Vierundzwanzigstes Kapitel.


Vierundzwanzigstes Kapitel.

In dem Herr Samuel Weller alle seine Kräfte aufbietet, mit Herrn Trotter eine alte Rechnung auszugleichen.

In einem kleinen Gemach, in der Nähe der Ställe, saß am Morgen, der auf Herrn Pickwicks Abenteuer mit der Dame von mittlerem Alter und den gelben Haarwickeln folgte, Herr Weller senior, mit den Vorbereitungen zu seiner Reise nach London beschäftigt. Seine Stellung war ganz dazu geeignet, sein Porträt zu zeichnen, weshalb wir es dem Leser vorführen wollen.

Es ist wohl möglich, daß Herrn Wellers Profil in einer früheren Periode seines Lebens kühne und scharfe Umrisse darbot. Aber unter dem Einfluß des »guten Lebens« und einer außerordentlichen Neigung zur Indolenz hatte er seine Dimensionen vergrößert, und seine kühnen fleischigen Formen waren so weit über die ihnen von Natur angewiesenen Grenzen getreten, daß es sehr schwer hielt, etwas mehr als die äußerste Spitze einer hochroten Nase zu entdecken, wenn man sein Gesicht nicht ganz en face betrachtete. Sein Kinn hatte aus derselben Ursache jene würdevolle und imposante Form angenommen, die man gewöhnlich durch Vorsehung des bedeutungsvollen »doppel« zu bezeichnen pflegt, und seine Gesichtsfarbe war aus jenen eigentümlichen Mischungen des Kolorits zusammengesetzt, die man nur bei Herren seines Gewerbes und bei halbgarem Rostbeef findet. Um seinen Nacken schlang sich ein karmoisinrotes Halstuch, wie man es auf Reisen zu tragen pflegt, und ging in so unmerklichen Stufen in das Kinn über, daß man kaum die Falten des einen von denen des andern unterscheiden konnte. Über den Enden des Tuches trug er eine lange Weste von rotgestreiftem Zeuge, und darüber wieder einen grünen Rock mit breitem Saum und großen Metallknöpfen, von denen die beiden, die in der Taille saßen, so weit von einander abstanden, daß man sie unmöglich zu gleicher Zeit sehen konnte. Sein kurzes, glattes, schwarzes Haar lugte kaum unter der breiten Krempe eines niederen braunen Hutes hervor. Seine Beine steckten in kurzen Hosen und farbigen Stulpenstiefeln: und von seiner geräumigen Westentasche hing eine kupferne Uhrkette, die ein einziges Petschaft und einen Schlüssel von gleichem Material endigte, nachlässig herunter.

Wir haben gesagt, Herr Weller sei mit den Vorbereitungen zu seiner Reise nach London beschäftigt gewesen; er nahm nämlich zur Stärkung ein entsprechende« Frühstück zu sich. Auf dem Tische vor ihm stand eine Flasche Ale Ein Bier, das ohne Hopfen bereitet wird., ein kaltes Stück Ochsenfleisch, ein mächtiger Laib Brot, und jedem dieser Gegenstände schenkte er mit der strengsten Unparteilichkeit abwechslungsweise seine Gunst. Er hatte soeben ein mächtiges Stück von dem letzteren abgeschnitten, als Fußtritte nahten; er hob den Kopf und sah seinen Sohn, der eben in das Zimmer trat.

»’n Morgen, Sammy«, sagte der Vater.

Der Sohn näherte sich dem Bierkruge, winkte seinem Vater zu, und verhalf sich, als Erwiderung des Grußes, zu einem kräftigen Schlucke.

»Du hast einen guten Zug, Sammy«, bemerkte Herr Weller der ältere, in den Krug hineinsehend, den sein Erstgeborener bis zur Hälfte geleert hatte. »Du hättest ja eine ungewöhnlich noble Auster Weil die Auster in ihrem Saft schwimmt, nimmt Vater Weiler diesen Vergleich auf. abgegeben, Sammy, wenn du auf dieser Lebensstufe geboren worden wärest.«

»Ja, ich darf sagen, ich hätte mir da auch etwas Ordentliches gegönnt«, erwiderte Sam , sich mit respektablem Eifer über das kalte Ochsenfleisch hermachend.

»Es schmerzt mich tief, Sammy«, sagte der ältere Herr Weller, schüttelte als Vorbereitung zum Trinken das Bier und beschrieb mit dem Krug kleine Kreise. »Es schmerzt mich sehr, Sammy, aus deinem Munde zu hören, daß du dich von dem maulbeerfarbenen Kerl für’n Narren halten ließest. Vor drei Tagen dachte ich noch, Sammy, die Namen Weller und Narr könnten niemals miteinander in Berührung kommen.«

»Doch natürlich den Fall ausgenommen, wo es sich um gewisse Witwen handelt«, fiel Sammy ein.

»Witwen, Sammy«, erwiderte Herr Weller, die Farbe etwas verändernd, »Witwen sind Ausnahmen von jeder Regel. Ich habe mal davon gehört, wieviel durchschnittliche Jungfern von einer Witwe aufgewogen werden, wenn es sich darum handelt, einen hinters Licht zu führen; ich glaube fünfundzwanzig, doch weiß ich nicht gewiß, ob es nicht mehr sind.«

»Nun, das ist doch ziemlich viel«, sagte Sam.

»Übrigens«, fuhr Herr Weller fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, »ist das etwas ganz anderes. Du weißt Sammy, wie jener Advokat sagte, als er den Herrn verteidigte, der seine Frau mit dem Schüreisen schlug, wenn er lustig wurde. ›Und am Ende, Mylord‹, sagte er, ›ist es nichts weiter, als eine liebenswürdige Schwachheit.‹ Und das sage ich in bezug auf meine Neigung zu Witwen, Sammy, und so wirst auch du sagen, wenn du so alt bist, wie ich.«

»Ich weiß«, versetzte Sam, »ich hätte sollen gescheiter sein.«

»Sollen gescheiter sein?« wiederholte Herr Weller mit der Faust auf den Tisch schlagend. »Sollen gescheiter sein? Ja, ich kenne einen jungen Burschen, der nicht den vierten Teil von deiner Erziehung genossen hat – der noch keine sechs Monate auf den Marktplätzen kampierte – der hätte sich nicht so anführen lassen. Nein, Sammy, dem wäre das nicht passiert, Sammy.«

In der Gemütserregung, die durch diese peinlichen Gedanken hervorgerufen wurde, zog Herr Weller die Glocke und befahl einen zweiten Krug Ale.

»Aber das Schwatzen nützt jetzt nichts mehr«, sagte Sam; »es ist vorbei und die Sache läßt sich nicht mehr ändern. Das ist mein Trost, wie sie in der Türkei sagen, wenn sie dem Unrechten den Kopf abgeschlagen haben. Jetzt ist die Reihe an mir, Vater, und wenn ich diesen Trotter hier unter die Klauen bekomme, so soll er seine Lebtage daran denken.«

»Das hoffe ich von dir, Sammy, das hoffe ich von dir«, antwortete Herr Weller. »Auf dein Wohl, Sammy! und mögest du bald die Schmach abwaschen, mit der du unsern Familiennamen befleckt hast.«

Zu Ehren dieses Toastes nahm Herr Weller wenigstens zwei Drittel von dem Inhalte des neu hingestellten Kruges zu sich, und händigte ihn seinem Sohne ein, daß dieser über den Rest verfüge.

»Und nun Sammy«, sagte Herr Weiler, die große doppelgehäusige silberne Uhr, die am Ende der kupfernen Kette hing, zu Rate ziehend. »Nun ist’s Zeit, daß ich auf die Post gehe, um mich dort einschreiben zu lassen und zuzusehen, wie die Kutsche geladen wird; denn Postkutschen, Sammy, sind wie Kanonen, die mit großer Sorgfalt geladen werden müssen, ehe sie losgehen.«

Diesen seinem Gewerbe entlehnten Scherz des Vaters begleitete Herr Weller junior mit dem Lächeln kindlicher Liebe. Sein verehrter Erzeuger fuhr mit feierlichem Tone fort. –

»Mein Sohn Samuel, ich verlasse dich jetzt, und niemand weiß, wann ich dich wiedersehe. Deine Stiefmutter ist mir dann vielleicht zuviel geworden, und tausend Dinge können sich ereignet haben, bis du wieder etwas von dem berühmten Herrn Weller von Bell Savage hörst. Der Familienname hängt nun größtenteils von dir ab, Samuel, und ich hoffe, du wirst ihm keine Schande machen. In allen geringeren Stücken der Erziehung kann ich mich, das weiß ich, so gut auf dich verlassen, wie auf mich selbst. Ich habe dir also nur noch einen Rat zu geben. Wenn du in die Fünfzig kommst und Neigung fühlst, dich mit irgendeiner Person zu verheiraten – gleichviel, wer es sei – so schließe dich in dein Kämmerlein ein, wenn du eins hast, und vergifte dich unverzüglich. Hängen ist etwas Gemeines, also daran darfst du nicht denken. Vergifte dich, mein Sohn Samuel, vergifte dich, und du wirst nachher froh darüber sein.«

Bei diesen liebevollen Ermahnungen sah Herr Weller seinem Sohne ernst ins Gesicht. Dann machte er eine imposante Verbeugung, indem er den rechten Fuß vorrückte und mit dem Absatz einen Halbkreis beschrieb. Schließlich verschwand er aus Sams Augen.

In der ernsten Stimmung, die diese Worte hervorgerufen, verließ Herr Samuel Weller das große weiße Roß und richtete seine Schritte gegen die St.-Klemens-Kirche, wo er versuchte, seine Schwermut zu vergessen. Er schlenderte um die altertümliche Umgebung dieses Gebäudes herum. Nach einiger Zeit sah er sich auf einem abgelegenen Platze – in einer Art Hof von ehrwürdigem Ansehen – der, wie er bemerkte, keinen andern Ausgang hatte, als die Öffnung, durch die er eingetreten war. Er war eben daran, wieder umzukehren, als er durch eine plötzliche Erscheinung gleichsam an die Erde gebannt wurde, wie der Leser sogleich hören wird. In seine Gedanken vertieft, hatte Herr Samuel Weller von Zeit zu Zeit an den roten Backsteinhäusern hinaufgesehen, und dabei manchem rotwangigem Dienstmädchen zugenickt, das einen Vorhang aufzog oder ein Fenster in einem Schlafzimmer öffnete. Da ging das grüne Gartentor am Ende des Hofes auf, und ein Mann, der eintrat, schloß es wieder sorgfältig hinter sich ab, worauf er mit schnellen Schritten der Stelle zuging, wo Herr Weller stand.

Als Einzeltatsache, ohne alle Nebenumstände betrachtet, lag nicht gerade etwas Außerordentliches in dieser Erscheinung; denn in vielen Teilen der Welt kommen Männer aus Gärten, schließen grüne Tore hinter sich ab und gehen rasch ihres Weges weiter, ohne die Augen der Welt in besonderem Grade auf sich zu ziehen. Es ist also klar, daß an der Person, oder in den Manieren dieses Mannes, oder in beiden etwas liegen mußte, was Herrn Wellers Aufmerksamkeit besonders anzog. Ob das der Fall war oder nicht, müssen wir der Beurteilung des Lesers überlassen, wenn wir das Benehmen des fraglichen Individuums geschildert haben werden.

Als der Mann das grüne Tor hinter sich abgeschlossen hatte, ging er, wie wir schon zweimal bemerkt haben, mit schnellen Schritten im Hofe vorwärts. Aber kaum hatte er Herrn Weller zu Gesicht bekommen, als er anhielt und stillstand, als ob er im Augenblicke unschlüssig geworden wäre, was er tun sollte. Da das grüne Tor hinter ihm abgeschlossen war, und der Hof keinen andern Ausgang hatte, als den in der Front, so gelangte er natürlich bald zu dem Entschluß, er müsse an Herrn Samuel Weller vorbei, um hinauszukommen. Er nahm also seinen schnellen Schritt wieder auf und starrte gerade vor sich hin, während er weiterging. Das Außerordentlichste an dem Mann war aber, daß er sein Gesicht in die fürchterlichsten und entsetzlichsten Fratzen verzerrte, die man jemals gesehen hat. Noch nie ward ein Gebilde der Natur durch plastische Verstellung in einem Augenblicke so kunstreich maskiert, wie das Gesicht dieses Menschen durch seine Mimik.

»Nun« – sagte Herr Weller zu sich selbst, als der Mann näher kam. »Ich hätte darauf schwören mögen, er sei’s.«

Der Mann kam herbei, und sein Gesicht war noch furchtbarer entstellt, als je.

»Ich könnte einen Eid darauf ablegen, es ist sein schwarzes Haar und sein maulbeerfarbener Anzug«, sagte Herr Weller: »nur habe ich bis jetzt noch nie ein solches Gesicht gesehen.«

Während Herr Weller das sagte, nahmen die Züge des Mannes einen dämonischen, scheußlichen Ausdruck an. Er mußte jedoch ganz nahe an Sam vorüber, und der forschende Blick dieses Herrn erkannte trotz dieser furchtbaren Gesichtsverzerrungen doch etwas, was Herrn Hiob Trotters kleinen Äuglein glich, deutlich genug, um vor einer Verwechselung sicher zu sein.

»Holla, guter Freund«, schrie Sam überlaut.

Der Fremde stand still.

»Holla«, widerholte Sam in noch rauherem Tone.

Der Mann mit dem fürchterlichen Gesicht sah mit der größten Überraschung den Hof hinauf und den Hof hinunter und an den Fenstern der Häuser empor – überall hin, nur nicht auf Sam Weller – und tat dann einen Schritt weiter, als er durch einen dritten Ruf wieder zum Stehen gebracht wurde.

»Holla, mein guter Freund«, – schrie Sam zum drittenmal.

Jetzt gab’s kein Ausweichen mehr; der Fremde mußte endlich Sam Wellern gerade ins Gesicht sehen.

»Es hilft doch nichts – Hiob Trotter«, sagte Sam. »Lassen Sie diese Alfanzereien. Sie sind nicht so außerordentlich schön, daß Sie die paar natürlichen Züge in Ihrem Gesicht wegzuwerfen brauchen. Bringen Sie Ihre Augen nur wieder in gewöhnliche Lage, oder ich schlage sie Ihnen aus dem Kopf heraus. Hören Sie?«

Da Herr Weller durchaus geneigt schien, seine Worte zur Tat werden zu lassen, so gestattete Herr Trotter seinem Gesicht, allmählich seinen ursprünglichen Ausdruck wieder anzunehmen, und rief mit freudigem Erstaunen:

»Was seh‘ ich? Herr Walker!«

»Ach was!« versetzte Sam, »es macht Ihnen Freude, mich zu sehen, – nicht wahr?«

»Freude!« rief Hiob Trotter – »o, Herr Walker, hätten Sie nur gewußt, wie ich mich nach diesem Wiedersehen sehnte. Es ist zu viel, Herr Walker; ich kann es nicht ertragen, nein, ich kann nicht.«

Und mit diesen Worten brach Herr Trotter in einen Strom von Tränen aus, umschlang Herrn Weller mit den Armen und drückte ihn, im Übermaß der Freude, fest ans Herz.

»Gehen Sie«, rief Sam, über dieses Benehmen höchlich entrüstet und vergeblich bemüht, sich der Umarmung seines enthusiastischen Freundes zu entziehen. – »Gehen Sie weg, sag‘ ich Ihnen. Was heulen Sie denn so über mich hinein, Sie Handfeuerspritze?«

»Weil es mir so viel Freude macht. Sie zu sehen«, versetzte Hiob Trotter, Herrn Weller allmählich loslassend, nachdem die ersten Symptome von dessen Kampfbegierde verschwunden waren. »Oh, Herr Walker, das ist zu viel.«

»Zu viel?« wiederholte Sam, »Ich glaube auch, es ist zu viel.«

»Nun, was haben Sie mir denn zu sagen, he?«

Herr Trotter gab keine Antwort, denn sein kleines rosafarbenes Taschentuch hatte vollauf zu tun.

»Was haben Sie mir denn zu sagen, ehe ich Ihnen den Kopf einschlage?« wiederholte Weller in drohendem Tone.

»Wie?« rief Herr Trotter, mit einem Blicke tugendhaften Erstaunens.

»Was haben Sie mir zu sagen?«

»Ich, Herr Walker?«

»Nennen Sie mich nicht Walker. Mein Name ist Weller, Sie wissen das gut genug. Was haben Sie mir zu sagen?«

»Ach Gott, Herr Walker – Weller, meine ich – eine Menge Dinge, wenn Sie mich dahin begleiten wollen, wo wir ungestört miteinander sprechen können. Wenn Sie wüßten, wie sehr mich nach Ihnen verlangt hat, Herr Weller –«

»Mag freilich gewaltig gewesen sein«, bemerkte Sam trocken.

»Außerordentlich, außerordentlich, lieber Herr«, erwiderte Herr Trotter, ohne eine Miene zu verziehen. »Aber geben Sie mir die Hand, Herr Weller.«

Sam betrachtete seinen Kameraden einige Sekunden lang und erfüllte dann, wie durch plötzliche Eingebung dazu getrieben, sein Verlangen.

»Was macht –« fragte Hiob Trotter, als sie miteinander weitergingen – »was macht Ihr lieber, guter Herr? Oh, das ist ein würdiger Mann, Herr Weller. Ich hoffe, er hat sich in jener fürchterlichen Nacht doch keine Erkältung zugezogen?«

Es lag ein vorübergehender Ausdruck tief versteckter Bosheit in Hiob Trotters Auge, als er dies sagte, und ein Schauer durchrieselte Herrn Wellers geballte Faust, der ihm ein heftiges Verlangen einflößte, Herrn Trotters Rippen eine nähere Erklärung darüber abzufordern. Aber Sam bezwang sich und antwortete, seinem Herrn gehe es recht gut.

»O, wie mich das freut«, versetzte Herr Trotter. »Ist er hier?«

»Ist Ihr Herr hier?« fragte Sam dagegen.

»Oh ja, er ist hier, und es schmerzt mich, Herr Weller, Ihnen sagen zu müssen, daß er’s ärger treibt, als je.«

»Wirklich?« sagte Sam.

»Ja: ’s ist zum Erbarmen – schrecklich!«

»In einer Mädchenschule?« fragte Sam.

»Nein, in keiner Mädchenschule,« erwiderte Hiob Trotter, mit demselben boshaften Blick, den Sam vorhin bemerkt hatte – »in keiner Mädchenschule.«

»In dem Hause mit dem grünen Tor?« fragte Sam weiter, seinen Kameraden genau ins Auge fassend.

»Nein – nein – oh, dort nicht«, versetzte Hiob mit einer Eile, die man durchaus nicht an ihm gewohnt war.

»Was taten denn Sie dort?« fragte Sam, ihn scharf ansehend. – »Gingen Sie vielleicht bloß zufälligerweise durch das Tor?«

»Nun, Herr Weller,« erwiderte Hiob, »ich trage keine Bedenken, Ihnen meine kleinen Geheimnisse mitzuteilen, denn Sie wissen, was für eine Neigung wir gleich beim ersten Zusammentreffen für einander faßten. Sie erinnern sich, wie angenehm jener Morgen war?«

»Oh ja,« antwortete Sam ungeduldig; »ich erinnere mich. Nun?«

»Nun,« fuhr Hiob in dem leisen abgemessenen Tone eines Menschen fort, der jemandem ein wichtiges Geheimnis mitteilt, »in jenem Hause mit dem Tore, Herr Weller, ist eine zahlreiche Dienerschaft.«

»Das sieht man ihm an«, fiel Sam ein.

»Nun, und unter dieser Dienerschaft«, sprach Herr Trotter weiter, »befindet sich eine Köchin, die sich eine Kleinigkeit erspart hat, Herr Weller, und die, wenn sie sich häuslich niederlassen kann, einen kleinen Kramladen anzulegen gesonnen ist.«

»So?«

»Ja, Herr Weller. Nun, Freundchen, ich traf sie in einer Kapelle, die ich gewöhnlich besuche – ein sehr hübsches Kapellchen in dieser Stadt, Herr Weller, wo man aus Nummer vier der Sammlung geistlicher Lieder singt, die ich gewöhnlich in einem kleinen Buche bei mir trage. Sie haben es vielleicht in meiner Hand gesehen – und ich wurde mit ihr bekannt, Herr Weller, und daraus entspann sich ein näheres Verhältnis zwischen uns, und ich darf Ihnen sagen, Herr Weller, daß ich Aussicht habe, in dem Laden der Krämer zu werden.«

»Ei, und Sie werden ein sehr liebenswürdiger Krämer werden«, versetzte Sam, einen Seitenblick tiefgewurzelten Widerwillens auf Hiob werfend.

»Der große Vorteil ist der, Herr Weller,« fuhr Hiob fort, während sich seine Augen mit Tränen füllten, »daß ich dann meinen gegenwärtigen, schimpflichen Dienst bei dem gottlosen Mann verlassen und mich einem besseren und tugendhafteren Leben weihen kann – einem Leben, das meiner Erziehung mehr entspricht, Herr Weller.«

»Sie müssen sehr gut erzogen worden sein«, bemerkte Sam.

»O gewiß, Herr Weller, gewiß«, erwiderte Hiob.

Und bei der Erinnerung an die Unschuld seiner jugendlichen Tage zog Herr Trotter das rosafarbene Taschentuch hervor, und weinte reichliche Tränen.

»Sie müssen ein ungemein gutes Kind gewesen sein, als Sie noch in die Schule gingen«, bemerkte Sam.

»Das war ich, Sir«, erwiderte Hiob mit einem schweren Seufzer, »ich war der Abgott der Schule.«

»Ach, das wundert mich nicht«, meinte Sam, »Was muß das für Ihre glückliche Mutter eine Freude gewesen sein!«

Bei diesen Worten drückte Herr Hiob Trotter einen Zipfel des rosafarbenen Taschentuchs in den Winkel eines jeden seiner beiden Augen und fing bitterlich zu weinen an.

»Was ist’s doch eigentlich mit diesem Menschen?« sagte Sam unwillig. »Die Wasserwerke von Chelsea sind nichts gegen Sie: was zerfließen Sie schon wieder in Tränen – macht’s etwa das Bewußtsein Ihrer Schurkerei?«

»Ich kann meine Gefühle nicht unterdrücken, Herr Weller«, antwortete Hiob nach einer kurzen Pause. »Wer hatte sich auch träumen lassen, daß mein Herr das Gespräch argwöhnte, das ich mit dem Ihrigen hatte, und daß er mich in einer Postkutsche wegbringen lassen würde, nachdem er zuvor die sanfte junge Dame und die Vorsteherin der Schule zu der Aussage überredet hatte, sie wüßten nichts von ihm. Ach, es schaudert mich, Herr Weller, wenn ich daran denke, daß er die Arme nur verließ, um einer besseren Spekulation nachzugehen.«

»Also so verhielt sich die Sache – wirklich?« fragte Herr Weller.

»Sie dürfen mir aufs Wort glauben«, erwiderte Hiob.

»Gut«, sagte Sam, als sie jetzt am Gasthofe angekommen waren; »ich möchte gern ein wenig mit Ihnen plaudern, Hiob. Wenn Sie sonst nicht versagt sind, würde es mich freuen, Sie so gegen acht Uhr im großen weißen Rosse zu sehen.«

»Ich werde mich mit Vergnügen einfinden«, sagte Hiob.

»Sie werden wohl daran tun«, erwiderte Sam mit einem vielsagenden Blick, »oder ich suche Sie sonst vielleicht hinter dem grünen Tore auf, und dann wäre es möglich, daß ich Sie ausstäche.«

»Ich werde mich gewiß einstellen,« bemerkte Herr Trotter, drückte Herrn Weller mit dem größten Eifer die Hand und entfernte sich.

»Nimm dich in acht, Hiob Trotter«, sagte Sam, ihm nachsehend; »nimm dich in acht, oder du dürftest diesmal den Kürzeren ziehen; denn gewiß, ich lasse mich nicht zum zweitenmal hinters Licht führen.«

Nachdem Herr Weller diesen Monolog gehalten und Hiob so lange mit seinen Blicken verfolgt hatte, bis dieser verschwunden war, machte er sich auf den Weg nach seines Herrn Schlafzimmer.

»Es ist alles im Zug, Sir«, sagte Sam.

»Was ist im Zug, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Ich habe sie ausfindig gemacht, Sir«, antwortete Sam.

»Ausfindig gemacht? Wen?«

»Den sauberen Spitzbuben und den melancholischen Kerl mit dem schwarzen Haar.«

»Unmöglich, Sam!« rief Herr Pickwick heftig aus. »Wo sind sie, Sam – wo sind sie?«

»Pst – pst«, erwiderte Herr Weller und setzte Herrn Pickwick, während er ihm beim Ankleiden half, den Operationsplan auseinander, den er entworfen hatte.

»Aber wann soll dieses geschehen, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Alles zu rechter Zeit, Sir«, erwiderte Sam.

Ob es übrigens zu rechter Zeit geschah oder nicht, werden wir später sehen.

 

Fünfundzwanzigstes Kapitel.


Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Worin Herr Peter Magnus eifersüchtig wird und die Dame von mittlerem Alter einen Verdacht schöpft, der die Pickwickier dem Arme der Gerechtigkeit überliefert.

Als Herr Pickwick in das Zimmer trat, worin er mit Herrn Peter Magnus den vorhergehenden Abend verbracht, hatte sich dieser bereits mit dem größten Teil des Inhalts der beiden Reisesäcke, des ledernen Hutfutterals und des Löschpapierpakets so vorteilhaft wie möglich herausgeputzt, und ging im Zustande der höchsten Aufregung und Gemütsbewegung im Zimmer auf und nieder.

»Guten Morgen, Sir«, begann Herr Peter Magnus. »Was sagen Sie zu mir?«

»Das muß einen großen Effekt machen – in der Tat«, erwiderte Herr Pickwick, den Anzug des Herrn Magnus mit gutmütigem Lächeln betrachtend.

»Ja, ich glaube es selbst«, sagte Herr Magnus. »Herr Pickwick, ich habe meine Visitenkarte hinaufgeschickt.«

»Was Sie da sagen!« entgegnete Herr Pickwick.

»Ja: und sie ließ mir durch den Kellner sagen, sie erwarte mich um elf Uhr – um elf Uhr, Sir: es fehlt nur noch eine Viertelstunde.«

»Eine kurze Zeit«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ja, sie ist ziemlich kurz«, erwiderte Herr Magnus, »etwas zu kurz, um sich wohl dabei zu fühlen – meinen Sie nicht, Herr Pickwick?«

»Selbstvertrauen tut in solchen Fällen sehr viel«, bemerkte Herr Pickwick.

»Ich glaube das auch, Sir«, sagte Herr Peter Magnus. »Ich habe übrigens großes Selbstvertrauen, Sir. Und in der Tat, Herr Pickwick, ich sehe nicht ein, warum ein Mann in einem Fall, wie diesem, sich fürchten sollte. Es ist ja nichts, dessen man sich zu schämen braucht. Es ist eine Sache gegenseitiger Übereinkunft, weiter nichts. Der Gatte auf der eine Seite, die Gattin auf der andern. Das ist meine Ansicht von der Sache, Herr Pickwick.«

»Sie ist sehr philosophisch«, versetzte Herr Pickwick. »Aber das Frühstück wartet, Herr Magnus: kommen Sie.«

Sie setzten sich zum Frühstück, aber trotz der Prahlerei des Herrn Peter Magnus konnte man nicht verkennen, daß sein Nervensystem in hohem Grade angegriffen war, wovon Mangel an Appetit, eine Neigung, das Teegeschirr umzustoßen, ein vergebliches Bemühen, lustig zu sein und ein unwiderstehlicher Hang, alle Augenblicke auf die Uhr zu sehen, die hauptsächlichsten Symptome waren.

»Hihihi«, kicherte Herr Magnus mit erkünstelter Heiterkeit, indem er vor innerer Bewegung keuchte. »Es sind nur noch zwei Minuten, Herr Pickwick. Sehe ich blaß aus, Sir?«

»Nicht sehr«, erwiderte Herr Pickwick.

Es trat eine kurze Pause ein.

»Verzeihung, Herr Pickwick, waren Sie je in Ihrem Leben in einer solchen Lage?«

»Sie meinen in der Lage eines Freiers?« fragte Herr Pickwick.

»Ja.«

»Noch nie«, erwiderte Herr Pickwick mit großem Nachdruck. »Noch nie.«

»Sie wissen also nicht, wie man sich dabei zu benehmen hat?« fragte Herr Magnus.

»Nun, ich habe auch schon meine Gedanken darüber gehabt«, antwortete Herr Pickwick; »aber da ich sie noch nie auf dem Prüfstein der Erfahrung erprobt habe, möchte ich Ihnen nicht raten, Ihr Benehmen danach einzurichten.«

»Ich wäre Ihnen aber für jede Andeutung sehr verbunden, Sir«, sagte Herr Magnus, mit einem Blick auf die Uhr, deren Zeiger bereits auf fünf Minuten nach elf wies.

»Wohlan, Sir«, begann Herr Pickwick, mit dem feierlichen Tone, womit der große Mann, wenn er wollte, seinen Bemerkungen einen ungemeinen Nachdruck verleihen konnte –, »ich würde zuerst der Schönheit und den vortrefflichen Eigenschaften der Dame meine Huldigung zollen und dann auf meine eigene Unwürdigkeit übergehen.«

»Ganz gut«, bemerkte Magnus.

»Verstehen Sie mich recht – Unwürdigkeit nur ihr gegenüber«, fuhr Herr Pickwick fort: »denn um zu zeigen, daß ich nicht im allgemeinen unwürdig sei, würde ich kurz mein früheres Leben und meine gegenwärtige Stellung schildern. Daraus würde ich nach dem Gesetze der Analogie folgern, daß ich für jede andere Person ein höchst wünschenswerter Gegenstand sein müßte: dann würde ich mich über die Glut meiner Liebe und die Tiefe meines Gefühls verbreiten und mich vielleicht auch versucht finden, ihre Hand zu fassen.«

»Ja, ich begreife«, bemerkte Herr Magnus; »das wäre ein höchst wichtiger Punkt.«

»Dann, Sir, würde ich«, fuhr Herr Pickwick fort, indem er immer wärmer wurde, je glühender die Farben waren, in denen sich ihm der Gegenstand darstellte – »dann würde ich ihr die offene und einfache Frage vorlegen: ›Wollen Sie mich?‹ und ich glaube zu der Annahme berechtigt zu sein, daß sie daraufhin ihr Gesicht abwenden würde.«

»Glauben Sie, das sicher annehmen zu dürfen?« fragte Herr Magnus: »denn täte sie das nicht zu rechter Zeit, so käme ich in Verlegenheit.«

»Ich glaube, daß sie es tun wird«, meinte Herr Pickwick. »Dann, Sir, würde ich ihre Hand drücken, und ich glaube – ich glaube, Herr Magnus – wenn ich das einmal getan hätte, würde ich, vorausgesetzt, sie hätte sich das gefallen lassen, sachte das Taschentuch, das sie in diesem Augenblicke, wie mich meine geringe Kenntnis der menschlichen Natur vermuten läßt, vor die Augen halten dürfte, wegziehen und ihr mit aller Achtung einen Kuß rauben. Ich glaube, ich würde sie küssen, Herr Magnus. Was aber diesen speziellen Punkt betrifft, so bin ich entschieden der Meinung, die Dame würde mir sodann, wenn sie mich überhaupt wollte, ein verschämtes ›Ja‘ in die Ohren flüstern.«

Herr Magnus schauderte zusammen, blickte in Herrn Pickwicks geistvolles Gesicht, schüttelte ihm nach einer kurzen Pause (der Zeiger wies auf zehn Minuten nach elf) mit Wärme die Hand, und rannte wie ein Verzweifelter aus dem Zimmer.

Herr Pickwick war einige Schritte gegangen, und der große Zeiger der Uhr war, auch wie Pickwick weitergehend, auf Halb angelangt, als sich plötzlich die Tür öffnete. Er wandte sich um und wollte eben Herrn Peter Magnus begrüßen, erblickte aber statt seiner das fröhliche Antlitz des Herrn Tupman, das heitere Gesicht des Herrn Winkle und die geistvollen Züge des Herrn Snodgraß.

Während sie Herr Pickwick bewillkommte, trippelte Herr Peter Magnus ins Zimmer.

»Meine Freunde – der Herr, von dem ich sprach, Herr Magnus«, sagte Herr Pickwick.

»Ihr Diener, meine Herren«, sprach Herr Magnus, offenbar in großer Aufregung: »Herr Pickwick, erlauben Sie mir, einen Augenblick mit Ihnen zu sprechen.«

Bei diesen Worten steckte Herr Magnus seinen Zeigefinger in Herrn Pickwicks Knopfloch und sagte, ihn in eine Fenstervertiefung ziehend:

»Wünschen Sie mir Glück, Herr Pickwick, ich befolgte ihren Rat buchstäblich.«

»Und es lief alles gut ab, nicht wahr?« fragte Herr Pickwick.

»Ganz gut, Sir – hätte nicht besser gehen können«, erwiderte Herr Magnus, »sie ist mein.«

»Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück«, versetzte Herr Pickwick, seinem neuen Freunde mit Wärme die Hand schüttelnd.

»Sie müssen sie sehen, Sir«, sagte Herr Magnus; »kommen Sie bitte. – Sie entschuldigen einen Augenblick, meine Herren.«

Und Herr Magnus zog Herrn Pickwick aus dem Zimmer und ging eilends mit ihm fort. Er blieb an der nächsten Türe im Gang stehen und pochte leise an.

»Herein!« rief eine weibliche Stimme.

Und sie gingen hinein.

»Fräulein Witherfield«, sagte Herr Magnus, »erlauben Sie mir, Ihnen meinen vertrauten Freund, Herrn Pickwick, vorzustellen. – Herr Pickwick, ich wünschte, daß Sie Fräulein Witherfield kennenlernten.«

Die Dame stand am oberen Ende des Zimmers; Herr Pickwick verbeugte sich, nahm die Brille aus seiner Westentasche und setzte sie auf. Diese Handlung war nicht sobald vorüber, als er mit einem Ausbruch der Überraschung einige Schritte zurückwich, und die Dame mit einem halbunterdrückten Schrei die Hände vors Gesicht hielt und auf einen Stuhl sank, worüber Herr Peter Magnus fassungslos wurde und mit dem Ausdruck der höchsten Bestürzung bald die eine, bald die andere Person anstarrte.

Solch Benehmen war doch wahrhaft unbegreiflich. Aber die Sache war die: Herr Pickwick hatte nicht sobald seine Brille aufgesetzt, als er in der künftigen Frau Magnus die Dame erkannte, in deren Zimmer er in der vorhergehenden Nacht auf eine so unverantwortliche Weise eingedrungen war; und die Brille saß nicht sobald auf Herrn Pickwicks Nase, als die Dame plötzlich das Gesicht erkannte, das sie mit allen Schrecknissen einer Nachtmütze umgeben gesehen hatte.

Die Dame schrie, und Herr Pickwick starrte sie an.

»Herr Pickwick«, rief Herr Magnus ganz bestürzt, »was soll das heißen, Sir? – Was soll das heißen?« fügte er in einem noch lauteren, drohenden Tone hinzu.

»Sir«, sagte Herr Pickwick, über die Art und Weise etwas unwillig, womit ihn Herr Peter Magnus so plötzlich angefahren hatte. »Ich muß die Beantwortung dieser Frage ablehnen.«

»Sie lehnen sie ab, Sir?« fragte Magnus.

»Ja, das tue ich, Sir«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich werde nichts sagen, was die Dame kompromittieren oder unangenehme Erinnerungen in ihrer Brust erwecken könnte, ohne ihre Erlaubnis und Zustimmung.«

»Fräulein Witherfield«, sagte Herr Peter Magnus, »kennen Sie diese Person?«

»Ob ich sie kenne?« erwiderte die Dame von mittlerem Alter zögernd.

»Ja, ob Sie ihn kennen, Madame; ich fragte, ob Sie ihn kennen?« fragte Herr Magnus wild.

»Ich habe ihn schon gesehen«, versetzte die Dame von mittlerem Alter.

»Wo?« rief Herr Magnus, »wo?«

»Das würde ich um alles in der Welt nicht offenbaren«, erwiderte die Dame von mittlerem Alter, von ihrem Sitze aufstehend und ihr Gesicht abwendend.

»Ich verstehe Sie, Madame«, sagte Herr Pickwick. »Ich achte Ihr Zartgefühl; auch durch mich soll es nicht offenbar werden, verlassen Sie sich darauf.«

»Auf mein Wort, Madame«, bemerkte Herr Magnus, »in Anbetracht des Verhältnisses, in dem ich zu Ihnen stehe, behandeln Sie diese Sache ziemlich gleichgültig – ziemlich gleichgültig, Madame.«

»Grausamer Herr Magnus«, entgegnete die Dame von mittlerem Alter, und vergoß reichliche Tränen.

»Richten Sie Ihre Vorwürfe an mich, Sir«, fiel Herr Pickwick ein; »ich allein bin zu tadeln, wenn irgend jemand zu tadeln ist.«

»Ah, Sie allein sind zu tadeln, Sir?« sagte Herr Magnus. »Ich – ich – durchschaue das, Sir. Sie bereuen jetzt Ihren Entschluß – nicht wahr?«

»Meinen Entschluß?« bemerkte Herr Pickwick.

»Ihren Entschluß, Sir. Starren Sie mich nur nicht so an, Sir«, sagte Herr Magnus: »ich erinnere mich noch recht wohl Ihrer Worte von gestern abend. Sie kamen hierher, Sir, die Treulosigkeit und Falschheit einer Person zu entlarven, auf deren Ehre und Treue Sie alles gebaut hatten – nicht wahr?«

Hier verzog Herr Peter Magnus sein Gesicht in spöttisches Lächeln, und seine grüne Brille abnehmend – die er wahrscheinlich bei seinem Anfall von Eifersucht für überflüssig hielt – rollte er seine kleinen Äuglein auf eine wirklich schauderhafte Weise.

»Nicht wahr?« fragte Herr Magnus und wiederholte sein Lächeln mit größerem Effekt. »Doch, Sie sollen mir antworten, Sir.«

»Antworten? auf was?« fragte Herr Pickwick.

»Schon gut, Sir«, versetzte Herr Magnus, im Zimmer auf und ab schreitend – »schon gut.«

Es muß etwas Umfassendes in dem Ausdruck »schon gut!« liegen, denn wir erinnern uns nicht, irgendeinen Wortwechsel auf der Straße, im Theater, im Wirtshaus oder sonstwo erlebt zu haben, wo dies nicht die stehende Erwiderung auf alle herausfordernden Fragen gewesen wäre, »Und Sie nennen sich einen Gentleman, Sir?« – »Schon gut, Sir!« – »Habe ich mir eine Äußerung gegen dieses junge Frauenzimmer erlaubt, Sir?« – »Schon gut, Sir!« – »Soll ich Ihnen den Kopf gegen die Wand stoßen, Sir?« – »Schon gut, Sir!« – Es muß auch in diesem allgemein angenommenen Ausdruck »schon gut« ein versteckter Spott liegen, der in dem Busen dessen, an den er gerichtet ist, größeren Unwillen erwecken muß, als die beredtesten Schimpfwörter hervorrufen können.

Wir behaupten damit keineswegs, daß die Anwendung dieser lakonischen Redeweise in Herrn Pickwicks Seele genau den Unwillen erregte, den er in einer gewöhnlichen Brust hervorgerufen haben würde. Wir erinnern nur daran, daß Herr Pickwick die Tür öffnete und hastig rief:

»Tupman, kommen Sie herein!«

Herr Tupman erschien augenblicklich mit dem Blicke des höchsten Erstaunens.

»Tupman«, sagte Herr Pickwick, »ein Geheimnis von etwas zarter Natur, das diese Dame berührt, ist die Ursache eines Streites, der sich zwischen diesem Herrn und mir erhoben hat. Ich versichere ihm in Ihrer Gegenwart, daß dies Geheimnis aber ganz und gar nichts mit seinen Angelegenheiten zu tun hat. Zugleich bitte ich Sie dringend, ihm klarzumachen, daß er bei Fortsetzung des Streites und bei weiterem Zweifel an meine Wahrhaftigkeit mich aufs höchste beleidigt.«

Während Herr Pickwick das sagte, sah er Herrn Peter Magnus mit einem Blick an, der mehr sagte als ganze Bände.

Herrn Pickwicks offenes, ehrenhaftes Benehmen, verbunden mit jener Kraft und Energie der Sprache, die ihn so sehr auszeichnete, würden einen vernünftigen Menschen beruhigt haben, aber unglücklicherweise war gerade in diesem Augenblick der Geist des Herrn Peter Magnus in einer Verfassung, auf die sich das Eigenschaftswort »vernünftig« nicht recht anwenden ließ. Anstatt also Herrn Pickwicks Erklärung aufzunehmen, wie er sie hätte aufnehmen sollen, fuhr er fort, sich in eine glühende, verzehrende Leidenschaft zu versetzen, und von dem, was er seinen Gefühlen schuldig sei, und andern dergleichen Dingen zu sprechen, wobei er seiner Deklamation dadurch Nachdruck gab, daß er in schnellen Schritten auf und nieder ging, sich durch die Haare fuhr und gelegentlich Herrn Pickwicks menschenfreundlichem Gesicht die Faust unter die Nase hielt.

Herr Pickwick hatte im Bewußtsein seiner Unschuld und Redlichkeit und in dem aufregenden Gefühle, die Dame von mittlerem Alter unglücklicherweise in eine so unangenehme Lage versetzt zu haben, nicht die ruhige Fassung, die man an ihm gewohnt war. Die Folge davon war, daß die Worte hitzig und die Stimmen heftiger wurden, und Herr Magnus endlich Herrn Pickwick bemerkte, »er werde von ihm hören«, worauf Herr Pickwick mit lobenswerter Höflichkeit erwiderte: »je früher er von ihm hören würde, desto lieber wäre es ihm.« Voll Schrecken stürzte die Dame von mittlerem Alter aus dem Zimmer, und Herr Tupman zog Herrn Pickwick mit sich fort, Herrn Peter Magnus sich und seinen Gedanken überlassend.

Hätte die Dame von mittlerem Alter viel mit der großen Welt zu tun gehabt, oder überhaupt die Art und Weise derer gekannt, die Gesetze machen und Gebräuche feststellen, so würde sie gewußt haben, daß solche stürmische Auftritte zu den harmlosesten Dingen von der Welt gehören. Aber da sie die größte Zeit über auf dem Lande gelebt und noch nie Parlamentsverhandlungen gelesen hatte, so war sie in diesen besonderen Verfeinerungen des zivilisierten Lebens wenig bewandert. Als sie ihr Zimmer erreicht und sich eingeschlossen hatte, drangen sich beim Nachdenken über die Szene, von der sie soeben Zeuge gewesen, ihrer Phantasie die fürchterlichsten Bilder von Blutvergießen und Mord auf, unter denen ein Bildnis des Herrn Peter Magnus in Lebensgröße, von vier Mann nach Hause getragen und mit einem ganzen Faß voll Kugeln in seiner linken Seite geschmückt, eines der allerkleinsten war. Je mehr die Dame von mittlerem Alter nachdachte, desto mehr erschrak sie, und endlich beschloß sie, sich in das Haus des ersten Beamten der Stadt zu begeben und ihn zu ersuchen, die Personen des Herrn Pickwick und des Herrn Tupman unverzüglich in Sicherheit zu bringen.

Zu diesem Entschluß wurde die Dame von mittlerem Alter durch verschiedene Betrachtungen bestimmt, von denen der unwiderlegliche Beweis, den sie dadurch von ihrer Ergebenheit gegen Herrn Peter Magnus lieferte, und ihre Besorgnis für sein Leben, die hauptsächlichsten waren. Sie war mit seinem eifersüchtigen Temperament zu wohl bekannt, um auch nur die leiseste Anspielung auf den eigentlichen Grund ihrer Aufregung beim Anblicke des Herrn Pickwick zu wagen, und setzte so viel Vertrauen auf ihren Einfluß und ihre Überredungsgabe, daß sie sich mit der Hoffnung schmeichelte, seine stürmische Eifersucht beruhigen zu können, wenn Herr Pickwick entfernt wäre und kein neuer Streit entstehen könnte. Von diesem Gedanken erfüllt, hüllte sich die Dame von mittlerem Alter in Haube und Schal und begab sich geraden Weges nach der Wohnung des Bürgermeisters.

Nun war George Nupkins, Esquire, der besagte erste Beamte, eine so bedeutende Person, wie der schnellste Läufer am einundzwanzigsten Juni, der nach Angabe des Kalenders der längste Tag im ganzen Jahr ist und also die größte Zeit zum Suchen gestattet, nur eine zwischen Sonnenauf- und -niedergang finden könnte. Gerade an diesem Morgen war Herr Nupkins in einem Zustande besonderer Aufregung, denn es hatte eine Revolution in der Stadt gegeben. Sämtliche Schüler der größten Schule hatten sich verschworen, einem Obsthändler, der ihnen ein Dorn im Auge war, die Fenster einzuwerfen, den Büttel ausgespottet und den Polizeimeister, einen ältlichen Mann in Stulpenstiefeln, der beordert war, den Aufruhr zu unterdrücken, und der wenigstens schon ein halbes Jahrhundert lang den Frieden der Stadt in seiner Obhut gehabt hatte – mit Kot beworfen. Und Herr Nupkins saß in seinem Sorgenstuhle, runzelte majestätisch die Stirne und kochte vor Wut, als eine Dame gemeldet wurde, die ihn in einer besonderen und dringenden Privatangelegenheit zu sprechen wünsche. Herr Nupkins nahm einen ruhig-furchtbaren Blick an und befahl, die Dame hereinzuführen, ein Befehl, dem wie allen Verordnungen von Kaisern, Königen und andern großen Mächten der Erde Folge geleistet wurde, und Fräulein Witherfield ward also im Zustande reizender Aufregung hereingeführt.

»Muzzle!« rief der Beamte.

Muzzle war ein Diener von untersetzter Statur, mit einem langen Leib und kurzen Beinen.

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Bring einen Stuhl und verlaß das Zimmer!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Nun, Madame, wollen Sie mir Ihre Angelegenheit mitteilen?« sagte der Beamte.

»Sie ist sehr schmerzlicher Art, Sir«, bemerkte Fräulein Witherfield.

»Wohl möglich, Madame«, versetzte der Beamte. »Beruhigen Sie sich, Madame.«

Herr Nupkins nahm einen wohlwollenden Blick an.

»Und dann sagen Sie mir, Madame, was für eine gesetzliche Angelegenheit Sie zu mir führt.« Hier triumphierte der Beamte über den Menschen, und sein Blick wurde wieder streng.

»Es ist sehr betrübend für mich, Ihnen diese Mitteilung machen zu müssen«, sagte Fräulein Witherfield, »aber ich fürchte, es soll hier einen Zweikampf geben.«

»Hier, Madame?« rief der Beamte. »Wo, Madame?«

»In Ipswich.«

»In Ipswich, Madame? – Einen Zweikampf in Ipswich?« sagte der Beamte, bei dem bloßen Gedanken daran ganz außer sich vor Schrecken. »Unmöglich, Madame, so etwas kann in dieser Stadt nicht beabsichtigt werden, davon bin ich überzeugt. – Beim Himmel, Madame, wissen Sie nichts von der Tätigkeit unserer städtischen Polizei? Haben Sie nie davon gehört, Madame, daß ich am 4. Mai dieses Jahres, nur von sechzig Sicherheitspolizisten begleitet, in einen Wettkampfkreis eindrang, und auf die Gefahr hin, der wilden Leidenschaft eines wütenden Pöbels zum Opfer zu fallen, einen Boxkampf zwischen Dumpling von Middlesex und Bantam von Suffolk verhinderte? – Ein Duell in Ipswich, Madame! Ich glaube es nicht – ich glaube es nicht«, fuhr der Beamte, mit sich selbst redend, fort, »daß zwei Menschen die Kühnheit haben sollten, einen solchen Friedensbruch in dieser Stadt zu beabsichtigen.«

»Meine Angabe ist leider nur zu richtig«, sagte die Dame von mittlerem Alter. »Ich war beim Streit gegenwärtig.«

»Es ist ein ganz außerordentlicher Fall«, bemerkte der erstaunte Beamte. »Muzzle!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Rufe sogleich Herrn Jinks – augenblicklich.«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

Muzzle entfernte sich, und ein blasser, spitznasiger, halbverhungerter, schäbig gekleideter Schreiber von mittlerem Alter trat ins Zimmer.

»Herr Jinks«, rief der Beamte – »Herr Jinks!«

»Sir«, erwiderte Herr Jinks.

»Diese Dame, Herr Jinks, spricht von einem Duell, das in dieser Stadt beabsichtigt sein soll.«

Herr Jinks, der nicht bestimmt wußte, wie er sich benehmen sollte, lächelte mit der Miene des Untergebenen.

»Was lachen Sie darüber, Herr Jinks?« fragte der Beamte.

Herr Jinks nahm augenblicklich eine ernste Miene an.

»Herr Jinks«, sagte der Beamte, »Sie sind ein Narr.«

Herr Jinks blickte demütig zu dem großen Manne empor und nagte an seiner Feder.

»Sie können etwas Komisches in dieser Angabe finden, Sir, aber ich muß Ihnen sagen, Herr Jinks, daß Sie sehr wenig Grund haben, darüber zu lachen,« sagte der Beamte.

Der halbverhungerte Jinks seufzte, als wäre er sich vollkommen bewußt, daß er sehr wenig Grund habe, zu lachen: und nachdem er den Befehl erhalten hatte, die Aussage der Dame zu Protokoll zu nehmen, setzte er sich und schrieb sie nieder.

»Dieser Pickwick ist also die Hauptveranlassung, wie ich höre?« fragte der Beamte, als das Protokoll geschlossen war.

»Ja«, erwiderte die Dame von mittlerem Alter.

»Und der andere Aufrührer – wie ist sein Name, Herr Jinks?«

»Tupman, Sir.«

»Tupman ist der zweite?«

»Ja, Sir.«

»Die andere Hauptperson, sagen Sie, ist verschwunden, Madame?«

»Ja«, erwiderte Fräulein Witherfield mit einem kurzen Hüsteln.

»Ganz gut«, sagte der Beamte. »Das sind zwei Gurgelabschneider von London, die hierher gekommen sind, um Seiner Majestät Untertanen zu töten, weil sie denken, in dieser Entfernung von der Hauptstadt sei der Arm des Gesetzes schwach und gichtbrüchig. Ich will ein Erempel an ihnen statuieren. Setzen Sie die Verhaftbefehle auf, Herr Jinks. – Muzzle!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden.«

»Ist Grummer unten?«

»Ja, Euer Gnaden.«

»Schick‘ ihn herauf.«

Der gehorsame Muzzle ging und kehrte bald mit dem Herrn in den Stulpenstiefeln zurück, der sich hauptsächlich durch eine Kupfernase, eine heisere Stimme, einen schnupftabakfarbenen Überrock und einen unsteten Blick auszeichnete.

»Grummer!« rief der Beamte.

»Euer Gnaden?«

»Ist die Stadt jetzt ruhig?«

»Ziemlich, Euer Gnaden«, erwiderte Grummer. »Die Gemüter sind etwas beruhigt, weil die Knaben zum Kricketspiel sind.«

»Nur energische Maßregeln dringen in diesen Zeiten durch, Grummer«, sagte der Beamte in entschiedenem Ton. »Wenn das Ansehen der königlichen Beamten für nichts geachtet wird, so müssen wir die Aufruhrakte verlesen lassen. Wenn die Zivilbehörde die Fenster nicht schützen kann, so muß die militärische Macht die Zivilbehörde und die Fenster schützen. Ich glaube, das ist ein Grundsatz der Verfassung, Herr Jinks?«

»Gewiß, Sir«, versetzte Jinks.

»Ganz recht«, sagte der Beamte, die Verhaftbefehle unterzeichnend. »Grummer, Sie werden mir heute Nachmittag diese Personen vorführen. Sie finden sie im großen weißen Roß. Sie erinnern sich des Falls Dumpling von Middlesex und Bantam von Suffolk, Grummer?«

Herr Grummer deutete durch Kopfnicken an, daß er ihn nicht vergessen werde – was auch wirklich nicht leicht geschehen konnte, da er täglich daran erinnert wurde.

»Dies ist noch verfassungswidriger«, sagte der Beamte: »dies ist ein noch größerer Friedensbruch, ein noch größerer Eingriff in Seiner Majestät Vorrechte. Ich glaube, das Duell ist eines der unbestrittensten Vorrechte Seiner Majestät, Herr Jinks?«

»In der Magna Carta ausdrücklich stipuliert, Sir«, antwortete Herr Jinks.«

»Einer von den glänzendsten Juwelen in der britischen Krone, von Seiner Majestät durch die politische Union den Baronen aus den Händen gewunden, glaube ich, Herr Jinks?« sagte der Beamte.

»So ist es«, versetzte Herr Jinks.

»Ganz recht«, bemerkte der Beamte, sich stolz aufrichtend: »es soll in diesem Landesteile von Seiner Majestät Besitzungen nichtverletzt werden. Grummer, verschaffen Sie sich Beistand und vollziehen Sie diese Verhaftbefehle so bald wie möglich. – Muzzle!«

»Hier, Euer Gnaden.«

»Begleiten Sie diese Dame.«

Fräulein Witherfield zog sich zurück, mit hoher Bewunderung über die Gelehrsamkeit und den Scharfsinn des Beamten erfüllt. Herr Nupkins zog sich zum Essen zurück. Herr Jinks zog sich in sich selbst zurück, und das war, mit Ausnahme des Ruhebettes in seinem kleinen Stübchen, das bei Tag von der Familie seiner Hauswirtin bewohnt wurde, der einzige Rückzug, der ihm gestattet war. Schließlich zog sich auch Herr Grummer zurück, um durch Vollziehung des ihm gewordenen Auftrags die Schmach abzuwaschen, die ihm und dem andern Repräsentanten Seiner Majestät – dem Büttel – im Laufe des Vormittags angetan war.

Während diese bestimmten und entschlossenen Vorbereitungen zur Erhaltung des Friedens Seiner Majestät getroffen wurden, hatten sich Herr Pickwick und seine Freunde, die großen Ereignisse, die im Werden waren, nicht von ferne ahnend, ruhig zur Tafel gesetzt und waren alle sehr gesprächig und in bester Unterhaltung begriffen. Herr Pickwick erzählte eben zum großen Ergötzen seiner Freunde, besonders des Herrn Tupman, sein nächtliches Abenteuer, als sich die Tür öffnete und ein etwas abschreckendes Gesicht in das Zimmer spähte. Die Augen dieses Gesichts ruhten einige Sekunden forschend auf Herrn Pickwick und waren allem Anschein nach mit dem Ergebnis ihrer Untersuchung zufrieden; denn der Leib, zu dem das abschreckende Gesicht gehörte, schob sich langsam ins Zimmer und zeigte die Gestalt einet ältlichen Person in Stulpenstiefeln: kurz, um den Leser nicht länger in Unwissenheit zu lassen, die Augen waren die unsteten Augen des Herrn Grummer, und der Leib war das Eigentum des gleichen Herrn.

Herrn Grummers Verfahren war seinem Berufe angemessen, aber eigentümlich. Seine erste Handlung war Verriegelung der Tür. Seine zweite sorgfältige Abtrocknung seines Kopfes und Gesichts mit einem baumwollenen Taschentuch, seine dritte die, daß er seinen Hut mit dem baumwollenen Taschentuche darin auf einen Stuhl stellte, und die vierte, daß er einen kurzen, mit einer messingenen Krone versehenen Stab mit gravitätischer und geisterhafter Miene gegen Herrn Pickwick schwang.

Herr Snodgraß war der erste, der das Schweigen der Überraschung brach. Er sah Herrn Grummer einige Minuten lang fest an und deutete ihm dann mit Nachdruck:

»Das ist ein Privatzimmer, Sir – ein Privatzimmer.«

Herr Grummer schüttelte den Kopf und erwiderte:

»Es gibt kein Privatzimmer vor Seiner Majestät, wenn einmal die Hausschwelle überschritten ist. Das ist Gesetz. Viele Leute behaupten, eines Engländers Haus sei seine Burg. Das ist aber Larifari.«

Die Pickwickier starrten einander mit verwunderten Augen an.

»Wer ist Herr Tupman«, fragte Herr Grummer. Herrn Pickwick hatte er nämlich vermöge seiner Auffassungsgabe sogleich erkannt.

»Ich heiße Tupman«, sagte der Betreffende.

»Und ich heiße Gesetz«, erwiderte Herr Grummer

»Wie?« fragte Herr Tupman.

»Gesetz«, wiederholte Herr Grummer, »Gesetz, Zivil- und Exekutivgewalt, das sind meine Titel; und hier ist meine Vollmacht, lautend auf Tupman und Pickwick – wegen Friedensbruch gegen unsern regierenden Herrn, den König – auf diesen besondern Fall ausgestellt – und alles regulär. – Ich verhafte Euch, Pickwick; Tupman – die Besagten.«

»Was wollen Sie mit dieser Unverschämtheit?« fragte Herr Tupman aufspringend. »Verlassen Sie das Zimmer – verlassen Sie das Zimmer.«

»Holla«, rief Herr Grummer, sich eiligst an die Tür machend und sie einen oder zwei Zoll öffnend: »Dubbley!«

»Gut«, antwortete eine Baßstimme aus dem Gang.

»Kommt herein, Dubbley«, rief Herr Grummer.

Auf dieses Kommandowort schob sich ein sechs Fuß hoher und verhältnismäßig dicker Mann mit einem schmutzigen, roten Gesicht durch die halbgeöffnete Tür ins Zimmer, wobei er besagtem Gesicht den Vortritt ließ und die übrigen Körperteile nachzog.

»Sind die andern Gerichtsdiener draußen, Dubbley?« fragte Herr Grummer.

Herr Dubbley, der seine Worte sparte, nickte bejahend.

»So ruft die Abteilung herein, Dubbley«, sagte Herr Grummer.

Herr Dubbley tat, wie ihm befohlen, und ein halbes Dutzend Männer, jeder mit kurzem Stabe und messingener Krone, stellten sich im Zimmer auf. Herr Grummer steckte seinen Stab in die Tasche und sah auf Herrn Dubbley. Herr Dubbley steckte seinen Stab in die Tasche und sah auf seine Abteilung! und die Abteilung steckte ihre Stäbe in die Tasche und sah auf die Herren Tupman und Pickwick.

Herr Pickwick und seine Schüler erhoben sich wie ein Mann.

»Was soll dieses stürmische Eindringen in ein Privatzimmer?« fragte Herr Pickwick.

»Wer wagt es, mich zu verhaften?« rief Herr Tupman.

»Was habt ihr hier zu suchen, ihr Schufte?« sagte Herr Snodgraß.

Herr Winkle sagte nichts, sondern heftete nur seine Augen auf Grummer und schleuderte ihm einen Blick zu, der, hätte dieser nur einiges Gefühl gehabt, seinen Hirnschädel durchbrochen und auf der andern Seite wieder herausgekommen wäre. Aber so äußerte er durchaus keine sichtbare Wirkung.

Als die Exekutivgewalt bemerkte, daß Herr Pickwick und seine Freunde geneigt waren, sich dem Ansehen des Gesetzes zu widersetzen, stülpte sie sehr bedeutungsvoll ihre Rockärmel hinauf, als ob es in ihrem Berufe läge und sich gleichsam von selbst verstände, daß sie die Herren vorerst zu Boden schlagen und dann mitnehmen müßte. Diese Demonstration verfehlte ihre Wirkung auf Herrn Pickwick nicht.

Er besprach sich einige Minuten lang leise mit Herrn Tupman, erklärte sich dann bereit, nach des Bürgermeisters Wohnung mitzugehen, und bat nur noch die Anwesenden, davon Kenntnis zu nehmen, daß es sein fester Entschluß sei, im Augenblicke, wo er wieder in Freiheit sein würde, diese ungeheure Verletzung seiner Vorrechte als Engländer zu ahnden. Darüber schlugen die Eindringlinge ein lautes Gelächter an – den einzigen Herrn Grummer ausgenommen, der zu bedenken schien, daß der geringste Eingriff in das göttliche Recht der Obrigkeit eine Art Gotteslästerung sei, die man nicht dulden könne.

Als aber Herr Pickwick sich bereit erklärt hatte, sich den Gesetzen seines Landes zu fügen, und die Kellner, Hausknechte, Stubenmädchen und Postjungen, die von der angedrohten Widersetzlichkeit einen ergötzlichen Aufstand erwartet hatten, enttäuscht und mißmutig auseinandergingen, erhob sich eine Schwierigkeit, die man nicht vorhergesehen hatte.

Trotz seiner Verehrung der bestehenden Behörden weigerte sich Herr Pickwick bestimmt, sich gleich einem gemeinen Verbrecher, von den Dienern der Gerechtigkeit umringt und bewacht, über die öffentliche Straße führen zu lassen. Ebenso bestimmt weigerte sich Herr Grummer bei der noch immer herrschenden Erregung der Gemüter (denn es war ein halber Feiertag und die Schuljugend noch nicht nach Hause zurückgekehrt) auf der andern Seite der Straße zu gehen und Herrn Pickwicks Ehrenwort anzunehmen, daß er sich geraden Wegs zum Bürgermeister verfügen wolle. Beide, Herr Pickwick und Herr Tupman, weigerten sich ebenso bestimmt, die Kosten einer Postkutsche zu bezahlen, die das einzige anständige Vehikel war, das man bekommen konnte. Der Streit wurde hitzig, das Deklamieren zog sich in die Länge, und eben war die Exekutionsgewalt im Begriff, Herrn Pickwicks Weigerung durch ein ganz gewöhnliches Auskunftsmittel zu beseitigen: ihn nämlich nach dem Hause des Bürgermeisters zu schleppen, als man sich erinnerte, daß im Hofe eine alte Sänfte stand, die ursprünglich für einen mit der Gicht behafteten Grundeigentümer gemacht war und Herrn Pickwick und Herrn Tupman wenigstens ebenso anständig befördern konnte, als eine moderne Postkutsche. Die Sänfte wurde geholt und auf den Hausflur gebracht. Herr Pickwick und Herr Tupman schlüpften hinein und ließen die Vorhänge nieder; ein paar Träger wurden bald gefunden, und der Zug setzte sich in bester Ordnung in Bewegung. Die Gehilfen der Diener der Gerechtigkeit umgaben das Vehikel; Herr Grummer und Herr Dubbley schritten triumphierend voran, Herr Snodgraß und Herr Winkle gingen Arm in Arm hinterdrein, und die, die hinter den Ohren noch nicht trocken waren, von Ipswich bildeten den Nachtrab.

Die Krämer der Stadt hatten zwar nur eine sehr unbestimmte Vorstellung von der Natur des Vergehens, wurden aber doch durch dieses Schauspiel höchlich erbaut. Es war der starke Arm des Gesetzes, der mit der Kraft von tausend Pferdestärken auf zwei Verbrecher aus der Hauptstadt selbst fiel. Die gewaltige Maschine wurde durch ihren eigenen Bürgermeister geleitet und durch ihre eigenen Amtsdiener befördert, und durch ihre vereinten Anstrengungen waren die Frevler in dem engen Raum einer Sänfte sicher aufgehoben. Mancher Zuruf des Beifalls und der Bewunderung begrüßte Herrn Grummer, als er den Zug, mit dem Stab in der Hand, anführte. Laut und anhaltend war das Geschrei, das die hinter den Ohren noch nicht Trockenen erhoben, und mitten unter diesen vereinigten Zeugnissen des öffentlichen Beifalls bewegte sich der Zug langsam und feierlich vorwärts.

Herr Weller kehrte gerade in seiner Morgenjacke mit den schwarzen Kattunärmeln ziemlich niedergeschlagen von einer erfolglosen Beaugenscheinigung des geheimnisvollen Hauses mit dem grünen Tor zurück, als er, die Augen erhebend, eine die Straße hinabwogende Volksmenge sah, die einen Gegenstand umgab, der sehr viel von dem Ausehen einer Sänfte hatte. Gerne seine Gedanken von der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen ablenkend, trat er beiseite, um die Menge vorbeizulassen, und da er hörte, daß sie größtenteils zu ihrem Privatvergnügen schrie und lärmte, begann er sofort, nur um sich aufzuheitern, ebenfalls aus vollem Halse zu schreien.

Herr Grummer ging vorüber, Herr Dubbley ging vorüber, die Sänfte ging vorüber, die Leibwache ging vorüber, und Sam stimmte noch immer in das enthusiastische Geschrei der Menge. Dabei schwenkte er seinen Hut, als ob er den höchsten Grad der wildesten Lust erreicht hätte, denn er ahnte die Wahrheit nicht im mindesten, als er plötzlich bei der unerwarteten Erscheinung der Herren Winkle und Snodgraß verstummte.

»Was ist los, meine Herren«, rief Sam. »Wen tragen sie denn da in diesem Trauerschilderhaus?«

Beide Herren antworteten zugleich, aber ihre Worte verhallten im allgemeinen Lärmen.

» Wer ist’s?« schrie Sam wieder.

Und wieder erfolgte eine gleichzeitige Antwort: und ob er gleich die Worte nicht vernehmen konnte, so sah er doch an der Bewegung der beiden Lippenpaare, daß sie das Zauberwort »Pickwick« aussprachen.

Das war genug. – In der nächsten Minute hatte sich Herr Weller Bahn gebrochen, brachte die Träger zum Stehen und trat vor den stattlichen Grummer hin.

»Holla, Alter«, rief Sam: »wen habt Ihr da in dieser Tragbahre?«

»Zurück«, rief Herr Grummer, dessen Würde, wie die Würde einer Menge anderer Leute, durch das bißchen Volksgunst wunderbar gehoben wurde.

»Schlagt ihn nieder, wenn er nicht weicht«, sagte Herr Dubbley.

»Ich bin Euch sehr verbunden, Alter«, versetzte Sam, »daß Ihr wenigstens meine Neigung um Rat fragt, und noch mehr bin ich es dem andern Herrn, der aussieht, als wäre er eben einer Riesenkarawane entlaufen, für seinen hübschen Vorschlag verpflichtet. Aber lieber wäre es mir, ihr gebet mir eine Antwort auf meine Frage, wenn es euch nichts verschlägt. – Wie geht es Ihnen, Sir?« Diese letztere Bemerkung war mit der Miene des Gönners an Herrn Pickwick gerichtet, der durch das Vorderfenster spähte.

Herr Grummer war völlig sprachlos vor Entrüstung. Er zog seinen Stab mit der messingenen Krone aus der Tasche hervor und schwenkte ihn vor Sams Augen.

»Ach«, sagte Sam, »recht hübsch, besonders die Krone, die ungemein viel Ähnlichkeit mit einer Königskrone hat.«

»Zurück!« schrie der entrüstete Herr Grummer.

Und um diesem Befehl mehr Kraft zu geben, stieß er mit der einen Hand das metallene Sinnbild des Stabs in Sams Halstuch, faßte ihn mit der andern am Kragen, eine Artigkeit, die Herr Weller dadurch zu erwidern suchte, daß er ihn alsbald zu Boden schlug, nachdem er zuvor mit der größten Bedachtsamkeit einen Träger niedergeschlagen hatte, auf dem Grummer nun liegen konnte.

Ob Herr Winkle von einem vorübergehenden Anfalle jener Art von Wahnsinn befallen war, die au« einem Gefühl des erduldeten Unrechts entspringt, oder ob er durch Herrn Wellers Tapferkeit angesteckt wurde, läßt sich nicht ermitteln. Aber gewiß ist, daß er nicht sobald Herrn Grummer stürzen sah, als er einen furchtbaren Angriff auf einen kleinen jungen machte, der neben ihm stand, worauf Herr Snodgraß mit echt christlichem Sinn, und um niemanden unversehens zu überfallen, mit sehr lauter Stimme ankündigte, er werde jetzt beginnen – eine Erklärung, nach der er mit der größten Überlegung seinen Rock auszog. Er wurde jedoch sogleich umringt und festgenommen; und es ist bloße Gerechtigkelt gegen ihn und Herrn Winkle, wenn wir sagen, daß beide nicht den geringsten Versuch machten, sich oder Herrn Weller zu befreien, der nach dem tapfersten Widerstände durch die Überzahl überwältigt und festgenommen wurde. Der Zug stellte sich wieder in Ordnung, die Träger traten an ihre Plätze, und alles setzte sich wieder in Bewegung.

Herrn Pickwicks Entrüstung während dieses ganzen Vorfalls kannte keine Grenzen. Er sah nur, wie Sam die Gehilfen der Gerechtigkeit in allen Richtungen niederwarf – das einzige, dessen er gewahr werden konnte, da er weder die Tür der Sänfte zu öffnen noch die Vorhänge aufzuziehen vermochte. Endlich gelang es ihm mit Hilfe des Herrn Tupman, die Decke durchzustoßen, und auf den Sitz steigend, auf dem er sich so fest wie möglich zu halten suchte, indem er seine Hand auf seines Freundes Schulter legte, begann er eine Rede an das Volk zu halten, worin er sich über die unverantwortliche Art beklagte, mit der er behandelt worden, und alle zu Zeugen aufrief, daß sein Diener zuerst angegriffen worden sei. In dieser Ordnung erreichten sie das Haus des Bürgermeisters; die Sänfteträger trabten, die Gefangenen folgten, Herr Pickwick hielt Reden und die Menge schrie.

 

Sechsundzwanzigstes Kapitel.


Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Worin unter andern ergötzlichen Dingen gezeigt wird, welche Würde und Unparteilichkeit Herr Nupkins an den Tag legte, und wie Herr Weller Herrn Hiob Trotters Ball mit derselben Kraft zurückschlug, mit der er geworfen wurde – nebst andern Begebenheiten, die man am gehörigen Ort finden wird.

Herrn Wellers Entrüstung, als er fortgebracht wurde, war nicht gering, und sprach sich in zahllosen Anspielungen auf die Persönlichkeit und Handlungsweise Herrn Grummers und seines Amtsgenossen, sowie in heldenmütigen Herausforderungen gegen seine sechs Untergebenen aus.

Herr Snodgraß und Herr Winkle lauschten mit tiefem Respekt auf den Strom der Beredsamkeit, den ihr Meister von der Sänfte herabgoß, und dessen reißendem Lauf die ernstlichen Bitten Herrn Tupmans, den Deckel des Vehikels zu schließen, nicht einen Augenblick aufzuhalten vermochten. Doch Herrn Wellers Zorn wich plötzlich der Neugierde, als der Zug in denselben Hofraum einbog, in dem er den Ausreißer Hiob Trotter getroffen hatte. Die Neugierde machte einem Gefühle der freudigsten Überraschung Platz, als der allgewichtige Herr Grummer den Trägern Halt zu machen gebot, mit würdevollem und festem Gang auf dasselbe grüne Tor, durch das Hiob Trottcr herausgekommen war, zuschritt, und hastig am Glockenzuge riß, der an der Seite desselben hing. Auf dieses Zeichen erschien eine schmucke, rotwangige Dirne, die vor Erstaunen über das rebellische Aussehen der Gefangenen und die leidenschaftliche Sprache Herrn Pickwicks die Hände über dem Kopf zusammenschlug und Herrn Muzzle herbeirief. Herr Muzzle öffnete den einen Flügel des Tores, um die Sänfte, die Gefangenen und die Diener des Gerichts einzulassen, und schlug sie augenblicklich der andringenden Menge wieder vor der Nase zu, worauf diese voll Entrüstung und Neugierde ihren Gefühlen dadurch Luft machte, daß sie noch eine oder zwei Stunden lang an das Tor polterte und an der Glocke zog. Alle nacheinander nahmen an dieser Unterhaltung Teil: nur drei oder vier Glückliche hatten eine Ritze im Tor entdeckt, die eine freie Aussicht auf nichts gestattete. Nun starrten sie mit jener unermüdeten Beharrlichkeit in das Innere, mit der sich der Pöbel an den Fenstern des vorderen Zimmers eines Wundarztes die Nasen abstößt, wenn ein Betrunkener, der auf der Straße von einem Hundekarren überfahren wurde, im hinteren Zimmer der chirurgischen Inspektion unterworfen wird.

Am Fuße einer Treppe, die zur Haustür führte und die auf beiden Seiten von einer amerikanischen Aloe in grünem Topfe bewacht wurde, machte die Sänfte halt. Herr Pickwick und seine Freunde wurden in den Hausflur geführt, aus dem sie, nach vorhergegangener Anmeldung durch Muzzle, zu Herrn Nupkins gewiesen und sofort der hochachtbaren Person dieses patriotischen Beamten vorgestellt wurden.

Die Szene war ergreifend und ganz darauf berechnet, das Herz des Schuldbewußten mit Schrecken zu erfüllen und ihm einen richtigen Begriff von der Strenge und Majestät des Gesetzes beizubringen. Vor einem großen Bücherkasten, an einem großen Tisch, hinter einem großen Buche, in einem großen Stuhl saß Herr Nupkins, noch weit größer, als irgendeiner von den genannten Dingen, so groß diese auch immer waren. Der Tisch war mit Säulen von Akten geschmückt, und am entfernteren Ende desselben ragten Kopf und Schultern des Herrn Iinks hervor, der in dem eifrigen Geschäft begriffen war, so geschäftig wie möglich auszusehen. Nachdem die ganze Gesellschaft eingetreten, verschloß Muzzle sorgfältig die Tür und stellte sich hinter den Stuhl seines Herrn, um seine Befehle zu erwarten. Herr Nupkins lehnte sich mit feierlicher Würde zurück und betrachtete die Gesichter seiner unfreiwilligen Gäste mit durchbohrenden Blicken.

»Wer ist die Person, Grummer?« sagte Herr Nupkins, auf Herrn Pickwick deutend, der als Sprecher mit dem Hut in der Hand dastand und sich mit der äußersten Höflichkeit und Ehrerbietung verneigte.

»Ihr Gestrengen, das ist der Pickwick«, erwiderte Grummer.

»Keinen solchen Ton, alte Lichtschere«, fiel Herr Weller ein, sich mit Ellbogenstößen in die vorderste Reihe drängend – bitt‘ um Verzeihung, Sir, aber dieser – Ihr dienstbarer Geist in den Stulpenstiefeln – würde als Zeremonienmeister nirgends ein anständiges Auskommen finden. Dies, Sir«, fuhr Herr Weller, Grummer zurückdrängend, mit launiger Vertraulichkeit gegen den Oberbeamten fort – »dies ist Pickwick, Esquire; dies Herr Tupman; jener Herr Snodgraß, und der andere neben ihm Herr Winkle, lauter vortreffliche Ehrenmänner, deren Bekanntschaft zu machen Sie sich sehr glücklich schätzen werden. Je schneller Sie übrigens Ihre Amtsdiener auf einen Monat oder zwei ins Kittchen schicken, desto schneller und besser werden wir uns verständigen. Zuerst das Geschäft, dann das Vergnügen, wie König Richard der Dritte sagte, als er den andern König im Tower erstach, und ehe er die Kleinen erwürgte.«

Am Schlusse dieser Anrede bürstete Herr Weller seinen Hut mit dem rechten Ellenbogen und nickte Jinks huldvoll zu, der ihn mit unaussprechlichem Entsetzen zu Ende gehört hatte.

»Wer ist dieser Mensch, Grummer?« fragte der Oberbeamte.

»Ein ganz verzweifelter Kerl, Ihr Gestrengen«, erwiderte Grummer. »Er suchte die Gefangenen zu befreien und griff die Diener des Gesetzes an – wir nahmen ihn deswegen fest und brachten ihn hierher.«

»Daran habt ihr ganz recht getan«, entgegnete der Oberbeamte. »Es ist augenscheinlich ein ganz unglaublicher Halunke.«

»Es ist mein Diener, Sir«, sagte Herr Pickwick zornig.

»So, es ist Ihr Diener – so?« fragte Herr Nupkins. – »Also eine Verschwörung, dem Ansehen der Gesetze zu trotzen und die Boten des Gerichts zu ermorden. Pickwicks Diener! – Schreiben Sie das nieder, Herr Jinks.«

Herr Jinks schrieb.

»Euer Name, Bursche«, donnerte Herr Nupkin«.

»Weller«, antwortete Sam.

»Ein sehr hübscher Name für die Liste von Newgate Newgate ist das älteste Gefängnis in London.«, bemerkte Herr Nupkins.

Das war ein Scherz; folglich brachen Jinks, Grummer, Dubbley, sämtliche Gerichtsboten und Muzzle in ein Gelächter aus, das fünf Minuten lang dauerte.

»Notieren Sie den Namen, Herr Jinks«, sagte der Beamte.

»Zwei L, alter Knabe«, rief Sam.

Hier lachte ein unglücklicher Gerichtsbote wieder, worüber ihm der Beamte alsbald mit Verhaftung drohte. Es ist in solchen Fällen etwas Gefährliches, über den Unrechten zu lachen.

»Wo seid Ihr zu Hause?« fragte der Oberbeamte.

»Überall und nirgends«, erwiderte Sam.

»Notieren Sie das, Herr Jinks«, sagte der Beamte, der in eine förmliche Wut geriet.

»Unterstreichen Sie es auch«, bemerkte Sam.

»Er ist ein Landstreicher, Herr Jinks«, rief der Beamte, »ein Landstreicher nach seinem eigenen Geständnis – nicht wahr, Herr Jinks.«

»Ganz gewiß, Sir.«

»Ich will ihn einsperren lassen – ich will ihn einsperren lassen, als einen Landstreicher«, sagte Herr Nupkins.

»Das ist mir eine saubere Justiz hierzulande«, bemerkte Sam; »da gibt es keinen Beamten, der nicht zwei Streiche macht, wenn er andere Leute wegen eines einsperrt.«

Über diesen Witz lachte ein anderer Gerichtsdiener und machte dann eine so krampfhafte Anstrengung, eine ernste Miene zu erzwingen, daß der Beamte den Täter augenblicklich entdeckte.

»Grummer«, rief der Beamte, vor Wut ganz karfunkelrot werdend, »wie können Sie es wagen, einen so unverantwortlichen Taugenichts zum Gehilfen der Gerechtigkeit zu machen? Wie können Sie es wagen, Sir?«

»Es tut mir herzlich leid. Euer Gestrengen«, stammelte Grummer.

»Herzlich leid?« rief der wütende Beamte. »Sie sollen mir büßen für diese Pflichtvergessenheit, Herr Grummer; ich will ein Exempel an Ihnen statuieren. Nehmen Sie dem Burschen den Stab ab. Er ist betrunken. Ihr seid betrunken, Kerl.«

»Ich bin nicht betrunken. Euer Gnaden«, erwiderte der Mann.

»Ihr seid betrunken«, entgegnete der Beamte. »Wie könnt Ihr Euch unterfangen, zu sagen. Ihr seid nicht betrunken, wenn ich sage, Ihr seid es? Riecht er nicht nach Schnaps, Grummer?«

»Entsetzlich, Ihr Gestrengen«, erwiderte Grummer, der eine entfernte Ahnung hatte, daß es irgendwo nach Rum rieche.

»Ich wußte es, daß er danach riecht«, bemerkte Herr Nupkins, »Gleich beim Eintritt ins Zimmer sah ich es ihm an seinen aufgelaufenen Augen an, daß ei betrunken ist. Haben Sie seine aufgelaufenen Augen nicht bemerkt, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Ich habe diesen Morgen nicht einen Tropfen Branntwein gesehen«, sagte der Mann, der so nüchtern war, wie er nur sein konnte.

»Wie wagt Ihr es, mir eine Lüge ins Gesicht zu sagen?« rief Herr Nupkins. »Ist er nicht in diesem Augenblick betrunken, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir«, versetzte Jinks.

»Herr Jinks«, bemerkte der Beamte, »ich lasse den Kerl einsperren wegen Unverschämtheit. Setzen Sie den Verhaftungsbefehl auf, Herr Jinks.«

Und der Gerichtsdiener wäre ohne weiteres eingesperrt worden, allein Jinks, der der Ratgeber des Beamten war und drei Jahre lang in der Schreibstube eines Grafschaftsanwalts gelernt hatte, flüsterte dem Beamten zu, er glaube, das gehe nicht wohl an. Darauf hielt der Beamte eine Rede, worin er sagte, er wolle es aus Rücksicht auf die Familie des Gerichtsdieners beim Verweise und bei der Entlassung bewenden lassen. Demgemäß wurde derselbe eine Viertelstunde lang tüchtig gewaschen und seiner Verpflichtung enthoben; und Grummer, Dubbley, Muzzle und sämtliche übrigen Gerichtsdiener bewunderten murmelnd Herrn Nupkins Großmut.

»Jetzt, Herr Jinks, lassen Sie Grummer schwören«, sagte der Beamte.

Grummer wurde sofort vereidigt; aber da er etwas verworren sprach, und Herrn Nupkins‘ Mittagessenszeit nahe war, so machte dieser die Sache kurz und legte Grummern die Antworten auf die Zunge, die denn auch immer so bejahend wie möglich ausfielen. Das Verhör ging also seinen Gang, und Herr Weller wurde zweier tätlicher Angriffe, Herr Winkle einer Drohung und Herr Snodgraß eines Stoßes überführt. Als das alles zur Zufriedenheit des Beamten erledigt war, hielten der Beamte und Herr Jinks eine stille Beratung.

Die Beratung dauerte ungefähr zehn Minuten; dann zog sich Herr Jinks auf seinen Platz am Ende des Tisches zurück, und der Beamte setzte sich nach einem vorbereitenden Räuspern in seinen Stuhl und war eben im Begriff, seine Anrede zu beginnen, als Herr Pickwick mit den Worten einfiel:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, wenn ich Sie unterbreche«, sagte Herr Pickwick, »aber bevor Sie das Urteil, das Sie auf die stattgehabten Verhandlungen gegründet haben mögen, aussprechen und in Vollzug setzen, muß ich mein Recht in Anspruch nehmen, gehört zu werden, insofern die Sache meine Person betrifft.«

»Halten Sie den Mund«, rief ihm der Beamte kategorisch zu.

»Ich muß Sie aber darauf aufmerksam machen, Sir«, sagte Herr Pickwick.

»Halten Sie den Mund«, unterbrach ihn der Beamte, »oder ich werde meinen Gerichtsdiener befehlen. Sie abzuführen.«

»Sie mögen Ihrem Gerichtsdiener befehlen, was Ihnen beliebt, Sir«, fiel Herr Pickwick ein; »und nach dem, was ich von der Subordination gesehen habe, die unter Ihnen gehandhabt wird, zweifle ich nicht, daß sie alles ausführen, was Sie ihnen nur immer befehlen; aber ich muß mir die Freiheit nehmen, Sir, so lange mein Recht, gehört zu werden, zu beanspruchen, bis ich mit Gewalt entfernt werde.

»Pickwick und Grundsatz!« rief Herr Weller mit sehr vernehmlicher Stimme.

»Sam, sei ruhig«, sagte Herr Pickwick.

»Stumm wie eine durchlöcherte Trommel«, entgegnete Sam.

Herr Nupkins betrachtete Herrn Pickwick mit dem Blicke des höchsten Erstaunens, als er eine so unerhörte Keckheit an den Tag legte, und war augenscheinlich im Begriff, eine sehr zornige Erwiderung zu geben, als ihn Herr Jinks an den Ellenbogen stieß und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Auf dieses gab der Beamte eine halbvernehmliche Antwort, und dann erneuerte sich das Geflüster.

Endlich wandte sich der Beamte, seinen Verdruß hinunterschluckend, an Herrn Pickwick, und sagte in scharfem Tone – »was haben Sie mir zu sagen?«

»Vorerst«, begann Herr Pickwick, einen Blick durch seine Brille werfend, vor dem sogar Herr Nupkins die Augen niederschlug – »vorerst wünschte ich zu erfahren, warum ich und meine Freunde hierher gebracht wurden?«

»Muß ich es ihm sagen?« flüsterte der Beamte Jinks zu.

»Ich denke, es wird das beste sein, Sir«, flüsterte Jinks dem Beamten zu.

»Es ist mir eine polizeiliche Anzeige zugekommen, daß man besorgt. Sie wollen einen Zweikampf ausfechten, und daß die andere Person, Tupman, Ihr Sekundant und Helfershelfer sei. Deshalb – nun, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Deshalb fordere ich Sie beide auf, eine – nicht wahr, so ist’s richtig, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Eine – eine – was, Herr Jinks?« fragte der Beamte ärgerlich,

»Eine Bürgschaft zu stellen, Sir.«

»Ja. Deshalb fordere ich Sie beide auf – wie ich eben sagen wollte, als ich durch meinen Schreiber unterbrochen wurde – eine Bürgschaft zu stellen.«

»Eine gute Bürgschaft«, flüsterte Herr Jinks.

»Ich verlange eine gute Bürgschaft«, sagte der Beamte.

»Von Bürgern aus der Stadt«, flüsterte Jinks.

»Es müssen Bürger aus der Stadt sein«, sagte der Beamte.

»Fünfzig Pfund jeder«, flüsterte Jinks! »und natürlich Hausbesitzer.«

»Ich verlange zwei Bürgen, jeden von fünfzig Pfund«, sagte der Beamte laut, mit großer Würde, »und es müssen natürlich Hausbesitzer sein.«

»Aber ums Himmels willen, Sir«, rief Herr Pickwick, gleich Herrn Tupman vor Erstaunen und Unwillen außer sich: «wir sind in dieser Stadt völlig fremd. Ich kenne ebensowenig einen Hausbesitzer hier, wie ich mit irgend jemandem einen Zweikampf auszufechten gedenke.«

»Ich bin meiner Sache gewiß«, versetzte der Beamte, »ich bin meiner Sache gewiß – Sie nicht auch, Herr Jinks?«

»Jawohl, Sir.«

»Haben Sie noch mehr zu bemerken?« fragte der Beamte.

Herr Pickwick hatte allerdings noch weit mehr zu bemerken und würde es auch, obwohl nicht sehr zu seinem Vorteil oder zur Zufriedenheit des Beamten, getan haben, wäre er nicht in dem Augenblick, wo er zu sprechen aufhörte, von Herrn Weller an den Ellenbogen gestoßen worden. Darauf ließ er sich mit dem genannten Herrn in eine so ernste Unterhaltung ein, daß er die Frage des Beamten völlig überhörte. Herr Nupkins war indes nicht der Mann, eine Frage von der Art zweimal zu stellen, und so begann er denn nach einem zweiten vorbereitenden Geräusper seine Entscheidung auszusprechen, während die Gerichtsboten voll Ehrfurcht und Bewunderung stillschweigend zuhörten.

Herr Weller sollte für den ersten Angriff um zwei, und für den zweiten um drei, Herr Winkle um zwei und Snodgraß um ein Pfund gestraft werden, und außerdem, lautete Herrn Nupkins Erkenntnis, den Frieden gegen seiner Majestät Untertanen und namentlich gegen seinen Gerichtsdiener Daniel Grummer beschwören. Von Pickwick und Tupman hatte er bereits die Bürgschaft gefordert.

Kaum hatte der Beamte zu sprechen aufgehört, als Herr Pickwick mit einem Lächeln, das sich über sein wieder aufgeheitertes Gesicht verbreitete, einige Schritte vortrat und sagte:

»Ich bitte den Bürgermeister um Verzeihung, aber darf ich die Erlaubnis nachsuchen, Sie in einer für Sie selbst sehr wichtigen Angelegenheit fünf Minuten lang insgeheim zu sprechen?«

»Was?« fragte der Beamte.

Herr Pickwick wiederholte sein Gesuch.

»Das ist eine sehr außerordentliche Bitte«, sagte der Beamte – »eine geheime Unterredung?«

»Eine geheime Unterredung«, wiederholte Herr Pickwick mit festem Tone: »nur wünschte ich, daß mein Diener dabei gegenwärtig wäre, insofern ich die Mitteilung, die ich Ihnen zu machen habe, zum Teil ihm verdanke.«

Der Beamte sah voll Erstaunen auf Herrn Jinks, Herr Jinks auf den Beamten, und die Gerichtsdiener auf einander. Herr Nupkins erbleichte plötzlich. Konnte Weller in einer Anwandlung von Gewissensbissen irgendeine heimliche Verschwörung gegen sein Leben entdeckt haben? Es war ein furchtbarer Gedanke. Er war ein Staatsbeamter, und er wurde blasser, als er an Julius Cäsar und Herrn Perceval dachte.

Der Beamte sah wieder auf Herrn Pickwick und winkte Herrn Jinks.

»Was halten Sie von diesem Gesuch, Herr Jinks?« flüsterte Herr Nupkins.

Herr Jinks, der nicht genau wußte, was er davon halten sollte und anzustoßen fürchtete, lächelte bedenklich und schüttelte langsam den Kopf, während er seine Mundwinkel hinaufzog.

»Herr Jinks«, sagte der Beamte mit strengem Tone. »Sie sind ein Esel, Sir.«

Als er diese lakonische Ansicht ausgesprochen hatte, lächelte Herr Jinks wieder – doch etwas weniger als zuvor – und zog sich allgemach in seinen Winkel zurück.

Herr Nupkins ging einige Minuten mit sich selbst zu Rate, erhob sich dann von seinem Stuhl, bedeutete Herrn Pickwick und Sam Weller, ihm zu folgen, trat in ein kleines Zimmer, das an die Amtsstube stieß, ersuchte hierauf Herrn Pickwick, sich bei der gegenüberliegenden Wand des Gemaches aufzustellen. Dann erklärte er sich bereit, die Mitteilungen, welcher Art sie auch sein möchten, anzuhören, wobei er die Hand an der halbgeschlossenen Tür hatte, um sogleich entrinnen zu können, im Falle die Herren nur die geringste Miene machen sollten, Feindseligkeiten zu beginnen.

»Ich will sofort zur Sache kommen, Sir«, begann Herr Pickwick; »es betrifft Sie und Ihre Ehre wesentlich. Ich habe allen Grund zu der Vermutung, Sir, daß Sie einem groben Betrüger in Ihrem Hause Ein- und Ausgang gestatten.«

»Zwei«, unterbrach ihn Sam, »das maulbeerfarbene Untier steckt voll Tränen und Schurkerei.«

»Sam«, fiel Herr Pickwick ein; »wenn ich mich diesem Herrn verständlich machen soll, so muß ich dich bitten, deinen Gefühlen Einhalt zu tun.«

»Tut mir sehr leid, Sir«, versetzte Herr Weller; »aber wenn ich bedenke, was der Hiob für ein Kerl ist, so kann ich mir nicht helfen; ich muß die Klappe einen oder zwei Zoll weit aufmachen.«

»Mit einem Wort, Sir«, sagte Herr Pickwick, »ist mein Diener recht daran, wenn er vermutet, daß ein gewisser Kapitän Fitz-Marshall hier aus- und eingeht? – Denn«, fügte Herr Pickwick hinzu, als er sah, daß Herr Nupkins im Begriff stand, ihn zornig zu unterbrechen – »denn wenn er recht hat, so kenne ich diese Person als einen –«

»Pst, pst«, fiel Herr Nupkins, die Tür schließend, ein. »Sie kennen ihn – als was?«

»Als einen nichtswürdigen Abenteurer – einen ehrlosen Halunken – einen Mann, der die Gesellschaft plündert und die Leute mit seinen Schurkereien, seinen albernen, dummen, erbärmlichen Schurkereien hinters Licht führt«, rief der aufgeregte Herr Pickwick,

»Ach Gott«, seufzte Herr Nupkins, tief errötend und plötzlich sein ganzes Benehmen ändernd. »Ach Gott, Herr –«

»Pickwick«, ergänzte Sam.

»Pickwick«, sagte der Beamte, »ach Gott, Herr Pickwick – bitte, nehmen Sie Platz – das kann nicht Ihr Ernst sein. Kapitän Fitz-Marshall?«

»Nennen Sie ihn nicht Kapitän«, fiel Sam ein, »auch nicht Fitz-Marshall: er ist weder das eine noch das andere. Er ist ein herumziehender Komödiant, weiter nichts. Sein Name ist Jingle: und wenn es je einen Wolf in maulbeerfarbener Haut gab, so ist es Hiob Trotter.«

»Es ist reine Wahrheit, Sir«, sagte Herr Pickwick, als ihn der Beamte voll Bestürzung anstarrte. »Ich habe in dieser Stadt nichts anderes zu tun, als die Person, von der wir sprechen, zu entlarven.«

Und Herr Pickwick begann dem schreckensbleichen Herrn Nupkins einen kurzen Abriß von Herrn Jingle zu geben. Er erzählte, wie er ihn zuerst kennengelernt, wie er Fräulein Wardle entführt, wie er die Dame gegen ein Lösegeld gerne wieder freigegeben, wie er ihn um Mitternacht in eine Mädchenschule gelockt, und wie er (Herr Pickwick) es jetzt für seine Pflicht halte, seine Ansprüche auf seinen Stand und Namen in ihrer Nichtigkeit darzustellen. Während dieser Erzählung stieg alles warme Blut, das in Herrn Nupkins‘ Adern kreiste, bis in die äußersten Spitzen seiner Ohren. Er hatte den Kapitän bei einem Pferderennen in der Nachbarschaft zufälligerweise getroffen. Entzückt durch seine lange Liste aristokratischer Bekanntschaften, seine ausgedehnten Reisen und sein fashionables Benehmen, hatten Frau Nupkins und Fräulein Nupkins Herrn Kapitän Fitz- Marshall und wieder Kapitän Fitz-Marshall und Kapitän Fitz- Marshall hinten und vorn bei allen Matadoren ihrer auserlesenen Gesellschaft eingeführt, bis endlich ihre Busenfreundinnen, Frau Porkenham und das Fräulein Porkenham und deren Bruder, Herr Sidney Porkenham, vor Eifersucht und Verzweiflung beinahe platzten. Und nun, nach all diesem hören zu müssen, er sei ein elender Abenteurer, ein herumziehender Komödiant und, wo nicht ein Betrüger, doch wenigstens ein Mann, der einem solchen so ähnlich sah, daß es schwer hielt, einen Unterschied zu entdecken. Himmel! was würden die Porkenham sagen? Wie würde Herr Sidney Porkenham triumphieren, wenn er erführe, daß man ihn um eines solchen Nebenbuhlers willen hintangesetzt? Wie konnte er bei der nächsten Quartalsitzung dem alten Porkenham unter die Augen treten, und wenn die Geschichte bekannt wurde, wie hätte er dadurch der Opposition der herrschenden Partei das Messer selbst in die Hand gegeben?«

»Aber bei alledem«, sagte Herr Nupkins, dessen Gesicht sich nach einem langen Stillschweigen wieder für einen Augenblick aufheiterte: »bei alledem ist das eine bloße Behauptung. Fitz-Marshall ist ein sehr einnehmender Mann – und hat ohne Zweifel viele Feinde. Welche Beweise haben Sie für die Wahrheit Ihrer Angaben?«

»Stellen Sie ihn mir gegenüber«, erwiderte Herr Pickwick: »das ist alles, was ich verlange und alles, was ich mir ausbitte. Stellen Sie ihn mir und meinen Freunden gegenüber, so werden Sie keiner weiteren Beweise bedürfen.«

»Nun«, versetzte Herr Nupkins, »das läßt sich sehr leicht bewerkstelligen, denn er wird diesen Abend hier sein, und dann würde zugleich das Aufsehen vermieden. Es wäre mir bloß – bloß – um den jungen Mann selbst, Sie verstehen mich. Ich – ich möchte aber doch vorerst Madame Nupkins über das Geeignete eines solchen Schrittes um Rat fragen. Auf alle Fälle, Herr Pickwick, müssen wir unser Amtsgeschäft ins reine bringen, ehe wir an etwas anderes gehen können. Haben Sie die Güte, wieder in das andere Zimmer zu treten.«

Sie kehrten in das Amtszimmer zurück.

»Grummer«, rief der Beamte mit feierlichem Tone.

»Ihr Gestrengen«, erwiderte Grummer mit dem Lächeln eines Günstlings.

»Gehen Sie«, sagte der Beamte streng, »und nehmen Sie sich in acht, daß Sie sich künftig nicht mehr übereilen. Es geziemt Ihnen gar nicht, und ich kann Sie versichern, Sie haben sehr wenig Ursache, darüber zu lächeln. War der Bericht, den Sie mir soeben erstattet, durchaus der Wahrheit getreu? Besinnen Sie sich wohl, Mensch.«

»Ihr Gestrengen«, stotterte Grummer, »ich –«

»Ah, Sie kommen in Verwirrung – nicht wahr?« sagte der Beamte. »Herr Jinks, bemerken Sie seine Verwirrung?«

»Jawohl, Sir«, erwiderte Jinks.

»Wiederholen Sie jetzt Ihre Aussagen, Grummer«, sagte der Beamte; »und noch einmal warne ich Sie, besinnen Sie sich wohl. – Herr Jinks, nehmen Sie seine Angaben zu Protokoll.«

Der unglückliche Grummer begann also seinen Bericht aufs neue: allein die Art und Weise, wie Herr Jinks seine Worte zu Protokoll und der Beamte sie auf die Wagschale legte, verbunden mit seinem natürlichen Hang zu Weitschweifigkeiten und seiner außerordentlichen Verwirrung, verwickelte ihn in einem Zeitraum von weniger als drei Minuten in eine solche Menge von Widersprüchen, daß Herr Nupkins auf einmal erklärte, er könne ihm keinen Glauben schenken. Die Strafen wurden also erlassen, und Herr Jinks wußte im Augenblick ein paar Bürgen. Als nun die ganze feierliche Gerichtsverhandlung zur allgemeinen Zufriedenheit geschlossen war, wurde Herr Grummer schimpflich hinausgewiesen – ein furchtbarer Beweis der Unbeständigkeit menschlicher Größe und der unsicheren Stellung eines Günstlings der Großen. –

Frau Nupkins war eine majestätische Person in einem blauen Gazeturban und lichtbraunen falschen Haaren. Fräulein Nupkins besaß alles Hochfahrende ihrer Mama, außer dem Turban, und alles Falsche dieser, außer den Haaren. Wenn die Ausübung dieser liebenswürdigen Eigenschaft Mutter und Tochter, wie es nicht selten der Fall war, in eine unangenehme Lage versetzte, so kamen beide darin überein, die Schuld auf Herrn Nupkins‘ Schultern zu legen. Als daher Herr Nupkins Frau Nupkins aufsuchte und ihr verriet, was Herr Pickwick ihm anvertraut hatte, erinnerte sich Frau Nupkins plötzlich, daß sie immer so etwas der Art erwartet, daß sie immer gesagt, dahin würde es noch kommen; daß man nie auf ihren Rat geachtet, daß sie wirklich gar nicht wisse, wofür Herr Nupkins sie halte, und so weiter.

»Der Gedanke«, sagte Fräulein Nupkins, aus jedem Augenwinkel eine Träne von kaum bemerkbaren Dimensionen hervorpressend: »der Gedanke, so zum besten gehalten worden zu sein –«

»Dafür kannst du dich bei deinem Papa bedanken«, fiel Frau Nupkins ein. »Wie habe ich den Mann gebeten und beschworen, sich nach des Kapitäns Familienverhältnissen zu erkundigen: wie bin ich in ihn gedrungen, einen entscheidenden Schritt zu tun! Ich weiß gewiß, niemand wird mir’s glauben – niemand.«

»Aber meine Liebe«, sagte Herr Nupkins.

»Entschuldige dich nicht, du machst die Sache nur schlimmer: entschuldige dich nicht«, fiel Frau Nupkins ein.

»Meine Liebe«, begann Herr Nupkins aufs neue, »du hast doch selbst Kapitän Fitz-Marshall so sehr begünstigt; hast ihn beständig zu uns eingeladen, meine Liebe, und hast keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ihn auch in andere Gesellschaften einzuführen.«

»Hab ich es nicht gesagt, Henriette?« entgegnete Frau Nupkins, sich mit der Miene des schwer beleidigten Weibes an ihre Tochter wendend: hab‘ ich es nicht gesagt, dein Papa werde es umdrehen und alles mir aufbürden? Hab‘ ich es nicht gesagt?«

Hier schluchzte Frau Nupkins.

»Ach, Papa!« rief Fräulein Nupkins und schluchzte ebenfalls.

»Ist es nicht himmelschreiend? Nachdem er alle diese Schmach über uns gebracht und uns lächerlich gemacht hat, treibt er noch seinen Spott mit mir und sagt, ich sei schuld daran!« rief Frau Nupkins.

»Wie können wir uns je wieder in Gesellschaft blicken lassen?« sagte Fräulein Nupkins.

»Wie können wir den Porkenhams unter die Augen treten?« fragte Frau Nupkins.

»Oder den Grigs?« sagte Fräulein Nupkins.

»Oder den Slummintowkens?« fragte Frau Nupkins. »Doch was kümmert das deinen Papa? Was gilt das ihm?«

Bei diesem furchtbaren Gedanken weinte Frau Nupkins so heftig, wie man nur im tiefsten Seelenschmerz weinen kann, und Fräulein Nupkins folgte ihrem Beispiele.

Frau Nupkins Tränen fuhren fort, mit großer Geschwindigkeit zu fließen, bis sie ein wenig Zeit gewonnen hatte, die Sache zu überdenken. Darauf fiel dann ihre Entscheidung dahin aus, es werde das beste sein, wenn man Herrn Pickwick und seine Freunde bis zur Ankunft des Kapitäns zu bleiben bäte, um Herrn Pickwick die gewünschte Gelegenheit zu verschaffen. Würden sich dann seine Angaben als wahr herausstellen, so könnte der Kapitän ohne weiteres Aufsehen aus dem Hause gewiesen und den Porkenhams leicht vorgespielt werden, er sei durch den Einfluß seiner Familie bei Hof zum Generalgouverneur von der Teufelsinsel oder vom Pfefferland oder irgendeiner andern Kolonie in jenen gesunden Himmelsstrichen ernannt worden, die die Europäer so sehr bezaubern, daß sie, wenn sie einmal dort sind, nicht mehr leicht zur Rückkehr bestimmt werden können.

Als Frau Nupkins ihre Tränen trocknete, trocknete auch Fräulein Nupkins die ihren, und Herr Nupkins war äußerst froh, daß die Sache so abgemacht wurde, wie Frau Nupkins vorgeschlagen hatte. Also wurde Herr Pickwick mit seinen Freunden, nachdem sie sich zuvor von allen Spuren ihres letzten Erlebnisses rein gewaschen hatten, den Damen vorgestellt und bald darauf in einen Speisesaal geführt. Herr Weller, in dem der Beamte vermöge des ihm eigenen Scharfblicks binnen einer halben Stunde einen der feinsten Burschen von der Welt entdeckt hatte, wurde der Sorgfalt und Pflege Herrn Muzzles empfohlen, dem besonders eingeschärft wurde, Weller mit sich herunter zu nehmen und mit der gehörigen Achtung zu behandeln.

»Wie geht es Ihnen, Sir?« fragte Herr Muzzle, als er Herrn Weller die Küchentreppe hinunterführte.

»Nun, es hat seit der kurzen Zeit, daß ich Sie in der Amtsstube hinter dem Stuhle Ihres Herrn aufgepflanzt sah, keine große Veränderung in meinen inneren Zuständen stattgefunden«, versetzte Sam.

»Sie werden mich entschuldigen, daß ich Ihnen damals so wenig Aufmerksamkeit erwiesen«, bemerkte Herr Muzzle. »Sie wissen, mein Herr hatte Sie mir noch nicht vorgestellt. Himmel, wie er jetzt so große Stücke auf Sie hält, Herr Weller! Sie dürfen dessen versichert sein!«

»Ach, was er für ein artiger Herr ist!« sagte Sam.

»Nicht wahr?« erwiderte Muzzle.

»Soviel Humor«, meinte Sam.

»Und ein so beredter Mann«, sagte Muzzle, »seine Gedanken fließen – nicht wahr?«

»Wundervoll«, versetzte Sam; »sie stürzen heraus und stoßen die Köpfe so hart aneinander, daß sie sich ganz verwirrt machen; man weiß oft kaum, was er damit will – nicht wahr?«

»Das ist eben die große Kunst, die in seinem Vortrage liegt«, bemerkte Herr Muzzle. »Geben Sie acht, hier kommt die letzte Stufe, Herr Weller. Wollen Sie sich nicht die Hände waschen, Sir, ehe wir zu den Damen gehen? Hier ist ein Becken mit Wasser, Sir, und hinter der Tür ein reines Handtuch.«

»Es könnte nicht schaden, wenn ich mich etwas säuberte«, erwiderte Herr Weller, das Handtuch dick mit Seife überschmierend und das Gesicht reibend, bis es wieder schimmerte. »Wie viele Damen sind hier?«

»Nur zwei sind in unserer Küche«, antwortete Herr Muzzle, »eine Köchin und ein Stubenmädchen. Wir halten einen Jungen für die gewöhnlichen Arbeiten, und außerdem noch ein Laufmädchen; aber sie essen im Waschhause.«

»Ah, sie essen im Waschhause – wirklich?« fragte Herr Weller.

»Ja«, versetzte Herr Muzzle: »wir versuchten es anfangs, sie an unsere Tafel zu ziehen, aber es ging nicht. Das Laufmädchen hat so furchtbar ungebildete Manieren und der Junge schnauft so schrecklich, wenn er ißt, daß wir es unmöglich fanden, mit ihnen bei Tisch zu sitzen.«

»Etwa wie ein junger Haifisch?« bemerkte Herr Weller. »O, fürchterlich«, erwiderte Herr Muzzle. »Das ist das schlimmste an einem Dienst auf dem Lande, Herr Weller: die jüngeren sind immer so außerordentlich roh. Bitte wollen Sie gefälligst hierher sich bemühen, Sir, hierher.«

So ging er Herrn Weller mit der größten Höflichkeit voran und führte ihn in die Küche.

»Marie«, sagte Herr Muzzle zu dem hübschen Stubenmädchen: »dies ist Herr Weller, ein Gentleman, den der Herr herunterschickt und unserer Fürsorge für seine Unterhaltung aufs beste empfiehlt.«

»Und Ihr Herr ist ein Kenner – und hat mich gerade an den rechten Platz geschickt«, bemerkte Herr Weller, indem er Marie mit einem Blick der Bewunderung betrachtete. »Wenn ich Herr im Hause wäre, Stoff zur Unterhaltung würde ich überall finden, wo Marie ist.«

»Bitte, Herr Weller«, sagte Marie errötend.

»Schön, von mir will niemand was«, rief die Köchin aus.

»Beim Himmel, ich habe nicht an Sie gedacht, Köchin«, sagte Herr Muzzle. »Erlauben Sie mir, Herr Weller, Sie vorzustellen.«

»Wie geht es Ihnen, Madame?« fragte Herr Weller. »Freut mich unendlich, Ihre Bekanntschaft zu machen, und ich hoffe, sie soll von langer Dauer sein, wie der Kavalier zu der Fünfpfundnote sagte.«

Als diese Vorstellungszeremonie vorüber war, zogen sich die Köchin und Marie an das Ende der Küche zurück, um zehn Minuten lang zu kichern, und kamen dann mit hochroten, lachenden Gesichtern wieder zur Gesellschaft, die sich sofort zu Tisch setzte.

Herrn Wellers Gewandtheit und Unterhaltungsgabe äußerten einen so unwiderstehlichen Einfluß auf seine neuen Freunde, daß sie, noch ehe das Mittagessen halb vorüber war, bereits auf dem vertrautesten Fuße mit ihm standen und in die Schurkenstreiche Hiob Trotters völlig eingeweiht waren.

»Ich konnte diesen Hiob nie ausstehen«, sagte Marie.

»Das war auch nicht wohl anders möglich, mein Schätzchen«, versetzte Herr Weller.

»Warum nicht?« fragte Marie.

»Weil sich Häßlichkeit und Schurkerei nie mit Schönheit und Tugend verschwistern können«, antwortete Herr Weller. »Nicht wahr, Herr Muzzle?«

»Sie haben ganz recht«, sagte dieser.

Hier lachte Marie und sagte, die Köchin habe sie zum Lachen gebracht, und die Köchin lachte und sagte, es sei nicht wahr.

»Ich habe kein Glas«, sagte Marie. ,

»Trinken Sie mit mir, meine Teuerste«, sagte Herr Weller; »setzen Sie Ihre Lippen an meinen Becher, so kann ich Sie durch Vermittlung küssen.«

»Schämen Sie sich, Herr Weller«, meinte Marie.

»Warum schämen, meine Teuerste?«

»Daß Sie so reden.«

»Pah; es ist ja nichts Arges. Es ist etwas Natürliches; nicht wahr, Jungfer Köchin?«

»Fragen Sie mich nicht so närrisch«, erwiderte die Köchin in der besten Laune. Darauf lachten die Köchin und Marie wieder solange, bis die letztgenannte Dame vom Bier, von der kalten Küche und dem Gelächter so angegriffen wurde, daß sie beinahe erstickte – eine gefährliche Krisis, die sie nur überstand mit Hilfe mehrerer Schläge auf den Rücken und anderer erforderlicher Aufmerksamkeiten, die ihr auf die zarteste Weise von Herrn Samuel Weller erwiesen wurden.

Diese laute Fröhlichkeit wurde plötzlich durch starkes Läuten am Gartentor unterbrochen, worauf der junge Herr, der seine Mahlzeit im Waschhause hielt, alsbald öffnete. Herr Weller widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem hübschen Stubenmädchen. Herr Muzzle war durch das Servieren in Anspruch genommen, und die Köchin hatte eben zu lachen aufgehört und führte gerade ein beträchtliches Stück Fleisch nach ihren Lippen, als die Küchentür aufging und Herr Hiob Trotter hereintrat.

Wir haben gesagt, daß Herr Hiob Trotter hereintrat, aber diese Behauptung kann auf die gewöhnliche Gewissenhaftigkeit der Geschichtsschreiber keinen Anspruch machen. Die Tür ging auf, und Herr Trotter erschien. Er wäre hereingetreten, und war wirklich im Begriff, hereinzutreten, als er beim Anblick des Herrn Weller unwillkürlich ein paar Schritte zurückbebte und vor Bestürzung und Schrecken die unerwartete Szene völlig regungslos anstarrte.

»Da ist er«, sagte Sam, vergnügt aufstehend. »Wir sprachen soeben von Ihnen. Wie geht es Ihnen? Wo haben Sie sich befunden? Treten Sie ein.«

Und seine Hand auf den maulbeerfarbenen Kragen des widerstandslosen Hiob legend, zog ihn Herr Weller in die Küche, schloß die Tür ab und händigte den Schlüssel Herrn Muzzle ein, der ihn ganz kaltblütig in seine Seitentasche steckte.

»Das ist höchst lustig«, rief Sam. »Denken Sie nur, mein Herr hat das Vergnügen, den Ihren oben zu sehen, und ich habe die Freude, Sie hier unten zu begrüßen. Wie steht es mit Ihnen und wie steht es mit dem Kramladen? Nun, es freut mich sehr, Sie zu treffen. Wie gut Sie aussehen! Es ist eine wahre Lust, Sie zu betrachten – nicht wahr, Herr Muzzle?«

»Gewiß«, meinte Herr Muzzle.

»Er ist so zutraulich«, bemerkte Sam.

»So aufgeräumt«, bestätigte Muzzle.

»Und so glücklich, uns zu sehen – das macht ihn so heiter«, sagte Sam. »Setzen Sie sich: setzen Sie sich.«

Herr Trotter ließ sich in einen Stuhl zwängen, der am Feuer stand, richtete seine Äuglein zuerst auf Herrn Weller, dann auf Herrn Muzzle und sagte nichts.

»Nun hätte ich Lust«, sagte Sam, »Sie aus einer Art von Neugierde in Gegenwart dieser Damen zu fragen, ob Sie sich nicht für einen so hübschen und artigen jungen Ehrenmann halten, wie nur je einer ein rotgewürfeltes Taschentuch und Nummer vier der geistlichen Liedersammlung bei sich trug.«

»Und wie nur je einer im Begriff war, sich mit einer Köchin zu verheiraten«, fügte die Dame unwillkürlich hinzu. »Der Schurke!«

»Ha, ha; sich von seinen bösen Wegen bekehren und dann einen Kramladen errichten!« sagte das Stubenmädchen.

»Jetzt will ich Euch was sagen, junger Mann«, begann Herr Muzzle, den die beiden letzteren Anspielungen in Wut versetzten, mit strengem Tone; »mit dieser Dame (auf die Köchin deutend) gedenke ich eine Verbindung fürs Leben zu schließen; und wenn Sie sich erdreisten, davon zu sprechen, Sie wollten mit ihr eine Verbindung zu einem Kramladen eingehen, so beleidigen Sie mich in einem der empfindlichsten Punkte, worin nur ein Mann den andern beleidigen kann. Verstehen Sie das, Sir?«

Hier schwieg Herr Muzzle, der einen großen Begriff von seiner Beredsamkeit hatte; denn er ahmte darin seinem Herrn nach, und wartete auf Antwort. ,

Aber Herr Trotter gab keine Antwort. Und so fuhr denn Herr Muzzle in strengem Ton fort:

»Es ist sehr wahrscheinlich, Sir, daß man Sie oben für einige Minuten nötig haben wird, Sir; denn mein Herr ist in diesem Augenblick damit beschäftigt, mit Ihrem Herrn, Sir, ein Hühnchen zu rupfen. Darum haben Sie einstweilen Muße, mit mir eine kleine Privatunterredung zu haben, Sir. Verstehen Sie das, Sir?«

Herr Muzzle wartete wieder auf Antwort, aber Herr Trotter täuschte abermals seine Erwartung.

»Nun denn«, sagte Herr Muzzle, »es tut mir sehr leid, mich in Gegenwart der Damen erklären zu müssen; aber das Dringende des Falls wird mich entschuldigen. Das anstoßende Gemach ist leer, Sir, wenn Sie dort hineintreten wollen, Sir; und Herr Weller wird nichts dagegen haben, und wir können unsere Sache dann ausfechten, bis die Glocke ertönt. Folgen Sie mir, Sir.«

Während Herr Muzzle also sprach, ging er ein paar Schritte der Tür zu, und um Zeit zu ersparen, zog er während des Gehens seinen Rock aus.

Kaum hatte die Köchin die letzten Worte dieser furchtbaren Herausforderung gehört, und gesehen, wie Herr Muzzle im Begriff war, sie zur Ausführung zu bringen, als sie einen lauten, durchdringenden Schrei ausstieß und auf Herrn Hiob Trotter losstürzte. Dieser war eben von seinem Stuhl aufgestanden, und nun zerkratzte und zerschlug sie ihm sein breites, plattes Gesicht mit jener Energie, die aufgeregten Damen eigentümlich ist. Sie fuhr ihm mit den Händen in sein langes, schwarzes Haar und riß ihm soviel davon aus, daß man fünf bis sechs Dutzend der größten Trauerringe 1 hätte daraus flechten können. Als sie dieses Bravourstück mit all jener Begeisterung vollbracht hatte, die ihr die feurige Liebe zu Herrn Muzzle einflößte, taumelte sie zurück, und da sie eine Dame von sehr erregbaren und feinen Gefühlen war, so fiel sie augenblicklich ohnmächtig unter den Tisch.

In diesem Augenblick ertönte die Glocke.

»Das gilt Ihnen, Hiob Trotter«, sagte Sam; und bevor Herr Trotter etwas antworten konnte – ja sogar bevor Herr Trotter Zeit hatte, die Wunden zu verstopfen, die ihm die besinnungslose Dame beigebracht – nahm ihn Sam an einem und Herr Muzzle an dem andern Arm, und indem ihn der eine vorn zog und der andere hinten schob, brachten sie ihn die Treppe hinauf ins Wohnzimmer.

Ein imposantes Bild entfaltete sich vor ihnen. Alfred Jingle, Esquire, alias Kapitän Fitz-Marshall, stand mit dem Hute in der Hand und einem Lächeln auf seinem trotz seiner höchst unangenehmen Lage völlig ruhigen Gesicht, an der Tür. Ihm gegenüber stand Herr Pickwick, der soeben eine strenge moralische Vorlesung gehalten haben mußte; denn seine linke Hand ruhte auf seiner Hüfte und seine rechte schwebte in der Luft – eine Haltung, die ihm eigen war, wenn er eine nachdrückliche Rede hielt. In einiger Entfernung stand Herr Tupman mit zornigem Gesicht und wurde von seinen beiden jüngeren Freunden sorglich zurückgehalten. Weiter hinten im Zimmer sah man Herrn Nupkins, Frau Nupkins und Fräulein Nupkins, großartig düster und wild empört.

»Was hindert mich«, sagte Herr Nupkins mit der Würde des Herrschers, als Hiob hereingebracht wurde – »was hindert mich, diese Menschen als Landstreicher und Betrüger verhaften zu lassen? Es ist törichte Nachsicht. Was hindert mich?«

»Stolz, alter Kamerad, Stolz«, erwiderte Jingle ganz wohlgemut. »Ließe sich nicht machen – ginge nicht – einen Kapitän ins Garn gelockt, he? – ha! ha! sehr hübsch – einen Mann für die Tochter – saurer Apfel – öffentlich werden – um alle Welt nicht – sehen verblüfft drein, ganz verblüfft.«

»Schändlicher!« rief Frau Nupkins; »wir verachten Ihre gemeinen Anspielungen.«

»Ich habe ihn von jeher gehaßt«, fügte Henriette hinzu.

»Ha, natürlich«, bemerkte Jingle. »Schlanker junger Mann – alter Liebhaber – Sidney Porkenham – reich – seiner Bursche – doch nicht so reich als der Kapitän, he? – Gebt ihm den Abschied – fort mit ihm – alles für den Kapitän – gibt nur einen Kapitän – alle Mädchen – rasend verliebt – he, Hiob he?«

Hier lachte Herr Jingle aus vollem Halse, und Hiob rieb sich die Hände vor Vergnügen und gab den ersten Laut von sich, seit er ins Haus getreten war – ein leises, kaum vernehmliches Kichern, das anzudeuten schien, wie er sich seines Lachens zu sehr freute, um es von sich zu geben.

»Nupkins«, bemerkte die ältere Dame, »unsere Unterhaltung ist nicht dazu geeignet, Dienstboten zu Zeugen zu haben. Schaffe die Schurken fort.«

»Jawohl, meine Liebe«, versetzte Herr Nupkin«. »Muzzle!«

»Ihro Gnaden –«

»Machen Sie die Tür auf.«

»Ja, Ihro Gnaden.«

»Verlassen Sie dieses Haus«, sagte Herr Nupkins, mit nachdrucksvoller Bewegung seiner Hand.

Jingle lächelte und ging auf die Tür zu.

»Halt!« rief Herr Pickwick.

Jingle blieb stehen.

»Ich hätte«, sagte Herr Pickwick, »eine weit empfindlichere Rache für die Behandlung nehmen sollen, die mir von Ihnen und Ihrem heuchlerischen Freunde widerfahren ist.«

Hier macht Hiob Trotter eine sehr höfliche Verbeugung und legte seine Hand aufs Herz.

»Ich wiederhole«, fuhr Herr Pickwick, immer zorniger werdend, fort: »ich hätte eine empfindlichere Rache nehmen sollen, aber ich begnüge mich damit, Sie zu entlarven, und ich glaube, das der Gesellschaft schuldig zu sein. Es ist das eine Nachsicht, Sir, für die Sie hoffentlich ein dankbares Gedächtnis haben werden.«

Als Herr Pickwick soweit gekommen war, hielt Hiob Trottet mit ironischer Würde die Hand ans Ohr, als läge ihm alles daran, ja keine Silbe von Herrn Pickwicks Rede zu verlieren.

»Und ich habe nur noch hinzuzufügen, Sir«, fuhr Herr Pickwick, außer sich vor Zorn, fort, »daß ich Sie für einen Schurken und einen – einen Galgenstrick – und – einen größeren Schandbuben halte, als mir je einer vorgekommen ist, oder als ich je von einem gehört habe, mit Ausnahme des höchst frommen und heiligen Landstreichers in der maulbeerfarbigen Livree.«

»Ha–ha–ha«, lachte Jingle. »Ehrlicher Kerl, Pickwick – gute Seele – wackerer alter Knabe – aber müssen nicht leidenschaftlich werden – bös‘ Ding das, sehr bös‘ – nun, nun – sehen uns wohl wieder – nur den Mut nicht sinken lassen – jetzt Hiob – komm.«

Mit diesen Worten setzte Herr Jingle den Hut in seiner gewohnten Weise auf und schritt aus dem Zimmer. Hiob Trotter blieb stehen, sah sich ringsum, lächelte, machte gegen Herrn Pickwick eine spöttisch-feierliche Verbeugung, warf Herrn Weller einen Blick zu, dessen freche Pfiffigkeit jeder Beschreibung spottet, und folgte den Fußtapfen seines hoffnungsvollen Herrn.

»Sam!« rief Herr Pickwick, als Herr Weller ihm nacheilte.

»Sir.«

»Bleib!«

Herr Weller schien unschlüssig.

»Bleib«, wiederholte Herr Pickwick.

»Darf ich diesen Hiob nicht im Garten noch etwas ausstäuben?« fragte Herr Weller.

»Nein«, erwiderte Herr Pickwick.

»Darf ich ihm nicht am Gartentor noch einen Fußtritt geben, Sir?« fragte Herr Weller.

»Nein, unter keinen Umständen«, entgegnete sein Herr.

Zum ersten Male seit seiner Anstellung sah Herr Weller für einen Augenblick mißvergnügt und unglücklich aus. Aber bald klärte sich sein Gesicht auf, denn der schlaue Herr Muzzle, der sich hinter die Haustür versteckt hatte, brach gerade im rechten Moment hervor und hatte das Glück, durch seine außerordentliche Gewandtheit Herrn Jingle und seinen Adjutanten kopfüber die Treppe hinab in die Töpfe zu werfen, worin die amerikanischen Aloen standen.

»Nachdem ich meine Pflicht erfüllt habe, Sir«, sagte Herr Pickwick zu Herrn Nupkins, »will ich mich jetzt mit meinen Freunden von Ihnen verabschieden. Wir danken Ihnen für die uns erwiesene Gastfreundschaft. Erlauben Sie mir, Sie in unser aller Namen zu versichern, daß wir diese nie in Anspruch genommen, noch uns auf eine solche Weise aus unserer früheren Verlegenheit gezogen hätten, wären wir nicht durch ein strenges Pflichtgefühl dazu bestimmt worden. Wir kehren morgen nach London zurück. Ihr Geheimnis ist sicher bei uns aufgehoben.«

Das war der Entgelt, mit dem Herr Pickwick gegen die Behandlung protestierte, die ihnen am Morgen widerfahren war. Er machte den Damen eine tiefe Verbeugung und verließ, ungeachtet der dringenden Einladung der Familie, mit seinen Freunden das Zimmer.

»Nimm deinen Hut, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Er ist unten, Sir«, erwiderte Sam, und eilte hinunter, um ihn zu holen.

Nun war aber niemand in der Küche als das hübsche Stubenmädchen, und da Sams Hut verlegt war, so mußte er ihn suchen, und das hübsche Stubenmädchen leuchtete ihm. Sie mußten die ganze Küche durchsuchen, und das hübsche Stubenmädchen ließ sich in ihrer Besorgnis um den Hut auf ein Knie nieder und durchstöberte alles, was in dem kleinen Winkel hinter der Tür aufgehäuft lag. Es war ein unbequemer Winkel, man konnte nicht hinkommen, ohne vorher die Tür zu schließen.

»Hier ist er«, rief das hübsche Stubenmädchen: »das ist er, nicht wahr?«

»Zeigen Sie«, sagte Sam.

Das hübsche Stubenmädchen hatte das Licht auf den Boden gestellt, und da es nur einen matten Schein von sich warf, war Sam genötigt, sich ebenfalls auf die Knie niederzulassen, um zu sehen, ob es wirklich sein Hut war oder nicht. Der Winkel war außerordentlich eng, und deswegen – es trug niemand anders die Schuld, als der Mann, der das Haus gebaut hatte – kamen Sam und das hübsche Stubenmädchen notwendig sehr nahe zusammen.

»Ja, da« ist er«, sagte Sam. »Leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl«, antwortete das hübsche Stubenmädchen.

»Leben Sie wohl«, sagte Sam: und als er das sagte, ließ er den Hut fallen, dessen Auffindung so viele Mühe gekostet hatte.

»Wie ungeschickt Sie sind«, rief das hübsche Stubenmädchen aus. »Sie werden ihn wieder verlieren, wenn Sie nicht besser acht geben.«

Und um dem vorzubeugen, setzte sie ihm selber den Hut auf den Kopf.

Ob nun das Gesicht des hübschen Stubenmädchens noch hübscher aussah, als es dem Gesichte Sams zugekehrt war, oder ob es eine zufällige Folge des Umstandes war, daß sie einander so nahe waren, das ist eine Frage, die bis auf diesen Tag noch nicht entschieden ist – kurz, Sam küßte sie.

»Sie haben das doch nicht absichtlich getan?« fragte das hübsche Stubenmädchen errötend.

»Nein«, antwortete Sam, »aber jetzt will ich es absichtlich tun.«

Somit küßte er sie wieder.

»Sam!« rief Herr Pickwick von der Treppe her.

»Ich komme, Sir«, erwiderte Sam, hinaufeilend.

»Wo bist du solange gewesen?« fragte Herr Pickwick.

»Es lag etwas hinter der Tür, Sir; darum konnten wir sie solange nicht aufmachen«, antwortete Sam.

Und das war der erste Akt von Herrn Wellers erster Liebe.

  1. Eine längst aus der Mode gekommene Liebhaberei, aus Menschenhaar künstliche Blumen, Schleifen und Schmucksachen, wie auch Trauerhalsketten und Trauerringe zu flechten.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.


Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Das eine kurze Erzählung von dem weitern Verlauf des Prozesses zwischen Bardell und Pickwick enthält.

Da Herr Pickwick durch Jingles Entlarvung den Hauptzweck seiner Reise erreicht hatte, so beschloß er, alsbald nach London zurückzukehren, um sich mit den Maßregeln bekannt zu machen, die die Herren Dodson und Fogg während dieser Zeit ergriffen haben mochten. Diesen Entschluß mit der ganzen Kraft und Entschiedenheit seines Charakters verfolgend, stieg er am Morgen nach den merkwürdigen Ereignissen, die wir in den beiden vorhergehenden Kapiteln der Länge nach erzählt haben, auf den Rücksitz der ersten Kutsche, die Ipswich verließ, und langte mit seinen drei Freunden und Herrn Samuel Weller am selben Abend glücklich und wohlbehalten in der Hauptstadt an.

Hier trennten sich die Freunde auf kurze Zeit. Die Herren Tupman, Snodgraß und Winkle zogen sich in ihre verschiedenen Wohnungen zurück, um die Vorbereitungen zu treffen, die ihr bevorstehender Besuch zu Dingley Dell erforderte, und Herr Pickwick und Sam schlugen ihr einstweiliges üuartier in einem sehr guten, altmodischen und bequemen Gasthofe, nämlich bei »Georg und Geier«, Gast- und Kaffeehaus, George Jard, Lombard-8treet, auf.

Herr Pickwick hatte gespeist, seine zweite Flasche extra guten Portweins geleert, sein seidenes Taschentuch über den Kopf gezogen, seine Füße gegen das Kamingitter gestellt und sich in einen bequemen Armstuhl zurückgelehnt, als ihn der Eintritt des Herrn Weller mit seinem Mantelsack aus seinen stillen Betrachtungen weckte.

»Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Sir«, antwortete Herr Weller.

»Ich habe soeben daran gedacht«, sagte Herr Pickwick, »daß ich bei Frau Bardell in der Goswellstraße noch viele von meinen Sachen liegen habe, die ich gern holen lassen möchte, ehe ich die Stadt wieder verlasse.«

»Ganz recht, Sir«, versetzte Herr Weller.

»Ich könnte sie zwar für den Augenblick bei Herrn Tupman unterbringen«, fuhr Herr Pickwick fort, »aber bevor wir sie dort hinholen, müssen sie notwendig durchgemustert und zusammengepackt werden. Ich wünsche daher, daß du in die Goswellstraße gingest und sie in Ordnung brächtest.«

»Sogleich, Sir?« fragte Herr Weller.

»Sogleich«, erwiderte Herr Pickwick.

»Und halt, Sam«, fügte Herr Pickwick hinzu, indem er seine Börse hervorzog. »Wir sind noch mit der Hausmiete im Rückstand. Die Miete ist zwar erst Weihnachten fällig, aber bezahle sie nur, dann ist die Sache im reinen. Wir haben monatliche Kündigung. Hier ist der Mietvertrag. Gib ihn Frau Bardell und sage ihr, sie könne die Wohnung abgeben, wann es ihr beliebe.«

»Ganz recht, Sir«, versetzte Herr Weller.

»Haben Sie sonst noch etwas zu befehlen, Sir?«

»Nein, Sam.«

Herr Weller ging langsam nach der Tür, als warte er noch auf etwas, öffnete sie langsam, trat langsam hinaus und zog sie langsam bis auf ein paar Zoll zu, als ihm Herr Pickwick nachrief –

»Sam!«

»Hier, Sir«, erwiderte Herr Weiler, eiligst zurückkehrend und die Tür hinter sich schließend.

»Ich habe nichts dagegen, Sam, wenn du zu erfahren versuchst, wie Frau Bardell gegenwärtig gegen mich gesinnt ist, und ob wohl die niederträchtige, grundlose Klage bis aufs äußerste getrieben werden soll. Ich sage, ich habe nichts dagegen, wenn du das tun willst, sofern dir selbst daran liegt, Sam«, sagte Herr Pickwick.

Sam nickte beifällig mit dem Kopfe und verließ das Zimmer. Herr Pickwick zog das seidene Taschentuch noch weiter über den Kopf herunter und schickte sich zu einem Schläfchen an. Herr Weller ging rasch seines Weges weiter, um seinen Auftrag auszurichten.

Es war nahe an neun Uhr, als er die Goswellstraßc erreichte. Im kleinen Wohnzimmer vorn brannten ein paar Kerzen, und in der Fensterblende schatteten sich ein paar Hauben ab. Frau Bardell hatte Gesellschaft.

Herr Weller pochte an die Tür, und nach ziemlich langer Zeit, währenddessen Sam eine Melodie pfiff und die Hausbesitzerin eine kurze, widerspenstige Kerze zu überreden suchte, sich anzünden zu lassen, klapperten ein paar kleine Stiefel über den Hausflur, und der junge Herr Bardell stand vor dem harrenden Weller.

»Nun, junger Dachs«, sagte Sam, »wie steht’s mit der Frau Mutter?«

»Es geht ihr ganz gut«, erwiderte Master Bardell; »und mir auch.«

»Na, Gott sei Dank«, versetzte Sam; »sag ihr, ich möchte sie gern sprechen, mein Goldkind.«

Also gebeten stellte Master Bardell das Licht unten an die Treppe und verschwand hinter der Tür des Wohnzimmers, um seine Botschaft auszurichten.

Die beiden Hauben, die sich an der Fensterblende abzeichneten, gehörten einigen von Frau Bardells vertrautesten Freundinnen, die soeben gekommen waren, um in Ruhe eine Tasse Tee zu trinken und sich ein paar Ferkelfüßchen mit geröstetem Käse schmecken zu lassen. Der Käse schmorte auf eine höchst einladende Weise in einem kleinen holländischen Backofen vor dem Feuer, und die Ferkelfüßchen schwammen ganz köstlich in einem zinnernen Topf. Frau Bardell und ihre beiden Freundinnen schwammen ebenfalls ganz köstlich in einer ruhigen Unterhaltung, die sich mit allen ihren vertrauten Bekannten und Freundinnen befaßte. Da kam Master Bardell von der Haustür zurück und richtete die Botschaft aus, die ihm Herr Samuel Weller anvertraut hatte.

»Herrn Pickwicks Diener?« rief Frau Bardell erblassend.

»Gott steh uns bei!« sagte Frau Cluppins.

»Wahrlich, das hätte ich nicht geglaubt, wenn ich nicht zufälligerweise selbst hier wäre«, rief Frau Sanders.

Frau Cluppins war eine kleine, rührige, geschäftig aussehende Frau, und Frau Sanders eine große, wohlbeleibte Person mit einem Vollmondsgesicht. Und diese beiden bildeten die Gesellschaft.

Frau Bardell hielt es für zweckmäßig, die Aufgeregte zu spielen! und da keine von den dreien genau wußte, ob unter den obwaltenden Umständen Herrn Pickwicks Diener ohne die Vermittlung der Herren Dodson und Fogg eine Mitteilung angenommen werden könne, so waren alle in einiger Bestürzung. In diesem Stande der Unentschiedenheit war das erste, was sie tun zu müssen glaubten, den Knaben dafür zu knuffen, daß er Herrn Weller an der Tür gefunden hatte. Seine Mutter versetzte ihm also verschiedene Püffe, und der Knabe schrie nach Noten.

»Halt dein Maul, du junger Taugenichts«, rief Frau Bardell.

»Ja; plage deine arme Mutter nicht so«, sagte Frau Sanders.

»Sie ist ohnehin schon geplagt genug, Tommy«, fügte Frau Cluppins mit teilnehmender Resignation hinzu.

»Ach, wie unglücklich das arme Lamm ist!« rief Frau Sanders aus.

Bei all diesen moralischen Betrachtungen heulte Master Bardell nur um so lauter.

»Was soll ich jetzt tun?« sagte Frau Bardell zu Frau Cluppin«.

»Ich denke, Sie sollten ihn vorlassen«, erwiderte Frau Cluppin«: »aber auf keinen Fall ohne einen Zeugen.«

»Ich meine, zwei Zeugen wären noch gesetzmäßiger«, bemerkte Frau Sanders, die, wie die andere Freundin, vor Neugierde beinahe platzte.

»Es ist vielleicht am geratensten, ihn hereinkommen zu lassen«, sagte Frau Bardell.

»Ohne Zweifel«, versetzte Frau Cluppins, den Gedanken begierig auffassend. »Treten Sie herein, junger Mann, und schließen Sie vorher noch gefälligst die Haustür.«

Herr Weller folgte der Einladung sogleich, trat ins Wohnzimmer und begann sich seines Auftrags an Frau Bardell mit folgenden Worten zu entledigen:

»Tut mir sehr leid, wenn ich Ihnen persönlich beschwerlich falle, wie jener Räuber zu der alten Dame sagte, als er in ihr Haus eingebrochen war und sie auf das Feuer legte. Aber da ich und mein Herr eben erst in der Stadt angekommen sind und wir sogleich wieder abreisen wollen, so wollte ich Ihnen doch wenigstens meine Aufwartung machen.«

»Natürlich, der junge Mann ist an dem Fehler seines Herrn unschuldig«, sagte Frau Cluppins, von Herrn Wellers Persönlichkeit und Begrüßung tief ergriffen.

»Ohne Zweifel«, stimmte Frau Sanders ein, die, nach gewissen sehnsüchtigen Blicken auf die kleine Zinnplatte zu urteilen, eine genaue Berechnung anzustellen schien, wieweit wohl die Ferkelfüßchen reichen dürften, im Falle Sam zum Abendessen eingeladen würde.

»Alles, weswegen ich gekommen bin, ist kurz dies«, sagte Sam, ohne die Unterbrechung zu beachten. – »Erstens, den Mietvertrag meines Herrn zurückzugeben – hier ist er. Zweitens, die Miete zu bezahlen – hier ist sie. Drittens, zu sagen, daß alle seine Sachen zusammengepackt und einer Person eingehändigt werden sollen, die er danach schicken wird. Viertens, daß Sie die Wohnung, sobald es Ihnen beliebt, vermieten können – und das ist alles.«

»Was immer auch vorgefallen sein mag«, sagte Frau Bardell, »ich habe es immer gesagt und werde es immer sagen, daß sich Herr Pickwick in jeder Rücksicht, außer in einer, stets wie ein vollendeter Gentleman benommen hat. Das Geld war immer so sicher – wie die Bank von England – immer.«

Während Frau Bardell das sagte, hielt sie ihr Taschentuch vor die Augen und ging aus dem Zimmer, um die Quittung zu schreiben.

Sam wußte sehr gut, daß er nur zu schweigen brauchte, um die Weiber zum Sprechen zu bringen; er blickte daher in tiefer Stille abwechselnd nach der zinnernen Platte, dem gerösteten Käse, der Wand und der Zimmerdecke.

»Arme Freundin«, seufzte Frau Cluppins.

»Armes Ding«, rief Frau Sanders aus.

Sam sagte nichts. Er sah, daß sie zur Sache kamen.

»Ich kann mich wahrlich gar nicht fassen«, bemerkte Frau Cluppins, »wenn ich an eine solche Treulosigkeit denke. Ich möchte nicht gern etwas sagen, was Ihnen wehtun könnte, junger Mann, aber Ihr Herr ist ein Ungeheuer, und ich wollte, er wäre hier, daß ich es ihm ins Gesicht sagen könnte.«

»Auch ich wünschte, er wäre hier«, erwiderte Sam.

»Es ist schrecklich mit anzusehen, wie entsetzlich sie sich’s zu Herzen nimmt, wie schwermütig sie umherwankt, und wie sie an nichtmehr Vergnügen findet, außer wenn ihre Freundinnen aus christlichem Mitleid herüberkommen, um sie zu besuchen und zu trösten«, sagte Frau Cluppins mit einem Seitenblick auf die zinnerne Platte und den holländischen Backofen. »Ja, wahrhaft schrecklich!«

»Barbarisch«, rief Frau Sanders.

»Und Ihr Herr, junger Mann, ein Gentleman mit Vermögen, der den Aufwand für eine Frau gar nicht spürt«, fuhr Frau Cluppins mit großer Zungengeläufigkeit fort, »der also keinen Schatten von Entschuldigung für sich hat. – Warum heiratet er sie nicht?«

»Ja«, erwiderte Sam, »das ist eben die Frage, um die es sich handelt.«

»Frage? wahrlich«, entgegnete Frau Cluppins: »wenn sie meinen Geist hätte, sie würde ihn nicht lange fragen. Es gibt noch Gesetze für uns Frauen, zu welch erbärmlichen Geschöpfen sie uns auch machen möchten, wenn sie könnten, und das wird Ihr Herr auf seine Kosten erfahren, ehe er ein halbes Jahr älter ist.«

Bei dieser tröstlichen Betrachtung klärte sich Frau Cluppins‘ Gesicht auf, und sie lächelte Frau Sanders zu, und diese lächelte ihr wieder zu.

»Der Prozeß nimmt also seinen Fortgang; da ist kein Zweifel«, dachte Sam, als Frau Bardell mit der Quittung erschien.

»Hier ist die Quittung, Herr Weller«, sagte Frau Bardell, »und hier ist das Geld, das Sie noch herausbekommen. Ich hoffe. Sie werden einen Tropfen annehmen, um sich zu erwärmen, wäre es auch nur um der alten Bekanntschaft willen, Herr Weller.«

Sam sah den Vorteil ein, den er dadurch errang, und nahm das Anerbieten an, worauf Frau Bardell aus einem kleinen Schrank eine dunkle Flasche und ein Weinglas herausnahm. Sie war so tief in ihren Seelenschmerz versunken, daß sie nach Auffüllung von Herrn Wellers Glas noch drei weitere Glaser zutage förderte und sie ebenfall« füllte.

»Ach du meine Güte, Frau Bardell«, rief Frau Cluppins aus; »wo sind Sie, und was machen Sie da?«

»Wie kommen Sie mir vor?« fiel Frau Sanders ein.

»Ach, mein armer Kopf!« seufzte Frau Bardell mit trübem Lächeln.

Sam verstand natürlich das alles, darum sagte er ohne weitere«, er könne vor Tisch nie trinken, außer es trinke eine Dame mit ihm. Darauf wurde denn weidlich gelacht, und Frau Sanders erklärte sich bereit, ihn in dieser Hinsicht zufriedenzustellen: sie schlürfte also einen Tropfen aus ihrem Glase. Dann meinte Sam, es müsse herumgehen und so nahmen denn alle ein kleines Schlückchen. Dann schlug die Frau Cluppins den Toast vor: »auf guten Erfolg des Prozesses Bardell gegen Pickwicks, und dann leerten die Damen ihre Gläser zu Ehren dieses Trinkspruches und wurden alsbald sehr gesprächig.

»Ich vermute. Sie haben vernommen, was vorgeht, Herr Weller?« sagte Frau Bardell.

»Ich habe davon reden hören«, erwiderte Sam.

»Es ist entsetzlich, auf diese Art zum Stadtgespräche zu werden, Herr Weller«, sagte Frau Bardell. »Aber ich sehe nun ein, daß es das einzige war, was ich tun konnte, und meine Rechtsbeistände, die Herren Dodson und Fogg sagen mir, daß wir mit den Beweisen, die wir vorlegen können, gewinnen müssen. Ich wüßte wirklich nicht, was ich tun sollte, wenn es fehlschlüge, Herr Weller.«

Der bloße Gedanke, Frau Bardell könnte möglicherweise ihren Prozeß verlieren, ergriff Frau Sanders so heftig, daß sie sich in die Notwendigkeit versetzt sah, augenblicklich ihr Glas wieder zu füllen und wieder zu leeren. Sie fühlte, wie sie nachher gestand, sie wäre unfehlbar umgesunken, wenn sie nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, dieses Mittel zu ergreifen.

»Wann wird wohl der Termin stattfinden?« fragte Sam.

»Entweder im Februar oder im März«, erwiderte Frau Bardell.

»Was für eine Menge von Zeugen da auftreten werden!« rief Frau Cluppins au«.

»O gewiß«, versetzte Frau Sanders.

»Und würden die Herren Dodson und Fogg nicht rasend werden, wenn die Klägerin nicht gewönne«, fügte die Frau Cluppins hinzu, »da sie den Prozeß auf Spekulation anfangen?«

»O gewiß«, sagte Frau Sander«.

»Aber die Klägerin muß gewinnen«, bemerkte Frau Cluppins,

»Ich hoffe es«, sagte Frau Bardell.

»O, darüber kann gar kein Zweifel obwalten«, setzte Frau Sanders hinzu.

»Nun«, sagte Sam aufstehend und sein Gla« niederstellend, »alles, was ich sagen kann, ist, daß ich wünsche. Sie mögen ihn gewinnen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Weller«, erwiderte Frau Bardell mit Inbrunst.

»Und was Dodson und Fogg betrifft, die solche Dinge aus Gewinnsucht betreiben«, fuhr Herr Weller fort, »sowie die übrigen liebevollen und großmütigen Männer ihres Gewerbes, die die Leute für nichts und wieder nichts aufeinander Hetzen und ihre Schreiber dazu brauchen, unbedeutende Zwistigkeiten zwischen Nachbarn und Bekannten aufzustöbern und an die Vermittlung des Gesetzes zu verraten – was diese betrifft, so kann ich nur soviel sagen, daß ich wünsche, sie möchten den Lohn bekommen, den ich ihnen gern gäbe.«

»O, ich wünsche, sie möchten den Lohn bekommen, den ihnen jedes liebevolle und großmütige Herz zu geben geneigt wäre«, sagte Frau Bardell, durch diese Worte völlig gewonnen.

»Dazu sage ich Amen«, versetzte Sam, »und sie sollten nur dabei kräftig und glücklich werden! Wünsche Ihnen gute Nacht, meine Damen.«

Zur großen Beruhigung der Frau Sanders durfte Sam sich entfernen, ohne von der Hauswirtin eine Einladung zu den Ferkelfüßchen und dem gerösteten Käse zu erhalten. Diesen Leckerbissen ließen die Damen unter dem jugendlichen Beistand von Master Bardell alsbald vollste Gerechtigkeit widerfahren. Die Gerichte verschwanden wirklich spurlos unter ihren Bemühungen.

Herr Weller wandte seine Schritte zu »Georg und Geier« zurück, und er gab getreulich seinem Herrn Bescheid über die wohlberechneten Anschläge der Herren Dodson und Fogg, die er bei seinem Besuche in Frau Bardells Hause erfahren hatte. Eine Unterredung mit Herrn Perker, die am folgenden Tage stattfand, bestätigte Herrn Wellers Angaben nur zu sehr. Herr Pickwick aber traf Vorbereitungen zu seinem Weihnachtsbesuche in Dingley Dell mit dem erfreulichen Vorgefühl, daß zwei bis drei Monate später vor dem Gerichtshof von Common- Pleas eine Entschädigungsklage wegen Bruchs eines Eheversprechens gegen ihn anhängig gemacht werden würde. Dabei würde die Klägerin alle Vorteile für sich haben, die sich nicht nur aus der Gewalt der Umstände, sondern auch aus der Gewandtheit und dem Scharfsinn der Herren Dodson und Fogg für sie ergeben mußten.

Achtundzwanzigstes Kapitel.


Achtundzwanzigstes Kapitel.

Samuel Weller macht eine Wallfahrt nach Dorking und sieht seine Stiefmutter.

Da bis zur Zeit, die zur Abreise der Pickwickier nach Dingley Dell anberaumt war, noch zwei Tage fehlten, so setzte sich Herr Weller, nachdem er früh zu Mittag gespeist hatte, bei »Georg und Geier« in ein Hinterstübchen, um darüber nachzudenken, wie er diese Zeit am zweckmäßigsten anwenden könnte. Es war ein außerordentlich schöner Tag, und er hatte noch keine zehn Minuten lang in seinem Geiste nachgedacht, als er plötzlich einen Anfall von kindlicher Liebe und Zärtlichkeit verspürte. Der Gedanke, seinen Vater besuchen und seiner Stiefmutter sich vorstellen zu müssen, stand so gebieterisch vor seiner Seele, daß er ganz erstaunt war, wie er bisher diese Pflicht so gänzlich vergessen haben konnte. Um die Versäumnis unverzüglich wieder einzuholen, ging er sofort zu Herrn Pickwick hinauf und bat ihn um Urlaub, damit er seinen lobenswerten Entschluß ausführen konnte.

»Von Herzen gern, Sam, von Herzen gern«, sagte Herr Pickwick, dessen Augen vor Freude über diesen Beweis der zärtlichen Gefühle seines Dieners funkelten; »von Herzen gern, Sam.«

Herr Weller verneigte sich dankbar.

»Ich sehe mit Vergnügen«, sagte Herr Pickwick, »daß du ein so zartes Gefühl für deine kindlichen Pflichten hast, Sam.«

»Das habe ich immer gehabt, Sir«, erwiderte Herr Weller.

»Es freut mich sehr, das von dir zu hören«, sagte Herr Pickwick beifällig.

»Ja, Sir«, versetzte Herr Weller: »so oft ich etwas von meinem Vater haben wollte, bat ich ihn jedesmal auf die artigste und höflichste Weise darum, und wenn er es mir nicht gab, so nahm ich es selber, aus Furcht, ich möchte mich zu einer Unart verleiten lassen, wenn ich es nicht bekäme. Ich ersparte ihm auf diese Weise unendlich viel Verdruß, Sir.«

»Das ist es nicht gerade, was ich meine, Sam«, versetzte Herr Pickwick kopfschüttelnd mit leichtem Lächeln.

»Hatte immer ein zartes Gefühl, Sir – immer die besten Absichten, wie jener Herr sagte, als er sein Weib im Stich ließ, weil sie unglücklich mit ihm zu sein schien.«

»Du kannst gehen, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Danke Ihnen, Sir«, erwiderte Herr Weller: und nachdem er seine zierlichste Verbeugung gemacht und seine besten Kleider angelegt hatte, setzte er sich oben auf die Kutsche von Arundel und fuhr nach Dorking.

Der »Marquis von Granby« John Manners Marquis of Granby (1721–1770) war ein populärer englischer General, der bei der englischen Hilfsaktion für Friedrich den Großen im Siebenjährigen Krieg nach Deutschland entsandt wurde und sich hier militärisch sehr auszeichnete. war zu Wellers Zeiten das Muster eines Landstraßenwirtshauses der besseren Klasse – gerade groß genug, um bequem, und klein genug, um behaglich zu sein. An der Straßenseite des Hauses war ein großes Schild hoch oben angebracht, das den Kopf und die Schultern eines Mannes von dickblütigcm Naturell in rotem Rocke mit dunkelblauen Aufschlägen und einem dreieckigen Hute unter einem Himmel von gleich blauer Farbe darstellte. Über ihm waren ein paar Fahnen und unter seinem untersten Rockknopfe ein paar Kanonen angebracht. Das ganze aber sollte eine auffallende, unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Marquis von Granby glorreichen Angedenkens haben.

Am Fenster des Schenkstübchens präsentierte sich eine erlesene Sammlung von Geranien und eine Reihe dick mit Staub bedeckter Branntweinflaschen. Die offenen Fensterladen waren mit einer Menge goldener Inschriften dekoriert, die gute Betten und vorzügliche Weine verhießen, und die ebenso erlesene Gesellschaft von Bauern und Hausknechten, die an der Stalltüre neben den Futtertrögen herumlungerten, gaben einen Beweis von vornherein für die Vortrefflichkeit des Ales und Branntweins, die im Hause verkauft wurden. Sam Weller stieg ab und blieb vor der Haustür stehen, um mit dem Auge eines erfahrenen Reisenden alle diese kleinen Anzeichen eines lebhaften Geschäftsbetriebs zu mustern. Darauf ging er, mit den Ergebnissen seiner Beobachtungen völlig zufrieden, raschen Schrittes hinein.

»Bitte schön«, rief eine gellende weibliche Stimme in dem Augenblick, da Sam seinen Kopf zur Tür hineinsteckte, »was wünschen Sie, junger Mann?«

Sam sah sich in der Richtung, aus der die Stimme kam, um. Sie gehörte einer ziemlich wohlbeleibten Dame von behaglichem Aussehen, die im Schenkstübchen neben dem Kamin saß und das Feuer unter dem Teekessel anblies. Sie war nicht allein, denn auf der andern Seite der Feuerstätte saß in einem Stuhl mit hohem Rücken ein Mann in fadenscheinigen schwarzen Kleidern, mit einem Rücken, der beinahe ebenso lang und straff war, wie die Lehne des Stuhles, und dieser Mann erregte sogleich Sams besondere Aufmerksamkeit.

Er hatte ein langes, schmales, heuchlerische« Gesicht, eine rote Nase und ein stechendes Auge, das an eine Klapperschlange erinnerte und entschieden auf eine schlechte Gesinnung hindeutete. Er trug sehr kurze Beinkleider und schwarze baumwollene Strümpfe, die gleich seinem übrigen Anzüge sehr abgeschabt waren. Seine Blicke waren steif, aber sein weißes Halstuch war es nicht, und die langen, schmalen Zipfel desselben hingen auf eine für das Auge sehr beleidigende Weise über seine eng zugeknöpfte Weste herab. Ein paar alte, abgetragene Biberhandschuhe, ein breitkrempiger Hut und ein verschossener grüner Regenschirm mit einer Menge von hervorstehenden Fischbeinen, die den Mangel eines Handgriffes am oberen Ende ersetzen zu müssen schienen, lagen auf dem Stuhl neben ihm. Die Ordnung und Sorgfalt aber, womit diese Dinge untergebracht waren, schienen darauf hinzudeuten, daß der Mann mit der roten Nase, wer er auch sein mochte, nicht die Absicht hatte, so schnell wieder weiterzugehen.

Um jedoch dem Mann mit der roten Nase Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen wir bemerken, daß er keineswegs weise gewesen wäre, wenn er solche Absicht, weiterzugehen, gehabt hätte. Er hätte wahrhaftig einen ausgezeichneten Kreis von Bekannten haben müssen, wenn er es irgendwo anders hatte behaglicher bekommen können. Das Feuer brannte hell unter dem Einflüsse des Blasebalgs, und der Kessel summte vergnüglich unter dem Einfluß beider. Auf dem Tische stand ein kleines Teeservice, und auf einer Platte vor dem Feuer rösteten langsam einige Butterbrotschnitten. Der Mann mit der roten Nase aber war eifrig damit beschäftigt, ein großes Stück Brot mittels einer langen messingenen Gabel in den genannten Leckerbissen zu verwandeln. Neben ihm stand ein Glas duftenden warmen Ananasgrogs mit einer Zitronenscheibe darin. So oft der Mann mit der roten Nase die Brotschnitte vors Auge hielt, um zu untersuchen, wie weit sie gar sei, nahm er ein paar Tropfen von dem warmen Ananasgrog zu sich und lächelte der ziemlich wohlbeleibten Dame zu, während sie das Feuer anblies.

Sam hatte sich so sehr in die Betrachtung dieser behaglichen Szene verloren, daß er die erste Frage der ziemlich Wohlbeleibten gänzlich überhörte. Erst als sie zweimal, und zwar jedesmal mit gellenderem Tone wiederholt worden war, kam er zu dem Bewußtsein der Unschicklichkeit seines Betragens.

»Ist der Herr zu Hause?« fragte Sam in Erwiderung der Frage der Dame.

»Nein«, versetzte Frau Weller, denn die ziemlich Wohlbeleibte war niemand ander«, als die weiland Witib und Universalerbin des seligen Herrn Clarke: – »nein, er ist nicht zu Hause, und ich erwarte ihn auch nicht.«

»Er ist wohl ausgefahren?« fragte Sam.

»Kann sein: vielleicht aber auch nicht«, erwiderte Frau Weller, eine Brotschnitte, die der Mann mit der roten Nase eben abgeschnitten hatte, mit Butter bestreichend: »ich weiß es nicht, und überdies kümmert es mich auch nicht. Sprechen Sie einen Segen, Herr Stiggins.«

Der Mann mit der roten Nase tat, was man verlangt hatte, und fiel dann augenblicklich mit großer Gefräßigkeit über die Brotschnitten her.

Gleich auf den ersten Blick hatte Sam aus dem Äußern des Mannes mit der roten Nase deutlich genug den Schluß gezogen, es möchte der Helfer des Hirten sein, von dem sein achtbarer Vater gesprochen. In dem Augenblick, da er ihn essen sah, waren alle seine Zweifel darüber behoben. Er merkte sogleich, daß er, um einstweilen sein Quartier hier aufschlagen zu können, unverzüglich festen Fuß fassen müsse. Demgemäß begann er damit, daß er seinen Arm über die Halbtür des Schenkstübchens legte, kaltblütig aufschloß und gemächlich hineinging.

»Stiefmutter«, sagte er, »wie geht’s Euch?«

»Wahrhaftig, ich glaube es ist ein Weller«, rief sie, ihre Augen mit nicht sehr vergnügtem Ausdruck auf Sams Gesicht richtend.

»Ich glaube es beinahe auch«, sagte der unerschütterliche Sam, »und ich hoffe, Hochwürden hier werden mich entschuldigen, wenn ich den Wunsch ausdrücke, Euer Weller zu sein, Stiefmutter.«

Das war doppelte Ladung; denn er gab damit zu verstehen, daß Frau Weller eine sehr anmutige Frau sei, und zugleich, daß Herr Stiggins ein geistliches Aussehen habe. Das Kompliment machte auch einen sichtbaren Eindruck auf beide, und Sam verfolgte seinen Vorteil, indem er seine Stiefmutter küßte.

»Ach, gehen Sie«, sagte Frau Weller, ihn von sich stoßend.

»Pfui, junger Mann«, schalt der Herr mit der roten Nase.

»Keine Beleidigung, Sir, keine Beleidigung«, versetzte Sam. »Doch Sie haben ganz recht; es ist aber auch etwas Mißliches, wenn Stiefmütter jung und hübsch sind – nicht wahr, Sir?«

»Es ist alles vergänglich«, sagte Herr Stiggins.

»Ach ja«, seufzte Frau Weller, ihre Haube zurechtsetzend.

Sam war der gleichen Meinung, verschloß sie aber in seine Brust.

Der Hirtenhelfer schien über Sams Ankunft keineswegs sehr erfreut. Als die erste Begeisterung über das Kompliment verflogen war, sah man es sogar Frau Weller an, daß sie Sams Gegenwart ohne die geringste Unzufriedenheit hätten entbehren können. Aber er war nun einmal da, und da man ihn anstandshalber nicht hinausweisen konnte, so setzten sich alle drei zum Tee.

»Und was macht der Vater?« fragte Sam.

Auf diese Frage hob Frau Weller Hände und Augen empor, als wäre der Gegenstand zu schmerzlich, um ihn zu berühren.

Herr Stiggins seufzte.

»Was hat dieser Herr?« fragte Sam.

»Er beklagt den Weg, den Ihr Vater wandelt«, erwiderte Frau Weller.

»Wirklich?« fragte Sam.

»Und er hat nur zu triftige Gründe dazu«, fuhr Frau Weller mit ernstem Tone fort.

Herr Stiggins nahm eine frische Butterschnitte und stieß einen schweren Seufzer aus.

»Es ist ein schrecklich ruchloser Mensch«, sagte Frau Weller.

»Ein Mensch, der einen empören kann«, setzte Herr Stiggins hinzu, biß ein großes, halbkreisförmiges Stück aus der Buttertoast heraus und seufzte wieder.

Sam fühlte sich sehr dazu aufgelegt, dem ehrwürdigen Herrn Stiggins Anlaß zum Seufzen zu geben, aber er bezwang seine Neigung und fragte nur:

»Nun, was ist’s denn mit dem Alten?«

»Was es mit ihm ist?« versetzte Frau Weller. »Oh, er hat ein verstocktes Herz. Alle Abende kommt dieser vortreffliche Mann – zürnen Sie nicht, Herr Stiggins, ich darf es behaupten, Sie sind ein vortrefflicher Mann – und bleibt vier Stunden lang bei uns, und das macht nicht den geringsten Eindruck auf ihn.«

»Ach, das ist freilich sonderbar«, bemerkte Sam. »Auf mich würde es einen starken Eindruck machen, wenn ich an seiner Stelle wäre, das weiß ich.«

»Die Sache ist die, mein junger Freund«, sagte Herr Stiggins mit feierlichem Tone, »er hat ein verhärtetes Herz. O, mein junger Freund, wer hätte den inständigen Bitten von sechzehn unserer schönsten Schwestern widerstehen können? Wer hätte ihren Ermahnungen sein Ohr verschlossen, unserer trefflichen Gesellschaft beizutreten, die Negerkinder in Westindien mit Flanelljacken und moralischen Taschentüchern versieht?«

»Was ist denn ein moralisches Taschentuch?« fragte Sam. »Ich habe noch nie solche Ware gesehen.«

»Taschentücher, die das Vergnügen mit der Belehrung verbinden, mein junger Freund«, erwiderte Herr Stiggins. »Es sind auserlesene Erzählungen mit Holzschnitten darauf gedruckt.«

»Ach, ich erinnere mich«, sagte Sam; »sie hängen in den Leinwandläden mit Betteleien und anderm dergleichen Zeug darauf.«

Herr Stiggins machte sich an eine dritte Butterschnitte und nickte beifällig.

»Und er wollte sich von den Damen nicht dazu bewegen lassen?« fragte Sam.

»Saß da und rauchte seine Pfeife und sagte, die Negerkinder wären – was, sagte er, was die Negerkinder seien?« sprach Frau Weller.

»Quatsch«, erwiderte Herr Stiggins höchst entrüstet.

»Sagte, die Negerkinder wären Quatsch«, wiederholte Frau Weller.

Und beide seufzten über das gottlose Benehmen des ältern Herrn Samuel.

Es wären noch eine Menge anderer Ruchlosigkeiten ähnlicher Art an den Tag gekommen. Aber da die Buttertoaste alle verspeist waren, der Tee immer schwächer wurde und da Sam nicht im geringsten Miene machte, sich zu entfernen, so erinnerte sich Herr Stiggins plötzlich daran, daß er eine höchst dringende Angelegenheit mit dem Hirten zu besprechen habe, und verabschiedete sich.

Kaum war das Teegeschirr abgetragen und der Herd ausgewaschen, als die Londoner Postkutsche Herrn Weller senior vors Haus brachte, seine Beine ihn in das Schenkstübchen trugen und seine Augen ihm seinen Sohn zeigten.

»Was, Sammy?« rief der Vater.

»Was, alter Adam!« rief der Sohn, und sie schüttelten sich herzlich die Hände.

»Freut mich sehr, dich zu sehen, Sammy«, sagte der ältere Herr Weller; »obschon es ein Geheimnis für mich ist, wie du es angefangen, deine Stiefmutter für dich einzunehmen. Ich wünschte nur, du schriebest mir das Rezept auf: das wär‘ mir das liebste.«

»Pst«, machte Sam, »sie ist zu Hause, Alter.«

»Sie hört nichts«, versetzte Herr Weller. »Nach dem Tee geht sie allemal und läuft sich ein paar Stunden lang auf dem Hausflur außer Atem, und so können wir uns mittlerweile etwas anfeuchten, Sammy.«

Sprach’s, mischte zwei Gläser Branntwein und Wasser und holte ein paar Pfeifen. Vater und Sohn setzten sich einander gegenüber, Sam auf der einen Seite des Kamins in den Stuhl mit der hohen Lehne, und Herr Weller senior auf der andern in einen gleichen von derselben Bequemlichkeit, und so hatten sie gegenseitig an einander ihre Freude – natürlich aber in den Schranken der gebührenden Würde.

»Jemand hier gewesen, Sammy?« fragte Herr Weller senior trocken, nach einem langen Stillschweigen.

Sam bejahte die Frage mit einem bedeutungsvollen Kopfnicken.

»Der rotnasige Kerl?« fragte Herr Weller.

Sam nickte wieder.

»Ein liebenswürdiger Mann das, Sammy«, bemerkte Herr Weller heftig rauchend.

»Scheint so«, antwortete Sam.

»Viel Talent fürs Rechnungswesen«, sagte Herr Weller.

»So?« fragte Sam.

»Borgt am Montag achtzehn Pence, verlangt am Dienstag einen Schilling, um die halbe Krone vollzumachen, will am Mittwoch noch eine halbe Krone, daß es fünf Schilling ausmacht, und so doppelt er fort, bis er eine Fünfpfundnote hat, ehe man sich’s versieht: als ob er ein Hexenrechenbuch hätte, Sammy.«

Sam nickte.

»Ihr wolltet Euch also für die Flanelljacken nicht unterschreiben?« fragte Sam nach einer Pause, während man sich beiderseits mit Rauchen die Zeit vertrieb.

»Nein, wirklich nicht«, erwiderte Herr Weller. »Was sollen die jungen Neger mit Flanelljacken. Aber ich will dir was sagen, Sammy«, fuhr Herr Weller fort, indem er seine Stimme dämpfte und sich über den Kamin herüberbeugte, »gegen Zwangsjacken für gewisse Leute in unserm Lande hätte ich gar nichts einzuwenden.«

Bei diesen Worten versetzte sich Herr Weller langsam wieder in seine frühere Stellung und gab seinem Erstgeborenen einen bedeutungsvollen Wink.

»Ebenso seltsam kommt mir der Einfall vor, Taschentücher unter Leute auszuteilen, die sie gar nicht zu gebrauchen wissen«, bemerkte Sam.

»Sie machen einen Streich über den andern, Sammy«, versetzte sein Vater. »Letzten Sonntag gehe ich die Straße hinauf. Wen sehe ich an der Kirchentür stehen mit einem blauen Suppenteller in der Hand? Niemand anders als deine Stiefmutter. Ich glaube wahrhaftig, es war Münze für ein paar Goldmünzen drin, lauter Halbpennystücke, und als die Leute aus der Kirche kamen, regnete es Pence, daß man hatte glauben sollen, kein sterblicher Teller, der jemals aus der Werkstätte eines Töpfers hervorging, könnte diese Hülle und Fülle tragen. Wofür meinst du, daß da gebettelt wurde?«

»Vielleicht wieder für einen Tee?« fragte Sam.

»Bewahre«, erwiderte der Vater; »aber für des Hirten Wassersteuer, Sammy.«

»Des Hirten Wassersteuer?« fragte Sam.

»Ja«, erwiderte Herr Weller: »er war noch mit drei Quartalen im Rückstand – vielleicht hegte er die Ansicht, das Wasser sei für ihn ein ziemlich unnützer Artikel; denn er trinkt sehr wenig von dieser Flüssigkeit, Sammy, sehr wenig. Er kennt anderes Wasser, das wenigstens sechsmal mehr wert ist. Gut, dem sei wie ihm wolle; es war einmal nicht bezahlt und sie verschlossen ihm die Leitung. Was tut der Hirte? Er geht in die Kirche, gibt sich für einen Märtyrer aus und sagt, er hoffe, der Aufseher, der ihm das Wasser abgeschnitten hätte, werde in sich gehen und auf den rechten Weg zurückkehren. Aber in seinem Herzen denkt er, der Teufel möge ihn in sein Kundenbuch eintragen. Daraufhin berufen die Weiber eine Versammlung ein, singen einen Psalm, setzen deine Stiefmutter auf den Präsidentenstuhl, veranstalten auf den nächsten Sonntag eine Kollekte und händigen alles dem Hirten ein. Und wenn er nicht genug bekam, sich für sein ganzes Leben lang von der Wassersteuer freizumachen«, schloß Herr Weller seinen Vortrag, »so bin ich ein Esel und du bist auch einer, Sam, und damit basta.«

Herr Weller rauchte einige Minuten still und begann dann aufneue.

»Das Schlimmste an diesen Hirten ist, daß sie den jungen Weibern die Köpfe verdrehen. Der Herr erbarme sich über die guten Geschöpfe: sie glauben, es habe alles seine Richtigkeit, und wissen es nicht besser; aber man treibt nur sein Spiel mit ihnen, Samuel, man treibt nur sein Spiel mit ihnen.«

»Das denke ich auch«, sagte Sam.

»Das ist es«, versetzte Herr Weller mit ernstem Kopfschütteln; »und was mich am meisten ärgert, Samuel, sie vergeuden all ihre Zeit und Mühe damit, Kleider für kupferfarbige Leute zu machen, die sie nicht nötig haben, und keine Rücksicht auf fleischfarbige Christen nehmen, die sie nötig hätten. Wenn ich Herr wäre, Samuel, ich würde einige von diesen faulen Hirten hinter einen schweren Schiebkarren stellen, den sie mir Tag für Tag auf einem vierzehn Zoll breiten Brett auf und nieder fahren müßten. Das würde ihnen womöglich doch die Mücken aus dem Kopfe jagen.«

Als Herr Weller dieses freundliche Mittel mit großem Nachdruck empfohlen hatte, heftig dazu nickte und mit den Augen zwinkerte, leerte er sein Glas auf einen Zug und klopfte mit der ihm angeborenen Würde die Asche aus seiner Pfeife.

Als er so beschäftigt war, ließ sich im Gange eine gellende Stimme vernehmen.

»Das ist deine liebe Verwandte, Sammy«, sagte Herr Weller; und ins Zimmer herein stürmte seine Frau Gemahlin.

»Ach, du bist wieder zurückgekommen?« fragte Frau Weller.

»Ja, meine Liebe«, erwiderte Herr Weller, sich eine frische Pfeife stopfend.

»Ist Herr Stiggins wieder hier gewesen?« fragte Frau Weller.

»Nein, meine Liebe, er war nicht hier«, antwortete Herr Weller. Er nahm eine glühende Kohle mit der Zange aus dem Feuer, hielt sie über den Pfeifenkopf und zündete sich so seine Pfeife an. »Überdies«, fuhr er fort, »dächte ich, meine Liebe, es überleben zu können, wenn er gar nicht mehr käme.«

»Pfui, du ruchloser Mensch«, rief Frau Weller aus.

»Ich danke dir, meine Liebe«, erwiderte Herr Wellwer.

»Geht, geht, Vater«, sagte Sam, »keine Liebeserklärungen vor Fremden, hier kommen Hochwürden wieder.«

Daraufhin wischte Frau Weller hastig die Tränen ab, die sie so eben hervorzupressen angefangen hatte, und Herr Weller rückte seinen Stuhl unmutig in die Ecke des Kamins.

Herr Stiggins war leicht zu bewegen, ein Glas warmen Ananasgrog anzunehmen und ein zweites und ein drittes darauf folgen zu lassen, sich dann aber durch ein kleines Abendessen zu erquicken, bevor er sich wieder aufs neue mit dem Geschäft des Trinkens befaßte. Er saß an der gleichen Seite mit Herrn Weller, und so oft dieser Gentleman der Beobachtung seiner Frau entging, deutete er seinem Sohne die Regungen, die in der Tiefe seines Herzens versteckt lagen, dadurch an, daß er seine Faust über dem Kopfe des Hirtenhelfers hin- und herbewegte. Diese Geste machte seinem Sohne die ungetrübteste Freude, und sie war um so größer, als Herr Stiggins ruhig seinen Ananasgrog trank und gar nicht ahnte, was hinter ihm vorging.

Die Unterhaltung führten hauptsächlich Frau Weller und der ehrwürdige Herr Stiggins. Das abgehandelte Thema aber betraf die Tugenden des Hirten, die Trefflichkeit seiner Herde und die schweren Sünden und Verbrechen aller übrigen Menschen: Abhandlungen, die der ältere Herr Weller gelegentlich durch halbunterdrückte Anspielungen auf einen Gentleman namens Walker und andere naheliegende Kommentarien unterbrach.

Endlich ergriff Herr Stiggins, als er entschieden so viel Ananasgrog zu sich genommen, wie er schicklicherweise vertragen konnte, seinen Hut und verabschiedete sich. Gleich darauf wurde Sam von seinem Vater in sein Schlafgemach geführt. Der achtbare alte Herr schüttelte seinem Sohne feurig die Hand und schien geneigt, noch weiter sein Herz auszuschütten, aber als er sah, daß ihm Frau Weller folgte, gab er seine Absicht auf und wünschte ihm eine gute Nacht.

Sam war am folgenden Tage beizeiten auf. Als er in aller Eile gefrühstückt hatte, schickte er sich zur Rückkehr nach London an. Er hatte kaum den Fuß aus dem Hause gesetzt, als sein Vater vor ihm stand.

»Du gehst, Sammy?« fragte Herr Weller.

»Bin gerade im Begriff«, erwiderte Sam.

»Ich wünschte, du könntest diesen Stiggins unsichtbar machen und mitnehmen«, sagte Herr Weller.

»Ich schäme mich für Euch, alter Knabe«, sagte Sam mit vorwurfsvollem Tone. »Warum leidet Ihr es denn, daß er seine rote Nase in den »Marquis von Granby« hineinsteckt?«

Der ältere Herr Weller heftete einen ernsten Blick auf seinen Sohn und antwortete –

»Weil ich ein verheirateter Mann bin, Samuel; weil ich ein verheirateter Mann bin. Wenn du einmal ein verheirateter Mann bist, Samuel, so wirst du eine Menge Dinge verstehen lernen, die du jetzt nicht verstehst. Aber ob es der Mühe wert ist, so viel durchzumachen, um so wenig zu lernen, wie jener Waisenknabe sagte, als er mit dem Alphabet zu Ende war, das ist Geschmacksache. Ich bin der Meinung, daß es nicht der Mühe wert ist.«

»Na denn«, sagte Sam; »lebe wohl.«

»Halt, halt, Sammy«, erwiderte sein Vater.

»Ich habe nur noch das zu sagen«, sprach Sam, stehenbleibend: »wenn ich der Besitzer des »Marquis von Granby« wäre, und dieser Stiggins käme mir und fräße Buttertoaste in meinem Schenkstübchen, ich würde ihm –«

»Was?« fragte Herr Weller mit großer Hitze. »Was?«

»– Seinen Grog vergiften.«

»Wirklich?« fragte Herr Weller, seinem Sohne feurig die Hand schüttelnd. »Würdest du das wirklich, Sammy?– Würdest du das?«

»Ich würde es«, sagte Sam. »Anfangs würde ich zwar nicht so hart mit ihm verfahren, sondern ihn nur in die Wasserkufe stecken und den Deckel zuschlagen, und wenn ich dann fände, daß er gegen diese Güte unempfindlich wäre, würde ich ihn durch das andere Mittel zu bekehren suchen.«

Der ältere Herr Weller heftete einen Blick hoher, unaussprechlicher Bewunderung auf seinen Sohn und drückte ihm noch einmal die Hand. Dann aber ging er langsam weg und gab sich den zahllosen Gedanken hin, die der Rat seines Erstgeborenen in ihm erweckt hatte.

Sam sah so lange zurück, bis die Straße um eine Ecke bog. Dann verfolgte er seinen Weg nach London. Anfangs dachte er über die mutmaßlichen Wirkungen seines Rates und die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit nach, daß sein Vater ihn befolgen würde. Schließlich aber schlug er sich diesen Gedanken mit dem Trost aus dem Sinn, daß das nur die Zeit lehren könne, und so zu verfahren, wollen wir auch dem Leser raten.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.


Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Herr Pickwick reist nach Ipswich und besteht mit einer Dame von mittlerem Alter mit gelben Haarwickeln ein romantisches Abenteuer.

»Ist dies das Gepäck deines Herrn, Sammy?« fragte Herr Weiler senior seinen lieben Sohn, als er mit einer Reisetasche und einem kleinen Mantelsack in den Hof des Gasthauses zum Ochsen zu Whitechapel trat.

»Wie schlau Ihr doch zu raten wißt!« erwiderte Herr Weller der jüngere, seine Bürde im Hofe ablegend und sich daraufsetzend. »Der Herr wird den Augenblick selbst hier sein.«

»Er kommt vermutlich in einer Droschke?« fragte der Vater.

»Jawohl, er hat für acht Pence sich das Vergnügen gekauft, zwei Meilen lang ein bißchen geschunden zu werden«, antwortete der Sohn. »Wie steht’s heute morgen mit der Frau Stiefmutter?«

»Wunderlich, Sammy, wunderlich«, erwiderte der ältere Herr Weller mit ernstem Tone; »sie ist neuerdings unter die Pietisten gegangen, Sammy, und ich kann dich versichern, daß sie nun gewaltig fromm ist. Es ist ein zu gutes Geschöpf für mich, Sammy – ich fühle es, ich verdiene sie nicht.«

»Das ist viel Selbstverleugnung von Euch«, bemerkte Herr Samuel.

»Wahrhaftig«, versetzte sein Vater mit einem Seufzer. »Sie hält’s jetzt mit einer neuen Erfindung – erwachsene Leute wiedergeboren werden zu lassen – die neue Geburt, glaube ich, nennen sie es. Ich wäre nur begierig, das System in Anwendung bringen zu sehen, Sammy, und möchte Zeuge sein, wie deine Stiefmutter wiedergeboren wird, da ich sie dann doch zu einer Amme bringen müßte. – Was glaubst du, was die Weiber vor einigen Tagen gemacht haben?« fuhr Herr Weller nach einer kurzen Pause fort, und legte dabei seinen Zeigefinger ein halbes dutzendmal bedeutungsvoll an die Nase; »was meinst du, was sie vor ein paar Tagen gemacht haben?«

»Weiß nicht«, erwiderte Sam.

»Gehen hin und geben einem Kerl, den sie ihren Hirten nennen, ein großes Teetrinken. Ich stand eben am Bilderladen auf unserm Platz und besah die Bilder, als ich unter andern auch einen kleinen Zettel sah, worauf zu lesen stand, die Karte koste eine halbe Krone. ›Man wende sich an das Komitee, Sekretär: Madame Weller.‹ Und wie ich heimkam, da hielt das Komitee seine Sitzung in unserer hinteren Stube – vierzehn Weiber: ich wollte, du hättest sie gehört, Sammy. Sie stimmten über Beschlüsse ab, votierten Beiträge und machten allerhand solches Zeug. Na, schön, da mich deine Stiefmutter plagte, hinzugehen, und ich selbst auch wunderliche Dinge zu sehen hoffte, wenn ich ihr folgte, so unterschrieb ich mich auch für eine Karte. Freitag abends sechs Uhr putzte ich mich ordentlich heraus und mache mich mit der Alten auf den Weg. Da treten wir in eine muffige Diele, wo Teeschalen da waren für dreißig Personen, und ein ganzer Schwarm von Weibern, die anfingen, miteinander zu flüstern und mich anzugaffen, als wenn sie noch nie einen stattlichen Achtundfünfziger gesehen hätten. Bald drang lautes Gepolter die Treppe herab, und ein langbeiniger Kerl mit roter Nase und weißer Halsbinde stürmt herein und singt: ›der Hirte kommt zu seiner treuen Herde‹: ihm folgt ein fetter Schwarzkittel mit einem breiten, blassen Gesicht, der in einem fort den Mund zum Lächeln verzieht, wie ein Affe. Ein solcher Kerl kommt also, Sammy: ›den Friedenskuß‹, sagt der Hirte, und dann küßt er alle die Weiber ringsherum, und als er damit fertig ist, fängt der mit der roten Nase an. Ich dachte eben daran, ob ich’s nicht auch so machen sollte, besonders da eine sehr hübsche Frau neben mir saß, als eben der Tee und deine Mutter, die ihn gebraut hatte, die Treppe herabkam. Und nun ging’s los. Was das für ein herrlicher lauter Gesang war, Sammy, während der Tee bereitet wurde: was für ein Beten und Essen und Trinken! Ich wollte, du hättest den Hirten in den Schinken und die Semmelkuchen einhauen sehen! So sah ich noch niemand essen und trinken. Der Rotnasige war schon keiner, den du gern auf deinen gedeckten Tisch losgelassen hättest: aber gegen den Hirten war er nichts. Gut; nachdem der Tee vorüber war, stimmten sie einen andern Lobgesang an, und danach begann der Hirte zu predigen, und es war gar nicht übel, wenn man bedenkt, wie schwer ihm die Semmeln im Magen liegen mußten. Auf einmal bricht er los und schreit: ›wo ist der Sünder, wo ist der erbärmliche Sünder?‹ und alle Weiber sehen auf mich und fangen an zu schluchzen, als lägen sie im Sterben. Das Ding kam mir etwas seltsam vor, aber ich sagte nichts. Plötzlich bricht er wieder los, sieht mich scharf an und sagt: ›wo ist der Sünder, wo ist der erbärmliche Sünder?‹ und alle Weiber schluchzen wieder, noch zehnmal lauter als vorher. Darauf werde ich ein bißchen wild. Ich trete etwas vor und sage, ›mein Freund‹, sage ich, ›gilt diese Bemerkung mir?‹ – Statt mich um Verzeihung zu bitten, wie es ein Gentleman getan hätte, treibt er es noch massiver als vorher, und nennt mich ›ein Gefäß‹, Sammy, ›ein Gefäß des Zorns‹ – und dergleichen mehr. Mein Blut war natürlich etwas aufgeregt. Ich gab ihm zwei oder drei für sich selber und dann noch zwei oder drei, die er dem Kerl mit der roten Nase einhändigen konnte, und ging fort. Ich wollte, du hättest gehört, Sammy, wie die Weiber schrien, als sie den Hirten unter den Tisch hervorzogen. – Holla, das ist ja dein Herr leibhaftig.«

Während Herr Weller so sprach, stieg Herr Pickwick aus einer Droschke und trat in den Hof.

»Ein schöner Morgen, Sir«, sagte Herr Weller senior.

»In der Tat sehr schön« – erwiderte Herr Pickwick.

»In der Tat sehr schön«, wiederholte ein rothaariger Mann mit einer naseweisen Nase und einer blauen Brille, der sich zu gleicher Zeit mit Herrn Pickwick aus der Droschke geschoben hatte. »Reisen nach Ipswich, Sir?«

»Ja«, antwortete Herr Pickwick.

»Außerordentlicher Zufall. Ich auch.«

Herr Pickwick verbeugte sich.

»Haben Ihren Sitz oben?« fragte der Rothaarige.

Herr Pickwick verbeugte sich wieder.

»Seltsam, seltsam – ich sitze auch oben«, sagte der Rothaarige. – »Wir fahren also positiv miteinander.«

Und der Rothaarige, der eine sehr wichtig aussehende, spitznasige, geheimnisvoll tuende Person war, und den Vögeln die Gewohnheit abgesehen zu haben schien, jedesmal, wenn er etwas vorbrachte, den Kopf in die Höhe zu werfen – lächelte, als hätte er eine der wichtigsten Entdeckungen gemacht, auf die jemals der menschliche Geist gekommen war.

»Ich freue mich sehr auf Ihre Gesellschaft, Sir«, sagte Herr Pickwick.

»Ach«, erwiderte der neue Ankömmling, »es ist angenehm für uns beide – oder nicht? Gesellschaft, sehen Sie – Gesellschaft ist – ist – ist ein ganz anderes Ding, als Einsamkeit – nicht wahr?«

»Das wird niemand leugnen«, sagte Herr Weller, sich mit einem freundlichen Lächeln in die Unterhaltung mischend. »Ich nenne so etwas eine Binsenwahrheit, wie der Mann meinte, der Hundefleisch verkaufte, als ihm die Magd sagte, er wäre kein Gentleman.«

»Ah«, bemerkte der Rothaarige, Herrn Weller mit einem vornehmen Blick von Kopf bis zu Fuß betrachtend. »Ein Freund von Ihnen, Sir?«

»Nicht direkt ein Freund«, erwiderte Herr Pickwick halblaut: »er ist mein Diener. Aber ich erlaube ihm manche Freiheiten, da ich ihn, unter uns gesagt, für einen originellen Kopf halte, auf den ich mir etwas zugute tue.«

»Tja«, sagte der Rothaarige, »sehen Sie, das ist Geschmacksache. Ich bin kein Freund von Originalität; ich kann sie nicht leiden; sehe die Notwendigkeit davon nicht ein. – Ihr Name, Sir?«

»Hier ist meine Karte, Sir«, erwiderte Herr Pickwick, durch die schnell aufgeworfene Frage und die sonderbaren Manieren höchlich ergötzt.

»Ah«, sagte der Rothaarige, die Karte in seine Brieftasche legend, »Pickwick; sehr schön. Es ist mir lieb, wenn ich den Namen eines Menschen weiß; man erspart sich manche Verlegenheit. Hier ist meine Karte, Sir. Magnus, Sie werden bemerken, Sir, Magnus heiße ich. Ein hübscher Name, nicht wahr?«

»In der Tat ein sehr hübscher Name«, versetzte Herr Pickwick, und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Ich halte ihn auch dafür«, erwiderte Herr Magnus. »Sie werden bemerken, es steht auch ein schöner Taufname davor. Erlauben Sie, mein Herr, wenn Sie die Karte ein wenig schief halten, auf diese Art, so fällt das Licht auf den Hauptstrich. Hier – Peter Magnus – klingt gut, glaube ich, Sir?«

»Sehr«, bestätigte Herr Pickwick.

»Seltsam mit diesen Anfangsbuchstaben, Sir«, sagte Herr Magnus. »Sie werden bemerken – P. M. – post meridian Post meridian (aus lateinisch » post meridiem«) heißt »vom Nachmittage«, »nachmittäglich«; daher das nachfolgende Wortspiel.. In der Eile unterzeichne ich mich oft in Briefen an genaue Bekannte ›Nachmittag‹. Nein, wie das dann meine Freunde amüsiert, Herr Pickwick.«

»Es läßt sich denken, daß ihnen das viel Spaß macht«, versetzte Herr Pickwick, Herrn Magnus Freunde um die Leichtigkeit beneidend, womit sie zu unterhalten waren.

»Nun, meine Herren«, rief der Hausknecht, »es ist angespannt. Wenn es Ihnen recht ist –«

»Ist all‘ mein Gepäck drin?« fragte Herr Magnus.

»Alles in Ordnung, Sir.«

»Ist der rote Reisesack drin?«

»Alles in Ordnung, Sir.«

»Und der gestreifte Sack?«

»Vorn im Kutschenkorb, Sir.«

»Und das Löschpapierpaket?«

»Unter dem Sitz, Sir.«

»Und das lederne Hutfutteral?«

»Alles drin, Sir!«

»Nun, wollen Sie einsteigen?« fragte Herr Pickwick.

»Sie entschuldigen«, antwortete Magnus, auf dem Rade, auf das er bereits getreten war, stehenbleibend; »in diesem Zustande der Ungewißheit kann ich nicht einsteigen. Ich sehe es diesem Menschen an, daß das lederne Hutfutteral nicht darin ist.«

Die feierlichen Verwahrungen des Hausknechts waren gänzlich fruchtlos, und das lederne Hutfutteral mußte aus dem tiefsten Grunde des Kutschenkorbs herausgerissen werden, um Herrn Magnus zu überzeugen, daß es gut aufgehoben wäre. Nachdem er sich über diesen Punkt beruhigt hatte, fühlte er eine innere Ahnung, erstens sein roter Reisesack sei verlegt, und zweitens sein gestreifter Sack sei gestohlen, und endlich, das Löschpapierpaket sei aufgegangen. Als ihm alles vor Augen geführt worden war und er sich durch persönliche Inspektion mit seinem Sinn von der Haltlosigkeit aller seiner Befürchtungen überzeugt hatte, ließ er sich bereden, ganz auf die Droschke zu klettern; und da nun jeder Stein von seinem Herzen gewälzt war, fühlte er sich behaglich und glücklich.

»Sie sind etwas ängstlich – nicht wahr, Sir?« fragte Herr Weller senior, den Fremden von der Seite ansehend, al« er seinen Platz bestieg.

»Ja, ich bin um diese Kleinigkeiten etwas besorgt«, sagte der Fremde; »aber jetzt ist alles in Ordnung – alles ganz in Ordnung.«

»Nun, das ist ein großes Glück«, sagte Herr Weller. »Sammy, hilf deinem Herrn auf den Bock! Das andere Bein, Sir – das da: geben Sie mir Ihre Hand, Sir: so – jetzt, auf. Sie waren leichter, als Sie noch ein Kind waren, Sir.«

»Das ist nicht zu bestreiten, Herr Weller«, sagte der atemlose Herr Pickwick in guter Laune, als er den Kutschersitz erklommen hatte.

»Schwinge dich vorn hinauf, Sammy«, sagte Herr Weller. »Nun, William, laß laufen. Nehmen Sie sich in acht vor dem Torweg, meine Herren. ›Kopf ab‹, wie jener Pastetenbäcker sagte. – So ist’s recht, William. Laß jetzt los.«

Und die Kutsche fuhr Whitechapel hinan, zur Bewunderung der ganzen Einwohnerschaft dieses ziemlich stark bevölkerten Viertels.

»Das ist keine hübsche Nachbarschaft, Sir«, bemerkte Sam, an den Hut greifend, wie er es immer machte, wenn er eine Unterhaltung mit seinem Herrn anknüpfte.

»Wahrhaftig, nein, Sam«, erwiderte Herr Pickwick, die vollgepfropfte Straße übersehend, durch die sie fuhren.

»Es ist doch äußerst merkwürdig, Sir«, sagte Sam, daß Armut und Austern immer beisammen zu sein scheinen.«

»Ich verstehe dich nicht, Sam«, versetzte Herr Pickwick.

»Ich meine damit, Sir«, erwiderte Sam, »daß, je ärmer ein Ort, desto stärker die Nachfrage nach Austern ist. Sehen Sie hier, Sir, allemal das sechste Haus ist ein Austernladen – die Straßen sind ganz voll davon. Es kommt mir, meiner Seele, vor, daß, wer recht arm ist, aus dem Hause läuft und aus lauter Verzweiflung Austern frißt.«

»Das ist ganz gewiß«, sagte Herr Weller senior, »und ebenso ist es auch mit dem Lachs.«

»Das sind zwei höchst merkwürdige Tatsachen, die mir vorher nie aufgefallen sind«, sagte Herr Pickwick. »Auf der ersten Station, wo wir anhalten, will ich sie notieren.«

Inzwischen hatten sie den Schlagbaum zu Mile End erreicht. Ein tiefes Schweigen herrschte nun während der ersten zwei bis drei Meilen, als sich Herr Weller senior plötzlich an Herrn Pickwick wandte, und folgendermaßen begann:

»So ein Baumwächter, Sir, führt doch ein wunderliches Leben.«

»Ein was?« fragte Herr Pickwick.

»Ein Baumwächter.«

»Was verstehst du unter einem Baumwächter?« fragte Herr Peter Magnus.

»Der Alte meint einen Schlagbaumwächter, meine Herren«, kommentierte Herr Weller junior.

»Ah, ich verstehe«, sagte Herr Pickwick. »Ja, ein sehr sonderbares Leben. Sehr unbequem.«

»Es sind aber auch lauter Leute, die irgendeinmal in ihrem Leben Schiffbruch gelitten haben«, bemerkte Herr Weiler senior.

»So so«, rief Herr Pickwick.

»Ja. Und die Folge davon ist, daß sie sich von der Welt zurückziehen und bei den Schlagbäumen ihr Heil finden, teils in der Absicht, um allein zu sein, teils um sich an den Menschen zu rächen, indem sie ihnen Zoll abnehmen.«

»Das habe ich freilich noch nicht gewußt«, sagte Herr Pickwick.

»Tatsache, Sir«, versetzte Herr Weller. »Wenn es Herren der Gesellschaft wären, so würde man sie Menschenverächter nennen, so aber sind es bloß Baumwächter.«

Durch solche Unterhaltung, die den unschätzbaren Reiz hatte, das Nützliche mit dem Angenehmen zu vereinen, verkürzte Herr Weller während des größten Teils des Tages die Langeweile der Reise. An Stoff zum Gespräch fehlte es nie, denn selbst in dem Fall, daß in Herrn Wellers Redseligkeit eine Pause eintrat, wurde sie durch Herrn Magnus mehr als hinreichend ergänzt, der ein außerordentliches Verlangen zeigte, sich mit allen Verhältnissen seiner Reisegefährten bekanntzumachen, und sich auf jeder Station mit lauter Stimme ängstlich nach der Sicherheit der beiden Säcke, des ledernen Hutfutterals und des Löschpapierpakets erkundigte.

In der Hauptstraße von Ipswich, linker Hand, nicht weit von dem freien Platz, der vor dem Rathause liegt, steht ein Gasthof, der weit und breit unter dem Namen »Das große weiße Roß« bekannt ist, und durch ein steinernes, wütendes Tier mit fliegender Mähne und fliegendem Schweif über der Haupttür, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem wahnsinnigen Karrengaul hat, noch mehr in die Augen fallt. Das große weiße Roß ist in der Nachbarschaft wegen derselben Eigenschaft berühmt, wie ein Preisochse oder eine in der Grafschaftsgeschichte aufgezeichnete Rübe, oder ein ungeheures Schwein – nämlich wegen seiner riesenhaften Größe. Nirgends trifft man wieder solche Labyrinthe von Gängen ohne Fußteppiche, solche Reihen dumpfiger, finsterer Zimmer, soviel Speise- oder Schlafhöhlen unter einem Dache, wie zwischen den vier Wänden des großen, weißen Rosses zu Ipswich.

Vor diesem ungeheuren Gasthof war es, wo die Londoner Postkutsche jeden Abend zur selben Stunde hielt, und eben diese Londoner Postkutsche war es, von der gerade an dem Abend, da dieses Kapitel unserer Geschichte spielt, Herr Pickwick, Sam Weller und Herr Peter Magnus hinabstiegen.

»Steigen Sie hier ab, Sir?« fragte Herr Peter Magnus, als der gestreifte Sack und der rote Sack und das lederne Hutfutteral und das Löschpapierpaket sämtlich im Hausgange untergebracht waren. »Steigen Sie hier ab, Sir?«

»Ja«, entgegnete Herr Pickwick.

»Wie seltsam!« rief Herr Magnus. »Ein außerordentlicheres Zusammentreffen kann ich mir nicht vorstellen. Ich steige auch hier ab. Ich hoffe, wir speisen zusammen?«

»Mit Vergnügen«, erwiderte Herr Pickwick. »Ich weiß übrigens nicht gewiß, ob ich hier nicht einige Freunde treffe. – Ist ein Herr Tupman hier abgestiegen, Kellner?«

Ein korpulenter Mann mit einer Serviette von vierzehn Tagen unter dem Arm und mit gleich alten Strümpfen an den Beinen unterbrach auf Herrn Pickwicks Frage seine Beschäftigung, die Straße hinunterzusehen. Nachdem er das Äußere des Fragestellers vom Deckel seines Hutes bis zum untersten Knopfe seiner Gamaschen eine Minute lang gemustert hatte, sagte er mit Nachdruck:

»Nein!«

»Auch kein Herr namens Snodgraß?« fragte Herr Pickwick.

»Nein!«

»Oder Winkle?«

»Nein!«

»So sind meine Freunde heute noch nicht gekommen«, bemerkte Herr Pickwick. »Wir werden also allein speisen. – Geben Sie uns ein eigenes Zimmer, Kellner.«

Auf diese Aufforderung hin ließ sich der korpulente Mann herab, dem Hausknecht zu befehlen, das Gepäck der Herren hineinzutragen, und führte sie sodann durch einen langen, finsteren Gang in ein großes schlechtes Zimmer mit einem rußigen Kamin, auf dem sich ein kleines Feuerchen jämmerlich abmühte, behagliche Wärme aufzubringen, obgleich ihm vor der deprimierenden Umgebung fast die Puste ausging. Nach einer Stunde wurde den Reisenden ein Stück Fisch und Beefsteak vorgesetzt, und als der Tisch abgeräumt war, zogen die Herren Pickwick und Peter Magnus ihre Stühle ans Feuer, wo sie auf ihre Bestellung zum Besten des Gastgebers eine Flasche von dem möglichst schlechtesten Portwein zu dem möglichst höchsten Preis erhielten, und zu ihrem eigenen Besten Branntwein und Wasser tranken.

Herr Peter Magnus hatte von Natur einen sehr großen Hang, sich mitzuteilen. Der Grog brachte eine so wunderbare Wirkung hervor, daß er die verborgensten Geheimnisse seiner Brust offenbarte. Nachdem er viel von sich, seiner Familie, seinen Verbindungen, seinen Freunden, seinen Erholungen, seinen Geschäften und seinen Brüdern (gesprächige Leute haben immer viel von ihren Brüdern zu reden) erzählt hatte, nahm er Herrn Pickwick mehrere Minuten lang durch seine gefärbten Brillengläser in blauen Augenschein, und fragte dann mit bescheidener Miene.

»Und warum denken Sie wohl – warum denken Sie wohl, Herr, Pickwick – daß ich hierher gereist bin?«

»Auf mein Wort«, erwiderte Herr Pickwick, »ich kann unmöglich raten. Geschäfte halber vielleicht?«

»Zum Teil getroffen, Sir«, versetzte Herr Peter Magnus; »zum Teil aber auch fehlgeschossen. Raten Sie noch einmal, Herr Pickwick.«

»Da muß ich mich Ihnen auf Gnade und Ungnade ergeben, ob Sie’s mir sagen wollen oder nicht, wie Sie es für gut halten: denn erraten kann ich es nicht, und wenn ich die ganze Nacht darüber nachdächte.«

»Nun denn, hihihi!« sagte Herr Peter Magnus mit verschämtem Kichern, »was würden Sie denken, Herr Pickwick, wenn ich hierhergekommen wäre, um einen Heiratsantrag zu machen? hihihi.«

»Was ich denken würde? Je nun, daß Sie höchstwahrscheinlich damit Erfolg haben werden«, erwiderte Herr Pickwick mit dem freundlichsten Lächeln.

»Ach«, sagte Herr Magnus, »denken Sie das wirklich, Herr Pickwick? Meinen Sie das?«

»Sicher«, antwortete Herr Pickwick.

»Nicht doch, Sie scherzen.«

»Nein, gewiß nicht.«

»Nun denn«, sagte Herr Magnus; »um Ihnen ein kleines Geheimnis zu entdecken – ich glaube es auch. Auch will ich’s Ihnen verraten, Herr Pickwick, obwohl ich von Natur fürchterlich eifersüchtig bin – die Dame ist hier im Hause.«

Damit nahm Herr Magnus seine Brille ab, um zu blinzeln, und setzte sie dann wieder auf.

»Das war es also, warum Sie vor dem Essen so oft aus dem Zimmer liefen?« fragte Herr Pickwick neckisch.

»Pst – ja, Sie haben recht; das war’s. Doch war ich nicht blind verliebt genug, um mich ihr zu zeigen.«

»Nicht?«

»Nein; Sie wissen, das geht nicht, wenn man eben erst von der Reise kommt; will warten bis morgen, Sir – dann habe ich noch einmal so gute Aussichten. In diesem Reisesack, Herr Pickwick, befindet sich ein Anzug, und in diesem Futteral ein Hut, wovon ich mir einen außerordentlichen Eindruck verspreche.«

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Ja; Sie müssen bemerkt haben, wie ich heute so besorgt darum war. Ich glaube, daß ein solcher Anzug und ein solcher Hut nirgends sonst für Geld zu haben ist, Herr Pickwick.«

Herr Pickwick wünschte dem beglückten Eigentümer der unwiderstehlichen Kleidungsstücke zu ihrer Erwerbung Glück, und Herr Peter Magnus versank auf einige Augenblicke in tiefes Nachsinnen.

»Es ist ein hübsches Geschöpf«, sagte Herr Magnus.

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Sehr hübsch«, erwiderte Herr Magnus, »sehr hübsch. Sie wohnt ungefähr 20 Meilen von hier, Herr Pickwick. Ich erfuhr, daß sie heute abend und morgen noch den ganzen Vormittag hier bleiben wird, und nun bin ich hergereist, um diese günstige Gelegenheit zu benutzen. Meiner Ansicht nach ist ein Gasthof ein sehr geeigneter Platz, um einem ledigen Frauenzimmer einen Antrag zu machen. Auf der Reise wird ihr die Verlassenheit ihrer Lage fühlbarer, als wenn sie zu Hause ist. Was halten Sie davon, Herr Pickwick?«

»Ich halte das für sehr gut möglich«, versetzte der Angeredete.

»Verzeihung, Herr Pickwick«, sagte Herr Peter Magnus, »aber ich bin von Natur etwas neugierig; was mag Sie hierhergeführt haben?«

»Ein weit weniger angenehmes Geschäft«, erwiderte Herr Pickwick, dem bei der Erinnerung das Blut in die Wangen stieg – »ich bin hierhergekommen, Sir, um die Verräterei und Falschheit einer Person zu entlarven, in deren Ehre und Treue ich unbegrenztes Vertrauen gesetzt habe.«

»Ach, um Gottes willen«, sagte Herr Peter Magnus, »das ist sehr unangenehm. Es ist vermutlich eine Dame? Nicht wahr? Ach, schlau, Herr Pickwick, schlau. Doch, Herr Pickwick, ich möchte Ihren Gefühlen um alles in der Welt nicht zu nahe treten. Schmerzlich so was, Sir, sehr schmerzlich. Scheuen Sie sich nicht, Herr Pickwick, wenn Sie Ihren Gefühlen Luft zu machen wünschen. Ich weiß, was es heißt, in der Liebe getäuscht zu werden, Sir; ich selbst habe schon drei- oder viermal solche Erfahrung gemacht.«

»Ich bin Ihnen für Ihre Teilnahme an dem, was Sie für den Grund meines Ärgers halten, sehr verbunden«, sagte Herr Pickwick, seine Uhr aufziehend und auf den Tisch legend, »aber –«

»Nein – nein«, fiel Herr Peter Magnus ein: «kein Wort mehr. – Es tut Ihnen weh, ich seh‘ es. Wieviel Uhr haben wir, Herr Pickwick?«

»Zwölf Uhr durch.«

»Himmel, dann ist es aber höchste Zeit, schlafen zu gehen. Ich darf nicht länger aufbleiben, da ich sonst morgen blaß aussehen würde, Herr Pickwick.«

Und erschreckt von dem bloßen Gedanken an ein solches Unglück, klingelte Herr Peter Magnus dem Stubenmädchen. Nachdem der gestreifte Reisesack, der rote Reisesack, das lederne Hutfutteral und das Löschpapierpaket in sein Schlafzimmer gebracht worden waren, zog er sich mit einem lackierten Leuchter nach dem einen Ende des Hauses zurück, während Herr Pickwick und ein anderer lackierter Leuchter durch eine Unzahl verschlungener Gänge nach dem andern geführt wurde.

»Das ist Ihr Zimmer, Sir«, bemerkte das Stubenmädchen.

»Gut«, erwiderte Herr Pickwick, sich rings umsehend.

Es war ein ziemlich geräumiges, mit zwei Betten versehenes Gemach, in dem ein Feuer brannte – jedenfalls ein weit wohnlicherer Aufenthalt, als Herr Pickwick vermöge seiner kurzen Erfahrung von den Bequemlichkeiten des großen weißen Rosses erwartet hatte.

»Im andern Bette schläft natürlich niemand?« fragte Herr Pickwick.

»Nein, Sir.«

»Schön. Sagen Sie meinem Diener, ich brauche ihn nicht mehr, aber morgen möchte er mir um halb neun Uhr warmes Wasser heraufbringen.«

»Ja, Sir.«

Und Herrn Pickwick eine gute Nacht wünschend, zog sich das Stubenmädchen zurück und ließ ihn allein.

Herr Pickwick setzte sich vor das Feuer, und eine Reihe von Bildern zog an seinem Geiste vorüber. Zuerst dachte er an seine Freunde, und grübelte darüber nach, wann sie etwa kommen würden; dann kehrten seine Gedanken bei Frau Martha Bardell ein, und von dieser Dame wanderten sie vermöge einer natürlichen Ideenfolge in die düstere Schreibstube von Dodson und Fogg. Von Dodson und Fogg flogen sie in einem rechten Winkel unmittelbar in den Mittelpunkt der Geschichte von dem seltsamen Klienten; und dann kehrten sie in das große weiße Roß zu Ipswich zurück, wo sie sein Bewußtsein noch klar genug fanden, um ihn gewahren zu lassen, daß er eben im Begriff sei, einzuschlafen. Er erhob sich also von seinem Stuhl und begann sich auszukleiden, als er sich erinnerte, daß er seine Uhr unten auf dem Tische habe liegen lassen. Diese Uhr aber stand bei Herrn Pickwick in besonderer Gunst, da er sie eine größere Anzahl von Jahren, als wir uns hier anzugeben berufen fühlen, unter dem Schatten seiner Weste mit sich herumgetragen hatte. Noch nie hatte Herr Pickwick auch nur an die Möglichkeit gedacht, einzuschlafen, ohne sie unter seinem Kopfkissen oder in seiner Uhrtasche über seinem Kopfe ticken zu hören. Aber es war schon spät, und da er zu dieser Stunde der Nacht die Glocke nicht mehr ziehen wollte, so schlüpfte er in seinen Rock, den er soeben abgelegt hatte, nahm den lackierten Leuchter und ging still die Treppe hinunter.

Je mehr Treppen aber Herr Pickwick hinunterging, desto mehr schien er wieder hinaufsteigen zu müssen, und so ging es fort und fort; wenn Herr Pickwick in einen schmalen Gang gekommen war und sich bereits Glück zu wünschen anfing, den Hausflur erreicht zu haben, so zeigte sich eine neue Treppe vor seinen erstaunten Blicken. Endlich kam er in einen mit Steinplatten belegten Vorsaal, den er, soviel er sich erinnerte, beim Eintritt in das Haus gesehen hatte. Er durchsuchte Gang für Gang, öffnete Zimmer für Zimmer, und endlich, als er bereits im Begriff stand, in der Verzweiflung seine Nachforschungen aufzugeben, fand er die Tür des Zimmers, in dem er den Abend zugebracht hatte, und sah sein vemißtes Eigentum auf dem Tische liegen. Er ergriff die Uhr im Triumph und begab sich sofort auf den Rückweg nach seinem Schlafzimmer. War aber seine Herreise mit Schwierigkeiten und Gefahren verbunden gewesen, so war sein Rückzug noch unendlich schwieriger.

In jeder Richtung verzweigten sich Reihen von Türen, vor denen Stiefel von jeglicher Gestalt, Fasson und Größe standen. Ein Dutzendmal faßte er behutsam den Griff einer Schlafzimmertür an, die die seinige zu sein schien, als eine barsche Stimme im Innern ertönte, »zum Teufel, wer ist da?« oder »was wollt Ihr hier?« worauf er sich mit einer wahrhaft bewundernswürdigen Schnelligkeit auf den Zehen davonmachte. Er war bereits am Rande der Verzweiflung, als endlich eine offene Tür seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er blickte hinein – endlich die rechte.

Dort standen zwei Betten, deren Lage ihm noch vollkommen erinnerlich war, und auf dem Kamin brannte noch das Feuer. Seine Kerze, die schon, als er sie empfangen, nicht zu den längsten gehörte, war in dem Luftzuge, dem er auf seiner Wanderung durch die langen Gänge ausgesetzt gewesen, herabgebrannt, und fiel, als er eben die Tür hinter sich schloß, in die Röhre des Leuchters hinunter. »Hat nichts zu bedeuten«, meinte Herr Pickwick: »ich kann mich ebensogut beim Schein des Feuers auskleiden.«

Die Betten standen, das eine rechts, das andere links von der Tür, und waren von der Wand durch einen Gang getrennt, der breit genug war, daß man von ihm aus ins Bett steigen konnte. Nachdem er die Vorhänge seines Bettes auf der Außenseite sorgfältig zugezogen hatte, setzte sich Herr Pickwick auf den Strohsessel, der am Ende des besagten Ganges neben dem Bett stand, und entledigte sich langsam seiner Schuhe und Gamaschen. Dann legte er seinen Rock, seine Weste und seine Halsbinde ab, setzte bedächtig seine mit einer Troddel versehene Nachtmütze auf und befestigte sie auf seinem Kopf, indem er die Bänder, die an diesem Teile seines Bettanzugs nie fehlten, unter dem Kinn zusammenknüpfte. In diesem Augenblick dachte er an die närrische Verlegenheit, in der er

 

sich eben befunden hatte, lehnte sich in den Strohsessel zurück, und lachte so herzlich über sich selbst, daß es für einen jeden Mann von wohlbestelltem Gemüt höchst ergötzlich gewesen wäre, das Lächeln zu beobachten, das seine liebenswürdigen Züge unter der Nachtmütze verklärte.

»Kann man sich auch etwas Possierlicheres träumen«, sagte Herr Pickwick zu sich selbst, und lachte dabei so herzlich, daß beinahe die Bänder seiner Nachtmütze krachten – »kann man sich auch etwas Possierlicheres träumen, als sich in diesem Gebäude zu verlieren, und auf den Treppen umherzuirren? Drollig, drollig, sehr drollig.«

Hier lachte Herr Pickwick wieder, und zwar herzlicher als je, und stand im Begriff, in der möglich besten Laune das Geschäft des Auskleidens fortzusetzen, als er plötzlich durch eine höchst unerwartete Unterbrechung gestört wurde. Es trat nämlich jemand mit einem Licht ins Zimmer, verschloß die Tür hinter sich, und stellte das Licht auf das Nachttischchen.

Das Lächeln, das auf Herrn Pickwicks Zügen spielte, ward augenscheinlich in einen Blick grenzenlosesten Erstaunens verwandelt. Die Person, wer sie auch immer sein mochte, war so plötzlich und mit so wenig Geräusch eingetreten, daß Herr Pickwick keine Zeit gehabt hatte, zu rufen, oder sich ihrem Eintritt zu widersetzen. Wer konnte es sein? Ein Räuber? Irgendein Spitzbube, der ihn vielleicht, mit der schönen Uhr in der Hand, die Treppe heraufkommen sah? Was war zu tun?

Der einzige Weg, um den geheimnisvollen Besuch mit so wenig Gefahr für sich selbst als möglich zu beobachten, war der, ins Bett zu schlüpfen und hinter den Vorhängen der entgegengesetzten Seite hinauszuspähen. Hierzu nahm Herr Pickwick also seine Zuflucht. Er hielt die Vorhänge vorsichtig mit der Hand zusammen, so daß man nichts als sein Gesicht und seine Nachtmütze sehen konnte, setzte seine Brille auf, nahm sein Herz in beide Hände und lugte hinaus.

Herr Pickwick fiel vor Schrecken beinahe in Ohnmacht. Denn vor dem Toilettenspiegel stand eine Dame von mittlerem Alter mit gelben Haarwickeln, die eifrig damit beschäftigt war, dasjenige zu bürsten, was die Damen ihren »Wilhelm« nennen. Wie nun auch die arglose Dame von mittlerem Alter in das Zimmer gekommen sein mochte, soviel war gewiß, daß sie die Nacht über hier zu bleiben gesonnen war, denn sie hatte ein Nachtlicht mit einem Lichtschirm mitgebracht, das sie mit lobenswerter Vorsicht gegen Feuersgefahr in ein Waschbecken auf den Boden gestellt hatte, wo es, gleich einem riesenhaften Leuchtturm in einem ungemein kleinen See, fortglimmte.

»Gott im Himmel«, dachte Herr Pickwick, »was für ein furchtbares Ereignis.«

»Hem!« machte die Dame, und Herrn Pickwicks Kopf fuhr mit der Schnelligkeit eines Taschenspielers zurück.

»So etwas Fürchterliches ist mir noch nie begegnet« – dachte der arme Pickwick, indem kalte Schweißtropfen durch seine Nachtmütze drangen. »Noch nie. Das ist ja schauderhaft.«

Er konnte unmöglich dem dringenden Verlangen widerstehen, zu beobachten, was nun weiter vor sich gehen sollte. Herrn Pickwicks Kopf zeigte sich also wieder zwischen den Vorhängen. Der Anblick, der sich ihm darbot, war noch entsetzlicher als vorher. Die Dame von mittlerem Alter hatte ihr übriges Haar zurechtgebürstet, sorgfältig in eine musselinene, mit schmalen, gefalteten Spitzen besetzte Schlafhaube verhüllt, und sah gedankenvoll ins Feuer.

»Die Sache fängt an, bedenklich zu werden«, überlegte Herr Pickwick bei sich selbst. »So kann es nicht fortgehen. Die Unbefangenheit dieser Dame ist mir ein klarer Beweis, daß ich ins falsche Zimmer geraten sein muß. Wenn ich sie anrufe, so bringt sie das ganze Haus in Aufruhr, und wenn ich ruhig bleibe, so können die Folgen noch fürchterlicher sein.«

Es ist durchaus nicht nötig, zu bemerken, daß Herr Pickwick einer von den bescheidensten und zartfühlendsten Sterblichen war. Der bloße Gedanke, seine Nachtmütze einer Dame zu zeigen, erfüllte ihn mit Schauder, aber er hatte die verdammten Bänder in einen Knoten zusammengezogen, den er um alle Welt nicht aufzulösen vermochte. Und doch mußte er sich entdecken. Es stand ihm nur noch ein Ausweg zu Gebote. Er zog sich hinter die Vorhänge zurück, und gab die Laute von sich –

»Ha – Hm!«

Daß die Dame bei diesen unerwarteten Tönen außerordentlich erschrak, war offenbar, denn sie stolperte gegen den Lichtschirm, und daß sie sich überredete, es müsse nur Einbildung gewesen sein, war ebenfalls klar, denn als Herr Pickwick, den die voraussichtliche Ohnmacht der Dame beinahe versteinert hatte, wieder hinauszuspähen wagte, blickte sie wie zuvor nachdenklich ins Feuer.

»Ein recht resolutes Frauenzimmer das«, dachte Herr Pickwick und hustete wieder: »ha – hm.«

Die letzteren Töne, die denen so sehr glichen, wodurch der wilde Riese Blunderbore, nach der Erzählung des Märchens, gewöhnlich seine Ansicht ausdrückte, daß es Zeit sei, den Tisch zu decken, waren zu deutlich, um noch einmal als Wirkungen der Einbildungskraft zu gelten.

»Gott sei mir gnädig!« rief die Dame von mittlerem Alter; »was ist das?«

»Es ist – es ist – nur ein Herr, Madame«, sagte Herr Pickwick hinter den Vorhängen.

»Ein Herr!« rief die Dame, mit einem furchtbaren Entsetzensschrei.

»Jetzt ist’s aus«, dachte Herr Pickwick.

»Eine fremde Mannsperson!« schrie die Dame.

Noch einen Augenblick, und das Haus kam in Aufruhr. Ihre Kleider rauschten, als sie der Tür zueilte.

»Madame«, – rief Herr Pickwick, seinen Kopf hervorstreckend, in der äußersten Verzweiflung. »Madame.«

Obgleich Herr Pickwick keinen bestimmten Zweck dabei hatte, als er den Kopf hinausstreckte, so brachte er dadurch doch augenblicklich eine gute Wirkung hervor. Wie wir bereits gemeldet haben, war die Dame nahe an der Tür. Sie mußte sie passieren, um die Treppe zu erreichen, und würde sie zweifelsohne bereits erreicht haben, hätte sie nicht die plötzliche Erscheinung von Herrn Pickwicks Nachtmütze in die entfernteste Ecke des Zimmers zurückgetrieben, von wo aus sie wilde Blicke auf Herrn Pickwick schoß, die von Herrn Pickwick seinerseits erwidert wurden.

»Elender!« – sagte die Dame, die Hand vor die Augen haltend, »was suchen Sie hier?«

»Nichts, Madame – durchaus nichts, Madame«, antwortete Herr Pickwick ernsthaft.

»Nichts?« rief die Dame, die Augen aufschlagend.

»Nichts, Madame, auf meine Ehre«, versicherte Herr Pickwick, mit so nachdrücklichem Kopfschütteln, daß die Troddel seiner Nachtmütze hin und her tanzte. »Ich sinke vor Scham, eine Dame in meiner Nachtmütze anzureden (hier riß die Dame ihre Schlafmütze hastig herunter) beinahe in die Erde, aber ich kann den Knoten nicht lösen, Madame (hier zog Herr Pickwick, zum Beweis für seine Behauptung, mit furchtbarer Gewalt an den Bändern). Es ist mir jetzt klar, Madame, daß ich in das falsche Zimmer geraten bin. Ich war noch nicht fünf Minuten hier, als Sie plötzlich eintraten.«

»Wenn diese unwahrscheinliche Geschichte wirklich wahr sein soll« – sagte die Dame unter heftigem Schluchzen, »so werden Sie sich augenblicklich entfernen.«

»Mit dem größten Vergnügen, Madame« – erwiderte Herr Pickwick.

»Augenblicklich, Sir«, wiederholte die Dame.

»Gewiß, Madame«, fiel Herr Pickwick eiligst ein. »Gewiß, Madame. Ich – ich – bin untröstlich, Madame«, sagte Herr Pickwick, indem er sich unten am Bettgestell zeigte, »die unschuldige Ursache dieser Unruhe und Aufregung gewesen zu sein: ganz untröstlich, Madame!«

Die Dame deutete auf die Tür.

In diesem Augenblick zeigte sich trotz der ungemein mißlichen Umstände eine vorzügliche Eigenschaft von Herrn Pickwicks Charakter. Obgleich er nach Art der alten Nachtwächter seinen Hut hastig über die Nachtmütze gedrückt hatte: obgleich er seine Schuhe und Gamaschen in der Hand und seinen Rock und seine Weste auf den Armen trug, so konnte doch nichts seine angeborene Höflichkeit zurückdrängen.

»Ich bin über die Maßen untröstlich, Madame«, sagte Herr Pickwick mit einer sehr tiefen Verbeugung.

»Wenn Sie das sind, so werden Sie das Zimmer sogleich verlassen«, erwiderte die Dame.

»Unverzüglich, Madame: augenblicklich, Madame«, sagte Herr Pickwick, die Tür öffnend, wobei seine Schuhe mit großem Gepolter zu Boden fielen.

»Ich hoffe, Madame –« begann Herr Pickwick wieder, seine Schuhe aufnehmend und sich mit einer wiederholten Verbeugung nach der Dame umwendend, »ich hoffe, Madame, mein unbescholtener Charakter und die große Achtung, die ich Ihrem Geschlecht zolle, werden ein gutes Wörtchen zur Entschuldigung für mich –«

Doch ehe Herr Pickwick seinen Satz vollenden konnte, hatte ihn die Dame bereits in den Gang gedrängt, und die Tür hinter ihm verschlossen und verriegelt.

So viele Gründe Herr Pickwick auch haben mochte, sich Glück zu wünschen, daß es bei der ungeheuren Gefahr, die ihm gedroht hatte, so gnädig abgegangen war, war doch seine gegenwärtige Lage durchaus nicht beneidenswert. Er war allein, in einem offenen Gang, in einem fremden Hause, nur halb angekleidet, mitten in der Nacht. In der undurchdringlichen Finsternis konnte er unmöglich den Weg nach einem Zimmer finden, das er mit dem Licht nicht entdeckt hatte, und wenn er bei seinen fruchtlosen Versuchen das geringste Geräusch machte, so lief er Gefahr, von irgendeinem wachsamen Reisenden erschossen zu werden. Es blieb ihm daher nichts übrig, als zu bleiben, wo er war, bis der Tag anbrach. Er tappte noch einige Schritte vorwärts und stolperte dabei zu seinem unendlichen Schrecken über mehrere Paar Stiefel, dann drückte er sich in eine kleine Nische in der Wand, um den Morgen mit soviel philosophischer Ruhe wie möglich zu erwarten.

Er war aber nicht dazu bestimmt, diese neue Geduldsprobe voll durchmachen zu müssen: denn er war noch nicht lange in seinem Schlupfwinkel versteckt, als sich zu seinem unaussprechlichen Schrecken am Ende des Ganges ein Mann mit einem Lichte zeigte. Aber plötzlich verwandelte sich sein Schrecken in Freude, als er die Gestalt seines treuen Dieners erkannte. Es war in der Tat Samuel Weller, der eben im Begriff war, sich zur Ruhe zu begeben. Er hatte sich solange mit dem Hausknecht unterhalten, der die Briefpost erwartete.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, plötzlich vor ihn hintretend, »wo ist mein Schlafzimmer?«

Herr Weller starrte seinen Herrn mit größtem Erstaunen an, und erst nachdem dieser die Frage dreimal wiederholt hatte, wandte er sich um und führte ihn nach dem lange gesuchten Zimmer.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, als er zu Bett ging, »ich habe heute nacht einen der außerordentlichsten Mißgriffe getan, die man je erlebt hat.«

»Sehr glaublich, Sir«, erwiderte Herr Weller trocken,

»Aber ich bin entschlossen, Sam«, fuhr Herr Pickwick fort, »mich, wenn wir auch noch ein halbes Jahr in diesem Hause bleiben sollten, nie wieder allein in dieses Labyrinth zu wagen.«

»Das ist der klügste Entschluß, den Sie fassen können, Sir«, versetzte Herr Weller. »Sie sollten jemand haben, der nach Ihnen sieht, wenn Ihr Verstand auf die Wanderschaft geht.«

»Was meinst du damit, Sam?« fragte Herr Pickwick, indem er sich im Bett aufrichtete und die Hand hervorstreckte, als wolle er noch mehr sagen, dann aber hielt er plötzlich inne, legte sich auf die Seite und wünschte seinem Diener gute Nacht.

»Gute Nacht, Sir«, antwortete Herr Weller, ging zur Tür hinaus – blieb stehen – schüttelte den Kopf – ging weiter – stand still – putzte das Licht – schüttelte den Kopf wieder – und trat endlich langsam in sein Schlafzimmer, offenbar in das tiefste Nachdenken versunken.

Sechzehntes Kapitel.


Sechzehntes Kapitel.

In dem ein getreues Porträt von zwei ausgezeichneten Personen vorkommt; genaue Beschreibung eines öffentlichen Frühstücks in ihrem Hause und auf ihrem Grund und Boden; gleichzeitig Erneuerung einer alten Bekanntschaft, die zur Eröffnung eines neuen Kapitels führt.

Herrn Pickwicks Gewissen machte seinem Eigentümer mitunter Vorwürfe, daß er neuerdings seine Freunde im Pfauen vernachlässige. Am dritten Morgen nach der Wahl war er eben im Begriff, sie aufzusuchen, als ihm sein getreuer Diener eine Karte überbrachte, worauf zu lesen stand:

Mrs. Leo Hunter. Den. Eatanswill.

»Es wartet jemand«, sagte Sam lakonisch.

»Will mich jemand sprechen, Sam?« fragte Herr Pickwick.

»Er will durchaus Sie und begnügt sich mit keinem andern, wie des Teufels Privatsekretär sagte, als er den Doktor Faust holte«, war Herrn Wellers Antwort.

» Er? Ist’s ein Herr?« fragte Herr Pickwick.

»Er sieht wenigstens so aus, wenn er es auch nicht ist«, versetzte Herr Weller.

»Aber die Karte ist ja von einer Dame«, sagte Herr Pickwick.

»Und mir doch von einem Herrn gegeben«, bemerkte Sam; »er erwartet Sie im Salon und sagt, er wolle lieber den ganzen Tag warten, als Sie nicht sehen.«

Als Herr Pickwick diesen Entschluß hörte, begab er sich ins Besuchszimmer, wo ein würdevoll aussehender Mann saß, der bei seinem Eintritt aufstand und mit einer Miene tiefen Respekts sagte.

»Habe ich die Ehre mit Herrn Pickwick?«

»Bitte, hier steht er.«

»Gestatten Sie mir den Vorzug, mein Herr, Ihre Hand zu ergreifen – erlauben Sie mir, mein Herr, sie zu schütteln«, sagte der würdevoll aussehende Mann.

»Aber bitte«, entgegnete Herr Pickwick.

Der Fremde schüttelte die dargebotene Hand und fuhr dann fort:

»Wir haben von Ihrem Rufe gehört, mein Herr. Das Gerücht von Ihren antiquarischen Untersuchungen ist bis zu den Ohren der Madame Leo Hunter gedrungen – das heißt, meiner Frau, Sir – ich bin Leo Hunter.«

Der Fremde schwieg, als erwarte er, Herr Pickwick werde über diese Offenbarung entzückt sein; als er aber sah, daß dieser vollkommen ruhig blieb, fuhr er fort:

»Meine Frau, Sir – Madame Leo Hunter – setzt ihren Stolz darein, alle Personen, die durch ihre Werke und Talente berühmt geworden sind, unter die Zahl ihrer Bekannten zu rechnen. Erlauben Sie mir, mein Herr, den Namen Herrn Pickwicks und der übrigen Mitglieder des Klubs, der Ihnen seinen Namen verdankt, obenan auf die Liste zu setzen.«

»Ich werde mich außerordentlich glücklich schätzen, die Bekanntschaft einer solchen Dame zu machen, Sir«, versetzte Herr Pickwick.

»Sie sollen sie machen, Sir«, sagte der würdevoll aussehende Mann. »Morgen früh geben wir einer großen Anzahl von Personen, die sich durch ihre Werke und Talente berühmt gemacht haben, ein öffentliches Frühstück – eine fête champêtre. Madame Leo Hunter läßt Sie bitten, Sir, Sie morgen mit einem Besuch in Den zu beehren.«

»Mit großem Vergnügen«, versetzte Herr Pickwick.

»Madame Leo Hunter gibt oft solches Frühstück, mein Herr«, fuhr Pickwicks neuer Bekannter fort – »›Feste der Vernunft und Gastmähler der Seele‹, wie sich jemand in einem Sonett auf Madame Leo Hunters Frühstück mit ebensoviel Gefühl wie Originalität ausdrückte.«

»War er auch durch seine Werke und Talente berühmt?« fragte Herr Pickwick.

»Ja, er war es, mein Herr«, versetzte der würdevoll aussehende Mann; »sämtliche Bekannte der Madame Leo Hunter sind berühmt; sie hält viel darauf, keine andere Bekanntschaften zu haben.«

»Ein sehr edler Ehrgeiz«, bemerkte Herr Pickwick.

»Wenn ich es der Madame Leo Hunter mitteile, daß diese Bemerkung von Ihren Lippen kam, so wird sie gewiß stolz darauf sein«, sagte der würdevoll aussehende Mann. »Sie haben einen Herrn in Ihrem Gefolge, der schon einige hübsche Gedichtchen gemacht hat, glaube ich, mein Herr?«

»Mein Freund Snodgraß hat viel Sinn für die Dichtkunst«, antwortete Herr Pickwick.

»Auch Madame Leo Hunter, mein Herr. Dichtkunst ist ihr das Höchste, Sir. Sie betet sie an; ich darf sagen, ihre ganze Seele ist davon durchflochten. Sie hat auch selbst einige herrliche Stücke gemacht, Sir. Vielleicht haben Sie schon von ihrer Ode an einen sterbenden Frosch gehört?«

»Nicht, daß ich wüßte«, erwiderte Herr Pickwick.

»Sie setzen mich in Erstaunen, Sir«, sagte Herr Leo Hunter. »Die Ode machte ungeheure« Aufsehen. Sie war mit einem L. und acht Sternchen unterzeichnet und erschien ursprünglich in einem Damenmagazin. Der Anfang lautet:

»Kann ich ohne inn’res Leiden
Seh’n dich unter Grausamkeiten
Elend, jämmerlich verscheiden?
Nein, ich wein‘,
Sterbend Fröschlein!«

»Hübsch«, bemerkte Herr Pickwick.

»Schön«, sagte Herr Leo Hunter: »so schlicht.«

»Sehr«, bemerkte Herr Pickwick.

»Der nächste Vers ist noch rührender; wollen Sie ihn hören?«

»Wenn es Ihnen recht ist«, versetzte Herr Pickwick.

»Er lautet also«, sagte der Würdevolle immer würdevoller:

»Sprich, ob ruchlos wilde Knaben
Schreiend dich aus deinem Graben
Mit dem Hund vertrieben haben?
Pein, o Pein,
Sterbend Fröschlein!«

»Schön gesagt«, bemerkte Herr Pickwick.

»Jedes Wort, mein Herr, jedes Wort«, sagte Herr Leo Hunter. »Aber Sie sollten die Verse aus dem Munde der Madame Leo Hunter selbst hören. Sie kann ihnen erst den rechten Ausdruck geben, mein Herr. Sie wird sie morgen früh stilvoll deklamieren.«

»Im Charakter?«

»Als Minerva. Ach, ich vergaß es – man erscheint in Charaktermasken.«

»O Himmel«, sagte Herr Pickwick mit einem Blick auf sein Äußeres – »unmöglich.«

»Unmöglich? Nicht doch, mein Herr; es läßt sich ganz leicht machen«, rief Herr Leo Hunter. »Der Jude Salomo Lucas in der Hohen Straße hat Tausende von Maskenanzügen. Bedenken Sie, wie viele geeignete Charaktere Ihnen zur Auswahl gegeben sind. Plato, Zeno, Epikur, Pythagoras – lauter Stifter von Klubs.«

»Ich weiß das«, sagte Herr Pickwick, »aber da ich mich diesen großen Männern nicht an die Seite stellen kann, so darf ich mir auch nicht herausnehmen, in ihrer Tracht zu erscheinen.«

Der Würdevolle überlegte lange und tief; endlich sagte er:

»Wenn ich recht überlege, mein Herr, so weiß ich nicht, ob es Madame Leo Hunter nicht vielleicht größeres Vergnügen bereiten würde, wenn ihre Gäste einen Mann von Ihrer Berühmtheit lieber in seinem eigenen Kostüm als in einem angenommenen zu sehen bekäme. Ich erlaube mir, in Ihrem Falle eine Ausnahme zu gestatten, Sir – ja, und was Madame Leo Hunter betrifft, so bin ich überzeugt, daß sie mir diesen Schritt nicht verübeln wird.«

»Wenn das der Fall ist«, erwiderte Herr Pickwick, »werde ich mit Vergnügen erscheinen.«

»Doch ich nehme Ihnen Ihre Zeit, mein Herr«, sagte der Würdevolle, als fiele ihm das plötzlich ein. »Ich kenne den Wert der Zeit, Sir. Ich will Sie nicht abhalten. Ich werde also der Madame Leo Hunter sagen, daß sie Sie und Ihre vortrefflichen Freunde zuversichtlich erwarten dürfe? Guten Morgen, Sir; ich bin stolz darauf, einen so ausgezeichneten Mann kennengelernt zu haben – keinen Schritt, mein Herr; kein Wort.«

Und ohne Herrn Pickwick Zeit zu Vorstellungen und Einwendungen zu lassen, schritt Herr Leo Hunter würdevoll zur Tür hinaus.

Herr Pickwick setzte seinen Hut auf und begab sich in den Pfauen: aber Herr Winkle hatte bereit« die Kunde von dem morgigen Maskenball dorthin gebracht.

»Madame Pott kommt auch«, waren die ersten Worte, womit er seinen Lehrer begrüßte.

»Wirklich?« versetzte Herr Pickwick.

»Als Apollo«, bemerkte Herr Winkle. »Nur hat Pott etwas gegen die Tunika einzuwenden.«

»Er hat recht. Er hat ganz recht«, sagte Herr Pickwick mit Nachdruck.

»Ja; – deshalb wird sie in einem weißen Atlaskleid mit goldenem Flitterwerk erscheinen.«

»Wird man dann aber auch wissen, was sie vorstellt: wird man das?« fragte Herr Snodgraß.

»Natürlich«, versetzte Herr Winkle unwillig, »Man sieht ja ihre Leier, nicht wahr?«

»Wahrhaftig, daran dachte ich nicht«, sagte Herr Snodgraß.

»Ich werde als Bandit auftreten«, fiel Herr Tupman dazwischen.

»Was!« rief Herr Pickwick, plötzlich zurückbebend.

»Als Bandit«, wiederholte Herr Tupman mit sanfter Stimme.

»Sie wollen damit doch nicht sagen«, versetzte Herr Pickwick mit einem strengen Blick auf seinen Freund, »Sie wollen damit doch nicht sagen, Herr Tupman, daß Sie im Sinne haben, in einer grünen Samtjacke mit einem Zweizollschwanze aufzutreten?«

»Ich habe es im Sinne, Sir«, erwiderte Herr Tupman warm. »Und warum sollte ich nicht, Sir?«

»Aus dem einfachen Grunde, Sir«, antwortete Herr Pickwick, ordentlich gereizt – »weil Sie zu alt dazu sind.«

»Zu alt?« rief Tupman.

»Und wenn es noch eines weiteren Grundes bedarf, der es verbietet«, fuhr Herr Pickwick fort: »Sie sind zu dick, Sir.«

»Mein Herr«, sagte Herr Tupman mit puterrotem Gesicht, »das ist eine Beleidigung.«

»Mein Herr«, versetzte Herr Pickwick in demselben Tone, »ich beleidige Sie dadurch nicht halb so sehr, wie Sie mich beleidigen würden, wenn Sie in meiner Gegenwart mit einer grünen Jacke und einem Zweizollschwanze erschienen.«

»Sie sind ja ein netter Bursche, Sir«, sagte Herr Tupman.

»Der Titel kommt Ihnen zu!« entgegnete Herr Pickwick.

Herr Tupman trat einen oder zwei Schritte vorwärts und sah Herrn Pickwick mit wildem Blick an. Herr Pickwick erwiderte ihn und verstärkte ihn sogar noch mit seinen beiden Brillengläsern in einen Brennpunkt. Seine Züge sprachen eine kühne Herausforderung aus. Herr Snodgraß und Herr Winkle sahen versteinert einem solchen Auftritt zwischen zwei solchen Männern zu.

»Mein Herr«, sagte Tupman nach einer kurzen Pause in einem dumpfen, tiefen Tone«, »Sie mich alt genannt.«

»Das habe ich«, erwiderte Herr Pickwick.

»Und dick.«

»Ich wiederhole das.«

»Und einen netten Burschen.«

»Der sind Sie.«

Es trat eine fürchterliche Pause ein.

»Meine Anhänglichkeit an Ihre Person, mein Herr«, sagte Herr Tupman mit einer Stimme, die von innerer Bewegung zitterte, während er zugleich seine Manschetten zurückschlug, »ist groß – sehr groß – aber an dieser Person muß ich augenblicklich Rache nehmen.«

»Nur zu, mein Herr«, erwiderte Herr Pickwick.

Durch den aufregenden Ton des Gesprächs gereizt, nahm der heroische Mann jetzt eine gebrochen-duldende Stellung an, die seine beiden Gefährten als eine Defensive ansahen.

»Was?« rief Snodgraß, plötzlich der Sprache, deren ihn sein grenzenloses Nerblüfftsein bis jetzt beraubt hatte, wieder mächtig werdend und trat, auf die Gefahr hin, von beiden Parteien Ohrfeigen zu bekommen, zwischen die Streitenden. »Was? Herr Pickwick, auf den die Augen der Welt gerichtet sind? Herr Tupman, auf den, wie auf uns alle, der Glanz seines unsterblichen Namens einen Widerschein warf? Schämen Sie sich, meine Herren; schämen Sie sich!«

Die ungewohnten Furchen, die die augenblickliche Leidenschaft auf Herrn Pickwicks klare und offene Stirn gezogen hatte, schwanden allmählich bei dieser Anrede seines jungen Freundes, wie Bleistiftlinien unter dem Radiergummi. Noch ehe Herr Snodgraß geendet hatte, hatte sein Gesicht wieder den gewohnten Ausdruck des Wohlwollens angenommen.

»Ich bin zu hitzig gewesen«, sagte Herr Pickwick: »allzu hitzig. Herr Tupman, Ihre Hand.«

Die Wolke verschwand von Herrn Tupmans Antlitz, als er mit Wärme die Hand seines Freundes ergriff.

»Auch ich war zu hitzig«, sagte er.

»Nein, nein«, unterbrach ihn Herr Pickwick; »Es war meine Schuld. Sie wollen die grüne Jacke tragen?«

»Nein, nein«, versetzte Herr Tupman.

»Wenn Sie mich verbinden wollen, so tun Sie es«, sagte Herr Pickwick.

»Wohlan, ich will«, antwortete Herr Tupman.

Es ward also beschlossen, daß Herr Tupman, Herr Winkle und Herr Snodgraß sämtlich in Charaktermasken erscheinen sollten. Auch Herr Pickwick ließ sich durch die Wärme seines Gefühls zur Einwilligung in eine Sache hinreißen, von der ihn sein besseres Urteil zurückgehalten hatte – einen schlagenderen Beweis seines liebenswürdigen Charakters würden wir wohl schwerlich haben geben können, und wenn auch alle Ereignisse, die in diesen Blattern erzählt werden, rein erdichtet wären.

Herr Leo Hunter hatte nicht zu viel von dem Vorrat des Herrn Salomon Lucas gesagt. Seine Garderobe war reichhaltig – sehr reichhaltig – freilich weder ganz klassisch, noch ganz neu. Auch war kein einziger von den Anzügen seines Magazins genau der Mode eines gewissen Zeitalters entsprechend, aber alles war mehr oder weniger reich an Flittern; und was kann hübscher sein, als Flitter? Man könnte mir entgegen halten, sie scheuen das Tageslicht, aber jedermann weiß, daß sie um so mehr beim Lampenschein schimmern. Wenn die Leute bei Tag Maskenbälle geben, und die Anzüge sich nicht so gut ausnehmen, als es bei Nacht der Fall wäre, so ist nichts klarer, als daß die Schuld lediglich an den Leuten liegt, und die Flitter nicht die mindeste Verantwortung haben. Also urteilte Herr Salomon Lucas, und veranlaßte durch seine überzeugenden Gründe die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß, sich Anzüge auszuwählen, wie sie sein Geschmack und seine Erfahrung für diese Gelegenheit besonders passend empfahl.

Aus dem »Stadtwappen« wurde zur Bequemlichkeit der Pickwickier ein Wagen gemietet, und für Herrn und Madame aus demselben Magazin eine Halbkutsche requiriert. Aus zartem Dankgefühl für die erhaltene Einladung hatte Herr Pott in der Eatanswill-Zeitung über die bevorstehende Festlichkeit bereits im bestimmtesten Tone versichert, man finde eine Fülle der abwechselndsten und bezauberndsten Genüsse – einen blendenden Glanz von Schönheit und Talent – eine großartige und verschwenderische Gastfreundschaft – vor allem aber eine Pracht, durch den auserlesensten Geschmack gemildert, und Reichtum, durch vollkommenes Ebenmaß und seinsten Ton verherrlicht. Gegen so etwas erscheine die fabelhafte Pracht morgenländischcr Feenreiche in ebenso dunklen und trüben Farben, wie der Geist der milzsüchtigen und unmännlichen Geschöpfe erscheinen müsse, die sich die Frechheit herausnähmen, die Veranstaltungen der tugendhaften und vortrefflichen Dame, auf deren Altar dieser demütige Zoll der Bewunderung geopfert werde, mit dem Geiste des Neides zu besudeln. Letzteres war eine beißende Ironie gegen die Unabhängigen, die, aus Ärger darüber, daß sie nicht geladen wurden, das ganze Fest vier Nummern hindurch herabzusetzen suchten, wobei sie den gröbsten Druck anwandten, und die Schimpfworte in Initialbuchstaben prangen ließen.

Der Morgen kam; es war ein entzückender Anblick, Herrn Tupman im Banditenkostüme zu sehen, mit eng anschließender Jacke, die wie ein Nadelkissen auf seinem Rücken und seinen Schultern saß. Der obere Teil seiner Beine war in Samthosen gehüllt, der untere war mit den verschlungenen Binden umflochten, worauf alle Banditen besonders viel halten. Es war ergötzlich, sein offenes und geistreiches Gesicht mit stattlichem Schnurr- und Backenbart, dem Kunsterzeugnisse der Korkmalerei, aus einem offenen Hemdkragen hervorschauen zu sehen. Seine zuckerhutförmige, mit Bändern und Farben aller Art geschmückte Kopfbedeckung mußte er auf den Knien halten, weil kein Wagen hoch genug gewesen wäre, um ihm Raum zwischen Kopf und Kutschendach zu gestatten. Ebenso lustig und angenehm war der Anblick des Herrn Snodgraß in blauem Atlaswams und Mantelkragen, weißen seidenen Strümpfen, Schuhen und griechischem Helm, einem Kostüm, von dem jeder weiß (und wenn auch nicht, doch wenigstens Salomon Lucas wußte), daß es die regelmäßige, authentische, alltägliche Tracht der Troubadoure von der frühesten Zeit an bis zu ihrem endlichen Verschwinden von der Oberfläche der Erde war. All das war entzückend, aber es war noch nichts gegen das Freudengeheul der Menge, als der Wagen abfuhr. Ihm folgte Herrn Potts Halbkutsche, die an Herrn Potts Haustür den großen Pott als russischen Justizbeamten mit einer furchtbaren Knute in der Hand, aufnahm – ein geschmackvoll gewähltes Sinnbild der großen und gewaltigen Macht der Eatanswill-Zeitung und der furchtbaren Art und Weise, womit er öffentliche Beleidigungen geißelte.

»Bravo!« riefen die Herren Tupman und Snodgraß au« dem Wagen, als sie die wandelnde Allegorie erblickten.

»Bravo!« ertönte die Stimme des Herrn Pickwick aus dem Wagen.

»Hurra – hoch, Pott!« schrie die Menge.

Unter diesen Begrüßungen stieg Herr Pott in die Halbkutsche mit jenem sanften, würdevollen Lächeln, das zur Genüge dartat, wie er seine Macht fühlte und sie anzuwenden wußte.

Hierauf trat Madame Pott aus dem Hause, die dem Apollo fabelhaft ähnlich ausgesehen hätte, wäre sie nicht mit einem Weiberrock angetan gewesen. Sie hing am Arme Herrn Winkles, der in seiner hellroten Jacke unmöglich für etwas anderes als für einen Weidmann genommen werden konnte, wenn ihm dieser Anzug nicht eine ebenso große Ähnlichkeit mit einem Postknecht gegeben hätte. Zuletzt erschien Herr Pickwick, dem die Jungen so laut wie irgend jemand applaudierten, wahrscheinlich weil seine Strümpfe und Gamaschen den Eindruck von Reliquien auf sie machten. Herr Weller (der beim Servieren behilflich sein mußte), saß auf dem Bock des Gefährts, in dem sein Gebieter saß, und beide Lokomotiven bewegten sich Herrn Leo Hunters Park zu. Männer, Weiber, Knaben und Mädchen, die sich versammelt hatten, die Gäste in ihren Maskenanzügen zu sehen, brüllten vor Vergnügen und Ausgelassenheit, als Herr Pickwick, den Banditen an dem einen und den Troubadour an dem andern Arme, feierlich dem Eingange zuschritt. Noch nie hatte man ein solches Hallo vernommen, wo Herr Tupman sich anstrengte, unter dem Parktore seinen Zuckerhut auf den Kopf zu befestigen.

Alle Anordnungen waren aufs entzückendste getroffen: die prophetischen Worte Potts über die Pracht der Feenreiche waren buchstäblich erfüllt, und die boshaften Verleumdungen der kriechenden Unabhängigen fanden volle Widerlegung durch die Wirklichkeit. Der Park war über fünfviertel Morgen groß, und war voll Menschen! Nie strahlte Schönheit, feiner Ton und Literatur in einem solchen Glanze. Da war die junge Dame, die die Poesie in der Eatanswill-Zeitung vertrat, in der Tracht einer Sultanin auf den Arm eines jungen Herrn gestützt, der dem Departement der Kritik vorstand und – die Stiefeln ausgenommen – sehr passend in die Uniform eines Feldmarschalls gekleidet war. Eine zahllose Menge Genies war anwesend, und jeder vernünftige Mensch würde es sich zur Ehre gerechnet haben, sie dort zu treffen. Aber was mehr als alles ist, es waren ein halbes Dutzend Löwen von London zugegen – Autoren, wirkliche Autoren, die ganze Vücher geschrieben und sie nachher dem Druck übergeben hatten – und hier seht ihr sie herumgehen gleich gewöhnlichen Menschen, lächelnd und unaufhörlich schwatzend – dazu noch eine ordentliche Portion Unsinn, ohne Zweifel in der wohlwollenden Absicht, sich den gemeinen Leuten um sie her verständlich zu machen. Überdies traf man dort eine Musikkapelle mit Papiermützen: vier sogenannte Alpensänger in der Tracht ihres Landes, und ein Dutzend gemietete Aufwärter, gleichfalls in dem Kostüme ihrer Gegend, das freilich etwas schmutzig war. Vor allem aber ragte Madame Leo Hunter als Minerva hervor, die Gesellschaft empfangend und bei dem Gedanken, so ausgezeichnete Leute um sich versammelt zu sehen, von Stolz und Freundlichkeit überfließend.

»Herr Pickwick, Madame«, sagte ein Diener, als sich der Genannte mit dem Hute in der Hand und dem Banditen und dem Troubadour an den Armen der Göttin des Tages näherte.

»Was – was?« rief Madame Leo Hunter mit erkünstelter Entzückung.

»Hier«, sagte Herr Pickwick.

»Ist’s möglich, daß ich wirklich das Glück habe, Herrn Pickwick in eigener Person vor mir zu sehen?« rief Madame Leo Hunter aus.

»Keinen andern, Madame«, versetzte Herr Pickwick mit einer sehr tiefen Verbeugung. »Erlauben Sie mir, meine Freunde – Herrn Tupman – Herrn Winkle – Herrn Snodgraß – der Verfasserin des »sterbenden Fröschleins« vorzustellen.«

Sehr wenige Leute, wohl nur die, so selbst den Versuch gemacht haben, wissen, wie schwer es hält, in eng anliegenden Beinkleidern von grünem Samt, einer eng anliegenden Jacke und einem hohen Turm auf dem Kopfe sich zu verneigen. Wenige wissen, wie schwer es fällt, in blauen Atlashosen, weißen Seidenstrümpfen oder Kniehosen und Stulpenstiefeln, die für jemand anders gemacht und dem, der sie trägt, ohne die entfernteste Rücksicht auf die Dimensionen seines Körpers, auf den Leib gepreßt wurden – wenige, sage ich, wissen es, wie schwer es hält, unter solchen Verhältnissen Verbeugungen zu machen. Noch nie sah man solche Verdrehungen, wie Herrn Tupmans Knochengestell machte, um Geschmeidigkeit und Grazie an den Tag zu legen – noch nie sah man so sinnreiche Stellungen, wie seine Freunde in ihren Maskenanzügen annahmen.

»Herr Pickwick«, sagte Madame Leo Hunter, »ich nehme Ihnen das Versprechen ab, den ganzen Tag nicht von meiner Seite zu gehen. Es sind Hunderte von Personen hier, denen ich Sie durchaus vorstellen muß.«

»Sie sind sehr gütig, Madame«, erwiderte Herr Pickwick.

»Vorerst sehen Sie hier meine kleinen Mädchen; ich hätte sie beinahe vergessen«, sagte die Minerva, vergnügt auf ein paar völlig erwachsene junge Damen deutend, von denen die eine ungefähr zwanzig, die andre ein oder zwei Jahre älter sein mochte, und die beide sehr jugendlich gekleidet waren. Ab sie sich dadurch ein junges Aussehen geben oder ihre Mama jünger machen wollten, darüber spricht sich Herr Pickwick nicht bestimmt aus.

»Sie sind sehr schön«, bemerkte Herr Pickwick, als sich die Mädchen nach der Vorstellung wieder entfernten.

»Sie sehen ihrer Mutter von oben bis unten gleich, mein Herr«, sagte Herr Pott in majestätischem Ton.

»O, Sie Schelm«, rief Madame Leo Hunter, den Herausgeber scherzend mit ihrem Fächer auf die Schulter klopfend (Minerva mit einem Fächer!).

»Nun, nun, meine teuerste Madame Hunter«, verteidigte sich Herr Pott, der in Den gewöhnlich den Trompeter machte, »Sie wissen, daß vergangenes Jahr, als Ihr Porträt in der königlichen Akademie ausgestellt war, beim Anblick desselben alle Welt fragte, ob es Sie oder Ihre jüngste Tochter vorstellen sollte; denn Sie sahen einander so ähnlich, daß von einer Unterscheidung gar keine Rede sein konnte.«

»Gut, und wenn es auch der Fall war, was brauchen Sie es hier vor Fremden zu erzählen?« sagte Madame Leo Hunter, der, jetzt ruhigen Löwen der Eatanswill-Zeitung mit einem zweiten Schlag berührend.

»Graf, Graf«, rief jetzt Madame Leo Hunter einem stark bebarteten Individuum in fremder Uniform zu, das eben vorüberging.

»Ah! Sie wünschen mich zu sprech?« sagte der Graf, sich umwendend.

»Ich wünsche zwei sehr geistvolle Männer einander vorzustellen«, erwiderte Madame Leo Hunter. »Herr Pickwick, ich mache mir großes Vergnügen daraus, Sie dem Grafen Smorltork vorzustellen.« Dann flüsterte sie Herrn Pickwick schnell die Worte zu – »der berühmte Fremde – sammelt Material für sein großes Werk über England – hem! – Graf Smorltork, Herr Pickwick.«

Herr Pickwick begrüßte den Grafen mit der einem so großen Manne gebührenden Achtung, und der Graf zog ein Notizbuch hervor.

»Wie sagen Sie, Madame Hunt?« fragte der Graf die Grazie mit graziösem Lächeln. » Pig wig oder Big wig Pig, Schwein – wig, Perücke; Bigwig – große Perücke. –- Anspielung auf die große Perücke der Justizbeamten, insbesondere der Rechtsanwälte. – wie man die Rechtsgelehrten nennt? Richter – ah! ich seh, das ist’s. Big wig« –

Und der Graf war eben im Begriff, Herrn Pickwick als Rechtsanwalt in sein Notizbuch einzutragen, der seinen Namen, den er führte, dem Beruf verdankte, da unterbrach ihn Madame Leo Hunter in seinem Geschäft.

»Nein, nein, Graf«, bemerkte die Dame, »Pickwick.«

»Ah, ah, ich versteh«, versetzte der Graf, »Pihg Taufname, Wihg Familienname: schön, sehr schön. Pihg Wihg. Wie geht es Ihnen, Herr Wihg?«

»Sehr gut, ich danke Ihnen«, antwortete Herr Pickwick mit der ganzen Leutseligkeit, die man an ihm gewöhnt war. »Sind Sie schon lange in England?«

»Lange – sehr lange Zeit – vierzehn Tage – mehr noch.«

»Werden Sie lange bleiben?«

»Ein Woch noch.«

»Da werden Sie genug zu tun haben«, sagte Herr Pickwick lächelnd, »in dieser Zeit alles nötige Material zu sammeln.«

»Ist schon gesammelt«, erwiderte der Graf.

»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.

»Sie sind hier«, fügte der Graf hinzu, mit der Hand an die Stirne greifend. »Großes Buch zu Hause – voll Notizen – Musik, Malerei, Wissenschaft, Poesie, Politik, alles.«

»Das Kapitel Politik, mein Herr«, bemerkte Herr Pickwick, »ist ein schwieriges Studium von unberechenbarem Umfang.«

»Ah«, sagte der Graf, das Notizbuch wieder hervorziehend, »sehr gut, schöne Wort, ein Kapitel damit zu beginn. Siebenundvierzigstes Kapitel. Politik. Das Kapitel Politik begreif ich sich –«

Und Herrn Pickwicks Bemerkung wanderte in Graf Smorltorks Notizbuch, mit Variationen und Zusätzen, wie sie dem Grafen seine üppige Phantasie eingab, oder seine unvollkommene Kenntnis der Sprache veranlaßte.

»Graf«, sagte Madame Leo Hunter.

»Madame Hunt«, antwortete der Graf.

»Dies ist Herr Snodgraß, Herrn Pickwicks Freund und ein Dichter.«

»Halt«, rief der Graf, sein Notizbuch abermals zückend. »Gegenstand. Dichtkunst – Kapitel, literarische Freunde – Name Snowgraß Der Graf verdreht den Namen: snow = Schnee, grass = Gras.: sehr schön. Snowgraß vorgestellt – großer Dichter, Freund Pihg – Wihgs – von Madame Hunt, Verfasserin eines andern schön Gedichts – wie heißt doch? – Fröschlein – sterbend Fröschlein – sehr schön – wirklich sehr schön.«

Und der Graf steckte sein Notizbuch ein und entfernte sich unter verschiedenen Bücklingen und Empfehlungen, höchlich vergnügt, seine Sammlung mit den wichtigsten Entdeckungen bereichert zu haben.

»Ein bewunderungswürdiger Mann, der Graf Smorltork«, bemerkte Madame Leo Hunter.

»Ein tiefer Philosoph«, sagte Pott.

»Ein heller Kopf, ein starker Geist«, fügte Herr Snodgraß hinzu.

Die Umstehenden stimmten in die Lobeserhebung des Grafen Smorltork ein, wiegten die Köpfe und riefen einmütig: »O gewiß!«

Da die Begeisterung für Graf Smorltork immer höher stieg, so würde vielleicht sein Lob bis ans Ende der Festlichkeit gesungen worden sein, hätten sich nicht die vier sogenannten Alpensänger, um malerisch auszusehen, vor einem kleinen Apfelbaum aufgestellt, und ihre Nationallieder abzusingen begonnen. Das war ein Unternehmen, das durchaus nicht mit Schwierigkeiten verbunden war, denn das ganze große Geheimnis schien darin zu bestehen, daß drei von den sogenannten Sängern grunzten, wahrend der vierte heulte.

Nachdem diese interessante Vorstellung mit dem lautesten Beifall der ganzen Gesellschaft beendet war, trat sofort ein Junge auf, der durch die Beine eines Stuhls schlüpfte, über ihn wegvoltigierte, unter ihm durchkroch, mit ihm niederfiel und überhaupt alles mit ihm anfing, nur das nicht, wozu ein Stuhl bestimmt ist. Nach diesen Kunstproduktionen machte er eine Krawatte aus seinen Beinen, schlang sie um seinen Hals herum und lieferte so praktisch den Beweis, daß es einem menschlichen Wesen durchaus leicht falle, sich einer vergrößerten Kröte gleichzumachen – lauter Großtaten, die die versammelten Zuschauer höchlich ergötzten und vergnügten. Hierauf ließ sich die Stimme der Madame Pott mit einem schwachen Gepiepe vernehmen. Die gebildete Betonungsweise machte daraus etwas wie Gesang, der übrigens durchaus klassisch war und ihrer Charaktermaske vollkommen entsprach, weil Apollo selbst ein Komponist war, und Komponisten gewöhnlich weder ihre eigenen noch fremde Musikstücke singen können. Danach deklamierte Madame Leo Hunter ihre weltberühmte Ode an ein sterbendes Fröschlein, worauf sie dieselbe zum zweiten Male vortrug und vielleicht noch zweimal vorgetragen haben würde, wenn nicht der größte Teil der Gäste, der daran dachte, daß es hohe Zeit sei, den Magen zu befriedigen, die Erklärung abgegeben hätte, es würde höchst unartig sein, die Güte der Madame Leo Hunter zu mißbrauchen. Deswegen wollten die besorgten und bescheidenen Freunde der Madame Leo Hunter, trotz ihrer vollkommenen Bereitwilligkeit, die Ode noch einmal vorzutragen, von keiner nochmaligen Wiederholung mehr hören.

Als der Speisesaal geöffnet wurde, drängte sich alles, was irgend dazu gehörte, mit aller zu Gebote stehenden Eilfertigkeit hinein: denn Madame Leo Hunter hatte die Gewohnheit, hundert Karten austeilen und fünfzig Gedecke legen zu lassen, oder mit andern Worten, nur die eigentlichen Löwen zu füttern und das kleinere Geschmeiß für sich selbst sorgen zu lassen.

»Wo ist Herr Pott?« fragte Madame Leo Hunter, als sie besagte Löwen um sich am Tische versammelte.

»Hier bin ich«, rief der Herausgeber, in dem entferntesten Ende des Saals von aller Hoffnung auf Speise abgeschnitten, wenn die Wirtin nicht für ihn sorgte.

»Wollen Sie nicht heraufkommen?«

»Oh, bitte, lassen Sie ihn«, sagte Madame Pott mit dem verbindlichsten Ton – »Sie geben sich sehr viel unnötige Mühe, Madame Hunter. Du bist dort ganz gut aufgehoben – nicht wahr, mein Lieber?«

»O gewiß, meine Liebe«, erwiderte der unglückliche Pott mit herbem Lächeln.

O Knute! Der nervige Arm, der sie mit gigantischer Wucht über öffentliche Charaktere schwang, war durch einen Blick der herrschsüchtigen Madame Pott gelähmt.

Madame Leo Hunter sah sich triumphierend um. Graf Smorltork war eifrig damit beschäftigt, die Gänge des Gastmahls zu notieren; Herr Tupman präsentierte einigen Löwinnen den Hummersalat mit einer Grazie, wie sie nie zuvor ein Bandit an den Tag gelegt hatte; Herr Snodgraß hatte den jungen Herrn ausgestochen, der den Stachel der Kritik für die Eatanswill-Zeitung führte und war in einer leidenschaftlichen Unterhaltung mit der jungen Dame begriffen, die die Poesie darstellte; und Herr Pickwick machte im allgemeinen den Angenehmen. Nichts schien zu fehlen, um den erlesenen Zirkel zu vervollständigen, als Herr Leo Hunter, der bei solchen Gelegenheiten seinen Platz an den Eingangstüren hatte und sich mit den minder wichtigen Leuten unterhielt, plötzlich ausrief:

»Meine Liebe, hier kommt Herr Charles Fitz-Marshall.«

»O mein Lieber«, erwiderte Madame Leo Hunter, »wie sehnsüchtig habe ich ihn erwartet. Bitte, mach‘ Platz, Herrn Fitz-Marshall durchzulassen. Sage Herrn Fitz-Marshall, mein Lieber, er soll doch sogleich zu mir kommen, um sich wegen seines späten Erscheinens ausschelten zu lassen.«

»Komme, teuerste Madame –« rief eine Stimme, »– so schnell ich kann – Menge Volks – der Saal ganz voll – harte Arbeit – sehr hart.«

Herr Pickwick ließ Messer und Gabel aus der Hand fallen und starrte über die Tafel Herrn Tupman an, der ebenfalls Messer und Gabel verloren hatte, und aussah, als wollte er sofort in den Boden sinken.

»Ah!« rief die Stimme, als ihr Eigentümer sich durch die letzten fünfundzwanzig Türken, Offiziere und Kavaliere Karls II., die zwischen ihm und der Tafel waren, Bahn brach, »ordentliche Plättrolle – nicht eine Falte an meinem Rock, nach all diesem Quetschen – hätte mein Weißzeug ungeplättet lassen können, – ha! ha! kein übler Gedanke, das – es am Körper mangeln zu lassen – harter Prozeß – sehr hart.«

Mit diesen abgebrochenen Worten bahnte sich ein junger Mann in der Uniform eines Marine-Offiziers den Weg zur Tafel und wies den erstaunten Pickwickiern die leibhafte Gestalt und Gesichtsbildung Herrn Alfred Jingles.

Der anstößige Patron hatte kaum Zeit, die dargebotene Hand der Madame Leo Hunter zu ergreifen, als seine Augen den grimmen Blicken des Herrn Pickwick begegneten.

»Ach, ach«, rief Herr Jingle, »– ganz vergessen – Postillion noch keine Befehle – gebe sie sogleich – in einer Minute wieder hier.«

»Der Diener oder Herr Hunter wird dies im Augenblick besorgen, Herr Fitz-Marshall«, sagte Madame Leo Hunter.

»Nein, nein – will’s selber tun – dauert nicht lange – im Nu wieder da«, erwiderte Jingle.

Mit diesen Worten verschwand er unter der Menge.

»Wollen Sie mir die Frage erlauben, Madame«, sagte der erregte Herr Pickwick, sich von seinem Sitze erhebend, »wer der junge Mann ist, und wo er sich aufhält?«

»Es ist ein Gentleman von Vermögen, Herr Pickwick«, antwortete Madame Leo Hunter, »und ich sehne mich sehr danach, ihn Ihnen vorzustellen. Der Graf wird darüber enzückt sein.«

»Ja, ja«, erwiderte Herr Pickwick hastig. »Sein Aufenthalt –«

»Ist gegenwärtig im Engel zu Bury.«

»Zu Bury?«

»Zu Bury St.Edmunds, wenige Meilen von hier. – Aber ich bitte Sie, Herr Pickwick, Sie werden uns doch nicht verlassen? Nein, gewiß, Sie können nicht daran denken – so früh.«

Aber lange, ehe Madame Leo Hunter zu sprechen aufgehört, hatte Herr Pickwick sich in’s Gedränge geworfen und den Garten erreicht, wo ihn bald darauf Herr Tupman traf, der seinem Freunde auf den Fersen gefolgt war.

»Es ist umsonst«, sagte Tupman. »Er ist fort.«

»Ich weiß es«, erwiderte Herr Pickwick; »aber ich will ihm folgen.«

»Ihm folgen? Wohin?« fragte Tupmann.

»Nach dem Bury in den Engel«, versetzte Herr Pickwick hastig. »Wissen wir, wen er dort betrügt? Er betrog einmal einen würdigen Mann, und wir waren die unschuldige Ursache. Er soll es nicht wieder tun, wenn ich es hindern kann; ich will ihn entlarven, Sam! Wo ist mein Diener?«

»Ah, sind Sie da, Sir?« rief Herr Weller, aus einem abgelegenen Winkel hervorkommend, wo er eben damit beschäftigt gewesen war, eine Madeiraflasche zu untersuchen, die er eine oder zwei Stunden vorher beim Frühstück weggekapert hatte. »Hier ist Ihr Diener, Sir, – stolz auf diesen Titel, wie das lebende Skelett sagte, als man es ums Geld sehen ließ.«

»Folgt mir augenblicklich«, sagte Herr Pickwick. »Tupman, wenn ich in Bury bin, können Sie dorthin kommen, sobald ich schreibe. Bis dahin leben Sie wohl.«

Vorstellungen waren fruchtlos. Herr Pickwick blieb unerschütterlich; sein Entschluß war gefaßt. Herr Tupman kehrte zur Gesellschaft zurück; und in einer Stunde hatte er alle Gedanken an Herrn Alfred Jingle oder Charles Fitz-Marshall in einer heitern Quadrille und einer Flasche Champagner erstickt.

Während dieser Zeit saßen Herr Pickwick und Sam Weller oben auf einer Postkutsche, von Minute zu Minute die Entfernung zwischen sich und der guten alten Stadt Bury Saint Edmunds Bury, Stadt nahe bei Manchester, malerisch auf einem Hügel am Irwell sich erhebend, nahe dabei das Dorf Summerseat, das in Dickens Roman. »Nicholas Nickleby« eine Rolle spielt. kürzer werden lassend.

Siebzehntes Kapitel.


Siebzehntes Kapitel.

Zu voll von Abenteuern, als daß es kurz beschrieben werden könnte.

Es gibt keinen Monat im ganzen Jahre, in dem die Natur ein schöneres Aussehen hat, als im Monat August. Der Lenz hat viele Schönheiten, und der Mai ist ein heiterer, blumenreicher Monat, aber der Kontrast zum Winter ist es, der die Reize dieser Jahreszeit hervorhebt. Der August hat diesen Vorteil nicht. Er erscheint, wenn wir von nichts anderm wissen, als von klarem Himmel, grünen Wiesen und süß duftenden Blumen – wenn die Erinnerung an Schnee und Eis und rauhe Winde so ganz aus unserm Gedächtnis gelöscht ist, als wären diese Dinge von der Erde überhaupt verschwunden – und doch, welch reizende Zeit!

Baumgärten und Kornfelder wimmeln von fröhlichen Arbeitern; die Bäume beugen sich unter ihrem reichen Segen, und das gelbe Korn, das die Landschaft vergoldet, schüttelt seine Ähren unter dem leisesten Lüftchen, das darüber hinwogt, als sehnte es sich nach der Sichel, wie der Bräutigam nach der Braut. Ein Geist der Sanftmut und des Friedens scheint über der ganzen Erde zu schweben. Selbst der schwere Kornwagen bewegt sich geräuschlos über das Erntefeld und ist nur dem Auge bemerkbar.

Während die Kutsche schnell durch die Felder und Baumgärten dahinrollt, die die Straße durchzieht, bleiben Weiber und Kinder, die in Garben das Korn zusammenbinden oder die zerstreuten Ähren sammeln, gruppenweise stehen und feiern für einen Augenblick. Das sonnenverbrannte Gesicht mit einer noch brauneren Hand beschattet, betrachten sie die Reisenden mit neugierigen Augen, indessen ein pausbackiger Knabe, zu klein, um zu arbeiten, und zu unartig, um zu Hause gelassen werden zu können, aus seinem Sicherheitskorbe herauskrabbelt, vor Vergnügen schreit und auf den Boden stampft. Der Schnitter hält in seiner Arbeit inne und sieht mit verschlungenen Armen dem Gefährte nach, wenn seine Räder vorübergerollt sind. Die groben Ackergäule werfen einen schläfrigen Blick auf die schmucken Kutschenpferde, der so deutlich, als es ein Pferdeblick vermag, die Meinung ausdrückt: das ist alles sehr schön anzusehen, aber langsam über ein Ackerfeld hinzugehen, ist im Grunde doch besser, als eine heiße Arbeit wie eure auf der staubigen Straße. Werft einen Blick hinter euch, wenn ihr um eine Straßenecke wendet, und die Weiber und Kinder haben ihre Arbeit wieder aufgenommen, der Schnitter bückt sich wieder mit seiner Sichel, die Ackergäule ziehen wieder am Wagen, und alles ist wieder in Bewegung. Eine Szene wie diese verfehlte ihre Wirkung auf das empfängliche Gemüt Herrn Pickwicks nicht. Mit dem Entschlusse, den er gefaßt, beschäftigt, den schändlichen Jingle in seiner wahren Gestalt zu entlarven, mochte er seine betrügerischen Pläne ausspinnen, wo er wollte, saß er anfangs stumm und in Gedanken verloren da, über die Mittel brütend, die ihn zum Ziele führen könnten. Nach und nach lenkte sich seine Aufmerksamkeit mehr und mehr auf die Dinge, die ihn umgaben, und zuletzt hatte er von seinem Ausfluge so viel Genuß, als hätte er ihn aus den heitersten Beweggründen der Welt unternommen.

»Ein entzückender Anblick, Sam«, bemerkte Herr Pickwick.

»Geht noch über die Schornsteinhüte, Sir«, versetzte Herr Weller, an seinen Hut greifend.

»Ich glaube, du hast in deinem ganzen Leben beinahe nichts gesehen, als Kaminhüte, Ziegelsteine und Mörtel«, sagte Herr Pickwick lächelnd.

»Bin nicht immer Hausknecht gewesen, Sir«, entgegnete Herr Weller mit Kopfschütteln. »Ich war einmal Fuhrknecht.«

»Wann war das?« fragte Herr Pickwick.

»Als ich zum ersten Male kopfüber in die Welt geworfen wurde, um mich von ihr herumtrudeln zu lassen«, antwortete Sam. »Zuerst war ich bei einem Trödler, dann bei einem Fuhrmann, dann brachte ich es zum Aushelfer und dann zum Hausknecht. Jetzt bin ich Diener bei einem Herrn. Nächstens werde ich vielleicht selbst ein Herr werden, mit einer Pfeife im Munde und einem Sommerhaus im Hintergarten. Wer weiß? Mich sollte es keinen Augenblick wundernehmen.«

»Du bist ein ganzer Philosoph, Sam«, bemerkte Herr Pickwick.

»Es liegt, glaube ich, in der Familie, Sir«, versetzte Herr Weller. »Mein Vater ist sehr stark nach dieser Richtung hin veranlagt. Wenn meine Stiefmutter ihn auszankt, pfeift er. Wenn sie in Wut gerät und seine Pfeife zerbricht, so geht er langsam hinaus und holt sich eine andere. Wenn sie laut aufkreischt und in Ohnmacht fällt, so raucht er ganz gemütlich, bis sie wieder zu sich kommt. Das ist die Philosophie, Sir, – nicht wahr?«

»Auf alle Fälle ein guter Ersatz dafür«, versetzte Herr Pickwick lachend. »Es muß dir im Laufe deines Lebens oft gut zustatten gekommen sein, Sam?«

»Zustatten gekommen, Sir?« rief Sam. »Da haben Sie ganz recht. Ich ging also vom Trödler fort, und ehe ich zum Fuhrmann kam, hatte ich vierzehn Tage lang freie Wohnung.«

»Freie Wohnung?« fragte Herr Pickwick.

»Ja – die drei Bogen unter der Waterloobrücke Eine verkehrsreiche Brücke über die Themse in London, direkt auf Waterloo-Road mündend.. Eine hübsche Schlafstätte – nur zehn Minuten von allen städtischen Gebäuden – freilich, eins war daran auszusetzen, ihre Lage ist etwas zu luftig. Ich sah seltsame Dinge dort.«

»Hm, das glaube ich«, versetzte Herr Pickwick mit einer Miene, die großes Interesse verriet.

»Dinge, Sir«, fuhr Weller fort, »die ihr liebevolles Herz durchbohren und auf der andern Seite wieder herauskommen. Ich fand hier nicht die regelrecht professionierten Strolche; glauben Sie mir, die wissen was Besseres, als das. Junge Bettler und Bettlerinnen, die es noch nicht weit in ihrem Beruf gebracht haben, schlagen dort bisweilen ihr Quartier auf. Aber gewöhnlich sind es die ausgehungerten, heimatlosen Geschöpfe, die sich in den feuchten Winkeln jener einsamen Plätze niederkauern; arme Luder, die den Zweipfennigstrick nicht auftreiben können.«

»Was ist denn das, Sam, der Zweipfennigstrick?« fragte Herr Pickwick.

»Der Zweipfennigstrick, Sir«, versetzte Herr Weller, »ist eine wohlfeile Herberge, wo das Bett zwei Pfennig für die Nacht kostet.«

»Warum nennt man denn ein Bett einen Strick?« fragte Herr Pickwick.

»Gott segne Ihre Unschuld, mein Herr, das tut man nicht«, erwiderte Sam. »Als die Dame und der Herr des Hotels das Geschäft anfingen, pflegten sie die Betten auf den Boden zu legen; aber dies wollte nicht klecken; anstatt bescheiden einen zwei Pfennig werten Schlaf zu genießen, pflegten die Schlafgänger den halben Tag liegenzubleiben. Darum haben sie jetzt zwei Stricke ungefähr sechs Fuß von einander und drei Fuß vom Boden; auf die werden die Betten gelegt, die aus Bändern von grober Sackleinwand gemacht sind.«

»Na ja«, sagte Herr Pickwick.

»Na ja«, wiederholte Herr Weller, »der Vorteil springt in die Augen. Um sechs Uhr morgens werden die Stricke an einem Ende abgelöst und sämtliche Schlafgänger fallen herunter. Die Folge ist, daß sie völlig wach ganz ruhig aufstehen und fortgehen.«

»Verzeihung, Sir«, sagte Sam, seinen Wortschall plötzlich hemmend. »Ist dies Bury Saint Edmunds?«

»Ja, das ist’s«, erwiderte Herr Pickwick.

Die Kutsche rasselte durch die wohlgepflasterten Straßen eines hübschen Städtchens von wohlhabenden und reinlichem Aussehen, und hielt vor einem großen Gasthof in einer breiten, offenen Straße, beinahe gerade der alten Abtei gegenüber.

»Und dies«, sagte Herr Pickwick emporschauend, »ist der Engel. Wir steigen hier ab, Sam, aber einige Vorsicht ist notwendig. Bestelle ein besonderes Zimmer, und nenne meinen Namen nicht. Du verstehst mich.«

»Wie ein Orakel, Sir«, versetzte Herr Weller mit einem schlauen Winke, und nachdem er Herrn Pickwicks Gepäck aus dem hintern Kasten genommen, in den es in der Eile geworfen war, als sie in die Eatanswiller Postkutsche stiegen, verschwand Herr Weller, um seinen Auftrag auszurichten. Augenblicklich wurde ein besonderes Zimmer bestellt und Herr Pickwick ohne Verzug hineinbugsiert.

»Nun ist das Erste, Sam«, sagte Herr Pickwick, »das Erste, was geschehen muß –«

»Das Essen, Sir«, unterbrach ihn Herr Weller, »Es ist schon sehr spät.«

»Ach ja«, sagte Herr Pickwick, auf seine Uhr sehend. »Du hast recht, Sam.«

»Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, mein Herr«, fügte Herr Weller hinzu, »so würde ich mich an Ihrer Stelle nach dem Essen zu Bett begeben und erst morgen ans Werk gehen, nachdem ich erst mal ordentlich ausgeschlafen hätte. Nichts ist so erquickend, wie ein ordentlicher Schlaf, Sir, sagte die Kellnerin, ehe sie das Glas Opium leerte.«

»Du magst wohl recht haben, Sam«, versetzte Herr Pickwick. »Aber ich muß mich zuerst überzeugen, daß er im Hause ist und nicht so schnell fortgeht.«

»Überlassen Sie das mir, Sir«, sagte Sam. »Lassen Sie mich ein hübsches, kleines Abendessen bestellen, unten nachforschen, während es zubereitet wird: in fünf Minuten will ich dem Hausknecht jedes Geheimnis entlockt haben.«

»Mach es so«, sagte Herr Pickwick.

Und Herr Weller entfernte sich alsbald.

In einer halben Stunde saß Herr Pickwick vor einem sehr befriedigenden Abendessen; und in drei Viertelstunden kam Herr Weller mit der Nachricht zurück, Herr Charles Fitz-Marshall habe befohlen, man solle ihm sein Zimmer bis auf weiteres vorbehalten. Er sei ausgegangen, um den Abend in einem benachbarten Privathause zuzubringen: weiter habe er den Hausknecht angewiesen, bis zu seiner Zurückkunft aufzubleiben, und sei dann mit seinem Diener weggegangen.

»Kann ich nun morgen mit seinem Diener anbinden«, schloß Herr Weller seinen Bericht, »so muß er mir alle Verhältnisse seines Herrn entdecken.«

»Was fällt dir ein?« fiel Herr Pickwick ein.

»Wohin denken Sie, Herr: das ist so der Brauch bei den Dienern«, erwiderte Herr Weller.

»Ach, ich habe nicht daran gedacht«, sagte Herr Pickwick. »Gut.«

»Dann können Sie die Sache angreifen, wie es am besten geht, Herr, und wir können uns danach richten.«

Da es sich zeigte, daß das die beste Anordnung war, die gctroffen werden konnte, so ward der Vorschlag endlich angenommen. Herr Weller zog sich mit der Erlaubnis seines Herrn zurück, um seinen Abend auf seine Weise zuzubringen, und sah sich bald darauf in der Trinkstube von der versammelten Gesellschaft zum Präsidenten erwählt. Er erfüllte den ehrenvollen Posten so sehr zur allgemeinen Zufriedenheit, daß das Gelächter und Beifallsgeschrei bis in Herrn Pickwicks Zimmer drang und die gewohnte Zeit seiner Ruhe wenigstens um drei Stunden abkürzte.

Am folgenden Morgen früh vertrieb Herr Weller sodann die Nachwehen des vorhergehenden Abends durch ein Halbpennysturzbad (er hatte nämlich einem jungen Kavalier, der im Stallknechtdienst angestellt war, das genannte Geldstück gegeben, um ihm so lange Wasser über Kopf und Gesicht zu pumpen, bis er vollkommen hergestellt sein würde). Da ward er einen jungen Burschen in maulbeerfarbener Livree gewahr, der auf einer Bank im Hofe saß, mit einer Miene tiefen Nachsinnens. Er las in einem Dinge, das einem Gebetbuche gleich sah, warf aber nichtsdestoweniger von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Blick auf das Individuum unter der Pumpe, als ob er irgendein Interesse an seinem Tun und Lassen nähme.

»Du scheinst mir ein seltsamer Kamerad, deinem Aussehen nach«, dachte Herr Weller, als seine Augen zum ersten Mal den Blicken des Fremden in der maulbeerfarbenen Livree begegneten, der ein breites, schmutziges, häßliches Gesicht, tief eingefallene Augen und einen riesenhaften Schädel hatte, von dem eine Portion schlichtes, schwarzes Haar niederrollte. »Ein seltsamer Kamerad«, dachte Herr Weller, fing an sich zu waschen und dachte nicht mehr weiter über ihn nach.

Immer schielte der Mensch von seinem Gebetbuche nach Sam und von Sam in sein Gebetbuch, als ob er eine Unterhaltung anzuknüpfen wünschte. Endlich fragte Sam, um ihm eine Gelegenheit dazu zu geben, mit einem vertraulichen Kopfnicken:

»Wie geht es Ihnen, Herr Hauskandidat?«

»Gottlob, gut, ziemlich gut, Herr«, antwortete der Mensch mit bedächtiger Langsamkeit, und machte das Buch zu. »Ich hoffe bei Ihnen findet das gleiche statt, mein Herr?«

»Nun, wenn ich weniger Ähnlichkeit mit einer wandelnden Branntweinflasche in mir fühlen würde, wäre ich diesen Morgen ganz wohlauf«, antwortete Sam. »Logieren Sie in diesem Hause?«

Der Maulbeerfarbene bejahte.

»Warum haben Sie denn gestern Nacht nicht mitgemacht?« fragte Sam, sein Gesicht mit dem Handtuche reibend. »Sie mögen mir ein lustiger Bruder sein – sieht so gesellig aus, wie eine lebende Forelle in einem Weidenkorb«, setzte Herr Weller leise hinzu.

»Ich war gestern abend mit meinem Herrn auswärts«, erwiderte der Fremde.

»Wie nennt er sich?« fragte der Herr Weller, dem eine plötzliche Aufregung noch mehr Blut ins Gesicht trieb, als er bereits durch die Reibung mit dem Handtuche hervorgerufen hatte.

»Fitz-Marshall«, antwortete der Maulbeerfarbene.

»Geben Sie mir die Hand«, sagte Herr Weller nähertretend; »ich möchte gern mit Ihnen bekannt werden. Ihr Gesicht gefällt mir, alter Kamerad.«

»Nun, das ist höchst seltsam«, bemerkte der Maulbeerfarbene mit großer Einfalt. »Sie gefielen mir so sehr, daß ich vom ersten Augenblick an, da ich Sie unter der Pumpe sah, mit Ihnen zu sprechen wünschte.«

»Wirklich?«

»Auf mein Wort. Nun, ist das nicht kurios?«

»Sehr sonderbar«, sagte Sam, sich im Innern über die Gefügigkeit des Fremden gratulierend.

»Wie nennen Sie sich, mein Erzvater?«

»Hiob.«

»Das ist j» wirklich ein wackerer Name: der einzige meines Wissens, der nicht verketzert worden ist. Wie heißen Sie weiter?«

»Trotter«, antwortete der Fremde. »Und Sie?«

Sam dachte an die von seinem Herrn anempfohlene Behutsamkeit und antwortete:

»Mein Name ist Walker und mein Herr heißt Wilkins. Wollen Sie ein Morgenschlückchen mit mir nehmen, Herr Trotter?«

Herr Trotter ging auf den angenehmen Vorschlag ein, steckte sein Buch in die Jackentasche und begleitete Herrn Weller in die Trinkstube. Dort waren sie bald mit der Untersuchung einer aufheiternden Mischung beschäftigt, die sich in einem zinnernen Gefäß befand und aus einer gewissen Quantität Wacholderbranntwein und Nelkenessenz gebraut war.

»Und was haben Sie für eine Stellung?« fragte Sam, als er das Glas seines Gefährten zum zweiten Male füllte.

»Eine schlechte«, antwortete Hiob mit den Lippen schmatzend, »eine sehr schlechte.«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst?« fragte Sam.

»Mein vollkommener Ernst. Das Schlimmste ist, mein Herr will heiraten.«

»Ach nein!«

»Ja; und noch schlimmer ist das, er will eine unermeßlich reiche Erbin aus dem Mädchenpensionat entführen.«

»Ein Teufelskerl das«, äußerte Sam, seines Gefährten Glas wieder füllend. »Ist vermutlich ein Mädchenpensionat in der Stadt, nicht wahr?«

Obgleich diese Frage scheinbar im unbefangensten Tone von der Welt vorgebracht wurde, so deutete doch Hiob Trotter durch Gebärden umständlich genug an, daß er die Absicht seines neuen Freundes durchschaue. Er leerte sein Glas, sah seinen Gefährten geheimnisvoll an, winkte mit seinen beiden Äuglein, zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken, und machte endlich eine Bewegung mit dem Arme, als ob er in Gedanken pumpte, um dadurch anzuzeigen, daß er (Herr Trotter) sich als einen Brunnen betrachte, der von Herrn Samuel Weller ausgepumpt werden sollte.

»Nein, nein«, sagte endlich Herr Trotter. »Das darf nicht jedermann wissen, das ist ein Geheimnis, ein großes Geheimnis, Herr Walker.«

Während der Maulbeerfarbene also sprach, stülpte er sein Glas um, seinen Gefährten auf diese Weise daran erinnernd, daß er nun nichts mehr hätte, um seinen Durst zu löschen. Sam verstand den Wink, und weil er die Zartheit fühlte, mit der sie gegeben worden, ließ er das zinnerne Gefäß wieder füllen, worüber die kleinen Äuglein des Maulbeerfarbenen vor Freude glänzten.

»Und so ist’s also ein Geheimnis?« fragte Sam.

»Ich vermute fast, es ist so was«, erwiderte der Maulbeerfarbene, sein Tränklein mit freundlichem Gesicht schlürfend.

»Vermutlich ist Ihr Herr reich?« fragte Sam.

Herr Trotter lächelte, und das Glas in der Linken haltend, klopfte er mit der Rechten viermal auf die Tasche seiner maulbeerfarbenen Hose, als wollte er damit andeuten, daß sein Herr das auch tun, d.h. auf seine Hosentaschen klopfen könnte, ohne irgend jemand durch Geldgeklimper neidisch zu machen,

»Ach«, sagte Sam, »liegt da der Hund begraben?«

Der Maulbeerfarbene nickte bejahend.

»Gut, aber denken Sie nicht, alter Sünder«, fing nun Herr Weller an, »daß Sie da ein köstlicher Schurke sind, wenn Sie Ihren Herrn die junge Dame entführen lassen?«

»Ich weiß es«, sagte Hiob Trotter seufzend und einen Blick tiefer Zerknirschung auf seinen Gefährten werfend: »ich weiß es, und das ist gerade ein nagender Wurm in meinem Innern. Aber was soll ich tun?«

»Tun?« fragte Sam. »Die Sache der Vorsteherin melden und Ihren Herrn verlassen.«

»Würden Sie mir glauben?« erwiderte Hiob Trotter. »Die junge Dame gilt als die Unschuld und Besonnenheit selbst. Sie würde es leugnen und mein Herr auch. Wer würde mir glauben? Ich würde meine Stelle verlieren und wegen Verrats oder so etwas verklagt werden: das ist alles, was ich dadurch gewönne.«

»Da haben Sie recht«, sagte Sam nachdenklich, »da haben Sie recht.«

»Wenn ich einen glaubwürdigen Herrn wüßte, der die Sache auf sich nähme«, fuhr Herr Trotter fort, »so würde ich einige Hoffnung hegen, die Entführung zu hintertreiben; aber das ist gerade der schwierigste Punkt, Herr Walker; das ist’s gerade. Ich kenne keinen Herrn hier; und dann, wenn ich es auch einem sagte, würde er mir die Geschichte glauben?«

»Kommen Sie mit«, sagte Sam, plötzlich aufspringend und den Maulbeerfarbenen am Arme nehmend; »mein Herr ist der Mann, den Sie suchen.«

Und nach kurzem Widerstand von selten Hiob Trotters führte Sam seinen neugefundenen Freund in Herrn Pickwicks Zimmer, stellte ihn seinem Herrn vor und wiederholte kurz das Zwiegespräch, das sie soeben gehabt hatten.

»Es tut mir sehr leid um meinen Herrn«, sagte Hiob Trotter, ein rosenfarbenes, gewürfeltes Taschentuch von ungefähr drei Quadratzoll vor die Augen haltend.

»Dieses Gefühl macht Ihnen viel Ehre«, verfehle Herr Pickwick: »aber es ist nichtdestoweniger Ihre Pflicht.«

»Ich weiß, es ist meine Pflicht, mein Herr«, verfetzte Hiob mit großer Rührung. »Wir sollten alle unsere Pflicht tun, Sir, und ich suche demütig die meine zu erfüllen, Sir; aber es ist eine schwere Prüfung, einen Herrn zu verraten, dessen Kleider man trägt und dessen Brot man ißt, selbst wenn er ein Schurke ist, Sir.«

»Sie sind ein sehr guter Mensch«, bemerkte Herr Pickwick sehr gerührt, »ein ehrlicher Mensch.«

»Gehen Sie, gehen Sie«, fiel Sam ein, der Herrn Trotters Tränen voller Ungeduld mit angesehen hatte. »Geben Sie dieses Wasserhandwerk auf: es führt Sie doch zu nichts.«

»Sam«, sagte Herr Pickwick vorwurfsvoll, »ich sehe es sehr ungern, daß du so wenig Achtung vor den Gefühlen dieses jungen Mannes hast.«

»Seine Gefühle sind sehr gut, mein Herr«, versetzte Herr Weller, und weil sie so schön sind, und es schade wäre, wenn er sie verlöre, hielte ich es für besser, wenn er sie in seiner Brust behielte, als wenn er sie im heißen Wasser verdampfen läßt. Sie führen doch zu nichts. Tränen haben noch nie eine Uhr aufgezogen oder eine Dampfmaschine getrieben. Wenn Sie wieder einmal in eine Tabakskneipe gehen, junger Mensch, so stopfen Sie sich die Pfeife mit dieser Betrachtung: für jetzt aber stecken Sie das bißchen rote Baumwolle in die Tasche. Es ist nicht schön, daß Sie so damit herumfuchteln, als wären Sie ein Seiltänzer.«

»Mein Diener hat recht«, sagte Herr Pickwick zu Hiob, »wiewohl seine Art sich auszudrücken etwas unmanierlich und bisweilen unverständlich ist.«

»Er hat recht, mein Herr«, sagte Herr Trotter, »ich will mich beherrschen.«

»Sehr schön«, versetzte Herr Pickwick, »und wo ist denn das Mädchenpensionat?«

»Es ist ein großes, altes, backsteinernes Haus, gerade vor der Stadt«, erwiderte Hiob Trotter.

»Und wann«, fragte Herr Pickwick, »wann soll der schändliche Plan ausgeführt werden – wann soll die Entführung stattfinden?«

»Heute abend, mein Herr«, antwortete Hiob.

»Heute abend«, rief Herr Pickwick,

»Noch heute abend, mein Herr«, versicherte Hiob Trotter. »Das ist’s, was mich so sehr beunruhigt.«

»Es müssen augenblicklich Maßregeln getroffen werden«, sagte Herr Pickwick. »Ich will die Dame sogleich sprechen, die die Mädchenschule hält.«

»Bitte um Verzeihung, mein Herr«, sagte Hiob, »aber so geht es nicht.«

»Warum nicht?« fragte Herr Pickwick.

»Mein Herr ist ein sehr schlauer Kamerad.«

»Das weiß ich«, sagte Herr Pickwick.

»Und er hat sich bei der guten Dame so eingeschwatzt«, fuhr Hiob fort, »daß sie nichts zu seinem Nachteil glauben würde, und wenn Sie sich auf Ihre nackten Knie würfen und es durch einen Eid bekräftigten: besonders da Sie keinen andern Beweis haben, als die Aussagen eines Dieners, der wegen irgendeines Vergehens, das ihr mein Herr zu nennen für gut fände (und das würde er sicher sagen), fortgejagt worden sei und nun aus Rache so handle.«

»Was soll dann aber geschehen?« fragte Herr Pickwick.

»Nichts kann die alte Dame überzeugen, als wenn wir ihn auf der Tat ertappen«, versetzte Hiob.

»Die alten Katzen wollen mit dem Kopf gegen die Wand rennen«, bemerkte Herr Weller in Paranthese.

»Aber dieses auf der Tat Ertappen, fürchte ich, möchte ziemlich schwer auszuführen sein«, sagte Herr Pickwick.

»Ich weiß nicht, mein Herr«, entgegnete Herr Trotter, nachdem er einige Minuten lang nachgedacht hatte. »Ich meine, es sollte sehr leicht gehen.«

»Wie?« fragte Herr Pickwick.

»Nun«, erwiderte Herr Trotter, »mein Herr und ich sind mit den beiden Mägden im Einverständnis und werden uns um zehn Uhr in der Küche verstecken. Wenn sich die Familie zur Ruhe begeben hat, werden wir aus der Küche und die junge Dame aus ihrem Schlafzimmer hervorkommen. Eine Postkutsche wartet auf uns und wir fahren ab.«

»Gut«, sagte Herr Pickwick.

»Gut, mein Herr: da dachte ich, wenn Sie im Garten hinten warten würden, allein –.«

»Allein?« wiederholte Herr Pickwick, »und warum allein?«

»Ich finde es sehr natürlich«, versetzte Hiob, »daß es der alten Dame nicht erwünscht sein könnte, wenn eine unangenehme Entdeckung vor mehr Personen gemacht würde, als notwendig dazu gehören. Der jungen Dame ebensowenig, mein Herr. – Bedenken Sie ihre Gefühle.«

»Sie haben ganz recht«, sagte Herr Pickwick; »diese Rücksicht ist ein Beweis von großem Zartgefühl. Fahren Sie fort. Sie haben ganz recht.«

»Gut; ich dachte, mein Herr, wenn Sie im hintern Garten allein warteten und ich Sie dann Punkt halb zwölf Uhr durch die Tür einließe, die aus dem Hausgang in den Garten führt, so würden Sie gerade im rechten Augenblicke ankommen, um mir den Plan des schlechten Mannes vereiteln zu helfen, von dem ich unglücklicherweise umgarnt worden bin,«

Hier seufzte Herr Trotter tief auf.

»Betrüben Sie sich deshalb nicht«, bemerkte Herr Pickwick; »hätte er auch nur ein Weniges von dem Zartgefühl, das Sie auszeichnet, wie untergeordnet auch Ihre Stellung ist, ich würde noch einige Hoffnung auf ihn setzen.«

Hiob Trotter verbeugte sich tief, und trotz Herrn Wellers Vorstellungen traten wieder Tränen in seine Augen.

»So einen Kameraden habe ich noch nie gesehen«, äußerte Sam. »Der Kuckuck soll mich holen, der einen Wasserschwamm im Kopfe hat, der immer gepreßt wird.«

»Sam«, sagte Herr Pickwick mit großer Strenge, »halte deinen Mund.«

»Sehr wohl, Sir«, versetzte Herr Weller.

»Der Plan gefällt mir nicht«, sagte Herr Pickwick nach tiefem Nachdenken, »Warum kann ich mich nicht mit den Verwandten der jungen Dame besprechen?«

»Weil sie hundert Meilen von hier wohnen, mein Herr«, antwortete Hiob Trotter.

»Da ist der Riegel vorgeschoben«, sagte Herr Weller leise vor sich hin.

»Dann dieser Garten?« fragte Herr Pickwick weiter; »wie soll ich hineinkommen?«

»Die Mauer ist sehr niedrig, mein Herr, und Ihr Diener kann Ihnen das Bein halten.«

»Mein Diener kann mir das Bein halten«, wiederholte Herr Pickwick mechanisch. »Sie sind also gewiß an der Tür, von der Sie sagten?«

»Sie können sie nicht verfehlen, mein Herr: es ist die einzige, die in den Garten führt. Pochen Sie nur daran, wenn sie den Glockenschlag hören, und ich werde Ihnen augenblicklich öffnen.«

»Der Plan gefällt mir nicht«, sagte Herr Pickwick: »aber da ich keinen andern weiß und das ganze Lebensglück der jungen Dame auf dem Spiele steht, so willige ich ein. Ich werde bestimmt kommen.«

Zum zweiten Male also verwickelte Herrn Pickwick seine angeborene Herzensgüte in ein Unternehmen, von dem er sich sonst ferngehalten hätte.

»Wie heißt das Haus?« fragte Herr Pickwick.

»Westgatehouse, mein Herr. Sie wenden sich rechts, wenn Sie ans Ende der Stadt kommen; es steht allein in geringer Entfernung von der Landstraße, und der Name steht auf einem Messingschild am Tore.

»Ich kenne es«, antwortete Herr Pickwick. »Ich habe es früher schon gesehen, als ich in dieser Stadt war. Sie können sich auf mich verlassen.«

Herr Trotter machte eine zweite Verbeugung und wandte sich der Türe zu, als ihm Herr Pickwick einen Goldfuchs in die Hand drückte.

»Sie sind ein wackerer Bursche«, sagte Herr Pickwick, »und ich bewundere Ihr gutes Herz. Keinen Dank. Vergessen Sie die Stunde nicht – elf Uhr,«

»Haben Sie deshalb keine Sorge, mein Herr«, erwiderte Hiob Trotter.

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer und Sam folgte ihm.

»Hört«, sagte der letztere, »das Heulen ist doch nicht so übel. Bei solchen Aussichten würde ich auch tropfen, wie eine Dachrinne, wenn’s regnet. Wie bringen Sie das fertig?«

»Es kommt mir aus dem Herzen, Herr Walker«, erwiderte Hiob feierlich. »Guten Morgen, mein Herr.«

»Ihr seid ein rechter Pinsel, ja gewiß; – doch einerlei; jetzt haben wir doch alles aus Euch herausgebracht«, dachte Herr Weller, als sich Hiob entfernte.

Die Gedanken aber, die Herrn Trotters Geist durchkreuzten, können wir nicht genau angeben, weil wir sie nicht wissen.

Der Tag neigte sich, der Abend kam, und kurz vor zehn Uhr berichtete Sam Weller, Herr Jingle und Herr Hiob seien miteinander ausgegangen, ihre Sachen seien schon gepackt und sie hätten eine Kutsche befohlen. Der Anschlag sollte offenbar ausgeführt werden, wie Herr Trotter vorher angegeben.

Halb elf schlug es. Also war es Zeit für Herrn Pickwick, daß er an sein zartes Geschäft ging. Sam brachte ihm den Mantel, aber er wies das Anerbieten zurück, um beim Übersteigen der Mauer nicht gehindert zu werden, und in Begleitung seines Dieners trat er den Weg an.

Es war Vollmond, doch das Gestirn hinter den Wolken. Die Nacht war mild und ohne Regen, aber ungewöhnlich finster. Wege, Hecken, Häuser und Bäume waren in tiefe Schatten gehüllt. Die Luft war heiß und schwül, am Rande des Horizontes zitterte schwach das sommerliche Wetterleuchten, der einzige Schein, der die dichte Finsternis unterbrach, in die alles gehüllt war. Kein Laut störte die Stille, außer dem entfernten Gebell eines wachsamen Haushundes.

Sie fanden das Haus, lasen die Messinglatte, gingen um die Mauer herum und hielten an dem Teil, der sie vom Garten trennte.

»Sam, du kehrst in den Gasthof zurück, wenn du mir hinübergeholfen hast«, sagte Herr Pickwick.

»Sehr wohl, mein Herr.«

»Und bleibst auf, bis ich zurückkomme.«

»Halte mir das Bein, und wenn ich sage ›Über‹, so hebst du mich sachte in die Höhe,«

»Ganz recht, mein Herr.«

Nachdem die Präliminarien festgesetzt waren, kletterte Herr Pickwick auf die Mauer hinauf und gab das Signal »Über«, dem dann buchstäblich gehorcht wurde. Ob sein Körper einigen Anteil an der Schnellkraft seines Geistes, oder ob Herr Weller von sachte in die Höhe heben etwas gröbere Begriffe hatte als Herr Pickwick, die unmittelbare Folge seines Beistandes war die, daß der unsterbliche Gentleman völlig über die Mauer in das unten liegende Gartenbeet geworfen wurde, wo er drei Stachelbeerbüsche und einen Rosenstock zu Boden drückte und in seiner vollen Länge hinstürzte.

»Sie haben sich doch nicht verletzt, Sir?« flüsterte Sam ziemlich laut, sobald er sich von dem Schreck über das geheimnisvolle Verschwinden seines Herrn etwas erholt hatte.

»Ich habe mich nicht verletzt, Sam«, antwortete Herr Pickwick von der anderen Seite der Mauer: »ich denke vielmehr, du hast mich verletzt.«

»Ich hoffe nicht, mein Herr«, sagte Sam.

»Mach dir keine Sorgen darüber«, versetzte Herr Pickwick aufstehend: »es sind nur ein paar Schrammen. Geh jetzt, man könnte uns sonst hören.«

»Guten Abend, Sir.«

»Guten Abend.«

Mit leisen Schritten entfernte sich Sam Weller und ließ Herrn Pickwick allein im Garten.

Dann und wann zeigten sich Lichter an den verschiedenen Fenstern des Hauses oder schimmerten von den Treppen herüber, als ob die Bewohner sich zur Ruhe begäben, Herr Pickwick wollte nicht vor der bestimmten Zeit an die Tür treten und versteckte sich einstweilen in eine Mauerecke.

Es war eine Lage, die manchem den Mut benommen hätte; allein Herr Pickwick fühlte weder Niedergeschlagenheit noch Kleinmut. Er wußte, daß sein Zweck in der Hauptsache ein guter war und setzte ein unbeschränktes Vertrauen in den hochherzigen Hiob. Seine Lage war zwar mißlich, um nicht zu sagen traurig, aber ein innerlicher Geist kann sich immer mit Nachdenken beschäftigen. Herr Pickwick dachte sich in einen Schlummer hinein, aus dem er durch die Glockenschläge der benachbarten Kirche erweckt wurde – es schlug halb zwölf.

»Es ist Zeit«, dachte Herr Pickwick, leise näher tretend. Er sah am Hause hinauf. Die Lichter waren verschwunden und die Läden verschlossen. – Alles zu Bett, ohne Zweifel. Er ging auf den Zehen der Tür zu und pochte leise. Zwei bis drei Minuten gingen vorüber, ohne daß eine Antwort erfolgte. Er pochte lauter und dann noch lauter.

Endlich hörte man Fußtritte auf der Treppe, und dann schien das Licht einer Kerze durch das Schlüsselloch. Lange Zeit verging mit Aufschließen und Aufriegeln, und sachte ging die Tür auf. Sie öffnete sich nach außen, und wie sie weiter und weiter aufgemacht wurde, zog sich Herr Pickwick mehr und mehr hinter dieselbe zurück. Wie groß war sein Erstaunen, als er bei einem vorsichtigen Blick die Bemerkung machte, daß die Person, die sie öffnete, nicht Hiob Trotter war, sondern ein Dienstmädchen, mit einem Licht in der Hand. Herr Pickwick zog seinen Kopf zurück, mit einer Geschwindigkeit, die einem Taschenspieler Ehre gemacht haben würde.

»Es muß die Katze gewesen sein, Sara«, sagte das Dienstmädchen, sich an jemand im Hause wendend. »Bs, ws, ws – zi, zi, zi.«

Aber kein Tier ließ sich durch diese Lockungen herbeirufen; das Mädchen schloß sachte die Tür und schob den Riegel wieder vor, Herrn Pickwick an der Mauer lassend, an die er sich festgedrückt hatte.

»Das ist sehr seltsam«, dachte Herr Pickwick. »Sie sind vermutlich über die gewöhnliche Stunde aufgeblieben. Höchst unglücklicher Zufall, daß sie gerade diese Nacht vor allen andern zu einem solchen Zwecke ausersehen haben – außerordentlich.« Und mit diesen Gedanken zog sich Herr Pickwick behutsam in den Mauerwinkel zurück, in dem er sich vorher versteckt hatte, des Augenblickes harrend, wo es ratsam sein würde, das Signal zu wiederholen.

Er war noch nicht fünf Minuten dort, als ein heller Blitzstrahl die Nacht durchriß, und ein lauter Donnerschlag folgte, der mit furchtbarem Getöse in der Ferne verhallte – dann kam ein zweiter Blitzstrahl, heller als der andere, und ein zweiter Donnerschlag, lauter als der erste, und nieder strömte der Regen mit einer Kraft und einer Wut, die alles mit sich fortrissen,

Herr Pickwick wußte es sehr wohl, daß ein Baum ein sehr gefährlicher Nachbar in einem Donnerwetter ist. Er hatte einen Baum zu seiner Rechten, einen Baum zu seiner Linken, einen dritten vor sich und einen vierten hinter sich. Wäre er geblieben, wo er war, so hätte er leicht das Opfer eines Zufalls werden können; hätte er sich mitten im Garten gezeigt, so wäre er vielleicht von einem Nachtwächter gesehen worden; ein- oder zweimal suchte er die Mauern zu übersteigen, aber da er diesmal keine anderen Beine hatte, als die, womit ihn die Natur versehen, so erreichte er durch seine Anstrengungen nur so viel, daß seine Knie und Schienbeine höchst unangenehme Schmarren bekamen und sein ganzer Körper in einem sehr reichlichen Schweiß geriet.

»Welch furchtbare Lage«, seufzte Herr Pickwick, als er nach dieser Leibesübung seine Stirne abgewischt hatte. Er sah an dem Hause hinauf. Alles war finster. Sie mußten jetzt zu Bette gegangen sein. Er wollte das Signal wieder versuchen.

Auf den Zehen schlich er über den nassen Sand und klopfte an die Tür. Er hielt den Atem an und lauschte am Schlüsselloch. Keine Antwort – sehr seltsam. Er pochte wieder und lauschte abermals. Von Innen vernahm er leises Geflüster; dann rief eine Stimme:

»Wer ist hier?«

»Das ist nicht Hiob«, dachte Herr Pickwick, sich eilig wieder fest an die Wand stellend. »Es ist eine Frau,«

Er hatte kaum Zeit gehabt, diesen Schluß zu ziehen, als ein Fenster über der Treppe aufgerissen wurde und drei oder vier weibliche Stimmen die Frage wiederholten – »wer ist da?«

Herr Pickwick rührte weder Hand noch Fuß. Es war klar, daß sich das ganze Haus in Aufruhr befand; darum faßte er den Entschluß, zu bleiben, wo er war, bis sich der Lärm gelegt hätte, und dann eine übernatürliche Anstrengung zu machen, über die Mauer zu gelangen oder im Versuche umzukommen.

Gleich allen Entschlüssen Pickwicks war dies der beste, den er unter diesen Umständen fassen konnte; aber unglücklicherweise war er auf die Voraussetzung gegründet, sie würden es nicht wagen, die Tür zu öffnen. Wie groß war seine Bestürzung, als er Schloß und Riegel gehen hörte und die Tür sich immer weiter und weiter öffnen sah. Schritt für Schritt zog er sich in die Ecke zurück. Aber er mochte machen, was er wollte, so konnte er es nicht verhindern, daß seine Person dem weiteren Vordringen der Türe ein Ziel setzte.

»Wer ist hier?« kreischte von der Treppe her ein zahlreicher Chor von Stimmen, die der Jungfer Vorsteherin, den Lehrerinnen, fünf weiblichen Dienstboten und dreißig Schülerinnen angehörten, alle halb gekleidet und in einem Wald von Haarwickeln.

Natürlich sagte Herr Pickwick nicht, wer hier war, und dann ging die Weise des Chors über in ein – »Ach Gott! bin ich erschrocken.«

»Köchin«, rief die Dame des Hauses, die die Vorsicht beobachtet hatte, oben auf der Treppe zuhinterst der ganzen Gruppe stehenzubleiben. – »Köchin, warum gehen Sie nicht ein paar Schritte in den Garten vor?«

»Verzeihung, Madame, ich habe keine Neigung dazu«, antwortete die Köchin.

»Huch, nein! was ist die Köchin für ein dummes Ding«, riefen die dreißig Schülerinnen.

»Köchin«, sagte die Dame des Hauses mit größter Würde: »halten Sie bitte keine Gegenansprachen. Ich bestehe darauf, daß Sie sogleich im Garten nachsehen.«

Hier fing die Köchin zu weinen an, und das Stubenmädchen sagte, »es wäre eine Schande!« eine Teilnahme, für die ihm augenblicklich aufgesagt wurde.

»Hören Sie, Köchin?« fragte die Dame des Hauses, ungeduldig mit dem Fuße stampfend.

»Hörten Sie Ihre Gebieterin nicht, Köchin?« sagten die drei Lehrerinnen.

»Was für ein dreistes Ding, diese Köchin!« riefen die dreißig Schülerinnen.

Die unglückliche Köchin, also gedrängt, trat einen oder zwei Schritte vorwärts, und ihr Licht so haltend, daß sie überhaupt nirgends etwas sehen konnte, erklärte sie, es sei nichts da und es müsse der Wind gewesen sein. So sollte eben das Tor geschlossen werden, als eine wißbegierige Schülerin, die zwischen den Angeln durchgespäht hatte, ein furchtbares Geschrei anhob, das die Köchin, das Stubenmädchen und alle Verwegeneren im Augenblicke wieder zurückrief.

»Was ist denn los, Miß Smithers?« fragte die Dame des Hauses, als die besagte Miß Smithers in hysterische Krämpfe verfiel, als ob sie die Kräfte von vier jungen Ladies hätte.

»Mein Gott, liebe Miß Smithers«, sagten die übrigen neunundzwanzig Schülerinnen,

»Ach, ein Mann – ein Mann hinter der Tür«, kreischte Miß Smithers.

Die Dame des Hauses hörte nicht so bald diesen erschrecklichen Ruf, als sie sich in ihr Schlafgemach zurückzog, die Tür doppelt verriegelte und ganz regelrecht in Ohnmacht fiel. Die Schülerinnen und Lehrerinnen und die Mägde fielen rückwärts die Treppe hinauf und aufeinander. Nie ward noch ein solches Schreien, In-Ohnmacht -Fallen und Händeringen erlebt. Mitten aber in der Verwirrung tauchte Herr Pickwick aus seinem Verstecke hervor und zeigte sich.

»Meine Damen – meine lieben Damen«, sagte Pickwick.

»Ach, er nennt uns Liebe«, rief die älteste und häßlichste Lehrerin. »O der Elende.«

»Meine Damen«, schrie Herr Pickwick, durch das Gefährliche seiner Lage zur Verzweiflung gebracht. »Hören Sie mich an, ich bin kein Räuber. Ich wünsche mit der Dame des Hauses zu sprechen.«

»Ach, welch fürchterliches Ungeheuer!« rief eine andere Lehrerin. »Er wünscht Miß Tomkins zu sprechen.«

Hier ertönte ein allgemeines Geschrei.

»Ziehe jemand die Sturmglocke«, rief ein Dutzend Stimmen.

»Tun Sie das nicht – tun Sie das nicht«, schrie Herr Pickwick. »Sehen Sie mich an. Sehe ich einem Räuber gleich? Meine lieben Damen – Sie dürfen mir Hände und Füße binden oder mich in eine Kammer sperren, wenn es Ihnen beliebt. Nur hören Sie, was ich zu sagen habe. Nur hören Sie mich.«

»Wie kamen Sie in unsern Garten?« stotterte das Stubenmädchen.

»Rufen Sie die Name des Hauses, und ich will ihr alles erzählen, durchaus alles«, rief Herr Pickwick, seine Lungen aufs äußerste anstrengend. »Seien Sie ruhig, rufen Sie sie, und Sie sollen alles hören.«

Vielleicht war es Herrn Pickwicks Aussehen oder Betragen, vielleicht aber auch die Versuchung, etwas zu hören, das für den Augenblick noch in Geheimnis gehüllt war – eine Versuchung, der ein weibliches Wesen bekanntlich kaum widerstehen kann – was den vernünftigeren Teil der Hausbewohnerinnen (einige wenige Individuen) wieder in einen Zustand vergleichungsmäßiger Ruhe versetzte. Diese machten den Vorschlag, Herr Pickwick sollte sich zum Beweise seiner Aufrichtigkeit einem persönlichen Arrest unterwerfen. Unser Mann willigte ein, aus dem Innern eines Verschlags heraus, in dem die Tagesschülerinnen ihre Hüte und Butterschnitten aufbewahrten, mit Miß Tomkins Zwiesprache zu halten. Alsbald schlüpfte er also freiwillig in sein Gefängnis, das hinter ihm abgeschlossen wurde. Das belebte den Mut der andern, und als Miß Tomkins wieder zu sich und heruntergebracht worden war, begann die Zwiesprache.

»Was hatten Sie in meinem Garten zu suchen. Sie Mensch, Sie?« fragte Miß Tomkins mit schwacher Stimme.

»Ich kam, um Sie in Kenntnis zu setzen, daß eine von Ihren jungen Damen diesen Abend entlaufen wollte«, antwortete Herr Pickwick aus dem Innern des Verschlags.

»Entlaufen?« riefen Miß Tomkins, die drei Lehrerinnen, die dreißig Schülerinnen und die fünf Mägde. »Mit wem?«

»Mit Ihrem Freund, Herrn Charles Fitz-Marshall.«

»Meinem Freund? Ich kenne keine solche Person.«

»Gut, mit Herrn Jingle also.«

»Ich habe diesen Namen in meinem Leben nie gehört.«

»Dann bin ich betrogen und genasführt worden«, sagte Herr Pickwick. »Ich bin das Opfer einer Verschwörung geworden – einer gemeinen und niederträchtigen Verschwörung. Schicken Sie in den Engel, Madame, wenn Sie mir nicht glauben. Schicken Sie in den Engel nach Herrn Pickwicks Diener, ich beschwöre Sie, Madame.«

»Es muß doch ein Herr aus der Gesellschaft sein – er hält einen Diener«, sagte Miß Tomkins zu der Schreib- und Rechenlehrerin.

»Ich glaube. Miß Tomkins«, versetzte die Schreib- und Rechenlehrerin, »sein Diener hält ihn. Ich glaube, es ist ein Wahnsinniger, Miß Tomkins, und der andere sein Wächter.«

»Sie mögen recht haben, Miß Gwymm«, antwortete Miß Tomkins. »Lassen Sie zwei von den Mägden nach dem Engel gehen und die übrigen hier bleiben, um uns zu beschützen.«

So wurden also zwei von den Mägden nach dem Engel entsandt und drei blieben zurück, um Miß Tomkins zu beschützen, und außer ihnen noch die drei Lehrerinnen und die dreißig Schülerinnen. Und Herr Pickwick saß im Verschlag hinter einen Hügel von Butterschnitten gesperrt und erwartete die Rückkehr der Gesandtinnen mit aller ihm zu Gebote stehenden Philosophie und Gemütsstärke.

Anderthalb Stunden gingen vorüber, ehe sie zurückkehrten, und als sie kamen, erkannte Herr Pickwick außer der von Samuel Weller noch zwei andere Stimmen, deren Laut bekannt an sein Ohr schlug, aber wem sie gehörten, konnte er sich beim besten Willen nicht entsinnen.

Es erfolgte eine sehr kurze Rücksprache. Die Tür wurde geöffnet, Herr Pickwick schlüpfte aus dem Verschlag und sah die ganze Einwohnerschaft von Westgatehouse, Herrn Samuel Weller und – den alten Wardle und dessen zukünftigen Schwiegersohn, Herrn Trundle, vor sich.

»Mein teurer Freund«, sagte Herr Pickwick, schnell vortretend und Herrn Wardles Hand ergreifend; »mein teurer Freund, ich bitte Sie ums Himmels willen, erklären Sie dieser Dame die unglückliche und furchtbare Lage, in der ich bin. Sie müssen es von meinem Diener gehört haben: sagen Sie jedenfalls, mein teurer Freund, daß ich weder ein Räuber, noch ein Wahnsinniger bin.«

»Ich habe es gesagt, mein teurer Freund. Ich habe es bereits gesagt«, erwiderte Herr Wardle, die Rechte seines Freundes schüttelnd, während Herr Trundle dasselbe mit seiner Linken tat.

»Und wer sagt oder gesagt hat«, fiel Herr Weller ein, indem er einige Schritte vorwärts trat, »sagt, was nicht wahr ist. Es verhält sich gerade umgekehrt. Wenn hier im Bereich dieses Hauses Männer sind, die das geäußert haben, so werde ich mich sehr glücklich schätzen, ihnen hier in diesem Zimmer sehr überzeugende Beweise davon zu geben, daß sie sich geirrt haben, sobald die sehr achtungswerten Damen so gütig sein werden, sich zurückzuziehen und besagte Männer alle nacheinander hierher zu bescheiden.«

Nachdem er diese Aufforderung mit sehr geläufiger Zunge vorgebracht hatte, schlug Herr Weller mit der geballten Faust heftig in die offene Handfläche und gab Miß Tomkins einen freundlichen Wink: allein diese war durch seine Voraussetzung, als läge es in den Grenzen der Möglichkeit, daß sich im Bereiche ihrer Schule für junge Damen irgendein Mann fände, über alle Maßen erschrocken.

Herrn Pickwicks Sache war bald abgemacht, da sie nun schon so weit in Ordnung gebracht war. Aber weder auf dem Rückwege mit seinen Freunden, noch nachher vor einem knisternden Feuer und vor dem für ihn so notwendig gewordenen Nachtessen war ein Wort aus ihm herauszubringen. Er schien ganz vertattert und der Empfindung beraubt. Einmal, und nur ein einziges Mal, wandte er sich an Herrn Wardle mit der Frage:

»Wie kommen Sie hierher?«

»Trundle und ich sind eigentlich in der Absicht hier, eine lustige Jagdpartie zu machen«, antwortete Wardle. »Wir kamen heute abend an, und waren erstaunt, von Ihrem Diener zu hören, daß Sie auch hier wären. Aber jedenfalls, es freut mich. Sie zu treffen«, sagte der lustige Alte, ihn auf den Rücken klopfend. »Es freut mich. Sie zu treffen. Vor allem werden wir eine lustige Partie haben und Herrn Winkle zugleich Gelegenheit geben, auch sein Glück zu probieren – nicht wahr, alter Knabe?«

Herr Pickwick gab keine Antwort. Er fragte nicht einmal nach seinen Freunden zu Dingley Dell und zog sich bald in sein Schlafzimmer zurück, nachdem er Samuel befohlen hatte, das Licht zu holen, wenn er läuten würde.

Die Glocke ertönte zweimal und Herr Weller trat ein.

»Sam«, sagte Herr Pickwick, unter seiner Decke hervorblickend.

»Herr«, antwortete Weller.

Herr Pickwick schwieg, und Herr Weller putzte das Licht.

»Sam«, sagte Herr Pickwick wieder, als ob er sich bis zur Verzweiflung anstrenge.

»Herr«, antwortete Herr Weller abermals,

»Wo ist Trotter?«

»Hiob, Herr?«

»Ja.«

»Fort, Herr.«

»Mit seinem Herrn vermutlich.«

»Freund oder Herr, oder was er immer sein mag, er ist fort mit ihm«, erwiderte Herr Weller. »Das ist ein Pärchen, Sir.«

»Jingle vermutete wahrscheinlich meine Absicht und schickte seinen Diener mit dieser Geschichte hinter dich her«, sagte Herr Pickwick, halb erstickend.

»So ist’s, Sir«, versetzte Herr Weller.

»Es war natürlich alles erlogen?«

»Alles, Sir«, antwortete Herr Weller. »Der Spitzbube hat uns pfiffig hinters Licht geführt.«

»Nun, ich denke, das nächste Mal entwischt er uns nicht wieder so leicht, Sam«, sagte Herr Pickwick.

»Ich denk’s auch, Sir.«

»Wann und wo ich auch diesen Jingle wieder antreffen mag«, fuhr Herr Pickwick fort, indem er sich im Bette aufrichtete und einen schrecklichen Hieb nach seinem Kissen führte, »es soll ihm eine persönliche Züchtigung zuteil werden, abgesehen davon, daß ich ihn der Welt in seinem wahren Lichte zeige. Ja, das soll geschehen, »der ich will nicht Pickwick heißen.«

»Und wo ich auch diesen melancholischen Schuft mit seinem schwarzen Haar erwische«, sagte Sam, »wenn ich ihm nicht wirkliches Wasser in die Augen treibe, so will ich nicht Weller heißen. – Gute Nacht, Sir.«

 

Achtzehntes Kapitel.


Achtzehntes Kapitel.

Woraus zu ersehen, daß ein erfindsamer Geist unter Umständen durch einen Rheumatismus zu erhöhter Tätigkeit angespornt werden kann.

Herr Pickwick hatte eine starke Natur, die Strapazen und Anstrengungen aller Art ertragen konnte; allein in der denkwürdigen Nacht, wovon das letzte Kapitel handelt, war ihr doch gar zu viel zugemutet worden. In der Nachtluft gewaschen und sodann in einer dumpfen Ecke getrocknet zu werden, ist ein ebenso gefährlicher, wie eigenartiger Prozeß. Kurz, Herr Pickwick hatte sich eine Erkältung zugezogen, die ihn in das Bett bannte.

Obgleich indessen die körperlichen Kräfte des großen Mannes dadurch ziemlich geschwächt waren, so behielten doch die Fähigkeiten seines Geistes durchaus ihre ursprüngliche Stärke. Er besaß viel Elastizität, und seine gute Laune stellte sich in Bälde wieder ein. Selbst der Arger über sein letztes Abenteuer hatte sich nicht lange in seinem Gemüt zu behaupten gewußt, und er stimmte mit herzlicher Unbefangenheit in das schallende Gelächter ein, das Wardle bei jeder Anspielung aufschlug.

Ja, noch mehr. Während der zwei Tage, die Herr Pickwick das Bett hüten mußte, war Sam sein beständiger Wärter. Am ersten ließ sich dieser angelegen sein, seinem Herrn durch muntere Erzählungen und Gespräche die Langeweile zu vertreiben, am zweiten aber verlangte Herr Pickwick Tinte, Feder und Papier und schrieb vom Morgen bis zum Abend. Am dritten durfte er wieder aufstehen und entsandte seinen Diener an Herrn Wardle und Herrn Trundle mit der Botschaft, wenn sie auf den Abend ein Glas Wein bei ihm trinken wollten, so werde es ihm eine große Freude sein. Die Einladung wurde mit größtem Vergnügen angenommen, und als sie bei ihrem Weine saßen, zog Herr Pickwick unter mehrfachem Erröten beifolgende kleine Erzählung hervor, mit dem Bemerken, er habe sie während seiner letzten Unpäßlichkeit nach der kunstlosen Erzählung des Herrn Weller niedergeschrieben.

Der Dorfschulmeister.
Eine Erzählung von treuer Liebe.

In einem ganz kleinen Dörfchen, sehr weit von London entfernt, lebte vor Zeiten ein kleiner Mann, namens Nathaniel Pipkin, der Schulmeister des Ortes war. Er wohnte in einem kleinen Häuschen in der kleinen Hauptstraße, kaum zehn Minuten von dem Kirchlein entfernt, und beschäftigte sich tagtäglich von neun bis vier Uhr damit, den kleinen Knaben ein bißchen Gelehrsamkeit einzuimpfen. Nathaniel Pipkin war ein arg- und harmloses, gutmütiges Geschöpf, hatte eine aufgeworfene Nase, einwärts gebogene Beine, schielte ein bißchen und hinkte etwas. Seine Zeit teilte er zwischen Kirche und Schule, und dabei glaubte er steif und fest, es könne auf Gottes Erdboden keinen so gescheiten Mann wie den Pfarrer, kein so achtunggebietendes Gemach, wie die Sakristei, und kein so wohlbestelltes Erziehungshaus wie das seinige geben.

Einmal, ein einziges Mal in seinem Leben hatte Nathaniel Pipkin einen Bischof gesehen, einen leibhaftigen Bischof, mit seinen Armen in den weiten Ärmeln und seinem Kopf in einer Perücke. Er hatte ihn bei einer Konfirmation gehen sehen und sprechen hören, und als der genannte Bischof bei diesem Anlaß die Hand auf seinen Kopf legte, da wurde Nathaniel Pipkin so übermannt von Ehrfurcht und heiliger Scheu, daß er geradezu in Ohnmacht fiel und vom Kirchendiener hinausgetragen werden mußte.

Das war ein großes Ereignis, eine erschreckende Epoche in Nathaniel Pipkins Leben, und so ziemlich der einzige Vorfall, der die glatte Oberfläche des Stromes seines ruhigen Daseins kräuselte. Aber an einem schönen Nachmittage wandte er in einem Augenblick der Geistesabwesenheit seine Augen von der Tafel weg, auf die er ein fürchterliches Addierexempel für einen unartigen Jungen zu malen beabsichtigte; und siehe da, sie hafteten auf dem blühenden Antlitz der Jungfrau Maria Lobbs, der einzigen Tochter des alten Lobbs, des großen Sattlers, der gegenüber wohnte. Nun hatten die Augen des Herrn Pipkin schon manchmal in der Kirche und anderwärts auf dem hübschen Gesicht der Maria Lobbs gehaftet, aber die Augen der Maria Lobbs hatten nie so glänzend gestrahlt, und ihre Wangen nie so rosig ausgesehen, wie gerade in diesem Augenblick! Kein Wunder, daß Nathaniel Pipkin nicht imstande war, seine Augen von dem Antlitz der Jungfer Lobbs abzuwenden; kein Wunder, daß Jungfrau Lobbs, als sie sich von einem jungen Manne angestarrt sah, ihren Kopf zu dem Fenster wieder hereinzog, aus dem sie hervorgeguckt hatte, es schloß und die Vorhänge zusammenzog; kein Wunder, daß Nathaniel Pipkin unmittelbar darauf über den kleinen Bösewicht herfiel, der vorhin gesündigt hatte und ihn nach Herzenslust durchprügelte. Alles das war ganz natürlich und gibt nicht den mindesten Stoff zum Verwundern.

Das aber ist zum Verwundern, daß ein Mann von Nathaniel Pipkins Zurückgezogenheit, blöder Art und überaus kärglichem Einkommen von selbigem Tage an sich das Herz faßte, nach der Hand und Liebe der einzigen Tochter des trotzköpfigen alten Lobbs zu streben – des alten Lobbs, des reichen Sattlers, der mit einem einzigen Federstrich das ganze Dörfchen hätte kaufen können, ohne deshalb eine Lücke in seiner Kasse zu verspüren – des alten Lobbs, von dem alle Welt wußte, daß er Haufen von Geld in der Bank der nächsten Stadt angelegt hatte. Man erzählte sich von ihm, daß er zahllose unerschöpfliche Schätze besitze, die er in der kleinen eisernen Truhe mit dem großen Schlüsselloch auf dem Kamingesimse im hintern Zimmer aufbewahrte – und man wußte sehr wohl, daß er bei festlichen Gelegenheiten seinen Tisch mit einer Teekanne, einem Milchtopf und einer Zuckerbüchse aus echtem Silber schmückte, und daß er im Stolze seines Herzens zu prahlen pflegte, alle diese Dinge sollten das Eigentum seiner Tochter werden, sobald sie einen Mann nach ihren Wünschen gefunden hätte. Ich wiederhole es, es gibt Veranlassung zu tiefem Erstaunen und gewaltiger Verwunderung, daß Nathaniel Pipkin die Verwegenheit haben konnte, seine Augen nach dieser Richtung wandern zu lassen. Aber die Liebe ist blind, und Nathaniel hatte einen Fehler an den Augen, welche zwei Umstände zusammengenommen ihn vielleicht hinderten, die Sache in ihrem wahren Lichte zu sehen.

Hätte der alte Lobbs auch nur die entfernteste Ahnung vom Zustand der Gefühle Pipkins gehabt, er hätte ohne weiteres das Schulhaus bis auf den Grund niedergerissen, oder dessen Beherrscher vom Erdboden vertilgt, oder sonst eine Handlung wilder Raserei begangen: denn der alte Lobbs war ein schrecklicher Mensch, wenn sein Stolz gekränkt oder sein Blut in Wallung gebracht war. Um’s Himmels willen, welche donnernden Flüche schallten nicht über die Straße, wenn er sich manchmal über die Trägheit seines knöchernen Lehrlings mit den dünnen Beinen ärgerte, so daß Nathaniel Pipkin vor Angst und Entsetzen in den Schuhen erbebte und seinen Schülern vor Schaudern die Haare zu Berge standen.

Trotz alledem setzte sich Nathaniel Pipkin alle Tage, wenn die Schule vorüber und die Jungen entlassen waren, an das vordere Fenster. Er tat, als lese er in einem Buche, und warf dabei seine Blicke seitwärts über die Straße, um die glänzenden Augen der Maria Lobbs zu suchen; auch hatte er nicht viele Tage so gesessen, als die glänzenden Augen sich an einem oberen Fenster zeigten, gleichfalls, wie es schien, sehr mit Lesen beschäftigt. Das war Labsal und Wonne für das Herz Nathaniel Pipkins. Es war schon keine Kleinigkeit, stundenlang dazusitzen und das hübsche Gesicht anzuschauen, wenn er seine Augen niedergesenkt hatte. Aber wenn Maria Lobbs ihre Augen vom Buche aufzuschlagen begann und ihre Strahlen in der Richtung gegen Nathaniel Pipkin schießen ließ, da war seine Wonne und seine Anbetung wirklich grenzenlos. Eines Tages endlich, als er wußte, daß der alte Lobbs ausgegangen war, hatte Nathaniel Pipkins die Verwegenheit, der Maria Lobbs eine Kußhand zuzuwerfen, und Maria Lobbs, statt das Fenster zuzuschlagen und die Vorhänge zusammenzuziehen, warf ihm ebenfalls eine Kußhand zu und lächelte. Darauf beschloß Nathaniel Pipkin, möge daraus entstehen, was da wolle, ohne weiteren Aufschub ihr den Zustand seiner Gefühle zu entdecken.

Ein hübscherer Fuß, ein fröhlicheres Herz, ein holdseligeres Grübchengesicht und eine schlankere Gestalt schwebte niemals über die Erde hin, um sie zu zieren, als die der Maria Lobbs, der Tochter des alten Sattlers. Ihre funkelnden Augen blitzten schelmisch und hätten auch in eine minder empfängliche Brust, als es die Nathaniel Pipkins war, ihren Weg gefunden. Beim lustigen Schall ihres fröhlichen Gelächters hätte sich das Gesicht des finstersten Menschen- Hassers aufheitern müssen. Sogar der alte Lobbs selbst vermochte auch in der höchsten Wut den Schmeicheleien seines hübschen Töchterleins nicht zu widerstehen. Hatte sie zum Beispiel in Verbindung mit ihrer Base Kätchen, einem wilden, mutwilligen, bezaubernden, kleinen Mädchen, einen wirklichen Plan auf den Alten, was, aufrichtig gestanden, nicht selten vorkam, so vermochte er ihnen nichts abzuschlagen, und wenn sie einen Teil der zahllosen, unerschöpflichen Schätze verlangt hätten, die dem Lichte des Tages durch die eiserne Truhe entzogen waren.

Nathaniel Pipkins Herz pochte gewaltig, als er an einem Sommerabend dieses reizende Pärchen einige hundert Schritte vor sich auf dem gleichen Felde wandeln sah, auf dem er selbst so manches Mal bis zum Einbruch der Nacht herumgestreift war und über die Schönheit der Maria Lobbs nachgesonnen hatte. Aber so oft er auch schon daran gedacht hatte, wie keck er vor Maria Lobbs treten und ihr von seiner Leidenschaft erzählen wollte, wenn er ihr nur einmal begegnen könnte, so fühlte er doch jetzt, da er sie so unerwartet vor sich sah, daß ihm alles Blut ins Gesicht stieg, offenbar zum großen Nachteil seiner Beine, die ihres gewöhnlichen Anteils beraubt, unter ihm zitterten. Wenn die Mädchen stehen blieben, um eine Blume zu pflücken oder auf einen Vogel zu lauschen, so stand Nathaniel Pipkin ebenfalls still und stellte sich, als wäre er in tiefes Nachsinnen versunken, wie es auch in der Tat der Fall war. Er dachte unaufhörlich darüber nach, was er wohl tun solle, wenn sie, was unfehlbar bald geschehen mußte, umkehrten, und dann von Angesicht zu Angesicht vor ihn träten.

Aber obgleich er zu blöde war, sich ihnen anzuschließen, so konnte er es doch nicht über sich gewinnen, sie aus den Augen zu lassen. Wenn sie daher schneller gingen, so ging auch er schneller, schlenderten sie langsam, so schlenderte er auch, und blieben sie stehen, so blieb er ebenfalls stehen. So würden sie es vielleicht bis zum Einbruch der Nacht getrieben haben, hätte nicht Kätchen schelmisch zurückgeblickt und Nathaniel aufmunternd zugewinkt, daß er näher kommen sollte. Kätchen hatte etwas schlechterdings Unwiderstehliches in ihrem Wesen, und so folgte Nathaniel Pipkin der Einladung.

Nach vielem Erröten von seiner Seite und einem unmäßigen Gekicher seitens der gottlosen kleine Base ließ sich Nathaniel Pipkin auf dem betauten Grase auf seine Knie nieder und erklärte, daß er fest entschlossen sei, hier auf immer zu bleiben, wenn man ihm nicht erlaube, als der angenommene Liebhaber der Maria Lobbs aufzustehen. Jetzt drang das lustige Gelächter der Maria Lobbs durch die ruhige Nachtluft – ohne jedoch dieselbe, wie es schien, zu beunruhigen, denn es klang so überaus lieblich – und das gottlose kleine Bäschen kicherte noch unmäßiger als zuvor, und Nathaniel Pipkin errötete tiefer als je.

Endlich, als Maria Lobbs von dem liebekranken kleinen Manne immer heftiger bestürmt wurde, wandte sie ihr Haupt ab und flüsterte ihrer Base zu, sie solle sagen (oder Kätchen tat wenigstens, als hätte sie so gesagt), daß sie sich durch Herrn Pipkins Bewerbung hochgeehrt fühle; freilich habe ihr Vater über ihre Hand und ihr Herz zu verfügen, aber gegen Herrn Pipkins Verdienst könne niemand unempfindlich sein. Da das alles mit großer Ernsthaftigkeit gesagt wurde, und da Nathaniel Pipkin mit Maria Lobbs nach Hause ging und ihr beim Abschied beinahe einen Kuß geraubt hätte, so legte er sich als glücklicher Mann zu Bett und träumte die ganze Nacht davon, wie der alte Lobb erweicht, die große Truhe geöffnet und Maria heimgeführt wurde.

Am andern Tag sah Nathaniel Pipkin den alten Lobbs auf seinem alten grauen Klepper ausreiten. Nachdem die gottlose kleine Base am Fenster eine Menge Zeichen gemacht hatte, deren Gegenstand und Bedeutung er keineswegs verstehen konnte, sprang der knöcherne Lehrjunge mit den dünnen Beinen zu ihm herüber und sagte ihm, sein Herr werde die ganze Nacht nicht nach Hause kommen, und die Damen erwarten Herrn Pipkin Schlag sechs Uhr zum Tee. Wie an diesem Tage Schule gehalten wurde, wußte weder Nathaniel Pipkin noch seine Zöglinge. Aber auch diese Stunden gingen einmal vorüber, und als die Jungen heimgegangen waren, wandte Nathanicl Pipkin alle übrige Zeit bis sechs Uhr dazu an, sich zu seiner Zufriedenheit anzukleiden. Nicht als ob er sich lange hätte besinnen müssen, welchen Anzug er an diesem Tage tragen solle, da ihm hierin überhaupt keine Wahl zustand, aber die unendlich wichtige und schwierige Aufgabe war, seinen Anzug so anzuziehen, daß er darin aufs Vorteilhafteste erscheinen mußte.

Es war eine allerliebste kleine Gesellschaft zusammen, bestehend aus Maria Lobbs, ihrer Base Kätchen und drei oder vier mutwilligen, muntern, rosenwangigen Mädchen. Nathaniel Pipkin überzeugte sich durch den Augenschein, daß die Gerüchte von den Schätzen des alten Lobbs nicht übertrieben waren. Die Teekanne, der Milchtopf und die Zuckerbüchse, alles von echtem Silber, standen wirklich auf dem Tisch, ebenso echt silberne Löffelchen, um den Tee umzurühren, desgleichen echte Porzellantassen, um daraus zu trinken, und echte Porzellanplatten, worauf die Kuchen und Weißbrotschnitten lagen. Das einzige Unangenehme im ganzen Hause war ein Vetter von Maria Lobbs, ein Bruder von Kätchen, den Maria Lobbs ›Heinrich‹ nannte, und der Maria Lobbs an der einen Seite des Tisches für sich allein in Beschlag genommen zu haben schien. Es ist ja gewiß etwas Herrliches, bei Familien Zuneigung und Liebe zu erblicken, aber man muß nichts übertreiben. Nathaniel Pipkin konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß Maria Lobbs eine ganz besondere Zärtlichkeit für ihre Verwandten hegen müsse, wenn sie ihnen allen so viele Aufmerksamkeit schenke, wie diesem Vetter. Nach dem Tee, als die gottlose kleine Base das Blindekuhspiel vorschlug, geschah es auf die eine oder andere Art, daß Nathaniel Pipkin fast immer der Blinde war, und wenn er einmal den Vetter anrührte, so mußte er gewiß auch bemerken, daß Maria Lobbs ganz in der Nähe war. Und obgleich die gottlose kleine Muhme und die andern Mädchen ihn zwickten, bei den Haaren zupften, ihm Stühle in den Weg stellten und manche Possen spielten, so schien doch Maria Lobbs niemals ihm nahe zu kommen, und einmal – einmal hätte Nathaniel Pipkin darauf schwören können, er vernehme den Schall eines Kusses, gefolgt von einem leisen Schmälen der Maria Lobbs und einem halb unterdrückten Kichern ihrer Freundinnen. Alles das war sonderbar – sehr sonderbar, und man kann nicht sagen, was Nathaniel Pipkin deswegen getan oder nicht getan haben würde, wenn seine Gedanken nicht plötzlich in einen neuen Kanal abgeleitet worden wären.

Was seinen Gedanken die neue Richtung gab, war ein neues Klopfen an der Haustür, und die Person, die so laut an der Haustür klopfte, war niemand anders, als der alte Lobbs selbst, der unerwartet zurückgekehrt war, und trotz einem Küper darauf loshämmerte, denn es verlangte ihn nach dem Abendessen. Diese schreckliche Kunde war nicht sobald von dem knöchernen Lehrjungen mit den dünnen Beinen überbracht worden, als die Mädchen schnell die Treppe hinauf in Maria Lobbs Schlafzimmer huschten. Der Vetter aber und Nathaniel Pipkin wurden in Ermangelung besserer Schlupfwinkel in ein paar Wandschränke gesteckt. Nachdem Maria Lobbs und die gottlose kleine Base alles auf die Seite geschafft und im Zimmer aufgeräumt hatten, öffneten sie die Haustür dem alten Lobbs, der andauernd gehämmert hatte.

Unglücklicherweise war der alte Lobbs wie gewöhnlich, wenn er großen Hunger verspürte, abscheulich schlechter Laune. Nathaniel Pipkin konnte ihn deutlich knurren hören, wie einen alten Hofhund mit heiserer Kehle, und so oft der unglückliche Lehrjunqe mit den dünnen Beinen ins Zimmer kam, so begann der alte Lobbs ganz türkisch zu fluchen und zu donnern; dabei natürlich aus keinem andern Grunde, als um seine Brust von der Last überflüssiger Flüche zu befreien. Endlich wurde das Abendessen, das man aufgewärmt hatte, auf den Tisch gestellt, und nun griff der alte Lobbs wie ein hungriger Wolf zu: nachdem er sodann in möglichster Bälde aufgeräumt hatte, küßte er die Tochter und verlangte seine Pfeife.

Die Natur hatte Nathaniel Pipkins Knie nicht sehr nahe zusammengestellt: als er aber den alten Lobbs nach seiner Pfeife verlangen hörte, da schlugen sie gegeneinander, als ob sie sich zu Pulver reiben wollten, denn in dem nämlichen Schrank, in dem er sich befand, hing an ein paar Nägeln die Pfeife mit dem großen, silberbeschlagenen, braungerauchten Kopfe, die er seit den letzten fünf Jahren regelmäßig jeden Nachmittag und Abend im Munde des alten Lobbs gesehen hatte. Die beiden Mädchen sprangen dieser Pfeife wegen treppauf und treppab. Sie suchten nach ihr überall, nur nicht da, wo sie, wie ihnen sehr wohl bewußt, zu finden war. Der alte Lobbs aber tobte inzwischen ganz schrecklich. Endlich fiel ihm der Schrank ein, und er ging auf ihn zu. Ein kleiner Mann, wie Nathaniel Pipkin, konnte nicht mit Erfolg die Tür innen festhalten, wenn ein großer, starker Mann, wie der alte Lobbs, sie nach außen riß. Der alte Lobbs tat nur einen Ruck: sie flog auf und enthüllte Nathaniel Pipkin, der aufrecht darin stand und vom Kopf bis zu den Füßen zitterte. Lieber Himmel, mit welchem schrecklichen Blick der alte Lobbs ihn ansah, ihn beim Kragen herausriß und auf Armlänge vor sich hinhielt!

»Wie zum Teufel kommt Ihr da hinein?« schrie der alte Lobbs mit furchtbarer Stimme.

Da Nathaniel Pipkin keine Antwort zu geben vermochte, so schüttelte ihn der alte Lobbs zwei oder drei Minuten lang hin und her, um ihm seine Gedanken in Ordnung zu bringen.

»Was macht Ihr hier?« brüllte Lobbs von neuem; »ich glaube beinahe, Ihr seid meiner Tochter wegen gekommen?«

Der alte Lobbs sagte dies nur zum Hohn, denn er glaubte nicht, daß menschliche Frechheit so weit gehen könnte, um Nathaniel Pipkin zu einem solchen Schritte zu verführen. Wie groß war sein Zorn, als das arme Männlein erwiderte:

»Ja, Herr Lobbs, das bin ich – ich bin Ihrer Tochter wegen gekommen. Ich liebe sie, Herr Lobbs.«

»Wie, Ihr triefnäsiger, schiefmäuliger, kleiner Knirps!« keuchte der alte Lobbs, bei diesem verwegenen Geständnis wie vom Donner gerührt. »Was soll das bedeuten? Ihr könnt mir so etwas ins Gesicht sagen? Hol‘ mich der Teufel, wenn ich Euch nicht den Hals umdrehe.«

Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß der alte Lobbs in seiner grenzenlosen Wut diese Drohung ausgeführt hätte, wäre sein Arm nicht durch eine neue höchst unerwartete Erscheinung gelähmt worden, nämlich durch den Vetter, der aus seinem Schrank hervortrat, auf den alten Lobbs zuging und sagte:

»Ich kann nicht zugeben, Sir, daß dieser harmlose Mensch, den die Mädchen zum Spaß eingeladen haben, so edelmütig das Verbrechen (wenn es nämlich ein Verbrechen ist) auf sich nimmt, dessen ich selbst schuldig bin und das ich jetzt bekennen will. Ich liebe Eure Tochter, Sir, und ich bin hierher gekommen, um sie zu sehen.«

Der alte Lobbs riß seine Augen weit auf, aber nicht weiter, als Nathaniel Pipkin.

»Du?« fragte Lobbs, als er endlich wieder zu Atem gekommen war.

»Ja, ich.«

»Aber ich habe dir doch schon lange mein Haus verboten.«

»Allerdings, sonst würde ich nicht verstohlen bei Nacht gekommen sein.«

Es tut mir leid, von dem alten Lobbs sagen zu müssen, daß er den Vetter wahrscheinlich zu Boden geschlagen hätte, wäre nicht seine hübsche Tochter mit ihren glänzenden, in Tränen schwimmenden Augen fest an seinem Arme gehangen.

»Wehre ihm nicht, Marie«, sagte der junge Mann; »wenn er mich schlagen will, so laß ihn. Ich möchte um alle Reichtümer der Welt kein Haar seines grauen Alters verletzen.«

Bei diesem Vorwurf senkte der Alte die Augen und sie begegneten denen seiner Tochter.

Ich habe bereits ein- oder zweimal gesagt, daß es sehr glänzende Augen waren, und obgleich sie jetzt voll Tränen standen, so wurde doch ihre Macht dadurch keineswegs geschwächt. Der alte Lobbs blickte weg, als wolle er verhüten, sich von ihr überreden zu lassen. Aber der Zufall fügte es, daß seine Blicke dem Gesicht der gottlosen kleinen Base begegneten, die halb für ihren Bruder zitternd, halb über Nathaniel Pipkin lachend, so schelmisch und bezaubernd aussah, daß kein Mann, weder alt noch jung, sie ungestraft anschauen konnte. Sie schob schmeichelnd ihren Arm in den des Alten, flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der alte Lobbs mochte machen, was er wollte, er mußte lächeln, während ihm zu gleicher Zeit eine Träne die Wange hinabrollte.

Nach fünf Minuten wurden auch die Mädchen aus dem Schlafzimmer herabgeholt und erschienen mit mädchenhaftem Gekicher. Während nun das junge Volk wieder ganz lustig wurde, nahm der alte Lobbs die Pfeife, zündete sie an und, komisch – daß gerade diese Pfeife Tabak die lieblichste und angenehmste war, die er jemals geraucht hatte.

Nathaniel Pipkins hielt es fürs beste, sein Geheimnis für sich zu behalten, und stieg dadurch bei dem alten Lobbs, der ihn mit der Zeit das Rauchen lehrte, zu hoher Gunst empor. So saßen sie denn noch manches Jährlein an schönen Abenden draußen im Garten und schmauchten und tranken mit vielem Behagen. Nathaniel Pipkin erholte sich bald von den Wirkungen seiner Liebe, denn wir finden im Kirchenbuche seinen Namen als Zeugen bei der Hochzeit der Maria Lobbs mit ihrem Vetter. Auch geht aus anderen Urkunden hervor, daß er in der Hochzeitnacht in das Gefängnis des Dorfes gesperrt wurde, weil er in einem Zustand gänzlicher Trunkenheit allerlei Exzesse auf den Straßen begangen, wobei der knöcherne Lehrling mit den dünnen Beinen ihm treulich Beistand geleistet hatte.

Erstes Kapitel.


Erstes Kapitel.

Die Pickwickier.

Den ersten Lichtstrahl, der die Nacht erhellt und das Dunkel, in das die frühere Geschichte der öffentlichen Laufbahn des unsterblichen Pickwick eingehüllt scheint, in blendenden Glanz verwandelt, erhalten wir durch einen Blick in den nachstehenden Auszug aus den Verhandlungen des Pickwick-Klubs, den der Herausgeber dieser Papiere mit Vergnügen seinen Lesern zum offenkundigen Beweise vorlegt, mit welcher gewissenhaften Sorgfalt, unermüdlichen Beharrlichkeit und feinen Unterscheidungsgabe er die ihm anvertrauten zahlreichen und verschiedenartigen Dokumente durchforschte.

Mai 12, 1817. Unter Joseph Smiggers Esq.B.V.P. – P.K.M. Beständiger Vize-Präsident. – Pickwick-Klub-Mitglied. Die Abkürzung Esq. bedeutet »Esquire«, was heute soviel besagt wie »Wohlgeboren«. Ursprünglich heißt Esquire »Schildträger«, »Knappe« und bezeichnete ritterlichen Rang, später Standespersonen überhaupt. Präsidium wurden folgende Entschließungen einstimmig angenommen:

»Daß die Gesellschaft mit den Gefühlen der vollkommensten Zufriedenheit und unbedingter Beistimmung die durch Samuel Pickwick, Esq. P. P. K. M. Präsident. – Pickwick-Klub-Mitglied., mitgeteilten, spekulativen Untersuchungen über die Quelle der Fischteiche von Hampstead Hampstead, Vorort Londons mit malerischem, viel besuchten Hyde-Park, 7 Kilometer vom Zentrum. nebst einigen Bemerkungen über die Theorie des Froschsprungs vorlesen hörte und dem besagten Samuel Pickwick, Esq.P.P.K.M., ihren wärmsten Dank dafür abstattet.«

»Doß die Gesellschaft innigst von den Vorteilen überzeugt ist, die der Wissenschaft aus obengenanntem Werk, sowie überhaupt aus den unermüdlichen Forschungen des Samuel Pickwick, Esq. P.P.K.M., in Hornsey, Highgate Einst selbständige Ortschaften, heute längst Vororte von London, nördlich der Themse., Brixton und Camberwell Zwei Stadtteile Londons, südlich der Themse. erwachsen müssen; und daß sie daher den unschätzbaren Gewinn nicht verkennen kann, der sich für die Fortschritte und Verbreitung des Wissens unausbleiblich ergeben muß, wenn dieser gelehrte Mann seine Spekulationen auf ein weiteres Feld ausdehnt, größere Reisen unternimmt und dadurch die Sphäre seiner Beobachtungen erweitert.«

»Daß die Gesellschaft in der obgedachten Absicht einen Vorschlag in ernste Erwägung gezogen, der von vorbesagtem Samuel Pickwick, Esq. P. P. K. M., und drei andern sogleich namhaft zu machenden Pickwickiern ausgegangen, um eine neue Abteilung der vereinten Pickwickier unter der Benennung der › korrespondierenden Gesellschaft‹ des Pickwick-Klubs zu bilden.«

»Daß der besagte Vorschlag die Billigung und Genehmigung der Gesellschaft erhalten habe.«

»Daß daher die korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs hiermit konstituiert ist, und daß Samuel Pickwick, Esq. P. P. K. M., Tracy Tupman, Esq. P. K. M., Augustus Snodgraß, Esq. P. K. M., und Nathaniel Winkle, Esq. P. K. M., hierdurch zu Mitgliedern derselben ernannt und ersucht worden sind, von Zeit zu Zeit persönliche Berichte über ihre Reisen und Untersuchungen, Beobachtungen der Charaktere und Gebräuche, und alle ihre Abenteuer nebst den dazugehörigen Papieren und Dokumenten, zu denen Lokalszenen oder Ideenverbindungen Veranlassung geben könnten, an den in London residierenden Pickwick-Klub einzusenden.«

»Daß die Gesellschaft von ganzem Herzen den Grundsatz anerkennt, nach dem jedes Mitglied der korrespondierenden Abteilung seine Reisekosten selbst tragen soll, und daß sie nicht das geringste dagegen einzuwenden hat, wenn die Mitglieder der besagten Sektion in Voraussetzung der obigen Bedingung ihre Reisen und Untersuchungen solange fortsetzen, wie es ihnen beliebt.«

»Daß endlich die Mitglieder der vorbesagten korrespondierenden Gesellschaft hierdurch in Kenntnis gesetzt worden, wie der Klub ihren Vorschlag, das Porto für die von ihnen eingehenden Briefe und Pakete ihrerseits tragen zu wollen, in Erwägung gezogen und denselben der großen Geister, von denen er ausging, für völlig würdig gefunden, weshalb er sich hiermit vollkommen einverstanden erklärt.«

Ein zufälliger Beobachter, fügt der Sekretär hinzu, dessen Aufzeichnungen wir den hier folgenden Bericht verdanken, würde vielleicht nichts Außerordentliches an dem Kahlkopf und der großgläserigen Brille gefunden haben, die während der Ablesung obiger Entschließungen unverwandt auf sein (des Sekretärs) Gesicht gerichtet waren. Für solche aber, die wußten, daß unter dieser Glatze Pickwicks gigantisches Gehirn arbeitete, und daß die strahlenden Augen Pickwicks unter jenen Gläsern funkelten, hatte der Anblick in der Tat ein hohes Interesse. Da saß er, der Mann, der die Teiche von Hampstead bis zu ihren Quellen erforscht und durch seine Theorie des Froschsprungs die ganze gelehrte Welt in Alarm gesetzt hatte, so ruhig und unbeweglich wie die tiefen Wasser der ersteren an einem kalten Wintertage, oder wie ein einsames Exemplar der letzteren in dem geheimsten Winkel eines irdenen Krugs. Und um wieviel interessanter wurde das Schauspiel, als auf den einstimmigen Ruf » Pickwick!« der ausgezeichnete Mann langsam den stark gebauten Holzstuhl, auf dem er gesessen, bestieg und voll Feuer und Leben den von ihm selbst gegründeten Klub anredete! Welch eine Studie für einen Künstler bot diese Szene dar!

Der beredte Pickwick – da steht er, die eine Hand mit Grazie hinter seinem Rockschoß verbergend, während die andere die Lüfte zerteilt, um seine glühende Ansprache zu unterstützen: seine erhabene Stellung macht seine enganschließenden Unaussprechlichen und Gamaschen bemerkbar, die an einem Mann von gewöhnlichem Schlag vielleicht gar nicht aufgefallen wären, so aber, da sie einen Pickwick bekleideten, wenn wir uns des Ausdrucks bedienen dürfen, eine unwillkürliche Achtung und Ehrfurcht einflößen; da steht er: umringt von den Männern, die sich freiwillig entschlossen haben, die Gefahren seiner Reisen und den Ruhm seiner Entdeckungen mit ihm zu teilen.

Zu seiner Rechten sitzt Mr. Tracy Tupman, der nur zu empfängliche Tupman, der mit der Weisheit und Erfahrung reiferer Jahre die Begeisterung und Glut des Jünglings in der anziehendsten und verzeihlichsten aller menschlichen Schwächen – der Liebe – vereinigt. Die Jahre und das Wohlleben haben seiner einst romantischen Gestalt eine weitere Ausdehnung gegeben; die schwarzseidene Weste hat sich immer mehr hervorgrdrängt! Zoll für Zoll ist die goldene Uhrkette vor Tupmans Horizont entrückt worden, und gradweise ist das volle Kinn über die Grenzen der weißen Krawatte hinausgequollen! aber Tupmans Inneres hat keine Veränderung erlitten – Bewunderung des schönen Geschlechts ist immer noch seine Hauptleidenschaft.

Zur Linken seines großen Meisters sitzt der poetische Snodgraß, und neben ihm Herr Winkle, der Freund der Wälder und Jagden, der eine poetisch in einen geheimnisvoll blauen Mantel mit einem Kragen von Kaninchenfell eingehüllt, während der andere mit einem neuen grünen Jagdkleid, einem schottischen Halstuch und dicht anschließenden Tuchbeinkleidern den Glanz noch erhöht.

Herrn Pickwicks Rede bei dieser Gelegenheit, sowie die darauffolgenden Debatten sind in dir Verhandlungen des Klubs eingetragen. Beide haben mit den Debatten anderer berühmter Körperschaften große Ähnlichkeit, und da es immer interessant ist, der Verwandtschaft zwischen den Äußerungen großer Männer nachzuspüren, so teilen wir hier wenigstens den Eingang mit.

Herr Pickwick bemerkte (sagt der Sekretär), daß jedem Manne der Ruhm am Herzen liege. Der poetische Ruhm liege seinem Freunde Snodgraß am Herzen, der Ruhm der Eroberungen in gleichem Grade seinem Freunde Tupman, und das Verlangen, Ruhm einzuernten auf den Gebieten der Jagd, der Luft und des Wassers, entzünde vor allem die Brust seines Freundes Winkle. Er (Herr Pickwick) wolle nicht in Abrede ziehen, daß er durch menschliche Leidenschaften und Gefühle bewegt werde (Beifall) – vielleicht menschliche Schwächen habe – (lauter Ausruf »Nein! nein!«); aber soviel glaube er sagen zu dürfen, daß, wenn sich je das Feuer der Selbstsucht in seinem Busen entzünde, dieses augenblicklich wieder durch den Wunsch gedämpft werde, vor allem der Menschheit zu dienen, deren Wohl der Fittig sei, auf dem sich sein Geist emporschwinge, sowie er die Philanthropie als sein Lebensprinzip betrachte. (Stürmischer Beifall.) Er wolle es offen gestehen und gebe das Geständnis seinen Feinden preis, er habe einigen Stolz gefühlt, als er der Welt seine Theorie des Froschsprungs mitteilte; man möge das Verdienst derselben nun anerkennen oder nicht. (Ein Ausruf »Es geschieht!« und lauter Beifall.) Er wolle der Versicherung eines ehrenwerten Pickwickiers, dessen Stimme er soeben vernommen, Glauben schenken. Aber wenn sich auch der Ruhm jener Abhandlung bis zu der äußersten Grenze der Welt verbreitete, so würde doch der Stolz, womit er auf die Autorschaft dieses Erzeugnisse« blicke, nicht mit dem Stolze zu vergleichen sein, mit dem er in diesem, dem stolzesten Augenblicke seines Daseins, um sich her schaue. (Beifall.) Er sei nur ein geringes Individuum! (»Nein! nein!«) könne jedoch nicht umhin, zu fühlen, daß man ihn zu einer mit großer Ehre und einiger Gefahr verknüpften Bestimmung auserkoren habe. Das Reisen sei jetzt eine mißliche Sache; die Straßen wären in einem beunruhigten, und die Gemüter der Kutscher in einem keineswegs befestigten Zustande! die ehrenwerten Mitglieder möchten die Blicke richten, wohin sie wollten, und die Szenen berücksichtigen, die sich ringsumher ereigneten. Überall würden Wagen umgeworfen, gingen Pferde durch, schlügen Boote um, und platzten Dampfkessel. (Beifall – eine Stimme: »Nein!«) Nein? Möge doch der ehrenwerte Pickwickier, der so laut »Nein!« rief, vortreten und es leugnen, wenn er kann! (Beifall.) Wer war es, der »Nein!« rief? (Enthusiastischer Beifall.) – War es etwa ein eitler und unzufriedener Mann – um nicht zu sagen ein rechthaberischer Schulfuchs – (lauter Beifall), der eifersüchtig auf das vielleicht unverdienterweise seinen ( Pickwicks) Untersuchungen zuteil gewordene Lob, und ärgerlich über das Fehlschlagen seiner eigenen schwachen Versuche, mit ihm ( Pickwick) zu wetteifern, jetzt auf diese niedrige und gehässige Art – –

Hier erhob sich Herr Blotton (von Aldgate), um zur Ordnung zu rufen. Spielte der ehrenwerte Pickwickier damit auf ihn an? (Man ruft: »Zur Ordnung!–Ja!– Nein!– Weiter! – Nicht weiter!« usw.)

Herr Pickwick erklärte, er werde sich durch Geschrei nimmermehr zum Schweigen bringen lassen. Er habe allerdings den ehrenwerten Herrn gemeint. (Große Aufregung.)

Herr Blotton sagte, er weise die falsche und lächerliche Anklage des ehrenwerten Herrn mit tiefer Verachtung zurück. (Große Bewegung.) Der ehrenwerte Herr sei ein Aufschneider. (Ungeheure Verwirrung und lautes Rufen: »Zur Ordnung! zur Ordnung!«)

Herr Augustus Snodgraß eilte nach dem Prajidentenstuhl. Er wünschte zu wissen, (hört!) ob man es zugeben wolle, daß dieser schimpfliche Streit zwischen zwei Mitgliedern des Klubs fortgesetzt werde. (Hört! hört!)

Der Präsident war fest überzeugt, daß der ehrenwerte Pickwickier den Ausdruck zurücknehmen werde, dessen er sich soeben bedient habe.

Herr Blotton erklärte, mit aller Achtung vor dem Präsidenten, daß er dies nicht tun werde.

Der Präsident erkannte es für gebieterische Pflicht, den ehrenwerten Herrn zu fragen, ob er sich des ihm entschlüpften Ausdrucks im gewöhnlichen Sinne bedient habe.

Herr Blotton nahm keinen Anstand, die Frage zu verneinen. Er habe das Wort im Pickwickischen Sinne gebraucht. (Hört! hört!) Er fühle sich verpflichtet, zu erklären, daß er persönlich die größte Hochachtung vor dem ehrenwerten Herrn hege, und er habe ihn nur aus dem Pickwickischen Gesichtswinkel für einen Aufschneider angesehen. (Hört! hört!)

Herr Pickwick fühlte sich durch die offene, aufrichtige und genügende Erklärung seines ehrenwerten Freundes vollkommen zufriedengestellt, und fügte zugleich hinzu, daß auch seine eigenen Bemerkungen bloß im Pickwickischen Sinne zu verstehen gewesen wären. (Beifall.)

Hier schließt der Eingang, und wir zweifeln nicht, daß damit wohl auch die Debatte zu Ende war, nachdem sie zu einem so befriedigenden Resultate geführt hatte. Es liegen uns zwar keine offiziellen Berichte von den Tatsachen vor, die der Leser in dem folgenden Kapitel finden wird, aber sie wurden sorgfältig aus Briefen und andern so unzweifelhaft echten handschriftlichen Dokumenten geschöpft, daß die zusammenhängende Darstellung derselben dadurch gerechtfertigt wird.