche Tatsache, dass alle vier Schreiber mit dem Ausdrucke größten Vergnügens ihre Köpfe über die spanische Wand reckten, um Gesicht und Gestalt des Mannes, der mit einem weiblichen Herzen gespielt und die Ruhe eines Frauenzimmers gestört haben sollte, genau zu betrachten. Als er aber aufblickte, verschwand die Kopfreihe rasch. Im nächsten Augenblick hörte man Schreibfedern heftig über die Papiere hinkratzen.

Plötzlich ertönte die Glocke, die in der Schreibstube hing, und rief Herrn Jackson in Foggs Zimmer. Jackson kam zurück und meldete, Herr Fogg sei bereit, Herrn Pickwick zu empfangen, wenn er sich die Treppe hinaufbemühen wolle.

Also ging Herr Pickwick die Treppe hinauf und ließ Sam Weller unten. An der Tür eines nur eine Treppe höher gelegenen Hinterzimmers standen in mächtigen Buchstaben die imponierenden Worte: »Herr Fogg.« Jackson pochte und führte auf das »Herein« Herrn Pickwick ins Zimmer.

»Ist Herr Dodson da?« fragte Herr Fogg.

»Soeben ist er gekommen, Sir«, erwiderte Jackson.

»Sagen Sie ihm, er möchte hierher kommen.«

»Ja, Sir«, antwortete Jackson und entfernte sich.

»Nehmen Sie Platz, Sir«, sagte Fogg. »Hier ist das Papier. Mein Kollege wird sogleich hier sein; wir können dann über die Sache reden.«

Pickwick nahm einen Stuhl und das Papier, aber anstatt das Blatt zu lesen, schielte er darüber weg und fasste den Geschäftsmann ins Auge. Es war ein ältlicher Herr mit einem sinnigen Gesicht, ein Vegetarier, in schwarzem Rock, dunkel melierten Beinkleidern und kurzen, schwarzen Gamaschen – eine Art von Wesen, das mit dem Pulte, an dem es schrieb, verwachsen und ungefähr ebensoviel, wie dieses, zu denken oder zu fühlen schien.

Nach einigen Minuten Schweigen erschien Herr Dodson, ein plumper, stämmig gebauter Mann, mit strengem Blick und lauter Stimme; die Unterhaltung begann sofort.

»Das ist Herr Pickwick«, sagte Fogg.

»Ah, Sie sind der Beklagte in der Sache Bardell und Pickwick?« fragte Dodson.

»Ja, Sir«, versetzte Pickwick.

»Nun, Sir«, fuhr Dodson fort, »was machen Sie für einen Vorschlag?«

»Ja«, wiederholte Fogg, die Hände in die Taschen seiner Beinkleider steckend und sich in seinem Armstuhl zurücklehnend: »was machen Sie für einen Vorschlag, Herr Pickwick?«

»Pst, Fogg«, sagte Dodson, »lassen Sie mich hören, was Herr Pickwick zu sagen hat.«

»Ich komme, meine Herren«, erwiderte Herr Pickwick mit einem gelassenen Blick auf die beiden Kollegen: »ich komme, meine Herren, um die Überraschung auszudrücken, womit ich Ihr gestriges Schreiben las, und Sie zu fragen, was Sie für einen Grund haben, eine Klage gegen mich vorzubringen?«

»Grund, eine –«

So weit war Fogg gekommen, als er von Dodson unterbrochen wurde.

»Herr Fogg«, erklärte Dodsun, »ich will sprechen.«

»Verzeihung, Herr Dodson«, sagte Fogg.

»Was den Grund zur Klage betrifft, Sir«, fuhr Dvdson mit Würde und Salbung fort, »so können Sie Ihr eigenes Gewissen und Ihre eigenen Gefühle fragen. Wir lassen uns gänzlich durch die Angabe unseres Klienten leiten, mag dieselbe nun wahr oder falsch, glaubhaft oder unglaubhaft sein. Aber wie dem auch sei – ich sage Ihnen unumwunden, unsere Gründe sind stark und unumstößlich. Sie mögen ein unglücklicher Mann sein, oder aus Absicht gehandelt haben; aber wenn man mich als Geschworenen bei meinem Eide aufforderte, eine Meinung über Ihr Betragen abzugeben, so würde ich unumwunden sagen, daß darüber nur eine Ansicht statthaben könne.«

Hier richtete sich Dodson mit der Miene beleidigter Tugend auf und sah auf Fogg, der seine Hände tiefer in die Taschen steckte und mit klugem Kopfschütteln im Tone vollkommenster Beistimmung sagte:

»Ganz gewiß.«

»Wohlan, Sir«, bemerkte Herr Pickwick, auf dessen Gesicht sich die innere Pein ausdrückte: »Sie werden mir erlauben. Sie zu versichern, daß ich, was diesen Fall anbetrifft, ein sehr unglücklicher Mann bin.«

»Ich hoffe, Sie sind es, Sir«, erwiderte Dodson, »und ich will auch glauben, daß einem so etwas passieren kann. Wenn Sie aber wirklich an dem, was man Ihnen zur Last legt, unschuldig sind, so sind Sie unglücklicher, als ich je geglaubt hätte, daß irgend jemand möglicherweise sein könnte. Was sagen Sie dazu, Herr Fogg?«

»Ich sage ganz dasselbe, was Sie sagen«, versetzte Fogg mit ungläubigem Lächeln.

»Mein Herr, die Schrift, die die Klage einleitet«, fuhr Dodson fort, »ist regelrecht ausgestellt. Herr Fogg, wo ist das Einschreibebuch?«

»Hier«, antwortete Fogg, einen Quartband in Pergament herüberreichend.

»Hier ist eingetragen«, begann Dodson wieder, »›Middlesex. Klagschrift von Martha Bardell, Witwe, gegen Samuel Pickwick. Schadenersatz 1500 Pfund. Dodson und Fogg für die Klägerin, den 28. August 1830.‹ Alles regelrecht, Sir; vollkommen regelrecht.«

Und Dodson hustete und sah auf Fogg, der in sein ›vollkommen regelrecht‹ einstimmte, worauf beide Herrn Pickwick wieder mit ihren Blicken aufs Korn nahmen.

»Verstehe ich Sie recht«, bemerkte Herr Pickwick, »und ist es wirklich Ihre Absicht, diese Klage einzureichen?«

»Verstehen, Sir? – Sie verstehen uns ganz recht«, erwiderte Dodson mit so viel Lächeln, als es die Wichtigkeit seiner Person zuließ.

»Und die Entschädigung soll sich wirklich auf fünfzehnhundert Pfund belaufen?« fragte Herr Pickwick.

»Zu dem, daß Sie uns recht verstehen«, erwiderte Dodson, »kann ich noch die Versicherung hinzufügen, daß sie sich auf den dreifachen Betrag belaufen würde, wenn wir etwas über unsere Klientin vermocht hätten.«

»Ich glaube, Madame Bardell hat noch ausdrücklich bemerkt«, warf Fogg mit einem Blicke auf Dodson hin, »sie würde sich auf keinen Pfennig weniger einlassen.«

»Das ist keine Frage«, versetzte Dodson ernst: »denn die Klage war eben erst eingeleitet, und es wäre Herrn Pickwick nicht einmal gestattet worden, sich gleich anfangs zu vergleichen, selbst wenn er Lust dazu gehabt hätte.«

»Wenn Sie keine Vorschläge machen, Sir«, sagte Dodson, ein Stück Pergament in seiner rechten Hand auseinanderlegend und mit seiner linken Hand Herrn Pickwick ein Papier aufdrängend, das die Kopie enthielt, »so tue ich wohl besser, Ihnen eine Abschrift von diesem Blatte zu überreichen. Hier ist das Original.«

»Sehr gut, meine Herren«, sagte Herr Pickwick, voll Ingrimm aufstehend: »mein Rechtsanwalt wird Ihnen das weitere sagen.«

»Wir werden uns sehr glücklich schätzen, es zu hören«, versetzte Fogg, sich die Hände reibend.

»Sehr«, sagte Dodson, die Tür öffnend.

»Und ehe ich gehe, meine Herren«, bemerkte Herr Pickwick, sich oben an der Treppe noch einmal umwendend, »erlauben Sie mir zu sagen, daß von allem schändlichen und niederträchtigen Vorgehen –«

»Halten Sie, mein Herr, halten Sie«, unterbrach ihn Dodson mit großer Höflichkeit. »Herr Jackson – Herr Wicks –«

»Sir!« riefen die beiden Schreiber, am Fuße der Treppe erscheinend.

»Ich bedarf Ihrer gerade dazu, daß Sie hören, was dieser Herr sagt«, versetzte Dodson. »Bitte, fahren Sie fort, Sir – schändliches und niederträchtiges Vorgehen – haben Sie, glaube ich, gesagt?«

»Allerdings«, antwortete Herr Pickwick in höchstem Zorne. »Ich habe gesagt, Sir, daß von allem schändlichen und niederträchtigen Vorgehen, das je geschah, dies das niederträchtigste ist. Und ich wiederhole es, mein Herr.«

»Sie hörten das, Herr Wicks?« rief Dodson.

»Sie werden diese Ausdrücke nicht vergessen, Herr Jackson«, sagte Fogg.

»Vielleicht beliebt es Ihnen, uns Betrüger zu nennen, Sir?« fragte Dodson. »Bitte Sie, Sir, wenn Sie sich aufgelegt fühlen – tun Sie es, Sir.«

»Ich tue es auch«, sagte Herr Pickwick; »Sie sind Betrüger.«

»Sehr schön«, versetzte Dodson, »Sie können es doch unten hören, Herr Wicks?«

»O ja, Sir«, antwortete Wicks.

»Sie werden besser tun, eine oder zwei Stufen weiter heraufzukommen, wenn Sie es nicht verstehen«, fügte Herr Fogg hinzu.

»Fahren Sie fort, mein Herr, fahren Sie fort. Es wäre noch besser, wenn Sie uns Diebe nennen würden, Sir; oder vielleicht beliebt es Ihnen, einen von uns tätlich anzugreifen? Tun Sie sich keinen Zwang an, Sir, wenn Sie Lust dazu haben; wir werden nicht den geringsten Widerstand leisten. Bitte, probieren Sie es nur!«

Da sich Fogg lockender Weise in den Bereich von Herrn Pickwicks geballter Faust stellte, so wäre zweifelsohne seine Bitte erfüllt worden, hätte sich nicht Sam, der Zeuge des Streites war, ins Mittel gelegt. Er rannte plötzlich aus der Schreibstube die Treppe hinauf und ergriff seinen Herrn beim Arm.

»Kommen Sie mit fort«, sagte Herr Weller. »Ballschlagen ist ein sehr hübsches Spiel, wenn nicht Sie der Ball und zwei Rechtsgelehrte die Ballschläger sind. In diesem Fall ist es zu erhitzend, um lustig zu sein. Kommen Sie mit mir, Sir. Wenn Sie sich dadurch Luft machen wollen, daß Sie jemand durchbläuen, so kommen Sie heraus in den Hof und bläuen Sie mich durch, aber hier ist die Sache etwas zu kostspielig.«

Und ohne die geringsten Umstände zog Herr Weller seinen Herrn die Treppe hinunter in den Hof. Nachdem er ihn sicher bis Cornhill gebracht hatte, trat er hinter ihn und schickte sich an, ihm zu folgen, wohin er ihn auch führen würde.

Herr Pickwick ging zerstreut vorwärts, bis er dem Rathaus gegenüberstand, und wandte dann seine Schritte Cheapside zu. Sam wurde neugierig, wohin es jetzt gehen sollte, als sich sein Herr umwandte:

»Sam, ich gehe jetzt gleich zu Herrn Perker.«

»Dahin hätten Sie gestern abend schon gehen sollen, Sir«, versetzte Herr Weller.

»Ich glaube das auch«, bemerkte Herr Pickwick.

»Und ich weiß es«, erwiderte Herr Weller.

»Nun, nun, Sam«, entgegnete Herr Pickwick, »’s ist auch jetzt noch nicht zu spät. Aber vorerst muß ich ein Glas Grog haben, denn ich bin etwas aus der Fassung gebracht worden. Wo ist das wohl zu bekommen, Sam?«

Herrn Wellers Lokalkenntnisse in London waren ausgebreitet und speziell. Er antwortete, ohne sich im geringsten zu besinnen –:

»Im zweiten Hofe rechter Hand – das vorletzte Haus auf derselben Seite der Straße –- Sie setzen sich an die Tafel neben dem Kamin; denn die andern haben alle ein Bein in der Mitte, und das ist sehr unbequem.«

Herr Pickwick hielt sich genau an seines Dieners Angaben und trat, von diesem gefolgt, in die bezeichnete Schenke, wo ihm der warme Grog alsbald vorgesetzt wurde, während sich Herr Weller in achtungsvoller Entfernung, obwohl am gleichen Tische, niederließ und mit einer Pinte Porter bedient wurde.

Das Zimmer war recht ordinär und stand augenscheinlich unter dem besonderen Schutze der Lohnkutscher: denn verschiedene Herren, die ganz den Anschein hatten, als gehörten sie dieser gelehrten Profession an, tranken und rauchten an den verschiedenen Wandtischen. Unter ihnen zog besonders ein stämmiger, ältlicher Mann mit rotem Gesicht Herrn Pickwicks Aufmerksamkeit auf sich. Er saß am gegenüberstehenden Wandtische und rauchte ganz gewaltig. Aber jedesmal nach einem halben Dutzend Paffs nahm er seine Pfeife aus dem Mund und sah zuerst auf Herrn Weller und dann auf Herrn Pickwick. Dann begrub er in einem Maßkruge so viel von seinem Gesicht, als die Dimensionen des Gefäßes zu fassen vermochten, und warf seine Blicke abermals auf Sam und Herrn Pickwick. Das wiederholte er jedesmal, wenn er seiner Pfeife zugesprochen hatte, aus der er mit der Miene tiefen Nachdenkens qualmende Wolken blies. Endlich legte er seine Beine auf die Bank, lehnte sich rückwärts an die Wand und begann ohne weitere Unterbrechung zu paffen und durch den Rauch die neuen Ankömmlinge zu betrachten, als ob er sich vorgenommen hätte, ihnen so viel als immer möglich abzusehen.

Anfangs waren die Bewegungen des stämmigen Mannes der Beobachtung Herrn Wellers entgangen. Als er aber sah, daß sich Herrn Pickwicks Augen immer von neuem nach ihm hinwandten, sah er ebenfalls dorthin und legte dabei die Hand über die Augen, als ob er den Gegenstand, den er betrachtete, halb erkennte und sich nur noch der Identität versichern wollte. Seine Zweifel wurden jedoch schnell behoben; denn nachdem der Stämmige eine dichte Rauchwolke vor sich hergeblasen hatte, kam eine rauhe Stimme, die irgendeiner seltsamen Anstrengung der Bauchrednerkunst abgezwungen zu sein schien, hinter dem großen Tuche hervor, das ihm Hals und Brust verhüllte; und langsam erklang es – »Wie, Sammy?«

»Wer ist das, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Nein, das hätte ich nicht geglaubt, Sir«, versetzte Herr Weller mit erstaunter Miene; »es ist der Alte.«

»Der Alte?« fragte Herr Pickwick; »was für ein Alter?«

»Mein Vater, Sir«, erwiderte Herr Weller. »Wie geht’s, Alter?«

Nach dieser schönen Aufwallung kindlicher Zärtlichkeit machte Herr Weller neben sich Platz, und der Stämmige kam mit der Pfeife im Munde und dem Krug in der Hand herüber, seinen Sohn zu begrüßen.

»Na, Sammy«, sagte der Alte, »ich habe dich seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen.«

»Es ist noch länger, Alter«, erwiderte der Sohn. »Was macht die Stiefmutter?«

»Ei, ich will dir was sagen, Sammy«, antwortete Herr Weller senior mit feierlicher Miene; »es gab nie ein hübscheres Weib, so lange sie noch Witfrau war, denn ich bin doch schon ihr Zweiter – – ein mildes Ding war sie, Sammy, und nun kann ich von ihr sagen, weil sie eine so ungemein angenehme Witfrau war, so ist es sehr schade, daß sie ihren Stand verlassen hat. Sie hätte nicht mehr heiraten sollen; sie benimmt sich nicht wie ein Eheweib, Sammy.«

»Ach nein – ist das wahr?« fragte Herr Weller Junior.

Herr Weller senior schüttelte den Kopf und fügte mit einem Seufzer:

»Ich habe es einmal zu oft getan, Sammy; ich habe es einmal zu oft getan. Nimm dir ein Beispiel an deinem Vater, Junge, und hüte dich dein ganzes Leben lang vor Witfrauen, besonders wenn sie ein Wirtshaus gehabt haben, Sammy.«

Als er diesen väterlichen Rat mit großem Pathos erteilt hatte, stopfte er seine Pfeife aus einer zinnernen Tabaksdose, die er in der Tasche bei sich trug. Er zündete die frische Pfeife an der Asche der alten an und fuhr fort mit großem Eifer zu rauchen.

»Bitt‘ schön, Herr, Verzeihung, Herr«, sagte er, auf denselben Gegenstand zurückkommend, nach einer langen Pause zu Herrn Pickwick; »ich hoffe, ich war doch nicht persönlich, Sir? Ich hoffe, Sie haben doch keine Witwe geheiratet?«

»Nein«, versetzte Herr Pickwick lachend, und während er lachte, flüsterte Sam Weller seinem Vater zu, in welchem Verhältnisse er zu dem Herrn stehe.

»Bitt‘ schön, Herr, Verzeihung«, sagte Herr Weller senior, seinen Hut abnehmend; »ich hoffe, Sie haben doch an Sammy nichts auszusetzen, Sir.«

»Durchaus nichts«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sehr erfreut, dies zu hören, Herr«, sagte der alte Mann; »gab mir auch Mühe mit seiner Erziehung; ließ ihn auf der Gasse herumlaufen, als er noch ganz klein war: da hilf dir selbst. Es ist das einzige Mittel, einen Jungen gescheit zu machen, Herr.«

»Ein etwas gewagtes Verfahren, sollte ich meinen«, sagte Herr Pickwick lächelnd.

»Und kein ganz zuverlässiges«, fügte Weller junior bei. »Ich habe es dieser Tage erfahren.«

»Nicht doch«, sagte der Vater.

»Ich habe es erfahren«, erwiderte der Sohn, und begann so kurz wie möglich zu erzählen, wie ihn Hiob Trotter mit seiner Kriegslist an der Nase herumgeführt hatte.

Herr Weller senior lauschte mit größter Aufmerksamkeit, und am Schlusse sagte er –

»War nicht einer von diesen Kerlen schlank und hoch gewachsen – hatte langes Haar und schwatzte im Galopp?«

Herr Pickwick verstand das letzte nicht ganz, aber da er das erste begriff, sagte er auf gut Glück: »Ja.«

»Der andere ist ein schwarzhaariger Kerl in einer maulbeerfarbenen Livree, mit einem sehr großen Kopf?«

»Ja, ja, er ist’s«, fielen Herr Pickwick und Sam hastig ein.

»Dann weiß ich, wo sie sind, und wies mit ihnen steht«, sagte Herr Weller. »Sie sind beide zu Ipswich Ipswich, eine aufblühende Stadt im südöstlichen England. und zwar in guter Ruhe.«

»Was Sie sagen«, rief Herr Pickwick.

»Es ist Tatsache«, erwiderte Herr Weller, »und ich will Ihnen sagen, woher ich es weiß. Ich fahre dann und wann mit einer Ipswicher Kutsche für einen Freund. Ich fuhr gerade an dem Tage, wo Sie die Nacht vorher den Repfmatisimus holten. Im Mohrenknaben zu Chelmsford – sie waren da gerade angelangt – nahm ich sie auf und führte sie direkt nach Ipswich. Dort sagte mir der Diener – ich meine den Maulbeerfarbigen – sie würden sich hier geraume Zeit aufhalten.«

»Ich will ihm nach«, sagte Herr Pickwick. »Wir können Ipswich so gut besuchen, wie jeden andern Ort. Ja, ja, ich will ihm nach.«

»Seid Ihr auch ganz gewiß, daß sie es waren, Alter?« fragte Weller junior.

»Ganz gewiß, Sammy«, erwiderte sein Vater; »denn ihr Äußeres war sehr auffallend. Außerdem wunderte ich mich, wie ich sah, daß der Herr so vertraut mit seinem Diener war, und noch mehr – als sie vorn saßen, gerade hinter dem Bock. Da hörte ich sie lachen und sagen, wie sie mit dem alten Hitzkopf gespielt hätten.«

»Alten – was?« fragte Herr Pickwick.

»Alten Hitzkopf, Sir, womit ohne Zweifel Sie gemeint waren, Sir.«

Es liegt eigentlich nichts Gemeines oder Beschimpfendes in der Benennung »alter Hitzkopf«, aber es ist doch nicht gerade eine achtungsvolle oder schmeichelhafte Bezeichnung. Die Erinnerung an alle Widerwärtigkeiten, die ihm schon durch Jingle widerfahren waren, hatte sich in Herrn Pickwicks Geist gesammelt, sobald Herr Weller zu sprechen angefangen hatte. Es bedurfte nur noch eines Tropfens, um das Maß voll zu machen, und der »alte Hitzkopf« brachte das fertig.

»Ich will ihm nach«, rief Herr Pickwick mit einem heftigen Schlag auf den Tisch.

»Ich werde übermorgen vom Ochsen in Whitechapel aus nach Ipswich hinunterfahren«, sagte Herr Weller der Ältere, »und wenn Sie wirklich hinreisen wollen, so fahren Sie am besten mit mir.«

»Sehr wahr«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich kann nach Bury schreiben, daß ich in Ipswich zu treffen sei. Wir fahren mit Euch. Aber eilt nicht so sehr, Herr Weller. Wollt Ihr nicht noch eins trinken?«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, antwortete Herr Weller stockend. – »Vielleicht ein Gläschen Branntwein auf Ihre Gesundheit und auf Sammys Glück würde nichts schaden.«

»Gewiß nicht«, versetzte Herr Pickwick. »Ein Glas Branntwein hierher.«

Der Branntwein wurde gebracht. Herrn Wellers Haarmähne flog dankbar nickend auf Herrn Pickwick und Sam zu, und das Getränk stürzte in seine geräumige Kehle hinab, als wäre es ein Fingerhütchen voll gewesen.

»Schon recht, Vater«, sagte Sam; »aber nehmt Euch in acht, alter Knabe, oder Ihr werdet wieder einen Besuch von Eurem alten Freunde, dem Podagra, bekommen.« –

»Ich habe ein Prachtmittel dagegen gefunden, Sammy«, erwiderte Herr Weller und setzte das Glas nieder.

»Ein Prachtmittel gegen das Podagra?« sagte Herr Pickwick und zog hastig sein Notizbuch hervor. »Und was wäre das?«

»Das Podagra, Sir«, versetzte Herr Weller; »das Podagra ist ein Übel, das von einem zu bequemen und behaglichen Leben herrührt. Wenn Sie jemals von dem Podagra befallen werden, Sir, so heiraten Sie eine Witfrau, die eine gute laute Stimme hat und sie auch zu gebrauchen weiß, und Sie werden es nie wieder bekommen. Das ist ein Prachtrezept, Herr. Ich nahm es regelmäßig, und ich bürge dafür; es vertreibt jede Krankheit, die von zu großem Wohlbehagen herrührt.«

Als Herr Weller dieses unschätzbare Geheimnis preisgegeben hatte, trank er sein Glas vollends aus, blinzelte wehmütig, seufzte tief und entfernte sich langsam.

»Nun, was denkst du von dem, was dein Vater sagt, Sam?« fragte Herr Pickwick lächelnd.

»Was ich denke, Sir?« erwiderte Herr Weller. »Nun, ich denke, er ist ein Opfer der Ehe, wie Blaubarts Hauskaplan mit einer Träne des Mitleids sagte, als er ihn begrub.«

Herr Pickwick antwortete nichts auf diesen sehr passend angebrachten Schluß, bezahlte die Rechnung und machte sich auf den Weg nach Grays Inn. Als er das entlegene Viertel erreicht hatte, war es bereits acht Uhr vorüber, und der ununterbrochene Strom von Herren in bespritzten Stiefeln, schmutzigen weißen Hüten und abgetragenen Kleidern, der zu den verschiedenen Ausgängen herauswogte, sagte ihm, daß die Mehrzahl der Schreibstuben für diesen Tag geschlossen sei. –

Nachdem er zwei steile und schmutzige Treppen erstiegen hatte, fand er seine Ahnung bestätigt. Herrn Perkers Außentür war verschlossen, und die Grabesstille, die auf Herrn Wellers wiederholtes Anklopfen sich einstellte, verkündete, daß die Schreiber Feierabend gemacht hätten.

»Das ist eine schöne Geschichte, Sam«, sagte Herr Pickwick. »Ich hätte keine Stunde verlieren sollen, um ihn zu sprechen; denn ich weiß wohl, daß ich jetzt die ganze Nacht kein Auge schließen kann, weil ich nun nicht das ruhige Gefühl habe, die Angelegenheit einem Fachmann übergeben zu haben.«

»Hier kommt eine alte Frau die Treppe herauf, Sir«, bemerkte Herr Weller. »Vielleicht weiß sie, wo wir jemand finden können. Holla, alte Dame, wo sind Herrn Perkers Leute?«

»Herrn Perkers Leute?« sagte ein dürres, elend aussehendes, altes Weib, oben an der Treppe stehenbleibend, um Atem zu schöpfen: »Herrn Perkers Leute sind fort, und ich will eben die Schreibstube schließen.«

»Sind Sie Herrn Perkers Magd?« fragte Herr Pickwick.

»Ich bin Herrn Perkers Wäscherin«, antwortete das alte Weib.

»Komisch«, sagte Herr Pickwick halb seitwärts zu Sam; »es ist doch sonderbar, Sam, daß man die alten Weiber in diesem Viertel Wäscherinnen nennt. Möchte doch wissen, warum das geschieht?«

»Es kommt, glaube ich, daher, daß ihnen das Waschen in den Tod zuwider ist.«

»Sollte mich nicht wundern«, erwiderte Herr Pickwick mit einem Blick auf die Alte, deren Äußeres sowie der Zustand der Schreibstube, die sie jetzt geöffnet hatte, einen eingewurzelten Widerwillen gegen die Anwendung von Seife und Wasser verriet. »Wissen Sie, wo ich Herrn Perker finden kann?«

»Nein, ich weiß es nicht«, antwortete die Alte mürrisch; »er ist jetzt in der Stadt.«

»Das ist mißlich«, versetzte Herr Pickwick. »Können Sie mir nicht sagen, wo sein Schreiber ist?«

»O ja; aber er würde mir’s nicht sehr danken, wenn ich es Ihnen sagte«, erwiderte die Wäscherin.

»Ich habe ein ganz besonderes Geschäft mit ihm«, fuhr Herr Pickwick fort.

»Läßt sich das nicht morgen auch noch erledigen?« fragte das Weib.

»Nicht gut«, erwiderte Herr Pickwick.

»Nun ja, wenn es etwas ganz Besonderes ist«, sagte die Alte, »so will ich sagen, wo er ist; ich hoffe, ich werde keinen Ärger davon haben. Wenn Sie jetzt gerade in die Elster gehen und am Schenktisch nach Herrn Lowten fragen, so wird man Sie zu ihm führen, denn so heißt Herrn Perkers Schreiber.«

Nachdem Herr Pickwick noch ferner belehrt worden war, das fragliche Gasthaus stehe in einem Hofe und habe den doppelten Vorteil, daß es in der Nähe von Clare Market sei und an die Rückseite von New-Inn stoße, so kam er mit Sam die gefährliche Treppe glücklich wieder hinunter und suchte die Elster auf.

Diese beliebte Schenke, die Herr Lowten und Konsorten zum Schauplatz ihrer Zechgelage machten, war, was gewöhnliche Leute mit dem Namen »Kneipe« bezeichnet haben würden. Der Wirt war ein Mann, der sich aufs Geldmachen verstand. Das bezeugte ein kleiner Verschlag unter dem Schenkzimmerfenster, der an Gestalt und Größe einer Sänfte ähnlich sah und um billigen Preis an einen Schuhflicker vermietet war. Daß der Wirt aber zugleich ein menschenfreundliches Gemüt hatte, bezeugte seine Fürsorge für einen Pastetenbäcker, der seine Leckerbissen ungestört an der Türschwelle verkaufte. An den niederen Fenstern, die mit safranfarbenen Vorhängen geziert waren, steckten zwei bis drei gedruckte Karten und empfahlen Devonshire-Apfelwein und Danziger Sprossenbier. Eine große schwarze Tafel mit weißen Buchstaben aber zeigte einem verehrlichen Publikum an, daß 500 000 Fässer Doppelbier in den Kellern des Etablissements lägen, wobei sie den Geist in einer nicht unangenehmen Ungewißheit über die Richtung ließen, in der sich diese ungeheuren Gewölbe ausdehnen möchten. Fügen wir noch hinzu, daß ein wetterbeschädigtes Schild das halbverblichene Abbild einer Elster darstellte, die eine krumme Linie von brauner Farbe aufmerksam betrachtete – ein Gekleckse, das man den Nachbarn von Jugend auf als einen Baumstumpf bezeichnet hatte, so haben wir von dem Äußeren des Gebäudes alles gesagt, was nötig ist.

Als sich Herr Pickwick vor dem Schanktisch blicken ließ, trat eine ältliche Frau hinter einem darinstehenden Schirm hervor.

»Ist Herr Lowten hier, Madame?« fragte Herr Pickwick.

»Ja, Sir«, erwiderte die Wirtin. »Charley, führe den Herrn zu Herrn Lowten.«

»Der Herr kann jetzt nicht hinein«, erwiderte ein hinkender Laufjunge mit rotem Kopfe, »denn Herr Lowten singt eben ein lustiges Lied, und er würde ihn aus der Rolle bringen. Es wird indessen im Augenblick aus sein, Sir.«

Der rotköpfige Laufjunge hatte kaum zu sprechen aufgehört, als ein allgemeines Hämmern auf die Tische, und ein lebhaftes Klingeln der Gläser ankündete, daß der Gesang eben beendet worden war. Herr Pickwick überließ es seinem Diener, sich am Ausschank zu stärken, und wurde zu Herrn Lowten geführt.

Auf die Ankündigung, »es will Sie jemand sprechen, Sir«, richtete ein junger Mann mit aufgedunsenem Gesicht, der den Stuhl am oberen Ende der Tafel einnahm, seine Blicke erstaunt nach der Gegend, aus der die Stimme kam. Sein Erstaunen schien sich keineswegs zu vermindern, als seine Augen auf einer Person haften blieben, die er nie zuvor gesehen hatte.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir«, begann Herr Pickwick, »und auch für die andern Herren tut es mir leid, daß ich Sie störe, aber ich komme in einer sehr dringenden Angelegenheit, und wenn Sie mir in einer Ecke dieses Zimmers fünf Minuten lang Gehör schenken wollen, so werden Sie mich sehr zu Dank verpflichten.«

Der junge Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht stand auf, zog einen Stuhl in einen dunklen Winkel zu Herrn Pickwick und lauschte aufmerksam seiner Schmerzensgeschichte.

»Ja«, sagte er, als Herr Pickwick geendet hatte, »Dodson und Fogg – erfahrene Praktiker das – Kapitalgeschäftsleute, Dodson und Fogg, Sir.«

Herr Pickwick gab die praktischen Kenntnisse der Herren Dodson und Fogg zu, und Lowten fuhr fort:

»Perker ist nicht hier und wird auch vor Ende der nächsten Woche nicht zurückkommen. Aber wenn Sie eine Entgegnung wünschen und mir die Abschrift der Klage mitteilen wollen, so kann ich alle Schritte einleiten, die bis zu seiner Zurückkunft nötig sind.«

»Eben deshalb bin ich hier«, sagte Herr Pickwick, ihm die Schrift einhändigend. »Wenn etwas Besonderes vorfällt, können Sie mir durch die Post nach Ipswich schreiben.«

»Ganz recht«, antwortete Herrn Perkers Schreiber: und als er sah, daß Herrn Pickwicks Augen neugierig über die Tafel liefen, fügte er hinzu: »Wollen Sie uns auf ein halbes Stündchen ihre Gesellschaft gönnen? Wir haben heute abend ein Kapitalklübchcn beisammen. Hier ist Samkins und Greens Sekretär und Smithers und Prices Kanzlist und Pimkins und Thomas‘ Schreiber – singt vortrefflich, ja, das tut er – und da ist ferner noch Jack Bamber und so weiter. Sie kommen vermutlich vom Lande, wollen Sie nicht mitmachen?«

Pickwick konnte der lockenden Gelegenheit, die menschliche Natur zu studieren, nicht widerstehen. Er ließ sich an die Tafel führen und der Gesellschaft in gehöriger Form vorstellen. Als ihm ein Sitz neben dem Präsidenten eingeräumt war, bestellte er ein Glas von seinem Lieblingsgetränk.

Ganz gegen die Erwartung Herrn Pickwicks erfolgte tiefe Stille.

»Ich hoffe, der Glimmstengel wird Ihnen nicht unangenehm sein, Sir?« sagte sein Nachbar zur Rechten, in einem gestreiften Hemd mit Mosaikknöpfen, mit einer Zigarre im Munde.

»Nicht im geringsten«, erwiderte Herr Pickwick: »ich bin ein sehr großer Freund davon, obgleich ich selbst nicht rauche.«

»Das möchte ich von mir nicht behaupten«, fiel ein anderer Herr an der gegenüberstehenden Seite des Tisches ein. »Rauchen ersetzt mir Wohnung, Speise und Trank.«

Herr Pickwick sah den Sprecher an und dachte: »wenn es ihm auch die weiße Wäsche ersetzen würde, so wäre es noch besser.«

Eine neue Pause trat ein. Herr Pickwick war ein Fremder, und seine Gegenwart hatte offenbar etwas Drückendes für die Gesellschaft.

»Herr Grundy wird uns mit einem Liedchen erfreuen«, sagte der Präsident.

»Nein, er wird es nicht«, sagte Herr Grundy.

»Warum nicht?« fragte der Präsident.

»Weil ich nicht kann«, versetzte Herr Grundy.

»Sie würden besser sagen, ›weil ich nicht mag‹«, erwiderte der Präsident.

»Nun denn, ich mag nicht«, sagte Herr Grundy.

Und Herrn Grundys bestimmte Weigerung, die Gesellschaft zu unterhalten, veranlaßte abermaliges Schweigen.

»Will niemand die Unterhaltung beleben?« fragte der Präsident mit dem Tone der Mutlosigkeit.

»Warum beleben Sie sie nicht selbst, Herr Präsident?« sagte ein junger Mann mit einem Backenbart, einem schielenden Auge und einem schmutzigen, offenen Hemdkragen, am untern Endes des Tisches.

»Hört, hört!« rief der rauchende Herr mit den Mosaikknöpfen.

»Weil ich nur ein einziges Lied kann und es bereits gesungen habe«, versetzte der Präsident: »es kostet ja ein Strafglas für jeden in der Gesellschaft, wenn man an einem Abend dasselbe Lied zweimal singt.«

Dagegen ließ sich nichts einwenden, und das Gespräch stockte abermals.

»Ich war heute abend«, sagte Herr Pickwick, »der Hoffnung, etwas zur Sprache zu bringen, wobei die ganze Gesellschaft an der Unterhaltung teilnehmen könnte – ich war heute abend an einem Orte, den Sie alle ohne Zweifel sehr gut kennen, den aber ich seit vielen Jahren nicht mehr besucht hatte, und von dem ich überhaupt sehr wenig weiß; ich meine Grays Wirtschaft, meine Herren. Merkwürdige kleine Winkel an einem großen Ort, wie London, diese alten Gastwirtschaften.«

»Wahrhaftig«, flüsterte der Präsident Herrn Pickwick über den Tisch zu, »Sie haben hier etwas angeschnitten, das wenigstens einen von uns für immer in Anspruch nehmen würde. Der alte Jack Bamber wird bald herausrücken; man hat ihn noch nie über etwas anderes sprechen hören, als über die Gastwirtschaften, in denen er einsam sein Leben verbrachte, bis er beinahe wahnsinnig wurde.«

Der Mensch, auf den Lowten anspielte, war ein kleiner gelber hochschultriger Mann, dessen Gesicht Herrn Pickwick bis jetzt noch nicht ins Auge gefallen war, weil er die Gewohnheit hatte, vor sich niederzusehen, wenn er schwieg. Als aber der Alte seine gefurchte Stirn erhob, und sein helles, graues Auge mit einem forschenden, durchdringenden Blick auf ihn richtete, mußte er sich doch wundern, daß so ausdrucksvolle Züge seiner Aufmerksamkeit auch nur für einen Augenblick entgangen waren. Auf seinen Zügen lag beständig ein unveränderliches bitteres Lächeln. Sein Kinn ruhte in einer langen fleischlosen Hand, mit Nägeln von außerordentlicher Länge. Als er seinen Kopf auf die Seite neigte und unter seinen borstigen, grauen Augenbrauen hervorschaute, lag in seinem durchdringenden Blick ein seltsamer Ausdruck grollender Schlauheit, vor dem man das Auge unwillkürlich niederschlug. Das war der Mann, der jetzt sein Gesicht der Gesellschaft zukehrte und seine Gedanken in einen lebendigen Strom von Worten ergoß. Da jedoch dieses Kapitel lang und der Alte eine merkwürdige Person war, so erfordert es die Achtung vor ihm und die Konsequenz vor uns, ihn in einem neuen sprechen zu lassen.

 

Zweiundzwanzigstes Kapitel


Zweiundzwanzigstes Kapitel

In dem der Alte sich über sein Lieblingsthema verbreitet und eine Geschichte von einem wunderlichen Klienten erzählt.

»Aha!« sagte der bejahrte Mann, von dessen Äußerem der Schluß des letzten Kapitels eine kurze Schilderung gegeben. »Aha, wer sprach von den Gastwirtschaften?«

»Ich, mein Herr«, versetzte Herr Pickwick. »Ich bemerkte, was für sonderbare alte Plätze das seien.«

» Sie?« sagte der Alte verächtlich. »Was wissen Sie von der Zeit, wo sich junge Leute in diesen einsamen Räumen einschlossen und lasen; nichts als lasen, Stunde für Stunde und Nacht für Nacht, bis ihr Verstand unter dem Druck ihrer mitternächtlichen Studien erstickte; bis ihre Geisteskräfte erschöpft waren, bis ihnen das Morgenlicht keine Erquickung, keine Gesundheit mehr brachte, und sie unter der unnatürlichen Anstrengung, ihre Jugendkräfte den trockenen alten Büchern zu widmen, unterlagen? Kommen wir auf spätere Zeiten, auf ganz andere Tage: was wissen Sie von dem allmählichen Dahinschwinden unter der verzehrenden Glut des Fiebers – von den großen Folgen des schnellen Lebens und der Ausschweifung, denen so viele in diesen Räumen zum Opfer gefallen sind? Wie viele Unglückliche, die vergebens um Gnade gefleht, glauben Sie, sind mit gebrochenem Herzen aus der Schreibstube des Gerichtsanwalts hinausgewankt, um eine Ruhestätte in der Themse oder eine Zuflucht im Gefängnisse zu finden? Das sind keine gewöhnlichen Häuser! Da ist nicht ein Brett im alten Getäfel, das, wenn es die Gabe der Sprache und des Gedächtnisses hätte, nicht aus der Wand hervorspringen und seine Schreckensgeschichte, den Roman eines Lebens, Sir – den Roman eines Lebens erzählen könnte. So alltäglich sie auch jetzt aussehen mögen, so sage ich Ihnen, es sind seltsame alte Plätze, und ich möchte lieber irgendein Märchen mit einem furchtbar klingenden Namen hören, als die wahre Geschichte einer alten Zimmerreihe dieser Gebäude.«

Es lag etwas so Sonderbares in der plötzlichen Erregung des Alten und in dem Gegenstande, der sie hervorgerufen hatte, daß Herr Pickwick einfach stumm war. Der Alte milderte seine Heftigkeit, nahm den Seitenblick wieder an, der während dieser Aufregung verschwunden, und fuhr fort –

»Betrachten wir sie in einem andern Lichte – dem alltäglichsten und am wenigsten romantischen. Was sind das doch für schöne Plätze langsamer Marter! Denken Sie sich den dürftigen Mann, der sein Alles zugesetzt, sich an den Bettelstab gebracht und seine Freunde ausgepreßt hat – wie er das Gewerbe antritt, das ihm nicht einen Bissen Brot verschaffen kann. Die Erwartung – die Hoffnung – die Verzweiflung – die Furcht – das Elend – die Armut – die Vernichtung seiner Hoffnungen, und das Ende seiner Laufbahn: – vielleicht der Selbstmord, oder noch schlimmer: der schuftige, zerlumpte Trunkenbold. Habe ich nicht recht?«

Der alte Mann rieb sich die Hände und warf einen vergnügten Blick seitwärts, als ob es ihn freute, einen andern Gesichtspunkt gefunden zu haben, aus dem er seinen Lieblingsgegenstand betrachten konnte.

Herr Pickwick sah den Alten mit großer Neugierde an. Die übrigen Mitglieder der Gesellschaft lächelten und sahen still vor sich hin.

»Sprecht mir von Euren deutschen Universitäten«, sagte das kleine Männchen – »Pah, pah! wir haben hier zu Lande Romantik genug, ohne eine halbe Meile weit danach zu gehen; die Leute denken nur nicht daran.«

»Ich wenigstens dachte noch nie an die Romantik dieses Ortes«, sagte Herr Pickwick lachend.

»Das glaube ich gern«, erwiderte der kleine Alte. »So pflegte einer meiner Freunde zu fragen, ›was ist denn besonderes an diesem Zimmer?‹ – ›Seltsam alte Gemächer‹, antwortete ich. – ›Das ist’s noch nicht‹, sagte er. – ›Sie sind einsam‹, bemerkte ich. – ›Auch das ist’s nicht‹, erwiderte er. – Eines Morgens wurde er vom Schlage gerührt, als er eben seine Tür öffnen wollte. Er hakte sich dabei mit dem Kopf in seinen eigenen Briefkasten fest, und dort hing er anderthalb Jahre lang. Jedermann glaubte, er wäre aus der Stadt gezogen.«

»Und wie fand man ihn endlich?« fragte Herr Pickwick.

»Das Gericht beschloß, die Tür aufbrechen zu lassen, da er seit zwei Jahren keinen Hauszins bezahlt hatte. Es geschah; das Schloß wurde erbrochen, und dem Pförtner, der die Tür öffnete, fiel ein sehr staubiges Gerippe in einem blauen Rock, kurzen, schwarzen Beinkleidern und seidenen Strümpfen nach vorn in die Arme. Seltsam das, recht seltsam, nicht wahr?«

Der kleine Alte neigte seinen Kopf noch mehr auf die Seite und rieb sich die Hände mit unaussprechlichem Behagen.

»Ich weiß noch einen andern Fall«, sagte der kleine Alte, als er sich von seinem Kichern einigermaßen erholt hatte, »der sich in Cliffords Wirtschaft zutrug. Der Bewohner einer Mansarde – ein schlimmer Kamerad – schloß sich in den Verschlag seiner Schlafkammer ein und nahm eine Dosis Arsenik. Der Hausmeister dachte, er habe sich aus dem Staube gemacht, öffnete und nahm ein Verzeichnis seiner Habseligkeiten auf. Ein anderer kam, mietete die Zimmer, möblierte sie und zog ein. Sonderbar; er konnte nicht schlafen – es war ihm überall unwohl und unbehaglich. >Seltsam<, sagte er; >ich will das andere Zimmer zu meinem Schlafzimmer und dieses zu meiner Wohnstube machen.< Er traf die Veränderung und schlief in der Nacht sehr gut, aber in kurzem fand er, daß er des Abends nicht lesen konnte; er wurde ängstlich und unwohl, putzte unaufhörlich sein Licht und starrte im Zimmer umher. – >Ich weiß nicht, was das ist<, sagte er, als er eines Abends vom Schauspiel nach Hause kam und, den Rücken gegen die Wand gekehrt, um sich nicht einbilden zu können, daß jemand hinter ihm stehe, ein Glas kalten Grog trank, >ich weiß nicht, was das ist<, sagte er, und in demselben Augenblick blieb sein Auge auf dem Verschlag haften, der bisher immer verschlossen gewesen war, wobei ihn ein Schauder vom Kopf bis zu den Füßen durchrieselte. Ich habe dieses seltsame Gefühl schon früher gehabt< – sagte er – >ich kann nicht anders denken, als mit diesem Verschlag muß es nicht richtig sein.< Er ermannte sich, nahm seinen Mut zusammen, zerschmetterte das Schloß mit dem Schüreisen, öffnete die Tür, und sehe, da stand in der Ecke der letzte Mieter ganz aufrecht mit einem Fläschchen, das er fest in der Hand hielt, das Angesicht mit dem Gepräge eines schmerzhaften Todes gestempelt.«

Als der kleine Alte schwieg, sah er rings auf die aufmerksamen Gesichter seiner erstaunten Zuhörer mit dem Lächeln unheimlicher Freude.

»Was für seltsame Dinge erzählen Sie uns da?« sagte Herr Pickwick, des alten Manes Gesicht mit seiner Brille genau prüfend.

»Seltsam?« wiederholte der kleine Alte – »Unsinn! Sie halten sie für seltsam, weil Sie nichts davon wissen. Sie sind kurzweilig, aber nicht außergewöhnlich.«

»Kurzweilig?« rief Herr Pickwick unwillkürlich.

»Ja, kurzweilig; oder sind sie’s etwa nicht?« versetzte der kleine Alte, mit einem satanischen Seitenblick; und ohne eine Antwort zu erwarten, fuhr er fort:

»Ich weiß noch einen andern Mann – wartet mal, ja, es mögen jetzt vierzig Jahre sein, – der eine alte, dumpfe, modrige Reihe von Zimmern in einem der ältesten Wirtshäuser mietete, die seit Jahren verschlossen waren und leerstanden. Man erzählte sich eine Menge Altweibermärchen über die Wohnung, und auf jeden Fall gehörte sie keineswegs zu den heitersten.

Aber er war arm, und die Zimmer kosteten keine große Miete – ein hinreichender Grund für ihn, wenn sie auch noch zehnmal schlimmer gewesen wären, als es wirklich der Fall war. Er mußte einige niet- und nagelfeste, wurmstichige Hausgeräte mit annehmen – einen großen wurmstichigen Papierschrank mit großen Glastüren und einem grünen Vorhang dahinter. Es war ein ziemlich unnützes Ding für ihn, denn er hatte keine Papiere hineinzutun, und was seine Garderobe anbelangte, so trug er sie so ziemlich vollständig bei sich, ohne sich sonderlich dadurch beschwert zu fühlen. Er hatte jedoch seine ganze Habe herbeischaffen lassen – es war nicht ganz ein Karren voll – und es im Zimmer auf eine Art verteilt, daß seine vier Stühle womöglich ein Dutzend vorstellen sollten.

Abends saß er vor dem Fenster und trank das erste Glas von zwei Maß Whisky, die er einstweilen auf Pump genommen hatte, wobei er Betrachtungen anstellte, ob er sie jemals bezahlen könnte, und wenn dieser Fall einträte, nach wieviel Jahren dies wohl möglich wäre; als seine Augen auf die Glastüren des Papierschranks fielen.

›Ach‹, seufzte er, ›wenn ich nicht genötigt gewesen wäre, dieses häßliche Ding da nach der Schätzung des alten Maklers mit in den Kauf zu nehmen, so hätte ich mir für das Geld was Ordentliches anschaffen können. Ich will dir was sagen, alter Kamerad‹, sprach er laut zu dem Schrank, bloß weil er sonst niemanden hatte, mit dem er sprechen konnte, ›wenn es nicht mehr kosten würde, dein altes Gerippe zu zerschlagen, als es je wert gewesen ist, so hätte ich in einem Nu Feuer aus dir gemacht.‹

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als aus dem Innern des Kastens ein Laut hervorkam, der einem schwachen Ächzen glich. Es erschreckte ihn anfangs. Aber nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, bildete er sich ein, es müßte von irgendeinem jungen Manne im anstoßenden Zimmer herrühren, der vielleicht beim Mittagessen seinen Magen überladen hatte, weshalb er seinen Fuß auf die Feuerplatte setzte und das Schüreisen zur Hand nahm, um das Feuer anzuschüren. In diesem Augenblick wurde der Laut wiederholt. Eine der Glastüren öffnete sich ganz langsam, und eine blasse, abgemagerte Gestalt in einem schmutzigen, abgetragenen Anzuge ward sichtbar, die aufrecht im Schranke stand.

Die Gestalt war groß und hager, und das Gesicht drückte Gram und Angst aus; aber es lag etwas in ihrer Farbe und in dem fleischlosen geisterhaften Aussehen der ganzen Erscheinung, was keinem Bewohner dieser Welt angehören konnte. ›Wer sind Sie?‹ fragte der neue Mietsmann erbleichend, das Schüreisen mit der Hand aufhebend und auf das Gesicht der Gestalt zielend – ›wer sind Sie?‹

›Wirf dieses Eisen nicht nach mir‹, erwiderte die Gestalt – wenn du auch noch so richtig zieltest, so würde es doch ohne Widerstand durch mich hindurch in die Wand hinter mir fahren. Ich bin ein Geist.‹

›Was wollen Sie denn hier?‹ stammelte der Mieter. – ›In diesem Zimmer‹, antwortete die Erscheinung, ›wurde mein irdisches Glück vernichtet und ich und meine Kinder zu Bettlern gemacht. In diesem Schranke wurden die Papiere, die mit den Jahren immer mehr anwuchsen, zu hohen Stößen aufeinandergetürmt. In diesem Zimmer teilten, als ich vor Gram über fehlgeschlagene Hoffnungen gestorben war, zwei listige Hyänen das Vermögen unter sich, um das ich während eines ganzen elenden Lebens gestritten hatte, und von dem zuletzt nicht ein Pfennig für meine unglücklichen Nachkommen übrigblieb. Ich schreckte sie von diesem Platze weg und besuchte nun seit jenem Tage jede Nacht – denn dies ist die einzige Zeit, in der es mir gestattet ist, auf die Erde zurückzukehren – den Schauplatz meines langen Elends. Dieses Zimmer gehört mir: überlaß es mir.‹

›Wenn Sie sich’s durchaus in den Kopf gesetzt haben, hier zu spuken‹, erwiderte der Mieter, der während dieser prosaischen Erzählung des Geistes Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln – ›will ich mit dem größten Vergnügen Ihren Wünschen entsprechen. Wollen Sie aber wohl so gefällig sein, mir eine Frage zu erlauben?‹

›Sprich‹, sagte die Erscheinung ernst.

›Nun denn!‹ begann der Mieter! ›ich beziehe meine Bemerkung nicht persönlich auf Sie, weil sie auf alle Geister, von denen ich je gehört habe, gleich anwendbar ist. Aber es will mich etwas sonderbar bedünken, daß ihr, da ihr doch Gelegenheit habt, die schönsten Plätze auf der Erde zu besuchen – denn vermutlich seid ihr doch nicht auf irgendeinen bestimmten Raum beschränkt – daß ihr, sage ich, immer gerade zu denjenigen Plätzen zurückkehrt, wo ihr am unglücklichsten gewesen seid?‹ – ›Wahrhaftig, du hast ganz recht: daran habe ich nicht gedacht‹, versetzte der Geist. – ›Sie sehen‹, fuhr der Mieter fort, ›dies ist ein sehr unwohnliches Zimmer. Dem äußeren Anschein nach zu urteilen, möchte ich fast behaupten, dieser Schrank ist nicht ganz frei von Wanzen. Ich meine wirklich, Sie könnten weit wohnlichere Aufenthaltsorte finden. Vom Londoner Klima nichts zu sagen, denn dieses ist vornweg nicht das angenehmste.‹

›Sie haben ganz recht, Sir‹, sagte der Geist höflich: ›das ist mir bis jetzt noch nicht eingefallen: doch will ich nun sogleich eine Luftveränderung vornehmen‹ – und wirklich begann seine Gestalt, während er noch sprach, zu verschwinden, und bald waren seine Beine unsichtbar geworden.

›Und wenn Sie‹, rief ihm der Mieter nach, ›wenn Sie die Güte haben wollen, auch die übrigen Damen und Herren, die in alten leeren Häusern spuken, darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich anderswo weit besser befinden dürften, so würden Sie der menschlichen Gesellschaft eine sehr große Wohltat erzeigen.‹

›Das will ich tun‹, erwiderte der Geist: ›wir müssen in der Tat sehr dumme Wichte sein. Ich begreife gar nicht, wie wir so töricht sein konnten.‹

Mit diesen Worten verschwand der Geist: und was noch merkwürdiger ist«, fügte der Alte mit einem schlauen Blick auf die Gesellschaft hinzu, »er kam nicht wieder.«

»Das ist nicht so übel, wenn es wahr ist«, bemerkte der Mann mit den Mosaikknöpfen, eine frische Zigarre anzündend.

» Wenn?« rief der Alte mit einem Blick der tiefsten Verachtung. »Ich glaube«, setzte er, sich zu Lowten wendend, hinzu, »er würde beinahe behaupten, meine Geschichte von dem seltsamen Klienten, den wir hatten, als ich in der Schreibstube eines Gerichtsanwalts war, sei auch nicht wahr – es sollte mich nicht wundernehmen.«

»Ich wage nicht, überhaupt etwas darüber zu sagen, denn ich habe die Geschichte noch nie gehört«, bemerkte der Besitzer der Mosaikverzierungen.

»Ich wünschte. Sie erzählten sie, Sir«, sagte Herr Pickwick.

»O ja, tun Sie es«, bat Lowten; »es hat sie noch niemand gehört als ich, und ich habe sie beinahe rein vergessen.«

Der Alte sah sich rings an der Tafel um, und sein Blick hatte etwas Furchtbareres als je. Es war, als ob er über die Spannung triumphierte, die auf allen Gesichtern lag. Dann begann er, mit der Hand sein Kinn streichend und zur Decke emporsehend, als ob er die Begebenheiten in sein Gedächtnis zurückzurufen suchte, wie folgt:

Des alten Mannes Erzählung von dem seltsamen Klienten.

»Es liegt wenig daran«, sagte der Alte, »wo oder auf welche Weise ich diese kurze Geschichte aufgefangen habe. Wenn ich sie übrigens in der Ordnung erzählen wollte, in der sie zu meiner Kenntnis kam, so müßte ich in der Mitte beginnen, und nachdem ich an den Schluß gekommen wäre, zum Anfang zurückkehren. Es genügt, wenn ich bemerke, daß sich einige von den darin vorkommenden Vorfällen unter meinen eigenen Augen zugetragen haben. Was die übrigen betrifft, so weiß ich, daß sie sich wirklich zutrugen, und es sind noch mehrere Personen am Leben, die sich derselben nur zu wohl erinnern werden.

In dem Borough High-Street bei der Sankt-Georges-Kirche und auch auf derselben Seite steht, wie die meisten Leute wissen, das kleinste unserer Schuldgefängnisse Marshalsea. Ob es gleich in späteren Zeiten bei weitem nicht mehr der schmutzige, unflätige Winkel war, der es früher gewesen, so hat es doch auch in diesem verbesserten Zustande wenig Verführerisches für den Lüstling und wenig Tröstliches für den Leichtsinn. Der zum Tode verurteilte Verbrecher in Newgate hat einen ebenso geräumigen Hofraum, um sich Bewegung zu machen und frische Luft zu schöpfen, als der zahlungsunfähige Schuldner im Marshalsea-Gefängnis.

Es kann Einbildung von mir sein, oder vielleicht vermag ich den Platz nicht von den alten Erinnerungen zu trennen, die sich daran knüpfen, aber dieser Teil von London ist mir in der Seele zuwider. Die Straße ist breit, die Läden sind geräumig, das Geräusch der vorüberrasselnden Fuhrwerke, die Fußtritte eines ununterbrochenen Menschenstromes – das ganze, laute, geschäftige Treiben des Verkehrs ertönt in ihr von Morgen bis Mitternacht. Aber die Nebenstraßen sind schlecht und eng: Armut und Ausschweifung liegen eiternd in den vollgepfropften Gäßchen; Mangel und Elend sind in dem engen Gefängnisse zusammengesperrt: eine finstere düstere Luft scheint, wenigstens in meinen Augen, auf dem Ganzen zu lasten, und ihm ein trübes, schmutziges Aussehen zu geben.

Manche Augen, die seitdem schon lange im Grabe geschlossen sind, haben diesen Schauplatz ziemlich unbesorgt betrachtet, wenn sie zum ersten Male das Tor des alten Marshalsea-Gefängnisses überschritten: denn die Verzweiflung kommt selten mit dem ersten schweren Schlage des Schicksals. Der Mensch hat Vertrauen auf unerprobte Freunde, er erinnert sich der vielen Anerbietungen, die ihm von seinen lustigen Kameraden so freigebig gemacht worden, als er ihrer nicht bedurfte; er hat Hoffnung – die Hoffnung der glücklichen Unerfahrenheit. Wenn er auch vom ersten Schlage niedergebeugt wird, so keimt die Hoffnung in seinem Busen und blüht für kurze Zeit, bis sie unter dem zerstörenden Einfluß der Enttäuschung und Verlassenheit dahinschwindet. Wie bald blickten dieselben Augen tief eingesunken und glanzlos aus dem Gesicht hervor, das vom Hunger abgezehrt und von der Einsperrung bleich geworden war, in Tagen, wo es nicht bloß Redensart war, wenn man sagte, die Schuldner vermodern im Gefängnis ohne Hoffnung auf Erlösung und ohne Aussicht auf Freiheit! Diese Abscheulichkeit besteht in ihrer vollen Ausdehnung nicht mehr! aber es ist noch genug von ihr vorhanden, um Dinge zu ermöglichen, die das Herz zerreißen.

Es sind jetzt zwanzig Jahre, daß eine Mutter mit ihrem Kind, so gewiß wie der Morgen kam, Tag für Tag an dem Gefängnistor sich zeigte. Oft kamen sie nach einer schlaflosen Nacht voll Elend und Qual eine ganze Stunde zu früh. Dann ging die junge Mutter traurig wieder weg, führte das Kind nach der alten Brücke und nahm es auf den Arm, um ihm das im Licht der Morgensonne erglühende Wasser zu zeigen, und ihm durch den Anblick der lärmenden Vorbereitungen zum Geschäft und Vergnügen, den der Fluß in dieser frühen Tagesstunde darbietet, Unterhaltung und Spaß zu machen. Aber bald setzte sie es nieder, verbarg das Gesicht in ihrem Halstuch und ließ den hervorbrechenden Tränen freien Lauf. Kein Ausdruck von Teilnahme oder Lust leuchtete aus diesem abgemagerten Krankengesicht. Erinnerungen hatte das Kind nicht viel, aber sie waren sämtlich von derselben Art: alle knüpften sich an die Armut und das Elend seiner Eltern. Stundenweise saß es auf den Knien seiner Mutter und beobachtete mit kindischem Mitgefühl die Tränen, die sich über ihre Wangen stahlen. Dann schlich es sich still in einen dunklen Winkel und schluchzte sich in den Schlaf. Die rauhe Wirklichkeit des Lebens, mit so vielen seiner traurigsten Entbehrungen – Hunger, Durst, Kälte und Mangel – hatte es seit dem ersten Aufdämmern seiner Vernunft in seiner ganzen Ausdehnung erfahren; und ob es gleich die Gestalt eines Kindes hatte, so fehlten ihm doch der leichte Sinn, das freundliche Lachen und die funkelnden Augen.

Der Vater und die Mutter sahen das Kind und dann einander mit Gedanken des furchtbarsten Seelenschmerzes an, denen sie keine Worte zu geben wagten. Der gesunde, starke Mann, der sonst beinahe jede Anstrengung hätte ertragen können, schwand unter dem lastenden Druck der Einsperrung und der ungesunden Luft eines vollgepfropften Gefängnisses sichtlich dahin. Die zarte Frau wankte unter den vereinten Wirkungen körperlicher und geistiger Leiden dem Grabe entgegen; an des Kindes Herzen nagte der Tod.

Der Winter kam und mit ihm die kalte regnerische Witterung, die so viele Wochen lang anhält. Das unglückliche Weib hatte sich in ein armseliges Zimmer in der Nähe des Ortes, wo ihr Gatte gefangensaß, zurückgezogen. Obgleich die Veränderung durch ihre zunehmende Armut notwendig gemacht worden war, so fühlte sie sich doch jetzt glücklicher, denn sie war ihm näher. Zwei Monate lang wartete sie und ihr Kind regelmäßig alle Morgen auf das Öffnen des Tors. Eines Tages erschien sie zum ersten Male nicht. Am andern Morgen kam sie, aber sie war allein, das Kind war tot.

Die, welche mit kaltem Herzen von den Verlusten des Armen als einer glücklichen Erlösung für die Hingeschiedenen und einer segensreichen Erleichterung für die Hinterbliebenen reden, wissen wenig von dem Schmerz solcher Verluste. Ein stiller Blick der Liebe und Achtung, wenn sich alle andern Augen kalt von uns abwenden – das Bewußtsein, daß wir uns der Teilnahme und Liebe eines Wesens erfreuen, wenn alle andern uns verlassen haben – ist ein Halt, eine Stütze, ein Trost in der tiefsten Betrübnis, die kein Reichtum erkaufen, keine Gewalt gewähren kann. Das Kind hatte stundenlang zu seiner Eltern Füßen gesessen, die kleinen Händchen geduldig gefaltet und das abgezehrte, bleiche Gesicht auf sie gerichtet. Sie hatten es von Tag zu Tag dahinwelken sehen, und obgleich sein kurzes Dasein ein freudloses gewesen und es jetzt den Frieden und die Ruhe gefunden hatte, die ihm, so jung es noch war, in dieser Welt versagt waren, so waren es doch seine Eltern, und sein Verlust drang ihnen tief ins Herz.

Die, welche das veränderte Gesicht der Mutter betrachteten, sahen deutlich, daß der Tod ihren Drangsalen und ihrem Elend bald ein Ende machen mußte. Die Mitgefangenen ihres Gatten mochten sich ihm in seinem Gram und Jammer nicht aufdringen und überließen ihm das kleine Gemach, das er bisher mit zwei Leidensgefährten geteilt hatte, allein. Seine Gattin bewohnte es mit ihm, und ohne Schmerz, aber auch ohne Hoffnung, welkte sie langsam dem Grabe zu.

Eines Abends war sie in ihres Gatten Armen ohnmächtig geworden. Er hatte sie ans offene Fenster getragen, um sie durch die Luft wieder ins Leben zurückzurufen, als ihm das Licht des Mondes, das auf ihr Gesicht fiel, eine Veränderung in ihren Zügen zeigte, die ihn so sehr ergriff, daß er gleich einem hilflosen Kind unter ihrer Last wankte.

›Setze mich nieder, Georg‹, sagte sie mit matter Stimme. Er tat es und, sich neben sie setzend, bedeckte er sein Gesicht mit seinen Händen und brach in Tränen aus.

›Es ist sehr hart, Georg, dich zu verlassen‹, sagte sie; ›aber es ist der Wille Gottes, und du mußt dich um meinetwillen darein ergeben. Ach, wie danke ich ihm, daß er unser Kind zu sich genommen. Es ist jetzt glücklich und im Himmel. Was würde es hier getan haben ohne seine Mutter?‹

›Du darfst nicht sterben, Marie, du darfst nicht sterben‹, sagte der Gatte aufspringend. Er ging hastig auf und nieder und schlug sich mit der geballten Faust vor den Kopf. Dann setzte er sich wieder neben sie, nahm sie in seine Arme und sagte ruhiger: ›Ich bitte dich, sei guten Muts, liebes Kind; du wirst dich wieder erholen.‹

›Nimmermehr Georg; nimmermehr‹, sagte die Sterbende. ›Sorge dafür, daß sie mich neben mein armes Kind legen. Aber versprich mir, wenn du je diesen traurigen Ort verlassen und reich werden wirst, uns in einem stillen ländlichen Kirchhof, weit, weit von hier – sehr weit von hier – begraben zu lassen, wo wir im Frieden ruhen können. Willst du mir das versprechen, lieber Georg?‹

›Ich verspreche es, ich verspreche es‹, sagte der Mann, sich leidenschaftlich vor ihr auf die Knie werfend. ›Rede mit mir, Marie – nur ein Wort: einen Blick – nur einen –‹

Er verstummte, denn der Arm, der seinen Nacken umschlungen hielt, wurde steif und schwer. Ein tiefer Seufzer rang sich aus der abgezehrten Gestalt, die in seinen Armen lag; die Lippen bewegten sich und ein Lächeln spielte auf ihrem Gesicht. Aber die Lippen waren bleich und das Lächeln verzog sich zu einem schrecklichen Starrblick. Er war allein auf der Welt.

In der Stille und Einsamkeit seines elenden Gemachs kniete der unglückliche Mann in der darauffolgenden Nacht vor der Leiche seines Weibes, und rief Gott zum Zeugen eines furchtbaren Eidschwurs an, daß er von Stunde an nur darauf ausgehe, ihren und seines Kindes Tod zu rächen; daß er von nun an bis zum letzten Augenblicke seines Lebens alle seine Kräfte nur diesem einen Zwecke widmen wolle; daß seine Rache langwierig und fürchterlich, und sein Haß ewig und unauslöschlich sein solle, und daß er den Gegenstand dieses Hasses bis an die Grenzen der Welt verfolgen wolle.

Die höchste Verzweiflung und eine übermenschliche Leidenschaft hatten in dieser einen Nacht auf seinem Gesicht und in seiner ganzen Gestalt solche Verheerungen angerichtet, daß seine Leidensgefährten vor ihm zurückbebten, als er an ihnen vorüberkam. Seine Augen waren blutunterlaufen und quollen hervor. Sein Gesicht war totenbleich und sein Körper wie unter der Last der Jahre gebeugt. In der Heftigkeit seines Seelenschmerzes hatte er seine Unterlippe beinahe ganz durchbissen; das Blut war am Kinn niedergeflossen und hatte sein Hemd und sein Halstuch befleckt. Keine Träne, kein Klageslaut entfloh ihm, aber der unstete Blick und die regellose Hast, mit der er im Hofe auf und ab rannte, verrieten das Fieber, das in seiner Brust brannte.

Ohne Verzug mußte der Leichnam aus dem Gefängnis entfernt werden. Der verlassene Gatte empfing diese Mitteilung mit vollkommener Ruhe und billigte die Anordnungen, die man deshalb traf.

Beinahe sämtliche Bewohner des Gefängnisses hatten sich versammelt, um der Wegschaffung der Leiche zuzusehen. Sie wichen auf beiden Seiten zurück, als der unglückliche Witwer erschien, der rasch vorwärts schritt und auf einem kleinen eingefaßten Platze, nahe am Gefängnistor, von den Übrigen entfernt, stehenblieb. Die Menge hatte sich aus angeborenem Zartgefühl zurückgezogen. Der grobe Sarg wurde langsam auf den Schultern fortgetragen, und Totenstille herrschte unter den Anwesenden, die nur durch die lauten Wehklagen der Frauen und den Widerhall der Tritte der Träger auf dem Steinpflaster unterbrochen wurde. Sie erreichten den Ort, wo der Arme stand, und machten halt. Er legte seine Hand auf den Sarg, zog mechanisch das Tuch an, womit er bedeckt war, und winkte ihnen, weiterzugehen. Die Schließer am Eingange des Gefängnisses nahmen ihre Hüte ab, als die Leiche vorübergetragen wurde, und im nächsten Augenblick schloß sich das schwere Tor hinter dem Zuge. Der Arme sah mit einem gläsernen Blick auf die Menge und fiel mit seiner ganzen Schwere zu Boden.

Viele Wochen lang lag er Tag und Nacht in den wildesten Fieberträumen. Aber das Bewußtsein seines Verlustes und die Erinnerung an sein Gelübde verließen ihn keinen Augenblick. Unaufhörlich wechselten die Szenen vor seinen Augen. Schauplatz folgte auf Schauplatz und Ereignis auf Ereignis, mit der Blitzesschnelle des Wahnwitzes. Aber alle knüpften sich auf die eine oder andere Weise an den großen Gegenstand, mit dem sein Geist beschäftigt war. Er segelte über die grenzenlose Fläche des Ozeans; die Wolken über ihm waren blutrot und die wilden Wasser kochten und schäumten in furchtbarer Wut auf allen Seiten. Ein anderes Schiff fuhr vor ihm her, das gegen den heulenden Sturm mit aller Kraft ankämpfte, die Segel flatterten zerrissen vom Mast, und das Verdeck war voll von Gestalten, die hin und her geworfen wurden, während sich ungeheure Wellen jeden Augenblick über ihm brachen und ihre Opfer in die rauchende See schwemmten. Sie fuhren durch das brüllende Gewässer mit einer Eile und Gewalt, der nichts widerstehen konnte; sie zerschmetterten den Bug des vorderen Schiffes und drückten es in den Grund. Aus dem furchtbaren Wirbel, der das sinkende Wrack umschäumte, stieg ein so lautes und durchdringendes Geschrei empor – das fürchterliche Angstgeschrei hundert Unglücklicher, die in den Wellen ertranken – daß es das Wutgebrüll der Elemente übertäubte, und hallte und widerhallte, bis es die Luft, das Firmament und den Ozean zu durchdringen schien. Doch was war das? – der alte Graukopf, der aus dem Wasser emportauchte, mit dem Blicke des Todeskampfes und dem Angstgeschrei um Hilfe, von den Wellen gepeitscht! Ein Blick und er war über Bord gesprungen und arbeitete sich mit Riesenkraft durch die wilde See. Er schwamm auf diesen zu; er kam dicht an ihn heran. Es waren seine Züge; der Alte sah ihn kommen und suchte ihm vergeblich zu entrinnen. Aber er faßte ihn fest um den Leib und zog ihn in die Tiefe nieder. Hinunter, hinunter mit ihm, fünfzig Klafter tief; seine Anstrengungen wurden schwächer und schwächer, bis sie endlich ganz aufhörten. Er war tot; er hatte ihn getötet und seinen Schwur gehalten.

Barfuß und allein ging er über den brennenden Sand einer ungeheuren Wüste. Der Sand versetzte ihm den Atem und blendete ihn. Die feinen Körnchen drangen durch alle Poren seiner Haut und peinigten ihn fast bis zum Wahnsinn, Gigantische Staubmassen schwebten, vom Winde getragen und von der brennenden Sonne durchglüht, in der Ferne gleich Säulen lebendigen Feuers dahin. Die Gebeine eines Menschen, der in der traurigen Wüste umgekommen, lagen zerstreut zu seinen Füßen. Ein furchtbarer Glanz beleuchtete alles, was ihn umgab; und so weit sein Auge reichte, begegnete es nur Bildern des Schreckens und Entsetzens. Vergeblich mühte er sich, mit der am Gaumen klebenden Zunge einen Angstruf hervorzustoßen und lief wie wahnsinnig weiter. Mit übernatürlicher Kraft watete er durch den Sand, bis er von Ermattung und Durst erschöpft, bewußtlos zu Boden sank. Welch eine erfrischende Kühle belebte ihn wieder! Was für ein murmelnder Laut war das? Wasser! Es war wirklich ein Quell; und der klare frische Strom ergoß sich zu seinen Füßen. Er trank in tiefen Zügen, warf seine schmerzhaften Glieder auf den Rasen und sank in erquickenden Schlummer. Der Laut sich nähernder Fußtritte weckte ihn. Ein alter Mann mit grauen Haaren wankte vorwärts, um seinen brennenden Durst zu löschen. Er war es wieder; er schlang seine Arme um des alten Mannes Leib und hielt ihn zurück. Er krümmte sich in furchtbaren Krämpfen und schrie nach Wasser, denn es bedurfte nur eines Tropfens, sein Leben zu fristen. Aber er hielt den Alten fest, und weidete sich mit gierigem Auge an seinem Todeskampf, und als das leblose Haupt auf die Brust hinsank, stieß er den Leichnam mit den Füßen von sich.

Als ihn das Fieber verließ und sein Bewußtsein wiederkehrte, war er auf einmal reich und frei. Er vernahm, daß sein Vater, der ihn im Gefängnis hatte sterben lassen wollen – der die, welche ihm teurer waren als sein eigenes Leben, an Mangel und Gram, den keine Arznei zu heilen vermag, hatte sterben lassen – tot in seinem Daunenbette gefunden worden sei. Dieser Vater war fest entschlossen gewesen, seinen Sohn als Bettler auf der Welt zurückzulassen. Aber auf seine Gesundheit und Kraft pochend, hatte er die Enterbung hinausgeschoben, bis es zu spät war. – Nun mochte er in der andern Welt die Zähne knirschen, bei dem Gedanken an den Reichtum, den ihm seine Versäumnis hinterlassen hatte. Dazu erwachte er – und zu noch mehr – nämlich zur Erinnerung an den Zweck, für den er jetzt leben sollte, und zur Erinnerung daran, daß sein Feind seines eigenen Weibes Vater war – der Mann, der ihn ins Gefängnis geworfen und der seine Tochter und ihr Kind, die zu seinen Füßen um Gnade gefleht, vor die Tür gestoßen hatte.

O, wie verwünschte er die Schwäche, die ihn noch hinderte, sich aufzumachen und für seine Rachepläne tätig zu sein! Er ließ sich von dem Schauplatze seines Verlustes und Elends wegführen und wählte sich einen ruhigen Wohnplatz an der Meeresküste – nicht in der Hoffnung, seinen innern Frieden und seine Seligkeit wiederzufinden; denn beide waren für immer entflohen, sondern um seine gesunkenen Kräfte wieder zu heben und über seinen Lieblingsplan nachzudenken. Und hier warf ihm auch irgendein böser Geist die erste Gelegenheit zu der furchtbarsten Rache in den Weg.

Es war Sommer. In seine finstern Gedanken vertieft, verließ er früh am Abend seine einsame Wohnung und verfolgte einen schmalen Pfad zwischen den Klippen nach einem wilden und einsamen Ort, der auf seinen Streifereien seine Phantasie besonders erregt hatte. Er setzte sich auf verwitterte Felstrümmer und blieb dort, das Gesicht mit den Händen bedeckt, stundenlang – oft bis die Nacht völlig hereingebrochen war und die langen Schatten der zürnenden Klippen über seinem Kopf alles um ihn her in dichte Finsternis verhüllt hatten.

Hier saß er an einem ruhigen Abend in seiner gewohnten Stellung, bisweilen den Kopf erhebend, um den Flug einer Seemöwe zu beobachten, oder mit seinen Blicken den prächtigen Rosenstreifen zu verfolgen, der in der Mitte des Ozeans anfing und bis zu seinem äußersten Rande hinzulaufen schien. Eben ging die Sonne unter, als die tiefe Stille des Orts durch einen lauten Hilferuf unterbrochen wurde. Er lauschte, ob er auch recht gehört habe, als sich der Ruf mit noch größerer Stärke wiederholte, und schnell aufspringend eilte er in der Richtung weiter, aus der jener Ruf gekommen war.

Das Vorgefallene erklärte sich auf einen Blick selbst: Einige zerstreute Kleidungsstücke lagen am Strand; der Kopf eines Menschen zeigte sich in geringer Entfernung von der Küste über den Wellen. Ein alter Mann lief, in Todesangst die Hände ringend, auf und nieder, und schrie um Hilfe. Der Wiedergenesene, dessen Kräfte nun wieder so ziemlich hergestellt waren, warf den Rock weg und eilte der See zu, um sich hineinzustürzen und den Ertrinkenden ans Ufer zu ziehen.

›Eilen Sie, Sir; um Gotteswillen, eilen Sie. Helfen Sie, helfen Sie im Namen des Höchsten. Es ist mein Sohn‹, rief der Greis im Wahnsinne der Angst, als er auf ihn zulief. ›Mein einziger Sohn und dort stirbt er vor den Augen seines Vaters.‹

Auf das erste Wort, das aus dem Munde des Alten kam, hemmte der Fremde seinen Schritt und blieb mit übereinandergeschlagenen Armen regungslos vor ihm stehen.

›Großer Gott‹, rief der Greis, sich plötzlich erinnernd – ›Heyling!‹

Der Fremde lächelte und schwieg.

›Heyling‹, sagte der Alte mit wildem Ton – ›mein Kind, Heyling, mein liebes Kind; sehen Sie, sehen Sie,‹ und nach Atem ringend, deutete der unglückliche Vater auf den Ort, wo der Jüngling um sein Leben kämpfte.

›Horch‹, sagte der Alte – ›er ruft wieder. Er lebt noch. Heyling, retten Sie ihn, retten Sie ihn.‹

Der Fremde lächelte wieder und blieb regungslos wie eine Bildsäule.

›Ich habe unrecht an Ihnen gehandelt‹, rief der Alte, auf die Knie sinkend und seine Hände faltend – ›rächen Sie sich; nehmen Sie mein Alles, mein Leben; stoßen Sie mich mit dem Fuße ins Wasser, und wenn die menschliche Natur den Widerstand unterdrücken kann, so will ich sterben, ohne eine Hand oder einen Fuß zu rühren. Tun Sie es, Heyling, tun Sie es, aber retten Sie meinen Sohn; er ist so jung, Heyling, so jung, Heyling, und soll schon sterben.‹

›Hören Sie‹, sagte der Fremde, den Alten fest beim Handgelenk fassend – ›ich will Leben für Leben, und hier ist eines. Mein Kind starb vor den Augen seines Vaters einen weit qualvolleren Tod, als der junge Verschwender des Vermögens seiner Schwester jetzt einen stirbt, während ich spreche. Sie lachten – lachten Ihrer Tochter ins Gesicht, als der Tod schon seine Knochenhand ausgereckt hatte – lachten damals unserer Leiden. Was sagen Sie jetzt dazu? Sehen Sie dorthin, sehen Sie dorthin.‹

Mit diesen Worten deutete der Fremde auf die See. Ein schwacher Schrei drang von dort herüber; die letzte Anstrengung des Sterbenden bewegte die spielenden Wellen auf wenige Sekunden, und der Ort, wo er in sein frühes Grab gesunken, war von dem übrigen Wasser nicht mehr zu unterscheiden.

 

Drei Jahre waren verflossen, als an der Haustür eines Londoner Anwalts, den damals das Publikum als einen Mann kannte, der in der Übernahme von Rechtsgeschäften nicht sehr bedenklich war, ein Mann aus einem Wagen stieg und den Anwalt in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen wünschte. Obgleich der Frühling seines Lebens offenbar noch nicht ganz vorüber war, hatte dieser Herr doch ein blasses, eingefallenes und abgehärmtes Gesicht, und es bedurfte der scharfen Beobachtungsgabe des Geschäftsmannes nicht, um auf einen Blick zu bemerken, daß Krankheit oder Kummer mehr zur Veränderung seines Äußeren beigetragen, als der bloße Zahn der Zeit in doppelt soviel Jahren, wie er auf sich haben mochte, hätte hervorbringen können.

›Ich bitte Sie, ein Rechtsgeschäft für mich zu übernehmen.‹

Der Anwalt verbeugte sich dienstfertig und sah auf ein großes Paket, das der Herr in den Händen hatte. Der Fremde bemerkte den Blick und fuhr fort:

›Es ist kein gewöhnliches Geschäft‹, sagte er. ›Auch sind diese Papiere nicht ohne langwierige Bemühungen und große Kosten in meine Hand gekommen.‹

Der Anwalt warf einen noch neugierigeren Blick auf die Papiere, und der Fremde löste die Schnur, die sie zusammenhielt, und legte eine Menge Verschreibungen mit einigen Abschriften, Urkunden und andern Dokumenten vor.

›Auf diese Papiere‹, fuhr der Klient fort, ›erhob, wie Sie finden werden, der Mann, auf dessen Namen sie lauten, eine Reihe von Jahren hindurch große Summen. Es bestand eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihm und dem Manne, der sie ursprünglich in den Händen gehabt hatte, und von dem ich nach und nach das Ganze um das Drei- und Vierfache des Nennwertes gekauft habe – daß diese Pfandscheine von Zeit zu Zeit erneuert werden sollten, bis eine bestimmte Reihe von Jahren verflossen wäre. Eine solche Übereinkunft ist aber nirgends bestimmt ausgedrückt. Er hat in neuerer Zeit viele Verluste erlitten, und wenn diese Schuldbriefe auf einmal eingelöst werden sollten, so würden sie ihn zugrunde richten.‹

›Das Ganze beläuft sich auf etliche tausend Pfund‹, sagte der Anwalt, einen Blick auf die Papiere werfend.

›So ist es‹, antwortete der Klient.

›Was sollen wir tun?‹ fragte der Anwalt.

›Was tun?‹ erwiderte der Klient mit plötzlicher Heftigkeit. – ›Sie sollen jeden Kunstgriff des Gesetzes anwenden, der in Ihrer Gewalt steht, jeden Kniff gebrauchen, den der Scharfsinn auszudenken und die Bosheit durchzuführen vermag; gute Mittel, wie schlechte, den offenen Druck des Gesetzes und die ganze Schlauheit eines scharfsinnigen Praktikers. Ich möchte ihn einen qualvollen, langsamen Tod sterben lassen; ihn zugrunde richten, sein Hab und Gut an mich bringen und ihn von Haus und Hof vertreiben, daß er in seinen alten Tagen sein Brot vor den Türen betteln und in einem gemeinen Kerker sterben muß.‹

›Aber die Kosten, mein Wertester – die Kosten von all‘ dem?‹ erwiderte der Anwalt, als er sich von seinem ersten Erstaunen erholt hatte. – ›Wenn der Beklagte ein ruinierter Mann ist, wer wird die Kosten bezahlen, Sir?‹

›Nennen Sie irgendeine Summe‹, sagte der Fremde, während seine Hand vor innerer Aufregung so heftig zitterte, daß er kaum die Feder halten konnte, die er bei diesen Worten ergriff, – ›irgendeine Summe und Sie sollen sie haben. Scheuen Sie sich nicht, sie zu nennen, ich werde sie nicht zu groß finden, wenn ich meinen Zweck erreiche.‹

Der Anwalt nannte aufs Geratewohl eine bedeutende Summe, die er als Vorschuß nötig haben würde, um sich gegen die Möglichkeit eines Verlustes zu decken, aber mehr in der Absicht, sich zu überzeugen, wie weit sein Klient wirklich zu gehen gesonnen wäre, als in der Hoffnung, seine Forderung bewilligt zu sehen.

Der Fremde schrieb für den ganzen Betrag eine Anweisung an seinen Bankier und ging.

Sie wurde bezahlt, und da der Anwalt dadurch seinen fremden Klienten als einen verläßlichen Mann erkannte, schritt er mit allem Ernst ans Werk. Mehr als zwei Jahre lang saß Herr Heyling seit dieser Zeit ganze Tage in seiner Schreibstube über den Papieren, die sich immer mehr anhäuften, und las mit freudestrahlenden Augen die dringenden Vorstellungen, die Bitten um einen kleinen Aufschub, weil sonst der Schuldner seinem unvermeidlichen Untergang entgegeneilen würde – Briefe, die immer häufiger wurden, als einmal eine Forderung nach der andern eingeklagt worden.

Auf alle Gesuche um eine kurze Nachsicht erfolgte nur eine einzige Antwort – das Geld müsse bezahlt werden. Haus und Hof, samt allem, was dazu gehörte, ward nach und nach bei den zahlreichen Pfändungen, die jetzt angeordnet wurden, weggenommen, und der alte Mann hatte unfehlbar ins Gefängnis wandern müssen, wenn er sich nicht der Wachsamkeit der Gerichtsboten durch die Flucht entzogen hätte. Der unversöhnliche Haß Heylings wurde durch den Erfolg seiner rachsüchtigen Bemühungen nicht nur nicht befriedigt, sondern durch das Elend, das er über sein Schlachtopfer verhängte, noch gesteigert.

Als er die Flucht des alten Mannes vernahm, kannte seine Wut keine Grenzen; er knirschte mit den Zähnen vor Ingrimm, zerraufte sich das Haar und stieß schreckliche Flüche gegen die Männer aus, die mit der Verhaftung beauftragt waren. Nur die wiederholte Versicherung, daß man des Flüchtlings gewiß habhaft werden würde, beruhigte ihn einigermaßen. Nach allen Richtungen wurden Spione ausgesandt, alle mögliche List wurde angewandt, um seinen Zufluchtsort zu entdecken; aber es war alles vergeblich. Ein halbes Jahr verfloß, und er war immer noch nicht aufgefunden.

Endlich erschien Heyling eines Abends spät, nachdem man ihn seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen hatte, in der Privatwohnung seines Anwalts und ließ ihm sagen, ein Herr wünsche ihn augenblicklich zu sprechen. Noch ehe der Anwalt, der ihn von oben an der Stimme erkannt hatte, seinem Diener bestellen konnte, ihn herauszuführen, war der Klient schon oben an der Treppe und drang blaß und atemlos ins Besuchszimmer. Er schloß die Tür, um von niemand gehört zu werden, sank in einen Armstuhl und sagte mit leiser Stimme –

»Pst, ich habe ihn endlich gefunden.‹

»Was Sie sagen«, erwiderte der Anwalt. – »Das ist schön, Verehrtester, sehr schön.«

»Er hält sich in einer erbärmlichen Wohnung in Lamden-Town versteckt«, sagte Heyling – »es ist vielleicht ebensogut, daß wir ihn aus den Augen verloren, denn er hat dort die ganze Zeit über im größten Elend gelebt, und er ist arm – sehr arm.«

»Sehr gut‹, erwiderte der Anwalt – »Sie wünschen natürlich, daß die Verhaftung morgen früh vorgenommen werde?«

»Ja«, versetzte Heyling: »doch halten Sie! Nein, erst übermorgen. Sie erstaunen, daß ich sie verschieben will«, setzte er mit schrecklichem Lächeln hinzu, »aber ich hatte es vergessen. Übermorgen feiert er seinen Jahrestag: wir wollen ihn dann festnehmen.« »Auch gut«, antwortete der Anwalt. »Wollen Sie die Instruktion für den Gerichtsboten niederschreiben?«

»Nein, er soll herkommen, abends acht Uhr ich will ihn dann begleiten.«

Sie kamen am bestimmten Abend zusammen, setzten sich in eine Mietkutsche und ließen an der Ecke der alten Pancrasstraße halten, wo das Arbeitshaus des Kirchspiels steht. Es war schon ganz dunkel geworden, als sie dort ausstiegen. Nachdem sie an der düstern Mauer, die sich am Veterinärhospital hinaufzieht, hingegangen waren, traten sie in eine kleine Nebenstraße, die Little College Street genannt wird, oder wenigstens damals so genannt wurde, und die, wie sie auch jetzt beschaffen sein mag, in jenen Tagen still und einsam genug war, da sie fast nichts anderes als Moorgrund und Sümpfe in ihrer Umgebung hatte.

Nachdem Heyling die Reisemütze, die sein Haupt bedeckte, halb über das Gesicht heruntergezogen und sich in seinen Mantel gehüllt hatte, blieb er vor dem erbärmlichsten Häuschen der ganzen Straße stehen, und pochte leise an die Tür. Sie ward augenblicklich von einer alten Frau geöffnet, die sich höflich vor dem Ankömmling verbeugte, und durch ihre Miene zu verstehen gab, daß sie ihn erkannte. Heyling flüsterte dem Gerichtsboten zu, er möchte unten zurückbleiben, schlich leise die Treppe hinauf und trat rasch in das Vorderzimmer.

Das Opfer seiner Nachforschungen und seines unversöhnlichen Hasses, jetzt ein abgelebter Greis, saß vor einem nackten, tannenen Tische, auf dem ein elendes Talglicht brannte. Er schrak beim Eintritt des Fremden zusammen und stand zitternd von seinem Sitze auf.

»Was gibt es wieder – was gibt es wieder?« rief der Alte – »was für ein neues Elend kommt über mich? Was bringen Sie mir?«

»Ein Wort mit Ihnen«, erwiderte Heyling; und während er sprach, setzte er sich an das andere Ende des Tisches, und Mantel und Kappe zurückschlagend, enthüllte er sein Gesicht. Der alte Mann schien plötzlich der Sprache beraubt, er fiel rücklings auf seinen Stuhl, und die Hände zusammenschlagend, starrte er mit dem Blicke des Entsetzens und der Furcht auf die Erscheinung.

»Heute sind es sechs Jahre«, sagte Heyling, »daß ich Ansprüche habe auf das Leben, das Sie mir für das meines Kindes schulden. Vor der leblosen Hülle Ihrer Tochter, alter Mann, schwur ich, von nun an nur der Rache zu leben. Nie habe ich, auch nur auf einen Augenblick, meinen Zweck aus den Augen verloren; denn wenn es der Fall gewesen wäre, so würde mir ein einziger Gedanke an ihren leidenden Blick der Ergebung, als sie dahinschied, oder an das sterbende Antlitz unseres unschuldigen Kindes meine Aufgabe ins Gedächtnis gerufen haben. Meiner ersten Handlung der Vergeltung werden Sie sich erinnern; dies ist meine letzte.«

Der alte Mann schauerte zusammen und seine Hände fielen kraftlos an seiner Seite nieder.

»Morgen verlasse ich England«, fuhr Heyling nach einer kurzen Pause fort. – »Heute nacht noch übergebe ich Sie dem lebendigen Tode, dem Sie sie geopfert haben – einem hoffnungslosen Gefängnis.« –

Er sah dem alten Manne ins Antlitz und schwieg: dann hielt er ihm das Licht vors Gesicht, stellte es sachte wieder nieder und verließ das Zimmer.

»Es wäre gut, wenn Sie nach dem alten Manne sehen würden«, sagte er zu der Frau, als er die Tür öffnete und dem Gerichtsboten winkte, ihm auf die Straße zu folgen – »Ich glaube, es ist ihm nicht wohl.«

Die Frau verschloß die Tür, eilte hastig die Treppe hinauf und fand ihn entseelt. Der Schlag hatte ihn getötet.

 

Unter einem einfachen Grabstein auf einem der stillsten und abgelegensten Kirchhöfe in Kent, wo wilde Blumen durch das Gras schimmern und die liebliche Landschaft der Umgegend die schönste Stelle im Garten England bildet, ruhen die Gebeine der jungen Mutter und ihres holden Kindes. Aber die Asche des Vaters mischt sich nicht mit der ihrigen; und von jener Nacht an erhielt der Anwalt auch nicht mehr den entferntesten Aufschluß über das weitere Schicksal seines seltsamen Klienten.«

 

Als der Alte seine Erzählung beendigt hatte, trat er an einen hölzernen Nagel in einer Ecke des Zimmers, nahm Hut und Überrock und schritt, ohne weiter ein Wort zu sagen, langsam hinaus. Da der Herr mit den Mosaikknöpfen eingeschlafen und der größere Teil der Gesellschaft in das unterhaltende Spiel vertieft war, geschmolzenen Talg in ihren Grog träufeln zu lassen, verließ Herr Pickwick unbemerkt das Zimmer, bezahlte seine und Herrn Wellers Zeche und ging in Gesellschaft dieses Herrn zur Haustür der Elster hinaus.

 

Fünfzehntes Kapitel.


Fünfzehntes Kapitel.

Enthält eine kurze Schilderung der Gesellschaft im Pfauen und eine Erzählung von einem Krämer.

Es ist angenehm, von den Wirren und Kämpfen der Politik zu der friedlichen Ruhe des Privatlebens zurückzukehren. Obgleich eigentlich kein erklärter Anhänger der einen oder andern Partei, war Herr Pickwick doch von der Begeisterung des Herrn Pott so weit angesteckt, daß er seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit den Vorgängen widmete, von denen das vorhergehende Kapitel eine Schilderung gibt, die aus seinem eigenen Gedenkbuche entlehnt ist. Auch Winkle ging indessen nicht müßig, sondern verwandte seine ganze Zeit auf angenehme Spaziergänge und Ausflüge in die Umgegend mit Madame Pott, die sich dabei einmal von dem langweiligen Einerlei erholte, über das sie ständig klagte.

Während sich auf diese Art die beiden Herren im Hause des Journalisten völlig heimisch gemacht hatten, waren die Herren Tupman und Snodgraß großenteils auf ihre eigenen Hilfsquellen der Unterhaltung beschränkt. Ziemlich unbekümmert um öffentliche Angelegenheiten, vertrieben sie sich die Zeit mit Ergötzlichkeiten, wie sie der Pfau darbot, und das waren eine Art Kegelbillard im ersten Stockwerk und eine abgelegene Kugelbahn im Hinterhofe. In die Raffinements dieser beiden Erholungsspiele, die weit tiefer liegen, als man gewöhnlich glaubt, wurden sie nach und nach durch Herrn Weller eingeweiht, der ein vollendeter Kenner solcher Zeitvertreibe war. Wenn sie also auch in hohem Grade den Genuß der Gesellschaft des Herrn Pickwicks entbehrten, so besaßen sie doch Mittel und Wege, die Zeit und ihre Länge sich angenehm zu verkürzen.

Abends bot der Pfau Reize, die unsere beiden Freunde so sehr anzogen, daß sie sogar den Einladungen des geistreichen, wenn auch nicht sehr poetischen Herrn Pott widerstanden. Abends war nämlich das Gastzimmer der Versammlungsort eines geselligen Kreises, dessen Eigenheiten und besondere Art Herr Tupman mit dem größten Vergnügen beobachtete, und dessen Gespräche und Handlungen Herr Snodgraß aufzuzeichnen pflegte.

Die meisten Leute wissen, was man gewöhnlich unter einem Gastzimmer versteht. Das des Pfauen zeichnete sich in materieller Hinsicht nicht vor den andern gemeinhin aus. Es war nämlich ein großes, kahl aussehendes Zimmer, dessen Einrichtung ohne Zweifel ein bißchen mehr vorstellte, als sie noch neu war: ein großer Tisch in der Mitte, eine Menge Tischchen in den Ecken, ein bedeutender Vorrat verschieden geformter Stühle und ein alter türkischer Teppich, dessen Dimensionen zu der Größe des Zimmers ungefähr dasselbe Verhältnis hatten, wie etwa ein Damentaschentuch zum Fußboden eines Schilderhäuschen. Die Wände waren mit einer oder zwei großen Landkarten verziert, und in einer Ecke hingen an einer langen Reihe von großen hölzernen Nägeln verschiedene regengewohnte grobe Überröcke mit doppelten Kragen. Auf dem Kamingesimse fand man ein hölzernes Tintenzeug mit einem Federstümpfchcn und einer halben Oblate, ein Reisehandbuch und einen Wegweiser, eine Geschichte der Grafschaft ohne Einband und die sterblichen Überreste einer Forelle in einem gläsernen Sarge. Die Atmosphäre war mit Tabaksdampf durchsetzt, der dem ganzen Zimmer und besonders den staubigen roten Fenstervorhängen seine Rauchfarbe mitgeteilt hatte. Auf dem Schenktische standen oder lagen in reizvoller Unordnung eine Menge verschiedenartiger Geräte, von denen einige sehr schmutzige Fischsoßefläschchen, ein paar Reitgerten, zwei bis drei Fuhrmannspeitschen und eben so viele Reisemäntel, ein Besteckbehälter und der Senftopf am meisten in die Augen fielen.

Hier saßen am Abend nach dem Schlusse der Wahl Herr Tupmann und Herr Snodgraß neben einigen andern jeweiligen Bewohnern des Hauses, rauchend und trinkend.

»Ja, liebe Leute«, sagte eine wohlgenährte, gesund aussehende Persönlichkeit von Vierzig, mit nur einem Auge – einem sehr hellen, schwarzen Auge, das mit einem schelmischen Ausdruck von guter Laune und Aufgeräumtheit blinzelte; »unserm edlen Selbst, liebe Leute! Das ist immer mein Toast, den ich der Gesellschaft vorschlage; auf Mariens Wohl trinke ich für mich allein. He, Marie!«

»Geht Eurer Wege, Spötter«, sagte das Schenkmädchen, wiewohl offenbar durch das Kompliment nicht aufgebracht.

»Spring‘ nicht davon, Marie«, sagte der Schwarzäugige.

»Laßt mich im Frieden, Ausgeschämter«, versetzte die junge Dame.

»Denke nicht dran«, versetzte der Einäugige, dem Mädchen nachrufend, das eben das Zimmer verließ. »Ich komme bald nach, Marie.«

Hier winkte er, mit einem für ihn durchaus nicht schwierigen Prozeß, der Gesellschaft mit einem Auge zu, woran eine ältliche Persönlichkeit mit einem schmutziggelben Gesicht und einer Tonpfeife ein ausnehmendes Wohlgefallen fand.

»Merkwürdige Geschöpfe, die Weiber«, sagte der mit dem Negergesicht nach einer Pause.

»O! haben nicht Unrecht«, bestätigte ein Mann mit einem kupferroten Gesicht hinter einer Zigarre.

Nach diesem philosophischen Aphorismus entstand eine zweite Pause.

»Aber es gibt noch seltsamere Dinge in der Welt als die Weiber, denke ich«, bemerkte der Mann mit dem schwarzen Auge, eine große holländische Pfeife mit sehr geräumigem Kopfe langsam füllend.

»Sind sie verheiratet?« fragte das Negergesicht.

»Kann mich damit nicht rühmen.«

»Dacht mir’s doch.«

Hier lachte das Negergesicht laut vor Bewunderung seines Scharfsinns, und ein Mann mit einer sanften Stimme und einem feinen Gesichtchen, der es sich jederzeit zur Pflicht machte, jedermanns Ansicht beizupflichten, stimmte in das Lachen ein.

»Die Weiber, meine Herren«, sagte der enthusiastische Herr Snodgraß, »sind aber doch die Stützen und Zierden unseres Lebens.«

»Allerdings«, sagte der Herr mit dem Milchgesicht.

»Wenn sie guter Laune sind«, sprach das Negergesicht dazwischen.

»Ja, da haben Sie ganz recht«, stimmte das Milchgesicht ein.

»Ich weise diese Einschränkung zurück«, sagte Herr Snodgraß, dessen Gedanken ohne Zweifel zu Emilie Wardle zurückkehrten; »ich weise sie mit Unwillen – mit Empörung zurück. Zeigen Sie mir den Mann, der etwas gegen die Frauen als Frauen hat, und ich behaupte kühn, er ist kein Mann.«

Und Herr Snodgraß nahm seine Zigarre aus dem Munde und schlug mit geballter Faust auf den Tisch.

»Das ist ein gründliches Argument«, sagte das Milchgesicht.

»Eine Behauptung, der ich widerspreche«, unterbrach ihn das Negergesicht.

»Und es liegt gewiß sehr viel Wahres an dem, was Sie bemerken«, pflichtete das Milchgesicht bei.

»Ihre Gesundheit, mein Herr«, sagte der Krämer mit dem einen Auge, Herrn Snodgraß beifällig zuwinkend.

Herr Snodgraß erwiderte das Kompliment.

»Ich höre immer gern ein gutes Argument«, fuhr der Krämer fort, »besonders ein so scharfes, wie dieses; es ist sehr belehrend. Aber der kleine Diskurs über die Weiber bringt mich auf eine Geschichte, die ich einen alten Oheim von mir erzählen hörte, und eben die Erinnerung daran führte mich auf die Behauptung, es gebe bisweilen noch merkwürdigere Dinge als die Weiber.«

»Ich möchte wohl diese Geschichte hören«, sagte das Kupfergesicht mit der Zigarre.

»Möchten Sie«, war die einzige Erwiderung des Krämers, der mit großer Gewalt fortrauchte.

»Auch ich möchte es«, sagte Herr Tupman, zum ersten Male den Mund öffnend. Er war immer darauf bedacht, den Schatz seines Wissens zu erweitern.

»Möchten Sie? Wohlan denn, ich erzähle sie. Nein, ich tu‘ es nicht. Ich weiß, ihr würdet sie nicht glauben«, erwiderte der Mann mit dem schelmischen Auge, seinem Sehorgane noch einen schelmischeren Ausdruck gebend.

»Wenn Sie sagen, sie ist wahr, so glaube ich sie natürlich«, sagte Herr Tupman.

»Wohlan, unter der Bedingung will ich sie erzählen«, erwiderte der Reisende. »Haben Sie je von dem großen Handelshause Bilson und Slum gehört? Doch es tut nichts zur Sache, ob Sie davon gehört haben oder nicht, denn die Herren haben sich schon längst vom Geschäfte zurückgezogen. Es ist jetzt achtzig Jahre, seitdem diese Geschichte einem Reisenden dieses Hauses begegnet ist: er war ein besonderer Freund meines Oheims, und mein Oheim erzählte mir die Sache. Es ist ein sonderbarer Titel, aber er nannte sie nur

die Krämersgeschichte

und pflegte sie folgendermaßen wiederzugeben:

An einem Winterabend, gegen fünf Uhr, als es eben dunkel zu werden anfing, hätte man einen Mann in einem Zweiradwagen sehen können, der sein müdes Pferd längs der Straße hintrieb, die über die Marlborough-Ebene nach Bristol Alte Stadt und Grafschaft im südwestlichen England, einst neben London die wichtigste Stadt Britanniens. führt. Ich sage, man hätte sehen können, und ich zweifle auch nicht, man hätte gesehen, wenn einer, der nicht blind war, des Weges gegangen wäre: aber das Wetter war so schlecht und die Nacht so kalt und naß, daß niemand über Feld ging, als das Wasser. So fuhr denn der Reisende einsam und traurig auf der Mitte der Straße dahin. Wenn ein Krämer aus jenen Tagen den kleinen Zweiradwagen mit den tonfarbenen Kasten und den roten Rädern, nebst der launischen, übelgestimmten, trabenden Mähre, die die Mitte zwischen einem Metzgergaul und einem Zweipennypostklepper hielt, gesehen hätte – er würde sogleich erkannt haben, daß der Reisende niemand anders sein konnte, als Tom Smart von dem großen Hause Bilson und Slum, Cateatonstreet City. Da nun aber kein Krämer auf dem Wege war, um es zu sehen, so wußte überhaupt niemand von der Sache, weshalb sich Tom Smart und sein tonfarbener Wagen mit den roten Rädern und die launische Mähre mit dem stets gleichen Trott gemeinsam fortbewegten, und das Geheimnis unter sich teilten, ohne daß jemand klüger dadurch geworden wäre.

Sogar in dieser traurigen Welt gibt es immerhin angenehmere Punkte als die Marlborough-Ebene, wenn ein starker Wind geht. Wenn Sie dabei noch einen düstern Winterabend, einen schmutzigen, aufgeweichten Weg und tüchtiges Regenwetter in Rechnung setzen und auf dem Wege des Experiments den Versuch an Ihrer höchsteigenen Person machen, so wird Ihnen die Erfahrung diesen Satz zur Genüge bestätigen.

Der Wind blies – nicht die Straße hinauf oder hinunter, obwohl das schon schlimm genug ist, sondern gerade in die Quere, indem er den Regen in den schiefen Linien niedertrieb, wie sie gewöhnlich in den Schreibheften der Elementarschulen zu sehen sind. Für einen Augenblick wollte er nachlassen, und der Reisende fing an, sich der Hoffnung zu schmeicheln, er, d. h. der Wind, werde sich, erschöpft von seiner bisherigen Wut, zur Ruhe legen, als er ihn leider auf einmal in der Entfernung wieder rauschen und pfeifen hörte.

Brausend fuhr der Sturm über die Hügel dahin, senkte auf die Ebene, tobte immer stärker und stärker, und immer näher und näher, bis er sich mit gewaltigen Stößen auf Roß und Mann warf, den scharfen Regen ihnen in die Ohren und seinen kalten Hauch gegen die Beine treibend. Darnach fuhr er dahin immer ferner und ferner, mit furchtbarem Getöse, als spottete er ihrer Schwäche und triumphierte stolz auf seine Gewalt und Kraft.

Die Mähre trabte durch dick und dünn mit herabhängenden Ohren, dann und wann den Kopf schüttelnd, als wolle sie ihr Mißfallen über dieses höchst unhöfliche Benehmen der Elemente zu erkennen geben. Dabei hielt sie jedoch immer einen guten Trott, bis sie ein Windstoß, der alle früheren an Wut übertraf, plötzlich veranlaßte, halt zu machen und sich mit ihren vier Beinen fest gegen den Boden zu stemmen, um nicht über den Haufen geblasen zu werden. Es ist ein besonderes Glück, daß sie das tat, denn wäre sie weggeblasen worden – die launische Mähre war leicht, der Wagen nicht schwer, und Tom Smarts Körperschwere fiel dabei ohnedem nicht ins Gewicht – so würden sie unfehlbar alle miteinander kopfüber, kopfunter gepurzelt sein, bis sie das Ende der Erde erreicht oder der Wind nachgelassen hätte; und jedenfalls ist es wahrscheinlich, daß weder die launische Mähre, noch der tonfarbene Wagen mit den roten Rädern, noch Tom Smart jemals wieder diensttauglich geworden wären.

›Nun, hole der Teufel mein Fuhrwerk samt dem Geschirr‹, sagte Tom Smart (Tom hatte bisweilen die üble Gewohnheit, zu fluchen), hole der Teufel mein Fuhrwerk samt dem Geschirr, sagte Tom: ›wenn das nicht lustig ist, so blase mich –‹

Sie wollen mich wahrscheinlich fragen, warum Tom Smart, der doch bereits zerblasen genug war, den Wunsch ausdrückte, demselben Prozesse abermals unterworfen zu werden. Ich kann es nicht sagen, und weiß nur, daß Tom Smart so sagte – oder wenigstens erzählte mein Oheim immer, daß er so sagte, und das kommt am Ende auf eins heraus.

›Zerblase mich‹, sagte Tom Smart, und die Mähre wieherte, als ob sie genau der gleichen Ansicht wäre.

›Munter, alte Lisel‹, sagte Tom, den Braunen mit dem oberen Ende seiner Peitsche auf den Nacken tätschelnd. So eine Nacht wie diese kann’s nicht weitergehen. Im ersten Haus, zu dem wir kommen, kehren wir ein, und je schneller du läufst, desto schneller geht es vorüber. Oho, alte Lisel – sachte – sachte.

Ob die launische Mähre mit den Tonarten von Toms Stimme hinreichend bekannt war, um seine Meinung zu verstehen, oder ob sie fand, es sei kälter, wenn sie stehenbleibe, als wenn sie vorwärtsgehe, kann ich natürlich nicht behaupten. Aber das kann ich sagen, daß Tom kaum den Mund geschlossen hatte, als sie die Ohren spitzte und fortrannte, und der tonfarbene Wagen mit einer Hast hinterdreinrasselte, daß man hätte glauben können, die roten Speichen müßten jeden Augenblick auf die Wiesen der Marlborough- Ebene hinausfliegen. Sogar Tom konnte wegen der Geschwindigkeit, womit er fortgerissen wurde, ihren Schritt nicht hemmen, bis sie aus eigenem Antrieb vor einem Gasthaus auf der rechten Seite der Straße, ungefähr eine halbe Viertelmeile vor dem Ende der Ebene halt machte.

Tom warf einen schnellen Blick auf das obere Stockwerk des Hauses, überließ die Leine dem Hausknecht und steckte die Peitsche neben den Bock. Es war ein sonderbares altes Haus, aus schmalen Backsteinen gebaut und von Querbalken durchzogen, mit Giebelfenstern, die die ganze Breite des Fußweges neben der Straße überragten, und mit einem niederen Tor und dunklem Eingang. Ein paar steile Stufen führten in das Haus hinab, während bei den modernen Gebäuden gewöhnlich ein halb Dutzend breite und niedere Stufen in das Haus hinaufgehen. Dennoch hatte das Ganze ein einladendes Aussehen, denn auf dem Schenktisch brannte ein helles, lustiges Licht, das einen breiten Strahl über die Straße warf und sogar die gegenüberstehende Hecke beleuchtete. Am entgegengesetzten Fenster flackerte ein rotes Licht, das in einem Augenblicke kaum bemerkbar war, aber im nächsten hell durch die herabgelassenen Vorhänge schimmerte und dadurch verriet, daß im Innern ein munteres Feuer brannte. Diese unbedeutenden Umstände mit dem Auge des erfahrenen Reisenden beobachtend, stieg Tom so behend ab, wie seine halberfrorenen Glieder gestatteten, und trat in das Haus.

In weniger als fünf Minuten saß er im Hinterzimmer, demselben, worin er das Feuer vermutet hatte, vor einem einladenden Brennstoffe, der aus einem kleinen Rest Kohlen und einem Vorrat Holz, groß genug, um ein Halbdutzend ordentlicher Reiserbüschelchen daraus zu machen, bestand. Das Holz, zur anderen Hälfte noch auf dem Kamine aufgestapelt, ging mit einem Knistern und Prasseln im Feuer auf, daß sich schon an diesem Geräusche das Herz eines vernünftigen Mannes hätte erwärmen können. Das war ein behaglicher Anblick, aber es war noch nicht alles: denn ein schmuckgekleidetes Mädchen mit feurigen Augen und zierlichen Knöcheln, breitete ein sehr reines weißes Tischtuch vor ihm aus. Da Tom mit seinen Füßen, die bereits in Pantoffeln steckten, auf dem Kamingitter und mit dem Rücken der offenen Türe zugekehrt dasaß, so sah er auf dem Schenktisch durch den Spiegel, der über dem Kaminsimse hing, köstliche Reihen grüner Flaschen mit goldenen Etiketten. Er sah ferner Krüge mit eingemachten Früchten, Käse, gekochten Schinken und Ochsenfleisch, in schönster Ordnung und in appetitlichster Weise auf Brettern aufgestellt.

Nun, dieser Anblick war auch behaglich; aber es war noch nicht alles, denn beim Büfett saß am niedlichsten aller Teetischchen, das vor dem hellsten aller Feuerchen stand, eine muntere Witwe von ungefähr achtundvierzig Jahren, mit einem Gesicht so einladend, wie das Zimmer selbst. Es war offenbar die Frau des Hauses und sie hatte die oberste Leitung über alle diese herrlichen Besitztümer. Nur eine störende Linie war in dem ganzen schönen Gemälde, und das war ein großer Mann – ein sehr großer Mann, der neben der Witwe beim Tee saß. Er hatte einen braunen Rock mit glänzenden Seidenknöpfen an, einen schwarzen Backenbart und wallendes schwarzes Haar. Es gehörte gerade kein großer Scharfblick dazu, um zu entdecken, daß er auf dem besten Wege war, seine Nachbarin zu überreden, nicht länger Witfrau zu sein, sondern auf ihn das Vorrecht zu übertragen, den ganzen Rest seines Lebens hindurch im Schenkstübchen zu sitzen.

Tom Smart war keineswegs von reizbarer oder mißgünstiger Gemütsart. Aber sei dem wie es wolle, der große Mann in dem braunen Rock mit den glänzenden Seidenknöpfen regte das Tröpfchen Galle auf, das in seiner Natur lag, und machte ihn um so unwilliger, als er dann und wann von seinem Sitze vor dem Spiegel aus gewisse unbedeutende Vertraulichkeiten zärtlicher Natur bemerkte, die zwischen dem großen Mann und der Witwe vorgingen. Sie bestätigten hinlänglich, daß der große Mann sich einer mit seiner Größe im Verhältnis stehenden Gunst erfreute,

Tom war ein großer Freund von warmem Punsch – ich darf sagen ein sehr großer Freund von warmem Punsch – und nachdem seine launische Mähre gut untergebracht und versorgt war, und er selbst das köstliche warme Abendessen, das ihm die muntere Witwe mit eigenen Händen angerichtet, bis auf den letzten Bissen einverleibt hatte, bat er zur Probe um ein Glas von seinem Lieblingsgetränk. Nun gab es im ganzen Kapitel der Haushaltungskunst nicht einen Artikel, auf den sich die Witwe besser verstand, als die Punschbereitung. Das erste Glas sagte Tom Smarts Gaumen so sehr zu, daß er darum ersuchte, ihm möglichst rasch ein zweites zu servieren. Warmer Punsch ist etwas Angenehmes – meine Herren – etwas höchst Angenehmes unter allen Umständen. Aber in der bequemen alten Stube, vor dem knisternden Feuer, während der Wind draußen tobte, daß alle Balken im ganzen Hause krachten, fand ihn Tom Smart über alle Maßen köstlich. Er ließ sich noch ein Glas geben, und dann noch eins – ich weiß nicht genau, ob er nach diesem nicht noch eins trank – aber je mehr er warmen Punsch trank, desto mehr dachte er an den großen Mann.

›Verdammte Unverschämtheit‹, sagte Smart bei sich selbst: ›was hat er in dem behaglichen Schenkstübchen zu tun? Und noch obendrein so ein häßlicher Kerl!‹ sagte Tom. ›Wenn die Witwe nur irgend Geschmack hätte, würde sie sich sicherlich einen Besseren erwählen.‹ Hier wandte sich Toms Auge von dem Spiegelglas nach dem Trinkglas, und da er allgemach sentimental wurde, leerte er das vierte Glas Punsch und befahl ein fünftes,

Tom Smart, meine Herren, hatte immer große Neigung zum Gastwirtleben. Sein Ehrgeiz hatte schon lange danach getrachtet, in einem Schenkstübchen zu stehen, das er sein eigen nennen könnte, angetan mit einem grauen Rock, kurzen Hosen und Stulpenstiefeln. Er setzte großen Wert darein, bei geselligen Mahlzeiten den Vorsitz zu führen, und dachte oft daran, wie wohl es ihm anstehen würde, in seinem eigenen Zimmer die Unterhaltung zu leiten, und und mit welch trefflichem Beispiel er seinen Kunden in der Trinkstube vorangehen könnte.

Alle diese Gedanken gingen Tom rasch durch den Kopf, als er vor dem knisternden Feuer beim warmen Punsche saß. Er fühlte sich beleidigt, daß der große Mann auf so gutem Wege sein sollte, ein solch treffliches Haus zu erobern, während er, Tom Smart, so weit davon entfernt war, wie je. Nachdem er so bei seinen letzten zwei Gläsern mit sich zu Rate gegangen war, ob er ein begründetes Recht hätte, einen Streit mit dem großen Mann darüber anzufangen, daß er in der Gunst der muntern Witwe so große Fortschritte gemacht habe, kam Tom Smart endlich zu der Überzeugung, er sei eben ein geschlagener und vom Schicksal verfolgter Mann und tue wohl am besten, wenn er jetzt zu Bett gehe.

Das schmucke Dienstmädchen leuchtete Tom über eine breite, alte Treppe voran, indem sie die Hand ans Licht hielt, damit es der Wind, der in einem solchen alten Gebäude leicht überall durchstreicht, nicht ausblasen sollte, aber diese Vorsichtsmaßregel erreichte ihren Zweck nicht. Er blies es doch aus und gab dadurch Toms Feinden Gelegenheit zu der Behauptung, er habe das Licht ausgelöscht, und nicht der Wind, und unter dem Vorwande, es wieder anzublasen, das Mädchen geküßt. Wie dem auch sei, es wurde ein anderes Licht gebracht und Tom durch eine Menge Gemächer und ein Labyrinth von Gängen in ein Zimmer geführt, das zu seiner Aufnahme hergerichtet worden. Das Mädchen wünschte gute Aacht und ließ ihn allein.

Es war ein großes, geräumiges Zimmer mit hohen Schränken und einem Bett, das für ein ganzes Alumnat Raum genug gehabt hätte, ein paar eiserne Truhen nicht zu erwähnen, die das Gepäck einer kleinen Armee hätten in sich aufnehmen können. Aber, was Toms Augen am meisten auffiel, war ein sonderbarer, unheimlich aussehender Lehnstuhl mit hohem Rücken und höchst phantastischem Schnitzwerk. Er hatte einen Überzug von geblümtem Damast, und die runden Knäufe seiner Beine waren sorgfältig mit einem roten Tuche umwunden, als hätte er Gicht in den Zehen. Von jedem andern sonderbaren Stuhle würde Tom nichts anderes gedacht haben, als er sei nun einmal ein sonderbarer Stuhl. Damit wäre die Sache abgemacht gewesen; aber dieser eigentümliche Stuhl hatte etwas Besonderes an sich, und Tom konnte doch nicht sagen, was; so seltsam und so verschieden von jedem andern hatte er noch kein Gerät gesehen; er schien ihn ganz zu fesseln. Tom setzte sich vor das Feuer und starrte eine halbe Stunde lang den alten Stuhl an. – Hole der Teufel den Stuhl, er war ein so seltsames altes Stück, daß er seine Augen nicht davon abzuwenden vermochte.

›Nein‹, sagte Tom, sich langsam auskleidend und während dieser ganzen Zeit den alten Stuhl anstarrend, der mit seiner geheimnisvollen Gestalt vor dem Bett stand, ›mein Lebtag sah ich noch nie ein so seltsames Möbel, wie das da. Sehr seltsam‹, sagte Tom, den der warme Punsch etwas nachdenklich gemacht hatte, ›sehr seltsam.‹ Tom schüttelte den Kopf mit der Miene hoher Weisheit und sah wieder auf den Stuhl. Er wußte nicht, was er daraus machen sollte, ging jedoch zu Bett, deckte sich warm zu und schlief ein.

Nach einer halben Stunde fuhr er aus dem Schlaf auf. Er hatte einen verwirrten Traum von großen Männern und Punschgläsern gehabt, und der erste Gegenstand, der sich seiner wachenden Einbildungskraft darbot, war der seltsame Stuhl.

›Ich will nicht mehr Hinsehen‹, sagte Tom zu sich selbst, drückte seine Augenlider zu und suchte sich zu überreden, er schlafe schon wieder ein. Umsonst. Nichts als seltsame Stühle tanzten vor seinen Augen, hoben die Beine empor, schwangen sich einander über den Rücken und machten allerlei tolle Sprünge.

›Ich will lieber einen wirklichen Stuhl sehen, als ein paar Dutzend eingebildete‹, sagte Tom, seinen Kopf unter der Bettdecke hervorstreckend. Er erkannte den Stuhl deutlich beim Schein des Feuers, wie er noch ebenso herausfordernd aussah, wie je.

Tom betrachtete den Stuhl starr, und wie er ihn so ansah, schien plötzlich eine außerordentliche Veränderung mit ihm vorzugehen. Das Schnitzwerk auf dem Rücken nahm allmählich die Züge und den Ausdruck eines alten gefurchten Menschengesichts an; das damastene Polster wurde eine altmodische Weste mit Schößen; die runden Knäufe verwandelten sich in ein paar Füße, die in roten Tuchpantoffeln steckten, und der ganze Stuhl glich einem häßlichen Alten aus dem vorigen Jahrhundert, mit untergestemmten Armen. Tom richtete sich im Bett auf und rieb seine Augen, um klar zu sehen. Vergebens. Der Stuhl war ein häßlicher alter Herr; und was noch mehr war, er winkte Tom zu.

Tom war von Natur ein herzhafter, mutiger Bursche und hatte zudem fünf Gläser warmen Punsch getrunken. Sein Ärger gewann daher bald die Oberhand über seine anfängliche Bestürzung, als er sah, wie der alte Herr mit so unverschämter Miene auf ihn hinstarrte und ihm zuwinkte, und er entschloß sich endlich, es nicht länger so geduldig hinzunehmen. Als ihm daher das alte Gesicht wieder stärker winkte als je, fragte Tom in sehr ärgerlichem Ton:

›Was zum Teufel hast du mir zu winken?‹

›Weil es mir so beliebt, Tom Smart‹, sagte der Stuhl, oder der alte Herr, wie Sie ihn nennen mögen. Doch hörte er auf zu winken, als Tom sprach und grinste ihn an, wie ein altersschwacher Affe.

›Woher weißt du meinen Namen, altes Nußknackergesicht?‹ fragte Tom Smart, etwas betreten; wenn er sich auch unbefangen stellte.

›Komm, komm, Tom‹, sagte der alte Herr, ›das ist nicht die Art, einen soliden spanischen Mahagoni anzureden. Gott straf mich, du könntest mir nicht weniger Achtung erweisen, selbst wenn ich nur furniert wäre.‹

Als er, der alte Herr, das sagte, warf er einen so zornigen Blick, daß Tom ordentlich erschrak.

›Ich wollte Sie durchaus nicht mit Verachtung behandeln, mein Herr‹, sagte Tom in einem demütigern Ton, als er ihn anfangs angenommen hatte.

›Schon recht, schon recht‹, erwiderte der Alte, ›es ist möglich, es ist möglich, Tom –‹

›Mein Herr –‹

›Ich kenne alle deine Verhältnisse, Tom; alle. Du bist sehr arm, Tom.‹

›Das ist nur zu gewiß‹, versetzte Tom, ›aber woher wissen Sie das?‹

›Forsche jetzt nicht danach‹, sagte der alte Herr! ›du bist auch ein viel zu großer Freund vom Punsch, Tom!‹

Tom Smart stand eben auf dem Punkt, zu behaupten, er habe seit seinem letzten Geburtstag keinen Tropfen mehr getrunken; aber als sein Auge dem Auge des alten Herrn begegnete, sah dieser so bekannt mit allem aus, daß Tom errötete und verstummte.

›Tom‹, fuhr der alte Herr fort, ›die Witwe ist eine hübsche Frau, eine außerordentlich hübsche Frau – nicht wahr, Tom?‹ Hier sperrte der Alte seine Augen weit auf, zog eins von seinen abgezehrten kleinen Beinen in die Höhe und machte dabei ein so widerlich verliebtes Gesicht, daß Tom einen rechten Ekel vor solchem leichtfertigen Benehmen faßte; – und gar noch in diesem Alter!

›Ich bin ihr Aufseher, Tom‹, sagte der alte Herr.

›So?‹ fragte Tom Smart.

›Ich kannte ihre Mutter, Tom‹, fuhr der Alte fort, ›und ihre Großmutter. Sie war sehr verliebt in mich – machte mir diese Weste, Tom.‹

›Wirklich?‹ fragte Tom Smart.

›Und diese Schuhe‹, erzählte der Alte weiter, einen seiner roten Tuchpantoffeln emporhebend; ›aber behalte das für dich, Tom. Ich möchte nicht, daß es bekannt würde, wie gut sie mir war. Es könnte die Familienverhältnisse stören.‹

Als der alte Geck das sagte, sah er so außerordentlich unverschämt drein, daß sich Tom Smart, wie er nachher erklärte, kein Gewissen daraus gemacht hätte, sich auf ihn zu setzen.

›Ich war zu meiner Zeit ein großer Liebling der Damen, Tom‹, fuhr der schamlose alte Sünder fort. ›Hundert schöne Weiber saßen stundenlang auf meinem Schoße. Was meinst du dazu, Bursche, he?‹ Der alte Herr war im Begriff, noch mehrere Heldentaten aus seiner Jugendzeit zu erzählen, als er einen solchen Anfall von Knarren bekam, daß er außerstande war, fortzufahren.

›Geschieht dir ganz recht, alter Kerl‹, dachte Tom Smart; sagte aber kein Wörtchen.

›Ach!‹ fing der Alte wieder an, ›ich habe nun meine liebe Not dafür. Ich werde alt, Tom, und habe beinahe alle meine Gelenkbänder eingebüßt. Auch habe ich eine Operation ausgestanden – man hat mir ein kleines Stück in den Rücken eingesetzt – und das war eine schwere Heimsuchung, Tom.‹

›Das glaube ich, mein Herr‹, sagte Tom Smart.

›Doch davon reden wir jetzt nicht‹, fuhr der alte Herr fort. ›Tom, du mußt die Witwe heiraten.‹

›Ich, mein Herr?‹ fragte Tom.

›Du‹, antwortete der alte Herr.

›Gott steh‘ Ihrem ehrwürdigen Haupte bei‹, sagte Tom – (er hatte nur noch einige Haare) – ›Gott steh‘ Ihrem ehrwürdigen Haupte bei! Sie will mich ja nicht.‹ Und Tom seufzte unwillkürlich, als er an das Schenkstübchen dachte.

›Sie will nicht?‹ fragte der alte Herr in festem Tone.

›Nein, gewiß nicht‹, antwortete Tom: ›sie hat einen andern aufs Korn genommen. – Einen großen Mann – einen verdammt großen Mann – mit einem schwarzen Backenbart.«

›Tom‹, sagte der alte Herr, ›sie wird ihn nicht nehmen.‹

›Nicht nehmen?‹ wiederholte Tom. ›Wären Sie im Schenkstübchen gewesen, alter Herr, so würden Sie anders reden.‹

›Pah! Pah!,‹ sagte der alte Herrn, ›weiß das alles.‹

›Was?‹ fragte Tom.

›Das Geküsse hinter der Tür und all das Zeug, Tom‹, antwortete der alte Herr, und nahm dabei wieder einen so frechen Blick an, daß Tom ordentlich zornig wurde: denn einen alten Knacker, der mehr Verstand haben sollte, von solchen Dingen sprechen zu hören, ist höchst widerlich – widerlicher, als alles! das ist Ihnen bekannt, meine Herren.

›Ich weiß das alles‹, sagte der alte Herr. ›Zu meiner Zeit habe ich das sehr oft gesehen, Tom, von mehr Leuten gesehen, als ich für gut finde, dir zu nennen; aber am Ende führte es doch zu nichts.‹

›Sie müssen sehr merkwürdige Dinge gesehen haben‹, bemerkte Tom mit forschendem Blick.

›Da magst du wohl recht haben, Tom‹, erwiderte der Alte mit sehr bedeutungsvollem Winke. ›Ich bin der letzte meiner Familie, Tom«, fügte er mit einem schwermütigen Seufzer hinzu.

›War sie zahlreich – Ihre Familie?« fragte Tom Smart.

›Wir waren unser zwölf, Tom‹, antwortete der alte Herr; ›hübsche, schmucke Gesellen mit festen Knochen, wie du nur einen sehen kannst. Keine von Euren neumodischen Mißgeburten, – alle mit Armen und herausgeputzt, daß einem das Herz im Leibe lachte, wenn man sie nur sah – doch ich sollte das nicht sagen.‹

›Und was wurde aus den andern, mein Herr?‹ fragte Tom Smart.

Der alte Herr führte den Ellbogen an sein Auge, als er erwiderte: ›Dahin, Tom, dahin. Wir hatten schweren Dienst, Tom, und sie waren nicht alle so stark gebaut, wie ich. Sie bekamen die Gicht in den Beinen und Armen und wanderten in Krankenhäuser und Hospitäler; einer von ihnen verlor durch den schweren Dienst und die übermäßige Anstrengung- alle seine Sinne – er wurde so elend, daß man ihn verbrennen mußte. Schauerlich das, Tom.‹

›Furchtbar!‹ bestätigte Tom Smart.

Der alte Knabe schwieg wieder einige Minuten lang, augenscheinlich mit seinen bewegten Gefühlen kämpfend, und fuhr dann fort:

›Doch ich komme von meinem Gegenstand ab, Tom. Jener große Mann, Tom, ist ein spitzbübischer Glücksritter. In demselben Augenblick, wo er die Witwe heiratete, würde er all ihr bewegliches Eigentum verkaufen und sich aus dem Staube machen. Was wäre die Folge davon? Sie wäre eine verlassene, zu Grunde gerichtete Frau, und ich würde in irgendeiner Trödlerbude an Erkältung sterben.‹

›Gut, aber –‹

›Unterbrich mich nicht‹, sagte der alte Herr. ›Von dir, Tom, habe ich eine ganz andere Meinung. Denn ich weiß, wenn du dich nur einmal in einem Wirtshause festgesetzt hättest, so würdest du es nimmer verlassen, solange es noch innerhalb seiner Wände etwas zu trinken gäbe.‹

›Ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr verbunden‹, sagte Tom Smart.

›Eben deshalb‹, erklärte der alte Herr in diktatorischem Tone, ›sollst du, und nicht er, die Witwe haben.‹

›Wie ist das zu machen?‹ fragte Tom Smart hastig.

›Durch die Entdeckung, daß er schon verheiratet ist‹, versetzte der alte Herr.

›Wie kann ich das beweisen?‹ fragte Tom, und sprang halb aus dem Bette auf.

Der alte Herr hob seinen Arm in die Höhe und deutete nach einem der beiden Schränke und brachte ihn gleich wieder in seine vorige Lage zurück.

›Er denkt wohl nicht daran‹, sagte der alte Herr, ›daß er in der rechten Tasche seiner Beinkleider, die in diesem Schrank hängen, einen Brief steckengelassen hat, worin er dringend gebeten wird, zu seinem trostlosen Weibe mit sechs – höre, Tom – sechs Kindern, und alle noch unerzogen, zurückzukehren.‹

Wahrend der alte Herr in einem feierlichen Tone also sprach, wurden seine Züge immer unbestimmter und die Umrisse seiner Gestalt schwankender. Ein Schleier fiel über Tom Smarts Augen. Der alte Mann ging nach und nach in den Stuhl über, die Damastweste verwandelte sich in ein Polster, die roten Pantoffeln wurden zu kleinen roten Tuchläppchen, die die Knäufe umzogen. Das Licht wurde langsam matter und Tom Smart fiel auf sein Kissen zurück in die Arme des Schlafes.

Den andern Morgen erwachte Tom aus dem lethargischen Schlummer, in den er nach dem Verschwinden des alten Herrn gefallen war. Er setzte sich in seinem Bette auf und mühte sich einige Minuten lang vergebens ab, sich die Vorgänge der entwichenen Nacht in die Erinnerung zurückzurufen. Plötzlich tauchten sie wieder in seinem Gedächtnis auf. Er sah auf den Stuhl: es war ein phantastisches, grämlich aussehendes Stück Hausgerät, das ließ sich nicht bezweifeln. Aber, um zwischen ihm und einem alten Manne eine Ähnlichkeit zu entdecken, dazu gehörte denn doch eine ziemlich lebhafte und erfinderische Phantasie.

›Wie steht’s, alter Knabe?‹ fragte Tom. Er war bei Tage kühner: – wie die meisten Leute.

Der Stuhl blieb regungslos und sprach kein Wort.

›Ein ekliger Morgen‹, sagte Tom. Umsonst, der Stuhl war zu keiner Unterhaltung geneigt.

›Auf welchen Schrank hast du gedeutet? – das kannst du mir doch sagen‹, meinte Tom. Aber es war zum Kuckuck kein Wort aus dem Stuhl herauszubringen, meine Herren.

›Nun, es wird nicht schwer sein, sie irgendwie zu öffnen‹, sagte Tom, entschlossen aus seinem Bette aufspringend.

Er trat an einen der Schränke. Der Schlüssel steckte, er drehte um und öffnete. Es waren wirklich ein Paar Beinkleider im Schrank. Er fuhr mit der Hand in die Tasche derselben und zog den nämlichen Brief hervor, von dem der alte Herr gesprochen hatte.

›Seltsam‹, sagte Tom Smart, zuerst den Stuhl, dann den Schrank, dann den Brief und dann wieder den Stuhl ansehend. ›Sehr seltsam‹, sagte Tom. Aber da durchaus kein Schlüssel zu diesem Geheimnis vorhanden war, so hielt er es fürs zweckmäßigste, sich sogleich anzukleiden, die Sache mit dem großen Manne ins reine zu bringen – und seiner Not dadurch ein Ende zu machen.

Auf seinem Wege betrachtete Tom die Zimmer und Gänge mit dem prüfenden Blicke eines Gastwirts, und dachte dabei an die Möglichkeit, daß sie samt ihrem Inhalt in kurzem sein Eigentum werden könnten. Der große Mann stand in dem hübschen Schenkstübchen, die Hände auf dem Rücken, ganz, als ob er da zu Hause wäre. Er gaffte Tom mit einem nichtssagenden Blick an. Ein zufälliger Beobachter würde vermutet haben, er tue es bloß, um seine weißen Zähne zu zeigen. Aber Tom Smart sah darin ein triumphierendes Gefühl, das an der Stelle saß, wo das Herz des großen Mannes gewesen wäre, wenn er eins gehabt hätte. Tom lachte ihm ins Gesicht und verlangte die Wirtin zu sprechen.

›Guten Morgen, Madame‹, sagte Tom Smart, die Tür des Schenkstübchens schließend, als die Wirtin eintrat.

›Guten Morgen, mein Herr‹, antwortete die Witwe. ›Was befehlen Sie zum Frühstück?‹

Tom dachte darüber nach, wie er die Sache einfädeln sollte, und gab keine Antwort.

›Es gibt vortrefflichen Schinken‹, fuhr die Witwe fort, ›und ein schönes gespicktes Hühnchen. Soll ich Ihnen eins bringen, mein Herr?‹

Diese Worte weckten Tom aus seinem Nachdenken. Seine Bewunderung für die Witwe nahm zu, als sie sprach. ›Die gute Seele! wie man da versorgt wäre!‹

›Wer ist der Herr im Nebenzimmer, Madame?‹ fragte Tom.

›Er nennt sich Jinkins, mein Herr‹, antwortete die Wirtin, leicht errötend.

›Ein großer Mann‹, sagte Tom.

›Ein sehr schöner Mann‹, erwiderte die Witwe, ›und ein sehr gebildeter Herr.‹

›Ach was!‹ sagte Tom.

›Haben Sie noch etwas zu befehlen, mein Herr?‹ fragte die Witwe etwas verblüfft über Toms Benehmen.

›Nun ja‹, antwortete Tom. ›Liebe Frau, wollen Sie die Güte haben, einen Augenblick Platz zu nehmen.‹

Die Witwe sah ganz verdutzt aus, setzte sich aber doch, und Tom setzte sich auch, und zwar hart an ihre Seite. Ich weiß nicht, wie es kam, meine Herren – wirklich, mein Oheim pflegte zu erzählen, daß Tom gesagt habe, er wisse es nicht, wie es gekommen sei, daß – doch dem sei, wie ihm wolle, Toms Hand senkte sich auf den Handrücken der Witwe, und blieb dort liegen, während er mit ihr sprach.

›Liebe Frau‹, sagte Tom Smart – er hielt immer viel darauf, den Liebenswürdigen zu spielen – ›Liebe Frau, Sie verdienen es, einen vortrefflichen Mann zu bekommen – ja, das verdienen Sie.‹

›Bitte, mein Herr‹, sagte die Witwe so höflich sie konnte, denn Toms Art und Weise, die Unterhaltung zu beginnen, war etwas ungewöhnlich, um nicht zu sagen abschreckend, besonders wenn man in Betracht zog, daß er sie vor dem vorhergehenden Abend noch mit keinem Auge gesehen hatte. ›Bitte, mein Herr.‹

›Ich bin ein Feind der Schmeichelei, liebe Frau‹, fuhr Tom Smart fort. ›Sie verdienen einen ausgezeichneten Mann, und wer immer es auch werden mag, er wird ein sehr glücklicher Mann sein.‹

Als Tom das sagte, wanderten seine Augen unwillkürlich von dem Gesichte der Witwe auf die wohlausgestattete Umgebung.

Die Witwe sah verblüffter aus als je und versuchte aufzustehen. Tom drückte ihr sanft die Hand, als wäre es nur, um sie zurückzuhalten, und sie blieb sitzen. Witwen, meine Herren, sind gewöhnlich nicht so scheu, wie mein Oheim zu sagen pflegte.

›Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre gute Meinung‹, sagte die muntere Wirtin halb lachend, ›und wenn ich je wieder heirate –‹

›Wenn‹, wiederholte Tom Smart mit einem schelmischen Blick aus dem rechten Winkel seines linken Auges. ›Wenn –‹

›Nun‹, sagte die Wirtin, diesmal laut lachend. › Wenn ich es tue, so hoffe ich, einen so guten Mann zu bekommen, wie Sie ihn schildern.‹

›Jinkins zum Beispiel?‹ meinte Tom.

›Was fällt Ihnen ein, Sir?‹ rief die Witwe aus.

›O, sagen Sie mir nichts‹, versetzte Tom; ›ich kenne ihn.‹

›Ich bin überzeugt, niemand, der ihn kennt, kann ihm etwas Schlechtes nachsagen‹, versetzte die Witwe, aufgebracht durch die geheimnisvolle Miene, mit der Tom gesprochen hatte.

›Hm‹, murmelte Tom Smart.

Jetzt glaubte die Witwe, gehöre es sich, zu weinen. Sie nahm ihr Taschentuch und fragte, ob Tom sie beleidigen wolle; ob er es für die Sache eines Mannes von Ehre halte, einem andern Ehrenmanne hinter seinem Rücken die Ehre abzuschneiden: warum er, wenn er etwas zu sagen hätte, es dem Manne nicht als Mann in« Gesicht sage, anstatt ein armes, schwaches Weib so zu ängstigen und dergleichen.

›Ich will es ihm deutlich genug sagen‹, erwiderte Tom, ›nur will ich, daß Sie es vorher hören.‹

›Was ist es denn?‹ fragte die Witwe, Tom aufmerksam betrachtend.

›Sie werden staunen‹, sagte Tom, seine Hand in die Tasche steckend.

›Wenn Sie damit sagen wollen, daß er geldbedürftig ist‹, äußerte die Witwe, ›so weiß ich das bereits, und Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern.‹

›Pah, Unsinn; das hätte nichts zu sagen‹, versetzte Tom Smart. ›Ich bin auch geldbedürftig. Das ist es nicht.‹

›Ach Gott, was kann es denn sein?‹ rief die arme Witwe.

›Erschrecken Sie nicht‹, sagte Tom Smart, zog langsam einen Brief aus der Tasche und entfaltete ihn. ›Werden Sie aber auch nicht schreien?‹ fragte Tom zweifelnd.

›Nein, nein‹, erwiderte die Witwe, ›geben Sie her.‹

›Werden Sie nicht in Ohnmacht fallen oder sonstige Zufälle bekommen?‹ fragte Tom.

›Nein, nein‹, erwiderte die Witwe hastig.

›Und rennen Sie nicht fort, um es ihm vorzuhalten?‹ sagte Tom. ›Ihre Einmischung ist dabei ganz unnötig, da ich die Sache auf mich zu nehmen gedenke.‹

›Alles recht, geben Sie nur her!‹ bat die Witwe.

›Hier‹, sagte Tom Smart, und gab der Witwe den Brief in die Hand.

Meine Herren, ich habe meinen Oheim sagen hören, daß Tom Smart behauptete, die Wehklagen der Witwe, in die sie bei der Enthüllung des Geheimnisses ausbrach, hätten ein Herz von Stein durchbohren können. Tom hatte gewiß ein starkes Herz, aber sie drangen bis in sein Innerstes. Die Witwe fiel bald auf diese, bald auf die andere Seite und rang die Hände.

›O Niedertracht und Schlechtigkeit eines Mannes!‹ rief die Witwe aus.

›Schrecklich, liebe Frau, aber beruhigen Sie sich‹, sagte Tom Smart.

›Ach, ich kann mich nicht beruhigen‹, schrie die Witwe. ›Ich werde nie mehr einen finden, den ich so lieben kann.‹

›O gewiß, Sie werden, mein liebes Herz‹, versicherte Tom Smart, aus Mitleid mit dem kläglichen Geschick der Witwe einen Strom dicker Tränen vergießend.

Im Eifer seines Bedauerns hatte Tom Smart seinen Arm um den Leib der Witwe geschlungen, und die Witwe hatte im Übermaße des Schmerzes Toms Hand ergriffen. Sie sah Tom ins Gesicht und lächelte mitten in ihren Tränen, und Tom sah der Witwe in ihr Gesicht und lächelte mitten in seinen Tränen.

Ich konnte nie erfahren, meine Herren, ob Tom in diesem entscheidenden Augenblick die Witwe küßte oder nicht. Meinem Oheim pflegte er zu sagen, er habe es nicht getan, aber das bezweifle ich fast. Unter uns gesagt, meine Herren, ich glaube, er tat es.

Jedenfalls ist soviel gewiß, daß eine halbe Stunde darauf Tom den sehr großen Mann aus dem Hause warf und einen Monat später die Witwe heiratete. Lange fuhr er noch auf seinem tonfarbenen Wagen mit den roten Rädern und mit der launischen Mähre im Lande herum, bis er endlich nach vielen Jahren sein Geschäft aufgab und mit seinem Weib nach Frankreich ging, worauf das alte Haus niedergerissen wurde.«

 

»Wollen Sie mir eine Frage erlauben«, sagte der fragelustige alte Herr: »was wurde denn aus dem Stuhl?«

»Nun«, versetzte der einäugige Krämer, »man hörte ihn am Tage der Hochzeit sehr stark krachen; aber Tom Smart konnte nicht bestimmt sagen, ob aus Vergnügen oder aus Gebrechlichkeit. Er neigte jedoch mehr zur letzteren Ansicht, denn der Stuhl sprach nachher nie wieder.«

»Jedermann glaubte die Geschichte, nicht wahr?« fragte das Negergesicht, seine Pfeife wieder füllend.

»Mit Ausnahme der Feinde Toms«, antwortete der Krämer. »Einige von ihnen sagten, Tom habe sie rein erfunden, und andere sind der Ansicht, er sei betrunken gewesen, habe sie geträumt, und den Fund durch Verwechslung der Beinkleider vor dem Schlafengehen getan. Aber niemand hörte darauf, was diese neidischen Seelen sagten.«

»Tom Smart sagte, es sei alles wahr?«

»Wort für Wort.«

»Und Ihr Oheim?«

»Buchstäblich.«

»Beide müssen sonderbare Männer gewesen sein«, sagte das Negergesicht.

»Ja, das waren sie auch – in der Tat!«

 

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

Deutlicher Beweis für die Behauptung, daß die Bahn treuer Liebe keine Eisenbahn ist.

Die stille Abgeschiedenheit von Dingley Dell, die Anwesenheit so vieler Zierden des schönen Geschlechts, die sorgsame Pflege und Aufmerksamkeit, die sie an den Tag legten, war der Steigerung jener sanfteren Gefühle außerordentlich günstig, die die Natur tief in Herrn Tracy Tupmans Brust gesenkt hatte. Diese Gefühle schienen jetzt bestimmt, sich auf einen liebenswürdigen Gegenstand zu konzentrieren. Die jungen Damen waren hübsch, ihr Äußeres einnehmend, ihr Betragen tadellos. Aber in den Augen von Jungfer Tante lag eine Majestät, in ihrer Miene eine Würde, in ihrem Gang ein gewisses Noli me tangere, worauf jene bei ihrer Jugend keinen Anspruch machen konnten. Darin tat die Tante es jedem Frauenzimmer zuvor, das Tupman je gesehen hatte. Daß in dem Wesen beider etwas Verwandtes, in ihrem Gemüte etwas Übereinstimmendes, in ihrer Brust eine gewisse geheimnisvolle Sympathie lag, war klar.

Ihr Name war der erste Laut, der über Herrn Tupmans Lippen trat, als er blutend im Grase lag, und ihr krampfhaftes Lachen war der erste Ton, der zu seinen Ohren drang, als er nach Hause gebracht wurde.

Aber hatte ihre Aufregung den Grund in einer liebenswürdigen weiblichen Empfindsamkeit überhaupt, die bei jeder ähnlichen Gelegenheit zum Vorschein gekommen wäre? Oder war sie durch ein tieferes, zärtlicheres Gefühl hervorgerufen worden, das nur er allein unter allen Männern erwecken konnte? Das waren Zweifel, die sein Gehirn marterten, als er hilflos auf dem Sofa lag – Zweifel, die er auf einmal und für immer zu lösen beschloß.

Es war Abend. Isabella und Emilie hatten mit Herrn Trundle einen Spaziergang gemacht. Die taube alte Frau war in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen: das Schnarchen des fetten Jungen drang dumpf und eintönig aus der entfernten Küche herüber. Die sorglosen Mägde lehnten am Hoftor und genossen die Süßigkeit des Feierabends, indem sie mit gewissen unbeholfenen Tieren spielten, die zum Haushalte gehörten. Da saß denn das interessante Pärchen, von niemand beachtet und auf nichts achtend, nur von sich selbst träumend: da saßen sie wie ein Paar sorgfältig zusammengelegte Handschuhe – ineinandergeschlungen.

»Ich habe meine Blumen vergessen«, bemerkte Jungfer Tante.

»So begießen wir sie«, sprach Herr Tupman mit schmeichelndem Tone.

»Sie würden sich in der Abendluft erkälten«, sagte Jungfer Tante zärtlich.

»Nein, nein«, erwiderte Herr Tupman aufstehend. »Es macht mir gar nichts. Ich will Sie begleiten.«

Die Dame legte schweigend die Schlinge zurecht, in der der linke Arm des junaen Mannes lag, ergriff seinen rechten und führte ihn in den Garten.

Am oberen Ende desselben war eine Laube von Geisblatt, Jasmin und Schlingpflanzen – einer von jenen Ruheplätzen, die empfindsame Seelen zur Bequemlichkeit der Spinnen errichten.

Jungfer Tante ergriff eine große Gießkanne, die in einem Winkel stand und war im Begriff, die Laube zu verlassen. Herr Tupman hielt sie zurück und zog sie auf einen Sitz neben sich nieder.

»Fräulein Wardle«, sagte er.

Jungfer Tante zitterte, daß einige Steinchen, die zufälligerweise den Weg in die Gießkanne gefunden hatten, klirrten wie eine Kinderklapper.

»Fräulein Wardle,« sagte Herr Tupman, »Sie sind ein Engel.«

»Herr Tupman«, rief Rachel aus, so rot wie die Gießkanne selbst.

»Wahrlich,« sagte der beredte Pickwickier, »ich fühle es nur zu sehr.«

»Alle Frauenzimmer sind Engel, wenn man die Männer so hört«, flüsterte die Dame in scherzhaftem Tone.

»Was wären Sie sonst, oder womit könnte ich Sie ohne Vermessenheit vergleichen?« versetzte Herr Tupman. »Wo sah man je ein Frauenzimmer, das Ihnen glich? Wo könnte ich sonst eine so seltene Vereinigung von geistigen Vorzügen und körperlicher Schönheit finden? Wo könnte ich sonst – – – O!«

Hier schwieg Herr Tupman und drückte die Hand, die auf dem Handgriff der glücklichen Gießkanne ruhte.

Die Dame wandte ihren Kopf auf die Seite und flüsterte sanft:

»Die Männer sind voll Lug und Trug.«

»Ja, sie sind es, sie sind es«, versicherte Herr Tupman; »aber nicht alle. Hier lebt wenigstens einer, der keinen Wankelmut kennt – einer, der sein ganzes Dasein Ihrem Glück opfern könnte – der nur in Ihren Blicken lebt – der nur in Ihrem Lächeln atmet – der die schwere Bürde des Lebens einzig und allein um Ihretwillen trägt.«

»Könnte man einen solchen Mann finden?« fragte die Dame.

»Nur könnte finden?« erwiderte der glühende Tupman. »Er ist gefunden. Er ist hier, Fräulein Wardle.«

Und ehe die Dame seine Absicht ahnte, lag er schon zu ihren Füßen auf den Knien. ,

»Stehen Sie auf, Herr Tupman«, sagte Rachel.

»Nimmermehr«, war die entschlossene Antwort. »O Rachel! sagen Sie, daß Sie mich lieben.«

»Herr Tupman,« bemerkte Jungfer Tante mit abgewandtem Gesicht – »ich kann kaum Worte finden: doch – doch – Sie sind mir nicht ganz gleichgültig.«

Herr Tupman hörte nicht so bald dieses Geständnis, als er sich ganz dem Drange seiner Begeisterung hingab und tat, was, soviel wir wissen (denn wir haben in diesem Punkte nicht viel Erfahrung), unter solchen Umständen jedermann tut. Er sprang auf, schlang seinen Arm um den Nacken der Jungfer Tante und preßte eine Menge Küsse auf ihre Lippen, die sie nach pflichtschuldigem Zieren und Sträuben so geduldig hinnahm, daß wir nicht angeben können, wie viele ihr Herr Tupman noch aufgedrückt haben würde, wäre die Dame nicht plötzlich erschreckt worden und voller Angst in die Worte ausgebrochen –

»Herr Tupman, wir werden beobachtet! Wir sind entdeckt!«

Herr Tupman sah sich um und gewahrte die tellergroßen Augen des fetten Jungen. Der Junge hatte dabei nicht im mindesten einen Gesichtszug, den auch nur ein noch so erfahrener Physiognomiker dem Erstaunen, der Neugierde oder irgendeiner bekannten Leidenschaft, die sonst die Brust der Vlcnschen bewegt, hatte zuschreiben können. Er glotzte völlig regungslos in die Laube. Herr Tupman betrachtete den fetten Jungen, und der fette Junge betrachtete Herrn Tupman, und je länger Herr Tupman dessen völlig ausdrucksloses Gesicht ansah, desto mehr überzeugte er sich, daß er entweder nicht wußte oder nicht verstand, was vorgegangen war. In dieser Voraussetzung fragte er mit festem Tone:

»Was suchst du hier?«

»Das Essen ist auf dem Tisch«, war die rasche Antwort.

»Bist du eben erst gekommen?« fragte Herr Tupman mit einem durchdringenden Blick.

»Soeben«, erwiderte der fette Junge.

Herr Tupmam sah ihn wieder scharf an, aber der Junge verzog keine Miene.

Herr Tupman nahm den Arm der Jungfer Tante und ging dem Hause zu; der fette Junge folgte.

»Er weiß nicht, was vorgefallen ist«, flüsterte er.

»Nichts?« fragte Jungfer Tante.

Sie hörten einen Ton hinter sich, wie von einem halbunterdrückten Lachen. Herr Tupman sah sich forschend um. Nein; der fette Junge konnte es nicht gewesen sein. In seinem ganzen Gesichte war keine Spur von Freude, und überhaupt kein anderer Ausdruck als der der Eßlust zu finden.

 

»Er muß geschlafen haben«, flüsterte Herr Tupman.

»Ich zweifle nicht im geringsten daran«, versetzte Jungfer Tante.

Beide lachten herzlich.

Aber Herr Tupman irrte sich. Der fette Junge hatte zum ersten Male nicht geschlafen. Er hatte gewacht – völlig gewacht und alles mit angesehen.

Das Abendessen ging vorüber, ohne daß jemand eine allgemeine Unterhaltung anzuknüpfen gesucht hätte. Die alte Frau ging zu Bett; Isabelle Wardle widmete ihre Aufmerksamkeit ausschließlich Herrn Trundle; Jungfer Tante hatte für niemand Augen, als für Herrn Tupman, und Emiliens Gedanken schienen in der Ferne zu verweilen – vielleicht bei dem abwesenden Snodgraß.

Elf Uhr – zwölf Uhr – ein Uhr hatte es geschlagen, und die Herren waren noch nicht zurück. Bestürzung und Unruhe war auf jedem Gesicht zu lesen. Sollten Sie vielleicht überfallen und ausgeplündert worden sein? Sollte man Leute mit Laternen aussenden und sie auf allen Wegen suchen lassen, die sie möglicherweise eingeschlagen haben konnten? Oder sollte man – – Horch! Sie sind’s. Was konnte sie solange aufhalten? Auch eine fremde Stimme! Wem konnte sie angehören? Sie eilten in die Küche, um nach den Ankömmlingen zu sehen, und überzeugten sich alsbald von dem wahren Stand der Dinge.

Herr Pickwick lehnte, die Hände in den Taschen und den Hut über das linke Auge gedrückt am Anrichttische, wackelte mit dem Kopf und griente unaufhörlich, ohne daß man irgendeinen Grund davon entdecken konnte. Der alte Herr Wardle hielt einen fremden Herrn bei der Hand, dem er mit flammendem Gesichte etwas von ewiger Freundschaft vorlallte. Herr Winkle hielt sich an der Wanduhr und rief mit matter Stimme auf jedes Mitglied der Familie, das heute Nacht vom Bettgehen sprechen würde, Feuer und Schwefel vom Himmel herab. Herr Snodgraß aber war auf einen Stuhl gesunken, mit dem Ausdruck des fürchterlichsten und hoffnungslosesten Elends, das sich die Phantasie eines Menschen vorstellen kann, in jedem Zuge seines verstörten Gesichts.

»Ist etwas vorgefallen?« fragten die drei Damen.

»Nichts ist vorgefallen«, versetzte Herr Pickwick. »Wir, hup – wir sind, hup – alles in Ordnung. – Ich sage, Wardle, es ist alles in Ordnung, nicht wahr?«

»Das will ich meinen«, sagte der lustige Hauswirt. »Meine Lieben, hier ist mein Freund, Herr Jingle – Herrn Pickwicks Freund, Herr Jingle ist gekommen – macht uns einen kleinen Besuch.«

»Ist Herrn Snodgraß etwas zugestoßen« fragte Emilie ängstlich.

»Nicht das mindeste, mein Fräulein«, erwiderte der Fremde. »Kricketschmaus – herrliche Gesellschaft – Kapitalsänger – alter Portwein – Rotwein – gut – sehr guter – Wein, mein Fräulein – Wein.«

»Es lag nicht am Weine«, lallte Herr Snodgraß mit gebrochener Stimme. »Der Lachs war schuld.« (Die Schuld liegt bei solchen Gelegenheiten nie am Wein, sondern immer an etwas anderem.)

»Wäre es nicht besser, Sie gingen zu Bett?« fragte Emilie. »Zwei von den Knechten können die Herren hinaufführen.«

»Ich gehe nicht zu Bett«, sagte Herr Winkle bestimmt.

»Kein Mensch auf der Welt soll mich führen«, erwiderte Herr Pickwick kühn, worauf er wieder ebenso gutmütig, wie zuvor, griente.

»Hurra!« rief Herr Winkle.

»Hurra!« wiederholte Herr Pickwick, seinen Hut abnehmend und auf den Boden schleudernd, worauf er seine Brille mit gleicher Wuppdizität mitten in die Küche warf. – Dann lachte er über dieses Vergnügen laut auf.

»Lassen Sie – uns, hup – noch – eine, hup – Flasche trinken«, äußerte Herr Winkle anfangs mit lauter, später mit immer schwächerer Stimme.

Sein Kopf sank auf die Brust. Er lallte noch etwas von seinem unabänderlichen Entschluß, nicht zu Bette zu gehen, und von blutiger Reue, den alten Tupman diesen Morgen nicht vollends »abgedeckt« zu haben, worauf er in einen festen Schlaf fiel. Von zwei jungen Burschen unter der persönlichen Oberaufsicht des fetten Jungen wurde er zu Bett gebracht. Bald darauf vertraute Herr Snodgraß seinen Leichnam der Sorge denselben Herrschaften an. Herr Pickwick nahm den dargebotenen Arm Herrn Tupmans und verschwand ganz in der Stille, stets mit demselben Lächeln auf den Lippen. Herr Wardle aber gab Herrn Trundle die Ehre, ihn die Treppe hinauf zu geleiten, und entfernte sich mit dem völlig vergeblichen Versuch, eine feierliche und würdevolle Miene anzunehmen, nachdem er zuvor von der ganzen Familie einen so zärtlichen Abschied genommen hatte, als ginge er jetzt unmittelbar dem Schafott entgegen.

»Was für ein fataler Auftritt!« sagte Jungfer Tante.

»Abscheulich!« stimmten die beiden jungen Damen bei.

»Schrecklich – schrecklich!« sagte Jingle mit ernster Miene. Er hatte aber auch anderthalb Flaschen mehr zu sich genommen, als irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft. »Ein peinlicher Anblick – gewiß.«

»Ein artiger Mann!« flüsterte die Jungfer Tante Herrn Tupman zu.

»Sieht auch nicht übel aus!« flüsterte Emilie Wardle.

»O sicher«, bemerkte die Jungfer Tante.

Herr Tupman dachte an die Witwe zu Rochester, und sein Herz ward unruhig. Die halbstündige Unterhaltung, die jetzt folgte, war nicht geeignet, die Stimme seiner Besorgnis zu beschwichtigen. Der neue Ankömmling war sehr gesprächig, und die Menge seiner Anekdoten wurde nur durch die Überbietung an Höflichkeit übertroffen. Herr Tupman fühlte, daß er in dem gleichen Maße, in dem Jingles Popularität stieg, in den Schatten zurücktrat. Sein Lachen war gezwungen – seine Lustigkeit erheuchelt, und als er endlich seine schmerzenden Schläfe zwischen die Bettlaken steckte, wünschte er sich mit furchtbarer Lust, Jingles Kopf in diesem Augenblicke zwischen der Decke und der Matratze unter seinen Händen zu haben.

Der unverwüstliche Fremde stand des andern Tages zeitig auf und gab sich alle Mühen, während seine Gefährten die Folgen ihrer Schlemmerei noch im Bette verdämmerten, die Heiterkeit des Frühstücks durch seine Unterhaltung zu erhöhen. Es gelang ihm auch so vollkommen, daß sogar die taube alte Frau sich einige seiner besten Scherze durch ihr Hörrohr wiederholen ließ und gar herablassend gegen die Jungfer Tante bemerkte, er (Jingle) sei ein ausgelassener junger Mensch – eine Ansicht, der ihre Tochter und ihre Enkelinnen durchaus beistimmten.

Es war die Gewohnheit der alten Dame, sich an jedem schönen Sommermorgen in die Laube zu begeben, die dem Leser bereits durch Herrn Tupmans zärtliches Abenteuer bekannt ist. Zu diesem Ende mußte der fette Junge von einem Kleiderrechen hinter der Schlafzimmertür der alten Frau einen dicht anschließenden schwarzen Atlashut, einen warmen baumwollenen Schal und einen starken Stock mit einem großen Handgriff holen, und nachdem sie sich so behaglich eingehüllt und die eine Hand auf den Stock, die andere auf die Schulter des fetten Jungen gestützt hatte, begann sie mit Muße ihren Spaziergang nach der Laube, wo sie der fette Diener für eine halbe Stunde den Annehmlichkeiten, die mit dem Genusse frischer Luft verbunden sind, überließ. Nach Ablauf dieser Frist kam er sodann wieder, um die Mutter seines Gebieters ins Haus zurückzuführen.

Die alte Dame ging in diesen Dingen nicht von ihrer gewohnten Weise ab, und da diese Zeremonie schon drei Sommer hintereinander ohne ein Abweichen von der Regel geübt worden, so war sie nicht wenig überrascht, als sie bemerkte, daß der fette Junge, statt wieder fortzugehen, nur einige Schritte von der Laube wegtrat, sich sorgfältig nach allen Richtungen umsah, und dann ganz verstohlen und mit ungemein geheimnisvoller Miene wieder umkehrte.

Die alte Dame war furchtsam – wie es die meisten alten Damen sind – und so kam sie gleich auf den Gedanken, der gedunsene Junge führe einen Mordanschlag gegen sie im Schild, um sich in den Besitz des Kleingeldes, das sie bei sich trug, zu setzen. Sie würde daher um Hilfe gerufen haben, wenn ihre körperliche Gebrechlichkeit ihr nicht schon längst die Kraft des Schweigens benommen hätte. Deshalb mußte sie sich begnügen, Joes Bewegungen mit den Gefühlen unaussprechlicher Todesangst zu beobachten, die sich keineswegs milderte, als der Junge ganz dicht an sie herankam und mit einem – wie es ihr schien – drohenden Tone ins Ohr schrie:

»Madame!«

Nun fügte sich’s gerade, daß in demselben Augenblick Herr Jingle in dem Garten spazierenging und sich zur Zeit in der unmittelbaren Nähe der Laube befand. Er hörte den lauten Ruf und blieb stehen, wozu er durch dreierlei Gründe veranlaßt wurde – einmal, weil er nichts anderes zu tun hatte, dann weil seine Neugier kein Bedenken kannte, und endlich, weil seine Person durch Gestrüpp verborgen war. Wie gesagt – er machte halt und horchte.

»Madame!« schrie der fette Junge.

»Ach, Joe,« sagte die zitternde alte Dame, »ich bin dir gewiß stets eine gütige Gebieterin gewesen und habe dich stets aufs freundlichste behandelt. Du hast nie viel arbeiten müssen und doch immer genug zu essen gehabt.«

Das war eine Berufung auf Joes empfindsamste Gemütsseite. Er schien gerührt und entgegnete mit Nachdruck:

»Ich verkenne das nicht.«

»Was kannst du aber weiter von mir wollen?« versetzte die alte Dame etwas ermutigt.

»Es wird Sie kalt überlaufen, wenn ich’s Ihnen sage«, erwiderte Joe.

Das klang wie ein ziemlich blutdürstiger Dankeserguß, und da die alte Dame die Art, wie ein solches Phänomen herbeigeführt werden könnte, nicht ganz begriff, so kehrten alle ihre Schrecken wieder.

»Was meinen Sie wohl, was ich gestern hier in dieser Laube gesehen habe?« sagte der Junge.

»Barmherziger Himmel! Was!« rief die alte Dame, beunruhigt durch die Wichtigtuerei in dem Benehmen des wohlbeleibten Burschen.

»Der fremde Herr – der mit dem zerschossenen Arm – hat geküßt und umarmt – –«

»Wen, Joe – wen? Ich hoffe doch nicht eine der Mägde?«

»Schlimmer als das!« brüllte der Junge in das Ohr der alten Dame.

»Wie, gar eine meiner Enkelinnen?«

»Noch schlimmer!«

»Noch schlimmer, Joe?« versetzte die alte Dame, die schon ein solches Unterfangen für das Non plus ultra männlicher Verwegenheit betrachtete. »Wer ist’s gewesen, Joe? Ich will es durchaus wissen.«

»Fräulein Rachel.«

»Was?« schrie die Dame in schrillem Tone. »Sprich lauter.«

»Fräulein Rachel«, schrie der fette Junge.

»Meine Tochter?«

Der fette Junge bejahte die Frage mit öfters wiederholtem Kopfnicken, wobei seine gedunsenen Backen wie Gallerte schwabbelten.

»Und sie ließ sich’s gefallen?« rief die alte Dame.

Ein Grinsen stahl sich über die Züge des dicken Burschen, als er erwiderte:

»Ich sah es, wie sie ihn wieder küßte.«

Hätte Herr Jingle in diesem Augenblick den Ausdruck, den das Gesicht der alten Dame bei dieser Mitteilung annahm, wahrnehmen können, so wäre er höchstwahrscheinlich in ein Gelächter ausgebrochen, das seine Anwesenheit notwendig verraten haben würde. So aber lauschte er aufmerksam weiter und vernahm einige abgebrochene Sätze, als da waren: – »ohne meine Zustimmung!« – »noch zu meinen Lebzeiten« – »ich arme, unglückliche Frau« – »hätte sie nicht warten können, bis ich tot bin« – und dergleichen, worauf er die Stiefelsohlen des fetten Jungen, der sich jetzt entfernte und die alte Dame allein ließ, im Sand knirschen hörte.

Es war ein merkwürdiger Zufall, aber dessenungeachtet eine Tatsache, daß Herr Jingle schon in den ersten fünf Minuten seiner Ankunft zu Manor Farm den Entschluß gefaßt hatte, das Herz der Jungfer Tante ohne Verzug in Belagerungszustand zu versetzen. Er besaß Menschenkenntnis genug, um zu merken, daß sein dreistes Benehmen dem schönen Gegenstand seiner Wünsche keineswegs mißfiel. Er hegte die lebhafte Vermutung, daß sie auch in dem Besitze des wünschenswertesten aller Erfordernisse – nämlich eines unabhängigen Vermögens, sei. Die gebieterische Notwendigkeit, seinen Nebenbuhler auf eine oder die andere Weise auszustechen, tauchte rasch in seiner Seele auf, und er entschloß sich, ohne Verzug die zweckdienlichen Hebel in Bewegung zu setzen. Fielding Henry Fielding, berühmter englischer Romandichter, der von 1707 bis 1754 lebte; Hauptwerk: »Tom Jones, oder die Geschichte eines Findlings«. sagt, der Mann sei Feuer und das Weib Stroh, die der Fürst der Finsternis miteinander in Berührung bringe, um eine helle Lohe zu veranlassen. Herr Jingle wußte, daß junge Männer bei alten Jungfern sind, was die Lunte für das Schießpulver, und so nahm er sich vor, die Wirkung einer Explosion ohne Zeitverlust zu versuchen.

Über diesen wichtigen Entwurf brütend, schlich er sich aus seinem Schlupfwinkel und näherte sich unter dem Schutze des vorerwähnten Gesträuchs dem Hause. Das Glück schien seine Absicht zu begünstigen: denn eben verließ Herr Tupman mit den übrigen Herren den Garten durch eine Seitentür, und die jüngeren Damen hatten, wie er wohl wußte, gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang angetreten. Das Feld war also gesäubert.

Die Tür des Speisezimmers war halb offen. Er blickte hinein. Die Jungfer Tante saß mit ihrem Strickstrumpf drinnen. Er hustete – sie sah auf und lächelte. Zögern gehörte nicht zu Herrn Jingles Charakter. Er legte die Finger geheimnisvoll an seine Lippen, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.

»Fräulein Wardle –« sagte Herr Jingle mit erkünsteltem Ernst – »entschuldigen meine Zudringlichkeit – kurze Bekanntschaft – keine Zeit zu Zeremonien – alles entdeckt!«

»Sir!« entgegnete Jungfer Tante etwas überrascht über diese unerwartete Annäherung, und zweifelhaft, ob der Mann wohl auch bei Trost sei.

»Pst!« sagte Herr Jingle mit theatralischem Flüstern – »großer Junge – Knödelgcsicht – Pflugräderaugen – Spitzbube!«

Hier schüttelte er nachdrücklich den Kopf, während Jungfer Tante in innerer Beklemmung erzitterte.

»Es scheint, Sie spielen auf Joe an, Sir?« versetzte die Dame, indem sie sich zusammennahm, um gefaßt zu erscheinen.

»Ja, Fräulein – verdammter Joe! – Verräterischer Schlingel, Joe – schwatzte bei der alten Dame – alte Dame wütend – rast – tobt – Laube – Tupman – Küssen und Umarmen – derartiges – tja, Fräulein – wie?«

»Herr Jingle«, sagte die alte Jungfer, »wenn Sie hierher kommen, um mich zu beleidigen – – «

»Nicht doch – nicht im geringsten«, versetzte der nicht zu verblüffende Jingle. – »Hörte die Geschichte – kam her. Sie vor der Gefahr zu warnen – Dienste anzubieten – Skandal zu vermeiden. Nicht zu denken an Beleidigung – will augenblicklich wieder gehen«.

Und er wandte sich um, als wollte er seine Drohung in Vollzug setzen.

»Aber was soll ich tun?« sagte die arme Jungfer in Tränen ausbrechend. »Mein Bruder wird rasen!«

»Läßt sich denken«, entgegnete Herr Jingle nach einer Pause – »wird wütend sein.«

»Ach, Herr Jingle, was kann ich sagen?« rief die Jungfer Tante in einem weiteren trostlosen Tränenstrom.

»Sagen? – Er hat geträumt«, versetzte Herr Jingle kaltblütig.

Ein Strahl der Hoffnung dämmerte in der Seele der armen Jungfer auf, als sie diesen Rat hörte. Herr Jingle nahm es in acht und verfolgte seinen Vorteil.

»Pah, pah! – Nichts leichter – verwünschter Blaustrumpf – liebenswürdige Dame – fetter Junge mit der Hundspeitsche traktiert – Ihnen geglaubt – alles vorbei – alles gut«.

Ob die Wahrscheinlichkeit eines Herauswindens aus dieser unzeitigen Entdeckung den Gefühlen der guten Jungfer so vergnüglich vorkam, oder ob das Prädikat »liebenswürdige Dame«, das ihr beigelegt wurde, das Bittere ihres Kummers milderte – wir wissen es nicht. Sie errötete und warf einen dankbaren Blick auf Herrn Jingle.

Der gewandte Gentleman seufzte tief auf, heftete ein paar Minuten seine Augen auf die Jungfer, sank dann ganz theatralisch zusammen und schlug die Blicke nieder.

»Sie scheinen unglücklich zu sein, Herr Jingle«, sagte die Dame mit teilnehmender Stimme. »Darf ich Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre gütige Vermittlung dadurch bezeugen, daß ich Sie nach dem Grunde Ihres Leidens frage, um ihn womöglich beseitigen zu können?«

»Ach!« rief Herr Jingle mit abermaliger Komödiengeberde – »beseitigen? – Mein Unglück beseitigen, wo Ihre Liebe einem Mann zugewandt ist, der einen solchen Segen gar nicht zu schätzen weiß? – einem Manne, der sich eben jetzt mit Absichten auf die Neigung der Nichte desselben Wesens trägt, das – doch nein, er ist mein Freund, und so will ich seine Mängel nicht enthüllen. Fräulein Wardle – leben Sie wohl!«

Bei dem Schlusse dieser Anrede, der zusammenhängendsten, die man je aus seinem Munde vernommen hatte, brachte Herr Jingle den mehrmals erwähnten Rest eines Schnupftuchs an die Augen und wandte sich gegen die Tür.

»Bleiben Sie, Herr Jingle!« rief die Jungfer Tante mit Nachdruck. »Sie haben eine Anspielung auf Herrn Tupman gemacht – erklären Sie sich näher.«

»Nie!« rief Jingle in dem Tone seines Gewerbes. »Nie!«

Und um zu zeigen, daß er nicht weiter gefragt zu werden wünschte, rückte er einen Stuhl dicht an die Seite der Jungfer Tante und setzte sich nieder.

»Herr Jingle,« sagte die Tante, »ich bitte, ich beschwöre Sie, wenn irgendein schreckliches Geheimnis mit Herrn Tupman in Verbindung steht, so lüften Sie den Schleier.«

»Kann ich,« versetzte Herr Jingle, die Augen auf Fräulein Wardles Antlitz heftend – »kann ich mit ansehen – ein so liebliches Wesen – geopfert auf dem Altare herzloser Habsucht?« Er schien einige Augenblicke mit verschiedenen widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen, und fuhr dann mit leiser, gedämpfter Stimme fort: »Tupman hat nichts als Ihr Geld im Auge.«

»Der Elende!« rief die Jungfer voller Entrüstung.

Herrn Jingles Zweifel waren gelöst: sie hatte Geld.

»Und was noch mehr ist,« fuhr Herr Jingle fort, »er liebt eine andere.«

»Eine andere?« entgegnete Fräulein Wardle. »Und wer wäre diese?«

»Kleines Mädchen – schwarze Augen – Nichte Emilie.«

Eine Pause.

Auf der ganzen Welt gab es niemand, gegen den Jungfer Tante eine tödlichere und tiefer gewurzelte Eifersucht nährte, als gerade diese Nichte. Ein Glutstrom schoß ihr über Gesicht und Nacken, sie wiegte den Kopf mit der Miene unaussprechlicher Verachtung hin und her. Endlich biß sie sich in die dünnen Lippen, warf sich in die Brust und begann:

»Es kann nicht sein. Ich mag es nicht glauben.«

»Sie beobachten«, meinte Jingle.

»Das will ich«, versetzte die Tante.

»Auf ihre Blicke acht haben –«

»Soll geschehen.«

»Sein Flüstern.«

»Ja.«

»Wird am Tisch neben ihr sitzen –«

»Das mag er.«

»Ihr Artigkeiten sagen –«

»Sei’s drum,«

»Ihr alle erdenkliche Aufmerksamkeit erweisen –«

»Meinetwegen.«

»Mit Ihnen brechen.«

»Mit mir brechen?«, rief die Jungfer Tante. »Er mit mir brechen? Gut! Recht so!«

Und sie zitterte in der Wut getäuschter Hoffnung.

»Wollen Sie sich überzeugen?« fragte Jingle.

»Ich will.«

»Ihm entschlossen entgegentreten?«

»Ja.«

»Nachher nicht wieder mit ihm anbinden?«

»Auf keinen Fall.«

»Die Bewerbungen eines andern annehmen?«

»Ja.«

»So tun Sie es.«

Herr Jingle fiel auf seine Knie nieder, verharrte fünf Minuten in dieser Stellung, und erhob sich wieder als der begünstigte Liebhaber der Jungfer Tante – für den Fall, daß sich Herrn Tupmans Treulosigkeit herausstellen sollte.

Die Schuldigkeit des Beweises haftete auf Herrn Alfred Jingle, und er entledigte sich ihrer noch am nämlichen Tage beim Diner. Jungfer Tante mochte kaum ihren Augen trauen. Herr Tracy Tupman saß an Emiliens Seite und liebäugelte, flüsterte und lächelte mit Herrn Snodgraß in die Wette. Kein Wort – nicht einen Blick hatte er für sie, die tags zuvor noch der Stolz seines Herzens war.

»Verwünschter Bube!« dachte der alte Herr Wardle, dem seine Mutter Joes Erzählung mitgeteilt hatte. »Verwünschter Bube! Er muß geschlafen und geträumt haben. Eitel Einbildung!«

»Der Verräter!« dachte die alte Jungfer ihrerseits. »Der gute Herr Jingle hat mich nicht hintergangen. O, wie hasse ich den Bösewicht!« –

Die folgende Unterhaltung aber wird dazu dienen, unsern Lesern die scheinbar unerklärliche Veränderung in Herrn Tracy Tupmans Benehmen zu enträtseln.

Es war Abend – Schauplatz der Garten. Auf einem Nebenwege ergingen sich zwei Gestalten – die eine ziemlich klein und beleibt, die andere hoch und hager. Sie waren Herr Tupman und Herr Jingle. Die kleinere begann das Gespräch.

»Nun, wie habe ich meine Rolle gespielt?«

»Vortrefflich – fabelhaft – hätt’s selbst nicht besser machen können – Sie müssen in dieser Weise fortfahren – morgen – jeden Abend – bis auf ein weiteres Zeichen.«

»Wünscht es Rachel noch immer?«

»Natürlich – tut’s freilich nicht gern – aber muß sein – Verdacht abwenden – fürchtet ihren Bruder – sagt, es lasse sich nicht ändern – nur noch einige Tage – bis die alten Leute verblendet sind – Ihrem Glücke dann die Krone aufsetzen.«

»Läßt sie mir sonst nichts sagen?«

»Versichert Liebe, – treue – unverbrüchliche Liebe. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Mein lieber Freund«, versetzte der nichts ahnende Tupman, glühend die Hand des vermeintlichen Freundes ergreifend, »versichern auch Sie Fräulein Rachel gleichfalls meiner wärmsten Liebe – sagen Sie ihr, wie schwer mir diese Verstellung wird – sagen Sie ihr alles, was sich in einem solchen Falle sagen läßt: aber fügen Sie auch bei, wie sehr ich die Notwendigkeit des Benehmens fühle, das sie mir diesen Morgen durch Sie anempfehlen ließ. Sagen Sie ihr, daß ich ihre Weisheit verehre und ihre kluge Vorsicht bewundere.«

»Soll geschehen. Weiter nichts?«

»Nein; nur noch das, daß ich mich glühend nach dem Augenblick sehne, »wo ich sie die Meinige nennen und jede Maske ablegen kann.«

»Wird besorgt – wird besorgt. Noch etwas auf dem Herzen?«

»Ach, mein Freund,« sagte der arme Tupman, abermals die Hand seines Gefährten ergreifend, »empfangen Sie meinen wärmsten Dank für ihre uneigennützige Güte, und vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen je, auch nur mit dem Gedanken, Sie könnten mir im Wege stehen, unrecht getan habe. Mein teurer Freund, kann ich Ihnen je Ihren Dienst vergelten?«

»Reden Sie nicht davon«, versetzte Herr Jingle.

Er hielt sogleich inne, als ob er sich plötzlich auf etwas besinne, und sagte: »Übrigens, können Sie nicht zehn Pfund entbehren? – Im Augenblick zu besonderen Zwecken benötigt – zahle wieder in drei Tagen.«

»Aber mit Vergnügen«, versetzte Herr Tupman in der Überfülle seines Herzens. »Drei Tage sagen Sie?«

»Nur drei Tage – alles vorüber dann – keine weiteren Schwierigkeiten.«

Herr Tupman zählte das Geld auf die Hand seines Gefährten, und dieser ließ, während sie zurückgingen, Stück für Stück in seine Tasche gleiten.

»Vorsichtig«, sagte Herr Jingle – » ja keinen Blick.«

»Keine Silbe.«

»Nicht die leiseste.«

»Alle Ihre Aufmerksamkeit auf die Nichte – eher etwas unartig gegen die Tante – der einzige Weg, die Alten hinters Licht zu führen.«

»Soll alles pünktlich geschehen«, sagte Herr Tupman laut.

»Ja, ja, tu es nur pünktlich!« dachte Herr Jingle; und sie traten ins Haus.

Die Szene des Nachmittags wurde am Abend wiederholt, und ein gleiches geschah an den drei nächstfolgenden Nachmittagen und Abenden. Am vierten war der Wirt ungemein aufgeräumt, denn er hatte sich von der Haltlosigkeit der Klage gegen Tupman überzeugt. Bei Herrn Tupman aber stand es ähnlich, da ihm Herr Jingle mitgeteilt hatte, seine Angelegenheit würde bald zur Entscheidung kommen. Herr Pickwick war ebenfalls heiter, weil er selten anders war. Nur von Snodgraß ließ sich das nicht sagen, denn er war eifersüchtig auf Herrn Tupman, während wieder die alte Dame, weil sie im Whistspiel gewonnen, und Herr Jingle nebst Fräulein Tante – diese aus sehr erheblichen Gründen, die in einem andern Kapitel unserer ereignisreichen Geschichte erzählt werden sollen – sich der fröhlichen Stimmung der Mehrzahl anschlossen.

Zehntes Kapitel.


Zehntes Kapitel.

Eine Entdeckung und eine Verfolgung.

Die Speisen standen auf dem Tisch, die Stühle waren herangerückt, Flaschen, Krüge und Gläser aus dem Wandschrank hervorgeholt, und alles verkündigte die Nähe des vergnüglichsten Zeitabschnitts im Verlauf des Tages.

»Wo ist Rachel?« fragte Herr Wardle.

»Ja, und wo Herr Jingle?« fügte Herr Pickwick bei.

»Ach du mein Himmel«, sagte der Hausherr, »es nimmt mich wunder, daß ich ihn nicht schon früher vermißte. Ich glaube, ich habe seine Stimme wenigstens schon zwei Stunden nicht mehr gehört. Liebe Emilie, klingle doch mal.«

Die Klingel wurde gezogen und der Junge trat ins Zimmer.

»Wo ist Fräulein Rachel?«

Er wußte nichts.

»Wo ist Herr Jingle?«

Er wußte es gleichfalls nicht.

Alle blickten sich überrascht an. Es war spät – bereits elf Uhr vorbei. Herr Tupman lachte sich ins Fäustchen. Sie spazierten natürlich irgendwo herum und unterhielten sich von ihm. Ha, ha! Ein herrlicher Einfall – Kapitalspaß!

»Tut nichts – tut nichts«, sagte Herr Wardle nach einer kurzen Pause. »Ich wette, sie werden bald da sein. Mit dem Nachtessen warte ich nie auf jemand.«

»Treffliche Hausordnung, das«, bemerkte Herr Pickwick. »Bewunderungswürdig.«

»Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, meine Herren«, sagte der Hausherr.

»Wenn Sie erlauben«, versetzte Herr Pickwick.

Und die Gesellschaft ließ sich nieder.

Ein ungeheures Stück kalten Rinderbratens stand auf dem Tisch, und Herr Pickwick wurde mit einer kräftigen Portion davon versehen. Er erhob eben die Gabel zu seinen Lippen und war im Begriffe, den Mund zu öffnen und den Brocken dem obern Ende seines Verdauungskanals anzuvertrauen, als sich plötzlich von der Küche her der summende Ton vieler Stimmen vernehmen ließ. Er hielt inne und legte die Gabel nieder. Herr Wardle hielt gleichfalls inne, und ließ unwillkürlich das Tranchiermesser in dem Fleische stecken. Er sah Herrn Pickwick an, und Herr Pickwick blickte auf Herrn Wardle.

Schwere Fußtritte ließen sich von dem Hausflur vernehmen. Die Tür ging plötzlich auf, und herein trat der Mann, der Herrn Pickwick gleich bei seiner ersten Ankunft die Stiefeln gereinigt hatte, hinter ihm der fette Junge und das ganze Hausgesinde.

»Was, zum Teufel, soll das heißen?« rief der Hausherr.

»Hat etwa der Küchenschornstein Feuer gefangen, Emma?« fragte die alte Dame.

»Ach Gott, ’s wird doch das nicht sein, Großmutter!« kreischten die jungen Damen.

»Was ist los?« rief der Hausherr.

Der Mann haschte nach Luft und keuchte mit schwacher Stimme:

»Sie sind fort, Herr – auf und davon, Sir!«

Bei dieser Eröffnung sah man Herrn Tupman Messer und Gabel niederlegen und erblassen.

»Wer ist fort?« sagte Herr Wardle heftig.

»Herr Jingle und Fräulein Rachel – in einer Postkutsche – vom Blauen Löwen in Muggleton aus. Ich war dort – konnte sie aber nicht zurückhalten; und so lief ich, hast du was kannst du, um es hier mitzuteilen.«

»Und ich mußte die Kosten dazu herschießen!« rief Herr Tupman, ganz außer sich aufspringend. »Er hat zehn Pfund von mir mitgenommen! Haltet ihn auf! Er hat mich betrogen! Ich lasse mir’s nicht gefallen! Ich will mein Recht haben, Pickwick! Ich will nicht ruhig zusehen, wenn ich um mein Eigentum geprellt werde!«

Mit diesen und ähnlichen unzusammenhängenden Ausrufen rannte Herr Tupman wie toll im Zimmer umher.

»Gott behüte uns!« rief Herr Pickwick, die. außerordentlichen Gebärden seines Freundes mit entsetzten Blicken betrachtend. »Er ist übergeschnappt; was fangen wir an?«

»Was wir anfangen?« entgegnete der Hausherr, der bloß Pickwicks letzte Worte gehört hatte. »Spannt das Pferd in die Deichsel. Ich will im Löwen eine Postkutsche nehmen und ihnen augenblicklich nachsetzen. Wo –« rief er, als der Mann sich entfernte, um den Befehl zu vollziehen – »wo ist der heillose Kerl, der Joe?«

»Hier bin ich – aber kein heilloser Kerl«, versetzte eine Stimme. Es war die des fetten Jungen.

»Lassen Sie mich, Pickwick!« schrie Wardle, als er auf den unglücklichen Joe losstürzen wollte. »Er hat sich von diesem Schurken, dem Jingle, bestechen lassen, damit er mir eine falsche Witterung beibringe und mir mit einer Geschichte von meiner Schwester und Ihrem Freunde Tupman einen blauen Dunst vormache.« (Hier sank Herr Tupman auf seinen Stuhl zurück.) »Lassen Sie mich – ich muß ihm zu Leibe.«

»Ach, halten Sie ihn ja fest!« kreischten die Frauenzimmer, und aus ihrem Geschrei hörte man das Heulen des fetten Jungen deutlich heraus.

»Weg da!« rief der alte Mann. »Zurück mit Ihren Händen, Herr Winkle! Lassen Sie mich los, Herr Pickwick!«

Es war erbaulich, in diesem Augenblicke des Tumults und der Verwirrung den ruhigen und philosophischen Ausdruck in Herrn Pickwicks Gesicht wahrzunehmen. Er stand da, allerdings etwas gerötet von der Kraftanstrengung, die weite Taille seine« korpulenten Wirtes mit starken Armen umschlingend, und verhütete so einen tätlichen Ausbruch von dessen leidenschaftlichem Zorn, während der fette Junge von sämtlichen Damen zur Tür hinausgeschoben und gezerrt wurde. Er hatte indes kaum losgelassen, als der Bediente mit der Meldung hereintrat, daß der Wagen bereit wäre.

»Lassen Sie ihn nicht allein fort!« riefen die Frauenzimmer. »Es gibt ein Unglück!«

»Ich will ihn begleiten«, sagte Herr Pickwick.

»Sie sind ein wackerer Freund, Pickwick«, sagte Herr Wardle, seine Hand ergreifend. »Emma, gib Herrn Pickwick einen Schal um den Hals – rasch! Seht nach eurer Großmutter, Mädchen; sie ist ohnmächtig geworden. So kommen Sie – sind Sie fertig?«

Da Herr Pickwick inzwischen Mund und Kinn hastig in einen großen Schal gehüllt, den Hut auf seinen Kopf gepflanzt und den Überrock über den Arm geworfen hatte, antwortete er mit Ja.

Sie sprangen in den Wagen. »Laß dem Pferd den Zügel, Tom«, sagte Herr Wardle: und fort ging’s über die schmalen Feldwege weg, holter, polter über die Wagengeleise und an den Knicks vorbei, daß alle Augenblicke zu befürchten stand, das leichte Fuhrwerk möchte in Stücke fliegen.

»Haben sie einen starken Vorsprung?« rief Herr Wardle, als der Wagen vor dem blauen Löwen anlangte, um den sich, so spät es war, ein kleines Häufchen Neugieriger versammelt hatte.

»Nicht über drei Viertelstunden«, lautete die vielstimmige Antwort.

»Schnell eine Kutsche mit Vieren! – Heraus damit! Man kann den kleinen Wagen nachher ausspannen.«

»Nun, Jungen!« rief der Wirt: »eine Kutsche und vier Pferde! Hurtig – zeigt ein bißchen Leben!«

Die Stallknechte und Jungen eilten weg. Laternen huschten hin und her: Pferdehufe klapperten auf dem unebenen Hofpflaster, die Kutsche rumpelte aus dem Schuppen heraus, und alle« war voll Leben und Bewegung.

»Nun – wird’s noch diese Nacht?« rief Wardle ungeduldig.

»Kommt eben in den Hof, Sir«, versetzte der Stallknecht.

Und der Wagen kam – die Pferde wurden eingespannt – die Postillions sprangen hinzu – die Reisenden stiegen ein.

»Wohlgemerkt – die Siebenmeilenstation muß in weniger als einer halben Stunde gemacht sein«, rief Herr Wardle.

»Fort!«

Die Jungen brauchten Peitsche und Sporn, die Kellner schrien, die Stallknechte fluchten, und dahin flog der Wagen in wütender Eile.

»Eigentümliche Lage«, dachte Herr Pickwick, als er einen Augenblick Zeit zum Überlegen gewann. »Eigentümliche Lage für den Präsidenten des Pickwick-Klubs. Dumpfe Kutsche – fremde Pferde – fünfzehn Meilen in einer Stunde – und nachts zwölf Uhr!« Die ersten drei oder vier Meilen verlautete kein Wort unter den beiden Herren, da jeder zuviel mit seinen eigenen Gedanken zu schaffen hatte, um an den andern eine Bemerkung zu richten. Aber jetzt, da die warm gewordenen Pferde einmal im Zuge waren, wurde auch Pickwick durch die Raschheit der Bewegung aufgerüttelt, und er konnte nicht länger, ganz stumm da zu sitzen.

»Ich denke, wir werden sie sicher einholen«, begann er.

»Ich hoffe es«, versetzte sein Gefährte.

»Eine schöne Nacht«, sagte Herr Pickwick nach dem klaren Monde aufblickend.

»Um so schlimmer«, entgegnete Wardle, »denn sie haben für ihren Vorsprung den Vorteil des Mondlichts, der uns fehlt, da der Mond keine Stunde mehr am Himmel stehen wird.«

»In der Dunkelheit wird’s freilich nicht mit der gleichen Geschwindigkeit fortgehen können – oder?« fragte Herr Pickwick.

»Gewiß nicht«, versetzte Herr Wardle trocken.

Herrn Pickwicks Aufregung begann sich ein wenig zu legen, als er über die Unbequemlichkeiten und Gefahren einer Reise nachdachte, auf die er sich so unüberlegt eingelassen hatte. Endlich wurde er jedoch durch das laute Rufen des Postillions auf dem Leitgaule aus seinen Betrachtungen geweckt.

»Hallo! Hallo!« rief der erste Postillion.

»Hallo! Hallo!« wiederholte der zweite.

»Hallo! Hallo!« stimmte der alte Wardle lustig mit ein, indem er den Kopf und den halben Körper zum Fenster hinaussteckte.

»Hallo! Hallo!« schrie Herr Pickwick am kräftigsten von allen, obgleich er durchaus nicht wußte, warum?

Und während dieses vierfachen »Hallos« machte der Wagen halt.

»Was gibt’s?« fragte Herr Pickwick.

»Wir sind an einem Schlagbaum und werden hier etwas von den Flüchtigen hören«, versetzte der alte Wardle.

Nach Verlauf von fünf Minuten, die unter Klopfen und Schreien verbracht wurden, trat ein alter Mann, nur in Hemd und Beinkleidern, aus dem Schlagbaumhäuschen und schob die Barre zurück.

»Wie lange ist’s, seit eine Postkutsche hier passierte?« fragte Herr Wardle.

»Wie lange?«

»Ja, wie lange?«

»Kann’s nicht genau sagen. Gar lange wird’s nicht sein, aber auch nicht gar kurz – just so zwischen drin, denke ich.«

»Es kam aber doch wirklich eine Kutsche vorbei.«

»O ja; ne Kutsche ist vorbeigekommen.«

»Aber seit wie lange, mein Freund«, mischte sich Herr Pickwick ein. »Vor einer Stunde vielleicht?«

»So was mag’s gewesen sein«, versetzte der Mann.

»Oder zwei Stunden? fragte der Postillion des hinteren Zugs.

»Könnten auch zwei Stunden sein«, entgegnete der alte Mann zweifelhaft.

»Fort, Jungen«, rief der Wardle ärgerlich: »haltet euch nicht mit dem alten Dummkopf auf.«

»Dummkopf?« rief der alte Mann mit einem Grinsen, indem er den Balken halb vorschob und in die Mitte des Weges trat, um der Kutsche nachzusehen, die mit der zunehmenden Entfernung rasch den Blicken verschwand. »Lange kein solcher, als der da drinnen. Verliert er da seine zehn Minuten und geht so klug fort, wie er hergekommen ist. Wenn jeder Schlagbaumwärter seinen Goldfuchs nur halb so gut verdient, wie ich, so wirst du die andere Kutsche vor Michaelis nicht einholen, alter Fettbauch.«

Und weiter grinsend schloß der Mann den Schlagbaum vollends, trat in sein Haus und schob den Riegel hinter sich zu.

Inzwischen ging die Kutsche stets mit gleicher Geschwindigkeit weiter, bis sie am Ende der Station anlangte. Der Mond ging, wie Herr Wardle richtig bemerkt hatte, zeitig unter, und große Ballen schwarzer Wolken, die schon seit einiger Zeit den Himmel umzogen, sammelten sich bald zu einer einzigen dunklen Masse. Große Regentropfen, die hin und wieder an die Wagenfenster schlugen, schienen den Reisenden das rasche Annähern einer stürmischen Nacht zu verkündigen. Der Wind, der ihnen gerade entgegenblies, fegte in furchtbaren Stößen die schmale Straße daher und heulte greulich in den die Chaussee begrenzenden Bäumen. Herr Pickwick wickelte sich fester in seinen Überrock, drückte sich behaglich in eine Ecke des Wagens und verfiel in ein gesundes Schläfchen, aus dem er erst wieder erwachte, als die Kutsche halt machte und der Ton der Stallklingel nebst dem lauten Ruf: »Rasch! Pferde vor!« erscholl.

Aber hier gab es wieder eine Zögerung. Die Postjungen lagen in einem so geheimnisvoll tiefen Schlaf, daß man bei jedem fünf Minuten brauchte, um ihn zu wecken. Der Stallknecht hatte den Stallschlüssel verlegt, und selbst als dieser gefunden war, verwechselten die Postillione die Pferdegeschirre, so daß das Geschäft der Zurichtung wieder aufs neue begonnen werden mußte. Wäre Herr Pickwick allein gewesen, diese vielen Hindernisse hätten jedem Weiterfahren auf einmal ein Ziel gesteckt! aber der alte Herr Wardle war nicht so leicht zu entmutigen. Er ging bei allem so rührig an die Hand, knuffte hin und wieder einen der Burschen, zog da eine Schnalle an und legte dort eine Kette ein, so daß der Wagen in weit kürzerer Zeit, als sich unter so vielen Schwierigkeiten erwarten ließ, zum Abfahren bereit stand.

Sie nahmen die Reise – allerdings nicht unter besonders günstigen Umständen – wieder auf. Die Station war fünfzehn Meilen lang, die Nacht finster, der Sturm heftig, und der Regen schüttete in Strömen. Es war unmöglich, unter solchen Verhältnissen rasch vorwärts zu kommen. Ein Uhr hatte es bereits geschlagen, und man brauchte fast zwei Stunden, um die andere Station zu erreichen. Hier trafen sie jedoch auf einen Umstand, der alle ihre Hoffnungen wieder aufleben machte und ihren sinkenden Mut hob.

»Wann ist diese Nacht eine Kutsche angekommen?« rief der alte Wardle, aus seinem eigenen Wagen springend, und auf ein Fuhrwerk deutend, das, mit Kot bedeckt, auf dem Hof stand.

»Vor nicht ganz einer Viertelstunde, Sir«, versetzte der Stallknecht, an den diese Frage gerichtet war.

»Ein Herr und eine Dame?« fragte Wardle mit fast atemloser Hast.

»Ja, Sir.«

»Der Herr groß – dünn – lange Beine?«

»Ja, Sir.«

»Dame ältlich – schmales Gesicht – etwas mager – wie?«

»Ja, Sir.«

»Beim Himmel, sie sind’s, Pickwick!« rief der alte Herr.

»Sie wären schon früher angelangt, wenn ihnen nicht ein Zugstrang zerrissen wäre«, sagte der Stallknecht.

»Sie sind’s«, rief Herr Wardle. »Gerechter Himmel, sie sind’s! Geschwind – eine Kutsche und vier Pferde! Wir holen sie ein, noch ehe sie die nächste Station erreichen. Jedem einen Goldfuchs, Jungens – rührt euch – tapfer – so; brave Burschen.«

Unter solchen Ermunterungen rannte der alte Herr geschäftig im Hofe hin und her. Er war in einer Aufregung, die sich sogar Herrn Pickwick mitteilte, so daß dieser Gentleman gleichfalls an dem Einschirren der Pferde mithalf und auf eine ganz wundersame Weise nach den Rossen und den Rädern sah, fest überzeugt, durch seine Mitwirkung die Vorbereitungen zum schleunigsten Aufbruch wesentlich zu fördern.

»Hinein – hinein!« rief der alte Wardle, indem er in den Wagen stieg, den Tritt nachzog und den Schlag schloß. »Kommen Sie – beeilen Sie sich.«

Und noch ehe Herr Pickwick wußte wie, fühlte er sich durch einen tüchtigen Ruck von seiten des alten Herrn und durch einen Nachschub des Stallknechts durch den andern Schlag in den Wagen gehoben. Dann ging es wieder weiter.

»So – jetzt sind wir wieder in Bewegung«, rief der alte Herr frohlockend.

Das war auch in der Tat der Fall, wie Herr Pickwick aus den häufigen Zusammenstößen mit der Kutschenwand und seinem Nachbar am besten empfand.

»Greifen Sie nach dem Halter«, sagte Herr Wardle, als ihm Herrn Pickwicks Kopf gegen die Rippen fuhr.

»Ich bin in meinem Leben nie so gerüttelt worden«, entgegnete Herr Pickwick.

»Macht nichts«, versetzte sein Gefährte: »wird bald vorüber sein. Halten Sie sich nur fest.«

Herr Pickwick drückte sich so fest er konnte in seine Ecke, und der Wagen rollte schneller als je dahin.

Sie hatten in dieser Weise ungefähr drei Meilen zurückgelegt, als Herr Wardle, der auf ein paar Minuten durch den Schlag hinaus gesehen, plötzlich den von Kot bespritzten Kopf zurückzog und in atemloser Hast ausrief:

»Dort sind sie!«

Herr Pickwick steckte den Kopf gleichfalls durch das Fenster. Ja, es war eine Kutsche mit vier Pferden, die in vollem Galopp in kurzer Entfernung vor ihnen dahinsprengte.

»Vorwärts! vorwärts!« schrie der alte Herr. »Zwei Goldfüchse für jeden. Jungen – holt sie ein – drauf – drauf!«

Die Pferde der ersten Kutsche jagten in höchster Eile davon, und Herrn Wardles jagten wütend hinterdrein.

»Ich sehe seinen Kopf«, rief der cholerische alte Herr; »ich will verdammt sein, wenn ich nicht seinen Kopf sehe.«

»Ich gleichfalls«, sagte Herr Pickwick. »Er ist’s!«

Herr Pickwick hatte sich nicht geirrt. Herrn Jingles Gesicht, über und über mit Straßenkot bespritzt, war deutlich an dem Fenster der Kutsche zu erkennen, und die ungestümen Bewegungen seines Armes verrieten, daß er die Postillione antrieb, ihr Äußerstes zu tun.

Die Spannung war aufs höchste gesteigert. Felder, Bäume und Hecken schienen mit der Schnelligkeit des Windes an ihnen vorbeizufliegen, so jagten die Rosse dahin. Sie waren hart an der ersten Kutsche und konnten Jingles Stimme selbst unter dem Rädergerassel die Postillione antreiben hören. Der alte Wardle schäumte vor Zorn und Wut. Er warf ihm »Schurken« und »Spitzbuben« zu Dutzenden nach und schüttelte die Faust nachdrücklich gegen den Gegenstand seiner Entrüstung. Aber Herr Jingle antwortete nur mit einem verächtlichen Lächeln und erwiderte die Drohungen des alten Herrn durch lautes Frohlocken, als seine Pferde unter Beihilfe der Peitsche und des Sporns rascher anzogen und die Verfolger weit hinter sich ließen.

Herr Pickwick hatte eben seinen Kopf zurückgezogen und Herr Wardle, von seinem Schreien erschöpft, das gleiche getan, als sie durch einen furchtbaren Stoß des Wagens gegen die Vorderseite geschleudert wurden. Ein dumpfer Ton – ein lautes Krachen – ein Rad flog ab, und die Kutsche schlug um.

Nach einigen Augenblicken der Verwirrung und Bestürzung, in denen sich nichts als das Ausschlagen der Pferde und das Klirren der Glasscheiben vernehmen ließ, fühlte sich Herr Pickwick gewaltsam aus dem zertrümmerten Wagen hervorgezogen, und als er endlich auf seinen Beinen stand und sich aus den Schößen seines Überrocks auswickelte, die den Gebrauch seiner Brille wesentlich beeinträchtigten, gewahrte er den ganzen Umfang des Unheils, das ihnen zugestoßen war.

Der alte Herr Wardle stand ihm ohne Hut und mit zerrissenen Kleidern zur Seite, und die Bruchstücke des Wagens lagen zu ihren Füßen. Die Postillions, denen es gelungen war, die Stränge abzuschneiden, standen, beschmutzt und von dem scharfen Ritt erschöpft, bei ihren Pferden. Die andere Kutsche hatte einen Vorsprung von ungefähr hundert Schritten und machte halt, als man dort das Krachen vernahm. Die Postillione blickten aus ihren Sätteln mit grinsenden Gesichtern zurück, und Herr Jingle, der das Unglück aus dem Kutschenfenster mit angesehen hatte, zeigte gleichfalls eine nicht unzufriedene Miene. Der Tag brach eben an, so daß sich die ganze Szene im Dämmerlicht des Morgens deutlich unterscheiden ließ.

»Holla!« rief der schamlose Jingle: »Jemand beschädigt? – Ältere Herren – nicht leicht – gefährliche Arbeit – wahrhaftig.«

»Sie sind ein Schurke!« brüllte Wardle.

»Ha! ha!« lachte Herr Jingle. Dann fügte er mit einem bedeutsamen Winke und einer Bewegung seines Daumens gegen das Innere seiner Kutsche bei – »ich sage – sie ist ganz wohl – besten Gruß von ihr – bittet. Sie möchten sich ihretwegen nicht bemühen – läßt Tuppy grüßen – wollen Sie nicht hinten aufsitzen? – Vorwärts, Jungen«!«

Die Postillione nahmen wieder ihre frühere Haltung ein, und die Kutsche rasselte weiter, während Herr Jingle höhnend sein Taschentuch zum Fenster hinausflattern ließ.

Nichts von dem ganzen Abenteuer – nicht einmal der Umsturz des Wagens – war imstande gewesen, Herrn Pickwicks Gemütsruhe zu trüben. Aber die Bosheit dieses Menschen, der zuerst von seinem treuen Begleiter Geld borgte und dann dessen Namen schmählicher Weise zu »Tuppy« abkürzte, war mehr, als er ertragen konnte. Er holte tief Atem, wurde rot bis an seine Brille und sagte langsam und nachdrücklich:

»Wenn ich je wieder mit diesem Menschen zusammentreffe, so will ich –«

»Ja, ja,« unterbrach ihn Herr Wardle; »das ist alles ganz recht. Aber während wir hier stehen und schwatzen, verschafft er sich eine Heiratserlaubnis und läßt sich in London trauen.«

Herr Pickwick hielt inne und stöpselte die Flasche, die er aus Wut entkorkt hatte, wieder zu.

»Wie weit ist’s bis zur nächsten Station?« fragte Herr Wardle einen der Postillione.

»Sechs Meilen – gelt Tom?«

»Etwas drüber.«

»Etwas über sechs Meilen, Sir.«

»Da ist nichts anderes zu machen, als zu Fuß hinzugehen, Pickwick«, sagte Herr Wardle.

»Freilich, ’s gibt keinen andern Ausweg«, versetzte dieser wahrhaft große Mann.

Sie sandten nun einen der Postjungen zu Pferd voraus, um einen neuen Wagen samt Pferden zu bestellen, und ließen den andern bei der zerbrochenen Kutsche zurück, während sie selbst sich mannhaft in Bewegung setzten, nachdem sie zuvor den Hals durch ihre Tücher geschützt und ihre Hüte niedergekrempt hatten, um sich so viel wie möglich gegen den Regen zu schützen, der jetzt nach kurzem Nachlassen wieder in Strömen zu fließen begann.

 

Elftes Kapitel.


Elftes Kapitel.

Klärt alle etwa vorhandenen Zweifel über Herrn Jingles Uneigennützigkeit auf.

In London gibt es verschiedene alte Wirtshäuser, die in einer Zeit, wo die Postkutschen ihre Fahrten in einer ernsteren und feierlicheren Weise – als heutzutage, zurücklegten, die Hauptquatiere der berühmtesten Postwagen waren, obgleich sie jetzt zu wenig mehr, als zu Warte- und Einschreiblokalen für Frachtfuhrleute heruntergesunken sind. Der Leser würde sich umsonst unter den Goldenen Kreuzen, Ochsen und Löwen, die in Londons verbesserten Straßen die Gasthöfe zieren, nach einem dieser alten Hotels umsehen, sondern müßte dazu seinen Schritt nach den obskurieren Stadtteilen richten, wo er hin und wieder eines in einen düstern Winkel gedrückt antreffen könnte. Da bietet es mit einer Art finsterer Störrigkeit der Verschönerung der Umgebung Trotz.

In dem Borough Boroughs (deutsch mit unserm »Burg« identisch) waren in alter angelsächsischer Zeit feste Verteidigungsplätze; später bedeuteten sie Ortschaften mit dem Recht einer Gemeinde. stehen noch ungefähr ein halb Dutzend solcher Häuser, die ihre äußere Form unverändert beibehalten haben und ebenso gut der modernen Verschönerungssucht, als den Eingriffen des Spekulationsgeistes entgangen sind. Es sind große, geräumige, wunderliche alte Gebäude mit Galerien, Hausfluren und Treppen, weit und altväterisch genug, um Stoff zu hundert Gespenstergeschichten zu liefern, falls wir je in die traurige Notwendigkeit versetzt werden sollten, solche zu erfinden. Ja, es würde bis an der Zeiten Ende währen, wollte man die unzähligen und wahrhaftigen Legenden erschöpfen, die sich an die alte Londoner Brücke und ihre nächste Nachbarschaft auf der Surreyseite knüpfen.

Auf dem Hofe eines dieser Wirtshäuser, das kein geringeres Schildzeichen, als das des weißen Hirschen führte, war an demselben Morgen, der Herrn Pickwicks und Herrn Wardles Unglücksnacht folgte, ein Mann emsig mit Bürsten eines schmutzigen Stiefelpaares beschäftigt. Er trug eine grobe, gestreifte Weste mit schwarzen Kalikoärmeln und blauen Glasknöpfen, braune Kniehosen und desgleichen Gamaschen. Ein hellrotes Taschentuch war lose und ungezwungen um seinen Hals geknüpft, und ein alter weißer Hut saß nachlässig auf dem einen Ohr. Er hatte zwei Reihen Stiefel – die eine gereinigt, die andere noch schmutzig – vor sich, und bei jedem Zuwachs der gewichsten Reihe hielt er einen Augenblick inne, um das Ergebnis seiner Tätigkeit mit Behagen zu überschauen.

Im Hof zeigte sich nichts von dem rührigen, lärmenden Treiben, das die charakteristische Eigenschaft eines von vielen Fuhrwerken besuchten Gasthauses ist. Drei oder vier schwerfällige Frachtwagen waren bis an die Decke des die Hofmauer von einer Seite überragenden leichten Daches beladen und reichten wohl bis zu den Fenstern des zweiten Stocks eines gewöhnlichen Hauses. Sie standen ruhig unter ihren Schuppen, während ein weiterer Wagen, der wahrscheinlich an diesem Morgen abfahren wollte, in den freien Raum hinausgezogen war. Eine doppelte Reihe von Galerien mit plumpen, alten Geländern führte zu den Schlafzimmern und lief in der ganzen inneren Seite des Hauses herum. Eine gleichfalls doppelte Reihe von Klingeln, die mit den Schlafzimmern in Verbindung standen, hingen, durch einen kleinen Dachvorsprung gegen den Regen geschützt, über der Tür der Gaststube. Zwei oder drei Zweiradwagen und Kutschen hatten in den Schuppen ihr Unterkommen gefunden. Nur der schwere Huftritt eines Fuhrmannsgauls oder das Klirren einer Kette an dem hinteren Ende des Hofes verkündete hin und wieder einem Neugierigen, daß in jener Richtung der Stall läge. Fügen wir noch bei, daß einige Jungen in leinenen Kitteln auf dem schweren Gepäck, den Wollsäcken und andern Artikeln, die auf den Strohhaufen umherlagen, schliefen, so haben wir den Hof des Weißen Hirschen, High Street, Borough, wie er sich an diesem Morgen darstellte, so ausführlich wie möglich beschrieben.

Auf lautes Klingeln zeigte sich in der oberen Schlafzimmergalerie ein dralles Dienstmädchen, das an die Tür pochte, von innen einen Auftrag erhielt und über das Geländer rief:

»Sam!«

»Was ist?« versetzte der Mann mit dem weißen Hut.

»Nummer Zweiundzwanzig will seine Stiefel.«

»Frage Nummer Zweiundzwanzig, ob er sie gleich jetzt haben, oder ob er warten will, bis er sie kriegt«, war die Antwort.

»Ach, sei kein Narr, Sam«, entgegnete das Mädchen begütigend: »der Herr will die Stiefel jetzt.«

»Wenn ich auch ein Narr bin, mein Jüngferchen, so tanze ich doch nicht nach deiner Pfeife«, sagte der Stiefelputzer. »Sieh mal diese Stiefel an – elf Paar und ein Schuh, der der stelzbeinigen Nummer Sechs gehört. Die elf Paar Stiefel sind bis halb neun und der Schuh bis neun Uhr bestellt. Wer ist Nummer zweiundzwanzig, das er vor den andern etwas voraus haben will? Nein, nein: ’s muß alles der Reihe nach gehen, wie Henkersmeister Knüpfauf sagt, wenn er einen heißen Arbeitstag hat. Tut mir leid, Sir, daß Sie warten müssen: die Reihe wird aber bald an Sie kommen.«

Mit diesen Worten nahm der Mann mit dem weißen Hut wieder seine Arbeit auf und bürstete auf einen Stulpenstiefel mit erneuter Wucht los.

Abermals Klingeln, und die geschäftige alte Wirtin im Weißen Hirsch erschien auf der entgegengesetzten Galerie.

»Sam!« rief die Wirtin. »Wo ist der faule Schlingel – Sam! Da seid Ihr ja! Warum gebt Ihr keine Antwort?«

»Wäre nicht höflich, zu antworten, ehe Sie gesprochen haben«, entgegnete Sam grämlich.

»Da; putze geschwind diese Schuhe für Nummer Siebzehn und bring sie dann in das Zimmer Nummer Fünf im ersten Stock.«

Die Wirtin warf ein Paar Schuhe in den Hof und ging weiter.

»Nummer Fünf«, sagte Sam, als er die Schuhe aufhob, eln Stück Kreide aus seiner Tasche langte und das Merkzeichen ihrer Bestimmung auf die Sohlen schrieb. »Damenschuhe und ein Extrazimmer. Denke mir, die ist nicht mit dem Botenwagen angekommen.«

»Sie kam erst diesen Morgen«, rief das Mädchen, die noch immer auf dem Galeriegeländer lehnte, »mit einem Herrn in einer Mietkutsche, demselben, der jetzt seine Stiefel will. Mach doch rasch; weiter hast du nichts mit der Sache zu schaffen.«

»Warum sagtest du mir das nicht gleich?« versetzte Sam unwillig, indem er die fraglichen Stiefel aus dem übrigen Haufen herauslangte. »Konnte ich’s riechen, daß sie einem andern, als einem der gewöhnlichen Dreipfennigfuchser gehörten? Eigenes Zimmer und dazu eine Dame! Wenn er so etwas von einem hohen Tier ist, so trägt er doch des Tags einen Schilling ein, die sonstigen Aufträge abgerechnet.«

Angespornt durch diese begeisternde Aussicht bürstete Master Samuel so emsig drauf los, daß in ein paar Minuten Stiefel und Schuhe in einem Glanze dastanden, sogar das Herz des liebenswürdigen Herrn Warren mit Neid zu erfüllen (denn für den Weißen Hirsch lieferten Day und Martin den Wichsebedarf). Darauf verfügte sich der Stiefelputzer mit den Prachtproben seiner Kunst an die Tür von Nummer Fünf.

»Herein!« rief eine männliche Stimme auf Sams Klopfen.

Sam machte seinen besten Kratzfuß, als er einen Herrn und eine Dame beim Frühstück sitzen sah. Nachdem er diensteifrig die Stiefel des Herrn rechts und links, und die Schuhe der Dame rechts und links zu ihren Füßen niedergelegt hatte, zog er sich wieder zurück.

»Hausknecht!« sagte der Herr.

»Sir«, versetzte Sam, die Tür wieder schließend, während er die Hand auf der Klinke ruhen ließ.

»Wißt Ihr – nun, wie heißt’s doch gleich – Doktor Commons?«

»Ja, Sir.«

»Wo ist es?«

»Pauls Kirchhof, Sir; niederer Bogengang nach der Straße zu, ein Buchladen an der einen, ein Gasthof an der andern Seite, und in der Mitte zwei Türsteher als Lizenzagenten Agenten, die Heiratserlaubnis besorgten und zugleich den Heiratsvermittler spielten.«

»Lizenzagenten?« fragte der Herr.

»Lizenzagenten«, wiederholte Sam. »Zwei Kerle mit weißen Schürzen – greifen nach dem Hut, wenn man durchgeht – ›Lizenz, Sir, Lizenz?‹ Kurioser Leuteschlag – und ihre Herren auch – Anwälte von Old Bailey, Sir – fehlt nicht.«

»Und was wollen sie denn?«, fragte der Herr.

»Was sie wollen? Sie, Sir! Und das wäre erst noch nicht das schlimmste. Sie setzen allen Herren Dinge in den Kopf, von denen sie sich in ihrem Leben noch nichts träumen ließen. Mein Vater, Sir, ist ein Kutscher – war Witwer – ein dicker Mann – ungemein stark. Als seine Frau starb, hinterließ sie ihm vierhundert Pfund.

Er geht zu den Commons, den Anwalt aufzusuchen und das Geld einzustreichen – putzt sich heraus – Stulpenstiefel an – einen Strauß ins Knopfloch – breitkrempigen Hut auf – grünes Halstuch um – ganz wie so’n Kavalier. Geht durch den Bogengang, denkt an nichts, als wie er sein Geld anlegen will – kommt ein Agent auf ihn zu, langt an den Hut – ›Lizenz, Sir, Lizenz?‹ – ›Was ist das für ein Ding?‹ fragte mein Vater. – ›Lizenz, Sir!‹ – ›Nun, was soll’s mit der Lizenz da?‹ sagt mein Vater. – ›Heiratslizenz›, versetzte der Agent. – ›Hol‘ mich der Henker, wenn mir so was einfällt‹, sagt mein Vater. – ›Ich denken, Sie könnten eine brauchen‹ – sagt der Agent. Mein Vater macht halt und besinnt sich ein bißchen. – ›Nein‹, sagt er, ›geht zum Kuckuck, ich bin zu alt und noch obendrein zu dick dazu.‹ – ›Nicht im geringsten, Sir‹, sagt der Agent. – ›Das wäre der Teufel‹, sagt mein Vater.

– ›Können sich darauf verlassen‹, sagt der Agent: ›wir haben erst letzten Montag einen Herrn verheiratet, der zweimal so dick war wie Sie.‹ – ›Wie – ist das wirklich wahr?‹ sagte mein Vater. – ›Ganz bestimmt‹, sagte der Agent: ›Sie sind ein Schneider gegen ihn – hier herein, Sir, hier herein!‹

Und mein Vater läuft ihm richtig nach, wie ein zahmer Affe einem Leierkasten, in eine kleine Schreibstube, wo ein Kerl hinter besudeltem Papier und blechernen Kapseln sitzt und gewaltig beschäftigt tut. ›Bitte, nehmen Sie Platz, während ich die Urkunde ausfertige, Sir‹, sagt der Advokat. ›Danke, Sir‹, sagt mein Vater, setzt sich, reißt Mund und Augen auf und glotzt die Namen an den Kapseln an. – ›Wie ist Ihr Name?‹ fragte der Advokat. ›Tony Weller‹, sagt mein Vater. – ›Kirchspiel?‹ sagt der Advokat. – ›Belle Savage‹, sagt mein Vater; denn da pflegte er sein Fuhrwerk einzustellen. Was man mit einem Kirchspiel wollte, wußte er nicht. – ›Der Name des Frauenzimmers?‹ sagte der Advokat. Mein Vater ist wie aus den Wolken gefallen. ›Hol mich der Henker, wenn ich’s weiß‹, sagt er. – ›Wie, Sie wissen’s nicht?‹ sagt der Anwalt. ›So wenig wie Sie‹, sagt mein Vater: ›kann man ihn nicht nachher hineinschreiben?‹ – ›Unmöglich‹, sagt der Anwalt. – ›Auch recht‹, sagt mein Vater: ›so schreiben Sie Frau Clarke.‹ – ›Was weiter?‹, sagt der Advokat und tunkt seine Feder in die Tinte. – ›Susanna Clarke im Marquis von Granby zu Dorting‹, sagt mein Vater: ›sie wird mich nehmen, wenn ich sie darum angehe – Hab‘ zwar noch nichts davon zu ihr gesagt: aber ich weiß, sie nimmt mich.‹ Die Lizenz wird ausgestellt und sie nimmt ihn – und was noch mehr ist, sie hat ihn jetzt, und ich habe von den vierhundert Pfund nicht ein einziges zu sehen gekriegt. Doch bitte um Verzeihung, Sir«, fügte Sam zum Schlusse bei; »aber wenn ich auf diese verdrießliche Geschichte komme, so geht’s bei mir fort wie bei einem frischgeschmierten Karren.«

Sam harrte noch einen Augenblick, ob nichts weiteres gewünscht werde, und verließ, als das nicht der Fall war, das Zimmer.

»Halb zehn – gerade die rechte Zeit – brechen wir auf«, sagte der Gentleman, den wir dem Leser wohl kaum als Herrn Jingle vorzustellen brauchen.

»Zeit – wofür?« fragte die Jungfer Tante kokettierend.

»Lizenz, teuerster Engel – Meldung an den Geistlichen – Sie die Meinige nennen – morgen –« versetzte Herr Jingle, indem er der Jungfer Tante die Hand druckte.

»Die Lizenz?« sagte Rachel errötend.

»Die Lizenz«, wiederholte Herr Jingle. –

»Hopphopp – geschwinde die Lizenz,
Hopphopp – geschwind zurücke.«

»So eilen Sie doch nicht so«, sagte Fräulein Rachel.

»Eilen? – Stunden – Tage – Wochen – Monate – Jahre sind nichts, wenn wir vereinigt sind – können kommen dann – mit Wagen – Eisenbahn – tausend Pferdekräfte – ficht uns nimmer an.«

»Könnte – könnte unsere Trauung nicht heute noch vollzogen werden?« fragte Rachel.

»Unmöglich – kann nicht sein – Meldung an den Geistlichen – Lizenz heute – Trauung morgen.«

»Ich fürchte nur, mein Bruder könnte uns finden«, sagte Rachel.

»Finden? Pah – zu sehr durchgeschüttelt vom Wagensturz – zudem – außerordentliche Vorsicht – Postkutsche aufgegeben – zu Fuß gegangen – Mietkutsche genommen – in Borough Quartier gemacht – letzter Platz in der Welt, wo gesucht wird – ha! ha! – kapitaler Einfall das – wahrhaftig.«

»Aber bleiben Sie nicht lange aus«, sagte die alte Jungfer zärtlich, als Herr Jingle den zerknüllten Hut auf seinen Kopf pflanzte.

»Lange entfernt bleiben von Ihnen? – Grausame Zauberin!«

Und Herr Jingle hüpfte scherzhaft auf die alte Jungfer zu, drückte einen keuschen Kuß auf ihre Lippen und tänzelte aus dem Zimmer.

»Der liebe Mann!« rief Fräulein Rachel, als sich die Tür hinter ihm schloß.

»Verwünschte alte Schachtel!« sagte Herr Jingle, als er den Hausflur erreichte.

Es ist eine schmerzliche Aufgabe, Betrachtungen über die Treulosigkeit des menschlichen Geschlechts anzustellen. Wir unterlassen es daher, den Faden von Herrn Jingles Gedanken weiter zu verfolgen, die ihn auf seinem Wege zu Doktor Commons beschäftigten. Es reicht für den Zweck unserer Erzählung hin, wenn wir melden, daß unser Ehrenmann glücklich den Schlingen der beiden Drachen mit den weißen Schürzen, die den Eingang dieses Zauberschlosses hüteten, entging und wohlbehalten in dem Bureau des Generalvikars anlangte. Dort wurde ihm im Namen des Erzbischofs von Canterbury ein höchst schmeichelhaftes Dokument mit der Aufschrift: »Dem lieben und getreuen Alfred Jingle und der lieben getreuen Rachel Wardle unsern Gruß«, ausgefertigt. Er steckte das geheimnisvolle Pergament sorgfältig in seine Tasche und kehrte triumphierend nach Borough zurück.

Er war noch nicht in seinem Quartier angelangt, als drei Herren – zwei wohlbeleibte und ein magerer – in den Hof des Weißen Hirschen traten und sich daselbst umsahen, als suchten sie jemand, an den sie einige Fragen stellen konnten. Master Samuel Weller war gerade beschäftigt, ein Paar Stulpen, das Eigentum eines Pächters, der sich eben nach den Mühseligkeiten des Boroughmarktes bei einem kleinen Lunch Mahlzeit zwischen dem Frühstück und dem in England spät in den Nachmittag fallenden Mittagessen. an etlichen Pfunden kalten Rindfleisches und einigen Kannen Bier erlabte, blank zu reiben, als der magere Herr auf ihn zuging.

»Mein Freund«, begann der magere Herr.

»Das ist auch einer, der umsonst etwas will«, dachte Sam; »sonst würde er mich nicht seinen Freund nennen. – Was steht zu Diensten, Sir?« sagte er laut.

»Mein Freund«, versetzte der magere Herr mit einleitendem Räuspern – »logieren gegenwärtig viele Leute im Hause? Sehr geschäftig, wie ich sehe.«

Sam warf einen verstohlenen Blick auf den Frager. Es war ein kleiner, ausgetrockneter Mann mit einem dunklen, runzligen Gesicht und kleinen, unruhigen schwarzen Augen, die zu jeder Seite der kleinen inquisitorischen Nase hervorblinzelten, als ob sie fortwährend mit diesem Teile seines Antlitzes Verstecken spielten. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug Stiefel, so glänzend wie seine Augen, eine schmale, weiße Halsbinde und ein feines Hemd mit einem Brusteinsatz. Eine goldene Uhrkette mit Petschaften hing an seiner Weste, und in den Händen, die er beim Sprechen mit der Miene eines geübten Examinators unter die Frackschöße steckte, hielt er ein Paar schwarze Lederhandschuhe.

»Viel zu tun, wie ich sehe?« sagte der kleine Mann.

»O, ’s geht an, Sir«, versetzte Sam. »Wir machen nicht Bankrott, werden aber auch nicht reich. Wir essen unsern Schöpsenbraten ohne Kapern und kümmern uns wenig um Meerrettich, wenn wir Ochsenfleisch kriegen können.«

»Ah«, sagte der kleine Mann, »Ihr seid ein Durchtriebener, wie ich merke – nicht wahr?«

»Mein ältester Bruder war mit dieser Krankheit geplagt«, entgegnete Sam. »Vielleicht habe ich auch etwas davon aufgefangen, da wir miteinander in einem Bette zu schlafen pflegten.«

»Das ist ein wunderliches, altes Haus«, sagte der kleine Mann, sich umsehend.

»Hätten Sie uns nur durch ein Wort zu wissen getan, daß Sie kommen wollten, so würden wir es haben ausbessern lassen«, versetzte der unerschütterliche Sam.

 

Der kleine Mann schien etwas verblüfft über diese ausweichenden Antworten, und er besprach sich nun mit den beiden beleibten Herren. Dann holte sich der kleine Mann eine Prise Schnupftabak aus einer silbernen Dose und war augenscheinlich im Begriff, seine Fragen wieder aufzunehmen, als ihm einer der beleibten Herren, der in einem gutmütigen Gesicht eine Brille hatte und ein Paar schwarze Gamaschen trug, zuvor kam.

»Es handelt sich nämlich darum«, sagte der Herr mit dem gutmütigen Gesichte, »daß mein Freund hier (er deutete dabei auf den andern beleibten Herrn) Euch einen halben Goldfuchs geben will, wenn Ihr auf zwei oder drei Fragen genü –«

»Ei, mein lieber Herr – mein lieber Herr«, unterbrach ihn der kleine Mann: »ich bitte, erlauben Sie mir, mein lieber Herr. Der erste Grundsatz in der Behandlung solcher Fälle besteht darin, daß man sich in keiner Weise darein mengt, wenn man die Sache einmal einem Geschäftsmann übertragen hat, da dieser mit Recht unbedingtes Vertrauen verlangen kann. In der Tat, Herr –« er wandte sich an den andern beleibten Gentleman und fügte bei, »– ich habe den Namen Ihres Freundes vergessen.«

»Pickwick«, sagte Herr Wardle, denn es war kein anderer als dieser Ehrenmann.

»Ah, Pickwick: richtig, Herr Pickwick. Mein lieber Herr, entschuldigen Sie – ich werde mich glücklich schätzen, Ihre Privatansichten als die eines Freundes des Hauses entgegenzunehmen. Aber Sie müssen einsehen, wie wenig sich die Einmengung eines derartigen Arguments, einer goldenen Schmeichelei, wie sie das Anbieten einer halben Guinee ist, mit meinen Grundsätzen verträgt. Gewiß, lieber Herr, gewiß!«

Und der kleine Mann nahm eine beweisende Prise Tabak, wozu er das Gesicht in ungemein gelehrte Falten legte.

»Ich wollte weiter nichts«, sagte Herr Pickwick, »als die höchst mißliebige Angelegenheit zu einem möglichst schleunigen Ende bringen.«

»Ganz recht – ganz recht«, sagte der kleine Mann.

»In dieser Absicht«, fuhr Herr Pickwick fort, »machte ich Gebrauch von einem Argumente, das mir meine Erfahrung als das förderlichste für alle Fälle bezeichnet.«

»Ja, ja«, sagte der kleine Mann: »sehr gut, sehr gut – in der Tat. Aber Sie hätten mir das mitteilen sollen. Ich bin überzeugt, mein lieber Herr, daß Sie über den Umfang des Vertrauens, den ein Geschäftsmann zu beanspruchen hat, nicht im unklaren sein können. Wenn über diesen Punkt eine Autorität nötig sein sollte, möchte ich Sie auf den wohlbekannten Fall von Barnwell Anspielung auf Lillos Schauspiel »Der Kaufmann von London«, in dem ein junger Kaufmann Georg Barnwell um eine Dirne zugrunde gerichtet war. Dieses Werk ist das Muster des bürgerlichen Trauerspiels geworden. Unter seinem Einfluß schrieb Lessing seine »Miß Sara Sampson«. und –«

»Was geht uns Georg Barnwell an«, fiel Sam ein, der diesem kurzen Zwiegespräch verwundert zugehört hatte. »Jedermann weiß, was das für ein Fall war, und es ist immer meine Ansicht gewesen, daß das junge Weibsbild den Strick eher verdiente als er. Doch das gehört nicht hierher. Sie wollen mich für einen halben Goldfuchs ausfragen. Gut, ich habe nichts dagegen – kann ich mehr tun, Sir? (Herr Pickwick lächelte.) Nun ist aber die zweite Frage, was zum Teufel Sie von mir wollen, wie der Mann sagte, als er den Geist sah Anspielung auf Shakespeares »Hamlet« – die Geister-Szene.

»Wir wünschen zu wissen –« sagte Herr Wardle.

»Ei, mein lieber Herr – mein lieber Herr«, fiel der geschäftige kleine Mann ein.

Herr Wardle zuckte die Achseln und schwieg.

»Wir wünschen zu wissen«, sagte der kleine Mann feierlich, »und wir fragen deshalb gerade Euch, um im Hause keine Besorgnisse zu erregen – wir wünschen zu wissen, sage ich, wer gegenwärtig im Wirtshause logiert.«

»Wer im Hause logiert?« versetzte Sam, in dessen Geist sich die Bewohner stets in der Form des Artikels vergegenwärtigten, der seiner unmittelbaren Besorgung anheimgegeben war. »Da ist ein Stelzfuß in Nummer Sechs«, ein Paar hessische Stiefel in Nummer Dreizehn, zwei Paar Halbstiefel in dem Krämerstübchen, diese gelben Stulpen in dem Kämmerchen neben dem Schenktisch, und fünf weitere Stulpenstiefel in dem Gastzimmer.«

»Weiter nichts?« fragte der kleine Mann.

»Halt, einen Moment«, versetzte Sam, sich plötzlich entsinnend. »Ein Paar ziemlich abgetragene Wellingtonstiefel und ein Paar Damenschuhe in Nummer Fünf.«

»Was sind das für Schuhe?« fragte Wardle hastig, den Sams wunderliche Aufzählung der Wirtshausgäste ebensosehr, wie Herrn Pickwick verwirrt hatte.

»Machwerk aus der Provinz«, entgegnete Sam.

»Und der Name des Meisters?«

»Brown.«

»Woher?«

»Von Muggleton.«

»Sie sind’s!« rief Herr Wardle. »Beim Himmel, wir haben sie gefunden.«

»Pst!« sagte Sam. »Die Wellingtonstiefel sind zu Doktors Commons gegangen.«

»Unerhört«, sagte der kleine Mann.

»Ja, er holt eine Lizenz.«

»Wir kommen gerade noch zur rechten Zeit«, rief Herr Wardle. »Zeigt uns das Zimmer: wir dürfen keinen Augenblick verlieren.«

»Bitte, lieber Herr – bitte«, sagte der kleine Mann: »nur vorsichtig – vorsichtig.«

Er zog aus seiner Tasche eine rotseidene Börse, sah Sam fest an und zog ein Goldstück heraus.

Sam verzog sein Gesicht zu einem ausdrucksvollen Grinsen.

»Führt uns rasch nach dem Zimmer, aber ohne uns anzumelden, und das Goldstück ist Euer«, sagte der kleine Mann.

Sam warf die gelben Stulpen in eine Ecke und ging durch einen dunklen Gang und ein weites Treppenhaus voran. Am Ende des zweiten Ganges hielt er inne und streckte seine Hand aus.

»Hier«, flüsterte der Sachwalter, als er das Geld in die Hand ihres Führers legte.

Sam trat noch einige Schritte weiter vor, wobei ihm die beiden Freunde und ihr rechtskundiger Ratgeber folgten: dann blieb er an einer Tür stehen.

»Ist dies das Zimmer?« fragte der kleine Herr leise.

Sam nickte bejahend.

Der alte Wardle öffnete die Tür, und alle drei traten in demselben Augenblick ins Zimmer, als Herr Jingle, der eben zurückgekehrt war, der Jungfer Tante die Lizenz vorlegte.

Die Jungfer Tante stieß einen lauten Schrei aus, warf sich in einen Sessel und bedeckte das Gesicht mit ihren Händen. Herr Jingle knüllte die Lizenz zusammen und steckte sie in seine Rocktasche. Die unwillkommenen Gäste traten in die Mitte des Zimmers.

»Ha – Sie elender – heilloser Schurke!« rief Herr Wardle, fast atemlos vor Zorn.

»Lieber Herr – lieber Herr«, sagte der kleine Mann, seinen Hut auf den Tisch legend. »Bitte, bedenken Sie doch – bitte. Großer Skandal, Ehrenkränkung, Entschädigungsklage. Beruhigen Sie sich, lieber Herr, bitte –«

»Wie konnten Sie sich unterstehen, meine Schwester aus meinem Hause zu entführen?« fragte der alte Mann.

»Ja – ja – sehr gut«, sagte der kleine Gentleman. »Das können Sie fragen. Wie konnten Sie sich unterstehen, Sir? – Antwort, Sir.«

»Wer zum Teufel sind denn Sie?« fragte Herr Jingle mit einer Heftigkeit, daß der kleine Herr unwillkürlich um einige Schritte zurücktrat.

»Wer er ist. Sie Halunke«, rief Herr Wardle dazwischen. »Mein Rechtsbeistand ist er – Herr Perker von Grans Inn. Perker, ich will, daß dieser Kerl gerichtlich verfolgt – zur Strafe gezogen wird – ja, ich will – ich will – Gott verdamme mich – ich will den Elenden zugrunde richten. Und du«, fuhr Herr Wardle, sich plötzlich an seine Schwester wendend, fort, du, Rachel, was soll das heißen, daß du in einem Alter, wo du doch einmal hättest klug werden sollen, mit einem Landstreicher davonläufst, Schande über deine Familie bringst und dich selber unglücklich machst? Setze deinen Hut auf und komm mit. Geschwind eine Mietkutsche, und bringt die Rechnung dieser Dame, hört Ihr – hört Ihr?«

»Sofort Sir«, versetzte Sam, der Herrn Wardles ungestümem Klingeln voll Eile Folge geleistet hatte. Jedem mußte das als ein Wunder erscheinen, der nicht gerade wußte, daß Ehren-Sam während des ganzen Vorgangs vor der Tür gestanden und durch das Schlüsselloch zugesehen hatte.

»Nimm deinen Hut«, wiederholte Wardle.

»Wird nichts gereicht«, sagte Jingle. »Das Zimmer verlassen, Sir – nichts zu schaffen hier – Dame ist frei – kann nach Gutdünken handeln – über einundzwanzig Jahre.«

»Über einundzwanzig?« rief Herr Wardle verächtlich. »Jawohl – über einundvierzig.«

»Das bin ich nicht«, sagte die Jungfer Tante, deren Entrüstung über den Entschluß, in Ohnmacht zu fallen, die Oberhand gewann.

»Allerdings«, versetzte Herr Wardle. »Es fehlt keine Stunde zu den Fünfzig.«

Hier stieß Jungfer Tante einen lauten Schrei des Entsetzens aus und sank besinnungslos zusammen.

»Ein Glas Wasser!« rief der menschenfreundliche Pickwick der Wirtin zu.

»Ein Glas Wasser?« sagte der leidenschaftliche Wardle. »Bringt einen Zuber und gießt ihn über sie. Es wird ihr gut bekommen, sie hat eine solche Abkühlung reichlich verdient.«

»Pfui – Sie Unmensch!« rief die empfindsame Wirtin, »Die arme Dame.«

Und mit noch einigen andern Ausrufen, als da waren: »Kommen Sie, meine Liebe – trinken Sie ein wenig – es wird Ihnen gut tun – nehmen Sie sich’s nicht so zu Gemüt – das ist die Liebe« und dergleichen, benetzte die Wirtin, von ihrem Dienstmädchen unterstützt, die Schläfen der ohnmächtigen Jungfer Tante mit Essig, rieb ihr die Hände, kitzelte ihr die Nase, löste ihr Korsett und wandte die sonstigen üblichen Belebungsmittel an, mit denen mitleidige Frauen Damen beizuspringen pflegen, die sich bemühen, in Krämpfe und Ohnmacht zu fallen.

»Die Kutsche ist bereit, Sir«, sagte Sam, sich in der Tür zeigend.

»So kommt!« rief Herr Wardle. »Ich will sie die Treppe hinuntertragen.«

Bei diesem Vorschlage erneuerten sich die Krämpfe mit verdoppelter Heftigkeit.

Die Wirtin war eben im Begriff, einen sehr heftigen Protest gegen dieses Verfahren einzulegen, und hatte sich auch bereits durch die unwillige Frage, ob sich Herr Wardle für den Herrn der Schöpfung halte, Luft gemacht, als Herr Jingle sich ins Mittel legte.

»Hausknecht«, sagte er, »holt einen Polizeibeamten herbei.«

»Halt! halt!« sagte der kleine Herr Perker. »Überlegen Sie, Sir – überlegen Sie.«

»Ich will nichts überlegen«, versetzte Herr Jingle. »Sie ist ihr eigener Herr – will sehen, wer sich untersteht, sie fortzunehmen – gegen ihren Willen.«

»Ich will nicht fort«, flüsterte die Jungfer Tante; »mit meinem Willen gewiß nicht.«

Hier trat ein schrecklicher Rückfall ihres Zustandes ein.

»Meine lieben Herren«, sagte der kleine Mann leise, indem er Herrn Wardle und Herrn Pickwick beiseite nahm: »meine lieben Herren, wir sind da in einer verdrießlichen Lage. Es ist allerdings ein Unglück – gewiß; ein Unglück, wie mir nie eins vorgekommen. Aber in der Tat, meine lieben Herren, wir haben durchaus kein Recht, den freien Willen dieser Dame zu beschränken. Ich habe Sie im voraus darauf aufmerksam gemacht, lieber Herr, daß wir uns auf einen Vergleich gefaßt machen müßten.«

Es trat eine kurze Pause ein.

»Und welche Art von Vergleich würden Sie vorschlagen?« fragte Herr Pickwick.

»Je nun, lieber Herr, unser Freund ist in einer unangenehmen – in einer sehr unangenehmen Lage. Wir dürfen zufrieden sein, wenn wir mit einem Geldopfer davonkommen,«

»Ich will lieber alles über mich ergehen lassen, als diese Schmach geduldig hinnehmen und meine Schwester, so sehr sie es auch durch ihre Torheit verdient, einem lebenslänglichem Unglück preisgeben«, sagte Herr Wardle.

»Nun, ich denke fast, daß es gehen wird«, entgegnete der geschäftige kleine Mann. »Herr Jingle, wollen Sie einen Augenblick mit uns ins nächste Zimmer treten?«

Herr Jingle ließ sich’s gefallen, und die vier begaben sich in ein leeres Zimmer.

»Nun, Sir«, sagte der kleine Mann, nachdem er sorgfältig die Tür geschlossen hatte, »es gibt da keinen andern Weg, die Angelegenheit zu bereinigen – treten Sie einen Augenblick hierher, Sir – hierher, ans Fenster, wo wir uns allein besprechen können, Sir – so, Sir – ich bitte, nehmen Sie Platz, Sir. Unter uns gesagt, lieber Herr, wir wissen, daß Sie mit dieser Dame nur um ihres Geldes willen davongegangen sind. Runzeln Sie nicht die Stirn, Sir – runzeln Sie nicht die Stirn: wir sprechen ja unter uns, und unter dem wir verstehe ich nur Sie und mich. Wir sind beide Weltmänner und wissen recht wohl, daß dies bei unsern Freunden dort nicht der Fall ist – wie?«

Herrn Jingles Gesicht heiterte sich allmählich wieder auf, und etwas, das einem Blinzeln des Einverständnisses ähnlich sah, zuckte für einen Moment um sein linkes Auge.

»Sehr gut, sehr gut«, sagte der kleine Mann, als er den Eindruck, den er gemacht hatte, gewahrte. »Die Sache verhält sich indessen so, daß die Dame, ein paar hundert Pfund abgerechnet, vor dem Tode ihrer Mutter über wenig oder nichts zu verfügen hat, und diese ist noch eine sehr gesunde und rüstige Frau, mein lieber Herr.«

» Alt«, versetzte Herr Jingle kurz, aber mit nachdrücklicher Betonung.

»Nun ja«, sagte der Sachwalter mit einem leisen Husten. »Sie haben recht, lieber Herr, sie ist ziemlich alt. Aber sie stammt aus einer alten Familie, mein lieber Herr, alt in jedem Sinne des Worts. Der Gründer dieser Familie kam nach Kent, als Julius Cäsar in Britannien einfiel – und seitdem ist, mit Ausnahme eines einzigen, der unter einem der Heinriche enthauptet wurde, kein Glied dieser Familie vor dem fünfundachtzigsten Jahr gestorben. Die alte Dame ist jetzt dreiundsiebzig, lieber Herr.«

Der kleine Mann hielt inne und nahm eine Prise Tabak.

»Was weiter, lieber Herr? – Darf ich Ihnen keine Prise anbieten? Nicht? Ah, um so besser – kostspielige Angewohnheit. Nun, lieber Herr, Sie sind ein hübscher, junger Mann – ein Weltmann – könnten Ihr Glück machen, wenn Sie Vermögen hätten – nicht wahr?«

»Wozu das?« entgegnete Herr Jingle.

»Begreifen Sie mich nicht?«

»Nicht ganz.« ___

»Meinen Sie nicht – nun, lieber Herr, ich stelle es Ihnen nur anheim, aber meinen Sie nicht, daß fünfzig Pfund und die Freiheit besser wären, als Fräulein Wardle und ein langes Warten?«

»Geht nicht – nicht halb genug!« sagte Herr Jingle aufstehend.

»Besinnen Sie sich doch, mein lieber Herr«, wandte der kleine Sachwalter ein, indem er Jingle beim Rockknopf faßte, »’s ist eine schöne runde Summe – ein Mann wie Sie könnte sie in ganz kurzer Zeit verdreifachen. Mit fünfzig Pfund läßt sich was Schönes anfangen, lieber Herr.«

»Aber noch mehr mit hundertfünfzig«, entgegnete Herr Jingle kaltblütig.

»Nun, lieber Herr, wir wollen die Zeit nicht mit Strohdreschen verlieren«, nahm der kleine Mann wieder auf. »Sagen Sie – sagen Sie siebzig.«

»Reicht nicht«, versetzte Herr Jingle.

»Bleiben Sie doch, mein lieber Herr – bitte, eilen Sie nicht so sehr«, erwiderte der kleine Mann. »Achtzig? Kommen Sie – ich schreibe Ihnen auf der Stelle die Anweisung.«

»Ist nicht genug«, sagte Herr Jingle.

»Wohlan, lieber Herr«, entgegnete der kleine Mann, ihn noch immer zurückhaltend, »so sagen Sie mir geradezu, wieviel Sie haben wollen.«

»Kostspielige Angelegenheit«, versetzte Herr Jingle. »Geld aus meiner Tasche – Post, neun Pfund – Lizenz, drei – macht zwölf – Entschädigung hundert – hundertzwölf – Ehrenkränkung – Verlust der Dame –«

»Nun, nun, lieber Herr«, sagte der kleine Mann mit einem schlauen Blick, »die beiden letzten Punkte wollen wir aus dem Spiel lassen. Hundertzwölf – sagen Sie hundert.«

»Und zwanzig«, fügte Herr Jingle bei.

»Kommen Sie: ich will Ihnen die Anweisung schreiben«, entgegnete der kleine Mann, der sich in dieser Absicht an den Tisch setzte.

»Übermorgen zahlbar«, sagte der kleine Mann mit einem Blick auf Herrn Wardle; »und wir können inzwischen die Dame mitnehmen.«

Herr Wardle nickte verdrießlich seine Zustimmung.

»Hundert?« sagte der kleine Mann.

»Und zwanzig«, ergänzte Herr Jingle.

»Mein lieber Herr«, entgegnete der kleine Mann in einem Tone, der ihm die Sache richtig vorstellen sollte.

»Schreiben Sie«, fiel ihm Herr Wardle ins Wort, »daß wir den sauberen Zeisig loswerden.«

Der kleine Mann schrieb die Anweisung, und Herr Jingle steckte sie in seine Tasche.

»Aber jetzt verlassen Sie dieses Haus augenblicklich!« rief Herr Wardle auffahrend.

»Mein lieber Herr«, wandte der kleine Mann ein.

»Und merken Sie sich’s«, fuhr Herr Wardle fort, »daß mich nichts – nicht einmal die Rücksicht für die Ehre meiner Familie – veranlaßt haben würde, diesen Vergleich einzugehen, wenn ich nicht wüßte, daß Sie mit dem Geld in der Tasche womöglich noch früher dem Teufel in den Rachen laufen werden, als es ohnedem der Fall wäre –«

»Mein lieber Herr«, suchte der kleine Mann aufs neue zu beschwichtigen.

»Beruhigen Sie sich, Perker«, versetzte Herr Wardle. »Verlassen Sie das Zimmer, Sir.«

»Soll augenblicklich geschehen«, erwiderte der unverschämte Komödiant. »Gott befohlen – Gott befohlen – Pickwick.«

Wenn ein leidenschaftsloser Zeuge zuletzt während der erwähnten Besprechung das Gesicht dieses ausgezeichneten Mannes hätte sehen können, den der Titel unseres Buches als den Haupthelden gegenwärtiger Blätter bezeichnet, so würde er sich wohl nicht wenig gewundert haben. Denn die Glut der Entrüstung, die aus den Augen des Ehrenmannes leuchtete, und die nicht zuletzt seine Brillengläser schmolz – ließ ihn geradezu majestätisch erscheinen in seinem Zorn. Seine Nasenlöcher zitterten und seine Fäuste ballten sich unwillkürlich, als er sich in der erwähnten Weise von dem Schurken begrüßen hörte. Aber er hielt wieder an sich – er rieb ihn nicht zu Staub.

»Da«, fuhr der verhärtete Bösewicht fort, indem er Herrn Pickwick die Lizenz vor die Füße warf: »Namen ändern lassen – alte Jungfer nach Haus nehmen – gut für Tuppy.«

Herr Pickwick war ein Philosoph; aber Philosophen sind im Grunde doch weiter nichts als geharnischte Menschen. Der Pfeil war gut gezielt und hatte durch den Panzer der Philosophie seinen Weg in das innerste Herz des Mannes gefunden. In der Überfülle seiner Wut schleuderte er Jingle das Tintenfaß nach und rannte wie toll hinter ihm her. Aber dieser war bereits verschwunden, und Herr Pickwick fand sich plötzlich von Sams Armen aufgehalten.

»Holla, Schreibgerät muß wohlfeil sein, wo Sie herkommen«, sagte der vortreffliche Stiefelgeneral. »Eine Tinte, die selber schreibt und überall ihre Zeichen an die Wand malt, alter Herr! Halten Sie – halten Sie, Sir! Was nützt es, einem Menschen mit so langen Beinen nachzurennen, der schon am andern Ende des Borough ist?«

Herrn Pickwicks Geist war – wie der aller wahrhaft großen Männer – jedem vernünftigen Grunde zugänglich. Er war ein rascher und tiefer Denker, und die Überlegung eines Augenblicks war genügend, ihn an die Machtlosigkeit seiner Wut zu erinnern. Sie dämpfte sich daher so schnell wieder, wie sie losgebrochen war. Er verschnaubte und warf wohlwollende Blicke auf seine Freunde.

Sollen wir den Leser mit den Wehklagen unterhalten, die nun folgten, als sich Fräulein Wardle von dem treulosen Jingle verlassen sah? Sollen wir einen Auszug aus Herrn Pickwicks meisterhafter Beschreibung dieser herzzerbrechenden Szene geben? Sein Tagebuch, mit Tränen teilnehmender Humanität bekleckst, liegt offen vor uns. Ein Wort, und es ist in den Händen des Druckers. – Doch nein! wir sind entschlossen. Fern sei es von uns, die Empfindungen unserer Leser mit der Schilderung eines so herben Schmerzes peinlich zu berühren.

Langsam und traurig kehrten andern Tags die beiden Freunde nebst der verlassenen Jungfrau mit der schwerfälligen Muggletoner Postkutsche nach Hause. Düster und trübe lagerte der schwarze Mantel einer Sommernacht auf den Fluren, als sie Dingley Dell erreichten und an dem Portale von Manor Farm aus dem Wagen stiegen.

Zwölftes Kapitel.


Zwölftes Kapitel.

Enthält eine weitere Reise und eine antiquarische Entdeckung; Herrn Pickwicks Entschluß, einer Parlamentswahl beizuwohnen; Manuskript des alten Geistlichen.

Eine Nacht der Ruhe in dem tiefen Schweigen von Dingley Dell und der Spaziergang einer Stunde in der duftigen erfrischenden Morgenluft reichten hin, bei Herrn Pickwick die Folgen der vorausgegangenen Körperermüdung und Gemütbedrückung zu verscheuchen. Dieser treffliche Mann war zwei ganze Tage von seinen Freunden und Jüngern getrennt gewesen, und es gehört keine gewöhnliche Phantasie dazu, den Grad der Freude und des Entzückens zu schildern, womit er Herrn Winkle und Herrn Snodgraß begrüßte, als er diesen Herren auf dem Heimwege von seinem frühen Spaziergange begegnete. Die Freude war gegenseitig, denn wer hätte Herrn Pickwicks strahlendes Gesicht sehen können, ohne an dem, was in seinem Innern vorging, teilzunehmen. Aber es schien doch auf den Zügen seiner Begleiter eine Wolke zu schweben, die dem großen Manne nicht entgehen konnte, und die er sich durchaus nicht zu enträtseln wußte. Es lag etwas Geheimnisvolles in ihrem Wesen, das ihn um so mehr beunruhigte, je ungewöhnlicher es war.

»Und was –« sagte Herr Pickwick, nachdem er seinen beiden Freunden die Hand gedrückt und sie sich gegenseitig aufs herzlichste bewillkommt hatten – »was macht Tupman?«

Herr Winkle, an den diese Frage vornehmlich gerichtet war, schwieg. Er wandte das Gesicht ab und schien von einer wehmütigen Erinnerung ergriffen zu werden.

»Snodgraß«, sagte Herr Pickwick ernst, »was macht unser Freund? Er ist doch nicht krank?«

»Nein«, versetzte Herr Snodgraß, und eine Träne zitterte an seiner gefühlvollen Wimper wie ein Regentropfen an einem Fensterrahmen. »Nein; er ist nicht krank.«

Herr Pickwick blieb stehen und sah abwechselnd bald den einen, bald den andern seiner Freunde an.

»Winkle – Snodgraß«, rief Herr Pickwick: »was soll das heißen? Wo ist unser Freund? Was ist vorgefallen? Sprecht – ich bitte – ich beschwöre – nein, ich befehle es euch – sprecht!« Es lag eine Feierlichkeit – eine Würde in Herrn Pickwick« Benehmen, denen sich nicht widerstehen ließ.

»Er ist fort«, sagte Herr Snodgraß.

»Fort?« rief Herr Pickwick; »fort?«

»Fort«, wiederholte Herr Snodgraß.

»Wo?« rief Herr Pickwick.

»Wir können nur Vermutungen aufstellen, die uns diese Zeilen an die Hand geben«, entgegnete Herr Snodgraß, indem er ein Schreiben aus seiner Tasche zog und es seinem Freunde überreichte. Gestern morgen, als ein Brief von Herrn Wardle mit der Meldung einlief, daß er am Abend seine Schwester zurückbringen würde, bemerkten wir, daß die Schwermut, die sich unseres Freundes tags zuror schon bemächtigt hatte, zunahm. Bald nachher verschwand er. Wir vermißten ihn den ganzen Tag über, und am Abend brachte uns der Stallknecht aus der Krone in Muggleton diesen Brief. Tupman hatte ihn am Morgen dort gelassen, mit der ausdrücklichen Einschärfung, ihn vor Abend nicht abzugeben.

Herr Pickwick öffnete den Brief. Es war die Handschrift seines Freundes und enthielt folgende Zeilen:

»Mein lieber Pickwick!

Sie, mein teurer Freund, sind außer dem Bereich vieler Gebrechlichkeiten und Schwächen, denen der gewöhnliche Mensch so gern anheimfällt. Sie wissen nicht, was es heißt, auf einmal von einem lieblichen, bezaubernden Wesen verlassen zu sein und das Opfer eines Elenden zu werden, der unter der Maske der Freundschaft die grinsende Fratze der Arglist verbarg. Ich hoffe auch, daß Sie es nie erfahren mögen.

Ein Brief unter der Adresse Lederne Flasche, Cobham in Kent‘ wird an mich gelangen – wenn ich noch am Leben bin. Ich fliehe den Anblick einer Welt, die mir verhaßt geworden ist. Sollte ich sie ganz und gar verlassen, so bemitleiden Sie mich, und vergeben Sie mir. Das Leben, mein lieber Pickwick, ist mir unerträglich geworden. Der Mut, der in der Seele flammt, ist des Lastträgers Tragriemen, an dem die schwere Bürde der Erdenmühen und Erdensorgen hängt – nehmen Sie ihn weg, so erdrückt uns das Gewicht. Teilen Sie dies Rachel mit – ach, dieser Name! –

Tracy Tupman.«

»Wir müssen auf der Stelle von Dingley Dell aufbrechen«, sagte Herr Pickwick, als er das Schreiben wieder zusammenlegte. »Es wäre nach dem, was vorgefallen, unter keinen Umständen für uns schicklich, länger hier zu bleiben. Wir haben die Verpflichtung, unserm Freunde zu folgen und ihn aufzusuchen.«

Mit diesen Worten ging er nach dem Hause voran.

Er tat daselbst unverzüglich sein Vorhaben kund und blieb, trotz der dringendsten Bitten, unerschütterlich. Geschäfte, sagte er, forderten seine unverzügliche Abreise.

Der alte Geistliche war zugegen.

»Wie, ist’s Ihnen wirklich Ernst, abzureisen?« sagte er, indem er Pickwick beiseite nahm.

Herr Pickwick wiederholte seine frühere Versicherung.

»So empfangen Sie hier ein kleines Manuskript«, fuhr der alte Herr fort, »von dem ich mir das Vergnügen versprach, es Ihnen selbst vorzulesen. Ich fand es unter den hinterlassenen Papieren eines Freundes von mir – eines Arztes an dem Irrenhaus unserer Grafschaft. Die Papiere wurden mir zum Verbrennen oder Aufbewahren, je nachdem ich es für gut fände, überantwortet. Ich kann kaum glauben, daß das Manuskript wirklich von einem Irren herrührt, obschon es keinesfalls die Handschrift meines Freundes ist. Mag es übrigens wirklich das Konzept eines Wahnsinnigen, oder den Rasereien irgendeines Unglücklichen nachgebildet sein, was mir wahrscheinlicher dünkt – lesen Sie es und urteilen Sie dann selbst.«

Herr Pickwick nahm das Manuskript und verabschiedete sich von dem wohlwollenden alten Herrn unter vielen Achtungs- und Freundschaftsversicherungen.

Schwerer wurde der Abschied von den Bewohnern Manor Farms, bei denen sie so viele Liebe und Gastfreundchaft genossen hatten. Herr Pickwick küßte die jungen Damen – wir hätten beinahe gesagt, als ob sie seine eigenen Töchter gewesen wären. Aber es schien diesem Gruße ein bißchen zu viel Feuer beigemischt zu sein, als daß dieser Vergleich ganz passend wäre. Er umarmte die Dame mit der Zärtlichkeit eines Sohnes und tätschelte die roten Wangen der Dienstmädchen in ziemlich patriarchalischer Weise, während er in die Hände einer jeden einige substantiellere Beweise seines Wohlwollens drückte. Noch herzlicher war der Abschied von ihrem wackeren alten Wirt und Herrn Trundle, und sie vermochten sich erst von den freundlichen Menschen loszureißen, als endlich nach vielem Rufen Herr Snodgraß aus einem dunklen Gange auftauchte, dem bald hernach Emilie mit nicht ganz so wie sonst leuchtenden Augen folgte.

Sie sahen oft nach Manor Farm zurück, als sie langsam weitergingen, und Herr Snodgraß warf manches Kußhändchen nach einem Gegenstand in die Luft, der ziemlich wie ein Damentaschentuch aussah und solange aus einem der oberen Fenster flatterte, bis sie in einen Feldweg einbogen und die Hecken das alte Haus verbargen. In Muggleton verschafften sie sich eine Mietkutsche nach Rochester.

Als sie an diesem Ort anlangten, hatte sich das Übermaß ihres Schmerzes soweit gelegt, daß sie ein ausgezeichnetes Mittagessen zu sich nehmen konnten. Sobald sie dann die nötigen Erkundigungen über den Weg eingeholt hatten, setzten sich die drei Freunde wieder in Bewegung, um eine Nachmittagsfußpartie nach Cobham Cobham ist eine kleine Ortschaft in der Grafschaft Kent mit einem Schloß, das durch seine Gemäldefammlung berühmt ist. Die Sammlung enthält Tizian, Rubens, van Dyk. Bei dem Schloß ist ein schöner Park. zu machen.

Es war ein köstlicher Spaziergang – ein angenehmer Juninachmittag, wobei sie der Weg durch einen dichten, schattigen Wald führte. Der kühle, leichte Wind säuselte sanft in dem reichen Blätterwerke, und die Vögel auf den Zweigen belebten die Landschaft durch ihre Lieder. Moos und Efeu bedeckten dicht die Rinde der alten Bäume, und das sanfte Grün des Rasens bekleidete den Grund wie ein seidener Teppich. Sie gelangten in einen offenen Park mit einer alten Halle in der malerischen und eigenartigen Bauart aus Elisabeths Zeiten. Auf jeder Seite zeigten sich lange Alleen aus stattlichen Eichen und Ulmen; große Rudel von Hochwild erquickten sich an dem frischen Grase. Hin und wieder lief ihnen ein aufgeschreckter Hase ebenso schnell über den Weg, wie die von den leichten Wolken geworfenen Schatten, einem Sommerlüftchen gleich, über ein sonnige Landschaft dahinfliegen.

»O wenn doch« – rief Herr Pickwick, sich in der Gegend umsehend – »wenn doch alle, die mit unserm Freunde das gleiche Leiden bedrückt, hierher kämen! Gewiß, die frühere Liebe zu der Welt müßte bald wieder zurückkehren.«

»Mir aus der Seele gesprochen«, sagte Herr Winkle.

»Und in der Tat«, fügte Herr Pickwick nach einer halben Stunde, als sie bei einem Dorfe angelangt waren, hinzu, »wenn man dabei bedenkt, daß ein Menschenhasser diesen Park geschaffen hat, so muß man sagen, daß das der schönste und lieblichste Aufenthalt ist, der mir je zu Gesicht kam.«

Auch damit waren Herr Winkle wie Herr Snodgraß einverstanden. Sie fragten nun nach der Ledernen Flasche und wurden an ein reinliches und bequemes Dorfwirtshaus gewiesen, in das die drei Reisenden traten und sich nach einem Herrn, Namens Tupman, erkundigten.

»Fuhre die Herren ins Gastzimmer, Tom«, sagte die Wirtin.

Ein stämmiger Bauernbursche öffnete an dem Ende des Hausflurs eine Tür, und die drei Freunde traten in ein langes niedriges Zimmer, in dem eine große Zahl von gepolsterten Sesseln mit hohen, wunderlich geschnitzten Lehnen stand. Eine Reihe alter Porträts und rauhkolorierter altertümlicher Bilder zierten die Wände. Am oberen Ende stand eine gedeckte Tafel mit gebratenem Geflügel, Schinken, Bier und dergleichen. Dahinter aber war Herr Tupman in einer Weise beschäftigt, die auf nichts weniger, als auf einen lebensüberdrüssigen Menschen schließen ließ.

Bei dem Eintritt seiner Freunde legte Herr Tupman Messer und Gabel nieder und trat ihnen mit einer Miene voll Trauer entgegen.

»Ich erwartete nicht, Sie hier zu sehen«, sagte er, Herrn Pickwicks Hand ergreifend. »Es ist zu gütig von Ihnen.«

»Ach«, sagte Herr Pickwick, indem er sich niedersetzte und den Schweiß, den ihm der Spaziergang verursacht, von der Stirn wischte. »Beenden Sie Ihr Mahl, und kommen Sie dann ein wenig mit mir ins Freie. Ich wünsche allein mit Ihnen zu sprechen.«

Herr Tupman tat, was von ihm verlangt wurde, und Herr Pickwick labte sich inzwischen an einer Kanne Bier. Die Mahlzeit wurde schleunigst beendet, und beide gingen miteinander hinaus.

Man sah sie ungefähr eine halbe Stunde in dem Kirchhof auf und ab spazieren, in der Herr Pickwick sich alle Mühe gab, den fürchterlichen Entschluß seines Freundes zu bekämpfen. Eine Wiederholung seiner Gründe wäre indessen ein fruchtloses Unterfangen: denn welche Sprache vermöchte Kraft und Ausdruck wiederzugeben, die das ganze Gebaren ihres Urhebers begleiteten? Ob Herr Tupman bereits seiner Einsamkeit müde war, oder ob er der eindringlichen Beredsamkeit seines Freundes nicht ganz widerstehen konnte – gleichviel, Tatsache ist, daß er nicht widerstand.

»Es kümmere ihn wenig«, sagte er, »wo er den Rest seines kummervollen Daseins hinschleppe! und da sein Freund einmal einen so großen Wert auf seine unbedeutende Begleitung lege, so wolle er sich’s ja gefallen lassen, ferner an seinen Abenteuern teilzunehmen.«

Herr Pickwick lächelte. Sie drückten sich die Hände und gingen zurück, um sich mit ihren Gefährten zu vereinen.

In diesem Augenblick machte Herr Pickwick jene unsterbliche Entdeckung, die der Stolz und der Ruhm seiner Freunde war und die Altertumsforscher aller Länder mit dem giftigsten Neide erfüllte. Sie waren an der Tür ihres Gasthauses vorbeigekommen und ein wenig ins Dorf hinuntergegangen, ehe sie sich der Stelle entsinnen konnten, wo es wirklich stand. Als sie wieder umkehrten, fiel Herrn Pickwicks Blick auf einen kleinen zerbrochenen Stein vor der Tür eines Bauernhauses, der halb in der Erde steckte. Er blieb stehen.

»Das ist doch sonderbar«, sagte Herr Pickwick.

»Was ist sonderbar?« fragte Herr Tupman, der jeden Gegenstand in seiner Nähe anschaute, nur den rechten nicht. »Gott behüte uns, was gibt’s denn?«

Es handelt sich nämlich um den Aufschrei eines nicht zu bewältigendcn Erstaunens, dadurch veranlaßt, daß Herr Pickwick, ganz begeistert von seiner Entdeckung, vor dem kleinen Steine auf die Knie niederfiel und mit seinem Taschentuche den Schmutz davon abzuwischen begann.

»Da ist eine Inschrift«, sagte Herr Pickwick.

»Ist’s möglich?« versetzte Herr Tupman.

»Ich kann es erkennen«, – fuhr Herr Pickwick fort, indem er aus Leibeskräften rieb und mit der höchsten Spannung durch seine Brille sah – »ich kann es erkennen – ein Kreuz und ein B, und dann ein T, Das ist wichtig«, fügte Herr Pickwick aufspringend hinzu. »Es ist irgendeine sehr alte Inschrift, vielleicht schon älter als die alten Armenhäuser dieses Orts. Sie darf nicht verlorengehen.«

Er klopfte an die Tür des Bauernhauses. Der Besitzer öffnete.

»Wißt Ihr mir nicht anzugeben, wie dieser Stein hierher kam, mein Freund?« fragte der wohlwollende Herr Pickwick.

»Nein, Sir«, antwortete der Bauer höflich; »er liegt schon hier, viel früher, als ich oder einer von uns geboren wurde.«

Herr Pickwick warf einen triumphierenden Blick auf seine Gefährten.

»Ihr – Ihr – legt vermutlich keinen besonderen Wert darauf«, sagte Herr Pickwick, zitternd vor innerer Beklemmung, »Würdet Ihr ihn nicht verkaufen?«

»Uh, wer würde ihn wohl kaufen?« fragte der Mann mit einem Ausdruck in seinem Gesicht, der wahrscheinlich sehr pfiffig sein sollte,

»Mit einem Wort, ich gebe Euch zehn Schillinge dafür, wenn Ihr ihn für mich ausgraben wollt«, entgegnete Herr Pickwick.

Man kann sich das Erstaunen des ganzen Dorfes vorstellen, als Herr Pickwick den Stein, der mit einem einzigen Spatenriß dem Grunde entnommen war, unter nicht geringer körperlicher Anstrengung eigenhändig nach dem Wirtshaus trug, und denselben, nachdem er ihn zuvor sorgfältig gewaschen, auf den Tisch legte.

Das Frohlocken und die Freude der Pickwickier kannte keine Grenzen; als endlich ihre Geduld und ihre Emsigkeit im Waschen und Abkratzen von günstigem Erfolg gekrönt wurde. Der Stein war uneben und zerbrochen, die Buchstaben standen schief und unregelmäßig. Trotzdem ließ sich das folgende Bruchstück einer Inschrift deutlich entziffern.


BILST
VM
PSSEI
NGRE
N.Z.
EICH
EN.

Herrn Pickwicks Augen leuchteten vor Entzücken, als er sich niedersetzte und den aufgefundenen Schatz von allen Seiten betrachtete. Er hatte das höchste Ziel seines Ehrgeizes erreicht. In einer wegen der Überreste aus früheren Jahrhunderten berühmten Grafschaft, in einem Dorfe, in dem sich gegenwärtig noch einige Denkwürdigkeiten älterer Zeiten vorfanden, hatte er – er, der Präsident des Pickwick-Klubs – eine seltsame und merkwürdige Inschrift von unzweifelhaft altem Ursprunge entdeckt, die der Beobachtung so vieler gelehrten Forscher vor ihm entgangen war. Er konnte kaum dem Zeugnis seiner Sinne trauen.

»Das – das« – sagte er – »gibt den Ausschlag. Wir kehren morgen nach London zurück.«

»Morgen?« riefen seine verwunderten Begleiter.

»Ja, morgen«, sagte Herr Pickwick. »Dieser Schatz muß rasch nach einem Orte gebracht werden, wo er mit Muße gründlich untersucht und gehörig verstanden werden kann. Auch habe ich noch einen andern Grund für diesen Schritt. In einigen Tagen findet eine Parlamentswahl in dem Flecken Eatonswill statt, in dem Herr Perker, ein Gentleman, den ich kürzlich kennenlernte, als Agent für einen der Kandidaten auftreten wird. Wir wollen Zeugen sein, und eine Szene, die für jeden Engländer von so hoher Wichtigkeit ist, aufs sorgfältigste beobachten.«

»Ja, das wollen wir«, stimmten die drei Freunde sehr lebhaft bei.

Herr Pickwick sah umher. Die Wärme und Anhänglichkeit seiner Jünger entzündete eine begeisterte Glut in seinem Innern. Er war ihr Führer und fühlte es.

»Wir wollen dieses glückliche Zusammentreffen durch einen guten Schluck feiern«, sagte er.

Der Vorschlag wurde, wie die früheren, mit einstimmigem Beifall aufgenommen. Nachdem Herr Pickwick den wichtigen Stein in einem von der Wirtin erkauften Bretterkistchen verpackt hatte, setzte er sich oben an dem Tische in einen Armstuhl. Sie verbrachten den Abend in heiterem Genusse und froher Unterhaltung.

Es war elf Uhr vorbei – eine späte Stunde für das kleine Dorf Cobham – als sich Herr Pickwick nach dem Schlafgemache begab, das für ihn bereitet war. Er öffnete das mit einem Gitter verwahrte Fenster, stellte das Licht auf den Tisch und erging sich in einer Reihe von Betrachtungen über die sich so rasch folgenden Ereignisse der letzten zwei Tage.

Ort und Stunde waren fürs Nachdenken gleich günstig, und Herr Pickwick wurde erst daraus geweckt, als die Turmuhr zwölf schlug. Der erste Glockenton drang feierlich an sein Ohr, sobald aber der letzte ausgeklungen hatte, wurde ihm die tiefe Stille unerträglich – es war ihm fast, als hätte er einen Freund verloren. Er fühlte sich angegriffen und aufgeregt, entkleidete sich rasch, stellte das Licht auf den Kamin und ging zu Bett.

Jeder hat wohl schon den unbehaglichen Zustand erfahren, in dem das Gefühl körperlicher Ermattung vergebens gegen die Schlaflosigkeit ankämpft. Auch bei Herrn Pickwick war dies gegenwärtig der Fall. Er warf sich von einer Seite auf die andere, und schloß beharrlich die Augen, als wolle er dadurch den Schlummer locken; aber vergeblich. Lag nun der Grund in der ungewohnten Anstrengung des Tages, in dem genossenen Grog oder in dem fremden Bette – wie dem auch sein mag, seine Gedanken kehrten ohne Unterlaß zu den grausigen alten Bildern in der Gaststube und zu den alten Erzählungen zurück, wozu diese im Laufe des Abends Anlaß gegeben hatten. Nachdem er sich in dieser Weise eine Stunde ruhelos umhergeworfen hatte, kam er zu der unbehaglichen Überzeugung, daß er vergeblich einzuschlafen versuchte, weshalb er aufstand und sich teilweise ankleidete. »Alles«, dachte er, »ist besser, als daliegen in Phantasien allerschrecklichster Art.« Er sah zum Fenster hinaus – es war sehr dunkel. Er ging im Zimmer auf und ab – und fühlte sich höchst einsam.

Er war etliche Male vom Fenster zur Tür und von der Tür zum Fenster spaziert, als ihm zum ersten Male das Manuskript des alten Geistlichen wieder ins Gedächtnis kam. Ein guter Einfall! Bot es wenig Interesse, so mochte es ihn vielleicht in Schlaf wiegen. Er holte es daher aus seiner Rocktasche, rückte einen kleinen Tisch an die Seite seines Bettes, schneuzte das Licht, setzte seine Brille auf, und begann zu lesen. Es war eine wunderliche Handschrift – die Blätter bekleckst und beschmutzt. Auch der Titel hatte etwas Unheimliches, und Herr Pickwick konnte nicht umhin, ängstliche Blicke im Zimmer umherzuwerfen. Nach einiger Überlegung fühlte er jedoch die Albernheit, solchen Gefühlen Raum zu geben; er putzte das Licht abermals und las, wie folgt:

»Manuskript eines Irren.

Ja! – eines Irren! Wie mir dieses Wort vor vielen Jahren ins Herz geschnitten hätte! Wie es das Entsetzen, das mich zuweilen anzuwandeln pflegte, geweckt und das Blut glühend und zischend durch meine Adern gejagt haben würde, bis der kalte Tau der Angst in großen Tropfen auf meiner Haut gestanden und meine Knie vor Furcht eingeknickt wären! Aber jetzt liebe ich es. Es ist ein schönes Wort. Zeigt mir den Monarchen, dessen finsteres Zürnen je so gefürchtet worden wäre, wie der starre Blick des Wahnsinns – dessen Stricke und Beile nur halb so sicher wären, wie der Griff eines Tollen. Ha! ha! Es ist etwas Großes, wahnsinnig zu sein – angesehen zu werden wie ein wilder Löwe durch die Stäbe des Eisengitters – die lange stille Nacht durch zu heulen und mit den Zähnen zu knirschen und lustig mit den Ketten darein zu klirren – und dann, im Entzücken über diese köstliche Musik, sich im Stroh zu wälzen und zu wühlen. Es lebe das Tollhaus! O, es ist ein herrlicher Aufenthalt!

Ich erinnere mich der Zeit, wo mich der Gedanke, wahnsinnig zu sein, mit einem solchen Entsetzen erfüllte, daß ich oft, wenn ich aus dem Schlafe ausfuhr, auf die Knie niederfiel und brünstig zu Gott flehte, er möchte mich mit dem Fluche meiner Familie verschonen. Daß ich den Anblick der Heiterkeit und des Glückes floh, um mich an einsamen Orten zu verbergen, und manche schleppende Stunde damit zubrachte, die Fortschritte des Fiebers zu beobachten, das mein Gehirn verzehrte. Ich wußte, daß der Wahnsinn meinem Blute beigemischt war und in dem Mark meiner Knochen steckte; daß zwar eine Generation von dieser Pest bewahrt geblieben, aber daß ich der erste sei, bei dem sie wieder ins Leben treten würde. Ich wußte, daß es so sein mußte, daß es immer so gewesen und daß es immer so sein würde; und wenn ich mich in einem vollen Saale in irgendeine dunkle Ecke zurückzog und die Leute flüstern, sich zuwinken und die Augen nach mir richten sah, so wußte ich, daß sie von dem zum Wahnsinn Verdammten sprachen, und schlich hinweg, um in der Einsamkeit meinen Träumereien nachzuhängen.

So währte es Jahre – lange, lange Jahre. Die Nächte hier sind hin und wieder auch lang – sehr lang; aber sie sind nichts gegen die qualvollen, ruhelosen Nächte und schrecklichen Träume, die mich damals heimsuchten. Ein Schauder überläuft mich, wenn ich nur daran denke. Große, düstere Gestalten mit tückischen, höhnenden Gesichtern drückten sich in die Ecken meines Schlafgemachs, und beugten sich des Nachts über mein Bett, um mich wahnsinnig zu machen. Sie erzählten mir in leisem Flüstern, der Boden des alten Hauses, in dem der Vater meines Vaters starb, sei von seinem Blute befleckt, das er in tollem Wahnsinne selber vergoß. Ich hielt mir die Ohren zu, aber es schrie in meinem Kopfe, bis das Zimmer widerdröhnte, daß zwar eine Generation vor ihm vor Wahnsinn bewahrt geblieben, daß aber sein Großvater Jahre lang an die Erde gefesselt gewesen wäre, damit er sich nicht selbst in Stücke risse. Ich wußte, daß sie mir die Wahrheit sagten – ich wußte es nur zu gut. Ich hatte es Jahre lang vorher schon herausgefunden, obgleich man es mir zu verbergen suchte. Ha, ha! Ich war ihnen zu schlau, obgleich sie mich für toll hielten.

Endlich kam der Wahnsinn zum Ausbruch, und nun nahm es mich wunder, wie ich mich je davor hatte fürchten können. Ich konnte jetzt unter die Leute gehen und mit ihnen lachen und schreien, so gut wie einer. Ich wußte, daß ich wahnsinnig war, aber sie hatten nicht die mindeste Ahnung davon. Wie entzückt war ich in meinem Innern über den Streich, den ich ihnen jetzt spielte – ihnen, die früher auf mich deuteten und nach mir blinzelten, als ich noch nicht toll war, sondern nur in der Furcht lebte, ich könnte es eines Tages werden! Und wie jauchzte ich vor Freude, wenn ich allein war und dachte, wie gut ich mein Geheimnis zu wahren wußte, und wie rasch meine Freunde von mir weichen würden, wenn sie die Wahrheit erführen. Ich hätte vor Lust laut aufschreien mögen, wenn ein lärmender Zechgenosse allein mit mir speiste und ich mir das Leichengesicht und die behenden Beine des Mannes vorstellte, wenn er gewußt hätte, daß der liebe Freund, der neben ihm saß und sein Messer schärfte, ein Toller wäre, der die Macht und halb auch den Willen hätte, das gefährliche Werkzeug in sein Herz zu stoßen. O, es war ein lustiges Leben!

Reichtümer flossen mir zu. Schätze ergossen sich in meine Kassen und ich schwelgte in Vergnügen, deren Genuß durch das Bewußtsein von meinem wohlverborgenen Geheimnis tausendfältigen Wert für mich bekam. Ich erbte weitläufige Besitzungen. Das Gesetz – sogar das adlerscharfe Gesetz ließ sich täuschen und spielte umstrittene Tausende in die Hand eines Wahnsinnigen. Wo war der Verstand der scharfsichtigen, sogenannten vernünftigen Leute? Wo die Gewandtheit der Rechtsgelehrten, die sonst so leicht Nichtigkeitsgründe aufzufinden wissen? Die Schlauheit des Tollen hatte sie alle überlistet.

Ich hatte Geld. Nie machte man mir den Hof! Ach verschwendete es. Nie wurde ich gepriesen! Wie sich jene drei stolzen, hochmütigen Brüder vor mir demütigten! Und auch der alte, grauköpfige Vater – welche Achtung – welche Ehrerbietigkeit – welche aufopfernde Freundschaft! – ja, er betete mich an. Der alte Mann hatte eine Tochter, die jungen Männer eine Schwester, und alle fünf waren arm. Ich war reich, und als ich das Mädchen heiratete, sah ich in dem triumphierenden Lächeln, das auf den Gesichtern ihrer dürftigen Verwandten spielte, daß sie sich über das Gelingen ihres wohlangelegten Planes und der schönen Beute freuten. Es war an mir, zu lächeln. Zu lächeln? Nein, laut hinaus zu brüllen, die Haare zu raufen und auf der Erde zu kugeln vor lauter Entzücken. Sie ließen sich’s nicht träumen, die Tochter und Schwester an einen Wahnsinnigen verkuppelt zu haben.

Doch halt! Wenn sie es auch gewußt hätten, würden sie das Mädchen geschont haben? Das Glück einer Schwester gegen das Gold ihres Gatten – ist es mehr, als die leichteste Feder, die ich in die Luft blasen kann, im Vergleich zu der glänzenden Kette, die meinen Körper schmückt?

In einem Punkte wurde ich übrigens trotz meiner Schlauheit getäuscht. Wäre ich nicht wahnsinnig gewesen – denn obgleich die Tollen sonst gescheit genug sind, so stellt sich doch hin und wieder eine Verwirrung bei ihnen ein – so würde ich doch gewußt haben, daß das Mädchen weit lieber kalt und steif in einem bleiernen Sarge, denn als beneidete Braut in meinen Prunkgemächern wäre. Ich würde gewußt haben, daß ihr Herz einem schwarzäugigen Jungen gehörte, dessen Namen ich einmal in dem Flüstern ihres unruhigen Schlafes nennen hörte, wobei sie zugleich Andeutungen fallen ließ, sie sei mir geopfert worden, um den alten, weißköpfigen Mann und die hochmütigen Brüder der Armut zu entreißen.

Ich kann mich mancher Gestalten und Gesichter nicht mehr recht erinnern, aber ich weiß, daß das Mädchen schön war. Ich weiß das ganz gewiß; denn in hellen Mondnächten, wenn ich aus dem Schlafe aufschreckte, sehe ich still und regungslos in einem Winkel dieser Zelle eine leichte, welke Gestalt mit langen, schwarzen, über die Schultern fallenden Locken stehen, die sich von keinem irdischen Winde bewegen – die Augen starr auf mich geheftet, ohne je damit zu zucken oder sie zu schließen. Pst! das Blut strömt mir eiskalt zum Herzen, während ich dies niederschreibe. Es ist ihre Gestalt; das Gesicht ist sehr blaß und die Augen glänzen wie Glas? aber ich kenne sie wohl. Diese Gestalt bewegt sich nie, Verzicht nie die Stirn und den Mund, wie es die andern tun, die bisweilen diesen Ort erfüllen. Aber sie ist mir sogar noch schrecklicher, als die Gespenster, die mich vor Jahren zum Wahnsinn verlockten – sie kommt eben aus dem Grabe und hat ganz das Aussehen einer Leiche.

Fast ein Jahr lang sah ich dieses Gesicht immer blasser werden. Fast ein Jahr lang sah ich Tränen über die trauervollen Wangen rinnen, ohne daß ich den Grund kannte. Aber endlich kam ich doch darauf. Man konnte es mir nicht länger verbergen. Sie hatte mich nie geliebt, und ich glaubte auch nie, daß sie mich liebte. Sie verachtete meinen Reichtum und haßte den Glanz, der sie umgab; – das hatte ich nicht erwartet. Sie liebte einen andern. An eine solche Möglichkeit hatte ich nie gedacht. Seltsame Gefühle bemächtigten sich meiner, und irgendeine geheimnisvolle Macht flüsterte mir Gedanken zu, die in meinem Hirne wirbelten und tobten. Sie haßte ich nicht, wohl aber den Menschen, um den sie immer weinte. Ich beklagte – ja, ich beklagte – das elende Leben, zu dem sie von ihren kalten und selbstsüchtigen Verwandten verdammt worden war. Ich wußte, daß sie nicht lange leben konnte; aber der Gedanke, sie möchte vor ihrem Tode einem unglücklichen Geschöpf das Leben geben, das die Bestimmung trüge, den Wahnsinn auf seine Kinder wieder fortzupflanzen, gab den Ausschlag. Ich faßte den Entschluß, sie zu ermorden.

Viele Wochen lang trug ich mich mit dem Gedanken, sie zu vergiften, dann, sie zu ertränken und dann, sie zu verbrennen. Ein herrliches Schauspiel – das große Haus in Flammen, in denen das Weib des Wahnsinnigen zu Asche brannte. Dann auch noch der Spaß, eine große Belohnung für die Entdeckung des Täters auszusetzen und einen vernünftigen Menschen für eine Tat, die er nie beging, im Winde baumeln zu sehen – und all das durch die Schlauheit eines Wahnsinnigen! Ich dachte oft an diesen Plan, aber endlich gab ich ihn wieder auf. O, welch eine Lust ist es, Tag für Tag Rasiermesser zu schärfen, die Schärfe der Schneide zu befühlen und an das Klaffen zu denken, das ein Schnitt mit diesem dünnen, glänzenden Stahl hervorbringen würde!

Endlich flüsterten mir die Geister, die mich früher so oft besucht hatten, ins Ohr, die Zeit wäre gekommen und drückten mir dabei das offene Rasiermesser in die Hand. Ich faßte es mit festem Griff, stand leise von dem Bett auf und beugte mich über mein schlafendes Weib. Ihr Gesicht war mit den Händen bedeckt. Ich entfernte sie sacht, und sie sanken auf ihre Brust. Sie hatte geweint, denn ihre Wangen trugen noch die feuchten Spuren von Tränen. Ihr Gesicht war sanft und ruhig, und in dem Augenblicke, als ich sie betrachtete, überflog ein leichtes Lächeln ihre blassen Züge. Ich legte leise meine Hand auf ihre Schulter. Sie fuhr auf – aber nur ob eines vorübergehenden Traumgesichts. Ich beugte mich abermals über sie. Sie schrie auf und erwachte.

Eine einzige Bewegung meiner Hand würde für immer jeden Laut aus ihrer Kehle erstickt haben. Aber ich war erschreckt und trat zurück. Ihre Augen waren fest auf die meinen geheftet. Ich weiß nicht, wie es zuging, aber sie schüchterten mich ein und lähmten meinen Mut. Sie erhob sich aus dem Bett und richtete unverwandt ihre Blicke auf mich. Ich zitterte; das Rasiermesser war in meiner Hand, aber ich konnte nicht von der Stelle. Sie ging auf die Tür zu. Als sie in deren Nähe kam, drehte sie sich um, und wandte die Augenvoon meinem Gesicht ab. Der Zauber war zerstört. Ich sprang auf sie zu und umfaßte ihren Arm. Schrei folgte auf Schrei, und sie sank zur Erde.

Jetzt hätte ich sie, ohne Widerstreben ermorden können, aber der Lärm hatte alles im Hause auf die Beine gebracht. Ich hörte Fußtritte auf den Treppen, brachte das Rasiermesser wieder an seinen Ort, öffnete die Tür und rief laut nach Hilfe.

Man kam, hob sie auf und legte sie wieder auf ihr Bett. So lag sie einige Stunden besinnungslos da; aber mit Leben und Sprache kehrte die Vernunft nicht mehr wieder; sie tobte in wilden und wütenden Delirien.

Man rief Ärzte herbei – große und berühmte Männer, die in prächtigen Equipagen, mit wunderschönen Pferden und prunkenden Livreedienern vorführen. Sie kamen wochenlang kaum von ihrem Bett. Endlich hielten sie eine Beratung und unterhielten sich mit leisen und feierlichen Stimmen in einem Nebenzimmer miteinander. Einer, der berühmteste von ihnen, nahm mich dann bei Seite, bat mich, ich solle mich auf das Schlimmste gefaßt machen, und erklärte mir – mir, dem Wahnsinnigen – daß mein Weib wahnsinnig sei. Er stand mit mir an einem offenen Fenster, blickte mir ins Gesicht, und seine Hand ruhte dabei auf meinem Arm. Mit einem Ruck hätte ich ihn auf die Straße hinunterschleudern können. Es wäre ein köstlicher Spaß gewesen, wenn ich es getan hätte; aber mein Geheimnis stand auf dem Spiele – und so ließ ich ihn gehen. Ein paar Tage hernach sagten sie mir, ich müßte meine Frau aufs strengste beaufsichtigen lassen und ihr einen Wärter an die Seite geben. – Ich! – Ich ging ins Freie, wo mich niemand hören konnte, und lachte, daß die Luft von meinem Jauchzen widertönte.

Sie starb des andern Tages. Der weißköpfige alte Mann folgte ihr zum Grabe, und die stolzen Brüder ließen eine Träne auf die starre Leiche der Unglücklichen fallen, deren Leiden sie, als sie noch lebte, ohne mit der Wimper zu zucken, mit angesehen hatten. All das war Nahrung für meine innere Lust, und ich lachte beim Heimfahren von dem Leichenbegängnis hinter dem weißen Taschentuch, das ich vor mein Gesicht hielt, daß mir die Tränen ins Auge traten.

Aber obgleich ich meinen Plan durchgeführt und sie unter die Erde gebracht hatte, so war ich doch unruhig und verstört. Ich fühlte, daß mein Geheimnis nicht lange mehr verborgen bleiben konnte. Ich vermochte nicht die wilde Lust und Freude, die in meinem Innern kochte, zu verbergen; ich mußte ihr, wenn ich allein zu Hause war, durch Hüpfen, Tanzen, Zusammenschlagen der Hände und lautes Hinausbrüllen Luft machen. Ging ich aus und sah ich eine geschäftige Menge durch die Straßen oder nach dem Theater eilen, oder hörte ich Musik und bemerkte ich Tanzende, so fühlte ich eine so tobende Lust, daß ich in die Häuser hätte brechen, den Leuten Glied für Glied vom Leibe reißen und laut aufheulen mögen in tollem Entzücken. Aber ich knirschte mit den Zähnen, stampfte mit den Füßen auf die Erde, und grub meine scharfen Nägel in meine Hände. Ich hielt mich gewaltsam zurück, und noch ahnte kein Mensch, daß ich wahnsinnig sei.

Ich erinnere mich noch – obgleich das unter die letzten Dinge gehört, deren ich mich noch entsinnen kann; denn von nun an vermische ich die Wirklichkeit mit meinen Träumen, und da ich so viel zu tun habe, daß ich mit der größten Eile nicht fertig zu werden vermag, so gebricht es mir an Zeit, beide aus der wunderlichen Verwirrung, in der sie vor mir auftauchen, zu trennen – ich erinnere mich noch, wie ich endlich meinen Zustand kundwerden ließ. Ha! ha! Es ist mir, als sähe ich noch die entsetzten Blicke, als fühlte ich noch die Leichtigkeit, womit ich sie von mir schleuderte, ihnen die geballten Fäuste in die aschfahlen Gesichter schlug, und dann auf den Flügeln des Windes dahineilte, die schreiende und tobende Menge weiter hinter mir zurücklassend. Die Kraft eines Riesen kehrte in meine Muskeln zurück, wenn ich nur daran denke. Da – seht, wie diese Eisenstange sich unter meinem wütenden Griff biegt. Ich könnte sie zerbrechen wie einen dürren Ast, wenn nur nicht die langen Gänge mit den vielen Türen wären – ich glaube nicht, daß ich mich zurechtfinden könnte – und wenn auch, ich weiß recht wohl, daß unten eiserne Tore sind, die man immer verriegelt und verschlossen hält. Sie wissen, mit was für einem schlauen Tollen sie es zu tun haben, und sie sind stolz darauf, mich hier zu haben, um mich zeigen zu können.

Laßt mich sehen, – ja; ich hatte einen Ausgang gemacht. Es war spät in der Nacht, als ich nach Hause kam, und ich traf den hochmütigsten der drei hochmütigen Brüder, der auf mich wartete – eines eiligen Geschäfts wegen, wie er sagte. Ich exinnere mich noch recht gut. Ich haßte diesen Menschen mit dem ganzen Hasse des Wahnsinns. Oft genug hatte es mir schon in den Fingern gejuckt, ihn zu zerreißen. Man sagte mir, daß er da wäre. Ich eilte rasch die Treppe hinauf. Er hatte mir etwa« mitzuteilen. Ich entließ die Dienerschaft. Es war spät und wir befanden uns allein – zum erstenmal.

Ich hielt anfangs meine Augen sorgsam von ihm angewandt; denn ich wußte, wovon er keine Ahnung hatte – ja, ich freute mich der Überzeugung, daß die Glut des Wahnsinns wie strahlendes Feuer aus meinen Blicken leuchtete. Wir saßen einige Minuten schweigend da. Endlich fing er an zu sprechen. Meine Ausschweifungen und die sonderbaren Reden so bald nach dem Tode seiner Schwester wären eine Kränkung ihres Andenkens. Wenn er das mit vielen Umständen, die anfangs seiner Beobachtung entgangen, zusammenhalte, so müsse er glauben, daß ich sie nicht gut behandelt hätte. Er wollte wissen, ob seine Annahme, ich beabsichtige einen Schatten auf ihr Andenken zu werfen und ihre Familie zu kränken, richtig sei. Er sei es der Uniform, die er trage, schuldig, diese Erklärung zu fordern.

Dieser Mensch hatte ein Offizierspatent bei der Armee – ein Patent, das mit meinem Gelde und mit dem Elend seiner Schwester erkauft war. Er war der Rädelsführer des Komplotts, das mich verstricken und ihm Griffe in meine Kassen erlauben sollte. Er war das Hauptwerkzeug gewesen, womit man die Schwester zwang, mich zu heiraten, obgleich er wußte, daß ihr Herz jenem Knaben mit der Kinderstimme gehörte. Seiner Uniform schuldig! Der Livree seiner Schande! Ich wandte meine Augen nach ihm – ich konnte nicht anders – aber ich sprach kein Wort. Ich sah die plötzliche Veränderung, die unter dem Glutstrahl meiner Blicke in ihm vorging. Er war ein kühner Mann, aber die Farbe wich aus seinem Gesicht – er rückte den Stuhl zurück. Ich rückte mit dem meinigen nach, und als ich lachte – ich war damals sehr lustig –, sah ich, daß er schauderte. Ich fühlte, wie der Wahnsinn in mir aufbrauste. Er fürchtete sich vor mir.

›Sie haben Ihre Schwester sehr geliebt, als sie noch am Leben war‹ – sagte ich – ›o gewiß, sehr geliebt!‹

Er sah unruhig im Zimmer umher, und ich gewahrte, wie seine Hand die Lehne seines Stuhles ergriff; aber er antwortete nicht.

›Ha, elender Bube‹, sagte ich; ›ich weiß alles; ich bin dem höllischen Komplott, das Ihr gegen mich geschmiedet, auf die Spur gekommen und weiß, daß ihr Herz an einem andern hing, ehe Ihr sie zwangt, mein Weib zu werden. Ich weiß es – ich weiß es.‹

Er sprang von seinem Stuhle auf, schwang denselben in der Luft und rief mir zu, zurückzutreten – denn ich war ihm, während ich sprach, immer näher gerückt.

Ich schrie eher, als ich sprach, denn ich fühlte ungestüme Leidenschaft durch meine Adern wirbeln, und die alten Geister flüsterten mir mit höhnendem Grinsen zu, ich solle ihm das Herz aus dem Leibe reißen.

›Gott verdamme dich‹, rief ich auffahrend und auf ihn losstürzend; ›ich habe sie getötet. Ich bin ein Wahnsinniger. Nieder mit dir! Blut – Blut muß ich sehen.‹

Ich warf den Stuhl, den er in seinem Entsetzen nach mir schleuderte, mit einem Schlage bei Seite, rückte ihm auf den Leib, und wir beide stürzten mit einem dumpfen Krachen zur Erde.

Ein herrlicher Kampf – denn er war ein großer starker Mann, der sich um sein Leben wehrte und ich ein Toller, der mit der Kraft des Wahnsinns rang und nach seinem Blute dürstete.

Ich kannte keine Kraft, die der meinen widerstehen konnte – und ich hatte recht. Abermals recht, obgleich ich wahnsinnig war! Sein Kämpfen wurde immer schwächer. Ich kniete auf seine Brust und umkrallte seine Rechte mit ehernen Griffen. Sein Gesicht wurde purpurrot, seine Augen sprangen aus dem Kopfe hervor, und er schien mich mit der hervortretenden Zunge zu verhöhnen. Ich drückte immer fester.

Die Tür flog plötzlich geräuschvoll auf, und eine Menge Volks drang herein, das sich gegenseitig zurief, den Wahnsinnigen zu ergreifen.

Mein Geheimnis war verraten, und mein Kampf galt jetzt nur noch meiner Freiheit. Ich war, ehe mich noch eine Hand berührte, wieder auf den Beinen, stürzte mich auf die Angreifenden und bahnte mir mit so kräftigen Armen, als hätte ich ein Beil in der Hand, mit dem ich alles niederschmetterte, einen Weg. Ich erreichte die Tür, schwang mich über das Treppengeländer und befand mich im Nu auf der Straße.

Ich eilte immer gerade aus, aber niemand wagte es, mich anzuhalten. Ich hörte den Ton von Fußtritten hinter mir und verdoppelte meine Hast. Die Tritte der Verfolger ließen sich immer schwächer und schwächer vernehmen und erstorben endlich ganz und gar. Aber immer noch jagte ich weiter über Sumpfgründe und Gräben, über Hecken und Zäune unter wildem Jubelgeschrei, und die wunderlichen Wesen, die mich von allen Seiten umgaben, stimmten darin überein, daß die ganze Luft von dem Geheule erfüllt war. Ich wurde von den Armen der Dämonen getragen, die im Winde dahinfegten und alle Hindernisse vor sich niederwarfen; das Getümmel und die Eile, womit sie mich fortzogen, machten mich schwindlig, bis sie mich endlich gewaltsam abschleuderten und ich mit einem schweren Falle auf die Erde stürzte. Als ich wieder erwachte, fand ich mich hier – hier in dieser lustigen Zelle, wo mich die Sonne selten besucht, deren Strahlen nur dazu dienen, mir die dunklen Schatten, die mich umringen, und die stumme Gestalt in ihrem Winkel zu zeigen. Wenn ich wachend daliege, so höre ich bisweilen wunderliche Rufe, die aus fernen Teilen dieses großen Gebäudes zu mir dringen. Was sie zu bedeuten haben, weiß ich nicht; aber sie kommen nie von der bleichen Gestalt, die ihrer nicht einmal achtet. Von den ersten Schatten des Abends bis zum frühsten Licht des Morgens steht sie regungslos an demselben Platz, horcht auf die Musik meiner Eisenkette und sieht zu, wie ich in meinem Strohlager wühle.«

 

Am Schlüsse dieses Manuskripts stand, von einer andern Hand geschrieben, folgende Note:

»Der Unglückliche, dessen Zustand in den vorstehenden Zeilen geschildert ist, bietet ein trauriges Beispiel von den verderblichen Folgen schlechter Erziehung und so lange fortgesetzter Ausschweifungen, bis sich ihre Folgen nicht mehr gutmachen ließen. Das wüste Leben seiner jüngeren Jahre hatte Fieber und Raserei erzeugt. In dieser bemächtigte sich seiner die wunderliche Vorstellung, daß der Wahnsinn in seiner Familie erblich sei – eine Vorstellung, die sich auf eine wohlbekannte pathologische Theorie gründete: sie wird teils von den Ärzten scharf bestritten, teils mit Nachdruck festgehalten. Das veranlaßte einen Trübsinn, der nach und nach in entschiedenen tobsüchtigen Wahnsinn überging. Es ist aller Grund zum Glauben vorhanden, daß die mitgeteilten Tatsachen, freilich in ihrer Darstellung durch eine kranke Phantasie verdreht, wirklich stattgefunden hatten, und wenn man die Verirrungen seiner Jugend kennt, so muß man sich nur wundern, daß seine Leidenschaften, sobald sie einmal des Zügels der Vernunft entbehrten, ihn nicht zu noch schrecklicheren Taten verleitet haben.«

Herrn Pickwicks Licht war ganz heruntergebrannt, als er mit dem Lesen des Manuskripts fertig war, und als das Licht plötzlich ohne ein vorangehendes warnendes Flackern auslöschte, schrak er in seinem aufgeregten Zustande lebhaft zusammen. Er warf hastig die Kleidungsstücke, die er beim Aufstehen angezogen, wieder ab, sah sich furchtsam im Gemache um, hüllte sich rasch in die Bettücher und verfiel bald darauf in tiefen Schlaf.

Der Morgen war schon weit vorgerückt, und die Sonne schien herrlich in sein Schlafgemach, als er erwachte. Die Beklemmung der letzten Nacht war mit den dunklen Schatten, die das Land umfingen, gewichen, und er fühlte in seinem Innern die Leichtigkeit und Heiterkeit des Morgens. Nach einem kräftigen Frühstück machten sich die vier Reisenden nebst einem Manne, der den Stein in dem Bretterkistchen trug, nach Gravesend auf den Weg. Sie erreichten diese Stadt gegen ein Uhr (ihr Gepäck hatten sie bereits von Rochester aus nach London zurückschicken lassen), und da sie glücklicherweise auf einem Postwagen noch Außensitze fanden, so langten sie gesund und heiter noch denselben Abend in ihrer Heimat an.

Die nächsten drei oder vier Tage verbrachten sie mit Vorbereitungen für ihren Besuch in dem Wahlflecken Eatanswill. Da jedoch der Bericht über alles, was auf dieses wichtige Unternehmen Bezug hat, ein gesondertes Kapitel fordert, so begnügen wir uns, in den Schlußzeilen des gegenwärtigen, die weitere Geschichte der antiquarischen Entdeckung in aller Kürze mitzuteilen.

Aus den Klubverhandlungen erhellt, daß Herr Pickwick in einer den Abend nach seiner Rückkehr abgehaltenen Generalversammlung eine Vorlesung über seinen Fund hielt, in der er viele scharfsinnige und gelehrte Vermutungen über die Bedeutung der Inschrift preisgab. Es wird darin auch mitgeteilt, daß ein geschickter Künstler eine getreue Zeichnung der Merkwürdigkeit angefertigt und diese lithographiert hatte, um Abdrücke davon der königlichen Altertumsforschergesellschaft und andern gelehrten Korporationen zu übersenden. Dieser Schritt setzte viele neidische und eifersüchtige Federn in Bewegung, wie denn auch Herr Pickwick selbst eine Broschüre erscheinen ließ, in der er auf sechsundvierzig engbedruckten Seiten siebenundzwanzig verschiedene Erklärungen der Inschrift veröffentlichte. Eine weitere Folge war, daß drei alte Herren ihre erstgeborenen Söhne mit dem Pflichtteil von einem Schilling testamentarisch bedachten, weil sie sich unterfangen hatten, den antiquarischen Wert der Entdeckung in Zweifel zu ziehen – daß ein enthusiastischer Altertumsfreund aus Verzweiflung, weil er den Sinn der Inschrift nicht zu ergründen vermochte, sich selbst entleibte – daß Herr Pickwick zum Ehrenmitglied von siebzehn einheimischen und fremden Gesellschaften ernannt wurde – und schließlich, daß keine dieser siebzehn Gesellschaften etwas aus der rätselhaften Schrift zu machen wußte, und daher alle darüber einstimmten, daß der Fund ein höchst außerordentlicher wäre.

Nur Herr Blotton – möge dieser Name der ewigen Verachtung aller Verehrer des Geheimnisvollen und Erhabenen anheimfallen – wir sagen, nur Herr Blotton unterfing sich, mit der Zweifelsucht und Sophistik gemeiner Seelen einen Erklärungsversuch geltend zu machen, der eben so schimpflich wie lächerlich war. Herr Blotton hatte nämlich, erfüllt von dem niedrigen Wunsche, den Glanz des unsterblichen Namens »Pickwick« zu besudeln, in Person eine Reise nach Cobham gemacht, und erlaubte sich nun nach seiner Rückkehr in einer Rede an den Klub die sarkastische Bemerkung, daß er den Mann, von dem der Stein gekauft wurde, gesprochen und daß dieser allerdings über das Alter des Steins keine Auskunft zu geben gewußt, wohl aber das Alter der Inschrift feierlich in Abrede gestellt hätte. Diese wäre nichts mehr und nichts minder als eine Arbeit, die er selbst in müßiger Stunde ausgeführt und die bloß » Bill Stump sein Grenzzeichen« bedeuten solle, wobei sich der gute Stump mehr an den Klang der Worte, als an die strengen Regeln der Orthographie gehalten hätte.

Der Pickwick-Klub nahm, wie sich von einem so erleuchteten Institut erwarten läßt, diese Erklärung mit der gebührenden Verachtung auf, schloß den übelwollenden und anmaßenden Herrn Blotton aus dem Klubverbande aus und stiftete Herrn Pickwick eine goldene Brille zum Beweise seines Vertrauens und zur Anerkennung für seine Verdienste. Herr Pickwick ließ sich dagegen malen und das Porträt – das er, wie wir nebenbei bemerken müssen, nicht zerstört zu sehen wünschte, wenn er einige Jahre älter geworden – im Versammlungszimmer aufhängen.

Herr Blotton war zwar ausgestoßen, aber nicht besiegt. Er schrieb gleichfalls eine Broschüre, widmete sie den siebzehn gelehrten Gesellschaften, wiederholte darin die bereits gemeldeten Angaben, und ließ nicht undeutlich merken, daß er die besagten siebzehn Korporationen für nichts mehr und nichts weniger als für eben so viele »Narrenverbände« halte. Dadurch wurde natürlich die gerechte Entrüstung dieser siebzehn Gesellschaften geweckt, und es erschienen mehrere neue Flugschriften. Die fremden gelehrten Gesellschaften korrespondierten mit den einheimischen! die einheimischen übersetzten die Flugschriften der fremden ins Englische, die Fremden die Flugschriften der einheimischen in alle nur erdenklichen Sprachen, und so begann der berühmte wissenschaftliche Streit, der in aller Welt unter dem Namen »Pickwickfehde« so berühmt geworden ist.

Der nichtswürdige Versuch, Herrn Pickwicks Ruhm zu schmälern, fiel indessen auf das Haupt seines boshaften Urhebers zurück. Die siebzehn gelehrten Gesellschaften erklärten den anmaßenden Blotton für einen unwissenden Ränkespinner und schickten fleißiger als je Abhandlungen in die Welt. Und bis auf diesen Tag ist der Stein ein unlesbares Denkmal von Herrn Pickwicks Größe und ein unvergängliches Siegeszeichen über die Kleinlichkeit seiner Feinde.

Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Enthält einen bedeutungsvollen Vorfall, der sowohl in Herrn Pickwicks Leben, als in dessen Geschichte Epoche macht.

Herrn Pickwicks Zimmer in der Goßwellstraße, obschon von beschränktem Räume, gewährte doch eine sehr nette, bequeme und für einen Mann von seinem Genie und Beobachtungsgeist ganz besonders geeignete Wohnung. Sein Arbeitszimmer befand sich im ersten Stock, sein Schlafzimmer im zweiten, und beide lagen nach vorn hinaus, so daß Herr Pickwick, sowohl von seinem Schreibtisch im Wohnzimmer, als von seinem Ankleidespiegel im Schlafgemach aus gute Gelegenheit hatte, die menschliche Natur in allen ihren unzähligen Phasen an einem Platze zu beobachten, der ihm fortwährend ein buntes Volksleben vor die Augen führte. Seine Hauswirtin, Frau Bardell, die trostlose Hinterbliebene eines Zolleinnehmers, war eine resolute Frau von lebhaftem Temperament und angenehmem Äußern. Dabei war sie mit einem natürlichen Kochgenie begabt, das sie durch Studium und langjährige Praxis bis zu einer außerordentlichen Höhe ausgebildet hatte. In ihrem Hause gab es weder Kinder, noch Dienstboten, noch Federvieh. Seine einzigen Insassen waren, außer Herrn Pickwick, ein großer Mann und ein kleiner Knabe, der erstere ein Untermieter, der zweite ein Sprößling der Frau Bardell. Der große Mann war immer abends Punkt zehn Uhr zu Hause und pferchte sich zu dieser Stunde regelmäßig in die Grenzen einer zwerghaften französischen Bettstelle im hintern Zimmer zusammen. Die kindischen Spiele und gymnastischen Übungen des jungen Herrn Bardell aber waren ausschließlich auf die Plätze vor den Türen der Nachbarn und die Rinnsteine vor dem Hause beschränkt. Reinlichkeit und Stille herrschten in dem Bau, darinnen Herrn Pickwicks Wille als Gesetz galt.

Jedermann, der den geschilderten häuslichen Zustand und die bewundernswürdige Selbstbeherrschung Herrn Pickwicks gekannt hätte, würde sein Benehmen an dem Morgen vor dem zur Reise nach Eatanswill bestimmten Tage höchst mysteriös und sonderbar gefunden haben. Er ging mit raschen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, schaute alle drei Minuten einmal unruhig zum Fenster hinaus, sah fortwährend nach der Uhr, und ließ noch viele andere, bei ihm selten vorkommende Zeichen von Ungeduld wahrnehmen. Offenbar lag ihm etwas sehr Wichtiges im Sinne, doch was dieses Etwas sein möchte, vermochte selbst Frau Bardell nicht zn ergründen.

»Frau Bardell«, hob Herr Pickwick endlich an, als diese liebenswürdige Frau endlich mit ihrem ausdauernden Staubabwischen fast zu Ende gekommen war.

»Sir«, sagte Frau Bardell.

»Ihr kleiner Knabe bleibt sehr lange aus.«

»Ei, es ist aber auch ein ziemlich weiter Weg nach dem Borough, Sir«, entgegnete Frau Bardell.

»Da haben Sie freilich recht«, versetzte Herr Pickwick, versank abermals in Stillschweigen, und Frau Bardell fuhr mit dem Staubabwischen fort.

»Frau Bardell«, begann Herr Pickwick nach einigen Minuten von neuem.

»Sir«, sagte Frau Bardell, wie zuvor.

»Glauben Sie wohl, daß es bedeutend mehr kostet, zwei Personen zu unterhalten, als eine einzige?« fragte Herr Pickwick.

»Mein Gott, Herr Pickwick«, rief Frau Bardell aus, bis an den Rand ihrer Haube errötend, weil sie in den Augen ihres Mietsherrn ein heiratslustiges Blinzeln zu bemerken glaubte; »mein Gott, Herr Pickwick, was ist das für eine Frage?«

»Glauben Sie es wirklich?« fragte Herr Pickwick weiter.

»Tja, Herr Pickwick«, erwiderte Frau Bardell, mit ihrem Staubbesen seine auf dem Tische ruhenden Ellenbogen fast berührend, »das kommt ganz darauf an, ob es eine haushälterische und verständige Person ist, Sir.«

»Da haben Sie recht«, versetzte Herr Pickwick; »doch ich denke, daß die Person, die ich im Auge habe (bei diesen Worten fixierte er Frau Bardell sehr scharf) jene Eigenschaften, und noch überdies eine beträchtliche Weltkenntnis und viel Klugheit besitzt, Frau Bardell, was mir wesentliche Vorteile bringen dürfte.«

»Ach du mein Himmel, Herr Pickwick!« rief Frau Bardell aus, und errötete abermals bis an den Rand ihrer Haube.

»Ich bin wirklich davon überzeugt«, sagte Herr Pickwick, lebhafter werdend, wie es gewöhnlich bei ihm der Fall war, wenn er von einem ihn interessierenden Gegenstande sprach; »ich bin wirklich davon überzeugt, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Frau Bardell, ich habe bereits meinen festen Entschluß gefaßt.«

»Ach, du meine Güte, Sir!« rief Frau Bardell.

»Sie werden es allerdings auffallend finden«, fuhr der liebenswürdige Herr Pickwick fort, indem er dabei seine Hausgenossin mit freundlichem Lächeln anblickte, »daß ich Sie über diese Angelegenheit gar nicht zu Rate gezogen, und nicht eher etwas davon erwähnt habe, als in dieser Stunde, wo ich Ihren kleinen Knaben ausgeschickt – hihi, was sagen Sie?«

Frau Bardell konnte nur durch einen Blick antworten. Sie hatte Herrn Pickwick längst im stillen verehrt, und jetzt sah sie sich mit einem Male auf den Gipfel eines Glücks gehoben, das sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Herr Pickwick stand im Begriff, ihr einen Antrag zu machen – ein überlegter Plan! –, ja, nur deshalb hatte er ihren Knaben fortgeschickt – wie herrlich war das ausgedacht, und wie klug ausgeführt!

»Nun«, fragte Herr Pickwick, »was meinen Sie?«

»Ach, Herr Pickwick«, erwiderte Frau Bardell, vor innerer Bewegung zitternd, »Sie sind gar zu gütig, Sir.«

»Meinen Sie nicht, daß ich Ihnen ein gutes Teil Mühe dadurch ersparen würde?« fragte Herr Pickwick weiter.

»O, aus der Mühe mache ich mir gar nichts, Sir«, erwiderte Frau Bardell: »und ich will mich gern, um nur Sie zufrieden zu sehen, einer noch größeren als je unterziehen. Ach, es ist unaussprechlich viel Güte von Ihnen, Herr Pickwick, daß Sie auf meine verlassene Lage soviel Rücksicht nehmen!«

»Ich versichere Sie«, versetzte Herr Pickwick, »daran habe ich noch nicht einmal gedacht. Doch Sie werden, wenn ich in der Stadt bin, immer jemand haben, der bei Ihnen bleibt.«

»O Gott, ich werde eine sehr glückliche Frau sein«, sagte Frau Bardell.

»Und Ihr kleiner Knabe« – sagte Herr Pickwick.

»Der Himmel segne ihn!« unterbrach ihn Frau Bardell mit einem mütterlichen Seufzer.

»Auch er wird einen Gefährten haben, und zwar einen recht aufgeweckten, der ihn, ich will darauf wetten, in einer Woche mehr Schelmenstreiche lehren wird, als er sonst wohl in einem Jahre lernen würde.«

Herr Pickwick begleitete diese Worte mit einem gutmütigen Lächeln.

»O Sie lieber –«

Herr Pickwick stutzte.

»O Sie lieber, guter, herrlicher Mann!« rief Brau Bardell aus, sprang von ihrem Stuhle auf und schlang ohne weitere Umstände unter einem Katarakt von Tränen und einem Chor von Seufzern ihre Arme um Herrn Pickwicks Nacken.

»Gerechter Gott!« schrie Herr Pickwick, ganz außer sich: »Frau Bardell, gute Frau – du meine Güte! – welche Situation! – ich bitte, bedenken Sie doch – Frau Bardell – ich beschwöre Sie um alle» in der Welt – wenn jemand käme –«

»D, mag kommen, wer will!« rief Frau Bardell, in ihrer Liebesekstase ihn noch fester umschlingend: »ich lasse nicht von Ihnen – o Sie lieber, Sie teurer Mann!«

»Barmherziger Gott!« ächzte Herr Pickwick, indem er aus allen Kräften rang, sich von ihr loszumachen: »ich höre jemand auf der Treppe kommen. O, ich bitte Sie um Himmels willen, liebe Frau, seien Sie doch nur vernünftig!«

Aber alle Bitten und Vorstellungen blieben fruchtlos, denn Frau Bardell war in Pickwicks Armen in Ohnmacht gefallen, und ehe er Zeit gewinnen konnte, sie auf einen Stuhl niederzusetzen, trat Master Bardell in das Zimmer, gefolgt von Herrn Tupman, Herrn Winkle und Herrn Snodgraß.

Herr Pickwick war wie vom Donner gerührt. Seine liebliche Bürde in den Armen haltend, stand er bestürzt und regungslos da, und starrte seine Freunde an, ohne sie zu begrüßen, ja ohne auch nur den geringsten Versuch zu machen, ihnen eine Erklärung darüber zu geben. Seine Freunde machten große Augen, und Master Bardell glotzte alle zusammen an.

Da« Erstaunen der Pickwickier und die Verwirrung Herrn Pickwicks waren so überwältigend, daß wahrscheinlich sämtliche

 

Personen bis zum Wiedererwachen der Lebensgeister unserer guten Frau Bardell in ihren Stellungen verharrt sein würden, wenn sich nicht die kindliche Zärtlichkeit des Sprößlings der Ohnmächtigen auf eine höchst rührende Weise Luft gemacht hätte. Er war anfangs, in einem Korduroyanzug mit großen Metallknöpfen, erstaunt und ungewiß an der Tür stehengeblieben; aber schließlich kam er auf den Gedanken, daß Herr Pickwick seiner Mutter ein Leid angetan haben möchte; er erhob daher ein jämmerliches Geschrei, stürzte auf den unsterblichen Mann los und begann dessen Rücken und Beine mit Stößen und Knüffen so empfindlich zu bearbeiten, als es die Kraft seines kleinen Armes und das Ungestüm seiner Aufregung zuließ.

»Wehren Sie doch dem kleinen Schlingel!« rief der geängstigte Herr Pickwick; »er ist ja ganz des Teufels!«

»Was gibt es denn hier?« fragten die drei Pickwickier wie aus einem Munde.

»Ich weiß es nicht«, versetzte Herr Pickwick verdrießlich. »Schaffen Sie mir nur den Knaben vom Halse – (Herr Winkle zog den schreienden und um sich schlagenden interessanten Knaben in den entferntesten Winkel des Zimmers) – und helfen Sie mir die Frau die Treppe hinunterführen.«

»Ah, ich fühle mich wieder besser«, begann Frau Bardell mit schwacher Stimme.

»Erlauben Sie mir, Sie hinunter zu begleiten«, sagte der stets galante Herr Tupman.

»Ich nehme es mit Dank an, Sir – ich nehme es mit Dank an«, rief Frau Bardell in hysterischer Aufregung.

Und so wurde sie denn von Herrn Tupman die Treppe hinuntergeführt, während ihr das zärtliche Söhnlein folgte.

»Ich kann nicht begreifen«, sagte Herr Pickwick, als sein Freund zurückkehrte, »was dieser Frau eigentlich zugestoßen ist. Ich hatte ihr bloß meine Absicht angekündigt, einen männlichen Dienstboten anzunehmen, als sie in eine wahre Verzückung geriet und endlich in Ohnmacht fiel. Ein höchst merkwürdiger Fall!«

»Höchst merkwürdig!« riefen die drei Freunde aus.

»Sie versetzte mich in der Tat in eine ganz sonderbare Lage«, fuhr Herr Pickwick fort.

»Ganz sonderbar!« wiederholten seine Gefährten, ein wenig hustend und sich gegenseitig merkwürdige Blicke zuwerfend, die Herrn Pickwick nicht entgingen. Sie hatten ihn offenbar im Verdacht.

»Es wartet ein Mann auf dem Gange«, bemerkte Herr Tupman.

»Ohne Zweifel der Diener, an den ich dachte«, sagte Herr Pickwick. »Ich schickte diesen Morgen nach ihm. Haben Sie doch die Güte, ihn hereinzurufen, lieber Snodgraß.«

Herr Snodgraß tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf stellte sich Herr Samuel Weller vor.

»Ich denke, Ihr erinnert Euch meiner«, redete ihn Herr Pickwick an.

»Sollt’s meinen«, erwiderte Sam mit pfiffigem Blinzeln. »Ein wunderlicher Auftritt – aber er hat Ihnen doch allen ein Schnippchen geschlagen; fort war er, ehe einer in seine Tabaksdose greifen kann – was?«

»Lassen wir das jetzt«, fiel Herr Pickwick eilig ein; »ich wollte von etwas anderm mit Euch reden. Setzt Euch.«

»Danke Sir«, sagte Sam, und setzte sich, ohne sich weiter nötigen zu lassen, nachdem er seinen alten weißen Hut auf einen außen vor der Tür stehenden Tisch gelegt hatte. »Er sieht nicht zum besten aus«, bemerkte er, »sitzt aber erstaunlich gut und war ein sehr hübscher Deckel, ehe sich die Krempe lostrennte: er ist aber so leichter, das ist ein Vorteil – und dann läßt jedes Loch Luft herein, das ist der zweite – ein gesunder Abkühlungsapparat.«

Nach dieser Erörterung lächelte Herr Weller die versammelten Pickwickier freundlich an.

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick; »doch jetzt zur Sache, weswegen ich Euch habe rufen lassen.«

»Sehr wohl, Sir«, unterbrach ihn Sam: »nur heraus damit, wie der Vater zu dem Kinde sagte, als es einen Pfennig verschluckt hatte.«

»Vor allen Dingen möchte ich wissen«, fuhr Herr Pickwick fort, »ob Ihr aus irgendeinem Grunde mit Eurer gegenwärtigen Lage unzufrieden seid.«

»Bevor ich auf diese Frage antworte«, versetzte Sam, »möchte ich gern wissen, ob Sie mir etwa zu einer bessern verhelfen wollen?«

Ein Strahl gütigen Wohlwollens glänzte auf Herrn Pickwicks Angesicht, als er sagte:

»Ich habe unter Umständen vor, Euch selbst in Dienst zu nehmen.«

»Ach was?« sagte Sam.

Herr Pickwick nickte bejahend.

»Lohn?« sagte Sam.

»Zwölf Pfund jährlich«, erwiderte Herr Pickwick.

»Kleidung?«

»Zwei Anzüge.«

»Arbeit?«

»Ihr wartet mir auf und begleitet mich und diese Herren hier auf Reisen.«

»Also runter mit dem Bedientenbuch«, sagte Sam mit Nachdruck: »ich bin an einen einzelnen Herrn vermietet und mit den Bedingungen einverstanden.«

»Ihr nehmt also die Stelle an?« fragte Herr Pickwick.

»Gewiß«, erwiderte Sam: »wenn mir die Livree nur halb so gut paßt wie die Stelle, so wird’s schon gehen.«

»Ohne Zweifel werdet Ihr ein Zeugnis beibringen können?« fragte Herr Pickwick.

»Wenden Sie sich deshalb an die Wirtin vom Weißen Hirsch«, versetzte Sam.

»Könntet Ihr noch heute abend den Dienst antreten?«

»Augenblicks stecke ich mich in Ihre Livree, wenn sie zur Hand ist«, entgegnete Sam äußerst vergnügt.

»Sprecht heute abend um acht Uhr vor«, sagte Herr Pickwick, »und wenn meine Erkundigungen nach Wunsch ausfallen, werde ich für eine Livree sogleich Sorge tragen.«

Mit Ausnahme eines einzigen liebenswürdigen Fehltritts, an dem ein Hausmädchen gleichen Anteil hatte, war der Bericht über Herrn Wellers Betragen so rein von jedem Makel, daß Herr Pickwick sich völlig beruhigt fühlte und noch am selben Abend den Vertrag mit dem neuen Diener schloß. Mit der Raschheit und Energie, die nicht nur die öffentlichen, sondern auch die Privathandlungen dieses außerordentlichen Mannes kennzeichneten, führte er den Diener in eins der Konfektionsgeschäfte, wo alte und neue Herrenanzüge vorrätig sind und man der lästigen und unbequemen Formalität des Maßnehmens überhoben ist. Noch vor Einbruch der Nacht war Sam Weller mit einem grauen Rocke mit P.-C.-Knöpfen, einem schwarzen Hut mit einer Kokarde, einer fleischfarbenen, gestreiften Weste, lichten Beinkleidern und Gamaschen und mehreren andern Erfordernissen, deren Aufzählung den Leser belästigen könnte, ausstaffiert.

»Ich bin doch neugierig«, sagte unser plötzlich also verwandeltes Individuum, als es am nächsten Morgen den Außensitz der Eatanswiller Postkutsche eingenommen hatte, »ob ich einen Diener, einen Stallknecht, einen Hegereiter oder einen Portier vorstellen soll. Ich sehe wie eine Art Ragout von alledem ans. Doch, was macht das! Komme ich ja auf diese Weise zu einer Luftveränderung, kriege viel zu sehen und habe wenig zu tun, was mir alles ganz prächtig zusagt. Ich bleibe daher dabei: die Pickwickier sollen leben.«