Kapitel 6

 

Am Morgen des nächsten Sonntags wurde der kleine Ziegler begraben. Andreas begleitete die Eltern auf dem Heimweg vom Friedhofe noch eine gute Strecke und ging dann seiner Wohnung zu.

Unter dem Tore begegnete er seiner Hausfrau, die zugleich ihre eigene Hausbesorgerin war; eine rüstige Witwe von fünfzig Jahren. Sie hatte ihn nicht selten merken lassen, daß sie keineswegs abgeneigt wäre, ihren stattlichen Nacken noch einmal dem Ehejoch zu beugen, im Falle sich ein Mann fände von reinen Sitten und von geachteter Lebensstellung – ein Beamter zum Beispiel –, der den Wert dieser freiwilligen Unterwerfung zu würdigen wüßte.

Das Gesicht der Dame, das sich sonst bei Muths Anblick immer freundlich erhellte, grollte heut wie eine Gewitterwolke.

Sie hielt Andreas eine Nummer der Staatszeitung hin und sprach: »Lesen Sie doch das Zeug da. – Heilige Jungfrau!… Mir soll man so etwas nicht weismachen. Ich kenne Ihren Lebenswandel und weiß, wer ein und aus geht bei meinen Mietsleuten. – Zeitungsjuden! Lügenpack!« fügte sie mit der vollsten Energie ihres konfessionellen und staatsbürgerlichen Bewußtseins hinzu.

Der Zeitungsartikel, der die Hausfrau so sehr in Harnisch brachte, führte den Titel: »Die letzten Originale«, war mit M.S. unterzeichnet und in seiner Art ein Meisterstück. Andreas las ihn mit schaudernder Bewunderung.

Nicht mehr als zwanzig bis dreißig Zeilen waren jeder der Persönlichkeiten gewidmet, die Salmeyer in seinem Aufsatze mit beißender Satire, mit etwas Sentimentalität und mit ausbündigem Talent schilderte. Es war kein Zweifel möglich, daß hier nach der Natur gezeichnet worden, doch war’s in einer Art geschehen, die die Urbilder der Porträts, trotz ihrer unverkennbaren Ähnlichkeit, nicht berechtigte zu sagen: »Ich fühle mich getroffen«, so fest ihnen auch der Pfeil im Fleische saß.

Der geschickteste Staatsanwalt hätte den Versuch aufgegeben, den Verfasser dieses Libells zur Verantwortung zu ziehen. Seine Anklage wäre ihm unter den Händen zerronnen, ein Ding, das man sehen muß, aber nicht fassen kann.

In einem Kapitel des Feuilletons war Andreas geschildert. Er sah sich selbst in dem Bilde des rastlos und unbelohnt schaffenden Dichters. Mit welchem dämonischen Geiste war es entworfen! mit welcher Divinationsgabe! – Wie war die Wurzel aller seiner Leiden bloßgelegt! – das Mißverhältnis in ihm zwischen Drang und Talent, zwischen dem Blick für das Künstlerische und dem Blick für das Praktische, zwischen seinem Verständnis der Vergangenheit und seinem Nichtverstehen der Gegenwart. Mit welcher Virtuosität war das Messer geführt, das seine Brust öffnete und sein Herz enthüllte, sein zuckendes Herz, das er mit so keuschem Stolze vor jedem Menschenauge verbarg!

Den Schluß des Aufsatzes bildete, nach einer kurzen Beschreibung der Dachstube des Gelehrten, folgende »schöne Stelle«:

 

»Und allabendlich öffnet sich die Tür dieses stillen Heiligtums, und hereinschwebt, geschmückt zu den Festen in den Fürstensälen unserer Residenz, eine dort heimische und gefeierte Schönheit.

Und über den armen Poeten beugt sich ihre königliche Gestalt. Auf der bleichen Stirn des Denkers ruhen Lippen so duftig und frisch wie die Rose im Tau. Lippen, für deren Kuß die Reichsten, die Edelsten, die Mächtigsten ihre Schätze hingäben, ihren Ruhm, ihre Macht!…

Vergebliche Liebesmühe!… Für sie steigt die Göttin nicht aus den Wolken. Ihnen ist sie unerreichbarer als dem Sünder die himmlische Au, als dem Wanderer im Wüstenbrand der schattenkühle Wald.«

Um dieser Abgeschmacktheit die entsprechende Würze zu geben, waren die beiden Silben des Namens Auwald mit gesperrter Schrift gedruckt.

Andreas hatte langsam gelesen, Wort für Wort, seinen Augen nicht trauend, wegzweifelnd, was er sah … Er träumt, er fiebert. Seine Phantasie treibt mit ihm ein fürchterliches Spiel, zeigt ihm den Namen, der ihm heilig ist, schmachvoll an die Öffentlichkeit gezerrt, besudelt und entweiht. Teuflischer Traum, hinweg mit deinem Spuk!

O sich nur besinnen – nur besinnen, und er verschwindet …

Aber nein!… Es steht da … schwarz auf weiß, unleugbar steht es da …

Andreas sprang auf. Rote Funken tanzten vor seinen Augen, eine Empfindung wahnsinniger Wut loderte in ihm empor.

Außer sich rannte er im Zimmer umher und suchte in seiner friedlichen Behausung nach einer Waffe – nach irgend etwas, das als solche dienen konnte. Aber da war nichts als ein spanisches Rohr mit schwerem Messingknopfe, ein Erbstück seines Vaters. Das ergriff er und eilte zur Tür.

In diesem Augenblicke öffnete sie sich, und auf der Schwelle stand in seiner ganzen Breite und Wucht Finanzrat Seydelmann.

»Wohin?« rief dieser, als Andreas, den Stock in der Hand, an ihm vorbeistürzen wollte, ohne Notiz zu nehmen von der unerhörten Ehre, die ihm durch einen Besuch seines Chefs zuteil wurde.

»Bleiben Sie!« befahl Seydelmann und drängte den Widerstrebenden mit überlegener Kraft in das Zimmer zurück. »Was wollen Sie tun?«

Er hatte sich dem Tische genähert und deutete mit einer Hand auf die Zeitung, die dort aufgeschlagen lag, während er mit der andern den Arm Muths umklammert hielt.

»Mit dem Stocke über den Verfasser dieses Artikels herfallen? Einen Skandal machen? Einen Kriminalprozeß heraufbeschwören? Sie – ein Beamter!… Das, was heut der Gegenstand des Geschwätzes ist in einigen Salons und in einigen Kaffeehäusern und morgen vergessen sein wird, zum Markt- und Kneipengespräch machen?… Sie sind verrückt! Meiner Treu – verrückt!«

»Widerrufen muß er! Ich will ihn dazu zwingen!« keuchte Andreas. »Er muß öffentlich Abbitte tun, muß bekennen, daß er erfunden, gelogen, schändlich verleumdet hat!«

»Widerrufen? – Und was?« fragte der Rat. »Er hat ja nichts behauptet. Sie scheinen das Feuilleton nicht zu Ende gelesen zu haben. Er verwahrt sich am Schlusse ausdrücklich gegen den Verdacht, daß er nach der Natur gezeichnet hätte.,Die letzten Originale’ sind Figuren aus einem Romane, den er unter der Feder hat und für vollständig erfunden erklärt.«

»Damit schützt er nur sich!« fiel Andreas zornig ein. »Das Publikum weiß, was von solchen Erklärungen zu halten ist.«

»Da haben Sie recht, leider recht«, bestätigte der Rat, »und ich staune, woher Ihnen diese plötzliche Einsicht kommt, da Sie doch so wenige bewiesen, indem Sie einen Menschen, der von Indiskretionen lebt, zu Ihrem Vertrauten machten.«

»Zu meinem – Vertrauten?!« rief Andreas.

Der Finanzrat betrachtete seinen Untergebenen mit einem durchbohrenden Blicke.

»Herr Salmeyer kann doch nicht erraten haben …«

Er stockte und fuhr nach einer Pause in verändertem Tone fort: »Ihre Bestürzung, Ihre Verlegenheit, sooft der Name Auwald vor Ihnen ausgesprochen wird, brachten noch ganz andere Leute als diesen Rezensenten auf die rechte Fährte.«

Andreas stiegen die Haare zu Berge. Also wirklich – man glaubte, was er nicht auszudenken wagte? – hielt das Unsinnige für möglich?… Ein dummer, blöder Wahn, für den niemand auch nur den Schatten eines Grundes anzuführen vermochte, fand Anhänger, wuchs heran zu einer Macht, gewaltig – vielleicht nicht mehr zu besiegen!

Dies alles war so wunderlich, so toll, daß es aufhörte, ein Unglück zu sein, daß man nur noch Sinn haben konnte für den Humor des tödlichen Spaßes, der ihn, Andreas, Andreas den armen Teufel, in einem Atem nannte mit der glänzenden Schönheit, die, überschüttet mit den reichsten Gütern des Lebens, ihr heiteres Dasein in einer Sphäre genoß, der seinen so fern wie Sterne der Erde.

Dem Finanzrat wahrhaftig zum Schrecken, brach Andreas plötzlich in ein krampfhaftes Lachen aus und rief: »Ich schwöre, daß ich die Sonne nicht gestohlen, sie nicht in meine Tasche gesteckt habe. Sie steht noch am Himmel. Nur Geduld! warten Sie bis morgen, da geht sie wieder auf.«

Und er lachte von neuem, aber mit einem Lachen, das der schneidendste Schmerz erpreßte, mit einem Lachen, herzzerreißender als das Schluchzen der Qual.

Dem Rat wurde angst und bange.

»Nehmen Sie sich zusammen, Herr Muth! Ich ersuche, ich bitte Sie, ernsthaft zu sein. Einmal in Ihrem Leben«, fügte er mit unüberlegter Härte hinzu – »einmal in Ihrem Leben beherrschen Sie sich!«

»Einmal in Ihrem Leben …« Mechanisch sprach Andreas die Worte nach.

Du ewige Gerechtigkeit!

Seine Vergangenheit rollte sich auf vor seinem geistigen Auge wie ein Bild, er übersah mit einem Blicke sein ganzes Dasein. –

Es war nur eine lange Kette von niedergehaltenen Empfindungen, nur ein unterdrückter Schrei. Ein stillschweigendes Verzichten, so lange geübt, bis sich im fortwährenden Selbstbesiegen sogar die Kraft des Wunsches abgestumpft. Eine Reihe fehlgeschlagener Hoffnungen, über die niemals eine Klage sich seinen Lippen entrang. Um ihn, wohin er blickte, der Sieg der Mittelmäßigkeit, der Parteilichkeit, und all sein Schmerz, alle seine Entrüstung erdrückt in seinem Innern. Unterdrückt mit Macht selbst der Schatten einer unreinen Regung: Erbitterung, Neid, Mißgunst. Nichts lebendig in ihm als das Bewußtsein, entsagt zu haben und in aller Zukunft entsagen zu können, demütig, starkmütig und ohne Groll.

Und nun: »Beherrschen Sie sich einmal in Ihrem Leben!«

Er erwiderte nichts, er lachte lauter als zuvor und erschien dem Finanzrat nachgerade unheimlich. Es geschah, was sich in seiner langen Dienstzeit nicht ereignet hatte, der hohe Beamte vergaß seiner offiziellen Würde und sprach mit dem Untergebenen, wie ein gewöhnlicher Mensch zu einem andern spricht.

Dennoch war jedes Wort ein Dolchstoß für den armen Andreas.

»Beruhigen Sie sich«, sagte Seydelmann, »Sie sind empfindlich wie ein bloßgelegter Nerv. – Das Unglück ist einmal geschehen, Sie können nur noch seine Konsequenzen verringern oder erhöhen. Je weniger Bedeutung Sie ihm geben, desto weniger Bedeutung wird es haben. – Kommen Sie morgen in das Büro, so ruhig, als wäre nichts vorgefallen. Man ist gewöhnt, jede Ihrer Empfindungen auf Ihrem Gesicht zu lesen; gelingt es Ihnen, gleichgültig zu scheinen, so wird man glauben, daß Sie es seien. Wenn Ihre Kollegen über den Zeitungsartikel von Herrn Salmeyer scherzen, so scherzen Sie mit. Diesen Rat Ihnen zu geben, bin ich gekommen. Und noch eines!… Nehmen Sie das Bild dort von der Wand. Die Neugier könnte leicht einen oder den andern Ihrer Bekannten zu Ihnen führen. Es wäre nicht gut, wenn sie das Porträt da hängen sähen.«

Seydelmann war am Schlusse dieser Rede wieder zum Bewußtsein seiner Stellung gekommen und verabschiedete sich mit gewohnter Gemessenheit.

 

Andreas blieb vernichtet zurück.

Ja, der Rat hatte recht: das Unglück war geschehen! Wer vermöchte der Skandalsucht ihren Wahn zu benehmen? Ohnmächtig steht die Wahrheit der Lüge gegenüber und die reinste Tugend dem blödesten Verdacht.

Ruhe denn. – Gleichmut – Standhaftigkeit! und dann: »Entfernen Sie das Bild.«

Andreas nahm es von der Wand und betrachtete noch einmal diese edlen und anmutigen Züge. Wie so oft versenkte er sich wieder in den geliebten Anblick … Da schrak er plötzlich zusammen. O Gott! Schritte … Schritte, die sich seiner Türe nähern … Wenn jemand käme und fände ihn – das Bild in den Händen … Mit dem Unverstand des Schreckens stürzt er auf die Türe zu und schiebt den Riegel vor. Gleich darauf besinnt er sich: er hätte nichts Ungeschickteres tun können. Draußen steckt der Schlüssel und verrät dem Nahenden seine Anwesenheit.

Nie, niemals war es einem seiner Kollegen eingefallen, ihn zu besuchen, jetzt kommen sie, von Neugier getrieben …

Er stand und lauschte. Draußen war wieder alles still geworden; die Schritte verhallten auf der Dachstiege. Gerettet – für dieses Mal!

Aber die Furcht vor einem Überfall wird sich wiederholen, Andreas ist nicht mehr sicher in seinen vier Wänden, nicht mehr zu Hause in seinem Daheim, seitdem die Bosheit und der Vorwitz dieses arme Stübchen belauern und, was darin vorgeht, roh entstellt hinausschreien in die Welt.

Nein, seine entweihte Behausung ist kein Aufenthalt mehr für das Bild der von ihm verehrten Frau. Der Entschluß ist gefaßt – kein Zögern also!

Fest, mit beiden Händen, ergriff er den Rahmen und brach ihn entzwei. Das Glas zertrümmerte in tausend Stücke, zerschnitt ihm die Hände; er achtete dessen nicht, schürte das Feuer im Ofen und warf die Reste des Bildes hinein.

Die Nacht hindurch wandelte er auf und ab in seinem Zimmer. Er wartete auf Müdigkeit, er sehnte sich nach Erschöpfung. Wenn er keine Kraft mehr zur Aufregung besitzt, dann kommt die Ruhe von selbst, dann wird es leicht sein, gleichgültig zu scheinen, dann mögen sie im Büro spötteln, soviel sie wollen.

All sein Blut hat sich zum Herzen gedrängt, dort liegt und lastet es, unbeweglich, schwer … O das regt sich nicht, das steigt nicht in die Wangen!

Es schlägt Mitternacht, schlägt ein Uhr.

Die Nacht vergeht zu schnell, die Müdigkeit hat nicht Zeit, zu kommen. Andreas fühlt sich so wach wie am hellen Mittag.

Zwei Uhr!

Die Lampe flackert auf und erlischt. Dem unsteten Wanderer in der Dachstube fährt es durch den Sinn, daß er sie nie mehr entzünden, daß sie nie mehr seiner stillen Arbeit am Schreibtische leuchten wird. – Der Dichter ist tot, seine Zelle steht leer. –

Drei Uhr!… Wie die Tage wachsen! Ein fahler Lichtschein dämmert schon am Himmel …

Könnte Andreas nur müde werden! Aber er ist rüstig, sein Schritt wird immer rascher, immer leichter, er meint zu schweben. Und was er alles sieht! Der kleine Ziegler schreitet an seiner Seite, schmiegt sich an ihn und sagt: »Wir wollen ja zusammen in die Berge – wann denn – wann gehen wir?«

»Bald, mein Junge, bald, mein lieber Junge!«

Andreas legt die Hand auf die blonden Locken des Knaben, der ihn anlächelt mit freudestrahlendem Gesicht. Jetzt wendet er sich – geht – geht fort –

»O bleibe, Kind« – Torheit das!… Er liegt ja draußen auf dem Friedhof, Andreas war selbst dabei, als man ihn begrub, und hat sich nur eingebildet … Aber dort – das kann nicht Täuschung sein! dort wo das Bild Mathildens gehangen, dort bewegt sich etwas – die Mauer ist geöffnet – eine Lichtgestalt tritt hervor …

»Um Gottes willen, Sie, Frau Gräfin – -? Was denken Sie? Hinweg! Wenn man Sie hier träfe …«

Nein – wahrhaftig, Andreas muß über seine eigenen Phantasien lachen. Wen hat er für die Gräfin gehalten? – Es ist zu toll – den jungen Fanghund des Zollrevisors, den dieser vorgestern so unbarmherzig züchtigte, weil er sich erdreistete, den Herrn Finanzrat anzuknurren, was sich denn doch nicht schickt, nicht schickt – nicht schickt!

Andreas wiederholte die zwei Worte unzähligemal in allen Arten, tröstend, belehrend, verweisend, indem er den Hund streichelte, bis sich dieser – sonderbar genug – in eine Katze verwandelte, die ihn anglotzte mit Augen aus grünem Feuer. Dann sprach er sie vor sich hin, stiller, lauter, singend, klagend: »Nicht schickt! nicht schickt!«

Dabei erfaßte ihn ein Wirbelsturm und drehte ihn im Kreise, bis ihn schwindelte und er niederzusinken meinte – aber nicht sank. Seine Muskeln schienen Stahl geworden, er fühlte sich stark, fühlte alles Leben in sich erhöht, fühlte sich von einer Kraft beseelt, nicht zu bewältigen, nicht zu verbrauchen …

Fünf Uhr!

In einer Stunde geht die Sonne auf. Andreas tritt an das Fenster. Eine Spatzenfamilie macht sich lustig auf dem Dach gegenüber; der Vater ist voll Mutwillen, die respektable Mutter muß ihre Jungen gegen seine Neckereien in Schutz nehmen. – Aus dem Schornstein wirbelt Rauch empor, Andreas vertieft sich in die Betrachtung seines braungrauen Qualms, der langsam hingleitet über die Firste, sich immer mehr ausbreitet, immer durchsichtiger wird und endlich wie ein zerrissenes Gewebe davonflattert in die Lüfte.

Jetzt pocht es mit derber Faust an die Türe, und draußen ruft eine rauhe Stimme: »O je, was wär denn das? Herr Muth, Sie haben vergessen, Ihre Stiefel herauszustellen. Und das Wasserweib ist auch da.«

 

Die beiden dienenden Geister haben ihres Amtes gewaltet. Andreas ist wieder allein.

Er badet den Kopf und die blutigen Hände in frischem Wasser, er kleidet sich mit äußerster Sorgfalt an. Kein Stäubchen duldet er auf seinem Rocke, knüpft seine Krawatte wie ein eitler Pedant, wählt seine besten Handschuhe. Alles an ihm soll beweisen, daß er unbefangen ist, daß ihn nichts abzieht von den kleinen Alltagssorgen, daß er Zeit hat und Stimmung, sich um Nebensächliches zu bekümmern.

Dann tritt er seine Wanderung an … Nur noch umwenden muß er sich auf der Schwelle und einen fast zärtlichen Blick auf den Raum werfen, in dem der größte Teil seines Lebens verfloß – der beste. Andreas gedenkt der Stunden seines beglückenden Schaffens. O hätte er sich begnügt! hätte er, was hier geboren ward, auch hier sterben lassen, in dem Schutze und Frieden seines Daheim!

Er eilt die Treppe hinab.

Eine Stunde später kommt zufällig die Hausfrau an seine Türe und schreit auf: »O Wunder! Herr Muth hat vergessen, den Zimmerschlüssel abzuziehen. Das ist nicht geschehen, seit er sich hier eingemietet hat.«

Mit fieberhafter Hast legt indessen Andreas den Weg nach seinem Büro zurück. Seine Aufregung hat sich nicht beschwichtigt, doch traut er sich zu, ihrer Herr zu bleiben.

Siehe da! er kommt doch nicht so früh, als er meinte. Dort, zwanzig Schritte vor ihm, biegt schon der Sekretär um die Ecke der Seitengasse, in der er wohnt. Eine Minute früher, und Andreas hätte ihn eingeholt, hätte mit ihm eintreten können. Das ist nun leider versäumt. Schade!… Wie gut hätte es sich gemacht, wenn er früher ausgegangen wäre, wenn er jetzt nicht allein eintreten und Spießruten laufen müßte an den anderen vorbei.

Er steht am Tor und wünscht dem Portier einen guten Morgen; der dankt und wendet sich ab. Andreas sieht aus seiner großen, pelzverbrämten Rocktasche das magistrale »St« der Staatszeitung ragen.

Im Hofe herrscht schon geschäftiges Treiben. Mein Gott, wie spät ist es denn?… Alle schon da und er der letzte! – Er tritt in das Büro, grüßt auf gut Glück nach rechts und links, ohne jemanden anzusehen, und setzt sich an sein Pult und schreibt und rechnet.

Zwei Beamte in seiner Nähe flüstern miteinander, es ist gewiß nur seine Einbildung, daß sie dabei nach ihm hinschielen. Er tut jedenfalls, als bemerke er’s nicht. Eine Weile geht das so fort, jetzt aber bleibt ihm doch nichts übrig, als herauszutreten aus seinem Schweigen. Da ist eine Verordnung erschienen, die neue Bestimmungen enthält über den Zolltarif von Warenproben nach den amerikanischen Ländern. Die muß er einsehen oder zu arbeiten aufhören oder Irrtum auf Irrtum häufen. Er nimmt alle seine Kaltblütigkeit zusammen, erhebt den Kopf und eine heisere Stimme, deren Klang ihn selbst befremdet, so mühsam ringt sie sich aus seiner Kehle – und zu seinem Nachbarn gewendet, stößt er die Worte hervor: »Den letzten Zolltarif, Herr Pfeiffer – darf ich Sie bitten?«

Herr Pfeiffer steht eben im Begriffe, eine große Prise konfiszierten Schnupftabaks in seine kleine Nase zu befördern, und liebt es nicht, bei der Operation beobachtet oder gestört zu werden. Er tut, als hätte er Muths Anfrage überhört, und dieser ist gezwungen, sie zu wiederholen. Herr Pfeiffer hält das Taschentuch mit beiden Händen wie einen Vorhang vor sein Gesicht bis an die Augen und zwinkert so den Fragenden an. »Zolltarif?« erwidert er endlich – »dort, Herr Munk hat ihn.«

Herr Munk sitzt an seinem Pulte, mitten im Büro. Bis dahin also heißt es schreiten, von dem Platz am Fenster aus, an dem Andreas arbeitet. Er steht auf, macht einige Schritte, ein leises Gewisper geht von Pult zu Pult. Kanzlist Schmidel, ein junger Mann mit strotzendem Lockengebäude und rosenrotem Antlitz, auf dem beständig, wie angeleimt, der Ausdruck dummer Freude liegt, vertritt Andreas den Weg. Er hält einen Bleistift in der Hand, legt die Spitze desselben an die Lippen und spricht:

»Herr Muth.«

»Was wünschen Sie?«

Schmidel verneigt sich: »Dürft ich wohl fragen – wie befindet sich heut die Gräfin Auwald?«

Andreas erbebt, aber er hält sich gut, zuckt die Achseln und geht weiter; ruhig weiter, obwohl die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet ist. Er fühlt es, er sieht es durch die zu Boden gesenkten Lider. Alle starren ihn an. Da ist keiner, der die Barmherzigkeit hat, den Blick abzuwenden.

Je näher Andreas Herrn Munk kommt, desto tiefer versenkt der sich in das Studium der neuen Verordnung. Jetzt ist Andreas am Ziele, jetzt bittet er: »Wollen Sie die Güte haben, mir dieses Blatt einen Augenblick …«

Er hält inne. Der junge Kollege drückt, statt zu antworten, die Stirne in seine Hände und diese auf den Tisch. Seine ganze Gestalt wird von konvulsivischen Bewegungen erschüttert, deren er vergeblich Herr zu werden strebt.

»Was haben Sie? Was ist Ihnen?« fragt Andreas und vergißt seiner eigenen Qual über dem Anblick des Jünglings, der sich auf seinem Stuhle wie in Schmerzen windet.

»Was ist ihm?« fragt Andreas und blickt angstvoll um sich.

»Nichts!« platzt Munks Nachbar heraus, und alle lachen; der mit leisem Gekicher, jener gellend, unbezwinglich hallt es durch den weiten Raum, prallt zurück von den Wänden, von der Decke und schlägt wie Hagel um das Haupt des unglücklichen Andreas.

»Ach, die Gräfin von Auwald!«

»Sie Glückspilz!«

»Wenn man sich das vorstellt – Herr Muth und die Frau Gräfin!«

»Es ist eine Ehre für das ganze Büro!« rufen sie einer um den andern, und bei jeder neuen Bemerkung erschallt neues Gelächter.

Andreas blickt sprachlos vor Zorn im Kreise umher, stürzt plötzlich auf den Kollegen zu, der durch seine Frage das Signal zu dem tollen Lustigkeitsausbruch gegeben hatte, und packt ihn bei den Schultern: »Bube!« schreit er ganz außer sich. Der kleine Mann schüttelt den kräftigen Jüngling, daß dem die Zähne klappern. »Bube! Bube!« wiederholt Andreas und ist im Begriffe, den blondgelockten Schmidel unter das Pult zu schleudern.

Einige Beamte befreien diesen zwar aus den Händen Muths, aber er bebt vor Furcht, und dabei hört er nicht auf zu schwören, das lasse er sich nicht gefallen, und das stecke er nicht ein!

»Sie werden Abbitte tun!« dekretiert Munk.

»Unter keiner Bedingung!« erklärt Andreas. Da wird die Tür aufgerissen, und der Sekretär tritt ein. Er übersieht die Situation mit einem Blicke, spricht rasch und leise einige Worte zu den älteren Beamten, die ihm halb lachend, halb grollend Platz machen.

»Herr Muth!« ruft er von weitem. »Der Herr Finanzrat will Sie sprechen.« Er tritt an Andreas’ Seite, nimmt seinen Arm und führt ihn fort. Auf der Treppe sagt er zu ihm: »Wir hofften, Sie würden sich würdiger benehmen.«

»Die Kerle haben es zu arg getrieben!« erwidert Andreas ohne eine Spur von Beschämung oder Reue.

Der Sekretär blickt ihn von der Seite an und denkt: Ist dies Andreas Muth? Man könnt es fast bezweifeln. Seine weichen Züge sind über Nacht steinern geworden. Ein schlimmes Zeichen, wenn das Gesicht eines Menschen sich so plötzlich verändert.

Jetzt waren die beiden an der Schwelle des Empfangszimmers Seydelmanns angelangt.

»Fassung«, sprach der Sekretär, »Ihnen steht eine große Überraschung bevor.«

Sie traten ein.

Seydelmann war nicht allein. Neben ihm saß ein Mann in mittleren Jahren, von feinem und einnehmendem Wesen.

»Hier, Euer Exzellenz«, sagte der Finanzrat, »ist Herr Muth.«

»Seine Exzellenz, Herr Graf von Auwald«, flüsterte der Sekretär Andreas zu. Dieser hatte bisher finster zu Boden geblickt und fuhr nun wie vom Blitze getroffen zusammen. Zuviel, zuviel stürmte heute auf ihn ein, allen diesen Gemütsbewegungen war er nicht gewachsen.

Auwald erhob sich. Ein mitleidiges Lächeln umspielte seinen Mund, verwandelte sich aber, je länger sein Auge auf der gramgebeugten Gestalt vor ihm ruhte, in den Ausdruck wehmütiger Teilnahme.

»Ich höre soeben«, sagte er, »welch ein übergroßes Gewicht Sie, Herr Muth, auf die Scherze legen, in denen sich gestern einer unserer Feuilletonisten ergangen hat. Sind solche Kindereien es denn wert, einem tüchtigen Manne wie Sie auch nur eine Stunde zu vergällen?«

Bei dem milden Klang der Stimme Auwalds erbebte der Poet wie der frosterstarrte Baum beim ersten Hauch der Frühlingsluft. Er wagte es, den Blick zu dem Sprechenden zu erheben, und verwandte ihn dann nicht mehr von seinem männlich-schönen, ruhigen Angesichte.

»Die Vernünftigen und Gerechten«, fuhr Auwald fort, »werden uns deshalb nicht geringer achten, weil wir von der Mißgunst angegriffen wurden, und was die anderen betrifft, die müssen uns dankbar sein, denn wir haben ihnen die Freude verschafft, die sie am besten zu empfinden verstehen – freilich die ärmste und kläglichste von allen: die Schadenfreude.«

»Sehr gut, vortrefflich!« rief der Rat aus, und der Sekretär murmelte etwas von »besonderen und allgemeinen Standpunkten«, das zwar nicht verständlich, aber zustimmend klang.

»Die einzige Person«, begann Auwald von neuem, »die sich durch jene versuchte Beleidigung verletzt fühlen könnte, hat ihr keine Bedeutung beigelegt. Sie glaubt eben nicht, daß der wohlerworbene Ruf einer braven Frau, ehe man sich’s versieht, durch einen literarischen Taschenspieler eskamotiert werden kann.«

Die Blicke des Poeten hingen an Auwalds Lippen, als ob jedes Wort, das sie sagten, ihm Heil und Erlösung bedeute. Gerührt von der auflebenden Hoffnung, die sich in seinen verstörten Zügen aussprach, streckte ihm der Graf die Hand entgegen.

»Empor!« rief er treuherzig, »empor das Haupt! Was an uns spurlos vorüberging, soll Ihnen das Herz nicht schwer machen. Lassen Sie sich aufrichten! Sie haben um meinetwillen gelitten. Ihr Schauspiel wäre nie so herb beurteilt worden, wenn ich nicht für den Autor gegolten hätte. Erlauben Sie mir, das Mißgeschick, das ich über Sie heraufbeschworen habe, gutzumachen, soweit es in meinen Kräften steht. Der Herr Finanzrat wird Ihnen mitteilen, in welcher Weise ich es zu versuchen wünsche. Nehmen Sie meinen Antrag an, den zu vermitteln er so gütig sein will. – Ich verehre«, setzte Auwald mit Wärme hinzu, »den edlen Geist, die reine Seele, die aus Ihrem Werke zu mir gesprochen haben. Wir müssen Freunde werden … Nun, so lassen Sie mich doch ein Wort der Einwilligung hören – ich kenne noch nicht den Klang Ihrer Stimme.«

So gedrängt, versuchte Andreas zu reden. Während Auwald sprach, während seine frische Weise befreiend und wohltuend auf ihn wirkte, dachte er: – Jawohl! Du bist ein Mann! Aufgewachsen in der bewegten Welt, danach angetan, dein Haupt hoch zu tragen im Gedränge. Du hast gelebt, gekämpft, Stürme erfahren und bestanden, bist verwundet und bist geheilt worden … Ich bin nicht stark wie du. Die Streiche, die dir kaum die Haut geritzt haben, haben mich das Blut meines Herzens gekostet. Ich bin gebrochen und nicht mehr aufzurichten, doch habe Dank, daß du’s versuchtest – –

»Haben Sie Dank!« sagte er laut. Tränen zitterten in seinen Augen.

»Halt!« rief Auwald, »danken dürfen Sie mir nicht. Nebst der Freude, Sie zu gewinnen, empfinde ich ja bei dieser Gelegenheit die ganz besondere Befriedigung, beweisen zu können, daß manchmal sogar die böse Absicht einen guten Zweck fördern kann!«

Damit empfahl sich der Graf, von Seydelmann bis zur Tür begleitet.

Wie im Traume vernahm nun Andreas die Mitteilung des Finanzrates, daß Auwald gekommen war, um bei ihm Erkundigungen über den Beamten einzuziehen, den ein Journalartikel in so seltsame Verbindung mit seiner Gattin brachte. Er freute sich, Andreas eröffnen zu können, daß der Graf, sobald er erfuhr, daß Muth und der Verfasser des »Marc Aurel« ein und dieselbe Person sei, sich sofort auf das schmeichelhafteste über ihn geäußert und erklärt habe, es sei sein innigster Wunsch, ihm die Möglichkeit zu verschaffen, den Dienst aufzugeben, der ihm nicht zusagen könne, und sich einer für ihn passenderen Beschäftigung zu widmen. Zu dem Ende biete er ihm die Stelle eines Bibliothekars auf einem seiner Schlösser in Steiermark an. Dort, in herrlicher Gegend, in milder Luft, könne er ausschließlich seinen Lieblingsstudien leben, einsam, wenn er wolle, gesellig, wenn es ihm beliebe.

»Sie nehmen natürlich an«, schloß der Rat, »sind jetzt ein unabhängiger, gutsituierter Mann, brauchen übrigens deshalb dem Staate nichts zu schenken. Ich will auf Ihre Pensionierung antragen. Gehen Sie nach Hause, setzen Sie Ihr Gesuch um Versetzung in den Ruhestand auf und legen Sie es mir morgen zur Einbegleitung vor.«

Andreas hörte dies alles schweigend und mit unbegreiflicher Gleichgültigkeit an. Gläsern und ausdruckslos ruhte sein Blick auf der Stelle, die Auwald eben verlassen hatte. Mehrmals hielt der Rat während seiner Rede inne und fragte: »Hören Sie? verstehen Sie?« und jedesmal antwortete Andreas mit einem leisen Ja, das ebensogut für ein Nein gelten konnte.

Einige Minuten später sah ihn der Portier, den Hut tief in die Stirn gedrückt, totenblaß, aus dem Hause stürzen und eine seiner Wohnung entgegengesetzte Richtung einschlagen.