Dreizehntes Kapitel.


Dreizehntes Kapitel.

Enthält einen bedeutungsvollen Vorfall, der sowohl in Herrn Pickwicks Leben, als in dessen Geschichte Epoche macht.

Herrn Pickwicks Zimmer in der Goßwellstraße, obschon von beschränktem Räume, gewährte doch eine sehr nette, bequeme und für einen Mann von seinem Genie und Beobachtungsgeist ganz besonders geeignete Wohnung. Sein Arbeitszimmer befand sich im ersten Stock, sein Schlafzimmer im zweiten, und beide lagen nach vorn hinaus, so daß Herr Pickwick, sowohl von seinem Schreibtisch im Wohnzimmer, als von seinem Ankleidespiegel im Schlafgemach aus gute Gelegenheit hatte, die menschliche Natur in allen ihren unzähligen Phasen an einem Platze zu beobachten, der ihm fortwährend ein buntes Volksleben vor die Augen führte. Seine Hauswirtin, Frau Bardell, die trostlose Hinterbliebene eines Zolleinnehmers, war eine resolute Frau von lebhaftem Temperament und angenehmem Äußern. Dabei war sie mit einem natürlichen Kochgenie begabt, das sie durch Studium und langjährige Praxis bis zu einer außerordentlichen Höhe ausgebildet hatte. In ihrem Hause gab es weder Kinder, noch Dienstboten, noch Federvieh. Seine einzigen Insassen waren, außer Herrn Pickwick, ein großer Mann und ein kleiner Knabe, der erstere ein Untermieter, der zweite ein Sprößling der Frau Bardell. Der große Mann war immer abends Punkt zehn Uhr zu Hause und pferchte sich zu dieser Stunde regelmäßig in die Grenzen einer zwerghaften französischen Bettstelle im hintern Zimmer zusammen. Die kindischen Spiele und gymnastischen Übungen des jungen Herrn Bardell aber waren ausschließlich auf die Plätze vor den Türen der Nachbarn und die Rinnsteine vor dem Hause beschränkt. Reinlichkeit und Stille herrschten in dem Bau, darinnen Herrn Pickwicks Wille als Gesetz galt.

Jedermann, der den geschilderten häuslichen Zustand und die bewundernswürdige Selbstbeherrschung Herrn Pickwicks gekannt hätte, würde sein Benehmen an dem Morgen vor dem zur Reise nach Eatanswill bestimmten Tage höchst mysteriös und sonderbar gefunden haben. Er ging mit raschen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, schaute alle drei Minuten einmal unruhig zum Fenster hinaus, sah fortwährend nach der Uhr, und ließ noch viele andere, bei ihm selten vorkommende Zeichen von Ungeduld wahrnehmen. Offenbar lag ihm etwas sehr Wichtiges im Sinne, doch was dieses Etwas sein möchte, vermochte selbst Frau Bardell nicht zn ergründen.

»Frau Bardell«, hob Herr Pickwick endlich an, als diese liebenswürdige Frau endlich mit ihrem ausdauernden Staubabwischen fast zu Ende gekommen war.

»Sir«, sagte Frau Bardell.

»Ihr kleiner Knabe bleibt sehr lange aus.«

»Ei, es ist aber auch ein ziemlich weiter Weg nach dem Borough, Sir«, entgegnete Frau Bardell.

»Da haben Sie freilich recht«, versetzte Herr Pickwick, versank abermals in Stillschweigen, und Frau Bardell fuhr mit dem Staubabwischen fort.

»Frau Bardell«, begann Herr Pickwick nach einigen Minuten von neuem.

»Sir«, sagte Frau Bardell, wie zuvor.

»Glauben Sie wohl, daß es bedeutend mehr kostet, zwei Personen zu unterhalten, als eine einzige?« fragte Herr Pickwick.

»Mein Gott, Herr Pickwick«, rief Frau Bardell aus, bis an den Rand ihrer Haube errötend, weil sie in den Augen ihres Mietsherrn ein heiratslustiges Blinzeln zu bemerken glaubte; »mein Gott, Herr Pickwick, was ist das für eine Frage?«

»Glauben Sie es wirklich?« fragte Herr Pickwick weiter.

»Tja, Herr Pickwick«, erwiderte Frau Bardell, mit ihrem Staubbesen seine auf dem Tische ruhenden Ellenbogen fast berührend, »das kommt ganz darauf an, ob es eine haushälterische und verständige Person ist, Sir.«

»Da haben Sie recht«, versetzte Herr Pickwick; »doch ich denke, daß die Person, die ich im Auge habe (bei diesen Worten fixierte er Frau Bardell sehr scharf) jene Eigenschaften, und noch überdies eine beträchtliche Weltkenntnis und viel Klugheit besitzt, Frau Bardell, was mir wesentliche Vorteile bringen dürfte.«

»Ach du mein Himmel, Herr Pickwick!« rief Frau Bardell aus, und errötete abermals bis an den Rand ihrer Haube.

»Ich bin wirklich davon überzeugt«, sagte Herr Pickwick, lebhafter werdend, wie es gewöhnlich bei ihm der Fall war, wenn er von einem ihn interessierenden Gegenstande sprach; »ich bin wirklich davon überzeugt, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Frau Bardell, ich habe bereits meinen festen Entschluß gefaßt.«

»Ach, du meine Güte, Sir!« rief Frau Bardell.

»Sie werden es allerdings auffallend finden«, fuhr der liebenswürdige Herr Pickwick fort, indem er dabei seine Hausgenossin mit freundlichem Lächeln anblickte, »daß ich Sie über diese Angelegenheit gar nicht zu Rate gezogen, und nicht eher etwas davon erwähnt habe, als in dieser Stunde, wo ich Ihren kleinen Knaben ausgeschickt – hihi, was sagen Sie?«

Frau Bardell konnte nur durch einen Blick antworten. Sie hatte Herrn Pickwick längst im stillen verehrt, und jetzt sah sie sich mit einem Male auf den Gipfel eines Glücks gehoben, das sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Herr Pickwick stand im Begriff, ihr einen Antrag zu machen – ein überlegter Plan! –, ja, nur deshalb hatte er ihren Knaben fortgeschickt – wie herrlich war das ausgedacht, und wie klug ausgeführt!

»Nun«, fragte Herr Pickwick, »was meinen Sie?«

»Ach, Herr Pickwick«, erwiderte Frau Bardell, vor innerer Bewegung zitternd, »Sie sind gar zu gütig, Sir.«

»Meinen Sie nicht, daß ich Ihnen ein gutes Teil Mühe dadurch ersparen würde?« fragte Herr Pickwick weiter.

»O, aus der Mühe mache ich mir gar nichts, Sir«, erwiderte Frau Bardell: »und ich will mich gern, um nur Sie zufrieden zu sehen, einer noch größeren als je unterziehen. Ach, es ist unaussprechlich viel Güte von Ihnen, Herr Pickwick, daß Sie auf meine verlassene Lage soviel Rücksicht nehmen!«

»Ich versichere Sie«, versetzte Herr Pickwick, »daran habe ich noch nicht einmal gedacht. Doch Sie werden, wenn ich in der Stadt bin, immer jemand haben, der bei Ihnen bleibt.«

»O Gott, ich werde eine sehr glückliche Frau sein«, sagte Frau Bardell.

»Und Ihr kleiner Knabe« – sagte Herr Pickwick.

»Der Himmel segne ihn!« unterbrach ihn Frau Bardell mit einem mütterlichen Seufzer.

»Auch er wird einen Gefährten haben, und zwar einen recht aufgeweckten, der ihn, ich will darauf wetten, in einer Woche mehr Schelmenstreiche lehren wird, als er sonst wohl in einem Jahre lernen würde.«

Herr Pickwick begleitete diese Worte mit einem gutmütigen Lächeln.

»O Sie lieber –«

Herr Pickwick stutzte.

»O Sie lieber, guter, herrlicher Mann!« rief Brau Bardell aus, sprang von ihrem Stuhle auf und schlang ohne weitere Umstände unter einem Katarakt von Tränen und einem Chor von Seufzern ihre Arme um Herrn Pickwicks Nacken.

»Gerechter Gott!« schrie Herr Pickwick, ganz außer sich: »Frau Bardell, gute Frau – du meine Güte! – welche Situation! – ich bitte, bedenken Sie doch – Frau Bardell – ich beschwöre Sie um alle» in der Welt – wenn jemand käme –«

»D, mag kommen, wer will!« rief Frau Bardell, in ihrer Liebesekstase ihn noch fester umschlingend: »ich lasse nicht von Ihnen – o Sie lieber, Sie teurer Mann!«

»Barmherziger Gott!« ächzte Herr Pickwick, indem er aus allen Kräften rang, sich von ihr loszumachen: »ich höre jemand auf der Treppe kommen. O, ich bitte Sie um Himmels willen, liebe Frau, seien Sie doch nur vernünftig!«

Aber alle Bitten und Vorstellungen blieben fruchtlos, denn Frau Bardell war in Pickwicks Armen in Ohnmacht gefallen, und ehe er Zeit gewinnen konnte, sie auf einen Stuhl niederzusetzen, trat Master Bardell in das Zimmer, gefolgt von Herrn Tupman, Herrn Winkle und Herrn Snodgraß.

Herr Pickwick war wie vom Donner gerührt. Seine liebliche Bürde in den Armen haltend, stand er bestürzt und regungslos da, und starrte seine Freunde an, ohne sie zu begrüßen, ja ohne auch nur den geringsten Versuch zu machen, ihnen eine Erklärung darüber zu geben. Seine Freunde machten große Augen, und Master Bardell glotzte alle zusammen an.

Da« Erstaunen der Pickwickier und die Verwirrung Herrn Pickwicks waren so überwältigend, daß wahrscheinlich sämtliche

 

Personen bis zum Wiedererwachen der Lebensgeister unserer guten Frau Bardell in ihren Stellungen verharrt sein würden, wenn sich nicht die kindliche Zärtlichkeit des Sprößlings der Ohnmächtigen auf eine höchst rührende Weise Luft gemacht hätte. Er war anfangs, in einem Korduroyanzug mit großen Metallknöpfen, erstaunt und ungewiß an der Tür stehengeblieben; aber schließlich kam er auf den Gedanken, daß Herr Pickwick seiner Mutter ein Leid angetan haben möchte; er erhob daher ein jämmerliches Geschrei, stürzte auf den unsterblichen Mann los und begann dessen Rücken und Beine mit Stößen und Knüffen so empfindlich zu bearbeiten, als es die Kraft seines kleinen Armes und das Ungestüm seiner Aufregung zuließ.

»Wehren Sie doch dem kleinen Schlingel!« rief der geängstigte Herr Pickwick; »er ist ja ganz des Teufels!«

»Was gibt es denn hier?« fragten die drei Pickwickier wie aus einem Munde.

»Ich weiß es nicht«, versetzte Herr Pickwick verdrießlich. »Schaffen Sie mir nur den Knaben vom Halse – (Herr Winkle zog den schreienden und um sich schlagenden interessanten Knaben in den entferntesten Winkel des Zimmers) – und helfen Sie mir die Frau die Treppe hinunterführen.«

»Ah, ich fühle mich wieder besser«, begann Frau Bardell mit schwacher Stimme.

»Erlauben Sie mir, Sie hinunter zu begleiten«, sagte der stets galante Herr Tupman.

»Ich nehme es mit Dank an, Sir – ich nehme es mit Dank an«, rief Frau Bardell in hysterischer Aufregung.

Und so wurde sie denn von Herrn Tupman die Treppe hinuntergeführt, während ihr das zärtliche Söhnlein folgte.

»Ich kann nicht begreifen«, sagte Herr Pickwick, als sein Freund zurückkehrte, »was dieser Frau eigentlich zugestoßen ist. Ich hatte ihr bloß meine Absicht angekündigt, einen männlichen Dienstboten anzunehmen, als sie in eine wahre Verzückung geriet und endlich in Ohnmacht fiel. Ein höchst merkwürdiger Fall!«

»Höchst merkwürdig!« riefen die drei Freunde aus.

»Sie versetzte mich in der Tat in eine ganz sonderbare Lage«, fuhr Herr Pickwick fort.

»Ganz sonderbar!« wiederholten seine Gefährten, ein wenig hustend und sich gegenseitig merkwürdige Blicke zuwerfend, die Herrn Pickwick nicht entgingen. Sie hatten ihn offenbar im Verdacht.

»Es wartet ein Mann auf dem Gange«, bemerkte Herr Tupman.

»Ohne Zweifel der Diener, an den ich dachte«, sagte Herr Pickwick. »Ich schickte diesen Morgen nach ihm. Haben Sie doch die Güte, ihn hereinzurufen, lieber Snodgraß.«

Herr Snodgraß tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf stellte sich Herr Samuel Weller vor.

»Ich denke, Ihr erinnert Euch meiner«, redete ihn Herr Pickwick an.

»Sollt’s meinen«, erwiderte Sam mit pfiffigem Blinzeln. »Ein wunderlicher Auftritt – aber er hat Ihnen doch allen ein Schnippchen geschlagen; fort war er, ehe einer in seine Tabaksdose greifen kann – was?«

»Lassen wir das jetzt«, fiel Herr Pickwick eilig ein; »ich wollte von etwas anderm mit Euch reden. Setzt Euch.«

»Danke Sir«, sagte Sam, und setzte sich, ohne sich weiter nötigen zu lassen, nachdem er seinen alten weißen Hut auf einen außen vor der Tür stehenden Tisch gelegt hatte. »Er sieht nicht zum besten aus«, bemerkte er, »sitzt aber erstaunlich gut und war ein sehr hübscher Deckel, ehe sich die Krempe lostrennte: er ist aber so leichter, das ist ein Vorteil – und dann läßt jedes Loch Luft herein, das ist der zweite – ein gesunder Abkühlungsapparat.«

Nach dieser Erörterung lächelte Herr Weller die versammelten Pickwickier freundlich an.

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick; »doch jetzt zur Sache, weswegen ich Euch habe rufen lassen.«

»Sehr wohl, Sir«, unterbrach ihn Sam: »nur heraus damit, wie der Vater zu dem Kinde sagte, als es einen Pfennig verschluckt hatte.«

»Vor allen Dingen möchte ich wissen«, fuhr Herr Pickwick fort, »ob Ihr aus irgendeinem Grunde mit Eurer gegenwärtigen Lage unzufrieden seid.«

»Bevor ich auf diese Frage antworte«, versetzte Sam, »möchte ich gern wissen, ob Sie mir etwa zu einer bessern verhelfen wollen?«

Ein Strahl gütigen Wohlwollens glänzte auf Herrn Pickwicks Angesicht, als er sagte:

»Ich habe unter Umständen vor, Euch selbst in Dienst zu nehmen.«

»Ach was?« sagte Sam.

Herr Pickwick nickte bejahend.

»Lohn?« sagte Sam.

»Zwölf Pfund jährlich«, erwiderte Herr Pickwick.

»Kleidung?«

»Zwei Anzüge.«

»Arbeit?«

»Ihr wartet mir auf und begleitet mich und diese Herren hier auf Reisen.«

»Also runter mit dem Bedientenbuch«, sagte Sam mit Nachdruck: »ich bin an einen einzelnen Herrn vermietet und mit den Bedingungen einverstanden.«

»Ihr nehmt also die Stelle an?« fragte Herr Pickwick.

»Gewiß«, erwiderte Sam: »wenn mir die Livree nur halb so gut paßt wie die Stelle, so wird’s schon gehen.«

»Ohne Zweifel werdet Ihr ein Zeugnis beibringen können?« fragte Herr Pickwick.

»Wenden Sie sich deshalb an die Wirtin vom Weißen Hirsch«, versetzte Sam.

»Könntet Ihr noch heute abend den Dienst antreten?«

»Augenblicks stecke ich mich in Ihre Livree, wenn sie zur Hand ist«, entgegnete Sam äußerst vergnügt.

»Sprecht heute abend um acht Uhr vor«, sagte Herr Pickwick, »und wenn meine Erkundigungen nach Wunsch ausfallen, werde ich für eine Livree sogleich Sorge tragen.«

Mit Ausnahme eines einzigen liebenswürdigen Fehltritts, an dem ein Hausmädchen gleichen Anteil hatte, war der Bericht über Herrn Wellers Betragen so rein von jedem Makel, daß Herr Pickwick sich völlig beruhigt fühlte und noch am selben Abend den Vertrag mit dem neuen Diener schloß. Mit der Raschheit und Energie, die nicht nur die öffentlichen, sondern auch die Privathandlungen dieses außerordentlichen Mannes kennzeichneten, führte er den Diener in eins der Konfektionsgeschäfte, wo alte und neue Herrenanzüge vorrätig sind und man der lästigen und unbequemen Formalität des Maßnehmens überhoben ist. Noch vor Einbruch der Nacht war Sam Weller mit einem grauen Rocke mit P.-C.-Knöpfen, einem schwarzen Hut mit einer Kokarde, einer fleischfarbenen, gestreiften Weste, lichten Beinkleidern und Gamaschen und mehreren andern Erfordernissen, deren Aufzählung den Leser belästigen könnte, ausstaffiert.

»Ich bin doch neugierig«, sagte unser plötzlich also verwandeltes Individuum, als es am nächsten Morgen den Außensitz der Eatanswiller Postkutsche eingenommen hatte, »ob ich einen Diener, einen Stallknecht, einen Hegereiter oder einen Portier vorstellen soll. Ich sehe wie eine Art Ragout von alledem ans. Doch, was macht das! Komme ich ja auf diese Weise zu einer Luftveränderung, kriege viel zu sehen und habe wenig zu tun, was mir alles ganz prächtig zusagt. Ich bleibe daher dabei: die Pickwickier sollen leben.«

Dickens Leben und Werke.


Dickens Leben und Werke.

Zu den vorliegenden Übersetzungen.

Als Charles Dickens, der große englische Humorist, 1870 gestorben war, wurden in den ersten zwölf Jahren nach seinem Tode in England allein vier Millionen Stück seiner Werke verkauft; ein Zeichen für die ungemeine Beliebtheit des Mannes, der dabei nicht, wie manch anderer großer Dichter, auf den Ruhm nach dem Tode als Ersatz für den fehlenden Ruhm bei Lebzeiten hat hoffen brauchen. Er war, sobald er zu schriftstellern begann, bereits vielgelesen, vielgekauft und gefeiert.

Auch in Deutschland erschienen in des Dichters besten Lebenstagen bereits umfangreiche Übersetzungen, die damals gern gelesen wurden. Aber sie sind heute veraltet. Zwar waren sie meist genaue Übertragungen, indessen sie blieben ganz in der zeitlichen Mode stecken und sind heute für den modernen Leser kaum genießbar. Unser Sprachgefühl verlangt einfachen klaren Satzbau, keine endlosen Satzperioden. Die reichliche Anwendung von Partizipien, die das Englische zuläßt, wirkt in unserer Sprache schleppend und unbeholfen. Viele Fremdwörter, die früher geläufig waren, sind gänzlich aus dem Sprachgebrauch verschwunden und durch deutsche Ausdrücke zu ersetzen. Daher bedeutet eine erneute, an der Hand des englischen Originals revidierte Übersetzung zugleich eine neue Wegbahnung zum Reiche des großen englischen Humoristen, der uns auch heute noch außerordentlich viel zu bedeuten vermag. Das Unternehmen des Gutenberg-Verlags, Dickens in einem äußerlich wie innerlich würdigen deutschen Gewande weiten Kreisen unseres Volkes wieder zu erschließen, ist daher überaus dankbar zu begrüßen.

 

Charles Dickens (Pseudonym »Boz«) ist am 7. Februar 1812 zu Landport bei Portsmouth geboren. Sein Vater war Marinezahlmeister, der sich mit Frau und Kindern schlecht und recht durchs Leben schlug. Als Charles klein war, ging es den Eltern oft recht kümmerlich. 1816 siedelte die Familie nach Chatham bei London über. Der Vater geriet in Schulden und mußte zwei Jahre ins Schuldgefängnis wandern. Die Entbehrungen des Vaters in den Kerkermauern, die Not der Mutter, der Hunger der Geschwister und der eigene machten auf den kleinen Charles einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck: und das traurige Leben der Armut, das er damals kennenlernte, spiegelt sich oft genug in seinen Schriften ergreifend wider, immer begleitet von dem heimlichen Wunsch um Abhilfe. Charles konnte unter diesen Umständen nur eine kümmerliche Ausbildung erhalten. Er las selbst viele Romane und Dramen und suchte nebenher an Wissen zu ergattern, was er auftreiben konnte. Zunächst ward er Laufjunge und Paketpacker bei einem Verwandten, der Stiefelwichsefabrikant war. Dann aber besserten sich die Verhältnisse der Familie etwas. Charles konnte die »Academy« zu Hamstead Road besuchen. Er ward jetzt Advokatenschreiber. Als solcher bekam er es mit den verschiedensten Menschen aus dem Volke zu tun, und seiner scharfen Beobachtungsgabe verdankte er die Fähigkeit, alle möglichen Originale, vom jovialen Ehrenmann bis zum Landstreicher, meisterhaft zeichnen zu können.

Die Welt des Schriftstellers aber erschloß sich ihm erst eigentlich, als er im Britischen Museum literarische Studien systematisch trieb. Er lernte Stenographie und ward zunächst Zeitungsreporter, Als Mitarbeiter von »The true sun« und »Morning Chronicle« machte er sich zuerst einen Namen. Seit Dezember 1833 veröffentlichte er in englischen Zeitschriften »Skizzen von London«, die mit Humor und Herzenswärme das Volk Londons, wie’s weint und lacht, darstellte. Diese Skizzen fanden außerordentlichen Anklang. Zum berühmten Manne aber machte ihn sein erster großer Roman »Die Pickwickier«, auch »Die Pickwickpapiere« ( Pickwick-Papers) genannt, worin er die (von ihm erdichteten) Berichte und Protokolle des Pickwick-Klubs veröffentlichte. Dieser Roman erschien heftweise in der Zeitung mit humoristischen Zeichnungen von Cruiksshank und Phiz. Das Publikum konnte es gar nicht erwarten, bis ein neues Heft erschien, um weitere Erlebnisse des wackeren Herrn Pickwick und seiner ergötzlichen Klubgenossen zu erfahren. Ein Griff ins volle Menschenleben war dieser Roman, und Dickens beglückte aus dem reichen Füllhorn seiner Phantasie die Leser darinnen immer wieder mit neuen kleineren, in sich abgeschlossenen Erzählungen, Anekdoten und Humoresken.

1836 heiratete Dickens die Tochter eines Redaktionskollegen und begann sich ein trautes Heim zu gründen. Sein schönes Haus am Regents-Park ward zum Treffpunkt der guten Gesellschaft und der zeitgenössischen Geistesgrößen.

1837 bis 1839 schrieb Dickens seinen zweiten Roman »Oliver Twist«, der die Erlebnisse, das Ringen und Streben eines Jungen aus den unteren Volksschichten zum Inhalt hat. Er ist wie der dritte Roman »Nicolas Nickleby« ein Entwicklungsroman; auch dieser stellt den Werdegang eines jungen Menschen mit Menschlichkeit, Wärme und Humor dar. Dickens schuf seine Werke, ähnlich wie Scott, sich naiv der Phantasie überlassend: er war ebenso wie das Publikum darauf gespannt, wie seine Romane enden würden. Seine weiteren Werke waren teils erschütternde Dokumente über das Elend der damals rasch emportreibenden Fabrikstädte, teils humoristisch-gütige Mahnungen, diesen Nöten zu steuern. Namentlich eine Reise nach Amerika bestärkte diese Tendenzen in Dickens Schriften. So klingt die Nächstenliebe in seinen Weihnachtserzählungen ( A Christmas carol) wunderbar erwärmend und herzlich wieder. In gleicher Weise ist der Roman »Zwei Städte« ein schönes Zeugnis für Dickens Kunst, tief ins volle Menschenleben zu führen und zugleich den Leser ethisch zu bereichern.

1849 bis 1850 folgte der große autobiographische Roman »David Copperfield«, in dem Dickens viel von seinem persönlichen Leben berichtet. Welche Fülle an Produktivität, an Arbeit und Gestaltungskraft zeigen diese ersten Jahrzehnte des Schriftsteller! Aber in jenen Zeiten hat sich der Dichter auch übernommen und seine Kräfte für späteres Schaffen geschwächt. 1845 war er außerdem Redakteur der neubegründeten Zeitung » Daily News« geworden, und seit 1849 leitete er eine Wochenschrift, die unter dem Titel » All the Year round« vieles aus seiner Feder brachte. Er verfaßte eine behaglich plaudernde, anschauliche und lebendige Geschichte Englands ( A childs history of England), und sein letzter großer Roman war »Little Dorrit«, in dem er diesmal das Schicksal und die Entwicklung eines gleichfalls aus ärmlichen widrigen Verhältnissen sich emporkämpfenden Mädchens zum Inhalt einer menschlich tief angelegten, dramatisch bewegten Erzählung machte.

Seine Familienverhältnisse bereiteten ihm in späteren Jahren oft trübe Stunden. 1858 trennte er sich von seiner Frau. Er schuf sich eine herrliche Besitzung Gadshill Place; aber seine innere Rastlosigkeit ließ ihn nicht zum ruhigen Genuß des Errungenen kommen. Er ging jetzt auf Reisen und hielt Vorlesungen aus seinen Werken in London, Schottland, Irland und Nordamerika. Bis an sein Lebensende blieb er ein Menschenfreund, der durch mancherlei gute Stiftungen seine Gesinnung in die Tat umsetzte. Von Ehren überhäuft starb er am 9. Juni 1870 und ward in der Westminster-Abtei zu London beigesetzt.

Den in den ersten beiden Bänden dieser Dickensausgabe erscheinenden »Pickwickiern« ist die Übersetzung von Dr. Kolb (Hoffmannsche Buchhandlung 1855) zugrunde gelegt. Sie ist entsprechend den anfangs dieser Einleitung gemachten Bemerkungen gründlich revidiert und durchgehend mit dem englischen Original verglichen worden. Dabei ist das sprachliche Gewand stark umgestaltet und das Ganze ist in modernes Deutsch gebracht worden. Die Anmerkungen, die dem Verständnis des zeitgeschichtlichen Hintergrundes dienen, dürften allen Lesern willkommen sein. Bei der Textrevision fand ich freundliche Unterstützung durch Frau Clara Weinberg, Hamburg, der ich auch an dieser Stelle herzlich danke.

Und nun, verehrte Freunde und Freundinnen eines unverwüstlichen Humors, bringt Zeit mit – denn Zeit und Muße gehören zum richtigen Auskosten des Gebotenen. Am besten ist ein stiller Nachmittag, wenn’s draußen stürmt, regnet oder schneit. Dann wird Dickens schon dafür sorgen, daß im Herzen der Leser sich die Heiterkeit der Augustsonne, die er so besonders liebte, zärtlich und lösend verbreitet.

Dresden, im Frühherbst 1926.
P. Th. H.

Dickens Vorrede zu den »Pickwickiern«.


Dickens Vorrede zu den »Pickwickiern«.

Der Verfasser hatte bei diesem Werke die Absicht, dem Leser eine fortlaufende Serie von Persönlichkeiten und Ereignissen vorzuführen, diese mit möglichst frischen Farben zu malen, und ihnen zugleich dadurch Interesse zu verleihen, daß sie dem wirklichen Leben einen Spiegel vorhalten.

Indem er sich anfangs bei seiner Arbeit den Ansichten anderer fügte, ließ er das Ganze zunächst von einem Klub ausgehen; ein Kunstgriff, der ihm als der seinem Zwecke entsprechendste an die Hand gegeben wurde. Weil er aber fand, daß ihn diese Einrahmung in seiner freieren Bewegung hemmte, so wich er nach und nach davon ab; denn es konnte ihm bei seinem Werk wenig daran liegen, ob dem Klub strenge epische Gerechtigkeit zuerkannt würde oder nicht.

Das Erscheinen des Werkes in Monatsheften – jedes nur zweiunddreißig Seiten stark – forderte, da die mannigfaltigen Begebenheiten einen möglichst genauen Zusammenhang haben mußten, um sich nicht als abgerissen und unmöglich zu geben, die Verfolgung eines möglichst einfachen Plans. Sollte die Erzählung doch nicht unter der getrennten und abspringenden Art einer Veröffentlichung leiden, die volle zwanzig Monate andauerte. Mit einem Wort, es war notwendig – oder es schien wenigstens dem Verfasser notwendig, daß jedes Heft gewissermaßen in sich selbst abgeschlossen wäre, und daß dann doch die zwanzig vollständigen Hefte ein leidliches, harmonisches Ganze bildeten, deren sich jedes durch einen gefälligen und nicht unnatürlichen Übergang an das andere anreihte.

Es versteht sich von selbst, daß man bei einem mit solchen Rücksichten veröffentlichten Werke billigerweise keinen kunstvoll gewebten oder geistreich entwickelten Plan erwarten kann. Der Verfasser schmeichelt sich indessen mit der Hoffnung, die Schwierigkeiten seines Unternehmens mit bestem Erfolg überwunden zu haben. Wenn man deü Pickwickpapieren den Vorwurf macht, daß sie eine bloße Reihe von Abenteuern sind, in denen die Szenen immer wechseln, und die Charaktere auftauchen und verschwinden, wie die Männer und Frauen, denen wir in der wirklichen Welt begegnen, so kann er sich nur mit dem Gedanken trösten, daß sie gar nichts anderes sein wollen, und daß man dieselbe Ausstellung an den Werken einiger der größten englischen Novellisten gemacht hat.

Die folgenden Blätter wurden von Zeit zu Zeit abgefaßt, je nachdem sich periodisch Gelegenheit dazu gab. Insofern sie größtenteils in der Gesellschaft eines sehr teuren jungen Freundes geschrieben wurden, der nicht mehr ist, hängen sie in der Seele des Verfassers zugleich mit der glücklichsten Periode seines Lebens und mit dem düstersten und schmerzlichsten Ereignis zusammen.

Die fast beispiellose Güte und Gunst, womit das Publikum dieses Werk aufnahm, werden dem Verfasser während seines ganzen Lebens eine nie versiegende Quelle der dankbarsten und heitersten Erinnerung sein. Hoffentlich wird man durch das ganze Buch hindurch auf keinen Vorfall und keinen Ausdruck stoßen, der auf der zartesten Wange eine Schamröte erwecken oder das Gefühl des Empfindlichsten beleidigen könnte. Wenn eine seiner unvollkommenen Schilderungen, während sie zur Unterhaltung gedient, auch nur einen einzigen Leser bewegen sollte, eine bessere Meinung von seinen Nebenmenschen zu fassen und seine Blicke auf die lichteren und freundlicheren Seiten der menschlichen Natur zu richten, so würde sich der Verfasser ob solchen Resultates stolz und glücklich fühlen.