Bozena Kapitel 8

15.

Jahr um Jahr verging. Röschen wuchs heran, körperlich und geistig gar seltsam ausstaffiert – mit Regulas abgelegten Kleidern, mit Mansuets wunderlichem Wissenskrame. Die ärmste Genossin eines reichen Hauses, besaß sie nichts zu eigen; als Kind auch nicht ein Spielzeug, später keine von all den kleinen Herrlichkeiten, die, so wertlos und so wert gehalten, ein Mädchenzimmer schmücken und ein Mädchenherz erfreuen.

Mansuet sparte wie ein Hamster: «Für ihre Zukunft.» Jetzt, meinte er, brauche sie nichts. Und Bozena gab ihm von ganzem Herzen recht. «Man tut ihr nichts Gutes. Sie soll sich nur gewöhnen zu entbehren.» Aber Röschen entbehrte nichts, weil sie niemals etwas besessen hatte und weil ihr jede Gelegenheit zum Vergleiche mit andern fehlte. Sie hatte nur eine Sehnsucht und auch diese halb unbewußt: die Sehnsucht nach mehr Luft, mehr Sonnenschein, als sie im düstern Hause genoß.

Bozena fand nie Zeit, sie spazieren zu führen, und Mansuet konnte sich nachgerade nicht mehr entschließen, seine Stube zu verlassen. Er wurde sehr alt und etwas geschwätzig, und wiederholte täglich dieselben Späße. Das Fräulein konnte nicht im Seidenkleide vorüberrauschen, ohne daß er sang: «Das Schiff streicht durch die Wellen: Fidolin! Fidolin!» – Schimmelreiter nicht über den Platz schreiten, ohne daß Mansuet deklamierte: «Guter Mond, du gehst so stille» usw.

Der Sekretär hingegen blühte wie ein Jüngling. Er war unbeschreiblich glücklich mit seiner Kathi und sang ihr Lob vor jedem, der es hören, und vor jedem, der es nicht hören wollte.

Fräulein Regula veränderte sich wenig; nur die Haut ihres Gesichtes wurde etwas gespannter, nur ihre Zähne wurden noch etwas länger. Wenn auch die Zahl ihrer Jahre zunahm, die Zahl ihrer Verehrer nahm nicht ab, denn der Reichtum, besonders wenn er in stetem Wachsen begriffen ist, erhält immer jung.

Die Stadt Weinberg hatte indessen teilgenommen an den Segnungen des aufblühenden Verkehrs. Seitdem ein stattlicher Bahnhof sich dicht vor den Anlagen erhob, seitdem der Eisenstrang die Stadt im Halbbogen umkreiste, seitdem Telegraphendrähte Nachrichten aus allen Richtungen der Windrose über die Köpfe der guten Weinberger hinübertrugen, war ein gewaltiger Andrang von fremden Zuzüglern entstanden, von unternehmenden Leuten, die ihr Glück versuchen wollten in der im Aufschwunge begriffenen Stadt. Neue Häuser wuchsen wie Pilze aus dem Boden, Regula hatte drei bauen lassen und im Gemeinderat wurde der Beschluß gefaßt, die Gasse, in der sie sich – weiß und glatt wie ungeheure Bogen Papiers – erhoben: Heißensteingasse zu nennen.

Sooft Regula an diesen ihren Schöpfungen vorbeiging, tat es ihr jedesmal leid, daß die Pietät ihr verbot, in einer derselben ihren Wohnsitz aufzuschlagen. Wie stimmten die scharfen Ecken, die geraden Stiegen, die getünchten Gänge dieser Bauwerke mit ihrem Geschmacke überein! Im alten Hause hatte sie sich gefürchtet von Kindheit an. Es knisterte so seltsam in seinem Holzgetäfel, es war immer etwas laut in den Dielen, in den Decken. – Als hätten die grauen Wände von dem Leben der Menschen, dessen jahrhundertelange Zeugen sie waren, einiges in sich gesogen, vernahm man darin jene geheimnisvollen Stimmen des Leblosen, welche die bang lauschende Seele mit leisem Grauen erfüllen.

Aber wie gern sie es auch getan hätte, Regula verließ das Haus ihrer Väter doch nicht; die Leute hätten sie vielleicht deshalb tadeln, sie für frivol oder pietätlos halten können.

Übrigens, was dereinst geschieht, kann niemand wissen; vorläufig ist sie entschlossen, aus dem Familienhause erst zu scheiden – als verheiratete Frau. Daß der Augenblick, in dem sie eine solche werden sollte, sehr nahe bevorstehe, versichern der Direktor und der Sekretär auf das bestimmteste. Dem Grafen Ronald liefe, wie man zu sagen pflegt, das Wasser bereits in den Mund, erklärte der erste, er wisse nicht mehr wo aus noch ein; die größte Wohltat würde ihm der erweisen, der ihn aufmerksam machte, wie nah die schönste Rettung liegt. Schimmelreiter fragte ihn, ob er sich nicht selbst dieses Verdienst erwerben wolle? …

Aber der Direktor bemerkte mit Feinheit, einen solchen Eingriff in ihre Rechte dürfte ihm die Freifrau von Waffenau übelnehmen.

Der Verkehr zwischen Regula und jener vielbeschäftigten Dame war nicht besonders lebhaft. Man sah einander zweimal im Jahre. Im Frühling machte das Fräulein einen Besuch in Halluschka, im Spätsommer erwiderte ihn die Baronin. Da kam sie mit ihrem Manne und mit zweien ihrer Söhne – sie hatte deren sechs – nach Weinberg. Alljährlich wurden nämlich ein paar andere dieser Jünglinge auf das Gymnasium geführt, um dort ihre Maturitätsprüfung zu machen. Sie fielen regelmäßig durch. Die Freifrau sagte: «Ei, ei, welche Schande!»

Der Freiherr sagte: «Zum Gelehrten muß man halt geboren sein –», die Weinberger wiederholten ihren alten Witz, der Baron Waffenau sei mit vier Pferden nach Weinberg gekommen und mit zwei Eseln abgefahren – und alles war gut.

Die Stunden, die der Vater mit seinen Söhnen in dem Tempel der Wissenschaften zubrachte, benützte die Mutter, um ihre Vorräte an Zucker und Kaffee einzukaufen und einen Besuch bei Regula abzustatten. Die Baronin war eine mittelgroße Frau mit feinen Zügen, mit dunklen, immer noch feurigen Augen und Leberflecken auf dem Gesichte; eine unvergleichliche Hausfrau und Gattin, und eine schwache Mutter. Sie war einst sehr schön gewesen, hatte aber keinen Wert darauf gelegt. Die Sorgen für ihren eigenen Herd nahmen sie völlig in Anspruch; fremdes Elend fand, soweit ihre beschränkten Mittel es erlaubten, bei ihr Hilfe, aber kein Mitleid, nie war über ihre Lippen ein anderes Trostwort gekommen als: «Es ist einmal so», und – je nachdem es paßte: «Sie sind selbst schuld», oder «Wer kann dafür?» Gar nicht zu begreifen, ja völlig unnatürlich schien es ihr, daß eine Frau sich für anderes lebhaft interessieren könne, als für ihren Mann, ihre Kinder und ihren Haushalt. Sogar ihren Eltern hatte sie sich allmählich entfremdet. Von Rondsperg sprach sie nur, um zu sagen, daß sich dort alles wohl befinde. Wenn Regula sich die Bemerkung erlaubte, sie habe gehört, «Frau Gräfin Mutter» seien unwohl gewesen, antwortete sie: «Meine Mutter hat eben wieder einen ihrer gewöhnlichen Anfälle von Schwäche gehabt. Das hat nichts zu bedeuten.»

Und im stillen dachte sie. «Was kümmert’s dich, neugierige alte Jungfer!»

Einige Tage nach dem Gespräche zwischen Schimmelreiter und dem Direktor kam die Baronin, diesmal zweispännig und allein beim «Grünen Baum» angefahren. Sie ließ dort ihre Equipage einstellen, trug dem Kutscher auf, sich nicht zu betrinken, die Pferde gut zu versorgen und für drei Uhr nachmittags alles zur Abfahrt bereit zu halten. Sodann begab sie sich zu Fuße nach dem Heißensteinschen Hause.

Als sie bei dem Fräulein eintrat, befand sich die Baronin in großer Aufregung, und gab sich keine Mühe, sie zu verbergen.

Sie wisse wohl längst, sagte sie gleich nach den ersten Begrüßen zu Regula, und es sei ja ein öffentliches Geheimnis, daß die pekuniären Verhältnisse ihrer Eltern nichts weniger als glänzend sind. Dennoch habe die Mitteilung, die Ronald ihr gestern gemacht, sie traurig überrascht –: Rondsperg muß verkauft werden, und zwar so bald als möglich, es gibt kein Mittel, der Familie das Gut zu erhalten.

Regula neigte ihr Haupt und sprach: «Das ist ja schrecklich.»

«Wohl!» rief die Baronin, und ihre Stimme verriet eine tiefe Erschütterung –» besonders wenn man an unsere alten Eltern denkt … Aber – was ist zu tun? Sie glauben mir, liebe Regula, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht gekommen bin, Ihnen vorzuklagen.»

Regula versicherte, sie sei davon überzeugt, und die Baronin fuhr fort: «Sondern vielmehr, um Ihnen einen Vorschlag zu machen, zu dem die Lage der Dinge meinen Bruder zwingt: Wollen Sie Rondsperg kaufen, liebe Regula?»

Das Gesicht des Fräuleins leuchtete auf im Triumph glücklich erfüllter Erwartung, und die Baronin beeilte sich hinzuzusetzen: «Nämlich – unter einer Bedingung!»

Hastig fiel ihr Regula ins Wort und meinte, bevor von Bedingungen die Rede sein könne, müßte man ihr Zeit lassen, den so unerwarteten Antrag in reifliche Erwägung zu ziehen. Noch wisse sie nicht, ob sie überhaupt imstande sei, darauf einzugehen.

«Ei!» dachte die Baronin, «willst du uns zappeln lassen – willst du uns in der Kühlwanne halten, mein Schatz?» und sagte mit einem scharfen Blicke und mit ganz verändertem Tone: «Das versteht sich von selbst, einen solchen Entschluß faßt man nicht von heut auf morgen. Und jetzt sagen Sie mir – wo kaufen Sie Ihren Kaffee? Ich war mit meinem letzten Gold-Java äußerst unzufrieden!»

Die Baronin erwähnte der Angelegenheit, die sie nach Weinberg geführt hatte, mit keinem Worte mehr, aber Regula kam darauf zurück. Dies geschah auf dem Wege zum Gasthofe, wohin sie die Baronin begleitete. Beide Damen traten nun aus ihrer Reserve und verständigten sich bald so weit, daß die Baronin sagen konnte, ihr Bruder werde in den nächsten Tagen kommen, um mit Regula zu sprechen. Das Fräulein erwiderte, es werde sie freuen, obwohl sie «eigentlich» Herrenbesuche nicht empfange. Die Freifrau blieb voll Verwunderung stehen und wollte in ihrer Aufrichtigkeit schon ausrufen: «Tun Sie’s getrost!» Aber sie besann sich; Regulas Miene und affektierte Befangenheit machten einen befremdenden Eindruck auf sie. Wie ein Blitz durchzuckte sie der Gedanke: Die Weinhändlerin hält sich für gefährlich! – und forschend betrachtete sie das gelbe Fräulein … Ihr Reichtum hat vielleicht doch schon einen oder den andern in Versuchung geführt. Ja, ja, Geld beherrscht die Welt. Wäre sie nur nicht gar so reizlos – die einfachste Lösung all der Verlegenheiten läge nahe. Der arme Ronald darf im Grunde weniger Ansprüche machen als sie, und ein Ertrinkender greift sogar nach einer – Regula.

Schweigend erreichte man das Tor des Gasthofes. Der Wagen der Baronin war bereits angespannt, sie bezahlte ihre Rechnung, wechselte einige Worte mit dem Wirte und wandte sich Abschied nehmend zu Regula, der sie beide Hände entgegenstreckte. Das Fräulein legte die Fingerspitzen hinein: die leichte, aber nicht erlernbare Kunst, einem Menschen warm und herzlich die Hand zu drücken, verstand sie nicht.

«Montag also kommt Ronald», sprach die Baronin. Helle Tränen standen ihr in den Augen, als sie davonfuhr. Seit der Todeskrankheit ihres ältesten Sohnes hatte sie nicht mehr geweint. «Armer Ronald!» seufzte sie «das Elend, nicht das deine – das trügest du – aber das Elend deiner Eltern, oder – diese Frau! – Armer Ronald – welche Wahl!»

Ihr schwesterliches Herz, das lange geschlafen hatte, war plötzlich erwacht.

*

Die Zeit, die so vieles vollbringt, hatte dem Professor Bauer im Hause Regulas die Stellung eines Hausfreundes gesichert, das heißt, er brauchte sich nicht mehr immer mißhandeln zu lassen, er durfte manchmal selbst mißhandeln. Die schüchternen Tage kamen bei ihm seltener, um so häufiger die melancholischen und die rabiaten. Er quälte Regula oft mit seiner Eifersucht. Sie jedoch hatte sich an seine bärbeißige Anbetung gewöhnt und hätte sie nicht mehr entbehren mögen. Es ist doch sehr schmeichelhaft, einen Menschen nach Willkür froh oder traurig zu machen, sein Herz stellen zu können wie eine Uhr, zu wissen: diese Anhänglichkeit ist wie ein gutes Gewehr, sie versagt nie.

Der Professor schmollte, zürnte, verlor tausendmal die Geduld, aber er fand sie immer wieder, denn er liebte und war treu. Zur Verzweiflung brachte ihn Regula, wenn sie ihm ihre Freundschaft anbot und sagte, sie wolle leben und sterben wie ihre Ideale: die Königinnen Elisabeth von England und Christine von Schweden. Der Professor schüttelte grimmig sein Haupt und erinnerte an die Grafen Essex und Monaldeschi. Das Fräulein wurde ernstlich böse und erklärte diese beiden Herren für Lügen der Geschichte. Hierauf entbrannte regelmäßig ein heißer Kampf; Ludwig Bauer schleppte alle möglichen Geschichtswerke herbei, die Zeugnis für die in Frage gestellten Existenzen ablegen sollten. Regula wies die Zumutung von sich, dergleichen zu lesen; man schied voll gegenseitigen Unwillens, und es war vorgekommen, daß Professor Bauer sich durch volle drei Tage im alten Hause nicht blicken ließ, wegen der Grafen Essex und Monaldeschi.

Als er von dem bevorstehenden Besuche des Grafen Ronald hörte, geriet er in große Unruhe.

Er fragte so lange: «Was will er? Was hat er hier zu suchen?» bis Regula abweisend sprach: «Vous m’ennuyez, cher Professeur!»

Die Vorbereitungen, die zu dem Empfange des seltenen Gastes getroffen wurden, schmerzten den täglichen auf das tiefste. Er ging, wie er pflegte, wenn ihm das Herz gar zu schwer war, zu Bozena und sprach: «Ich bitte Sie – was fällt ihr ein? Jetzt wird das Silbergeschirr auf der Kredenz aufgestellt … Eben bin ich dem Hausknecht begegnet, der Teppiche aus dem Keller herauftrug … Und die Überzüge werden von den Kronleuchtern herabgenommen … Hat man je dergleichen gesehen? … Was soll das alles heißen, sagen Sie mir um Gottes willen?!»

Regula wußte sehr gut, daß der Professor bei Bozena über sie klagen ging, aber das kümmerte sie gar nicht, obwohl es ihr sonst schrecklich war, wenn auch nur eine Grille etwas anderes zirpte als ihr Lob. Sie war überzeugt, diese Klagen spricht die Liebe, und die Verschwiegenheit hört sie an; sie sterben innerhalb der vier Mauern der Stube Bozenas. Bei der ist ihre Herrin in guten Händen, niemals wird die Dankbarkeit dieses Weibes gegen sie erlöschen. Bozena würde sich lieber die Zunge abbeißen, als ein Wort des Tadels gegen sie aussprechen, eher zu Grunde gehen, als nicken, wenn jemand ein ungünstiges Urteil über sie fällt: Regula hatte ihre Verläßlichkeit hundertmal erprobt.

*

Der Tag, an dem Graf Ronald in Weinberg eintreffen sollte, erschien, und Fräulein «von» Heißenstein, wie die Höflichkeit ihrer Mitbürger sie nannte, empfing zur festgesetzten Stunde ihren Gast im roten Salon.

«Sehr willkommen, Graf Rondsperg», sprach sie, und verfertigte eine ihrer vortrefflichen Verbeugungen, durch welche sie Ehrfurcht vor dem Begrüßten und Selbstgefühl, gemildert durch mädchenhafte Bescheidenheit, auszudrücken wußte.

«Wie schön er geworden ist!» dachte sie dabei fast bestürzt, und lud ihn mit einer steifen Bewegung zum Sitzen ein.

In der Tat, er hatte sich in den Jahren völliger männlicher Reife gar herrlich entwickelt. Noch lag der Hauch der Jugend auf seinem Angesichte, aber aus seinem ganzen Wesen sprach energische Entschlossenheit und die Ruhe selbstbewußter Kraft.

Vollkommene Unbefangenheit vermag in vielen Fällen auch die erfahrenste Weltläufigkeit zu ersetzen. Unbeirrt durch Regulas Zierereien, verstand es der einfache Ronald, das Gespräch allmählich auf das zu lenken, was ihm so wichtig und so schmerzlich war: auf die Ursachen, die ihn zwangen, sich seines Gutes zu entäußern. Sodann setzte er dem Fräulein die Vor- und Nachteile auseinander, die ihr aus der Erwerbung Rondspergs erwachsen würden. Er wies ihr nach, wie die für den Kauf verwendete Summe sich erst in Jahren, dann aber sicher und reichlich verzinsen würde.

Regula war ihm mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt.

«Erlauben Sie!» fiel sie ihm jetzt in das Wort, «wenn ich die beiden, nach Ihrer Angabe zur Entlastung und Instruierung Rondspergs erforderlichen Summen addiere, so ergibt sich der Preis, den Sie für das Gut fordern. Gesetzt, ich schlösse den Kauf, was bliebe dann Ihnen?»

«Nichts», sagte Ronald mit großer Gelassenheit, «aber glauben Sie nicht, daß ich Ihnen Rondsperg ohne Ursache so wohlfeil überließe. Meine Uneigennützigkeit ist eine scheinbare. Man muß dem allzu billigen Verkäufer mißtrauen, er beabsichtigt vielleicht, sich bezahlt zu machen durch – Unbezahlbares.»

Regula war im Begriffe auszurufen: «Zu rasch! Das kommt zu rasch!» als ein verstohlener Blick auf Ronald sie veranlaßte, diese Worte vorläufig noch zu unterdrücken. Auf seinen Lippen schwebte ein trauriges Lächeln, das sie befremdete. Sie schwieg und war in Verlegenheit, und hatte sonderbarerweise den Wunsch, noch verlegener werden zu müssen.

Ronald fuhr fort: «Sehen Sie, verehrtes Fräulein, als mir mein Vater vor sechs Jahren Rondsperg übergab, tat er’s im Glauben, damit ein unschätzbares Geschenk zu machen, und als ein solches nahm ich es an. Hätte ich dem alten Mann sagen sollen: ‹Du gibst, was dir kaum mehr gehört, dein Eigentum ist dir unter den Händen zerronnen. Dein Geschenk ist eine Last; bürde sie mir nicht auf.›»

«Konflikt der Pflichten» murmelte Regula und bemühte sich, einen tiefsinnigen Ausdruck anzunehmen.

«Auch Sie haben Ihren Vater geliebt!» rief Ronald treuherzig, «hätten Sie vermocht, ihn aus einer beglückenden Täuschung zu reißen? … Einen Greis, der in seinen Anschauungen befangen, die Wahrheit kaum mehr zu fassen vermöchte, oder wenn er es vermöchte, unter ihrer Wucht zusammenbräche?»

Regula schlug die Augen nieder und seufzte: «Was ist Wahrheit?»

Ronald hatte sich nicht unterbrechen lassen, er sprach weiter: «Nein, dacht ich, bleib in deinem Wahn und sinke sanft von ihm gewiegt in den Schoß der ewigen Ruhe, dem du so nahe stehst … Ich meinte es durchsetzen und ihm Rondsperg noch erhalten zu können bis an sein Ende – ich habe mich getäuscht. Es ist unmöglich, das Gut zu behaupten, ohne meine Schwestern, ohne Menschen, die uns Vertrauen geschenkt haben, zu benachteiligen … So suche ich denn einen Käufer für Rondsperg, und da ich einen edlen Käufer brauche, bin ich gekommen, um es Ihnen anzubieten.»

«Edel muß seine Gattin sein», sagte Regula bei sich. Sie zog ihr Taschentuch hervor, um nur irgend etwas zu tun; sie richtete ihren Blick auf das schön gestickte R. H. in der Ecke desselben, und sah im Geiste eine Grafenkrone sich neunzackig darüber erheben.

Ronald schien eine Antwort zu erwarten, ein Zeichen der Aufmunterung, und Regula fragte endlich: «Inwiefern brauchen Sie ihn edel?»

«Weil ich ihm zumute», erwiderte Ronald, «einen Besitz zu erwerben, den er nicht antreten dürfte, solange meine Eltern leben. Mein Vorschlag lautet: Sie kaufen Rondsperg, lassen aber den Kaufvertrag ein Geheimnis bleiben zwischen uns und den von uns bestellten Zeugen. Ich verwalte vorläufig den Besitz für Sie und übergebe Ihnen dereinst, statt des verwahrlosten, ein wohlgeordnetes Gut … Sie werden nicht viele Jahre warten … Ich würde Ihnen ein treuer Verweser sein – es gibt nichts, das ich nicht für die tun möchte, der meine Eltern es verdanken, daß sie sterben dürfen auf ihrer heimatlichen Scholle.»

Regula fragte sich, ob diese letzten Worte nicht beinahe ein Eheversprechen enthielten – wenn man es so nehmen wollte? Sie sann und sann. Ganz so, wie sie sich’s gedacht, war die Sache nicht gekommen. Eigentlich schlug ihr der Graf einen guten Handel vor – unter einer sentimentalen Bedingung. Das letztere tut er im Vertrauen auf den Ruf, den sie genießt. Regula überlegt, daß ihr Ruf von Edelmut und Seelengröße sie schon manchen Gulden gekostet hat. Diesmal trägt er etwas ein – viel sogar. Es ist ein Zukunftskauf, der ihr angeboten wird, aber ein glänzender. Sie kennt Rondsperg durch den Direktor so genau! … Nur ist ihr mit dem Kauf allein nicht gedient – als Gräfin von Rondsperg gedenkt sie dort zu residieren. Ronald sieht sie fragend an, wäre jetzt nicht der Moment gekommen, für sie – die Hand auszustrecken, für ihn – die großmütig zu ergreifen?

«Was sagen Sie, mein Fräulein?» spricht er.

«Ich sage – ja», lispelt sie und reicht ihm die zitternde Rechte.

Er erfaßt und drückt sie herzhaft: «Ich danke Ihnen!»

Eine Pause tritt ein. Sein Haupt neigt sich leise. Nun erhebt es sich wieder, und er fährt in entschlossenem Tone fort: «Die gemütliche Seite unserer Angelegenheit wäre abgetan; die geschäftliche kommt an die Reihe.»

«Schon abgetan?» ruft Regula unwillkürlich.

Ronald betrachtete sie erstaunt, und sie schoß bestürzte Blicke umher, denen es nur darum zu tun war, dem seinen auszuweichen. Wahrlich, sie haßte ihn grimmig in diesem Augenblick!

Sie fragt sich: Hat mich dieser Graf zum besten? Verbirgt sich Hohn hinter seiner scheinbaren Offenheit? Sie sinnt bereits auf Rache, aber vor allem muß ihre Verwirrung ihm verborgen werden. Regula lächelt sauersüß und spricht: «Das Geschäftliche bitte ich abzumachen mit meinem Rechtsfreunde, Doktor Wenzel.»

«Er ist auch der meine», erwiderte Ronald, «und wenn Sie erlauben, will ich sogleich zu ihm.»

«Sie träfen ihn vermutlich auf dem Wege hierher, er wird mit uns speisen.»

«Um so besser, wenn ich mich mit ihm in Ihrer Gegenwart besprechen darf. Und wann gedenken Sie nach Rondsperg zu kommen, mein Fräulein?»

«Was soll ich dort?»

«Es kennen lernen. Sie müssen Rondsperg gesehen haben, bevor Sie es kaufen; darauf bestehe ich.»

Er fuhr mit der Hand über seine Stirn und setzte nach kurzem Schweigen hinzu: «Sie werden über die Verwahrlosung erschrecken, die Ihnen dort auf Schritt und Tritt begegnet. Ich wäre nicht gern Zeuge Ihrer ersten unangenehmen Überraschung. Gestatten Sie mir, einige Tage nach Ihnen einzutreffen, um Sie in Ihrem neuen Eigentume zu begrüßen.»

Regula horchte auf. Alle ihre entschwundenen Hoffnungen kehrten im Fluge zurück. Vielleicht zögert er nur noch zu sprechen; er kann es ja kaum tun, ehe sie ihren künftigen Wohnsitz sieht und sich mit ihm zufrieden erklärt.

Und Regula flüstert schüchtern: «Unter welchem Vorwande könnte ich erscheinen?»

«Es bedarf keines Vorwandes. Sie werden eine Einladung von meiner Mutter erhalten. Meine Mutter kennt unsere Lage genau!» Ronald sprach rasch und mit einer Ergriffenheit, deren völlig Herr zu werden er nicht vermochte. «Obwohl sie sich nicht darüber ausgesprochen hat, weiß sie, weshalb ich hier bin. Was meinen Vater betrifft, so war es längst sein Wunsch, Sie nach Rondsperg zu bitten. Wir hielten ihn davon ab, meine Mutter und ich. Der Unterschied zwischen der Gastfreundschaft, die wir einst in Ihrem Hause genossen, und der, die wir Ihnen zu bieten haben, wäre zu groß gewesen.»

«O Herr Graf!» sprach Regula geschmeichelt, «kein Wort weiter. Ich komme, sobald die Frau Gräfin mich dazu auffordert. Es sei mir jedoch gestattet, meine kleine Nichte und eine Dienerin mitzubringen … denn so ganz allein – das könnte auffallen … Meinen Sie nicht auch?»

Sie war in heiterster Laune. Als ihre Tischgäste, Doktor Wenzel, Professor Bauer und der Direktor eintraten, hatten ihre Wangen ein belebtes Gelb, das den Professor entzückte. Niemals war sie ihm angenehmer und wie er sagte «bedeutender» erschienen, ihre Augen strahlten förmlich vor Klugheit und sie sprach gescheite Sachen. Oh, wie haßte er den Reichtum, der sie unabhängig und zugleich für so viele begehrenswert machte! Er hätte ihre Häuser verbrennen, in ihren Geldschrank einbrechen und seinen Inhalt in alle Winde streuen mögen. Er war überzeugt, daß sie füreinander geboren waren, und daß nichts zwischen ihnen stand, als dieser abscheuliche Reichtum. Wenn Regula zuzeiten gnädig sagte: «Ja, mein Freund, ich ermesse die Tiefe der Neigung, die Sie mir weihen», wähnte er sich dem Inbegriff aller Seligkeiten näher. Ludwig Bauer glich der Kohle, die sich in einen Eisblock verliebte, und meinte, der weine vor innerer Rührung, weil ihre Nähe ihn tauen machte.

Das Diner fiel vortrefflich aus. Der Tisch war tadellos gedeckt, ein Bedienter in einfacher, gar nicht geschmackloser Livree servierte behend und geräuschlos die feinen Gerichte, die milden und feurigen Weine. «Echter Heißensteiner!» rief der Direktor nach jedem Trunke begeistert aus.

Die Herren machten der Mahlzeit alle Ehre – den Professor ausgenommen, der sich sonst eines guten Appetits erfreute, aber heute nicht essen konnte. Er verschlang nur Ronald – nämlich mit den Augen. Ihm schwante Böses.

Und Ronald dachte: «Dieser Mann der Wissenschaft scheint sehr aufgeregt; er ist gewiß im Begriffe, eine Entdeckung zu machen.»

Der Professor jedoch machte keine andere Entdeckung, als die immer neue seiner Liebe zu Regula.

Bozena Kapitel 9

16.

Die Eisenbahnfahrt dauerte nur wenige Stunden. Schon um zwölf Uhr mittags waren die Reisenden auf der Station angelangt, wo der Wagen aus Rondsperg ihrer wartete – eine grüne Kalesche auf Schneckenfedern, mit schmalem Kutschbock, der in der Luft zu schweben schien. Freundlich grinsend begrüßte der Kutscher die Damen und hob sie in den Wagen. Mit Hilfe zweier Volontärs, die ihre Dienste angeboten hatten, band er sodann den Koffer des Fräuleins und die Reisetasche ihres Gefolges auf das Trittbrett fest und schwang sich auf seinen luftigen Sitz. Die Volontärs forderten eine unverschämte Entlohnung für ihre Mühewaltung, Regula machte ein saures Gesicht, murmelte etwas von «idyllischen Zuständen», bezahlte, und die Equipage setzte sich in eine halb wiegende, halb schaukelnde Bewegung, die Röschen entzückte. Trotz der Abmahnungen ihrer Tante stand sie auf, kniete auf dem Rücksitz des Wagens nieder, lehnte sich an den Kutschbock und begann ein eifriges Gespräch mit dem Rosselenker. Er war ein alter Mensch mit krummem Rücken, trug einen weitläufigen Rock aus grobem grauem Tuch und auf dem Kopf einen hohen Zylinder, den er trotz des schönen Wetters unter den Schutz eines Überzugs aus Wachsleinwand gestellt hatte, dessen Bändchen ihm gemütlich um die Nase baumelten.

Regula hatte sich anfangs sehr unwirsch über die Hitze geäußert, sich aber doch nicht entschließen können, den grünen Gazeschleier zu lüften, unter dem sie beinahe erstickte. Zuletzt kam sie in so üble Laune, daß sie gar nicht mehr sprach, den Fächer dicht vor das Gesicht hielt und mit geschlossenen Augen sich in die Ecke des Wagens drückte, während Bozena, wie eine japanische Zofe, einen großen Sonnenschirm über dem Haupte der Herrin ausgespannt hielt.

Röschen schwatzte indessen eifrig mit dem Kutscher weiter. Den Gegenstand ihres Gespräches bildeten die zwei Braunen, die in bequem zottelndem Trab das Gefährt hügelauf, hügelab zogen. Sie waren beide tief eingesattelt und hatten lange, abstehende Ohren, die sie unaufhörlich bewegten. Ihre Namen waren Kocka und Myska (Katze und Maus) und Florian hatte sie gewartet von ihrem ersten Lebenstage an bis zu dem ehrwürdigen Matronenalter, in dem sie jetzt standen. Er erzählte seiner aufmerksamen Zuhörerin, sie seien Schwestern, die eine sechzehn Jahre – Röschen rief: «Gerade wie ich!» – die andere siebzehn Jahre alt, und beide besäßen erwachsene Kinder. Als so klug schilderte er seine Zöglinge, daß man wohl begriff, warum er es für überflüssig hielt, ihnen irgendwelche Leitung oder Ermahnung angedeihen zu lassen. «Die spinnen so fort», sagte er, «wenn d’rauf ankommt, ganze Tog, hoben Weg in die Füß‘!» Lustig tanzten die Zügel auf den Kruppen der Braunen, als hätten sie nur den Zweck, ihnen die Fliegen zu verscheuchen. Wenn Myska, was regelmäßig geschah, sooft es bergab ging, stolperte, rief Florian mit geheuchelter Verwunderung: «Oho?!»

Röschen meinte, die Fahrt habe kaum begonnen, als sie sich schon ihrem Ende nahte. Man war am Ausgange eines Wäldchens aus Laub- und Nadelholz angelangt. Florian richtete sich so gerade auf, als die Beschaffenheit seines Rückens es erlaubte, deutete mit der Peitsche auf ein großes, viereckiges Gebäude, das inmitten der Felder vor einem langgestreckten Dorfe lag, und sprach, die Brust von Stolz geschwellt, das Haupt auf die Seite geneigt, über die Achsel zu Röschen: «Rondsperg!»

Nun wurde ein schmaler Feldweg eingeschlagen, der sich so wunderlich krümmte und wand, daß es schien, als führe er statt in die Nähe des Reiseziels weitab von ihm. Kocka und Myska wußten das aber besser. Sie stießen einander mit den Köpfen an und ließen ein gedämpftes Wiehern vernehmen, ohne Übermut, aber voll Zufriedenheit. Jedes Kind mußte verstehen, daß sie sagten: «Wir sind zu Hause!»

Jetzt fuhr der Wagen über eine Hutweide, auf der einige Kühe ihr Futter suchten, aber nicht fanden, wie ihre eingefallenen Flanken und ihre schlotternden Euter bewiesen. Florian rang mit sich selbst, ob er etwas oder nichts sagen sollte. Nach einer Weile entschloß er sich zu ersterem und erklärte in bedauerndem Tone: «Herrschaftliche Viech!» –

Doch rasch, als gälte es, den unliebsamen Eindruck, den seine Worte hervorgebracht haben mochten, schleunigst zu verwischen, streckte er den Arm mit der Peitsche aus, beschrieb einen Bogen, der den halben Horizont umfaßte, und sprach: «Herrschaftliche Grund!»

Ein unabsehbares Heer aufgescheuchter, mit den Flügeln schlagender Gänse begrüßte die Ankömmlinge mit lautem Geschnatter. Ohne sich davon beirren zu lassen, liefen die Braunen über eine breite, geländerlose Brücke, welche die Ufer eines seichten, sanft dahingleitenden Bächleins miteinander verband, und einer Allee von überständigen, meist gipfeldürren Pappeln zu, an deren Ende die Einfahrt zum Schlosse sichtbar wurde. Es war dies ein gemauerter Bogen zwischen zwei steinernen Säulen, auf denen verwitterte Unholde hockten, die unförmigen Tatzen auf Wappenschilder gestützt, deren Embleme nicht mehr sichtbar waren. Die Pferde lenkten ein, der Wagen rasselte über das Pflaster des Schloßhofes und hielt unter der Einfahrt. Nachdem Florian aus allen Kräften mit seiner Peitsche geschnalzt hatte, erschien ein Diener in einem flatternden Zwilchkittel, öffnete den Wagenschlag und half den Damen beim Aussteigen. Bozena machte sich, von Florian auf das bereitwilligste unterstützt, mit der Bagage zu schaffen, Regula und Röschen traten in die Halle. An beiden Seiten derselben befanden sich hohe verhangene Glastüren; eine Doppeltreppe, dem Eingange gegenüber, führte zu dem ersten Geschosse empor. Die Bildhauerarbeit an der Steinrampe und die Stukkaturen an den Wänden waren so oft übertüncht worden, daß es kaum mehr möglich war, ihre ursprünglichen zierlichen Formen zu erkennen.

Vom Korridor her kamen der Graf und die Gräfin herbei und blieben, ihre Gäste erwartend, auf dem obersten Treppenabsatze stehen. Regula beschleunigte ihre Schritte nicht; langsam stieg sie hinan, warf schräge Blicke um sich und dachte: «Ärmlich! … Ärmlich!» – Voll peinlicher Ungeduld folgte Röschen der Tante und flüsterte ihr zu: «Sie warten, die alten Leute warten!»

Endlich vor dem Paare angelangt, machte Regula eine tiefe Reverenz, der Graf erwiderte sie freundlich mit entblößtem Haupte, die Gräfin verbeugte sich mehrmals nacheinander; rasch, und wie es schien, unwillkürlich bewegten sich ihre Lippen. – Wehmütig ergriffen von dem Anblick der alten Frau, trat Röschen auf sie zu und küßte ihre Hand. Der Graf bot der Tante seinen Arm, die Gräfin nahm den der Nichte und so geleiteten sie ihre Gäste zu den ihnen bestimmten Gemächern. An der Schwelle blieb der Hausherr stehen und sprach: «Es ist alles zu Ihrem Empfange bereit, treten Sie ein, meine Damen.»

Die Hausfrau stammelte einige Worte der Entschuldigung und bat, vorlieb zu nehmen.

Unzufrieden unterbrach sie ihr Gemahl: «Ohne Komplimente! Nicht wahr, meine Damen? – Lassen Sie sich’s bei uns gefallen. In einer halben Stunde wird die Tischglocke das Zeichen zur Tafel geben. Auf Wiedersehen!»

Die Zimmer, welche die Ankömmlinge bezogen, waren groß und kahl: sie boten die Aussicht auf den Teich des Dorfes und auf einen Teil des verwilderten Parks. Ein kleineres, an das Röschens anstoßendes Zimmer war für Bozena bestimmt.

Regula ließ sich von dieser ankleiden und fragte spöttisch: «Wie gefällt es Ihnen hier? – Ein hübsches Haus? – Ein hübscher Park?»

Dabei rieb sie sich die Hände mit Mandelkleie und sagte zu sich selbst: «Das wird anders werden.»

Sie hatte ihre Toilette eben beendet, als eine heisere Glocke ertönte und derselbe alte Diener, der sie am Wagen begrüßt hatte, die Meldung brachte, die Suppe sei aufgetragen.

Der «Lakai» war jetzt mit einem Frack nach der Fasson des Rondsperger Schneiders angetan. Er hatte ein weißes Tuch um den Hals geschlungen und trug Gamaschen, aber keine Handschuhe. Die Wappenknöpfe, die auf seiner Kleidung angebracht waren, mochten wohl einmal versilbert gewesen sein.

Mit einer gewissen nachlässigen Grazie geleitete der Edle, sich von Zeit zu Zeit umsehend, ob sie ihm auch folgten, die Damen in den Salon. Der lag in der Mitte des Gartenflügels, hatte fünf Fenster und den Umfang einer mäßig großen Reitschule. An den Wänden ließen sich die Spuren einer äußerst feinen und zarten Malerei entdecken und Reste von Vergoldung an der weiß lackierten Einrichtung im Stile des Kaiserreichs. Über einem Kanapee, auf dem sechs Personen bequem Platz gefunden hätten, hing das Brustbild der Mutter des alten Grafen. Sie war als Hebe gemalt und nur mit einer roten Echarpe aus durchsichtigem Stoff bekleidet. Regula, deren Auge sich zufällig zuerst auf sie gerichtet hatte, dachte mit stillem Entsetzen: «Die Hebe wird verbrannt!» – Und doch war dieses Bild das einzige in dem ganzen Gemache, das nicht mit grausamer Beredsamkeit von Verfall sprach. Die blauen Seidenüberzüge der Möbel, so matt und glanzlos und so vielfach geflickt, die kunstvoll geschnitzten Trophäen über den Fenstern und Türen, die einst kostbare Vorhänge getragen hatten und jetzt so nutzlos in ihren eisernen Haken hingen, an den Pfeilern die halb erblindeten Spiegel, die traurig all diese verblichene Pracht widerstrahlten, wie deutlich bezeugten sie den Gegensatz, der hier herrschte zwischen einst und jetzt!

Am Eingange des Saales stand das greise Ehepaar, wie es im Treppenhause gestanden hatte. Er, zufrieden und selbstbewußt; sie, kummervoll und beschämt. In respektvoller Entfernung hielt sich ein großer alter Mann mit derben Zügen, das dichte graue Haar über der Stirn zu einer Schnecke zusammengedreht, einen goldenen Siegelring auf dem knochigen Zeigefinger. Er wurde von dem Hausherrn als «mein Burggraf» vorgestellt, und man begab sich zu Tische. Die Gräfin selbst servierte eine safrangelbe Suppe, und Peter trug mit großer Geschäftigkeit die gefüllten Teller umher und schien sich nichts daraus zu machen, wenn sein heißer Inhalt seine Daumen umspülte.

Ein bäurischer Gesell, Peters Gehilfe, den dieser seit langem mit wenig Geduld und wenig Glück in die Geheimnisse seines Berufes einzuführen suchte, schlich hinter ihm her. Peter kommandierte ihn mit Blicken, Winken und halblauten Anrufungen, wovon eine – sie lautete: «Du Roß!» – vom Grafen überhört wurde, die Gräfin in Schrecken versetzte, Regulas Indignation erweckte und den Burggrafen ergötzte.

Auf dem Tische stand prachtvolles Obst in Schalen aus Sevresporzellan und dazwischen ein Bronzeaufsatz; wunderbare Arbeit aus der besten Florentiner Zeit, ein Kunstwerk von hohem Werte.

Regula nahm sich vor, heute noch an Wenzel zu schreiben, im Kaufvertrage sei der Punkt, der von der Erwerbung des Schlosses samt Mobiliar handelt, ganz besonders zu betonen.

Und sie sprach: «Ein bewunderungswürdiger Tafelschmuck! – Die Figuren sind vorraffaelisch gedacht und könnten wohl von Donatello oder von Bruneleschi ausgeführt sein, wenn nicht gar von Ghiberti – ja, ich würde es sogar wagen, sie Benvenuto Cellini zuzuschreiben.»

«Sie sind Kennerin!» antwortete der Graf vergnügt. «Ich hatte keine Ahnung von dem Werte dieses Dings. Ein Schurke von Antiquar, der hier herumreist und die Schlösser unter dem Vorwande bestiehlt, er wolle Einkäufe machen für Sabatier in Paris, hat viele tausend Frank dafür geboten. Aber wir pflegen nicht Handel zu treiben, und ich gab Befehl, den Mann an die Luft zu setzen. Unter anderm –» sprach der Greis lebhaft zum Burggrafen: «Ist es geschehen? Ich vergaß bisher, danach zu fragen: Ist es geschehen?»

Der Burggraf verneigte sich und erwiderte: «Sozusagen, gräfliche Gnaden.»

Während die Suppe gegessen wurde, stand Peter mit verschränkten Armen am Kredenztische und warf unverschämte Blicke auf die beiden Fremden. Dabei dachte er: «Nun, ihr Weinhändlerinnen, gefällt es euch bei uns? Habt ihr in eurem Leben schon etwas dergleichen gesehen? … Was sagt ihr dazu?»

Dann servierte er weißes ausgekochtes Rindfleisch auf silberner Schüssel und Kohlrüben in einer blauen Kasserolle mit abgebrochenem Henkel.

Der Hausfrau standen Schweißtropfen auf der Stirn, der Hausherr war in der muntersten Laune, und als Peters Adlatus eine der Sevresschalen fallen ließ und diese zerbrach, sagte der Graf: «Es tut nichts; mein Peter repariert das wieder. Nicht wahr, Peter?»

Peter zog den Mund so schief, als wollte er sich in das Ohr beißen, und antwortete: «Jo.»

Der Graf sprach mehrmals von Ronald, doch geschah dies immer in gereiztem Tone. Er stellte selten eine Behauptung auf, ohne hinzuzufügen: «Mein Sohn ist andrer Meinung.» Er bedauerte, daß Ronald nicht anwesend sei, um den Damen die Honneurs von Rondsperg zu machen – aber: Mein Sohn ist niemals da, wo er sein sollte.»

«Er kommt morgen», warf die Gräfin ein.

Ohne Notiz von den Worten seiner Frau zu nehmen, erklärte der Greis seinen Gästen, warum er sie nicht begleiten könne bei den kleinen Ausflügen in die Umgebung, die er ihnen zu unternehmen riet. Er hatte die Grenzen des Parks seit dem Jahre achtundvierzig nicht mehr überschritten, denn er wollte sich nicht der Möglichkeit aussetzen, einem Bauern zu begegnen, der sich vielleicht besänne, ob er den Hut vor ihm abziehen solle, oder gar einem, der ein Gewehr auf dem Rücken trüge. «Wenn man zu alt ist, die Anarchie zu bekämpfen, muß man zum mindesten gegen sie protestieren. Mein Sohn freilich verträgt sich mit ihr», setzte er achselzuckend hinzu.

Nach dem Speisen begab man sich in den Garten. Der Kaffee wurde auf der Terrasse getrunken, die den Gartenflügel des Schlosses umgab, und zu der man durch die Halle und eine Salle à terrain gelangte, welche einst, ihrer kühlen Lage und freundlichen Aussicht wegen, als Sommerspeisesaal gedient hatte.

Von der Terrasse aus überblickte man den Teil des Parks, der allen Anforderungen, die Jean Jacques Rousseau an einen solchen stellt, auf das vollständigste entsprach. Ringsum dehnte sich das fruchtbare, wohlgepflegte Land. Da war jedes Fleckchen ausgenützt, jeder Wegrain mit Obstbäumen bepflanzt. Schwerlich hätte ein Maler sich hier seine «Motive» geholt; die charakterlosen Hügel in der Nähe, die grüne Bergesreihe, die den Horizont mit einer fast geraden Linie abschloß, konnten auf Schönheit keinen Anspruch machen, aber herzerfreuend wie die Großmut, wie die Dankbarkeit, war der Anblick des tausendfachen Segens, mit dem dieser Boden die Sorgfalt lohnte, die ihm zuteil wurde von Menschenhand.

Der Graf blieb neben Regula stehen und sah sie erwartungsvoll an. Sie schwieg und – schwieg.

Er sprach endlich mit Ungeduld: «Was sagen Sie zu meiner Aussicht?»

Regula liebte es nicht, interpelliert zu werden. Mit steifer Haltung und einem bösen Lächeln antwortete sie: «Wenn ich gleich Ihnen, Herr Graf, mit Polykrates sprechen dürfte: ‹Dies alles ist mir untertänig›, würde ich ohne Zweifel finden, daß Ihre Aussicht schön sei.»

Röschen hatte sich stumm neben die Gräfin gesetzt und versank ganz und gar in Bewunderung. – So große Weizenfelder, das ist ja eine Pracht! Und wie der Wind spielend darübergleitet und sanfte Wellen sich bilden, die jetzt wie Silber schimmern und jetzt wie Gold. Der Schatten einer Wolke kommt geflogen und spiegelt sich in diesem Meere von Ähren. Neben den gelben Feldern stehen grüne, dazwischen farbenprächtige Mohnblumenbeete, sie würden einen Garten schmücken! An der Ecke der Parkmauer, vor der Weg in das Dorf führt, erheben sich drei uralte Linden, ihre Zweige sind so dicht verschlungen, daß sie zusammen nur eine Krone bilden – eine Riesenkuppel über dem heiligen Johannes aus Stein, der sein graues Haupt zu dem Kreuz in seinem Arm demutvoll niederbeugt.

Die vom Acker heimkehrenden Weiber, mit schweren Grasbündeln auf dem Rücken, steigen, so müde sie sind, doch die Stufen des Standbildes hinan und küssen den halbverlöschten Namen Jesu auf seinem Sockel. Desgleichen tun die alten Bauern, und ihre aufgeklärteren Söhne entblößten zum mindesten das Haupt vor dem Schutzpatron des Dorfes. – Die Sonne neigt sich zum Untergange, immer einsamer wird es auf den Wegen, nur einzelne Nachzügler kommen noch langsam einhergeschritten. An ihnen vorbei galoppiert eine Schar kleiner Jungen mit nackten Beinen; sie reiten die Pferde von der Hutweide nach Hause unter Hurra und lautem Geschrei …

Röschen möchte mit ihnen jauchzen, so seelenvergnügt fühlt sie sich. Sie sieht die Augen der Gräfin mit dem Ausdruck so innigen, so mütterlichen Wohlgefallens auf sich gerichtet. Ach, könnte sie etwas tun für die arme alte Frau! … Aber sie kann nichts tun, als sich zu ihr neigen und sagen: «Wie schön ist es bei Ihnen!»

Die Greisin streichelt ihr sanft die Wange – der alte Herr blickt schalkhaft zu ihr hinüber und droht ihr mit dem Finger: «O – o diese Augen! Werden die noch Unheil genug in der Welt anrichten? … Sehen Sie mich nicht an, Fräulein von Fehse – sehen Sie mich nicht an!»

Bozena Kapitel 2

Die Revolution ging indessen unaufhaltsam ihren Gang. Pöbelunruhen in Wien, Bürgerkrieg in Ungarn, die Oktobertage, die Abreise der kaiserlichen Familie nach Olmütz, die Desertion der Tschechen aus dem Reichstage und – parallellaufend mit diesen Ereignissen: in Weinberg – Aufpflanzungen einer schwarzgelben Fahne auf dem Heißensteinschen Hause und Katzenmusik vor demselben; unfreiwillige Entfernungen einiger Bürger aus dem Honoratiorenzimmer im «Grünen Baum», weil die Herren erklärt hatten, die Slovaka-Lipa sei ein Klub von Spitzbuben; die Bildung einer slawogermanischen Partei contra den Weltbürger Schimmelreiter; die Entdeckung: Weinberg stehe auf tschechischem Boden, heiße eigentlich Winohrady, und es sei eine wahre Schande, daß seit Generationen die Landessprache daselbst nur mehr von Handwerkern und Dienstleuten gesprochen werde. Endlich die Entsendung einer Deputation an Weberlein, die ihn als Pan Tkadlecek ansprach, und ihn aufforderte, seinen böhmischen Ahnen zu Ehren diesen Namen, den sie gewiß geführt hätten, wieder anzunehmen.

Mit edlem Freimute ersuchte Mansuet die Herren, sich zum Teufel zu scheren. Er hatte andere Sorgen. Seine Seele, sein Herz, alle seine Gedanken befanden sich auf den Schlachtfeldern in Ungarn, und mit leidenschaftlichem Interesse verfolgte er die Nachrichten, die vom Kriegsschauplatze kamen, vor allen jedoch – die Schicksale des zweiten Ulanenregimentes. Er wußte, daß es an der Theiß im Feuer gestanden und große Verluste erlitten hatte, er erwartete mit Spannung, mit Todesangst die offiziellen Meldungen, die verhängisvollen Listen der Verwundeten und Toten. Als die Nachricht der Kapitulation bei Vilagos kam, grollte und jubelte er in einem Atem. Er liebte die Russen sehr, aber diesen Sieg gönnte er ihnen doch nicht. So breit hätten sich, meinte er, die zum Tanze geladenen Gäste nicht machen dürfen. Auf dem Platz des Hausherrn stellt sich kein anständiger convivus. Über die Meldung des Marschalls Paskiewitsch an seinen Kaiser: «Ungarn liegt zu Eurer Majestät Füßen!» kränkten sich zwei Menschen in Österreich: die «Hyäne von Brescia» und der Kommis Weberlein. Alles, was die andern dabei empfanden, kam im Vergleiche zu der Empfindung dieser beiden nicht in Betracht.

An einem schönen Augustnachmittage befanden sich Heißenstein und Mansuet allein im Kontor, als der Mann eintrat, der für den letzteren zur Zeit die wichtigste Person auf Erden war: der Briefträger.

Er hatte dem Chef mehrere Briefe zu übergeben, dem Kommis nur die Wiener Zeitung und ein zerknittertes und beschmutztes Schreiben, das Weberlein beiseite warf, um sich in das offizielle Journal zu versenken. Es bringt heute eine lange Reihe von Namen, die Namen der in sechs Schlachten Verwundeten und Gefallenen des kaiserlichen Heeres.

Mansuet überfliegt sie alle, aber er sieht nur einen. Der scheint ihm rot geschrieben mit jungem, frischem Blute, der leuchtet ihm entgegen, brennt ihm wie Feuer in die Augen, daß sie schmerzend übergehen, der Name ist: Wilhelm von Fehse …

Er sieht den vor sich, der ihn trug, den schlanken Ulanen mit dem Jünglingsgesicht. Er sieht ihn, Liebe und Leben atmend, auf seinem schwanenhalsigen, breitschulterigen Schwarzbraunen den Platz umkreisen … Und er sieht ihn daliegen bleich und kalt auf zerstampfter, leichenbedeckter Erde, unter den Hufen der über ihn hinwegjagenden Rosse, mit durchschossener Brust …

Mansuets Knie wanken, er wendet behutsam seinen Stuhl und sinkt auf ihn nieder, seinem Herrn den Rücken zukehrend.

Das Zeitungsblatt, das seiner Hand entglitten, das auf den Tisch gefallen ist, bedeckte er vorsichtig mit seinem Taschentuche. Dabei kommt ihm der Brief in die Hand, den er achtlos beiseite geworfen hatte. Er betrachtet ihn einen Augenblick – ein sonderbarer Umstand fällt ihm auf: der Brief trägt den Stempel der k. k. Feldpost. Mansuet eröffnet ihn – ein Blick auf das antiquierte Datum – die fremden Züge – die Unterschrift … O du gerechter Gott! sie lautete: Wilhelm von Fehse.

Weberlein vermag einen dumpfen Schmerzenslaut nicht zu unterdrücken, Heißenstein sieht über das Blatt, in dem er liest, zu ihm hinüber und fragt: «Was haben Sie?»

«Oh – nichts …» antwortet der Kommis und meint seinen Herrn beruhigt zu haben, und bemerkt nicht, daß dieser ihn beobachtet. Er liest:

«Geehrter Herr!

Ich zeige Ihnen, der Sie immer so teilnehmend gegen uns gewesen sind, im eigenen und im Namen meines Töchterchens, den am Zwölften des vorigen Monats erfolgten Tod meiner lieben Rosa an.»

Ein Schleier verdunkelte Mansuets Augen, in seinem Kopfe braust es, ihm war, als schwände ein Teil seines Bewußtseins; er hörte nicht, daß sich hinter ihm jemand erhob, er bemerkte nicht, daß eine Hand die Lehne seines Stuhles umklammerte. Er biß die Zähne übereinander und fuhr im Lesen fort:

«Sie ist in dem kleinen Badeort Rosenau, in Siebenbürgen, wohin ich sie bei Beginn des Frühjahres auf Anraten unseres Regimentsarztes brachte, gestorben. Ich mußte sie im Juni dort verlassen, als wir uns um Pest konzentrierten. Sie und mein Röschen blieben unter der Obhut Bozenas zurück, und durch diese habe ich im Feld die Nachricht des Todes meiner Frau erhalten. – Solange es anging, hielt Bozena meinen zerbröckelnden Haushalt mit kräftiger Hand zusammen. Sie ist jetzt die einzige Beschützerin meines Töchterchens, aber eine treue Beschützerin, und kehre ich aus dem Feldzuge heim, so werden wir drei uns weiterhelfen. In diesem Falle werde ich zu sorgen wissen für das kleine Wesen, an dem ich das Verbrechen gutzumachen habe, daß ich es in dieses Dasein rief. Sollte ich aber fallen, so empfehle ich Ihrer Fürsprache bei Ihrem Herrn das Kind und seine Pflegerin. Über zwei Gräber hinweg wird er doch nicht grollen. Ich wollte den Mann nicht wieder anrufen, aber ich habe schon mehrmals dem Tod ins Auge geblickt, harte Kämpfe stehen uns noch bevor, das weckt ernste Gedanken – und ich bitte für das Kind.

O Herr! Es ist Frevel und Wahnsinn, zu kränken, was man liebt, wie es Frevel und Wahnsinn ist, um jeden Preis besitzen zu wollen, was man liebt. Rosa war ebensowenig danach angetan, den Strapazen des Lebens, das ich ihr anzubieten hatte, wie dem nagenden Schmerz über die Unversöhnlichkeit ihres Vaters zu widerstehen. Er und ich, wir haben sie getötet. Sie brauchen das dem alten Manne nicht zu sagen, aber es ist die Wahrheit.»

«Es – ist – die Wahrheit!» schrie eine Stimme, deren Klang Mansuet mit Schaudern erkannte, und ein schwerer Körper stürzte zu Boden. Auf die Diele hingestreckt lag Heißenstein, mit dunkelrotem Gesichte, mit bläulichen Lippen, mit hervorgequollenen Augen. Er rang nach Worten, und nur unartikulierte Laute, nur ein klägliches Lallen drang aus seinem schmerzvoll verzogenen Munde.

Der eilends herbeigerufene Arzt konstatierte einen Schlaganfall. Nach einigen Tagen war der Kranke außer Lebensgefahr, er vermochte wieder zu sprechen, doch blieben seine Glieder gelähmt.

In der dritten Nacht, die Mansuet allein am Bette seines Herrn durchwachte, begann dieser plötzlich von seiner Tochter Rosa zu sprechen. Er erzählte dem Getreuen, anfangs stockend, dann hastig überstürzt, von dem Tage, an dem er, Wut und Verzweiflung im Herzen, den Ulanen nachgefahren war. Wie er sie in der Hauptstadt eingeholt und, von dem Obersten empfangen, diesem seine Klage vorgebracht habe. Der Oberst hörte ihn mit einer Gelassenheit an, die ihn entrüstete, ließ den Auditor rufen und ersuchte Heißenstein, diesem «die fatale Geschichte» gleichfalls mitzuteilen. Und der Kaufmann sah – oder glaubte zu sehen – wie seine beiden Zuhörer, während er sprach, einander lächelnd zublinzelten.

«Was befehlen Sie, daß nun geschehe?» fragte der Auditor – Heißenstein wußte nicht, ob ihn oder den Oberst.

Der letztere schien sich zu besinnen, und sagte dann nachlässig, zu dem Kläger gewendet: «Wollen Sie, daß der Leutnant Fehse unglücklich, daß ihm der Prozeß gemacht werde? Wollen Sie ihn auf die Festung bringen?»

«Das können Sie», fügte der Auditor ernsthaft hinzu.

«Freilich!» bestätigte der Oberst; «und Ihre Tochter nach Hause führen – triumphaliter.»

Ja, dieses Wort hatte er gebraucht, und spöttisch gebraucht. Heißenstein besann sich dessen ganz genau, jetzt noch, und jetzt noch durch die Tränen, in denen seine Augen schwammen, funkelte ingrimmiger Zorn.

Der Oberst fuhr fort: «Sie können das alles tun, aber glauben Sie mir: lassen Sie es bleiben. Gehen Sie zu Ihrer Tochter, sie soll, wie ich höre, bei der Frau des Regimentsarztes – einer sehr anständigen Person – untergebracht sein, und lesen Sie dem jungen Mädchen tüchtig den Text. Ich will indessen den Herrn Leutnant gehörig ‹verreißen›. Und dann, bin ich der Meinung, ziehen wir beide andere Saiten auf, halten das Maul und verheiraten die Leutchen in aller Stille. Schicken Sie die Kaution, ich komme um die Heiratsbewilligung ein. Sie kriegen einen prächtigen Kerl zum Schwiegersohn, und ich bekomme eine bildhübsche und steinreiche Frau Leutnant ins Regiment, wir können beide zufrieden sein.»

Wieder lächelte der Auditor, und Heißenstein war überzeugt, man habe ihn zum besten. Die reiche Weinhändlerstochter wurde als eine gute Beute angesehen, einem armen Leutnant, der von der Gage lebt, wohl zu gönnen. Abgekartet war alles zwischen diesen Leuten, und seine Tochter war vielleicht weniger ihr Opfer, als ihre Mitschuldige …

«Mansuet», sagte der alte Mann, «als ich nach Hause fuhr, meinte ich immer hinter mir her lachen zu hören, und ich dachte nicht mehr an Strafe für mein ungeratenes Kind, ich dachte Rache an ihm zu nehmen … Und doch», – er schluchzte leise und seine Stimme wurde immer schwächer – «hätte sie damals mein Erbarmen angefleht – hätte sie sich damals an mich gewendet – mein Schmerz war noch jung – mein Groll hatte sich mir noch nicht so in die Seele eingefressen, wie später … vielleicht hätte ich verziehen … Ich hoffe es von mir, Mansuet, daß ich verziehen hätte! …»

Der Kranke weinte bitterlich, und Weberlein trocknete ihm die Augen mit einem Tuche und sagte: «O ganz gewiß, lieber Herr, ganz gewiß!»

«Aber sie schrieb nicht», sprach Heißenstein, indem er tief aufseufzte. «Sie ließ mich in dem Glauben oder in dem Wahne, daß sie mit jenen Leuten einverstanden sei, die meiner spotteten.»

«Es hat niemand Ihrer gespottet», beschwichtigte Mansuet, «am wenigsten der Herr Oberst, so etwas kommt nicht vor bei einem braven Ulanen, Sie werden sich’s in der Aufregung nur eingebildet haben. Und was die Rosa betrifft, so meine ich immer, daß sie damals geschrieben hat. Bozena wenigstens berief sich in ihrem ersten Briefe auf ein Schreiben, das die junge Frau an Sie gerichtet hatte, gleich nach ihrer – gleich nach dem Unglück …»

«Nein, nein», sagte Heißenstein, «ich habe nichts bekommen: nicht ein einziges Wort. Ich wartete einen Tag – zwei Tage … Oh, sehnlich, Mansuet! … Dann war es aus. Der Advokat mußte ihr schreiben, daß sie enterbt und verstoßen sei. – Das wenige, das ihre Mutter hinterlassen hatte, schickte man ihr.»

Weberlein schüttelte ungläubig den Kopf: «Nur das? Sie irren … das hätte ja nicht einmal gereicht, die Leutnantskaution …»

«Es reichte auch nicht!» flüsterte Heißenstein.

«So mußten sie den armen Haushalt auf Schulden gründen. Grausam, grausam!» seufzte Mansuet, setzte sich auf einen Schemel neben Heißensteins Bett und verschränkte seine langen unruhigen Finger so fürchterlich fest, als wollte er sie brechen.

Eine Zeitlang schwiegen die beiden Greise. Endlich wurde es Tag. Mansuet stand auf, löschte die Lampe und beugte sich über seinen regungslos daliegenden Herrn. Der sah ihn fragend an: «Das Kind – nicht wahr? – Die elternlose Kleine –» sprach er.

«Freilich, Herr! An der wollen wir alles gutmachen!» rief Mansuet. «Ich bin jetzt ruhig über Sie, lieber Herr, und bitte um Urlaub. Ich will gehen, die Bozena aufsuchen und ihren Pflegling … wenn Sie es erlauben. In acht Tagen bin ich wieder da.»

«Gehen Sie, mein guter Mansuet – bringen Sie mir das Kind meiner Rosa», bat Heißenstein.

Weberlein küßte die Hand seines Gebieters und Frau Nannette trat ein.

Sie trug einen Schlafrock aus vergilbter Mousseline de laine und auf dem Kopf ein Häubchen mit meergrünen Bändern. «Ein fahler Anblick», dachte der Kommis.

«Frau», sagte Heißenstein zu seiner Gattin, die zärtlich nach seinem Befinden fragte, indem er nach Mansuet hinsah: «er will gehen, Bozena und Röschen abzuholen. – Du hast doch nichts dagegen?»

Nannette biß sich auf die Lippen und antwortete mit der Versicherung, sie wolle sogleich das Frühstück besorgen und freue sich, daß ihr Mann gut geschlafen habe, man sehe es an seinen frischen Augen. Mansuet meinte im stillen, dies sei eine kühne Behauptung, denn jene Augen waren eingesunken und ihre müden Lider halb geschlossen.

«Ich nehme gleich hier von Ihnen Abschied, meine Gnädigste», sprach Weberlein, «noch vor Mittag will ich fort.»

«Wozu die Eile?» erwiderte Nannette. «Wozu überhaupt …» Sie stockte – «Bozena findet ohne Sie ihren Weg.»

«Ich empfehle mich, meine Gnädigste!» sagte Mansuet mit vor Zorn bebender Stimme, und wie aus dem Rohr geschossen, flog er zur Tür hinaus.

Aber nachdem er seinen Koffer bereits aufgegeben und seinen Platz im Poststellwagen bezahlt hatte, trat er, den breitkrempigen Hut à la Wallenstein und einen außerordentlich großen Regenschirm in den Händen, ohne sich anmelden zu lassen, in Nannettens Gemach.

«Gnädigste!» sagte er, und jedes seiner Worte war scharf wie ein Rasiermesser, «ich hoffe in Bälde die Enkelin des Herrn einführen zu können in ihr väterliches Haus. Dann wird dieselbe in die Rechte ihrer Mutter eingesetzt werden. Durch Sie selbst, Gnädigste. Aus Ehrgefühl, um der Achtung Ihrer Mitbürger willen, um des Seelenfriedens Ihres Mannes willen, werden Sie es tun.»

Nannettens Nase, immer das erste und meistens das einzige, das in ihrem Gesicht errötete, brannte wie eine glühende Kohle.

«Ich werde tun, was meinem Gatten recht ist», sprach sie, «nicht mehr, nicht weniger.»

«Alles, was Sie tun, ist recht», rief Mansuet, «nämlich ihm», verbesserte (oder vielmehr verschlechterte) er sich und seine Sache.

«Was ich darf, wird geschehen.»

«Was Sie wollen, wird geschehen!»

«Wollen – dürfen – für mich, Herr Weberlein, eines und dasselbe.» Nannettens Busen hob sich, sie atmete schnell. «Ich bitte, mißverstehen Sie mich nicht. Mir liegt», sprach sie nachdrücklich, «an der Achtung der Menschen und an dem Seelenfrieden meines Gatten. Aber – die wohlgeratene und die ungeratene Tochter, es ist ein Unterschied. Ich sehe nicht ein, warum das Kind dafür belohnt werden soll, daß seine Mutter – davongelaufen ist.»

«O Frau Prinzipalin!» rief Mansuet zugleich beschwörend und drohend, «tun Sie Ihre Schuldigkeit!»

«Vor allem will ich meine Schuldigkeit tun gegen meine Tochter», erklärte Nannette. «Elternpflicht ist die erste Pflicht.»

Mansuet trat einige Schritte zurück.

«O Frau Prinzipalin!» wiederholte er und fuhr nach kurzer Pause mit einem wahrhaft teuflischen Lächeln fort: «Wenn ich bedenke, wie viele große Verbrechen und wie viele kleine Schändlichkeiten schon im Namen der Elternpflicht begangen wurden und täglich begangen werden, dann danke ich meinem Gott, daß die Nötigung zu solcher Pflichterfüllung niemals an mich herangetreten ist und daß ich sterben darf ohne Progenitur!»

Bozena Kapitel 16

19.

Am nächsten Tage, um zehn Uhr morgens, stand der alte Graf vor dem Spiegel und warf einen letzten Blick auf sein Ebenbild, das ihm daraus wohlgefällig entgegenlächelte. Die Gräfin hielt sich auf einige Schritte Entfernung und betrachtete ihn mit wehmütiger Freude.

Der Frack mit dem hohen Kragen und den Schwalbenschwänzen, den er trug, stammte aus den dreißiger Jahren und hätte besser in ein Museum als in eine Garderobe gepaßt. Nicht viel größerer Jugend durften sich das schwarze Beinkleid, die weiße Weste und Krawatte rühmen, die der Greis angetan hatte.

«Etwas gelblich meine Atours!» sagte er, indem er die Falten seiner Krawatte zurechtstrich, «aber es schadet nicht. Fräulein Heißenstein wird das als eine zarte Rücksicht ansehen – auf ihren Teint, den ich nicht in Schatten stellen will. Nun mein Amtszeichen!» rief er und trat vor seine Gemahlin hin. Die Gräfin steckte ihm ein Sträußchen mit winziger Masche in das Knopfloch des alten Fracks, aus dem ein farblos gewordenes Band des Leopoldordens hervorragte. Ihre Finger zitterten dabei, und fast wäre er ärgerlich geworden über ihre Ungeschicklichkeit. Doch er nahm sich zusammen, zog die Luft durch seine geschlossenen Zähne und sagte nur: «Kommt der Peter noch nicht?»

Er ging wieder an den Spiegel und glättete sein dichtes, wie Silber schimmerndes Haar.

Trotz der abgetragenen, ja ärmlichen Kleider, die seine abgemagerte Gestalt in scharfen Falten umschlotterten, hatte er ein gar adeliges Aussehen.

Seine alte Frau folgte ihm mit ihren Blicken, wie er so rasch und aufrecht, Ungeduld in jeder Miene, im Zimmer hin und her schritt. Sie dachte an die Zeiten zurück, da ihr dieser Mann als der höchste aller Menschen erschienen war, an das lange Leben, das sie an der Seite des einzig und ewig Geliebten – vertrauert. Sie dachte, wie sich am Ende doch alles habe ertragen lassen, weil er, wenn auch selbst oft lieblos, doch auf ihre Liebe immer vertraut hatte. In dieser Stunde aber flammte ihre ganze Seele in einer Empfindung des Dankes gegen ihn auf; ging er doch hin um die lieblichste Braut für seinen Sohn zu werben! Konnte, wenn er es tat, der Erfolg zweifelhaft sein? Das Glück, nach dem der bescheidene Ronald die Hand nicht auszustrecken wagt, sein Vater wird es ihm erringen. Und dann – dann hilft Gott weiter! denkt die fromme alte Frau.

Peter erschien und meldete: «Die Freile» ließe bitten.

Die Gräfin sagte: «Ich warte hier auf dich» – ihr Gemahl nickte beistimmend, ergriff seinen Hut und seine Handschuhe und trat mit wichtiger Miene seinen Weg an.

Regula war, als der Besuch des Grafen ihr angekündigt worden, mit einem Briefe an Bauer beschäftigt gewesen. Derselbe begann also:

«Sie wissen, lieber Freund, wie tief ich Houwald immer bewundert habe:

«Und Segen floß auf ihre Tritte,
Wie Himmelstau auf Blumen drauf.»

dasso – sollte mein Leben sein … Aber –

«Begrüßt der Mensch nicht weinend seine Welt?»  –

Gibt es etwas, das uns bestimmt, Bester – wenn nicht – die Verhältnisse? … Die lieben mich gewiß, die mich verstehen!! Verstehen Sie die Opfer, die man seinem besseren Selbst bringt? … Achten Sie mich!! … O Freund! – Bleiben Sie es! …»

Da meldete Peter seinen Herrn, und im Taumel ihres Triumphes wollte Regula mit den Worten schließen: Ich bin die Braut des Grafen Ronald von Rondsperg. Als sie aber: «Ich bin» niedergeschrieben hatte, legte sie die Feder hin. Abergläubische Besorgnisse hielten sie zurück von der Verkündigung einer noch nicht vollzogenen Tatsache.

Sie erhob sich von dem Sessel in der Fensternische, nahm Platz auf dem Kanapee, und gab sich der angenehmsten Erwartung hin. Ihr Herz hüpfte wie ein junges Lämmlein.

Als angehende Gräfin von Rondsperg wird sie also nach Weinberg, der getreuen Stadt, zurückkehren. Sie wird mit namenlosem Jubel empfangen werden, sie wird keine Neider haben; vielmehr wird sich in ihr jeder geehrt fühlen, und ein Fest wird es geben, als ob die gesamte Bevölkerung in den Grafenstand erhoben worden wäre. Sie nimmt sich vor, huldvoll und herablassend zu sein, und so leutselig, als ob sich nichts verändert hätte in ihrem Verhältnisse zu ihren Bekannten. Diese werden entzückt, und ihre Anbeter verliebter sein als je. Wenn sie in die Stadt gefahren kommt mit vier Pferden, feurig und schnaubend wie Drachen, werden die Hüte der Männer fliegen, und die Frauen werden knixen, und jeder wird fragen: «Haben Sie unsere Gräfin gesehen?» Einmal kommt es noch zu einer öffentlichen Ovation …

Da pocht es an der Tür. Sie ruft: «Herein!» Der Graf steht auf der Schwelle.

«O – Herr Graf», stammelte Regula sich erhebend, «in pontificalibus? … Was bedeutet …?»

Der Greis verneigt sich und weist schmunzelnd auf das Sträußchen in seinem Knopfloch.

«Beinahe wie ein Freiwerber», spricht das Fräulein leise, erschrickt aber sofort über diese unpassende Äußerung. Wirklich, sie weiß nicht mehr, was sie sagt, sie muß sich zusammennehmen.

Der alte Herr stellte sich in Positur, drückte die Absätze aneinander, hielt mit beiden an die Brust gepreßten Händen seinen Hut vor sich, neigte das Haupt und sprach mit heiterer Feierlichkeit: «Ich komme, Fräulein Heißenstein, im Namen meines Sohnes, um bei Ihnen, in aller Form und schuldigen Ehrfurcht, anzuhalten um die Hand ihrer Nichte, des Fräuleins Rosa von Fehse.»

Hölle und Tod, was ist das?! – Regula hatte sich lächelnd vorgebeugt, um die lieblichste Botschaft zu vernehmen, und erhielt einen Schlag ins Gesicht. Sie fuhr zusammen und trat keines Wortes mächtig, einen Schritt zurück.

Der Graf war kein Menschenkenner; er hielt ihr stummes Entsetzen für sprachlose Überraschung, und dachte nur: «Diese alte Jungfer sieht sogar in der Freude widerwärtig aus.» Er gönnte ihr einige Augenblicke, um sich zu erholen von dem unerwarteten Glück, das er ihr verkündigt hatte, und hub dann mit herzlicher Selbstzufriedenheit wieder an: «Nun, mein Fräulein? Wird es mir gestattet sein, meinem Sohne eine gute Botschaft zu bringen?»

In einem Tone, der ihn durch seinen gereizten und feindlichen Klang befremdete, erwiderte Regula: «Darf ich fragen, ob Sie als Bevollmächtigter Ihres Sohnes, mit seinem Wissen und Willen kommen, Herr Graf?»

Ohne sich zu besinnen, mit der größten Unbefangenheit, rief der Greis: «Jawohl, mein Fräulein! Und ich kann nicht glauben, daß es Sie in Erstaunen setzt. Ihrem Scharfsinn ist nicht entgangen, was mein guter Ronald so wenig zu verbergen vermag. Seine Liebe zu Fräulein Rosa.»

Regula stieß ein: «Oh!» hervor, das dem Greis trotz all seiner Zuversicht bedenklich erschien. Sollte die «Weinhändlerin» Ronalds Bewerbung um ihre Nichte doch nicht mit unbedingtem Entzücken aufnehmen?

Augenblicklich, beim ersten Zweifel empörte sich sein Stolz.

«Ich hätte nicht gedacht, mein Fräulein, so lange als Bittsteller vor Ihnen stehen zu müssen», sprach er.

Das Fräulein wies ihm einen Stuhl an und nahm Platz auf dem Kanapee. Sie hatte allmählich die Herrschaft über sich wiedererlangt, und sagte so ruhig sie konnte: «Ich gestehe Ihnen, Herr Graf, daß mich diese Bewerbung um die Hand eines Kindes befremdet.» Er wollte Einsprache tun, sie ließ ihn nicht zu Worte kommen, «und daß ich bisher noch nicht daran gedacht habe, Rosa zu verheiraten.»

«Um so mehr Grund, jetzt daran zu denken!» rief der Graf. «Die Gelegenheit, die sich bietet, ist nicht zu verschmähen. Einen brillanteren Mann als meinen Ronald können Sie für Ihre Nichte finden, aber keinen braveren. – Übrigens kommt es mir nicht zu, meinen Sohn zu loben.»

«Mir gegenüber», sprach Regula scharf und spöttisch, «hieße das wohl Eulen nach Athen tragen. Ich kenne seinen Wert.»

«Nun, dann zögern Sie nicht länger», sagte der Greis munter. «Legen Sie die Hände der jungen Leute ineinander, die nur gar zu gern sich in die Arme fallen möchten.»

«So?» hauchte Regula.

Nein! – Daß eine solche Schmach ihr widerfahren könne, hätte sie niemals für möglich gehalten. Man hat sie unter falschen Vorspielungen hierher gelockt und überfällt sie nun mit der Zumutung, ihre Ansprüche aufzugeben, zurückzutreten vor einer andern – und vor wem? Vor einem Geschöpf, das von ihrer Gnade lebt, das betteln ginge ohne sie!

Der Graf denkt: «Sie schweigt lange. Sie meint vermutlich, es sei anständig, nicht merken zu lassen, wie geehrt sie sich fühlt. Gönnen wir ihr dieses unschuldige Vergnügen!» Nach einer kleinen Weile hebt er wieder an: «Fassen Sie einen für uns günstigen Entschluß, verehrtes Fräulein! Tun Sie’s in einer Weise, die Ihrer würdig ist, und würdig des Rufes Ihrer Großmut und Freigebigkeit.»

«Freilich – auf diese war es abgesehen!» sagte Regula zu sich selbst. «Mein Geld wollt ihr, nicht mich.»

Ihr unruhig umherschweifender Blick fällt auf den Brief, den sie eben geschrieben hat, und wie ein Blitz durchzuckt es sie … Das ist’s – da liegt die Lösung. Geschehe, was wolle, strafe sich’s, wie’s mag – was liegt an der Zukunft? Der große Augenblick fordert sein Recht!

«Verständigen wir uns, Herr Graf», spricht Regula; «handelt es sich nur um meine Einwilligung zu der Verbindung der jungen Rosa mit Ihrem Sohne, oder erwarten Sie, daß meine ‹Großmut und Freigebigkeit› dieselbe ermögliche?»

«Mein Fräulein!» rief der Greis auffahrend.

Regula setzte mit erzwungener Gleichgültigkeit hinzu: «Wenn das letztere der Fall wäre, müßte ich Ihnen zu meinem Bedauern erklären, daß ich nichts für meine Nichte tun kann. Ich habe nähere Verpflichtungen, ich bin – verlobt.»

Er war unfähig, die unangenehme Überraschung, in die diese Nachricht ihn versetzte, zu verbergen, und hätte jedes Wort, mit dem er an die Freigebigkeit des Fräuleins appelliert hatte, mit einem Tropfen seines Herzblutes zurückerkaufen mögen.

«Ich wünsche Ihnen und Ihrem Herrn Bräutigam Glück!» sagte er sarkastisch lächelnd, «wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie mir die Erlaubnis geben wollten, auch meinem Sohne Glück wünschen zu dürfen – zu Ihrer Einwilligung …»

Regula unterbrach ihn: «Ich versage sie nicht, Herr Graf. Es kann mir nur lieb sein, meine Nichte in eine Familie treten zu sehen, in welcher auf irdische Güter ein so geringer Wert gelegt wird, denn diese – sind ihr nicht zuteil geworden.»

«Verlieren Sie darüber kein Wort, mein Fräulein!» rief der Graf. «Geldheiraten zu schließen war in unserm Hause niemals Brauch, und heute noch darf, trotz der Ungunst der Zeiten, der Eigentümer von Rondsperg eine Braut nach seinem Herzen wählen.»

Regula erbebte vom Wirbel bis zur Sohle. Der Gegner selbst hatte ihr den vergifteten Pfeil in die Hand gedrückt, den sie nur abzuschnellen brauchte, um tödlich zu treffen und sich zu befreien von dem lechzenden Durst nach Rache, der in ihrem Innern so qualvoll brannte und Befriedigung heischte. Eine Sekunde lang zögerte sie … Ihr Wort war verpfändet, aber ein Narr, der Betrügern Wort hält, Regula ist nicht gewillt, das Unrecht zu beschützen, sondern – es zu entlarven!

«Ihr Sohn ist nicht mehr Eigentümer von Rondsperg», sagte sie gepreßt und stammelnd: «Er hat es mir verkauft.»

Der alte Mann sprang auf, starrte sie an – stumm, verständnislos.

Regula erhob sich gleichfalls und wiederholte jetzt bestimmter, mit fester Stimme: «Er hat es mir verkauft. Rondsperg ist mein – seit gestern.»

Er taumelte zurück unter diesem Schlage – er war totenbleich, der Atem stockte in seiner Brust.

Erschrocken, aber nicht gerührt, betrachtete ihn Regula. «Fassung, Herr Graf», sprach sie kalt.

«So bin ich Ihr Gast? … In Rondsperg Ihr Gast?!» schrie der Greis, und schmerzlich verband sich die Heftigkeit des Zornes, der Entrüstung, der Beschämung, die in ihm rangen, mit dem Bewußtsein seiner Hilflosigkeit. Plötzlich raffte er alle Kraft zusammen, richtete sich auf und stürzte aus dem Zimmer.

Regula war von einem nervösen Zittern ergriffen worden, das ihre Glieder kläglich schüttelte. Es dauerte lange, bis sie vermochte, an den Tisch im Fenster zu treten und den begonnenen Satz: «Ich bin …» zu Ende zu schreiben. Er schloß jetzt anders, als sie es vor einer Weile im Sinne gehabt, und zwar: «Ich bin die Ihre. Regula Heißenstein.»

Sie rief Bozena und trug ihr auf, den Brief sofort durch einen Boten nach der Bahnhofstation zu befördern. Er konnte um fünf Uhr nachmittags in Bauers Händen sein.

«Frau Professor also? … Dies das Ende … Frau Professor Bauer!» Regula brach in unaufhaltsames Weinen aus.

Bozena Kapitel 17

Die Baronin von Waffenau erwartete an der Seite ihrer Mutter in banger Besorgnis den Erfolg der Unterredung des Grafen mit Regula. Als der Greis jetzt erschien, verriet ihr ein Blick auf sein gestörtes Gesicht, was geschehen war.

«Oh, die Schlange, sie hat uns verraten!» rief Thilde.

Diese Worte brachten den Grafen noch mehr außer sich.

«Sie euch – Ihr mich!» keuchte er; die Stimme versagte ihm, er stampfte heftig mit dem Fuße und brachte mühsam die Worte hervor: «Ronald – her – hierher.»

«Ich will um ihn schicken», sprach die Baronin in beruhigendem Tone. «Regen Sie sich nicht so auf, Papa. Was geschehen ist, ist geschehen, weil es mußte, weil es anders nicht möglich war.»

Zu ihrer Mutter sagte sie leise: «Verlieren Sie nicht den Mut, Mama, ich komme gleich wieder», und eilte, einen besorgten Blick auf die Eltern werfend, hinweg.

Der Greis hatte sich auf den Rohrsessel vor seinem Schreibtisch geworfen, die Gräfin trat zu ihm.

«Karl», sprach sie flehend und legte die Hand auf seine Schulter. Er bäumte sich auf, als ob der Verrat ihn berührt hätte, und schleuderte ihre Hand von sich.

«Du hast alles gewußt! Warst einverstanden mit dieser – Brut … Still!» fuhr er sie an, als sie antworten wollte, und die arme Frau wankte eingeschüchtert und bebend zu ihrem vorigen Platz zurück.

Wuchtige Schritte erdröhnten im Gange; der Burggraf erschien.

«Ah!» rief ihm sein Herr mit unheimlichem Gelächter entgegen, «wissen Sie schon? Rondsperg ist – verkauft, verkauft!»

Der Alte schlug schallend die Hände zusammen «Hatt ich mir’s doch gedacht!»

«Ja», fuhr der Graf fort, «jawohl! Meine Kinder verkaufen mir das Dach über dem Kopf, zum Dank dafür, daß ich es ihnen geschenkt habe. Ich lebe hier, in meinem Rondsperg, von einer Krämerin Gnaden – mache vor ihr die lächerliche Figur eines alten Narren, der in fremdem Hause den Herrn spielt. Aber was liegt daran? Die Schmach ihres Vaters wird meinen Kindern – bezahlt. Für Geld ist ja alles feil, das Vätererbe, das uns den Namen gegeben hat, die Gräber der Ahnen, – alles zu haben für Geld … Auf die Trommel damit! Die Millionärin kauft, und mein Sohn macht ein brillantes Geschäft.»

Die Baronin, die inzwischen zurückgekehrt war, trat unerschrocken auf ihren Vater zu. Sie trug ein riesiges Wirtschaftsbuch in den Armen, das sie vor ihn auf den Schreibtisch hinlegte.

«Es ist jetzt nicht mehr Zeit zu verhehlen und zu schonen, Papa. Die ganze Wahrheit wird Ihnen weniger weh tun als die halbe», sagte sie und schlug das Buch auf. «Öffnen Sie die Augen, seien Sie gerecht gegen den besten Sohn. Hier steht, in Zahlen ausgedrückt, die Geschichte seines langen, furchtlosen Kampfes. Sie können auch leicht sehen, was ihm bleibt bei dem brillanten Geschäfte, das er mit Fräulein Heißenstein abgeschlossen hat.»

Der Burggraf spannte hastig seine Brille auf die Nase und fiel wie ein Raubvogel über das Buch her.

Es war sein größter Verdruß, daß ihm konsequent der Einblick in Ronalds Buchführung verweigert worden war. Jetzt endlich lag der Gegenstand seiner Neugier vor ihm, jetzt konnte er sich und andere überzeugen, daß die Leitung der Rondspergschen Güter in einer Reihe von Mißgriffen bestanden hatte, seitdem sie ihm und seinem Freunde, dem Direktor, entzogen worden war. Er nahm auf einen Wink des Grafen Platz neben ihm, und die beiden begannen eifrigst zu rechnen und zu lesen. Der Graf, der seit Jahren nur noch in den Träumen seiner sanguinischen Einbildungen gelebt hatte, mutete plötzlich seinem Verstande eine gewaltige Anstrengung zu. Er rang seine Gemütsbewegung nieder und rief die schlummernden Kräfte seines Urteilsvermögens wach, um mit kaltem Blute beweisen zu können «So viel habe ich gegeben – und so wird’s mir gedankt!»

Blatt um Blatt wurde umgeschlagen. Von Zeit zu Zeit sprach der Graf: «Wie? – Der Acker nicht mit einbezogen?» – «Wie? Der Wald kommt gar nicht vor?» Und jedesmal erhob sich die Baronin und bewies aus dem Buche mit Scharfsinn und raschem Überblick: «An Zahlungsstatt angenommen von dem und dem.» «Versetzt für so und so viel.»

Wohl glühten ihr die Augen wie im Fieber, wohl war sie rot wie eine Mohnblume, doch blieb die innere Ruhe, die trotz aller äußeren Lebhaftigkeit sie niemals verließ, ihr auch jetzt treu.

Fast zwei Stunden vergingen, die Züge des Grafen wurden immer gespannter, ihr Ausdruck immer düsterer und kalter Schweiß trat auf seine Stirn.

Hingegen schien das Interesse des Burggrafen an dem Studium der Wirtschaftsrechnungen allmählich zu erlöschen. Er richtete sich unter verschiedenen «Ahs» und «Ohs» aus seiner gebückten Stellung auf, rieb seine lange Nase mit dem ringgeschmückten Zeigefinger und erhob sich endlich. Seine farblosen borstigen Haare, durch die er fortwährend wider den Strich gefahren war, standen jedes einzeln in die Höhe; er wandte sich zu der Baronin und sagte mit einer Mischung von Frechheit, Bosheit und Beschämung: «Das Papier ist geduldig.»

Der Baronin wallte einen Augenblick die Galle über: «Sie wissen recht gut –» begann sie mit zorniger Stimme, aber sie mäßigte sich sogleich, senkte den Blick auf die Häkelei, an der sie unermüdlich arbeitete, und murmelte: «Wer mit Ihnen streiten wollte, Tropf!»

Als sie nach einer Weile wieder emporsah, war der Platz, an dem der Burggraf gestanden hatte, leer. Der ländliche Intrigant hatte sich leise davongeschlichen.

Der Graf aber saß steif und stumm in seinen Sessel zurückgelehnt. Seine rechte Hand lag auf dem offenen Buche, die linke hing schlaff herab. Weder seine Frau noch seine Tochter wagten ihn anzusprechen. Dumpfe Stille herrschte im Gemache.

Da schlug es zwölf Uhr vom Kirchturm und das Mittagsglöcklein sandte seine hellen Töne durch das geöffnete Fenster herein, sie schienen zu sprechen: «Ruh aus, gequältes Menschenvolk! – Ein Augenblick der kühlen Rast am heißen Tage ist dir gegönnt.» Die Baronin legte ihre Hand an die brennende Stirn, die Gräfin betete leise. Jetzt: «O Himmel sei uns gnädig!» – Sachte war die Tür geöffnet worden, Ronald trat ein. Er sah seine Mutter und seine Schwester fragend an, bestürzt über den Ausdruck von Todesangst in ihren Zügen.

«Sie haben mich rufen lassen, Vater», sprach er.

Bei dem Laute seiner Stimme fuhr der Greis empor, schwankte, als hätte Schwindel ihn ergriffen. Seine Augen schlossen, seine Lippen bewegten sich: «Ronald», sagte er mit bebender, gebrochener Stimme. Er breitete die Arme nach seinem Sohne aus: «Ronald – verzeihe mir!»

*

Es war der Wunsch des Grafen, Rondsperg sogleich zu verlassen und sich nach Haluschka zu begeben, wo seine Tochter ihn und seine Frau einstweilen aufnehmen sollte. Mit Mühe brachte man ihn dahin, die Abreise auf den morgigen Tag zu verschieben, damit der Freiherr von Waffenau von der Ankunft seiner Schwiegereltern verständigt werden und Anstalten zu ihrer Aufnahme treffen könne. Ronald schickte sich an, sofort nach Haluschka zu fahren, um seinem Schwager die Lage der Dinge auseinanderzusetzen. Am folgenden Morgen wollte er wieder zurück sein. Die Baronin schrieb in seinem Auftrage an Regula und teilte ihr mit, daß Ronald am nächsten Tage, um zwölf Uhr mittags, zur förmlichen Übergabe von Rondsperg bereit sein werde.

Der Tag verging mit eifrigen Vorbereitungen zur Abfahrt; dem alten Herrn schien der Boden unter den Füßen zu brennen, die Gräfin beschäftigte sich mit dem Packen ihrer Habseligkeiten. Sie ging still und lautlos im Zimmer umher mit ihrem gewohnten Ausdruck geduldigen Sichfügens in das Unvermeidliche. Ihre Kammerjungfer saß in einem Lehnstuhl, seufzend unter der Last ihrer Gicht und ihres Fettes, und jammerte, daß sie sich der Gebieterin nicht nützlich machen konnte. Neben dem Koffer kniete Röschen, legte Stück für Stück hinein und benetze die Hand der Gräfin, die es ihr reichte, mit ihren Tränen. Die alte Frau versuchte nicht, sie zu trösten, aber wenn das Kind gar zu bitterlich weinte, strich sie ihr sanft über Haare und Wangen, und sagte mit ihrer ängstlichen und hilflosen Stimme: «Nur Mut, nur Mut! »

Regula hatte indessen den Brief der Baronin erhalten und einen zweiten Boten nach der Eisenbahnstation expediert. Er war der Träger eines Telegramms, das an Doktor Wenzel gerichtet war und denselben in Begleitung der Herren Weberlein und Schimmelreiter nach Rondsperg beschied. Die Anwesenheit des Advokaten hätte bei der Übergabe des Gutes vollkommen genügt, aber Regula empfand in diesem schwierigen Augenblick das Bedürfnis, sich mit ihren Getreuen zu umgeben. Sie wurde etwas ruhiger, als diese Vorkehrung getroffen war, doch nagte eine Empfindung an ihr, die sie bisher nicht gekannt hatte, die ihr immer als das größte aller Schrecknisse erschienen war, die Empfindung: es gibt Menschen, die mich nicht bewundern, die mich anklagen, mich vielleicht geringschätzen!

Sie überlegte die Motive ihrer Handlungsweise, rechtfertigte jedes, erschöpfte sich in Beweisen, daß sie das Notwendige, das Richtige getan – und dennoch war ihr die Brust wie zusammengeschnürt, und dennoch wollte der Druck nicht weichen, der beklemmend und schwer auf ihr lastete.

Eine gedämpfte Stimme, die sie leise ansprach, weckte sie aus ihrem Sinnen. Sie erhob den Kopf.

Neben ihr stand Bozena.

Ihre Lippen bebten, sie war totenblaß, leidenschaftliche, aber unterdrückte Erregung verriet sich in ihrem ganzen Wesen. «Die Herrschaften lassen packen», sagte sie. «Es heißt, sie wollen Rondsperg für immer verlassen.»

«Mögen sie», erwiderte Regula mit scheinbarer Gleichgültigkeit. «Ich habe Rondsperg gekauft, bin hier die Herrin und kann niemanden, der nicht gern mein Gast ist, zwingen, es zu sein. Sie wollen fort, ich werde sie nicht bitten zu bleiben.»

«Tun Sie es doch, Fräulein», sprach Bozena. «Die plötzliche Abreise der alten Herrschaften würde gegen Sie, Fräulein, böses Blut machen.»

Regel stieß ein kleines höhnisches Gekicher hervor, das Bozena nicht irre zu machen vermochte; sie fuhr fort: «Niemand weiß, wie sehr Sie beleidigt worden sind –»

«Wissen Sie’s?»

«Ja, Fräulein, ich lebe in Ihrer Nähe und hab offene Augen. Die andern – die Menschen, die Sie nicht kennen, werden sagen: ‹Sie hat sich eingebildet, der junge Graf werde sie heiraten, und weil er ihr das Röschen vorzieht, jagt sie aus Rache seine Eltern aus dem Hause.›»

«Wahr – wahr!» denkt Regula; ihre schlimmsten, geheimsten Befürchtungen, eben erst mühsam zum Schweigen gebracht, gewinnen eine Stimme, die aus fremdem Munde doppelt schrecklich klingt. «Bozena», ruft sie zugleich entrüstet und unsicher, «wie dürfen Sie es wagen …»

«’s ist meine Schuldigkeit, daß ich Sie warne», spricht die Magd. «Was wissen Sie von der Bosheit der Menschen? … Die größte Freude der Menschen ist Lästern, die Besten zu lästern, denn bei den Schlechten, da zahlt sich’s nicht aus. Sie, Fräulein, sind – nach Gebühr –» Bozena neigte ihr Haupt bei diesen letzten Worten, «bisher nur geachtet und geehrt worden. Geben Sie acht, was geschieht, wenn es einmal heißt: ‹Sie hat’s nicht verdient – sie hat uns um unsere Achtung und Ehrfurcht betrogen!›»

«Niemand wird das sagen», rief Regel und streckte die kalten Hände zitternd aus.

«Das und noch viel Schlimmeres, verlassen Sie sich drauf», fuhr Bozena hart und unerbittlich fort. «Plötzlich wird jeder etwas wissen. Der eine: ‹Die ältere Schwester hat im Elend sterben müssen, damit ihr alles zukomme, der Erbschleicherin …›»

«Still!» kreischte das Fräulein.

Bozena jedoch, ruhiger und ruhiger werdend, je furchtbarer Regels Aufregung wuchs, sprach weiter, langsam und nachdrücklich: «Ein andrer steht auf und sagt: ‹Auf dem Totenbette hat ihr der alte Herr das Kind seiner armen Rosa empfohlen, und hat ihr mit seinem letzten Hauch zugerufen: ‹Deine heiligste Pflicht!› … Sie hat sie nicht erfüllt, hat dem Kind nicht gegeben, was ihm gebührt.›»

Regula machte einen verzweifelten Versuch, sich aufzuraffen: «Gebührt?» wiederholte sie, «ihm gebührt nichts. Was ich für das Kind getan habe, geschah aus Gnade und gutem Willen. Jeder billig Denkende sieht das ein. An dem Urteil der bösen Zungen, der Verleumder – braucht mir nichts zu liegen.»

In welchem Widerspruch standen diese Worte mit dem Ausdruck, in dem sie gesprochen wurden!

«Fräulein», sagte Bozena warnend und eindringlich. «Sie wissen es nicht, Ihr Haus ist auf Ungerechtigkeit erbaut. Das ist ein Grund so schmal – er trägt Sie nur, solange Sie geradeaus gehen … Biegen Sie einmal vom rechten Weg ab – um die Breite eines Haares, so stürzt unter Ihnen alles zusammen! … Sie brauchen den Schutz Gottes … geben Sie dem Kind, nicht was ihm vor den Menschen, sondern was ihm vor Gott gebührt. Tun Sie’s, weil Sie großmütig sind und brav! Tun Sie’s von selbst, Fräulein, sonst müßt ich Sie dazu zwingen – – zu Ihrem Besten, gutes Fräulein!»

Ihre Augen funkelten – sie schlägt sie nieder; ihre ganze Gestalt strebt empor – aber Bozena beugt sich. Regula wirft ihr unter den herabgesenkten Brauen einen mißtrauischen Blick zu, sie weiß nicht, ob ihre Magd schmeichelt oder droht. Diese fährt fort, Nachdruck legend auf jede Silbe: «Um Ihretwillen ist Ihre Schwester verstoßen worden …»

«Weil sie’s verdient hat, nicht um meinetwillen!» ruft das Fräulein.

«Doch – um Ihretwillen! Rosa ist um die Verzeihung ihres Vaters bestohlen worden. Das weiß ich, Fräulein, denn, gefoltert von Gewissensqualen, hat es mir Ihre Mutter in ihrer Todesstunde anvertraut. Der Brief …»

«Schweigen Sie!» schreit Regula, «ich weiß nichts; ich will nichts wissen von einem Briefe – ich kann’s beschwören: Ich habe keinen Brief gesehen … und – wer hat ihn gesehen?»

«Niemand», antwortete Bozena mit kalter Ruhe, «denn er ist unterschlagen worden und – verbrannt.»

«Ha!» Regula atmete auf, befreit von einer Zentnerlast. «So gibt es auch keinen unterschlagenen Brief! … Wer kann beweisen, daß es einen gab? Wer wird es glauben?»

Die Magd stand da, umflossen von einer wunderbaren, stillen, stolzen Majestät; ihre große Gestalt schien noch zu wachsen, ihr ganzes Wesen atmete Macht, und wie Erz klang ihre Stimme, als sie sprach: «Beweisen kann ich es nicht, aber ich werde es sagen und – mir wird man glauben!»

Mit schrecklicher Wucht fielen diese Worte auf die Seele Regulas. «Ja, der wird man glauben!»

Deutlich und lebendig in jedem Zug erhob sich vor ihr ein längst vergessenes Bild. Sie sah ihre Magd zwischen Mansuet und den Jäger treten und hörte sie sprechen: «Es ist wahr! …» Bozena hätte damals nicht zu lügen, sie hätte nur zu schweigen brauchen und der Jäger wäre als Verleumder gebrandmarkt gewesen; an ihr – hätte keiner gezweifelt. Aber sie sprach, sie gab der Wahrheit die Ehre. Ja, der wird man glauben! … Und ein zweites Bild tauchte auf vor Regula. Sie erblickte sich auf dem schmalen Pfade, von dem Bozena gesprochen, hoch über allen Menschen und von allen vergöttert. Und nun ein unseliger Schritt, aus Rache getan, im Zorn beleidigter Eitelkeit, und der Glanz, der sie umgab, erlischt, und sie sinkt, sinkt immer tiefer in einen Abgrund – gräßlich, schauderhaft: Die Verachtung der Menschen! … Alles verläßt sie – der zuerst, der sie so redlich geliebt und ihren Reichtum so redlich gehaßt hat … Schon gehaßt, bevor er wußte, daß sie ihn einem Verbrechen dankte.

«Bozena», stöhnt Regel, ihre Zähne schlagen zusammen, ihre Hände greifen stützesuchend umher, «Bozena, was soll ich tun? Was verlangen Sie?» Sie denkt nur noch an Rettung, an Rettung um jeden Preis.

Mühsam ihre Fassung bewahrend, pochenden Herzens, antwortet Bozena demütig und zögernd: «Ich habe meinem Fräulein nichts vorzuschreiben, aber wäre ich Sie, ich würde zu den alten Leuten sagen: Bleibt, Rondsperg gehört eurem Sohn, dem es Röschen zur Morgengabe bringt.»

Regula lachte grell auf und brach dann in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Plötzlich schien ein schwacher Hoffnungsschimmer in ihr aufzuleuchten.

«Bozena», sprach sie – oh, mit gar geringer Zuversicht und zitternd wie Espenlaub: «Wenn ich – Sie – bäte – zu schweigen?»

Die Magd erwiderte kein einziges Wort, aber sie bäumte sich mit einer Gebärde auf, so wild, so stolz, so voll grimmigen Hohnes, daß Regula keinen Ausweg vor sich sehend: wimmerte: «Nein, nein, ich bitte Sie nicht – – ich will tun – was Sie verlangen …»

Da stieg ein Schrei maßlosen Jubels aus Bozenas Brust. «Engel», rief sie jauchzend, «Erlöserin! … meine ewige Seligkeit dank ich Ihnen und meinen zeitlichen Frieden!» Sie warf sich vor der Herrin nieder und berührte den Boden mit ihrer Stirn; ihr ganzer Körper bebte, mit Anstrengung rang sich der Atem aus ihrer Brust. «Erlöserin! Erlöserin!» wiederholte sie weinend und frohlockend, im Taumel eines an Schmerz grenzenden Entzückens.

Regula meinte einen Augenblick, daß ihre immer so ruhige und zurückhaltende Dienerin wahnsinnig geworden sei.

Bozena richtete sich auf die Knie empor, sie erhob den Kopf und die Arme, als bringe sie dem Himmel ein Opfer dar und rief: «Das Glück des Kindes für das Glück der Mutter … Herr! Herr! Sie hätte getauscht! Nimm du es an, und nimm damit die Sünde von mir!»

Bozena Kapitel 18

20.

Als Professor Bauer den Brief Regulas erhielt, machte er alle Stadien eines mit dem Jawort der Geliebten überraschten Liebhabers durch. Vor allem traute er seinen Augen nicht, dann traute er ihnen und geriet in ein dithyrambisches Entzücken, aus dem er in elegische Rührung überging und sich fragte: «Verdiene ich auch ein solches Glück?» Im heißen Drang seines mitteilungsbedürftigen Herzens eilte er hinüber zu Mansuet, ihm das große Ereignis zu verkünden. Auf halbem Wege jedoch besann er sich eines andern, machte plötzlich kehrt, rannte ebenso schnell nach Hause zurück, als er davongerannt war, stopfte in größter Hast seinen schwarzen Anzug und einige Wäsche in einen Reisesack und stürmte nach dem Bahnhofe, wo er eben noch Zeit hatte, ein Billett zu dem in der Richtung nach Rondsperg abgehenden Zug zu lösen. In der ersten halben Stunde der Fahrt hielt sich seine Stimmung auf ihrer schwindelnden Höhe, in der zweiten begann sie zu sinken, und in der dritten schoß – wie eine schwarze Schlange, die die Fähigkeit abzufärben besäße, der Zweifel trübend über das spiegelglatte Meer seiner Wonne.

Enthalten die Worte: «Ich bin die Ihre», auch wirklich ein Eheversprechen? … Lassen sie sich auch wirklich dem Sinn und Geiste nach mit: «Ich will Sie heiraten», übersetzen? Sind sie nicht etwa nur als bloße Höflichkeitsform zu betrachten – wie sie oft angewendet wurde von unsern größten Dichtern – wie etwa Schiller an Cotta schreibt: «Der Ihrige – Schiller?» … Regulas klassische Bildung, die ihn so oft zur Bewunderung hinriß, erweckt ihm in diesem Augenblicke Grauen.

Der Zug hält in der Station für Rondsperg, der Kondukteur reißt den Schlag des Waggons auf: «Eine Minute Aufenthalt!» … Nein, Bauer steigt nicht aus! – Er fährt weiter – wohin, ist ihm gleichgültig, nur weiter, nur hinweg! … Die Lokomotive läßt einen scharfen Pfiff vernehmen, er gellt: «Feigling!» O Schmach, das gilt ihm … Der Kondukteur steckt sein zorniges Gesicht in den Wagen: «Ist kein Passagier für Hullein da?» … Der Professor schnellt bestürzt empor. «Aber zum Teufel, so steigen Sie doch aus! Sind Sie denn taub?» fährt ihn der Eisenbahnbedienstete mit der Höflichkeit seines Standes für Insassen der zweiten Wagenklasse an. In größter Verlegenheit, wie ein ertappter Schulknabe, beeilt sich Bauer, schleunigst zu gehorchen. Er steht auf dem Boden; eine mitleidige alte Frau wirft ihm seine im Wagen vergessene Reisetasche zu – der Zug braust davon. Er blickt ihm nach und denkt, er hätte nie geglaubt, daß ein gesetzter Mann und Professor in eine zugleich so traurige und lächerliche Lage kommen könne. Was nun beginnen? Bauer ist ratlos. Da hilft ihm einer der menschenfreundlichen Volontärs, die vor wenigen Tagen durch ihre Habgier Regulas Entrüstung erweckten, indem er die Frage an den Professor stellt, ob er nach dem Städtchen fahren wolle, das eine halbe Stunde weit von der Station und auf dem Weg nach Rondsperg liegt. Bauer bejaht es – jetzt ist sein Plan gemacht; er wird im Städtchen übernachten und sich’s dort überlegen, ob er umkehren oder weiterreisen solle. Unter dem Beistande des Volontärs, gegen den er sich in Danksagungen erschöpft, besteigt der Professor einen scheppernden Einspänner, der ihn und seine Effekten um zehn Uhr abends vor dem Tore des «Goldenen Schwan», des ersten Hotels in K., absetzt. Nach einem sehr frugalen Abendessen begibt sich Bauer in das ihm angewiesene Zimmer, wo er die Nacht, zusammengekauert in einem sehr kurzen und sehr hohen Bett, zubringt; seine langen Glieder darin auszustrecken, wäre unmöglich gewesen. An Schlaf denkt Bauer nicht. Er gerät allmählich in eine begeistert resignierte, über Erdenweh und Erdenlust erhabene Stimmung. Wunderbar hat das Schicksal ihn geführt, man möchte sagen, fast gegen seinen eigenen Willen, aus seiner kleinen Studierstube bis hierher in das katafalkähnliche Bett im Gastzimmer Nr. 3 des «Goldenen Schwan» zu K. «Nimm mich auf deine Flügel, Fatum!» denkt der Professor, und das Fatum scheint bestimmt zu haben, ihn schlafend seinem Ziele entgegenzutragen, denn trotz aller Aufgeregtheit nickt Bauer fest und fester ein, und als er erwacht, schlägt es eben neun Uhr vom Rathausturme. Bauer kleidet sich an und begibt sich in den Speisesaal zum Frühstück. Auf der Schwelle bleibt er stehen wie angewurzelt, vor Überraschung zur Salzsäule verwandelt. Er hat im Zimmer, in einem lebhaften Gespräche mit dem Wirte begriffen, die Herren Wenzel, Weberlein und Schimmelreiter erblickt.

«Ah! auch berufen! auch berufen!» spricht der Advokat in seiner freundlichen Weise, «das ist allerliebst. Sie haben doch noch keinen Wagen bestellt? – Und wenn, sagen Sie ihn wieder ab. Sie fahren mit uns nach Rondsperg …»

Fatum! Fatum! Der Professor tauscht Händedrücke mit den Freunden, protestiert gegen ihre Einladung und nimmt sie, natürlich, an. Er kann ja unterwegs noch aussteigen, er kann selbst noch, am ersehnten Ziele angelangt, die Flucht ergreifen, sich bescheiden zurückziehen, wenn seine Anwesenheit unerwünscht sein sollte …

Inzwischen aber trägt ihn der mit kräftigen Pferden bespannte Wagen des Wirtes zum «Goldenen Schwan» im raschen Trabe immer näher zu dem Orte, wo die Geliebte weilt. Seine Reisegefährten beobachten alle ein, wie ihm scheint, ostensibles Schweigen. Nur von Zeit zu Zeit nickt Wenzel und sagt, auf die Felder deutend, zwischen denen der Weg läuft: «Herrliche Frucht!» Und Mansuet bestätigt und fügt hinzu: «Prächtiger Boden!» Der Sekretär enthält sich eines jeden Zeichens der Teilnahme. Stolz und aufrecht sitzt er da, wie das personifizierte Selbstbewußtsein, und scheint zu sagen: «Was liegt mir an alledem?» Er nahm, besonders gegen Bauer und Mansuet, Mienen an von einer Feierlichkeit, von einer mitleidigen Herablassung – nicht zu beschreiben!

Bauer dachte: «Wahrlich, neben diesem Schimmelreiter nähme Cäsar sich aus wie ein Hanswurst!»

Und nun rollen sie bereits über das Pflaster des Schloßhofes. Vor dem Tore steht Bozena und ruft ihnen zu: «Kommen Sie – kommen Sie – es ist die höchste Zeit!» Über die Anwesenheit des Professors scheint sie sich besonders zu freuen; dieser hat ihr nur gleich zu folgen, während die andern drei Herren gebeten werden, einen Augenblick zu verziehen.

«Wie sehen Sie denn aus?» fragt Mansuet die Magd, «Sie leuchten ja wie die liebe Sonne.»

Bozena antwortet ihm nicht, sie eilt mit Bauer, dessen Hand sie erfaßt hat, die Treppe hinauf. Wenzel und Mansuet sehen einander befremdet an. – Ein sonderbarer Empfang! … Was hat das zu bedeuten? – Das Haus ist wie ausgestorben, im Hofe steht die Britschka der Baronin Waffenau und ein bepackter Wagen. Jetzt öffnet sich die Stalltür in der Ecke gegenüber, Kocka und Myska kommen heraus mit gesenkten Köpfen und herabhängenden Ohren, und stellen sich von selbst jede an ihren Platz, an die Deichsel. Florian folgt in Hemdärmeln, seinen Rock auf dem Arme; er wirft, brummend und gestikulierend, das Kleidungsstück auf den Bock, und beginnt die Stränge einzulegen.

Wenzel, gefolgt von seinen Begleitern, tritt den Alten mit der Frage an: «Wer reist denn ab?»

Aber Florian verschmäht zum erstenmal in seinem Leben die Gelegenheit, sich beredsam zu zeigen, und antwortet nur mit einem trotzigen Kopfschütteln, das deutlich sagt: «Von mir erfahrt ihr nichts!»

Da schlägt Wenzel vor, hinaufzugehen und eine mitleidige Seele aufzusuchen, die sie bei dem Fräulein anmelde. Der Wirtskutscher hat ihre Mantelsäcke, Überröcke und Regenschirme auf den nackten Boden deponiert und ist davongefahren. Schimmelreiter, der sonst so anspruchslose, fühlt sich verletzt. «Man hätte Lust umzukehren», spricht er, «ist das eine Art? … Einen kommen lassen, so weit her, und sich dann um einen nicht kümmern – sehr kurios, wirklich!»

Die Herren treten in die Halle und zögern wieder, sie wissen nicht, wohin sich wenden. – Vom Korridor her lassen sich endlich Schritte vernehmen, und die Stiege herabgeschlichen kommt ein kleiner, stiller Zug. Voran Peter, mit Reiseeffekten beladen, in außerdienstlichem Phantasieanzug, den anzulegen er der Gelegenheit entsprechend fand, vermutlich wegen des Inkognitos. Ihm folgte die Gräfin, von Ronald geleitet. Der Widerschein ihrer klaren Seele liegt fast wie ein Schimmer von Heiterkeit auf ihrem ehrwürdigen Angesicht. So geübt, wie von ihr, wird die Demut zur Würde, die Geduld zur Überwindlichkeit. Ein zweites Paar erscheint; der Graf, gestützt auf den kräftigen Arm seiner Tochter. – Er trennt sich schwer von seinem Rondsperg! Ein jeder Schritt, den er vorwärts tut, scheint ihn zu schmerzen. Seine Kraft ist gebrochen, über Nacht hat er sich verwandelt, er scheint nun auch, was er ja längst gewesen: ein armer, alter Mann!

Die Stadtherren entblößen ihre Häupter, als die Herrschaften sich ihnen nähern. Ihr Gruß wird erwidert, aber kein Wort mit ihnen gesprochen: Der Graf drängt zur Eile: «Nur fort! nur fort!» flüstert er kaum hörbar seiner Tochter zu.

In diesem Augenblick ertönt der Klang einer lieben, angstvollen Stimme. Röschen kommt die Treppe herabgeflogen, wirft sich abwechselnd dem Grafen und der Gräfin in die Arme und weint und beschwört sie, die sich ihrer vergeblich zu erwehren suchen: «Bleiben Sie, um Gottes willen, bleiben Sie!»

«Lassen Sie uns, liebes Kind «, sagt die Baronin bewegt und in Gefahr, ihre Fassung zu verlieren.

Aber nun steht Regula vor ihr am Arme eines freudetrunkenen Mannes, des Herrn Professor Bauer, und auch diese beiden sprechen wie aus einem Munde: «Bleiben Sie!»

«Nimmermehr», entgegnet der Graf, «im fremden Hause!»

«In dem Ihres Sohnes, Herr Graf», spricht Regula feierlich, während der glückverklärte Bauer in Bewunderung zerschmilzt – und dort an der Tür des Saales eine hohe Gestalt steht, deren Blick unverwandt auf ihr ruht, als wollte er sie unter seinem Banne halten. Aber Bozena kann zufrieden sein, das Fräulein wiederholt sogar ihre Worte: «Rondsperg gehört Ihrem Sohne, dem es meine Nichte zur Morgengabe bringt.»

«Oh!» riefen Mansuet, Wenzel und Schimmelreiter.

«O liebe Regula!» rief die Baronin.

«O Röschen!» rief Ronald.

Der Graf und die Gräfin schwiegen. In ihren wunden Seelen vollzog sich der Übergang vom Schmerz zur Freude nicht so rasch.

«Die Demütigung bleibt», dachte der Greis, aber er blickte auf seinen Sohn, er blickte auf das holde Röslein, und sprach mit tiefer Verbeugung zu Fräulein Heißenstein: «Ich danke Ihnen!»

Die Gräfin ging auf Regula zu, und diese, von einer ihr fremden Regung ergriffen, drückte ihre Lippen auf die Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Dem Grafen aber sagte sie: «Zu dem, was jetzt geschieht, war ich – eigentlich – immer entschlossen, aber Sie begreifen, daß ich diesen Entschluß nicht ankündigen durfte ohne die Einwilligung meines Verlobten …»

«Ihres Verliebten!» platzte Bauer heraus, den manchmal ein satanisches Gelüste ergriff, am unpassendsten Orte den schlechtesten Witz zu machen. «Sie hatten nur einen Fehler in meinen Augen: Ihren Reichtum – ich bin selig, daß er sich ein wenig vermindert hat!»

«Schön! Vortrefflich!» sprach Doktor Wenzel gerührt und wollte einige wohlgesetzte Worte hinzufügen, aber Mansuet vereitelte diesen Vorsatz. Er wurde – wie Bozena sagte, wenn sie später von den Begebenheiten dieses Tages erzählte – «der reine Narr».

Der erste Kuß, den Manneslippen auf den Mund der spröden Regula drückten, sie erhielt ihn nicht von ihrem Bräutigam, sondern von ihrem alten Kommis; er wurde nicht durch heißes Flehen gewonnen, unter dem duftenden Fliederstrauche, beim Gesang der Nachtigallen – er wurde ihr öffentlich geraubt, und zwar unter einem solchen Ausbruch von Wonne, Begeisterung und Entzücken, daß Regula nicht einmal zu zürnen vermochte. Ach, dies alles tat so wohl nach den schweren Träumen dieser Nacht, in denen sie Bauer gesehen hatte, sie verlassend und ihr Rübchen schabend, und Mansuet auf Fledermausflügeln sie umschwirrend in immer engeren Kreisen, und ihr dabei zukrächzend: «An den Pranger! An den Pranger!»

Bauer hatte bei dem Kusse Mansuets ein wenig die Stirn gerunzelt, Regula lächelte ihn auf das süßeste an und hauchte: «Lieben Sie mich, Ludwig, achten Sie mich!»

Nun näherte sich Schimmelreiter und pries seine Herrin in gehaltener und würdevoller Weise. Dann aber schloß er also: «Gnädiges Fräulein haben mir dereinst die Ehre erwiesen, meiner Vermählung beizuwohnen, erlauben Sie nun auch …»

Er beschirmte seinen Mund mit der Hand und sagte ihr einige Worte ins Ohr.

Regula schlug die Augen nieder, errötete und sprach. «So? – Ei, ei! – Ich gratuliere!»

Als auch Ronald und Röschen dem edlen Fräulein gehörig gedankt hatten, eilten sie, einem gemeinsamen Gefühle folgend, zu Bozena, die sich in ihre Stube zurückgezogen hatte. Die jungen Leute fanden sie in die Betrachtung eines kleinen armseligen Bildchens versunken, das einst in Arad von einer kunstbegeisterten Dilettantin gemalt worden war und Rosa vorstellen sollte.

Ronald hielt bei Bozena förmlich um sein Röschen an, in Worten so warm und gut, daß sie ihrer niemals vergaß. Lange verweilte das Brautpaar bei der Getreuen. Den Kopf an ihre Brust gelehnt, von ihrem Arm umschlungen, saß das Kind neben ihr, als wollte es zum letztenmal den Schutz genießen, in dem es durch sein ganzes Leben so sicher geruht hatte. Ronald blickte die beiden an, glücklich, selig – er sagte: «Gott segne Sie, Bozena!» und wußte doch nicht, wie viel er ihr verdankte.

*

Die Stadt Weinberg war in freudiger Aufregung an dem Tage, an dem Regula als Braut Ludwig Bauers in ihr Haus zurückkehrte. Allenthalben hieß es: «Sie hätte einen Grafen haben können, und wählt einen armen Gelehrten. Welcher Edelmut! Welche Bescheidenheit!»

Regula Bauer, geborene Heißenstein, blieb zeitlebens der Gegenstand der Bewunderung ihrer Vaterstadt und ihres Gatten. «Sie fühlt tiefer als wir alle, aber sie will es nicht zeigen», pflegte er mit bedeutsamer Miene zu sagen. Seine Ehrfurcht vor dieser geheimnisvollen Gefühlstiefe wuchs von Jahr zu Jahr, und Regula gewöhnte sich nachgerade, den Mann, der sie so völlig verstand und zu schätzen wußte, als einen Halbgott anzusehen.

Schimmelreiter und seine Kathi bekamen nach sechsjähriger Ehe das allerschönste Kind, das seit Menschengedenken in Weinberg geboren ward. Ein blondes Mägdlein mit einem Madonnenangesicht, mit Augen so blau wie der Himmel und so tief wie das Meer. «Der Engel von Weinberg» wurde sie später genannt.

Mansuet übersiedelte nach Röschens Vermählung ganz und gar nach Rondsperg. Er saß stundenlang auf der Terrasse, ließ sich von der Sonne bescheinen und behauptete, er fühle täglich mehr ihre verjüngende Kraft. Der alte Graf leistete ihm fleißig Gesellschaft, sie bewunderten zusammen die Aussicht und sprachen von dem Jahre achtundvierzig.

Bozena erbat und erhielt ihre Entlassung aus dem Dienste der Frau Professor Bauer und nahm gleichfalls ihren Aufenthalt in Rondsperg. Sie wiegte noch eine dritte Generation auf ihren Armen, und dieses kleine Volk kannte sie, die man einst die schöne, die große genannt, nur als – die gute Bozena.

Bozena Kapitel 14

Die Heimfahrt wurde unter tiefem Schweigen zurückgelegt. Die Baronin gab sich ihren Betrachtungen hin und das Ergebnis derselben war: «Ronald hat ganz recht, in den sauren Apfel zu beißen. Wenn meine Wirtschaft in einem solchen Zustand wäre, wie die seine – und müßt ich, um ihr aufzuhelfen, die Frau des Teufels werden – ich nähm den Teufel, weiß Gott!»

Ronald dachte an ein Paar braune Augen, an einen leuchtenden Blick. Er dachte: «Röschen, Röschen, wie wird es dir ergehen in dieser argen Welt, du Herz voll Mitleid, du Seele voll Begeisterung?»

Regula hingegen sagte zu sich selbst: «Dieser arme Graf, man muß ihn bedauern … Er kann nicht sprechen – aus Delikatesse … Ich werde – es ist schrecklich – die ersten Schritte tun müssen!»

Die Sonne stand schon ziemlich tief, als die Equipage in der Nähe des Parks anlangte; die Baronin schrie plötzlich auf: «Unerhört! Da steht Papa mit Röschen unter den Linden – außerhalb seiner vier Mauern, außerhalb seines ‹freiwilligen Kerkers› … Ein Ereignis! Das ist ja ein Ereignis!» rief sie dem Grafen zu, vor dem jetzt der Wagen hielt.

«Jawohl, aber» – der alte Herr deutete auf seine Begleiterin – «wo es Feen gibt, da geschehen Zeichen und Wunder. Sie befehlen, der Sterbliche gehorcht. Jetzt jedoch, bitte ich euch, mich aufzunehmen. Thilde, räume mir den Platz und ergreife die Zügel. Mein Sohn wird die Ehre haben, Ihnen auf dem Heimwege seinen Schutz angedeihen zu lassen, oder vielmehr, ich empfehle ihn dem Ihren!» sagte er zu Röschen.

Die Baronin hatte sich beeilt, auszusteigen und half ihrem Vater in den Wagen. Dann besann sie sich einen Augenblick und wollte schon sagen: «Fahr zu, Ronald, ich will Röschen geleiten.» Aber als sie zu ihm hinaufblickte, ergriff sie ein menschlich Rühren. Es war ein solcher Glanz des Glückes über sein Gesicht verbreitet, daß sie dachte: Er hat der Bitternisse genug, mag er auch einmal eine Freude haben! … Und schon saß sie auf dem Bock und nahm die Zügel aus Ronalds Hand. Mit einem Satze sprang er herab, die Baronin trieb die Pferde an und rasch rollte der Wagen längs der Mauer des Parks davon.

Ronald sah ihm nach und ihm war zumute, als entführe dieser enteilende Wagen alle seine Sorgen und als stände er nun allein und frei auf der Erde mit dem Lieblichsten, das sie trug, und ihn überkam eine Empfindung der Seligkeit, wie er sie nicht mehr gekannt seit seiner Knabenzeit; seit den Tagen unbewußter Wonne, wo man sich noch nicht wundert, daß man glücklich ist.

Nicht minder froh als er schien Röschen, und als er fragte: «Wohin nun? Welchen Weg nehmen wir?» antwortete sie, ohne sich zu besinnen: «Den weitesten!»

«Das mein ich auch», rief er, «am liebsten führt ich Sie über jene Berge dort!»

Er glitt rasch mit der Hand über die Augen. «Wie wär’s, was denken Sie, wenn wir so zusammen wandern gingen, weit – weit, und erst heimkehrten in unzählig vielen Jahren … Da klopfen ein Paar uralte Leute an der Pforte des Schlosses: ‹Wer ist’s?› fragt eine Stimme, die wir nicht kennen. Ronald und Röschen, die eines schönen Abends spazieren gegangen sind und länger, als sie anfangs dachten, verweilten auf dem Weg …»

«Traurige Heimkehr!» sagte Röschen. «Ihre Mutter tot – Bozena tot – und wir so alt! …»

«Gut denn! Wenn Sie sich vor einer großen Reise fürchten, so wird nur eine kleine unternommen. Wir gehen durchs Dorf, in den Hain, über die Hutweide zu den Pappeln, denselben Weg von dort an, den Sie gekommen sind. Ist das recht?»

«Es ist recht. Sie müssen aber nicht glauben, daß ich mich vor einer großen Reise fürchte. Schon als kleines Kind bin ich aus Siebenbürgen nach Weinberg gereist, durch ganz Ungarn.»

«Ja – auf Bozenas Arm.»

«Und auch zu Fuße.»

«Was hilft’s, daß sie eine so tapfere Reisende sind, wenn Sie nicht mehr reisen wollen?» Ronald blieb stehen und fragte plötzlich: «Wissen Sie, daß ich Ihr Vater sein könnte?»

Röschen antwortete, ohne ihren Blick von dem seinen abzuwenden: «Ich kann mir meinen Vater nur denken, wie ich ihn zum letztenmal gesehen habe …» Sie stockte.

«Erinnern Sie sich seiner?»

«O ganz deutlich – und doch …» Sie hielt von neuem inne.

«Röschen, was denken Sie jetzt?»

«Ob Sie ihm nicht ähnlich sehen? – Er war auch jung wie Sie, und war … Fragen Sie nur Bozena und Mansuet, die haben ihn gekannt.»

Sie schritten weiter, langsam und ernst und dabei glücklich wie Kinder. Bauersleute gingen und fuhren an ihnen vorüber, und mit jedem tauschte Ronald einen Anruf oder einige Worte.

Im Dorf hatte man bereits Feierabend gemacht. Vor einem hübschen Hause, das sich durch den Anschein von Wohlhabenheit vor seinen Nachbarn auszeichnete, saßen drei Männer auf einer Bank: Großvater, Vater und Enkel. Als Ronald sich ihnen näherte, nahm der Greis die Pelzmütze vom Kopfe und erhob sich; der Mann blieb sitzen, zog aber den breitkrempigen Hut grüßend ab. Der Jüngling hatte die Arme gekreuzt, rührte sich nicht und blickte gleichgültig vor sich hin.

Ronald sagte zu Röschen: «Ein Beispiel für viele. An die Art des Greises war mein Vater gewöhnt.»

Er dankte dem Gruße der Männer, trat dicht vor den Jüngling und streifte ihm ruhig das Käppchen ab.

«Nicht meinetwegen», sprach er, «aber deinetwegen. Hut ab, mein Junge, wenn dein Vater und dein Großvater ihre Häupter entblößen, sonst stehst du einst mit dem Hut in der Hand vor deinen Kindern.»

Der Bursche blickte trotzig zu ihm auf und schien von der Lehre wenig erbaut. Aber der Großvater sagte zu seinem Enkel: «Es ist dir recht geschehen.»

Ein junges Weib, das am Zaune ihres Gartens stand, riß die Augen weit auf, als sie Ronald vertraulich mit Röschen plaudernd daherkommen sah, und rief ihm zu: «Aha! Das ist die Braut aus der Stadt.» Sie stemmte beide Hände in die Seiten und betrachtete das Mädchen mit Wohlgefallen: «Meiner Treu, eine Hübsche haben Sie sich ausgesucht.»

«Was fällt Euch ein?» erwiderte er, «das ist nicht meine Braut. Die würde mich ja nicht nehmen, die wartet auf einen Jüngeren.»

«Sie soll sich nicht versündigen!» sprach das Weib und schien sehr aufgelegt, Röschen eine wohlgemeinte Zurechtweisung zu erteilen. Aber Ronald kam ihr zuvor und sagte scherzend: «Die Frau meint mir’s gut!»

An einem der letzten Häuser des Dorfes eilte Röschen rasch vorbei – «denn», sagte sie, «hier wohnt Anitschka, wenn sie mich sieht, will sie wieder mit. An der Hand habe ich sie nach Hause führen müssen, sie wäre sonst nicht gegangen.»

«Wie?» fragte Ronald, «Sie waren heute schon hier?»

«Eben – mit Ihrem Vater.»

«Armer Vater», dachte er, «heute vergaß er seines langjährigen Grolles, heute, da sich das letzte Band gelöst hat zwischen ihm und den Bewohnern seines Rondsperg. Er hat, ohne es zu wissen, Abschied von ihnen genommen.»

Am Ausgange des Dorfes befand sich ein Hain, aus dichtem Gebüsch gebildet, das einzelne Buchen und Birken überragten. Ein klares Wässerchen schlug sich durch das Gehölz, längs seines Ufers führte ein Fußsteig zu einem freien Platze empor. Eine Hügellehne umschloß, eine mächtige Eiche beherrschte die grüne Bucht. Die alte Riesin streckte drohend einen abgestorbenen Zweig in die Lüfte hinaus; ihre dunkel belaubten Äste verschlangen sich wie zu Schutz und Trutz. Finster stand sie da mit ihrem zerklüfteten Stamm und ihrem breiten, von manchem Sturm arg mitgenommenen Wipfel, inmitten des üppigen, strotzenden Anwuchses, und sie schien zu sagen: «Solche wie ihr, hab ich schon viele kommen und – verschwinden gesehen.»

Zu ihren Füßen, unter einem schindelgedeckten Dache, erhob sich ein Standbild der heiligen Anna, die ein Buch in der Hand hielt, aus dem sie eine außerordentlich kleine Jungfrau Maria lesen lehrte. Die Figuren waren aus Holz und von einem einheimischen Künstler bunt bemalt. Auf den Blättern des aufgeschlagenen Buches stand das ABC; demjenigen treu nachgebildet, das der Schulmeister von Rondsperg seiner Jugend vorschrieb.

An den Bergesabhang nebenan war ein Kapellchen angebaut. Es hatte einen niedrigen, dreieckigen Giebel und wölbte sich über einen Brunnen voll reinsten Wassers. Röschen schöpfte sogleich daraus mit der hohlen Hand. – Nein! so wie dieser hatte sie noch nie ein Trunk gelabt. Sie kniete am Rande des Brunnens und sah hinein. Ruhig und dunkel schimmerte der Wasserspiegel, und von der Tiefe herauf drangen, sich regelmäßig wiederholend, glucksende Laute.

Ein leises Lüftchen erhob sich und rauschte wie Gesang in den Wipfeln der Buchen und Birken, und wie ein dumpfes Brausen in dem Gezweig der Eiche. Die kecken Vöglein, die darin hausten, fielen mit lustigem Gezwitscher ein und umflogen geschäftig die traulich sichere Wohnstätte, die ihnen der alte Baum in dem Gewirre seiner Äste bot.

Röschen hatte sich auf eine der Wurzeln gesetzt, die wie gepanzerte Schlangen aus dem Boden ragten; glückselig schaute sie vor sich hin. Eine schlanke, blaue Glockenblume, hoch emporgeschossen aus dem Moose, schien ihre besondere Bewunderung zu erregen; Ronald wollte sie brechen: «Lassen Sie die Blume leben!» rief Röschen, «es sind noch nicht einmal alle ihre Glocken aufgeblüht, und – sehen Sie nicht, wie sie sich freut, daß sie dastehen darf im kühlen Schatten auf ihrem samtenen Teppich? … Aber –» fragte sie plötzlich mit einem forschenden Blick, «warum so traurig?»

» O Fräulein Röschen!» antwortete Ronald, «ich bin es lange nicht so sehr, als ich Ursache dazu hätte … Eine törichte Behauptung – nicht wahr?» beeilte sie hinzuzufügen, als er sah, wie bei diesen Worten die Heiterkeit auf ihrem Gesichte erlosch. «Es kann kein großes Leid sein, das nicht einmal vermag, uns recht traurig zu machen. Und überdies – wer hat nicht seine Sorgen?»

«Ich», sprach Röschen, «habe bis jetzt keine Sorgen gehabt.»

«Jetzt aber haben Sie welche?» versetzte er und beugte sich lächelnd näher zu ihr. Ein sanfter Vorwurf lag in ihren Augen und der Seherblick der Liebe las mit innigem Entzücken Röschens Antwort darin und alle ihre unausgesprochenen Gedanken. Sie sagten in ihrer stummen Sprache: «Wie kannst du so fragen? Weißt du nicht, daß fortan deine Sorgen die meinen sind? … Seit jetzt, – seit dem Augenblick, wo ich dich bewundert habe in deiner Güte, du starker Mann. Plötzlich ist’s gekommen und wird immer bleiben, die Empfindung stirbt nicht, die uns beide zueinander zieht. Kann ich aufhören, das Edle zu lieben? Kannst du aufhören, zu beschützen, was sich dir so vertrauensvoll hingegeben hat?

In gar lieblicher Gestalt tritt die Versuchung an ihn heran, doch er muß ihr widerstehen. Der Traum des Kindes ist zu schön, um Wirklichkeit zu werden … Ein Wort würde den Zauber zerstören. Soll er es sprechen?

Röschen hatte sich erhoben: «Wir vergessen ja, daß wir heute noch heim wollen!» sagte sie.

Er ging voran, bog mit beiden Händen die Zweige auseinander, die den schmalen, steil aufwärts steigenden Pfad überdeckten, und bahnte so seiner Begleiterin den Weg. Sie folgte schweigend. Hinter ihr schlugen die Zweige wieder zusammen, und wenn er anhielt und sich umwandte, sah er sie dastehen unter dem grünen, lebendigen Gewölbe wie ein Heiligenbild in laubgeschmückter Nische. «So bist du mein» dachte er, «so bin ich allein mit dir abgeschlossen von der ganzen Welt.»

Tiefe Stelle senkte sich über den Hain, leise nur zwitscherte noch hie und da ein silbernes Stimmchen in den Wipfeln, bewegte sich ein Blatt an den hängenden Zweigen der Birken; ein rosenroter Schimmer fiel durch das Dickicht, es lichtete sich immer mehr, Ronald und Röschen traten in das Freie. – Der Himmel war mit runden, flockigen Wolken überzogen, die im Widerschein der untergehenden Sonne leuchtend das Firmament bedeckten wie ein ungeheures purpurnes Vließ.

Röschen breitete die Arme aus: «Schön!» rief sie, «wunderbar schön!»

«Ich bin so glücklich, Fräulein Röschen», begann Ronald etwas unsicher und zögernd, «daß es Ihnen hier gefällt. Rondsperg ist vielleicht bestimmt, Ihr zukünftiger Aufenthalt zu werden.»

Sie sah ihn mit schmerzlichem Erstaunen an, der Ton, in dem er diese Worte gesprochen hatte, klang so seltsam, fremd und kühl.

«Es ist doch etwas Ernstes an dem, was ich vorhin im Scherze zu Ihnen sagte», fuhr er fort. «Ich muß wandern, liebes Röschen, wer weiß wie bald – wer weiß wie weit … über die Berge, die Ihnen von den Linden aus so fern erschienen sind. Ich gehe einer ungewissen Zukunft entgegen und darf niemandem sagen: teile sie mit mir. Aber das Schicksal ist mir doch günstig … Sie sollen ja daheim sein an dem Orte, den ich von meiner Kindheit an geliebt habe, und ich werde an Rondsperg nicht denken können, ohne zugleich an Sie zu denken … Das wird mir die Seele erhellen – immer und überall!»

Röschen war sehr blaß geworden, ihr Herz klopfte rasch und bang, tausend Fragen drängten sich auf ihre Lippen, doch sprach sie nur die eine aus: «Sie wollen fort?»

«Nicht heute, noch morgen», antwortete er hastig und beklommen, «und daß ich gehe, ist ein Geheimnis, das nur Sie erfahren, weil ich vor Ihnen keines haben will, und weil ich Ihnen alles Gute zutraue, demnach auch Verschwiegenheit.»

Bestürzt erhob ihr Blick sich zu ihm, er hatte den seinen abgewendet und eilte rasch vorwärts, sie hielt Schritt mit ihm, in wenigen Minuten war die Allee erreicht.

«Wir sind so fröhlich ausgegangen und kommen nun so traurig heim», sagte Ronald, «und ich bin schuld daran …»

«Es tut nichts,» erwiderte Röschen, «traurig sein ist auch gut.»

«Sie sind es nie gewesen. niemals – sagten Sie nicht?»

Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn mit feuchten Augen an.

«O Röschen!» sprach er …

«Willkommen!» rief eine Stimme, und aus dem Schloßhofe trat ihnen der alte Graf entgegen, den Hut auf dem Ohr, gerade aufgerichtet, mit Augen so frisch und hell wie die eines Jünglings. Erbarmungslos ließ er seinen Blick auf dem Gesichte seines Sohnes ruhen und weidete sich an dessen Verwirrung mit herzlichstem Ergötzen.

«Nun, mein Fräulein», sagte er zu Röschen, «ich hoffe, Sie haben meine Begleitung bitter vermißt?»

«Ja – nein – – ja», stotterte sie in größter Verlegenheit und entfloh in das Haus.

«Ich lege mich Ihnen zu Füßen», rief der Greis ihr nach und klopfte mit einer plötzlichen Anwandlung von Zärtlichkeit seinem Sohne auf die Schultern: «Nicht übel die kleine Person? – – Was sagst du? – Flößt dir Aversion ein? … Schade!»

Er lachte, und als Ronald stockend erwiderte: «Was denken Sie, lieber Vater?» sprach er: «Nichts – was sollte ich denken? – Ein alter Mann – wer kümmert sich heutzutage um die Gedanken eines alten Mannes? …»

Er sah Ronald an, und es ward ihm weich und liebevoll zumute wie lange nicht. «Basta … Lassen wir das gut sein …» und wieder klopfte er ihm auf die Schulter. «Wir verstehen uns!» Er war davon überzeugt.

Dieses Mal aber hatte er seltsamerweise recht.

*

Röschen wurde aus dem Schlafe, in den sie gesunken war, sobald sie ihr Haupt auf das Kissen gelegt hatte, durch melodische Klänge geweckt, die leise und lieblich durch das offene Fenster hereinschwebten. Aus einem Zimmer des Erdgeschosses stiegen sie zu der Schlummerstätte des jungen Mädchens empor. Eine Geige sang in ihrer wortlosen Sprache ein beredtes Lied … Kein Lied der Sehnsucht und der werbenden Liebe! – Wie innig und heiß auch seine Töne erklangen, sie sprachen nicht von den ungestümen Wünschen der Menschenbrust, sie sprachen von überwundenem Schmerz, von gebändigter Leidenschaft, von Frieden und von seliger Erhebung über alles Erdenweh.

Röschen lauschte, aufrecht sitzend auf ihrem Lager, mit halbgeöffneten Lippen, mit gefalteten Händen. Wie durchsichtig schimmerte ihr Angesicht im Mondenschein. Sie hörte nicht, daß eine Tür aufgestoßen worden, daß jemand sich näherte, sie zuckte zusammen, als eine wohlbekannte Hand sie berührte, und – lag im nächsten Augenblicke weinend in den Armen Bozenas. Diese schloß das Kind an ihre Brust und sprach ihm beruhigend zu, bis Röschen in den süßen und tiefen Schlummer fiel, der sich so rasch auf müde junge Augenlider senkt.

Bozena beugte sich über die Schlafende: «Armes Kind, streckst du die Hand nach dem Gute deiner Feindin aus? … Was hat der Himmel mit dir vor? – Will er sie strafen durch dich oder mußt auch du zugrunde gehn, damit drüben noch eine steht, die Klage führt über sie vor Gottes Thron? … über sie – und über mich!»

Bozena rang die Hände: «O hätt ich noch meine alte Kraft!»

*

Im Nebenzimmer hatte sich indessen folgendes begeben: Regula erhob sich, nachdem sie eine Weile dem Spiele Ronalds gelauscht, aus ihrem jungfräulichen Bett, zog ihre gelben Pantoffel an und trat an den Tisch, auf dem in einem Glase eine Rose stand, die die Baronin von Waffenau ihr verehrt hatte. Diese Rose nahm Regula und warf sie zum Fenster hinaus, das sie möglichst geräuschlos geöffnet hatte. Sie dachte dabei an «Des Sängers Fluch». Sodann schlüpfte sie wieder unter ihre Decke und schlief unter den Klängen von Ronalds Geige ein. Gegen Morgen träumte sie, Napoleon der Erste sei angekommen und werbe um ihre Hand.

Bozena Kapitel 10

Am nächsten Morgen, in aller Gottesfrühe, war Röschen schon im Garten, und zu Mittag lag schon – niemand wußte, durch welche Zauberkünste – das Kindervolk im ganzen Umkreise des Schlosses in ihren Fesseln. Die zwei «Jüngsten» des Maiers und das «Allerjüngste» des Schmiedes und die «Sämtlichen» des Gärtnergehilfen liefen hinter ihr her wie Hündlein. Eine kleine, kugelrunde Anischka mit kurzem Näschen und roten Pausbacken pflanzte sich vor dem Schloßtore auf, als Röschen darin verschwunden war, und ließ sich so wenig wie eine treue Schildwache von ihrem Posten vertreiben. Sobald der Gegenstand ihrer Leidenschaft wieder erschien, machte sie eine dicke Lippe, ergriff eine Falte von Röschens Kleid und watschelte so resolut neben ihr her, als hieße es nun: «Durch Not und Tod!»

Während Röschen die Jugend bezwang, eroberte Bozena das Alter. Gleich bei ihrer ersten Begegnung mit ihm hatte sie des alten Grafen Gunst errungen. Er erklärte sie sofort für eine der gescheitesten Personen, die ihm jemals vorgekommen seien. Sie mußte sich nachmittags auf der Terrasse einfinden und die Aussicht bewundern. Zufällig (dieser Zufall traf immer ein, sobald der Greis zehn Worte mit einem fremden Menschen gewechselt hatte) kam das Gespräch auf die Ereignisse des Jahres achtundvierzig. Bozena erzählte, durch seine Fragen gedrängt, von ihrem Aufenthalte in Ungarn, von ihrer Wanderung durch das kaum niedergeworfene Land. Der Graf – honneur aux dames! – forderte sie auf, sich zu setzen, und als Bozena diese Zumutung, als könne sie nur im Scherze gemeint sein, lächelnd ablehnte, nahm der alte Herr seinen Hut ab und legte ihn neben sich auf die Bank.

Beim Abendessen sprach er mit Regula mehrmals von ihrer Magd: «Eine Libussa, Ihre –, wie heißt sie? … Eine Fürstin Libussa! … Eine solche Dienerin macht der Herrin Ehre. Auf Ihr Wohl, mein Fräulein!»

Er leerte ein Glas sauern Landweins mit einem solchen Behagen, als verwandle er sich auf seiner Zunge in den edelsten Johannisberger.

Regula hatte den Nachmittag ihrer Korrespondenz gewidmet. Sie schrieb einen langen Brief an Wenzel und einen nicht viel kürzeren an Mansuet. Dem letzteren trug sie Grüße auf an alle ihre Bekannten und Verehrer. In der langen Liste der angeführten Namen fehlte nur der des Professors Bauer. Von diesem Getreuen erwartete sie schon mit der morgigen Post einen Brief, den zu beantworten sie sich vornahm.

Ihr letzter Gedanke, als sie ihr Haupt auf das Kissen ihres dürftigen Lagers legte, war an ihn: «Was wird er sagen, wenn er von meiner Verlobung hört? … Der Arme – vielleicht erschießt er sich!»

*

Es war Sitte auf Schloß Rondsperg, um neun Uhr zur Ruhe zu gehen. Drei Stunden vor Mitternacht mußte der Graf geschlafen haben, sonst hatte er, seiner Meinung nach, nicht geschlafen. Um zehn Uhr durfte eigentlich kein Licht mehr im Hause brennen. So war denn auch heute alles still und dunkel, als Ronald langsam in den Schloßhof ritt. Nur an einem Fenster schimmerte noch ein matter Lichtschein wie der von einer verdeckten Lampe. Zu diesem blickte Ronald eine Weile sinnend und zögernd empor, dann faßte er einen raschen Entschluß, übergab seinen Klepper – einen Sohn der Myska – dem herbeieilenden Florian, und trat einige Minuten später, nach leisem Pochen, in das Schlafzimmer seiner Mutter.

Die alte Frau saß noch angekleidet vor dem Arbeitstischchen im Fenster. Vor ihr, auf dem Nähkissen, lag ein zerlesenes Buch: Albachs «Heilige Anklänge». – Bei dem Anblick ihres Sohnes fuhr sie erschrocken zusammen; er bemerkte es wohl und sprach beklommen: «Sie sind noch auf, gute Mutter …»

«Ich werde sogleich Nacht machen – wollte nur noch –» wie entschuldigend wies sie auf das Buch, «ein wenig beten.»

«Der Vater schläft?»

«Seit einer Stunde.» Sie wagte nicht, ihn anzusehen; ein Gefühl peinlicher Furcht hatte sie ergriffen, das echt weibliche Gefühl der Furcht vor der Entscheidung. «O ging er wieder! … O spräch er nicht!» dachte sie und sagte: «Es ist spät.»

Ronald blieb trotz dieses Winkes. Er holte einen Stuhl aus der Ecke des Zimmers und setzte sich seiner Mutter gegenüber.

«Wir haben Gäste?» fragte er.

«Ja. Und – die kleine Waise», fügte sie mit Lebhaftigkeit hinzu: «Welch ein holdes Geschöpf! … Ein Herzenslabsal, dieses Kind …»

«So?» entgegnete Ronald zerstreut und suchte vergebens nach Worten. Auch er hatte die Augen gesenkt und sah die Hände seiner Mutter in ihrem Schoße beben; und diese welken, hilflosen Hände raubten ihm den Mut, brachten ihn um seine Entschlossenheit.

Mutter und Sohn wandelten seit Jahren fast stumm nebeneinander. Was am schwersten auf ihnen lastete, darüber durften sie nicht sprechen, denn es hätte zur Klage geführt über den Gatten, den Vater, und Sorglosigkeit zu heucheln vermochten sie nicht.

Bei ihrem Manne und bei der Tochter, die in ihrer Nähe lebte, hatte die Gräfin es endlich aufgegeben, Verständnis zu suchen; allzu verschieden von ihr waren sie geartet. Durch mehr als vierzig Jahre konnte sie es täglich erfahren: Sie lieben mich, aber sie kennen mich nicht. Von der zweiten, ihrer Lieblingstochter, war sie durch die Verhältnisse getrennt. Jahre verflossen, ohne daß sie ihres Anblicks froh wurde, Monate, ohne daß Nachrichten von ihr eintrafen. Alle an seine Frau gerichteten Briefe gingen durch des Grafen Hände, er bemerkte es mißbilligend, wenn die Korrespondenz zwischen Mutter und Tochter zuzeiten etwas lebhafter wurde.

«Eine glückliche Frau hat nichts zu schreiben», meinte er, «und glücklich zu sein ist die Pflicht einer jeden, die einen braven Mann hat.»

Es war endlich dahin gekommen, daß die Gräfin nur noch mit Bangen dem Erscheinen der Briefe entgegensah, nach denen sie doch zugleich so sehnsüchtig verlangte.

Ronald saß mit gekreuzten Armen da, starrte vor sich hin und dachte: «Könnt ich ihr’s ersparen!»

Zu drückend wurde dieses Schweigen; die alte Frau unterbrach es mit der Frage: «Du gehst doch morgen auf die Jagd?»

Er nickte wie gequält: «Gewiß – gewiß.»

Seine Stimme klang so seltsam; die Gräfin blickte besorgt zu ihm empor und sah in sein bekümmertes Gesicht. Jeder seiner Züge verriet den Kampf seines Innern – ein bitterer Vorwurf gegen sich selbst, gegen ihr feiges Zagen vor dem eingestandenen Leid regte sich in ihr. «Du armes Kind», dachte sie, und das Mitleid mit dem Sohne gab der Schwachen Kraft, mit einemmal das Schwerste und mit wenigen Worten alles zu sagen: «Ronald – Lieber – sprich getrost. Wann müssen wir wegziehen von hier?»

Aufatmend ergriff er mit beiden Händen die Hand, die sie ihm reichte und rief: «Niemals, gute Mutter! Sie werden Rondsperg nie verlassen!»

«Wie kann das sein, da wir’s doch nicht behaupten können? »

«Der Kauf wird nur unter der Bedingung geschlossen, daß Sie hier fortleben, genau wie bisher.»

Die Greisin schüttelte bedenklich den Kopf: «Wenn diese Bedingung angenommen wurde, dann hast du sie teuer bezahlt …» Er wollte verneinen. «Leugne nicht», sprach sie, «es kann nicht anders sein …»

«O Mutter», fiel er ihr mit erzwungener Heiterkeit ins Wort, «Fräulein Heißenstein verzichtet gern auf das Glück, in unserm alten Neste zu wohnen.»

«Es wird mehr von ihr verlangt als nur das. Sie darf die Rechte, die sie erwirbt, nicht geltend machen, wenn wir hier – wie du sagst – fortleben sollen wie bisher.»

«Auch dazu ist sie bereit.»

«Weil ihr Vorteil es ihr rät. Nicht wahr? … Nicht wahr?» wiederholte sie angstvoll. «Du hast dein Eigentum verschleudert, damit zwei alte Leute ihre letzten Jahre in altgewohnter Weise hindämmern können!»

«Verschleudert? Was du nur denkst? Darüber mache dir keine Sorgen.»

Sie seufzte schmerzlich: «Unser Alter zehrt deine Jugend auf … Ständ es bei mir, das sollte nicht geschehen. Dürft ich sprechen, ich würde dich anflehen, Kind: Vergeude nicht länger dein Leben! – Geh, tausendmal gesegnet – gründe dir eine Zukunft, und laß zusammenstürzen, was morsch und reif zum Untergang ist – der Wechsel alles Irdischen verlangt sein Recht.»

Er wollte sich der Rührung erwehren, die ihn ergriff, und entgegnete: «Wie beredt ist meine Mutter heute geworden! Und wozu? – Um zu sagen, was sie nicht sagen darf.»

Ein leuchtendes Lächeln verklärte ihre Züge: «Beredt – ja. Bin ich nicht wie eine alte Harfe mit zerrissenen Saiten, die auf einmal zu klingen beginnt? Es ist ein Wunder – ein gar vergängliches. Weil mir aber die Zunge gelöst ist, so höre, Sohn, deine stumme Mutter sieht und zählt jeden Schweißtropfen auf deiner lieben Stirn, jeden unterdrückten Widerspruch, jedes still und freudig gebrachte Opfer …»

Plötzlich beugte sie sich nieder und preßte ihre Lippen auf seine Hand.

Im selben Augenblick lag er auf seinen Knien und schloß mit ehrfurchtsvoller Zärtlichkeit die gebrochene Gestalt in seine Arme …

«Und Sie, Mutter?» flüsterte er, «leiden Sie nicht auch?»

«Schweig, mein Kind!» mahnte sie und zog sein Haupt an ihre Brust. Und an diesem schweren Tage war ihnen beiden leichter ums Herz, als seit langer Zeit.

Bozena Kapitel 11

17.

Ronald kam von der Jagd zurück. An seiner Weidtasche hingen zwei Hasen und ein Dutzend Rebhühner und Wachteln. Er ging die Hügellehne, die zum Schlosse führte, langsam hinauf, denn die Sonne stand im Scheitel, und die Hitze war groß. Sein Hund zottelte hinter ihm her mit weit aus dem Maule hängender Zunge. Nun waren sie am Pförtchen in der Parkmauer angelangt, das auf die Felder führte. Während Ronald den Schlüssel aus der Tasche zog und sich bemühte, das vom letzten Regen her noch stark verrostete Schloß zu öffnen, hatte sich der Hund hingelegt, keuchend, mit fliegenden Flanken, den Kopf auf den ausgestreckten Vorderpfoten, und verwandte kein Auge von seinem Herrn, der nun, im Begriffe, die Tür aufzustoßen, lächelnd zu ihm niederblickte, als wollt er sagen: Ist dir’s recht, daß wir heimgekommen sind? Und Herr und Hund sahen einander an mit inniger Freundschaft und mit einem Ausdruck so voll von Rührung, daß er sich beinahe komisch ausnahm in den Angesichtern zweier solcher Recken. Dann gingen sie durch verwachsene Laubgänge über Wege, von Disteln und Hasenkraut überwuchert, dem Hause zu.

Ronald hatte die Terrasse erreicht und schritt dem Saal zu, der zwischen ihr und der Halle lag. Auf der Schwelle, die Klinke der halbgeöffneten Tür in der Hand, blieb er plötzlich stehen und winkte seinem Hunde, der sogleich, wie zu Stein geworden, sich nicht mehr regte, nicht einmal mehr keuchte, sondern seinen Herrn mit derselben atemlosen Aufmerksamkeit anblickte, mit welcher dieser das Bild betrachtete, das sich ihm darbot.

Mitten im Saale auf einem Schemel saß Röschen und erzählte einem Auditorium von sechs kleinen Personen eine, wie es schien, bewegliche Geschichte. Ihre Stimme hob sich hell und laut bis zu einem Ausrufe, dem eine Pause höchster Spannung folgte, dann sank sie zu geheimnisvollem Geflüster herab. Was sie erzählte, verstand Ronald kaum, er lauschte auch nicht ihren Worten, er lauschte nur dieser holden Stimme, ganz ergriffen von ihrem Klang, in dem eine Fülle von Empfindungen nach Ausdruck zu ringen schien. Röschen saß von ihm abgewandt, er konnte ihr Gesicht nur zum Teile sehen, nur den Umriß ihrer zarten Wange, nur die dunkelblonden Zöpfe des reichen Haares, die über ihre Schultern fielen, und die Löckchen in ihrem schlanken Nacken.

Das Publikum der Erzählerin hingegen war eitel Neugier. Die eine der Zuhörerinnen hatte den Zeigefinger in den Mund gesteckt, so tief es ging, riß die Augen und blies die Backen auf, und hörte zu aus allen ihren Kräften. Eine andere preßte das Kinn an die Brust, glühte über und über, hielt beide Fäuste fest geballt, und die trotzige Ungeduld ihrer Mienen sprach: «Weiter! Weiter! – Was kommt jetzt?»

Anitschka, im höchsten Staate, mit buntem, turbanähnlich um den Kopf gewundenem Tuche und breiter Halskrause, saß steif und feierlich neben ihrem Abgotte. Ihr dreijähriges Schwesterchen und noch ein zweites leichtsinniges Wesen in gleichem Alter hockten auf dem Boden und teilten ihre Aufmerksamkeit zwischen der Rednerin und einem goldgrün schimmernden Rosenkäfer, den sie in einem Schächtelchen mitgebracht hatten und nun auf der Diele herumspazieren ließen.

Ronald blieb eine Weile in der Betrachtung dieser Gruppe versunken, bald jedoch, als würde er beschämt inne, daß er hier die unwürdige Rolle eines Lauschers spiele, zog er vorsichtig einen seiner schwerbestiefelten Füße nach dem andern zurück und trat von der Türe weg, die er unhörbar wieder schloß. Dann wendete er sich rasch und stand Aug‘ in Auge mit Bozena.

Sie war hinter ihm durch den Gang gekommen, ohne daß er sie bemerkt hatte.

Die beiden maßen einander mit den Blicken. Fast drohend schien der ihre zu fragen: «Was hast du hier zu lauschen?»

Mit harmlosem Erstaunen schien der seine zu sagen: «Warum mißgönnst du mir den holden Anblick?»

Ronald legte grüßend die Hand an seinen Hut. «Sie sind Bozena», sprach er, «wir haben uns vor zehn Jahren am Grabe Ihres Herrn gesehen.»

Bozena bejahte.

«Und die Märchenerzählerin dort ist das kleine Mädchen, das Sie damals vom Friedhof hinweg in Ihren Armen trugen. Nicht wahr?»

«Ja, Herr Graf.»

«Wie ist die hold und lieblich geworden!» sprach er mehr zu sich selbst als zu ihr.

Das Gesicht der Magd wurde immer finsterer; sie warf den Kopf in den Nacken, sah Ronald wieder an wie früher, mit dem mißtrauisch forschenden Blick, und schritt an ihm vorüber in den Saal.

Ronald gab seine Jagdbeute in der Küche ab und wanderte nach seinen Zimmern. Auf dem Schreibtisch, neben den hochaufgestapelten Wirtschaftsbüchern und Rechnungen, fand er neuangelangte Briefe, alle dringenden, alle gleichen Inhalts. «Ihr sollt bald erledigt werden», dachte er und ergriff die Feder, um den Auszug aus der Gutsbeschreibung zu beenden, die er für Regula entworfen hatte. Die Arbeit wollte nicht vom Fleck gehen; lächerlich zu sagen, denn – wer könnte diese optische Täuschung erklären? – über die Katastralmappe, auf die er von Zeit zu Zeit einen Blick werfen mußte, sah er ganz deutlich kleine braune Locken fliegen, wie man sie doch nur, natürlich gekräuselt und seidenweich im Nacken eines Mädchen schimmern sieht … Und auf dem länglichen Viereck, das zyrillische Buchstaben als «Wiese» bezeichneten, lagen Rosen – Rosen die Fülle … Eine Knospe darunter, die aufgeblühten alle an Schönheit überstrahlend, wunderbar in sich geschlossen, den grünen Kelch in zartes Moos gehüllt. Sie schien sich leise zu regen, ihr duftendes Blättergefüge sich zu lösen, sich atmend zu entfalten unter seinem Blicke … Wie kindisch doch und störend, solch ein müßiges Spiel der Phantasie! – Am störendsten aber und wirklich unerträglich ist ein Vorwurf, den er sich machen muß. Seine Mutter hat gestern zu sprechen begonnen von einem jungen Geschöpf, einem Kinde, dessen Anwesenheit für sie ein wahres Herzenslabsal sei, und er, nur mit dem beschäftigt, was er selbst zu sagen hatte, schenkte ihr kein Gehör. Ein Unrecht, das er sogleich gutmachen will.

Er hat sich rasch umgekleidet und schreitet durch die Halle; heiß strömt die Luft ihm entgegen, die Hitze ist drückend, ein schweres Gewitter steigt am Horizonte auf; wie dichter bleigrauer Qualm türmen die Wolken sich übereinander, dazwischen schießen Blitze ihre glühenden Pfeile.

Ein Knecht rennt über den Hof und ruft Ronald zu: «Das kommt! Das kommt»

Ronald stieg die Treppe empor und begab sich nach dem Zimmer seiner Mutter. Er fand sie nicht allein, das Fräulein von Fehse leistete ihr Gesellschaft; sehr angenehme wie es schien, denn beide lachten herzlich. Die Wände haben Ohren, aber keine Zungen, sonst hätten die alten ihre Bewunderung ausgesprochen über den ihnen völlig fremd gewordenen Schall, der heute so munter an sie anprallte.

Die Gräfin stellte Ronald ihrer kleinen Freundin vor. Diese wurde etwas verlegen, als sie hörte, daß er sie heute schon gesehen, und beinahe in Versuchung geraten war, sie zu belauschen, und sagte: «Das wäre nicht recht gewesen.» Er wisse das wohl, meinte Ronald, deshalb sei es auch nicht geschehen. Sie sprachen angelegentlich zusammen, von Weinberg, von dem alten Hause, in dem Röschen aufgewachsen, von Bozena und Mansuet. So unbefangen auch ihr Auge dem seinen begegnete, es lag etwas in ihrem ganzen Wesen, das sagte: «Wie weit bist du mir jungem Kinde überlegen und lässest mich’s doch nicht empfinden!» – Ihn aber machte der Anblick dieses anmutigen Röschens gar nachdenklich. Für wen bist du erblüht in Dunkel und Stille? Welche Hand ist bestimmt, dich einst zu pflücken? O wär sie stark, dich zu behüten im rauhen Leben … O wär sie zart, den Schimmer nicht abzustreifen, der wie Himmelsabglanz dein Wesen verklärt, ja, stark und zart, und bewahrte dir die Unschuld deiner Seele!

Das Gewitter war immer näher gekommen und stand nun senkrecht über dem Schlosse; keine Pause mehr zwischen dem Aufleuchten des Blitzes und dem Rollen des Donners. Die Gräfin und Röschen waren an das Fenster getreten und blickten hinaus, als plötzlich ein harter, rasselnder Schlag niederfuhr, der das Haus bis in seine Grundmauern erschütterte. Der Graf stürzte mit den Worten herein: «Das hat eingeschlagen!» Ronald eilte aus dem Zimmer, und sein Vater rief ihm nach: «Im Gartenflügel war’s!» … «Nein – nein!» hörte man ihn schon aus der Ferne antworten. – «Doch!» schrie der Graf, «im Gartenflügel!» Und so rasch er konnte, gefolgt von seiner Frau und Röschen, lief er in den Saal hinüber. An der Altanentüre angelangt, schlug der Greis die Hände laut zusammen und jammerte: «Meine Linden brennen! … Der Sturm erhebt sich – kein Tropfen Regen fällt vom Himmel, wir haben so lange Dürre gehabt … Meine Linden sind verloren!»

In der Tat, der große Ast des mittleren der Bäume, der wegstrebend aus der gemeinsamen Krone einen buschigen Bogen über die Straße bildete, stand in Flammen. Knechte und Landleute hatten sich um die Linden versammelt, blickten hinauf, schüttelten die Köpfe und teilten einander mit: «Dort oben brennt’s.» Jetzt aber drängte sich ein Mann durch die Gruppe der müßigen Zuschauer, erstieg den Sockel der Johannesstatue und schwang sich von da aus in die Zweige, in denen er verschwand. Bald sah man ihn, in der halben Höhe des vom Sturme gerüttelten Baumes, auf einem Ast stehen und gegen den brennenden wuchtige Beilhiebe führen, um ihn vom Stamme zu trennen.

«Wer ist der Narr?» fragte der Graf, mit schlecht verhehlter Besorgnis.

«Es ist Ronald», antwortete die Gräfin, kaum des Wortes mächtig. Eine kleine Hand streckte sich nach der ihren aus, Stütze bietend und – suchend, und die alte Frau blieb, an Röschen gelehnt, in stummer, von dem Kinde treulich geteilter Angst, im Fenster stehen.

Die Leute unten hatten inzwischen Feuerhaken herbeigeholt, und zerrten aus allen Kräften an den ihnen erreichbaren Zweigen des brennenden Astes. Das Feuer griff immer weiter um sich, beleckte schon das dürre Holz am Stamme, loderte schon zu Ronalds Füßen empor … Da strömte, wie aus plötzlich geöffneten Schleusen, ein Platzregen aus den Wolken nieder, und fast zugleich stürzte rauchend und prasselnd der gewaltige Ast unter weithin vernehmbarem Gekrache zur Erde. Die Heldenschar am Fuße der Linde machte sich über ihn her und löschte die aufzüngelnden Flammen, die noch um den Leichnam ihres Opfers kämpften. Erstaunliche Tätigkeit entfalteten dabei der Burggraf, Kutscher Florian, vor allen jedoch – Meister Peter.

Von dem Augenblicke an, da der Regen zu strömen begann, war der Graf ungeduldig geworden.

«Da haben wir’s!» rief er, «der Himmel löscht selbst, was er angezündet hat … Warum mir meine schönste Linde ruinieren?» … Er wandte sich um – – und sah mitten im Saale, möglichst fern von Fenstern und Türen, eine schwarz verhüllte Gestalt auf dem Sessel sitzen. Während die Anwesenden das Schauspiel an der Parkmauer mit leidenschaftlichern Interesse verfolgten, mußte sie sich, von ihnen unbemerkt, eingefunden haben.

«Fräulein Heißenstein?» fragte der Graf.

«Jawohl», antwortete eine Stimme unter der seidenen Mantille hervor, die ihre Eigentümerin sich um den Kopf gewickelt hatte: «Aber – sprechen Sie nicht! Der geringste Luftzug könnte einen Blitzstrahl herbeilocken.»

Der Graf versicherte, das Gewitter sei vorübergezogen, und bat sie, «sich zu developpieren.»

Die Gräfin und Röschen halfen ihr bei dieser Operation, denn allein vermochte sie sich nicht zu helfen. Sie war noch zu angegriffen und stammelte nur mit bleichen Lippen: «Ich glaubte, mich in das größte Gemach des Hauses flüchten und mich in Seide isolieren zu sollen … wegen der gefährlichen Elektrizität, Herr Graf, welche jetzt über unserer Atmosphäre schwebt.»

«Bravo, bravo, mein Fräulein», sagte der Greis, «das ist Vorsicht – deren Verwandtschaft mit der Weisheit wir kennen.»

Jetzt kam der Burggraf, pustend und sich den Schweiß von der Stirn wischend: «Keine Gefahr mehr! … Wir haben alles gerettet!»

«Ihr habt! Ihr habt! – Der liebe Herrgott hat – Ihr habt nichts getan als Unsinn, mir meinen Baum verstümmelt … Gibt es denn keine Feuerspritze? Hat keiner von den Dummköpfen an eine Feuerspritze gedacht?» rief der Graf zornig – in diesem Augenblicke war das nächstliegende Auskunftsmittel ihm selbst eingefallen.

«Die Feuerspritze ist noch nicht zurück von dem Waldhof, wohin sie gestern geschickt wurde, weil ein paar leere Bauernscheunen brannten – ganz unnötigerweise – ich hab es gleich gesagt», versetzte der Burggraf.

Sein Herr fuhr ihn an: «Da haben Sie etwas Sauberes gesagt! … Aber lassen Sie das jetzt gut sein. Kümmern Sie sich auch ein wenig um mich – sorgen Sie dafür, daß endlich aufgetragen werde. Meine ganze Hausordnung ist gestört … Wo bleibt Peter?»

Trotz aller Eile, mit der man nun das Auftragen des Mittagsmahles betrieb, wurde es vier Uhr, bevor die Herrschaften sich zu Tische setzen konnten. Der Gewitterregen war in einen dichten, anhaltenden Landregen übergegangen, man mußte den Rest des Tages im Zimmer zubringen, was die üble Laune des Grafen nicht wenig erhöhte.

Er hatte Ronald mit den Worten empfangen: «Trop de zèle, mein guter Ronald – trop de zèle», und sah ihn, schmollend wie ein Kind, entweder verdrießlich, oder gar nicht an. Der Nachmittag drohte langweilig zu werden; die Gesellschaft hatte sich in den großen Saal begeben. Regula dachte im stillen darüber nach, ob Ronald sie wohl verstehe? Der Graf vertiefte sich in die erstaunlichen Kombinationen eines Kapuzinerspieles, auch die Gräfin und Ronald schwiegen. Da sagte Röschen, die bisher ganz still und nachdenklich gewesen war, plötzlich: «Es war schrecklich, das Gewitter!»

«Haben Sie Angst gehabt? » fragte Ronald.

«O sehr», erwiderte Röschen, «um Sie!»

Regula warf ihrer Nichte einen mißbilligenden Blick zu, der Graf jedoch hob den Kopf empor und ein schalkhaftes Lächeln erhellte sein altes Gesicht. Seine Liebe zu seinen Kindern kam ihm augenblicklich zum Bewußtsein, sobald andere ihnen Teilnahme zeigten. Mit unnachahmlicher Liebenswürdigkeit sagte er zu Röschen: «Erlauben Sie, mein Fräulein, daß ich Ihnen im Namen dieses Landjunkers ohne Lebensart ergebenst danke!»

Seine Verstimmung war wie durch Zauber verschwunden, er machte Fräulein Heißenstein förmlich den Hof, was sie entzückte, und bat sie endlich, eine Partie Bézique mit ihm zu spielen. «Um die Ehre, natürlich.» Ronald könne indessen der Gräfin und Röschen etwas vorlesen. «Etwas Heiteres, etwas von Kotzebue. Nur mit deinen Klassikern verschone die Damen!»

Der Graf und Regula gingen an den Spieltisch, der in einer Ecke des Saales stand, und Ronald erkundigte sich nach Fräulein Röschens Geschmack in der Literatur. Die Schülerin Mansuet Weberleins legte arglos ihre Kenntnisse an den Tag, und welch eine drollige Raritätensammlung kam da zum Vorschein! Ronald konnte sich nicht genug wundern. Dieses reichbegabte, begeisterungsfähige Geschöpf hatte in die lichte Zauberwelt der Poesie niemals einen Blick getan; fremd geblieben war ihr alles Schöne, was je gesungen und gesagt worden.

Nach kurzem Besinnen holte Ronald ein stattliches Buch herbei; vielgelesen gab es Zeugnis von der Freundschaft, in welcher sein Besitzer zu ihm stand. Es enthielt einfache und hehre Gesänge aus uralter Zeit. Teils las, teils erzählte Ronald «dem freudig blickenden Mägdlein» von den Kämpfen herrlicher Helden um ein zauberisches Weib, um eine Stadt, die mit dem Urbilde der Schönheit das Verderben in ihre Mauern aufgenommen; vom unversöhnlichen Haß der Menschen und der Götter – – aber auch von Vaterlandsliebe, häuslicher Tugend, von Kindes- und Gattentreue. Er las, wie der tapferste all der Königssöhne, die hinausgezogen, um ihren bedrängten Herd zu verteidigen, Abschied nahm von seiner Gattin und von seinem lieben Kinde, wie er es geküßt und sanft in den Armen gewiegt … Ein tiefes Atmen, ein leises Schluchzen unterbrach Ronald. Röschen, die ihn eben noch mit leuchtenden Augen angesehen hatte, saß nun da mit gesenkten Lidern, bebenden Lippen und rang mit ihren Tränen.

Die Gräfin legte den Arm um sie, Ronald sprang bestürzt empor …

«Double Bézique!» rief der Graf triumphierend und lachte aus vollem Herzen: «Sie hätten das verhindern können, mein Fräulein!»

Aber das Fräulein war zerstreut gewesen. Sie hatte, statt ihre Aufmerksamkeit auf das Spiel zu konzentrieren, Ronalds verwünschtem «Tik-tak-tak» zugehört, wie der Graf, den Silbenfall des Hexameters nachahmend, sagte.

«O Herr Graf!» sprach Regel, ihre Karten auf den Tisch legend, «verunglimpfen Sie nicht den traulichen Sänger von Chios!»

Sie wünschte, daß Ronald weiterlese, aber dieser entschuldigte sich und sah dabei so verlegen, ja fast verstört aus, daß Fräulein Heißenstein der Behauptung des Grafen, eine gelehrte Dame, wie sie, imponiere seinem Sohne viel zu sehr, allen Ernstes Glauben schenkte.

Röschen blieb den Rest des Abends schweigsam; sie hatte einen mächtigen Eindruck empfangen; einen Blick in eine neue Welt getan; Gestalten, von unsterblichem Leben erfüllt, groß in Tugend und Schuld, an sich vorüberwandeln gesehen. Und aus dem Bilde voll Erhabenheit und Glanz war, umstrahlt von der Majestät des Schmerzes, ein liebes, schönes Menschenpaar hervorgetreten, und hatte sie an eine Erinnerung aus frühen Kindertagen gemahnt, die in ihr noch dämmerte.

«Es hat Sie allzusehr ergiffen», sagte Ronald zu Röschen, «den Abschied des Kriegers von Frau und Kind wollen wir nicht mehr lesen.»

«Im Gegenteil, noch oft, sehr oft!» erwiderte sie.

Ronalds Gedanken beschäftigten sich noch lange mit ihr, und kamen auch immer wieder auf eine vorläufig noch fiktive Persönlichkeit, auf den Mann zurück, der sie einst heimführen sollte. Wird er seines Glückes wert sein? – Wird er es zu ermessen verstehen? … Der Beneidenswerte! – Nicht das Leben nur darf er sie kennen lehren, auch dessen verklärtes Bild, die Poesie. Weiß unter Hunderten einer, was das bedeutet? Was es bei ihr bedeuten würde?

Bozena Kapitel 13

Im Laufe des nächsten Vormittags suchte Ronald das Fräulein Heißenstein im Garten auf, wo sie sich nach Bozenas Angabe befand, um ihr die inzwischen beendete Gutsbeschreibung zu übergeben und um mit ihr die Angelegenheiten Rondspergs zu besprechen. Regula versuchte mehrmals, der Unterhaltung einigen Schwung zu verleihen, aber es wollte nicht gelingen. Einmal wurde Ronald sogar fürchterlich zerstreut und antwortete auf ihre Bemerkung, es gebe nichts Träumerischeres, als einen sonnigen Sommertag, besonders nach einem Regentag: «Achthundert Joch, mein Fräulein!» Ein paar Minuten früher waren sie Röschen und Anitschka begegnet, die große Sträuße von Wiesenblumen trugen. Röschen hatte den ihren emporgehalten und Ronald im Vorübereilen zugerufen: «Für Ihre Mutter!»

Er wanderte weiter an Regulas Seite, und in einiger Entfernung von ihnen ging sein Vater mit dem Burggrafen im Garten spazieren; er hatte Ronald und das Fräulein wohl bemerkt, schien ihnen aber sorgfältig auszuweichen. Eine böse Vorbedeutung! Ronald wußte, wenn der alte Herr es vormittags vermeidet, mit ihm zu sprechen, so geschieht es, weil er etwas gegen ihn auf dem Herzen hat. Vor Tisch darf aber keine unangenehme Erörterung stattfinden, das wäre gegen alle Regeln der Hygiene. Ärgern darf man sich ohne Schaden für die Gesundheit erst nachmittags.

Bis dahin versparte sich denn auch heute der Greis das Aussprechen seines Verdrusses; der tückische Anstifter desselben, sein Günstling, wurde ausnahmsweise zum schwarzen Kaffee auf die Terrasse geladen. Und kaum hatte sich die Gesellschaft um den runden Tisch versammelt, als der Graf auch schon seinem ihm gegenübersitzenden Sohne zurief: «Unter anderm! Mir ist gemeldet worden, daß die Bauern Tag und Nacht an der Grenze jagen. Weißt du davon?»

«Nein, Vater», erwiderte Ronald und sah dabei den Burggrafen strafend an, was der mit dreister Gelassenheit ertrug.

«Mein guter Sohn kümmert sich um derlei Lappalien nicht», spöttelte der Graf. «Was liegt ihm daran? … Warum sollte der Bauer nicht jagen? – Es freut auch ihn, und seine Freude wiegt die des Edelmanns auf. Vor Gott sind wir alle gleich. Deshalb nehmen wohl die Hannaken, wie ich ebenfalls höre, die Pfeife nicht mehr aus dem Munde, wenn sie mit dir sprechen.»

Den Anfang seiner Rede hatte der alte Herr an die ganze Gesellschaft, ihren letzten Satz an seinen Sohn allein gerichtet; es war ein direkter Angriff, den Ronald mit lächelnder Ruhe hinnahm und mit dem offenen Geständnis beantwortete: «Es kommt freilich vor.»

Der Graf schüttelte sich, wie durchfröstelt von Widerwillen. «Zu meiner Zeit», fuhr er fort, «steckte der Bauer, wenn er mich von weitem sah, auf die Gefahr hin, in Flammen aufzugehen, die brennende Pfeife in seine Tasche. Dir – klopft er sie einmal auf der Nase aus.»

Dies sollte im Scherz gesprochen sein, kam aber um so bitterer heraus, je mehr der Graf sich bemühte, die in ihm gärende Entrüstung hinter seinem Spotte zu verbergen.

Die Gräfin erbebte leise, Regula verzog den Mund und dachte: «Wie kann man sich das bieten lassen?» Der Burggraf kicherte untertänig und Röschen erschrak und erbleichte … Was wird geschehen? – Wird Ronald zornig auffahren gegen seinen Vater? … Angstvoll schoß ihr Blick zu ihm hinüber und traf ein ernstes, aber unbewegtes Angesicht, auf dem ihr Auge ruhen blieb so voll Mitgefühl, so voll Bewunderung, daß der Mann unter diesem begeisterten Kinderblicke errötete und den seinen senkte.

Es war eine schwüle Sekunde, und allen gereichte es zur Erquickung, einen Wagen in den Hof rollen und Peter melden zu hören: «Frau Baronin kummen.»

«Meine Thilde!» rief der Graf lebhaft und erhob sich, um die Tochter zu begrüßen, deren sonore Stimme sich bereits in der Halle vernehmen ließ.

Gleich bei ihrem Erscheinen erklärte die Baronin, sie käme heute weder um Papas, noch um Mamas, sondern nur um Regulas willen, auf welche sie auch zuerst zuging und der sie flüchtig einen Kuß auf die Wange gab.

«Ronald und ich», rief die Freifrau, «wollen diese Städterin mit unserer Landwirtschaft bekannt machen, für die sie sich außerordentlich interessiert.»

Der Graf dachte zwar, davon habe er bis jetzt nichts bemerkt, aber es freute ihn immer, wenn sich jemand geneigt zeigte, die Herrlichkeiten Rondspergs in Augenschein zu nehmen.

Auf den Wunsch der Baronin mußte ohne Verzug angespannt werden; sie lachte, als ihre Mutter sie bat, doch ein wenig von ihrer Fahrt auszuruhen. Was tut man denn beim Fahren anderes als ruhen? Sie hatte keine Zeit zu verlieren, übermorgen in aller Gottesfrühe mußte sie wieder fort; denn: «Wir nehmen die Sommerbirnen ab und fangen schon Montag an, das Korn zu schneiden.»

Während die Baronin von der bevorstehenden Ernte sprach, hörte sie nicht auf, Röschen zu beobachten, und zwar mit einem Interesse und einem Wohlwollen, das ihr ein fremdes Wesen nicht leicht einflößte.

Sie hatte dem Unglück ihres Bruders heiße Tränen gezollt, damit war aber auch die Sentimentalität abgetan; nun hieß es, sich eine Räson machen, sich in das Unvermeidliche fügen. Ronald kann nichts Gescheiteres tun, als in den sauren Apfel beißen und die Weinhändlerin heiraten. Wenn die einmal ihre Schwägerin ist, wird Thilde sie schon dahin bringen, ihre allerliebste Nichte so großmütig auszustatten, daß sie ohne weiteres auf das Glück Anspruch machen darf, eine Schwiegertochter der Baronin Waffenau zu werden.

«Das kann sich alles finden», dachte die praktische Frau und mahnte zum Aufbruch.

«Auf Wiedersehen, Papa, auf Wiedersehen, Mama, auf Wiedersehen, Kleine!» Sie fuhr schmeichelnd mit der Hand über Röschens Scheitel. «Mich wundert», sagte sie zu sich selbst, «daß die kluge Regula dieses bezaubernde Ding mitgenommen hat. Ronald ist zwar sehr verständig, aber – er ist ein Mann; und ihn so geradezu herausfordern zum Vergleiche … Ich hätt es an ihrer Stelle nicht gewagt.»

Sie nahm Regulas Arm und führte sie hinweg. Fräulein Heißenstein aber fand, die Baronin erweise Höflichkeiten, die sie füglich ihrem Bruder überlassen sollte.

Ein hoher Jagdwagen war vorgefahren; die beiden Damen installierten sich darin, Ronald schwang sich auf den Vordersitz und ergriff die Zügel. Florian wurde, zu seiner großen Unzufriedenheit, daheim gelassen. Er hätte sich so gern zum Cicerone des Stadtfräulein gemacht, weil der junge Herr Graf gar nicht verstand, den Leuten, wie sich’s gehört, Sand in die Augen zu streuen.

Das Ziel, nach dem Ronald lenkte, war ein ansehnlicher, zu Rondsperg gehörender Hof, der von ziemlicher Höhe aus die Gegend beherrschte. Nach einer Viertelstunde raschen Fahrens hielt der Wagen vor einem Gebäude, das ehemals ein Schlößchen gewesen und später in einen Schüttkasten umgewandelt worden war. Leere Scheunen und Ställe schlossen sich hufeisenförmig an ihn an. In der Mitte des Hofes stand ein Kastanienbaum, in dessen Schatten ein alter Hahn mit gichtisch zuckenden Beinen und zerzaustem Gefieder seinen ihn umgebenden Harem bewachte. Ein paar Schritte weiter befand, sich ein Ziehbrunnen, neben dem einige Holzrinnen, die ein Knabe mit Wasser zu füllen beschäftigt war, auf dem Boden lagen. Dieser Junge wurde herbeigerufen und ihm die Hut der Pferde anvertraut.

«Gib acht auf Kocka und Myska!» rief ihm die Baronin zu, und hüpfte leicht, wie ein sechzehnjähriges Mädchen, aus dem Wagen.

Regula zeigte sich beim Aussteigen so unbeholfen, hatte so gar keine Ahnung, wohin sie den Fuß setzen sollte, daß Ronald sich genötigt sah, sie in seine Arme zu nehmen und aus dem Wagen zu heben, was er denn auch ohne Umstände tat und was ihr recht zu sein schien. Dann geleitete er sie durch das offene Tor der Scheune zu einem mit Erlen bewachsenen Platze, der eine weite Fernsicht gewährte.

«Von hier aus», sagte Ronald, «überblicken Sie so ziemlich die Rondsperger Flur. Die Wiese dort unten, hinter dem breiten Gerstenfeld … Mein Gott, Fräulein, wohin sehen Sie denn? Links – noch weiter – so! … Die Wiese dort, die Pappeln auf jener Hügelkette, zu deren Füßen Sie das Schloß sehen … sehen Sie es?»

Regula versicherte, sie «nehme es ganz deutlich wahr».

«Und das Flüßchen drüben im Tale, das stellenweise herüberschimmert, wo seine Ufer sich verflachen – bilden die Grenzen Ihres Reiches. Hier, mein Fräulein, übergebe ich Ihnen Rondsperg. Die gerichtlichen Schritte macht Doktor Wenzel, unser beiderseitiger Vertrauensmann. Für Sie und mich ist der Kauf mit diesem Handschlage geschlossen.»

Er reichte ihr die Hand und seine Schwester bemerkte, daß er leicht erblaßte, als Regulas Hand in die seine sank. Fräulein Heißenstein blickte ihn dabei an, schmachtend – erwartungsvoll, und sah so komisch aus, daß die Baronin ein Lachen verbeißen mußte, obwohl sie in einer Stimmung war – einer Stimmung! … Sie hätte alle Welt prügeln mögen.

Regula warf Kennerblicke um sich, fragte vor einer Stechapfelstaude, ob dies nicht Enzian sei; verwechselte Schierlings- mit Eibischblüte und Hirse mit Reps, und erklärte zuletzt, sie müsse gestehen, daß sie die umliegenden Felder schön finde.

«Sie sind leider verpachtet auf Jahre hinaus», rief die Baronin, «parzellenweise verpachtet und – unter welchen Bedingungen! …»

Sie lief in Verzweiflung zwischen der Scheune und einem Hühnerstalle hin und her. «Das ist der gute Papa gewesen, sehen Sie – der gute Papa! Ganz Rondsperg verpachten, was uns vor Jahren noch hätte retten können – o eher sterben! … Aber hie und da einen abgelegenen Acker an einen Gläubiger, warum nicht? – Dann aber auch um ein Stück Brot! …»

Ronald fiel seiner Schwester ins Wort: «Es bietet sich jetzt die Gelegenheit», sagte er, «den größten Teil der Pächter mit geringen Opfern abzufinden. Sie müssen es tun, Fräulein. Ich rate Ihnen, diesen Ihren besten Hof einzulösen und, wenigstens solange ich noch hier als Ihr Bevollmächtigter fungiere, in eigener Regie zu behalten.»

«Ich werde tun, was Sie mir raten, Herr Graf», sprach Regula und trat an seine Seite, und als die beiden nebeneinander standen, dachte die Baronin: «Es ist doch nicht möglich! – Nein, es ist doch nicht möglich!»

«Auch wollte ich Ihnen ankündigen «, fuhr Regula fort, «daß mein Sekretär mit der ersten Rate des Kaufschillings morgen früh hier eintrifft und …»

«Aber, liebste Regula!» unterbrach sie die Baronin, «was fällt Ihnen ein, den Mann hierher zu bestellen? Seine Ankunft würde Aufsehen in Rondsperg machen. Er darf nicht kommen. Ronald muß Ihren Schimmel» – sie nahm sich niemals Zeit, Schimmelreiters ganzen Namen auszusprechen – «auf der Station erwarten, das Geld in Empfang nehmen, den Überbringer aber bitten, um Gottes willen wieder heimzufahren. Wenn der Burggraf zehn Worte mit dem Sekretär tauscht, so kommt er euch hinter euren frommen Betrug und rapportiert ihn Papa in einer Weise, die an uns allen zusammen nicht ein gutes Haar läßt!»

Ein alter Schäfer, der den Tieren, die er trieb, ähnlich sah, kam mit seiner kleinen Herde den Berg herauf und wünschte «guten Nachmittag». Während Ronald sich mit ihm in ein Gespräch einließ, spazierte Thilde von einem Gebäude zum andern, öffnete die Türen, sah in die Fenster hinein und rief: «Diese Mauer stürzt nächstens zusammen, – hier braucht’s einen neuen Dachstuhl, – der Stall muß eingerissen werden! … Prickelt es einem nicht in allen Fingern? Möchte man nicht gleich selbst Hand anlegen?»

Jetzt kam auch das Weib des Schäfers herbei und begrüßte die Baronin mit großen Freudenbezeugungen, brach aber sofort in heftiges Schluchzen aus und klagte unter beständiger Anrufung des göttlichen Heilands und der «svatá panenka» Maria: «Daß ich meine gnädigen Herrschaften so selten sehe! Dreizehn Jahr – dreizehn Jahr sind der Herr Vater und die Frau Mutter nicht mehr bei uns gewesen … Es ist ihnen hier zu traurig … Freilich, wie sieht es auch aus!»

Die Baronin tröstete sie: «Sei ruhig, Liborka! Es wird anders werden. Nicht wahr?» sprach sie zu ihrem Bruder, der sich genähert hatte, «nächstens schickst du Maurer und Zimmerleute herauf?»

Ronald erwiderte, dies könne, mit Erlaubnis Fräulein Heißensteins, schon morgen geschehen. Fräulein Heißenstein freute sich darüber sehr, erkundigte sich nach den Ziegelpreisen und legte beachtenswerte Kenntnisse im Baufache an den Tag.