Bozena Kapitel 21

5.

Während Bozena in so schweren Herzenskämpfen rang, wurde auch ihr Schützling von seinem Schicksal ereilt. Zugleich glücklicher und unglücklicher als ihre Getreue, hatte Rosa eine Neigung eingeflößt, die sich nicht verbarg, die nur allzu eifrig zur Schau getragen wurde, die aber so gut wie keine Hoffnung bot, zu ihrem Ziele, dem Frieden einer erwünschten Ehe zu gelangen.

Seit einigen Monaten war in der Umgebung Weinbergs ein Ulanenregiment einquartiert, dessen hübschester Leutnant den großen, sehr mittelmäßig gepflasterten Platz des Städtchens für den geeignetsten Ort zu halten schien, wo seinen Pferden die letzte, höchste Dressur beizubringen wäre. Er kam heut auf dem Mohrenkopf und morgen auf dem Schwarzbraun; er umkreiste den steinernen Marktbrunnen im Jagdgalopp, im spanischen Schritt, im kurzen und im langen Trabe. Er jagte, die Hand am Schirme seines Käppchens, im Fluge wie ein Kosak, oder er ritt feierlich und langsam wie der Cid unter Ximenens Altan, an dem alten Hause vorüber. Und am Fenster stand Rosa voll Bewunderung und lächelte ihm zu. Seit dem Augenblicke, da sie ihn zum erstenmale gesehen, hatte ein neues Leben für sie begonnen. Seltsam, seltsam war ihr’s damals ergangen. So, meinte sie, so rasch, so plötzlich und unwiederbringlich hätte noch keine ihr Herz verloren, nein, verschenkt – gern, glückselig verschenkt.

Mit klingendem Spiele und flatternden Fähnlein war das Regiment auf einem Marsche nach der neuen Garnison durch die Stadt geritten. Und Rosa, von dem Schalle der lustigen Musik an das Fenster gelockt, hatte sich ergötzt an dem bunten Schauspiel zu ihren Füßen; Zug um Zug marschierte vorüber und manches Auge richtete sich mit Wohlgefallen auf das Mädchen, das so übermütig auf die staubbedeckten Reiter herabsah, als defilierten sie nur ihr zu Ehren und zum Spaße da vorbei.

Endlich kam er herangeritten, nachlässig, mit schlaffen Zügeln, und träumte vor sich hin. Nun schien das alte Haus seine Aufmerksamkeit zu erregen. Wie ein verwitterter Aristokrat inmitten geschniegelter Emporkömmlinge nahm es sich mit seinen etwas abgebröckelten Stukkaturen, seinen schweren Strebepfeilern und tiefen Fensterbogen aus, neben den blanken, charakterlosen Nachbarn. Der Offizier sah an dem grauen Gemäuer empor, wie überrascht von seiner altertümlichen Schönheit. Als wecke es in ihm eine wehmütige Erinnerung, betrachtete er es ernsthaft, ja traurig und doch fast liebevoll. Und jetzt begegnete sein Blick dem der Rose am Fenster, dieser holden, trotzigen Rose, so schön, so frisch in ihrer düsteren Umrahmung. Vier junge Augen ruhten ineinander mit unschuldigem Erstaunen, mit selbstvergessenem Entzücken. Und das alte, ewig neue Wunder vollzog sich; in zwei von Schmerz und Glück noch unberührten Seelen erwachte die Sehnsucht und mit Bangen die Ahnung all der Wonnen und all des Wehs, die sie bestimmt waren einander zu bereiten, die Ahnung des großen Lebensgeheimnisses, das Aufgehen des eigenen in einem fremden Dasein.

Unwillkürlich hielt der Jüngling sein Pferd an, und stand regungslos mit emporgewandtem Haupte, mit dem Ausdruck der seligsten Bewunderung auf seinem Gesichte. Eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, eine Stimme, die ihn anrief: «Schläfst du, Fehse?» weckte ihn aus seiner Versunkenheit. Er errötete über und über und setzte sich wieder in Bewegung. Der Kamerad aber war der Richtung, welche die Augen des Freundes genommen, mit den seinen gefolgt, er lächelte und machte eine Bewegung, als wollte er sagen: «Ja so – jetzt verstehe ich!»

Und Rosa, bestürzt, beschämt, eilte vom Fenster hinweg, mit dem Gefühl einer ertappten Sünderin. Wie peinlich war der Augenblick! Und doch – sie hätte ihn nicht tauschen mögen gegen alle frohe Stunden, die sie bisher erlebt.

Das kindische Pärchen flog in sein erstes Liebesabenteuer hinein wie junge Vögel in das Feuer. Damals hatte ein österreichischer Offizier alle mögliche Zeit, seine Privatangelegenheiten zu besorgen. Wenn er, wie Fehse es tat, auch täglich drei Meilen weit ritt, um an der Wand den Schatten seiner Angebeteten oder am Fenster den Schimmer ihres Nachtlämpchens zu erblicken, der Dienst, der ihm oblag, brauchte nicht darunter zu leiden.

Später wurde der Leutnant in ein dem Städtchen näher gelegenes Dorf versetzt, und nun begannen jene Fensterparaden auf dem Platze, die sehr bald Rosas Freude ausmachten und Herrn Heißenstein ein Ärgernis gaben.

Frau Nannette nahm von alledem keine Notiz.

Eine Sache, von der man sich nur Kenntnis verschaffen konnte, indem man aus dem Fenster sah, fand sie für angemessen zu ignorieren. Sie predigte nicht etwa mit Worten allein, sie predigte durch ihr Beispiel. Sie pflegte zu unterlassen, was Regula bleiben lassen sollte.

Jawohl, bleiben lassen! Oder hat man jemals gehört, daß ein wohlerzogenes Mädchen Lust und Zeit hätte, aus dem Fenster zu sehen? Wenn dies der Fall, dann muß Frau Nannette sich schämen und ihre Unwissenheit bekennen. Denn wahrlich, ihr ist dergleichen niemals zur Kenntnis gekommen.

Einen stillen, aber heißen Bewunderer fanden die equestrischen Übungen des Leutnants an Mansuet Weberlein. Von seinem Kasten aus, in dem er hockte wie der Frosch im Wetterglase, begleitete der Kommis die Versuche des Ulanen, Fräulein Augentrosts Aufmerksamkeit zu erwecken, mit seinen innigsten Sympathien. Er war ein so begeisterter Anhänger des Militärs, daß er jedem Unternehmen, gleichviel ob es von dem ganzen Stande oder von einem einzelnen seiner Mitglieder in das Werk gesetzt wurde, das beste Gedeihen wünschte.

Wie es kam, daß sich in Weberleins Seele kriegerische Neigungen entwickelten, ist unerklärt geblieben. Er stammte aus einem friedfertigen Geschlechte. Seine Ahnherren hatten als Kommis im Geschäfte Heißenstein gedient, solange dasselbe überhaupt bestand, und sein Vater hatte ihn auferzogen in der Furcht Gottes und der Militärpflicht. Und trotzdem! Als er achtzehn Jahre alt und noch nicht viel über drei Schuh in der vertikalen, aber schon bedenklich in der schrägen Richtung gewachsen war, da kamen Werber aus Ungarn herüber in die Stadt. Mansuet entlief seinem väterlichen Hause und stellte sich.

Er wurde ausgelacht und heimgeschickt. Aber von diesem Tage an galt er in seiner Familie für einen Haudegen, und fühlte sich in einem gewissen Grade mit dem Soldatenwesen verbunden.

In gemütlichen Stunden sagte er zu seinen Vertrauten: «Sehen Sie, jetzt wäre ich Hauptmann, wenn ich nämlich gedient, ich wäre sogar Major, wenn man mich nämlich dazu gemacht hätte.»

Er wußte den Militärschematismus auswendig und avancierte mit seinen eingebildeten Kameraden, in seinem eingebildeten Range. Wenn der hübsche Leutnant Fehse am Hause vorüberritt, da verfehlte Mansuet niemals, dem zweiten Kommis zuzuflüstern: «Sehen Sie, der wäre jetzt mein Subordinierter, wenn ich nämlich gedient hätte, bei den Ulanen nämlich, und zwar im zweiten Regimente.»

Die unschwer zu erratenden Absichten seines «Subordinierten» aus allen Kräften zu fördern, empfand Weberlein den lebhaftesten Drang. Und eines schönen Morgens, als Fehse wieder sein Pferd auf dem Platze tummelte, bemerkte sein stiller Gönner, mit einer Hand auf den Schützling deutend und mit der andern dem Prinzipal einen Brief zur Unterschrift vorlegend: «Ansprechendes Exterieur, das des Herrn Leutnants. Scheinen hier einen Punkt der Anziehung gefunden zu haben.»

Und als Heißenstein schwieg, fuhr der Kommis mit einem diplomatischen Lächeln fort: «So frei gewesen, über den Herrn Leutnant Erkundigungen einzuziehen. Bei Großhändler Heller. Sind dort täglicher Gast. Gute Referenzen. Sehr estimiert im Regimente, höchst anständig.»

«Kümmert das Sie?» fragte Herr Heißenstein in wegwerfendem Tone und schob dem Kommis den unterzeichneten Brief hin.

Weberlein legte einen zweiten vor und erwiderte: «Sehr viel. Die Anständigkeit des Nebenmenschen kümmert mich immer sehr viel.»

«Sie wollen sich vermutlich mit ihm in Verbindung setzen», bemerkte der Prinzipal spöttisch. Weberlein war einmal entschlossen kühn zu sein; er ließ sich nicht irremachen durch die majestätische Ironie Heißensteins. Er dachte: «Wetter! man muß etwas tun für seine Freunde. Ein gutes Wort kann Wunder wirken; es kann Möglichkeiten ins Auge fassen lassen, die sonst nicht erwogen worden wären.»

Und so sprach er: «In Verbindung – ich? – Nur insofern, als ich vermöchte, eine Verbindung mit anderen Personen zu vermitteln, die ihm wahrscheinlich erwünschter wäre.»

Während dieser letzten Rede hatte der Haudegen seine Augen recht fest auf das Blatt in seiner Hand gerichtet. Jetzt wandte er sie seinem Chef zu. Der saß kerzengerade aufgerichtet und machte eine so eisige Miene, daß Mansuet sich von ihrem Anblick durch und durch erkältet fühlte und hüstelnd, als fröre ihn, seinen Rock zuknöpfte. Heißenstein sah den Kommis von der Seite an, und jede Falte auf seinem Gesichte, jedes Haar seiner emporgezogenen Augenbrauen schien zu sagen. «Dieser Mensch wird mich niemals verstehen!»

Der Tag verging. Herr Heißenstein ging auffallend früh und in auffallend schlechter Laune zum Abendessen. Die letztere wurde noch vermehrt, als er Rosas Platz am Tische unbesetzt fand. Ein unerquickliches Gespräch entspann sich zwischen dem Herrn und der Frau vom Hause.

«Wo ist Rosa?»

«Wie allabendlich bei Heller.»

«Wer gab ihr die Erlaubnis…»

«Die nimmt sie wohl selbst. Wer hätte der etwas zu erlauben?»

«Ich!» schrie Heißenstein.

«Du hast doch bis jetzt gegen diese Besuche nichts einzuwenden gehabt», meinte Frau Nannette.

«Von nun an hab ich dagegen einzuwenden», war des Hausvaters kategorische Antwort, und Bozena erhielt den Befehl, Rosa sofort abzuholen und nach Hause zu bringen. Die Magd gehorchte, und Regel, die inzwischen ihre Suppe ausgelöffelt und ohne das leiseste Geräusch geschluckt hatte, küßte ihren Eltern die Hände, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und verließ das Zimmer.

Das Ehepaar war allein.

Er hatte die «Brünner Zeitung», sie ihren Strickstrumpf zur Hand genommen. Vor ihm stand eine Flasche Weines, vor ihr ein kleiner Arbeitskorb, in dem das Knäuelchen, infolge der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der sie strickte, ruhelos umherhüpfte. Die Bewegung dieses Knäuelchens schien Herrn Heißenstein unangenehm zu sein, denn er sah es manchmal über die Zeitung hinweg grimmig an.

Eine Atmosphäre des Unbehagens umgab die beiden alten Leute, und Frau Nannette bemühte sich vergeblich, sie zu zerstreuen. Sie lächelte, nickte mit dem Kopfe, sagte von Zeit zu Zeit: «Ja, ja» und: «Du lieber Gott, schon ein Viertel nach neun!» Oder: «Wie doch ein Tag so rasch vergeht!» Sie versuchte sogar durch ein kleines, gemütliches Gähnen die gezwungene Stimmung in eine bequeme zu verwandeln. Alles umsonst!

Endlich hielt sie im Stricken inne, und indem sie mit der Nadel einige Brotkrümchen auf dem Tische in eine gerade Linie schob, teilte sie ihrem Manne mit, als besänne sie sich dessen plötzlich – daß sich ihr heute vormittags auf der Promenade Leutnant von Fehse habe vorstellen lassen.

Herr Heißenstein äußerte den Anteil, den er an dieser Nachricht nahm, dadurch, daß er halblaut zu lesen begann: «Versteigerung der kärntnerischen Kammerfondsherrschaft Friesach, samt der Fronleichnamsbruderschaft Metnitz…»

Frau Nannette fuhr fort: «Ein sehr gebildeter, sehr wohlerzogener junger Mann…»

«An Gebäuden, an Grundstücken, an Untertanen, an Zehenten», murmelte Heißenstein.

«Du hörst nicht, Lieber», sprach seine Gemahlin, und setzte mit größerem Nachdrucke hinzu: «von altem Adel, aus Hannover.»

In einem Tone, der deutlich sagte: «Ich will auch nicht hören», und mit, wie es schien, gesteigertem Interesse an seiner Zeitung, las Heißenstein: «An Untertansgiebigkeit, an unsteigerlichem Gelddienste 609 Gulden 23¾ Kreuzer…»

«Die Fehse sind so alt wie die Montmorency», rief nun Frau Nannette etwas gereizt dazwischen, und vergaß in der Aufregung, ihrer Rede die logische Gliederung zu geben, die sie ihr sonst so gern verlieh. – «So alt wie die Montmorency, und er spricht das schönste Deutsch, das ich jemals hörte.»

«An Kleinrechten», las Heißenstein weiter: «Ein Paar Filzstiefel, ein Stück Hechten, siebenundzwanzig Hendeln, zwei Faschingshühner – – einhundertundfünf Pfund Harreisten…»

Jetzt riß der Faden von Frau Nannettens Geduld. Mühsam, mit großer Selbstüberwindung knüpfte sie ihn wieder zusammen.

Sie beugte sich vor, tippte mit der Stricknadel auf den Ärmel ihres Mannes und sprach: «Es wäre mir angenehm, wenn meine Regula öfters Gelegenheit hätte, dieses ganz vortreffliche Deutsch sprechen zu hören. Das Kind ist so bildungsfähig! Man sollte es nicht glauben, aber heute vormittags wechselte Herr von Fehse einige Worte mit ihr, und schon nachmittags überraschte sie mich mit der Anwendung einiger Imparfaits und Subjonctifs, und mit einer weichen Aussprache der Zischlaute, die mich entzückte. Gestatte demnach, lieber Mann…»

Die Stricknadel fuhr schmeichelnd über den Rockärmel, und bittende Augen ruhten auf dem hartnäckigen Leser. Dieser erhob den Kopf und lächelte seine Ehehälfte an, spöttisch, geringschätzig, herausfordernd.

Frau Nannette fühlte augenblicklich ihre Lippen trocken werden und ihren Hals sich zusammenschnüren. Sie dachte, nicht ohne einen kleinen Schauder, daß es möglich sei, einen Menschen inständigst zu hassen durch ein ganzes Leben hindurch, wegen eines einzigen Lächelns, wenn es so viel Verachtung, so viel Hohn ausdrücke wie dieses.

«Du wünschest also», sprach Herr Heißenstein, «wenn ich recht verstehe, einen Montmorency – Gott, wie sprach der Mann diesen edlen Namen aus! – als Sprachlehrer für unsere Regel. Ich zweifle, ob diese Art in solcher Eigenschaft zu fungieren pflegt, bei Weinhändlerstöchtern.»

Jetzt wurde die Türe des Vorzimmers geöffnet; die Stimme Rosas ließ sich vernehmen. Herr Leopold stand auf: «Genug gescherzt!» rief er, während seine Tochter eintrat. Er wandte sich gegen sie und schleuderte ihr in drohendem Tone die Worte zu: «Herr Leutnant Fehse wird mein Haus niemals betreten!»

Das Mädchen erbleichte und fragte ganz verwirrt über diesen sonderbaren Empfang: «Warum, Vater? – Warum? – Was hast du gegen ihn?»

«Nichts gegen ihn, nichts für ihn», erwiderte Heißenstein, «und dabei soll’s sein Bewenden haben.»

«Warum?» wiederholte sie, «er ist brav und gut, alle Welt liebt ihn.»

«Du wohl auch?» fuhr er sie mit grausamem Spotte an.

«Ja!» antwortete Rosa hochaufatmend.

Er sah sie an und eine leise Regung des Erbarmens mit dem Kinde wurde lebendig in seiner Seele. Streng, aber ohne Härte sprach er: «Schlag dir die Löffelei aus dem Kopfe! Ich will nichts wissen von einem Herrn von Fehse. Du hast gehört, mein Haus betritt er nie.»

«Doch Vater!» war die kühne Antwort des Mädchens, «er kommt morgen. Er will bei dir um mich werben.»

«Werben?!» schrie Heißenstein in aufloderndem Zorne. «Werben?!» Mit flammendem Gesicht schritt er auf seine Tochter zu…

Frau Nannette lief es kalt über den Rücken und mit einem kleinen Schrei sprang sie auf, floh in die Fensterecke und wünschte zu sein, was ihr Mann sie einst genannt: eine Maus – um sich verkriechen zu können.

Anders empfand die Tochter, die Schuldige, auf deren Haupt das Ungewitter sich zu entladen drohte, das die funkelnden Augen des Vaters, seine zuckenden Lippen, sein röchelnder Atem verkündeten. Furchtlos kreuzte sie die Arme und sah ihn mit trotziger Entschlossenheit an. Sie war schön, und Bozena hatte doch recht: sie glich ihrer Mutter. Selbst jetzt noch, in ihrem Zorne mahnte sie an die sanfte Frau. – Jene hätte das Haupt gebeugt, sie erhob’s – jene hätte den Kampf vermieden, sie nahm ihn auf – und dennoch! und dennoch!…

Mitten in seiner Wut, in seiner Empörung über den Widerstand, den sie zu leisten wagte, kam es ihm: Ich hab das Mädchen lieb! – Und wie Ekel an all der Kriecherei und Heuchelei um ihn her, erfaßte es ihn und zog ihn mit Macht zu der einzigen, die seinem Willen ihren Willen entgegensetzte.

Es war totenstill im Zimmer. Frau Nannette zitterte unhörbar, und Vater und Tochter standen einander lautlos gegenüber. Endlich sprach Heißenstein: «Er will kommen? Gut denn.»

«Vater!» rief Rosa, jubelnd über diese unerwartete Antwort. Sie ergriff seine Hand und wollte sie küssen. Er entzog sie ihr mit den Worten: «Mache dir keine Hoffnung, du Törin.»

*

Heißenstein empfing den Herrn Leutnant von Fehse mit aller möglichen Steifheit. Als der Offizier von Bozena geleitet eintrat, erhob sich der Herr des Hauses, ging ihm aber nicht entgegen. Er ließ ihn herankommen, erwiderte seinen militärischen Gruß mit einem Kopfnicken, und als Fehse sich nannte, wies er ihm schweigend einen großen Lehnstuhl an, der neben dem Schreibtische stand. Er selbst setzte sich wieder auf seinen kleinen unbehaglichen Strohsessel. Gerade aufgerichtet vor seinem Gaste, die Hände auf die Knie gelegt, jede einleitende Phrase verschmähend, erklärte er dem jungen Manne, er wisse, welch einen ehrenvollen Antrag zu stellen der Herr Leutnant gekommen sei und bedauere lebhaft, daß die obwaltenden Verhältnisse ihn zwängen, denselben abzulehnen.

Fehse wurde abwechselnd blaß und rot, richtete seine sanften blauen Augen voll Treuherzigkeit auf den Kaufmann und erklärte seinerseits, daß er Fräulein Rosa innigst liebe.

Herr Heißenstein schenkte dieser Versicherung unbedingten Glauben und der Offizier fühlte seine Hoffnung, daß der Vater seiner Geliebten nicht unerbittlich sein könne, wachsen. Er rief, er sei zwar noch sehr jung, bekleide noch keine hohe Charge, habe kein Vermögen, aber er stamme aus einer geachteten Familie, trage einen ehrenwerten Namen, besitze leidliche Fähigkeiten und hoffe Karriere zu machen. Über seinen Ruf bei Vorgesetzten und Kameraden möge Heißenstein Erkundigungen einziehen, sein Oberst sei bereit, sie zu erteilen.

Während er sprach, beobachtete der Geschäftsmann ihn scharf. – Eines großen Geistes Kind bist du nicht, dachte er, aber ein hübscher anständiger Bursche. Fehses offenes Wesen machte einen günstigen Eindruck auf den mißtrauischen und zurückhaltenden Kaufherrn, und der Gedanke an die Möglichkeit einer Vereinbarung flog ihm durch den Sinn. Aus Liebe hat schon mancher größere Opfer gebracht, als das wäre, das der junge Edelmann um Rosas willen bringen müßte, sagte sich Heißenstein.

Er begann umständlich und mit Bedacht dem Offizier zu erzählen, seit wie vielen Generationen das Geschäft, an dessen Spitze er stehe, sich in seiner Familie vom Vater auf den Sohn fortgeerbt habe. Ihm hätte der Himmel seinen Sohn genommen, aber seine ehrenwerte Firma müsse doch fortbestehen, und so sei es denn sein unabänderlicher Entschluß, die Hand seiner älteren Tochter nur demjenigen Manne zu gewähren, der sich herbeiließe, den Namen Heißenstein anzunehmen und dereinst das Handlungshaus weiterzuführen.

Das Gesicht Fehses verfinsterte sich, und als Heißenstein mit den Worten schloß: «Wollen Sie auf diese Bedingung eingehen?» antwortete er bebend vor Entrüstung: «Was berechtigt Sie zu glauben, daß ich meinen Namen weniger hochhalte, als Sie den Ihren? … Ich bin übrigens Soldat mit Leib und Seele und will es bleiben mein Leben lang.»

Herr Heißenstein zollte der klaren und männlichen Sprache des Offiziers, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ und ihre Unterredung beendete, seine Anerkennung. Er fügte, sich erhebend, hinzu, daß er von einem Mann von so korrekter Gesinnung auch ein korrektes Benehmen erwarte. Er äußerte seine, aus seiner Hochachtung für Herrn von Fehse entspringende Überzeugung, daß dieser künftighin jede Gelegenheit, Rosa zu begegnen, meiden werde, und unter der soeben ausgesprochenen Verzichtleistung auf ihre Hand auch die Verzichtleistung auf ihre Neigung verstehe.

«Keine von beiden!» entgegnete der junge Offizier flammend und glühend. «Ich liebe Ihre Tochter und werde von ihr geliebt, ich werde alles daran setzen, sie zu erringen!»

Und gleich darauf, seine Heftigkeit bereuend, flehte er: «Machen Sie uns nicht unglücklich!»

«Verlieren Sie keine Worte», sprach Heißenstein. «Es dürfte Sie später verdrießen, wenn Sie sich erinnern würden, Herr Leutnant von Fehse, daß Sie sich vor einem Weinhändler umsonst gedemütigt haben.» Er machte einige Schritte gegen die Tür.

«Ich werde», rief Fehse außer sich, «nie von Ihrer Tochter lassen! – Und seien Sie überzeugt: sie auch nicht von mir! … Sie sollen bereuen, was Sie heute tun. Merken Sie wohl: Ich habe Ihnen nichts versprochen. Ich habe kein Wort zu halten als das Wort, das ich ihrer Tochter gab!» Heißenstein stand eine Weile in Gedanken versunken und blickte dem Enteilenden nach. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und verfaßte einen langen Brief, den er noch am selben Tage eigenhändig der Post übergab.

Rosa wurde fortan unter strenger Aufsicht gehalten. Zwei traurige Monate hindurch durfte sie das Haus nicht verlassen, und außer in Gegenwart Frau Nannettens keinen Besuch empfangen. Dennoch gelang es Fehse einmal, ihr Nachricht zu geben, und Bozena, die im Zimmer neben dem ihren schlief, und der es war, als habe sie ihren Liebling schluchzen gehört, fand Rosa, als sie an ihr Bett trat, im Schlafe weinend, wie sie es als Kind oft getan. Und dabei hielt sie ein beschriebenes, von Tränen durchnäßtes Blättchen an ihre hochgerötete Wange gedrückt.

Am nächsten Morgen fragte Bozena wohl: «Was war das für ein Brief?» Aber sie bekam eine ausweichende Antwort, und begnügte sich damit.

«Wie mögen Sie Rosa quälen?» sagte sie zu ihrem Herrn. «So eine erste Liebelei, das ist wie Märzenschnee…»

So rein, meinte sie, und so vergänglich.

Von Ahnungen und Träumen nährt sich die junge Liebe, ist fern von ihrem Gegenstand glücklich durch den Gedanken an ihn; wenn sie weint, so freut sie sich ihrer Tränen, und wenn sie leidet, ist sie stolz auf ihren Schmerz … Was bedeutet die unschuldige Schwärmerei eines Kindes gegen die lodernde Höllenglut im Herzen Bozenas.

Bozena Kapitel 22

6.

Heißenstein erschien eines Tages in ungewöhnlich guter Stimmung im Familienzimmer. Er hatte zwei angenehme Nachrichten erhalten. Die erste lautete, das Regiment des Leutnants von Fehse sei im Begriffe, in eine neue Garnison zu marschieren; die zweite hatte ein Brief gebracht, die Antwort auf das Schreiben, das er nach seiner Unterredung mit dem Offizier nach Wien geschickt.

Sie lautete:

Euer Wohledlen zeige ich hiermit an, daß mein Sohn Joseph sich im Verlaufe der nächsten Woche die Ehre geben wird, Euer Wohledlen persönlich aufzuwarten. Derselbe ist vor wenigen Tagen aus England hier eingetroffen, allwo er die ihm aufgetragenen Geschäftsangelegenheiten zu gedeihlichem Abschlusse gebracht hat. Meine angenehme Hoffnung ist es jetzo, daß es ihm auch reussieren möge, sich die Wohlgeneigtheit und die gute Gesinnung Euer Wohledlen und deren werter Familie zu erwerben, und kann keineswegs umhin, zu versichern, daß mein innigster Wunsch befriedigt wäre, wenn mir heut über ein Jahr die Gelegenheit geboten und die Satisfaktion gewährt würde, in großväterlichem Kometenwein (grünes Siegel) die Gesundheit des ersten Frohburg-Heißenstein ausbringen zu dürfen.

Der ich verharre, Euer Wohledlen dienstwilliger

Frohburg.»

Während der Mahlzeit sprach Heißenstein wiederholt von seinem ehemaligen Jugend- und jetzigen Geschäftsfreunde Frohburg. Er lobte dessen wohlgeratene Kinder, er lobte vor allem dessen zweitgeborenen Sohn Joseph, den er zum letztenmal vor fünf Jahren in Wien gesehen hatte. Der Jüngling war damals zwanzig Jahre alt und berechtigte zu den schönsten Hoffnungen. In gut bürgerlichen Verhältnissen erzogen, zur Arbeit und Pflichterfüllung angehalten, hatte er sich zu einem tüchtigen Manne herangebildet. Wohl dem Vater, der sich eines solchen Sohnes rühmen darf, wohl der Frau, die er einst mit seiner Hand beglückt! – Heißenstein kündigte den bevorstehenden Besuch Josephs an und trug Frau Nannette auf, das Gastzimmer zu seinem Empfange auf das beste herstellen zu lassen.

«Ich hoffe und wünsche, daß er sich heimisch fühle bei uns!» setzte er hinzu, und die Drohung: weh euch, wenn er sich nicht heimisch fühlt! klang aus seinem Tone.

Obwohl Frau Nannettens stummes Kopfnicken die einzige Antwort war, die er erhielt, obwohl sich nicht die leiseste Einwendung gegen seine Behauptungen und Befehle erhob, hatte er sich in eine Gereiztheit hineingeredet, die nur hartnäckiger Widerspruch erklärt haben würde.

Oder wurde sie vielleicht durch Rosas bleiches Gesicht hervorgerufen? – Durch den verhaltenen Schmerz, mit dem sie ihre Lippen biß? – Durch die Blicke, die sie ihm aus glühenden Augen zuwarf, die in der letzten Zeit dunkler geworden schienen und in jenem feuchten und feurigen Glanze leuchteten, den vieles Weinen jungen Augen verleiht? … Las er die Gedanken von ihrer Stirn ab? Lag ihr Herz offen vor ihm?

Sie hatte ihn verstanden und schauderte. So wenig kannte sie der alte Mann? Er meinte sie zwingen zu können zu einer ihr widerstrebenden Ehe? Wäre ihr Herz auch frei gewesen, niemals hätte sie sich zwingen lassen. Und jetzt, da sie liebte, da er es wußte, glaubte er für sie wählen zu können? … Welch ein Abgrund klaffte zwischen ihm und ihr, wie fremd stand sie mitten unter den Ihren, wie allein im Vaterhaus! Mit welcher bitteren Qual empfand sie die traurigste von allen Einsamkeiten, die unter Menschen, die uns die nächsten sein sollten.

Unzufrieden mit sich selbst verließ Heißenstein das Gemach. Er hatte sich übereilt. Er hätte noch schweigen, noch nichts verraten sollen von seinen Zukunftsplänen, hätte einen Monat oder zwei ins Land gehen lassen sollen, bevor er den Geschäftsfreund an die längst schon zwischen ihnen genommene Verabredung mahnte. Er machte einen Gang durch die Stadt und besann sich, daß im Kontor die Arbeit seiner warte. Er begab sich in das Kontor und sah bald ein, daß er unfähig war, auch nur zwei zusammenhängende Zeilen niederzuschreiben. Endlich versuchte er, sich mit Mansuet in ein Gespräch einzulassen. Aber der war schweigsam und niedergeschlagen und gab nur einsilbige Antworten.

«Wissen Sie schon? Die Ulanen marschieren?» fragte der Chef unter anderm.

«Weiß», brummte Mansuet und spitzte die Ohren, wie in die Ferne lauschend.

«Sie kommen schon hier vorbei!» rief der zweite Kommis und sprang auf, «man hört die Musik!»

Heißenstein verließ das Kontor und stieg zum Zimmer seiner Tochter empor.

Als er die Tür des weitläufigen Gemaches leise öffnete, sah er Rosa in der Fensternische halb sitzend, halb liegend hingestreckt. Sie hatte die Arme über ihren Arbeitstisch geworfen und das Gesicht in die Linnen vergraben, die ihn bedeckten. Ihr ganzer Körper bebte unter den Erschütterungen eines heftigen Schluchzens, das sich schmerzlich emporrang aus der Tiefe ihrer Brust.

Von einem flüchtigen Mitleid ergriffen, blieb ihr Vater, ohne ein Zeichen seiner Gegenwart zu geben, am Eingange stehen.

Er war gekommen, um sie zu verhindern, dem Geliebten ein letztes Lebewohl zuzuwinken, nun dachte er: «Mag sie doch! – Nachher ist ja ohnehin alles vorbei.»

Das Getrappel der Pferde ertönte auf dem Pflaster, die Klänge eines alten Reiterliedes schallten durch die Luft. «Lebewohl! Lebewohl, mein Lieb!» sprachen sie, riefen sie dem verstehenden, pochenden Herzen zu.

Langsam richtete Rosa sich auf, sie öffnete das Fenster nicht, beugte sich nicht hinaus. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Arme schlaff herabhängend, stand sie regungslos, atemlos und starrte hinunter.

Und jetzt stieg eine dunkle, heiße Blutwelle in ihr Gesicht … Jetzt war er vorbeigekommen. – Und jetzt nickte sie ernsthaft und wiederholt, als hätte ihr jemand fragend zugewinkt und als antwortete sie: «Ja! – ja, gewiß!» Und wie beteuernd preßte sie beide Hände an ihre Brust.

Was soll’s? War das eine Verabredung?…

Geräuschvoll schloß Heißenstein die Türe, deren Klinke er noch in der Hand hielt.

Rosa wandte sich, erblickte ihren Vater und mit einem Schrei, mit ausgebreiteten Armen stürzte sie auf ihn zu. Sie warf sich vor ihm nieder und umklammerte seine Knie, sie drückte ihre Lippen auf seine abwehrenden Hände und beschwor ihn mit Tränen und mit Schluchzen: «Vater, Vater, gib mich ihm!»

Aber das bißchen Mitleid, das er mit einem Geschöpf empfinden konnte, das sich ihm widersetzte, war erloschen. Daß sie noch hoffte, daß sie noch meinte, ihren Willen durchzusetzen, daß sie es noch versuchte, das empörte ihn. Ist er der Mann, der seine Entschlüsse ändert? – Hat er nicht so manchen, den er übereilt gefaßt, zu seinem eigenen Nachteil ausgeführt, bloß deshalb, weil er ihn einmal gefaßt hatte? Und sie traute ihm zu, er werde jetzt nachgeben, da es sich um die Erfüllung eines Lebenswunsches handelte, um das Gelingen sorgsam vorbereiteter und lang gehegter Pläne? Er hatte ihr wohl zu wenig Strenge gezeigt, sie fürchtete ihn nicht genug.

Er ließ sich nicht zu einem Zornesausbruche hinreißen, er blieb nur dabei: sie muß sich fügen. Der Sinn von allem, was er sagte, war: «Mit dem Ungeliebten wirst du leben, den Geliebten wirst du vergessen.»

Auch in ihr waren die weichen und sanften Empfindungen nicht die vorherrschenden. In die Laune, zu bitten, kam sie selten. Heute galt es ihr ganzes Lebensglück, und das alte Wort: Not lehrt beten, bewahrheitete sich an ihr. Sie flehte demütig und inbrünstig; aber so wie er von seinem Entschlusse nicht wich, so blieb auch sie bei dem ihren: ich heirate keinen andern als meinen Geliebten.

«Ich hab ein trauriges Leben», klagte sie. «Du warst niemals gut gegen mich, und die andern sind bös und falsch gewesen. Endlich hab ich mein Herz an einen Fremden angehängt, kann ich dafür? Hat eure Gleichgültigkeit mich nicht dazu gestoßen? Sei du jetzt väterlich – verzeih mir – denke, wenn ich ein Unrecht getan habe, es ist zur Hälfte dein. Verzeih mir, Vater, und laß mich gewähren. Du weißt, ich war zeitlebens ein störrisches Geschöpf. Und den braven Joseph heiße warten; ein paar Jahre nur, dann heiratet er die brave Regula. Die sagt ‹Ja› zu allem, was du befiehlst, die ist nicht widerspenstig wie ich. Belohne sie für ihren Gehorsam mit deinem ganzen Hab und Gut. Ich will nichts, ich verzichte auf alles – nur deinen Segen gib – sag nur: Ziehe hin…»

«Ins Elend!» rief Heißenstein. «Weißt du, was du verlangst? Kennst du den Jammer einer armseligen Militärwirtschaft? Das Herumzigeunern von Dorf zu Dorf … Eine Ehe ohne eigenen Herd, einen Haushalt, den man nicht bestreiten, Kinder, die man nicht erziehen kann? Und er – glaubst du, daß er dich möchte, wenn du ihm kämst ohne einen Heller? Ein Narr wäre er, wenn er dich so nähme, und gewissenlos dazu. Also. nein! Und kein Wort mehr darüber: du gehorchst!»

Sie bewegte noch ihre Lippen, aber sie sprach nicht mehr. Ihre Tränen waren versiegt, finster blickte sie ihren Vater an, der schon an der Türe stand. Da schien ein plötzlich ausbrechendes Gefühl sie zu überwältigen. Sie eilte ihm nach und warf sich an seine Brust. Er fragte: «Bist vernünftig … willst gehorchen?»

Sie gab keine Antwort, sie trat weg von ihm, nachdem sie ihn noch einmal innig geküßt hatte.

Eine Stunde später ließ sie ihn bitten, den Rest des Tages auf ihrem Zimmer zubringen zu dürfen, und die Erlaubnis dazu wurde ihr gewährt.

Frau Nannette lauerte und beobachtete, und schlich mehrmals an Rosas Türe vorbei und sah zufällig – sie wußte wenigstens selbst nicht, wie es geschah – durch das Schlüsselloch. Rosa saß an ihrem kleinen Pulte und ordnete die Gegenstände, die in der Lade aufbewahrt waren.

Im ganzen Hause herrschte einmal wieder dumpfe Gewitterschwüle. Der «Herr» grollte, Bozena ging mit verstörter Miene umher, Mansuet war in bärbeißiger Laune und hatte auf offener Straße einen Streit gehabt mit Bernhard, dem Pfau. Einen Streit, den der kleine Kommis mutwillig heraufbeschwor.

Ohne allen Grund war er im Gespräch mit dem Jäger immer anzüglicher geworden und hatte endlich etwas gemurmelt von einem, «erbärmlichen Wicht». Und Bernhard hatte erwidert: «Führen Sie keine solchen Stichelreden, Sie haben kein savoir-vivre.» Worauf Mansuet rief: «Das ist mir tuttegal! Wenn ich auch nicht sage, was Sie sind, deswegen bleiben Sie’s doch.»

Der Streit würde sicherlich zu Tätlichkeiten geführt haben, wenn der gräfliche Kammerdiener, der demselben beiwohnte, den Jäger nicht fortgezogen und gesagt hätte: «Laß ihn, was kümmerst du dich um den alten Krakeeler!»

Früher als gewöhnlich wurde heute zur Ruhe gegangen. Jeder der Hausbewohner schien Eile zu haben, sich in seine Stube zurückzuziehen.

Frau Nannette schritt in der ihren auf und nieder, seltsame Gedanken und Hoffnungen bewegten sie.

Sie war kurzsichtig, ihr Ehrgeiz zu wenig hochfliegend gewesen. Sie hatte in dem Leutnant Fehse nur einen bildenden Umgang gesehen, nur einen Reformator für Regulas vom Dialekt etwas angehauchte Aussprache. Und nun zeigte sich, daß er sie hätte befreien, erlösen können von dem ewig störenden Einfluß der Stieftochter; er hätte, geschickt unterstützt, diese vielleicht sogar dahin bringen können, sich mit ihm zu verbinden, auch gegen den Willen ihres Vaters.

Ein unversöhnlicher Zwiespalt wäre daraus entstanden. Heißenstein hätte sich losgesagt von der verlorenen Tochter, und in alle Rechte, die Rosa einbüßte, würde Regula getreten sein.

Frau Nannetten schwindelte, als alle diese Gedanken in ihr aufstiegen. So nahe war, so erreichbar die Erfüllung ihrer kühnsten, verwegensten Wünsche gewesen, und sie hatte nichts davon geahnt. Eine kostbare, einzige, nie wiederkehrende Gelegenheit war versäumt, ihrer Tochter die alleinige Herrschaft über das Haus und all seine reichen Güter für die Zukunft zu sichern.

Aufgeregt wie nie in ihrem Leben, bestieg sie ihr Lager und löschte das Licht. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Sie lag sinnend und grübelnd, und ihre Pulse hämmerten fieberhaft.

Im Kamin heulte der Sturm, und draußen umraste er das Haus; warf Sand an die Scheiben, daß sie klirrten, prallte an das Tor, daß es dröhnte; riß Ziegel vom Dach und schleuderte sie mit Gepolter auf die Straße. Frau Nannette hüllte sich in ihre Decke und flüsterte mechanisch ihr Abendgebet.

Wie ist ihr? Wird ihre spröde Phantasie beweglich und gaukelt ihr die Verwirklichung ihrer Träume vor? … Narrt sie die Einbildung, oder hört sie wirklich das Haustor knarren in seinen verrosteten Angeln? – Es ist geöffnet worden, mühsam, langsam – und alsbald schlägt der Sturm es wieder zu und schwer fällt es ins Schloß.

Nannette erhebt sich und eilt ans Fenster. Die Nacht ist dunkel, von keinem Stern erhellt. Die vier Öllampen, welche die Beleuchtung des Platzes zu besorgen haben, verbreiten ein gar spärliches Licht. Sie lauscht, sie späht in die Nacht hinaus, sie wünscht sich die Augen einer Eule, um die Finsternis durchdringen zu können. Jetzt, jetzt sieht sie in die Lichtscheibe, die eine der Lampen auf den Boden wirft, eine Gestalt treten – eine Gestalt im weißen Reitermantel – sie scheint eine zweite zu stützen, zu leiten … Einen Augenblick sind die beiden klar und deutlich sichtbar, dann verschwinden sie im Dunkel. Nannette hat sie erkannt … Und ihr Gewissen ruft ihr zu: Verhindere Unheil – rette das Haus vor Schmach. Auf! auf! Den Mann geweckt – ein Wort, ein Ruf von ihm führt das verirrte Kind zurück. Noch ist es Zeit – tu deine Pflicht!

Was Pflicht! … Ihrer Tochter die Wege bereiten, das ist ihre Pflicht! …

Minuten vergehen, schwerwiegende Minuten. Das Schicksal gönnt ihr noch eine Frist, um ihre Kraft zusammenzuraffen, zu einer guten Tat.

Sie läßt sie ungenützt vergehen.

Ein leichter Wagen fliegt über das Pflaster, Funken sprühen auf unter den Hufen der Rosse. – In den Lüften aber wird es still – still ringsumher – nichts laut als nur der Schall, den jenes Gefährte weckt und sein jagendes Gespann. Von Fieberfrost geschüttelt horcht Nannette. Sie möchte den Sturm beschwören, daß er das Gerassel der Räder übertöne, das den Vater wecken, ihre Hoffnungen noch jetzt vernichten kann…

Grundlose Sorge! Der Sturm hat nur neuen Atem geschöpft; er erhebt sich stärker als zuvor und verschlingt in seinem Toben das ohnmächtige Geräusch, das die Erde ihm zusendet in sein luftiges Reich.

*

Am nächsten Morgen, als Bozena ihm das Frühstück auf sein Zimmer brachte, war Heißensteins erste Frage: «Wie geht es Rosa?»

«Alles still bei ihr, sie schläft wohl noch», antwortete die Magd.

Er zürnte: «Schläft – um acht Uhr? Was für Gewohnheiten! … Hat die Prinzessin so viel Zeit übrig? Wecke sie. Schicke sie hierher.»

Eine Viertelstunde verging. Rosa kam nicht, Bozena brachte keinen Bescheid.

Ist das Kind krank? – Unsinn! Man wird nicht krank wegen einer bekämpften Laune. Das kommt in Romanen vor, nicht im Leben. Oder stellte sie sich vielleicht krank? Das wäre sehenswert!

Mit raschen Schritten geht er über den Gang, kleine Treppen auf und ab. Der Weg von seinem Zimmer zu dem der Tochter scheint ihm endlos. – «Ein rechtes Winkelwerk», denkt er, «dieses Haus.» Er würde den alten Kasten umgebaut haben, wenn ihm der Himmel einen Sohn gelassen hätte. Aber so! – Für einen Schwiegersohn unternimmt er dergleichen nicht. An die Stelle eines Kindes wird der niemals treten, wenn er auch noch so ehrenvoll den Namen der allgeschätzten Firma trägt.

Heißenstein biegt um die Ecke des schmalen Ganges, der zu Rosas Zimmer führt, und staunt, die Tür nur angelehnt zu finden. Er tritt ein; Rosa ist nicht da – das Bett ist unberührt – die Lade des Pultes, in dem sie ihre kleinen Reichtümer aufzubewahren pflegte, geöffnet, doch scheint nichts darin zu fehlen und der Schlüssel steckt. Heißenstein schließt die Lade, und zieht den Schlüssel ab. «Nachlässig und vergeßlich wie immer!» brummte er, dabei jedoch erfaßt ihn eine unerklärliche Angst.

Er eilte zu seiner Frau hinüber; sie saß am Klavier und gab ihrer Tochter Unterricht.

«Hast du Rosa schon gesehen?» fragte er, und bemühte sich, seinem Ausdruck den Anschein der Gleichgültigkeit zu geben.

«Heute noch nicht», antwortete Frau Nannette obenhin, ergrünte wie der Freiherr von Münchhausen, und wandte sich sofort wieder zu Regula, sie beschwörend, dis und es, trotz ihrer scheinbaren Ähnlichkeit, niemals zu verwechseln.

Heißenstein murmelte einen Fluch, und schritt hinaus. Er ist wohl verrückt, sich Gedanken zu machen. Wohin anders sollte Rosa gegangen sein als in die Kirche, die Frühmesse zu hören, zu beten um Ergebung, Sanftmut, Geduld, die ihr not tun, wahrlich! – Das ist’s. Wie kam er nicht gleich darauf? … Daß man doch immer die einfachste, natürlichste Erklärung zuletzt findet.

Jetzt wird sie wohl zurückgekehrt sein, und wenn auch nicht, er will sie erwarten in ihrem Zimmer, und sie ohne Härte empfangen. Er nimmt sich überhaupt vor, in Zukunft milder gegen sie zu sein. Ihr Vorwurf gestern, so ungerecht er war, hat ihm weh getan und fordert zum mindesten eine Widerlegung, eine Zurechtweisung.

Auf dem Gange rennt Bozena ihrem Herrn in den Weg; verstört – bleich wie der Tod.

«Fort!» keucht sie – «Das Kind ist fort!»

«Schweig, Närrin!» – ruft er ihr zu, «Rosa ist daheim – in ihrem Zimmer, muß daheim sein» – und zum zweitenmal tritt er in das Gemach.

Bozena weiß: es ist nicht – er irrt! Und dennoch weckt die Zuversicht, die ihr Herr zur Schau trägt, in ihr einen Schimmer von Hoffnung; er ist trügerisch; wie bald, und er erlischt. Sie stehen in dem Gemache des Kindes und finden es leer.

Von neuem jammert Bozena: «Sie ist fort!» Und den alten Mann überfällt plötzlich und mit Entsetzen die Gewißheit, daß er seine Tochter verloren hat.

Augenblicklich fordert seine Qual ein Opfer, an dem sie sich rächen kann. Schäumend, mit der blinden Wut eines Tieres dringt er auf Bozena ein und schmettert sie zu Boden. Sie fällt hin wie ein Baum, sie wehrt sich nicht.

«So hast du sie gehütet?» schreit er halb von Sinnen, und wiederholt ohne Aufhören: «So hast du sie gehütet?»

Sie zuckt nicht unter seiner ehernen Faust, sie erhebt sich nicht, sie fühlt nichts, sie weiß nichts zu sagen als: «So hab ich sie gehütet!»

Er faßt ihre gerungenen Hände und reißt sie empor auf ihre Knie.

«Sie mußte durch dein Zimmer – mußte sie nicht? … Und du liegst auf dem Ohr – und hörst nichts, siehst nichts – hast geschlafen wie ein Klotz! … Hast geschlafen, während sie davonging – du! du! Die sich ihre Pflegemutter nannte … Eine saubere Pflegemutter! Eine saubere Wärterin! Eine brave Magd!»

Bozena lag gebrochen und ohnmächtig vor ihm auf den Knien. Als er die Worte sprach: «Hast geschlafen …» hatten ihre Augen ihn mit der Scheu des Wahnsinns angeblickt, und sich dann gesenkt in verzweiflungsvoller Scham.

Ein klägliches Wimmern und Stöhnen entrang sich ihrer Brust. – Geschlafen? Das glaubte er? …

O der harte, rauhe Gebieter – der schonungslose Herr, vor dem alle zittern, den sie unbarmherzig nennen, der das geringste Versehen wie einen unverzeihlichen Fehler bestraft … Nicht mit dem leisesten Verdacht streift er ihre Schuld! Was sie getan hat, das traute er ihr nicht zu. Er klagt sie an, doch er verunehrt sie nicht, wie er’s sollte – wie sie es verdient, wie sie selbst sich verunehrt hat!

Was sie getan, er kann es nicht einmal im höchsten Zorn denken – sie ist schlechter, als ein Mensch denken kann! …

Sorglosigkeit wirft er ihr vor. Einen Schlaf, den sie nicht mehr hat – den Schlaf der Unschuld, der Ehrlichkeit und eines ruhigen Gewissens!

Weh über Bozena – sie hat sich selbst gerichtet – den Augenblick verschmerzt sie nie!

Angesichts ihrer maßlosen Verzweiflung gewann Heißenstein einige Fassung. Er öffnete Rosas Pult, er suchte nach einem Briefe, nach einem Abschiedswort, das sie vielleicht für ihn hinterlassen hatte. Er fand nur einen kleinen Zettel, den er vorhin übersehen, und darauf stand:

«Ich gehe zu ihm ohne einen Heller.»

Das war ihre Antwort auf des Vaters: «Glaubst du, er nähme dich ohne einen Heller?»

Er knitterte das Blatt zusammen und warf es zur Erde. Bozena stürzte sich darauf – und las – und raffte sich empor, riß den Schrank auf und durchsuchte ihn mit brennender Hast: «Nichts!» rief sie schmerzlich – «o du guter Gott – nichts fehlt als die Kleider, die sie auf dem Leibe trug und ihr leichtes Mäntelchen … So geht sie aus dem Vaterhause – so geht mein Kind, mein Leben, mein alles hinaus in die weite Welt!»

Heißenstein gebot ihr Schweigen. Er hat sich ermannt. Zwei Stunden später saß er im Postwagen und fuhr denselben Weg, den die Ulanen genommen.

«Wenn jemand nach mir fragen sollte», hatte er beim Abschied gesagt – «ich bin mit» – wie schwer brachte er den Namen über die Lippen! – «mit Rosa nach Wien gefahren. Das ist alles, was ihr wißt. Ihr versteht?»

«Ihr versteht», sagte er, aber er sah dabei nur seine Frau an. Der Verschwiegenheit seiner Magd war er gewiß.

Bozena Kapitel 23

An diesem Tage gönnte sich Bozena keinen Augenblick der Ruhe. Kein Raum, vom Keller bis zum Dachboden, in dem sie nicht nachsah mit kundigem Auge, nicht ordnete mit flinker und geschickter Hand. Sie scheuerte und fegte, verfolgte ihren verhaßtesten Feind: den Staub, bis in seine verborgensten Schlupfwinkel, und blickte des Abends zufrieden auf ihr vollendetes Werk.

Es war ihr letztes Vermächtnis an das Haus, dem sie durch achtzehn Jahre treu gedient.

Sodann begab sie sich ins Kontor, zu Mansuet. Er war allein, die jüngeren Herren hatten schon Feierabend gemacht.

«Was steht zu Diensten?» fragte der Kommis mit einer Gespreiztheit, die nach Würde aussehen sollte. Seit jenem Tanze beim «Grünen Baum» zeigte er sich etwas zurückhaltend gegen Bozena.

«Ich habe Sie bitten wollen», antwortete die Magd, ihm ein Päckchen reichend, das in Papier gewickelt und mit einem Wollfaden zugebunden war, «mir mein Sparkassenbuch aufzuheben.»

Er bemühte sich, sein Erstaunen zu verbergen, und sprach nachlässig: «Wie komme ich zu der Ehre? Ist Ihr Geld bei Ihnen nicht mehr sicher?»

«Seien Sie schon so gut und heben Sie mir’s halt auf», erwiderte sie und streckte ihm die Hand entgegen, in die er seine langen Finger zögernd legte.

«Ich danke Ihnen im voraus, Herr Mansuet. Ich danke Ihnen überhaupt für alles.»

Fort war sie. Hatte ihn verlassen, bevor er Zeit fand, sie zurückzuhalten und sich seine Bestürzung über den bewegten Ton ihrer Stimme recht zum Bewußtsein zu bringen. Und jetzt erst besann er sich, jetzt erst fiel es ihm mit banger Besorgnis auf das Herz, daß sie reisemäßig gekleidet war, ein Bündel trug und eine Geldtasche umgeschnallt hatte.

«Will auch die davongehen?» murmelte er mit schmerzlicher Ironie vor sich hin.

Da möchte er zuvor doch ein Wort mit ihr reden.

Er hatte ihre Stube niemals betreten, jetzt begab er sich dahin. Auf sein Pochen erfolgte keine Antwort, dennoch trat er ein. Inmitten des Zimmers stand ein gepackter Koffer; auf den Deckel hatte eine ungeübte Hand den Namen «Bozena Ducha» mit weißer Ölfarbe gepinselt.

Der Kommis stellte sich davor hin und betrachtete ihn mit wehmütigen Blicken.

«Sie geht ihrem Kinde nach. Hat recht – ich versteh’s», – dachte Weberlein. «Und mich freut’s, daß sie’s über das Herz bringt sich loszumachen von dem Hund, dem Bernhard. Mich freut’s sehr.» Und eine heiße Träne stieg ihm ins Auge.

Er sah sich um in der hochgewölbten, weißgetünchten Stube, in der alles Reinlichkeit atmete. Hier also hat sie existiert, die Bozena. Da steht ihr gewaltiges Bett mit seiner schneeigen Decke, daneben die buntbemalte Truhe, die ihr Eigentum war, die sie mitgebracht hatte aus dem heimatlichen Dorfe. Im Fenster ihr Arbeitstisch, auf dem Gesimse der Rosmarinstock, den sie aus einem kleinen Zweige gezogen; über der Tür das geschnitzte Christusbild, auf dessen Haupt sie über die Dornenkrone ein Blumenkränzlein gelegt hat. Oh – die Bozena! – Wenn sie das einem Menschen getan hätte statt einem Gotte … Wenn sie einem Menschen die Dornen des Lebens in Blumen verwandelt hätte … Einen Gott hätte der sich gefühlt.

Mansuet läßt sich auf einen Schemel nieder, stützt den Ellbogen auf den Koffer und den Kopf auf seine Hand und träumt, so wach er ist – so alt er ist!

Wie die Sachen stehen, hätte ihn die Bozena wohl schwerlich genommen. Er ist zu klein für sie, sie ist zu groß für ihn. Wenn er aber länger geraten wäre um einen halben Schuh, oder – einen ganzen –, wenn er überdies schön geworden wäre – und das hätte ja ohne Wunder der Fall sein können, es sind so viele Leute schön! Dann … Wer weiß, was dann geschehen wäre?

Seinen eigentlichen Beruf würde er gewiß ergriffen haben – Soldat wäre er geworden, und ein Reiterstückchen wie jenes, das Fehse, der Sapperlotter, heute nachts ausgeführt, – das hätt er auch getroffen, er traut sich’s zu!

Nur, daß er sich nicht, so lieblich es auch ist, das Fräulein Augentrost mitgenommen hätte … Er weiß eine andre – die hätte er zu seiner Herrin gemacht, der seine Lorbeeren zu Füßen gelegt, die auf starken Armen durch das Leben getragen … An deren Herzen würde er jetzt ruhen, ein seliger Mann!

So schwärmt der kleine Mansuet von Liebe, Ruhm und Wonne und kauert neben Bozenas Habseligkeiten, wie ein armer Köter neben den zurückgelassenen Gewändern seines Herrn.

*

Der schöne Bernhard saß in seiner Stube und war mit der Abfassung eines Briefes beschäftigt, der ihm viel Mühe machte. Er legte die Feder weg, ergriff sie wieder, er schien zu warten, daß sie sich von selbst in Bewegung setze und das Schreiben beende, das an eine angebetete Wilhelmine gerichtet war und von Liebe, von einem feindlichen Geschicke, von Selbstverleugnung und Vertrauen sprach.

Aber die Feder, deren gequälter Bart sich schon jämmerlich sträubte, wollte ihm den Gefallen nicht tun. Sie benahm sich im Gegenteil so widerspenstig, daß er sich bequemen mußte, sie neu zu schneiden. Von dieser Beschäftigung weg warf er wohlgefällige Blicke im Zimmer umher. Es war mit allerlei Kram überladen und hingen nicht die zwei Gewehre, der Hirschfänger und die Saunadel an der Wand, man könnte glauben, anstatt im Zimmer eines jungen Jägers in dem einer alten Kammerjungfer zu sein. Dazu fehlen weder die Gitarre an blauem Bande, noch die Schattenrisse und Neujahrsbildchen in goldpapiernen Rähmchen, noch so mancher andre geschmacklose Tand aus Wachs und Porzellan.

Die Feder war geschnitten, und so gut oder übel, als es ging, wurde der Brief fortgesetzt. Ein elastischer und energischer Schritt, der sich auf der Treppe vernehmen ließ, störte den Jäger auf das angenehmste in seiner verdrießlichen Tätigkeit. Rasch warf er den angefangenen Brief in die Tischlade, sprang auf und begrüßte das hochgewachsene Weib, das jetzt über die Schwelle trat, mit den jubelnden Worten: «Das hätt ich mir nicht getraut zu hoffen, daß du heut wieder kommst!»

«Freu dich nicht», antwortete Bozena, und er erschrak über das düstere Feuer, das aus ihren Augen leuchtete und über die Abscheu verratende Bewegung, mit der sie ihn von sich wies.

Zwei Schritte und sie stand am Tische, legte ein seidenes Tuch, ein Gebetbuch und einen Ring darauf und sagte: «Ich komm nur, dir die Sachen zurückzubringen, die du mir geschenkt hast. Es ist aus zwischen uns. Ich geh.»

«Was ist der durch den Kopf gefahren?» dachte Bernhard, nahm eine gleichgültige Miene an und fragte: «Du gehst? – und warum? – und wohin?»

Sie zuckte schweigend die Achseln; er ertrug den eiskalten Blick nicht, den sie auf ihm ruhen ließ, und wendete sich ab.

Ärger und Verdruß erfüllten ihn. Sie ist ihm hinter irgendeine Liebelei gekommen, gewiß; deshalb zürnt sie und droht, ihn zu verlassen. Daß sie es wirklich tun könnte, das fällt ihm nicht im Traum ein.

Eher löscht die Sonne aus als ihre Liebe zu ihm, eher verliert er den Glauben an sich selbst als den an ihre Treue.

Nur Vorsicht jetzt, nur unbefangen bleiben! – Am besten ist, er fängt sie in ihrem eigenen Netz.

«Warte!» ruft er ihr zu «so kommst du mir nicht fort. Wer bringt, muß nehmen. Nimm auch du alles zurück, was du mir geschenkt hast.»

Er trat an seine Schublade und wollte sie öffnen, da erinnerte er sich des Briefes an die «angebetete Wilhelmine», der darin lag und dessen in großen Lettern prangende Aufschrift dem scharfen Auge Bozenas schwerlich entgangen wäre. Er errötete und ließ den schon ausgestreckten Arm sinken.

«Behalt’s», sagte sie, «ich werde keinen Liebsten mehr haben, dem ich es schenken könnt!»

Wie seltsam hart klang ihre Stimme, welche Entschlossenheit sprach aus ihrem Ton und welche wehmütige Trauer aus ihrem Gesicht, aus ihrer Haltung und ihrem ganzen Wesen! Kann man zugleich so stark sein und so weich, die Seele eines Helden besitzen und das Herz eines Weibes?

Den Schwachen, der geherrscht hatte über so viel Kraft, erfaßte zum erstenmal ein Bangen, daß diese sich gegen ihn erheben könnte.

Und als er Bozena stumm und gelassen dem Ausgange zuschreiten sah, rief er ihr zu: «Bleib! … Was hast du nur? … Was hab ich dir denn getan?»

«Nichts», erwiderte sie. «Laß mich, ich hab Eile.»

«Du bleibst! – Ich will’s – – ich bitte dich!»

Er folgte ihr, umschlang sie und drückte sie heftig an sich.

Er sah, wie sie erbebte und unsäglich litt, aber die Zärtlichkeit der Selbstsüchtigen ist der Grausamkeit verwandt. Stumpf gegen Bozenas widerstrebende Empfindung, drückte er Kuß um Kuß auf ihre Lippen und flüsterte: «Ich hab dich lieb … Bleib bei mir, Bozena! … Warum willst du nicht?»

Sie entrang sich seiner Umarmung; ihre Wangen flammten und ihr Atem flog.

«Verstehst nicht?» sagte sie: «Es ist aus. Ich bin jetzt von dir los und für immer, denn ich hab die Stunde verflucht, wo ich zum ersten- und letztenmal durch dich glücklich war.»

«Verflucht?!»

Durch Mark und Bein drang ihm dieses Wort, es verletzte ihn in seiner Manneseitelkeit; er stieß einen Schrei echten Schmerzes aus, und als sie den vernahm, da wußte sie, daß ihr Herz doch nicht so ganz für ihn gestorben war. Eine sanfte Regung erwachte in ihr, ein bleicher Schimmer ihres einstigen Gefühls. Und so sehr sie’s drängt: nur fort! nur fort – hinweg! – stumm, wie sie gewollt, kann sie doch nicht von ihm gehen.

Sie faßte ihn beim Arme und indem sie den Nacken niederbeugte, um ihm in das trotzig gesenkte Angesicht zu sehen, sprach sie gedämpft und rasch: «Du hast mich gehabt mit jedem Gedanken in meinem Hirn und mit jedem Hauch in meiner Brust. Und was hast du aus mir gemacht? … Weniger wert bin ich worden durch dich – an Lug und Trug hast du mich gewöhnt und meine Schuldigkeit hab ich um dich versäumt … Schweig!» gebot sie, als er sie unterbrechen wollte – «Ich werf dir nichts vor, dir nichts – alles, alles nur mir! Du kannst vielleicht nicht anders … Ich aber hätte anders gekonnt, und ich hab zehnfach gefrevelt, denn ich hab gefrevelt gegen meine Natur. Das geht so eine Weil‘ – man ist ja wie betrunken – aber die Stunde kommt, wo man erwacht … Mir ist sie gekommen – fürchterlich – und darum muß ich jetzt fort: und – darum, Bernhard, sag ich dir jetzt Lebewohl.»

Und wieder wandte sie sich, und wieder stürzte er ihr in den Weg. Alles in ihm, seine Leidenschaft, seine Eitelkeit, sein Trotz empörten sich gegen die Trennung von ihr.

«Ich laß dich nicht!» schrie er. «Ich rufe das ganze Haus zusammen, laufe hinüber zu deinen Herrenleuten und sage ihnen, daß du entfliehen willst!»

«Das tust du nicht», sagte sie und war wieder völlig ruhig und gefaßt. Mit ausgebreiteten Armen stellte sie sich vor die Tür.

«Ich binde und kneble dich, wenn du mir drohst, bei meiner armen Seele: ich tu’s. – Werd ich fertig mit dir oder nicht, wenn ich will! – was meinst? Willst du die Schande erleben, daß sie dich morgen so finden und hören, daß dich ein Weib gebunden hat?»

Zornig und beschämt trat Bernhard zurück. Nein, mit Gewalt war gegen Bozena nichts auszurichten und doch: verlieren konnte er sie nicht! Zu köstlich war ihr Besitz. Ist sie nur durch Güte und Demut wiederzugewinnen – wohlan, er übt Güte und Demut!

Er warf sich vor ihr nieder, er küßte weinend den Saum ihres Kleides und flehte mit gerungenen Händen: «Bleib bei mir, Bozena!»

Aber die Stimme, der sie sonst gefolgt wäre, und hätte sie aus dem Abgrund der Hölle nach ihr gerufen, hatte ihren alten Zauber eingebüßt. Noch bewegte, noch erschütterte ihr Klagen das Herz Bozenas, doch brach es ihren Willen nicht mehr. Sie hatte auf den Schrei der Sehnsucht ihres Geliebten keine Antwort, als ein schmerzliches «Leb wohl!»

Da sah er zum letztenmal zu ihr empor – angstvoll – fragend – erwartungsvoll – – und begriff endlich, daß alles vorüber war.

Er sprang auf; keuchend und stöhnend stürzte er sich auf sein Bett und wühlte seinen Kopf in die Kissen. Bozena warf einen letzten Blick auf ihn und verließ das Gemach.

*

In menschenfeindlichster Stimmung war Herr Heißenstein nach drei Tagen von seiner Fahrt zurückgekehrt. Als Frau Nannette ihm die Entweichung Bozenas mitteilte, äußerte er nicht das geringste Befremden. Er war und blieb schweigsam und undurchdringlich. Nannette mußte die raffiniertesten Künste, auf welche neugierige Frauen sich verstehen, anwenden, um ihm nur eine dürftige Kunde seiner Erlebnisse zu entlocken. Alles, was sie schließlich erfuhr, bestand darin, daß Rosa anständig untergebracht und das Regiment Fehses weiter marschiert sei nach Ungarn.

«Er wird sie jetzt heiraten müssen, es bleibt nichts andres übrig –» sagte Nannette und warf einen lauernden Blick auf ihren Mann.

Dieser war damit beschäftigt, Schriften zu ordnen, die er einem eisernen, in die Wand eingelassenen Schrank entnommen, der zur Aufbewahrung von Wert- und Familienpapieren diente. Aus einer großen Anzahl vergilbter Blätter hatte er den Trauschein seiner ersten Frau und den Taufschein Rosas hervorgesucht und sie auf dem Schreibtische ausgebreitet. Nannette bot sich an, den Rest «in das Archiv», wie sie großartig sagte, zurückzutragen, aber der undankbare Gatte belohnte ihren guten Willen nur durch ein mürrisches: «Laß gut sein!»

Er holte aus dem Schranke ein dünnes Päckchen, auf dessen Umschlag geschrieben stand: «Meiner Tochter Rosa mütterliches Erbe», und begab sich damit zum Schreibtisch zurück. Frau Nannette schlich ihm nach auf Schritt und Tritt, sie gab sich die erdenklichste Mühe, eine sanfte Duldermiene anzunehmen, und wiederholte mit einem tiefen Seufzer, durch den trotz aller Anstrengung, ihn zu unterdrücken, ein Laut des Jubels und Triumphes sich Luft machte: «Er wird sie jetzt heiraten müssen, es bleibt ihm nichts andres übrig.»

Abfertigend, ohne sie anzusehen, erwiderte Heißenstein: «Natürlich.»

Dieses beunruhigte sie. Soll zuletzt noch alles glücklich enden für die ungeratene Tochter? Nannettens Angst vor einem solchen Ausgange überwand einen Augenblick ihre Furcht vor ihrem Manne.

Mit grimmiger und etwas spöttischer Freundlichkeit sagte sie – und dabei zitterte in ihrem linken Mundwinkel ein Nerv wie ein frierendes Küchlein im Neste: «Du verzeihst wohl? … Du gibst wohl deinen Segen?»

Er fuhr auf. «Ich?!» donnerte er sie an und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Zimmer dröhnte und daß Frau Nannette einer Ohnmacht nahe war.

O Himmel! … So wie jetzt hatte er ausgesehen in jenem unvergeßlichen Zornesausbruch, in dem er das zarte Pflänzchen ihres Mutes so unbarmherzig knickte, daß es seitdem nur noch kränkliche Schößlinge trieb …

Nannette empfand plötzlich eine ganz merkwürdige Schwäche in den Knien und glaubte wahrhaftig, sie werde umsinken. Das aber geschah nicht, denn ihr Mann äußerte den Wunsch, allein zu bleiben, durch ein bündiges: «Hinaus!» Und sie trat sofort den Rückzug an, der nichts an Eile, und manches an Hoheit zu wünschen übrigließ.

In der nächsten Zeit hatte Heißenstein häufig Unterredungen mit seinem Rechtsfreunde, Herrn Doktor Paul Wenzel. Stundenlang und bei verschlossenen Türen wurde da verhandelt; und durch niemand, nicht einmal durch die besorgte Hausfrau und unter keinerlei Vorwand, ob er nun in Gestalt eines kleinen Imbisses, eines eben angelangten Briefes oder einer dringenden Nachfrage erschien, durften die Herren in ihrer Arbeit unterbrochen werden.

Da besann sich Nannette plötzlich, daß die Frau des Advokaten eine Jugendbekannte von ihr sei, daß sie einstens «intim liiert» mit ihr gewesen war, und sie empfand die nagendsten Gewissensbisse, die alte Freundin so lange vernachlässigt zu haben. So setzte sie denn eines schönen Nachmittags ihre Herbstkapotte mit den schottischen Bändern auf, – ein Geschenk, das ihre einstigen Zöglinge ihr kürzlich aus Wien zugesendet hatten, eine echte Lannoy! – hüllte sich in ihren schwarzen Seidenmantel und wurde, eine Viertelstunde später, bei der Gattin des Advokaten angemeldet.

Die gute Frau empfing sie in ihrem unbehaglichen und unbewohnten Salon mit allen Zeichen der Ehrfurcht und mit einer Verlegenheit, die zu verbergen sie nicht einmal versuchte, so gut wußte sie, daß es vergeblich sein würde. Sie bezeigte eine überschwengliche, mit einem gewissen Entsetzen vermischte Freude über den unerwarteten Besuch. Sie entschuldigte sich, daß Frau «von» Heißenstein sie im Hauskleide treffe – aber eine Familienmutter – du guter Gott, muß überall zugreifen … Sie entschuldigte sich, daß sie nicht ihr Leben damit zubringe, auf den Besuch Frau «von» Heißensteins zu warten, sie entschuldigte sich, daß sie Kinder habe und daß es heute nachts geregnet. Sie dankte endlich im stillen Gott, als ihr Mann eintrat und sie von dem mühevollen Geschäft erlöste, ganz allein mit der gebildetsten Frau der Stadt ein Gespräch führen zu müssen, bei welchem diese allerdings nicht zu Worte kommen konnte.

Der Advokat war ein schöner Greis mit fein modelliertem Kopfe, blassem Gesichte und vornehmer Haltung. Seine Mitbürger schätzten ihn hoch und die «Herrschaften» auf den umliegenden Gütern sahen ihn als ein Orakel an. «Was hat der Wenzel gesagt?» – «Man muß den Wenzel fragen», sprachen die feudalen Herren, sooft die Weisheit ihrer Verwalter nicht ausreichte, um irgendeinen Konflikt zwischen dem herrschaftlichen Amte und den Untertanen zu lösen.

In seinem Berufe war Wenzel ein Cato, im geselligen Verkehr jedoch und an seinem eigenen Herde liebenswürdig und galant, wie ein Abbé des achtzehnten Jahrhunderts. Weich hatte das Leben ihn gefaßt, er empfand es dankbar und machte auch andern das Leben so leicht als er konnte.

Seine viel jüngere Frau verehrte in ihm einen Halbgott, und den Nimbus eines solchen hatte sie verstanden, ihm an seinem schlichten bürgerlichen Herde zu wahren. Die liebevolle Bewunderung eines demütigen Weibes ist erfinderisch, ihr Gegenstand wandelte in einem Gemüsegarten – unter Palmen.

Bedächtig, als fürchte er durch eine rasche Bewegung die Weihrauchwolke zu zerstreuen, die ihn umfloß, kam Wenzel auf Frau Heißenstein zugeschritten, die sich erhob und «dem lieben, verehrten Freunde» voll Rührung ihr kleines rundes Händchen, das die Gestalt eines Lindenblattes hatte, entgegenstreckte.

«Ich weiß, was Sie hierherführt, gnädige Frau», sagte der Advokat, indem er sie mit bescheidener Verbindlichkeit nötigte, ihren Platz in der Sofaecke wieder einzunehmen. «Ihr edles Herz ist beängstigt durch die harten Maßregeln, die Ihr Herr Gemahl gestern gegen seine unglückliche Tochter ergriffen hat.»

«So ist es!» rief Frau Heißenstein und führte ihr Taschentuch an ihre trockenen Augen. «Sie verstehen mich, verehrter Freund. Raten Sie, helfen Sie. Ich selbst bin machtlos. Mein vortrefflicher, angebeteter Mann gestattet mir auch nicht ein Wort der Entschuldigung für das irregeleitete Kind zu sprechen.»

Der Advokat bedauerte sie sehr, versetzte sich ganz in ihre traurige Lage, und seine Frau vergoß teilnehmende Tränen.

«Dieser gestrige Schritt», nahm Nannette wieder das Wort, «diese … dieses. .. ich will sagen, dieser – Schritt –»

Was hätte sie darum gegeben, fragen zu dürfen, was für ein Schritt das war? Aber so viel will sie sich nicht vergeben. Daß sie keinen Einfluß auf ihren Mann hat, gesteht sie ein; daß sie sein Vertrauen nicht besitzt – nimmermehr. Und Wenzel hilft ihr nicht. Er schüttelt nur den Kopf und wiederholt: «Er ist zu hart, Ihr Herr Gemahl, zu hart.»

Nannette beschwört ihn, sein möglichstes zu tun, um ihren, durch seine unbegreifliche Tochter so schwer gekränkten Gatten zur Milde zu stimmen, und rüstet sich zum Aufbruche. Sie bittet, Nachsicht mit ihr zu haben, sie ist nur gekommen, um sich auszusprechen, sie hofft, der Advokat und seine teuere Frau werden ihr verzeihen, daß sie es so unumwunden getan; eine Mißdeutung besorgt sie «von solchen Seelen» nicht. Sie bedauert ihren über alles geliebten Mann, ihn zu tadeln erkühnt sie sich nicht. Sie geht, von dem Ehepaare bis zur Treppe geleitet.

«Wie gut und lieb sie ist!» sagt die Doktorin.

«Eine kluge Frau!» sagte lächelnd der Doktor.

Obwohl Nannette den Zweck ihres Besuches nicht vollkommen erreicht hatte, und die Maßregeln, die Heißenstein gegen seine Tochter ergriffen, ihr nach wie vor ein Geheimnis blieben, war sie doch mit dem erreichten Resultat recht zufrieden. Sie hatte erfahren, daß ihr Mann unversöhnlich ist, und sie hatte eine einflußreiche und hochachtbare Persönlichkeit überzeugt, daß die Stiefmutter keine Schuld daran trägt.

Am Abend brachte der Postbote einige Briefe für Herrn Heißenstein, die Nannette übernahm. Darunter befand sich einer von Rosa. Diesen behielt sie zurück – aus Vorsicht. Er konnte auf den Gemütszustand ihres Mannes schädlich wirken. Sie fühlte die Verpflichtung, sich mit seinem Inhalt bekannt zu machen. Der Brief war mit dem Herzblut des Kindes geschrieben und manche Träne war auf ihn gefallen. Nannette ist so ergriffen und erschüttert, findet das leidenschaftliche Einstürmen auf den beleidigten Vater so unpassend, daß sie nicht daran denkt, den Brief abzugeben, ja – ihn verbrennt.

Bozena Kapitel 24

Der Groll Heißensteins gegen seine Tochter wurde durch die Zeit nicht vermindert, eher sogar erhöht. Er hatte Rosa nicht aufgegeben und aus seinem Herzen gestrichen, nein, sie beschäftigte ihn immer, er führte in Gedanken fortwährend Krieg mit ihr. Mit der vom Verstande nicht mehr streng gezügelten Phantasie des Greises malte er sich ihr Vergehen in den dunkelsten Farben aus und verwünschte sie, der Schmerzen wegen, die sie nicht aufhörte ihm zu bereiten. An der Ansicht, die er sich einmal von der Sache gebildet hatte, hielt er hartnäckig fest. – Rosa trug Schuld am Untergange des Hauses, sie hatte Schande auf seinen Namen und auf sein graues Haupt gehäuft, er durfte ihr niemals vergeben – auch wenn er so schwach wäre, es tun zu wollen.

«Ihre Schuld kann niemals gut gemacht, und demnach auch nie vergeben werden», war der Sinn der Antwort, die er Mansuet zurief, sooft dieser ein gutes Wort für seinen Liebling einlegte. Damit war in den Augen des alten Herrn jede weitere Verhandlung abgeschnitten. Gegen dieses Argument, dessen schlagende Wirkung ihn, sooft er es aussprach, mit der Gewalt einer eben erst entdeckten Wahrheit ergriff, gab es keine Einwendung.

Mansuet beobachtete mit tiefem Bedauern die sichtliche Veränderung, die mit seinem Herrn vorging, und sagte zu Schimmelreiter, dem zweiten Kommis: «Der Prinzipal ist wie ein Herbsttag, nimmt ab an beiden Enden.»

Schimmelreiter besaß ein schwaches Begriffsvermögen, aber ein starkes Streben, die hohen und witzigen Gedanken des gescheiten Weberleins nachzudenken.

«An beiden Enden?» wiederholte er; «das heißt, von unten und von oben?»

Mansuet sprach etwas wegwerfend: «Das heißt: physisch und moralisch.»

«Sehen Sie, sehen Sie», rief Schimmelreiter, «so hab ich’s aufgefaßt!»

Fast noch weher, als Heißensteins ohnmächtiger Trübsinn, tat Mansuet Frau Nannettens kaum noch verhüllter Triumph. Sie sah jetzt mit Ruhe der Zukunft entgegen; die Gefahr, daß ihre Stieftochter jemals wieder in ihre Kindsrechte eingesetzt werden könnte, schien so gut wie überwunden. Rosas Flucht wurde für Nannette ein Abschnitt in der Zeitrechnung, nicht mehr noch weniger. Sie sagte: «Das war vor oder nach unserm Familienunglück», wie die Mohammedaner sagen: «vor oder nach der Hedschra» .

Etwa anderthalb Jahre, nachdem Rosa und Bozena das alte Haus verlassen hatten, in der Lichtmeßwoche, erhielt Mansuet einen Brief von seiner Freundin, aus einem Dorfe in der Nähe von Arad. Sie schrieb, daß Rosa ein zartes Mädchen zur Welt gebracht, das in der Taufe die Namen Leopoldine Rosa erhalten, das sein Vater jedoch nie anders als Röschen nenne. Der Herr Oberleutnant sei herzensgut, die junge Frau liebe ihn auch, wie sich’s gehört und wie er’s verdient. «Aber», hieß es in Bozenas Schreiben, «sie hat sich gar verändert, und wenn der Herr Heißenstein nicht doch zuletzt ein Einsehen hat und ihr verzeiht, so drückt es ihr das Herz ab und es nimmt wahrhaftig und Gott kein gutes End‘ mit ihr.»

Dieser Brief enthielt einen Einschluß von Rosas Hand, und in dem lag ein Zettelchen. Die junge Frau bat den lieben, getreuen Herrn Weberlein – den auch ihr Mann unbekannterweise herzlich grüßen ließ – auf das innigste, dasselbe in einer guten Stunde ihrem Vater zu übergeben.

Mansuet wartete einen Tag, zwei Tage. Das dünne Blättchen brannte wie Feuer auf seiner Brust. Er verbiß den Schmerz und benahm sich gegen seinen Prinzipal wie ein Liebhaber, der eine zürnende Schöne um jeden Preis in eine bessere Laune zu versetzen wünscht. Er hätte sich auf seine Knie vor ihm niederwerfen mögen – seine Stimme bebte, wenn er das Wort an seinen mürrischen Chef richtete, ein Wink von diesem verlieh dem kleinen Kommis Flügel. Von seinen Gefühlen überwältigt, erfaßte er plötzlich Heißensteins Hand, küßte sie und preßte sie dann mit einer Gebärde voll unwillkürlicher Komik an seine Brust.

Heißenstein konnte sich eines Lächelns nicht erwehren und fragte: «Was haben Sie denn?»

«Einen Brief!» platzte Mansuet heraus, «einen Brief von unserer Rosa!» wiederholte er, fast weinend – und hielt seinem Herrn das Zettelchen hin.

Heißenstein war bleich geworden bis an die Lippen, vergeblich rang er nach Worten; röchelnd, als läge eine Faust an seiner Gurgel und würge ihn, trat er auf Mansuet zu, riß das Papier aus seinen zitternden Fingern und warf es vor seinen Augen in das Feuer.

Minuten vergingen, bis der völlig außer Fassung geratene Mann zu sprechen vermochte, und dann brachte er mit wuterstickter Stimme die Drohung hervor: «Wagen Sie’s noch einmal, sich zum Boten jener – Frau zu machen, und mit Schimpf und Schande jag ich Sie aus dem Hause!»

Mansuet sah ihn mit einem sonderbaren Blicke an, und nach einer Pause, in welcher er ruhig zu überlegen schien, sagte er: «Gut.»

Ein Jahr danach um dieselbe Zeit erschien wieder ein Brief Bozenas und enthielt abermals einen Einschluß Rosas. Bozena hatte sich dieses Mal sehr kurz gefaßt; ihre Zeilen enthielten nur einen Gruß an Herrn Weberlein und die dringende Bitte, ihr mit umgehender Post einen Teil ihrer Ersparnisse zuzusenden. Mansuet besorgte diesen Auftrag sofort, obwohl die Ausführung desselben mehrere Morgenstunden in Anspruch nahm. Herr Heißenstein hatte voll Ungeduld soeben zum zehnten Mal nach ihm gefragt, als er endlich eintrat, ganz erhitzt, den Hut und den Oberrock mit Schnee bedeckt.

«Wo waren Sie?» herrschte sein Chef ihn an, «was fällt Ihnen ein, davonzulaufen um die Mittagszeit, vor Expedition der Post?»

Mansuet begab sich schweigend in seinen Glasverschlag, warf dort einige Zeilen auf einen Stempelbogen, den er mitgebracht hatte, trat dann zu Herrn Heißenstein, breitete das Blatt vor ihm auf dem Tische aus und sprach: «Hier meine schriftliche Kündigung. Will Sie nicht in die Notwendigkeit versetzen, mich mit Schimpf und Schande aus dem Hause zu jagen. Und hier» – er legte einen Brief auf den Stempelbogen – «ein heut morgens eingelangtes, an meinen Herrn Prinzipal durch mich zu übermittelndes Schreiben.»

Heißenstein sah abwechselnd den Kommis und das zusammengefaltete Blatt an, auf dem er die Schrift seiner Tochter erkannt hatte. Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es ihn, doch behielt er Ruhe genug, um erwidern zu können. «Ich verweigere die von Ihnen erbetene Entlassung. Sie befinden sich in meinem Dienste und haben zu gehorchen.»

Er stand auf und wies dem Kommis seinen Platz an: «Setzen Sie sich! … Setzen Sie sich! …» wiederholte er, und Mansuet folgte seinem Befehle. «Schreiben Sie!» Mansuet nahm eine Feder zur Hand – «Schreiben Sie: Der Unterzeichnete verbittet sich in Zukunft jede weitere Belästigung …»

Mansuet bebte am ganzen Körper, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, aber er schrieb, und Heißenstein fuhr fort zu diktieren: «Belästigung – durch Übersendung von Zuschriften, die an ihren Adressaten zu befördern ihm die Pflicht verbietet. Mansuet Weberlein, Kommis.»

«Mansuet?» rief dieser und sprang auf – «Ich soll das unterschreiben? – Eine haarsträubende Lüge?!»

Er faßte sich mit beiden Händen an den Kopf; sein Gesicht war kreideweiß.

«Mit Wonne und Entzücken», schrie er so laut, daß jedes seiner Worte deutlich vernommen werden konnte in der nebenanliegenden Stube, in welcher Herr Schimmelreiter arbeitete – «mit Wonne und Entzücken erfüllt mich jeder Beweis der Erinnerung und des Vertrauens, den ich von ihr erhalte, von der armen Rosa. Das ist die Wahrheit – die schreib ich – wenn Sie’s erlauben», setzte er leiser hinzu, «sonst – auch das nicht; denn das zu verbieten haben Sie ein Recht. Nämlich heute noch. Da liegt meine Kündigung.» Er deutete auf die Schrift und stürzte wie ein Rasender hinaus und in sein Zimmer, wo er eifrig seinen Kleiderschrank auszuräumen begann.

Eine Stunde lang herrschte im Kontor so tiefe Stille, daß Schimmelreiter angst und bange wurde. «Was tut der alte Herr? – Ist er eingeschlafen? – Ist er ohnmächtig geworden?» Schimmelreiter hätte gern nachgesehen, doch fehlte ihm der Mut dazu. Endlich hörte er seinen Namen rufen und stand im nächsten Augenblicke vor seinem Chef.

Dieser hatte gerötete Augen und sah merkwürdig alt und kummervoll aus. Er reichte dem Kommis ein Bögelchen Papier und ersuchte ihn, darauf zu schreiben:

Wird retourniert

Im Auftrage meines Prinzipals.
Schimmelreiter.

Heißenstein faltete und kuvertierte das Blatt selbst über Rosas unerbrochenen Brief und sprach: «Die Adresse nun!»

Schimmelreiter setzte die Feder an und wartete. «Wird’s?» rief jener, «worauf warten Sie?»

«Auf die Angabe der Adresse», erwiderte kleinlaut der Kommis.

«– Ja – so. Frau von Fehse – k. k. Oberleutnants-Gattin, zu Sega bei Arad in Ungarn, Haben Sie’s?»

«Zu dienen.»

Heißenstein erhob sich: «Auf die Post damit und sogleich!»

Aber der Befehl reute ihn, sobald er gegeben war. Mit einem mißtrauischen Blick nahm er seinem Untergebenen den Brief aus der Hand und steckte ihn zu sich: «Lassen Sie’s», sprach er, «ich gehe ohnehin aus – komme wohl an der Post vorbei …»

Schimmelreiter brachte Hut und Oberrock und blickte seinem Herrn nach, der langsam und gebeugt im Schneegestöber über den Platz schritt.

«Dahin seine stolze Haltung … Was ist aus dem Manne geworden?» dachte er.

*

Als sich Mansuet nachmittags nach dem Kontor begab, um seine Filzschuhe zu holen, die er dort stehengelassen hatte, und einige ihm gehörende Kostbarkeiten aus seiner Lade zu sich zu nehmen: ein Federmesser, das Bozena ihm einst verehrt – ein Beutelchen, das Rosa für ihn gestrickt – endlich auch den neuesten Militärschematismus – sah er seine Kündigung auf seinem Pulte liegen.

Auf dem unteren Rande des Schriftstücks standen, ganz klein und verschämt, von Heißensteins Hand geschrieben, die Worte: «Kann nicht angenommen werden. Bitte vielmehr den getreuesten Diener, geduldig in Gutem und Üblem bei mir auszuharren. H.»

Mansuet brach in ein krampfhaftes Weinen aus und schluchzte: «Mir verzeiht er, mir altem Esel! – Seinem armen Kinde nicht! … O Menschenherz!»

Der nächste Brief, den Mansuet von Bozena erhielt, brachte keinen Einschluß mehr von Rosa. Die junge Frau war krank. Sie hatte vor der Zeit ein Knäblein geboren, das nur wenige Stunden lebte, und konnte sich seitdem nicht recht erholen. Bozena ließ sich zu keinem Worte der Klage herbei, sie zeigte dem alten Gönner das letzte Ereignis in der kleinen Familie an und bat ihn, ihr auch den Rest ihrer Ersparnisse zuzusenden.

Bozena Kapitel 25

Der Sommer des Jahres 1847 kam heran. Im Hause Heißensteins wurde ein schönes Fest: der sechzehnte Geburtstag Regulas, feierlich begangen. «Die ganze Stadt» nahm daran teil, mit alleiniger Ausnahme des Kommis Weberlein, der, von heftigen Kopfschmerzen ergriffen, sich im Augenblicke, wo er zur Tafel gerufen wurde, zu Bett legte. So mancher schöne Toast ward ausgebracht, auf das edle Elternpaar der Gefeierten und auf die Gefeierte selbst. Den schönsten jedoch sprach Advokat Wenzel, der Regula als «die junge Hoffnung des alten Hauses» und ihre Eltern als «den Stolz der Stadt» so hoch und lange, als es auf Erden nur denkbar möglich, leben ließ.

Man ging spät und äußerst erhoben und gerührt, in später Nachtstunde, nämlich um zehn Uhr, auseinander.

Am folgenden Tag trat Heißenstein eine Reise nach Wien an, und kehrte von dort nach dem Verlaufe einer Woche in ganz ungewöhnlich munterer Stimmung und in Begleitung Joseph Frohburgs zurück.

Frau Nannette empfing den jungen Mann, als er nach sorgfältig gemachter Toilette im Gesellschaftszimmer erschien, wo die Familie ihn erwartete, mit jener aus Haß und Liebe, Neid und Wohlwollen gemischten Empfindung, die überzärtliche Mütter dem zukünftigen Schwiegersohn entgegenbringen.

Der also wird in den Besitz ihres teuersten Gutes treten, für den hat sie das vorzüglichste der Geschöpfe geboren und erzogen!

Die gescheite Frau war zum erstenmal in ihrem Leben um eine Ansprache verlegen, als Joseph Frohburg sich tief und ehrfurchtsvoll vor ihr verbeugte, und Heißenstein gewann Zeit, die Vorstellung und Bewillkommnung auf das schlichteste zu besorgen, indem er sprach: «Das hier ist meine Frau, und das dort ist meine Tochter. Laß dir’s bei uns gefallen, mein Junge.»

Gefallen!

Joseph hatte den Blick zu Regula erhoben und sogleich wieder gesenkt. Der erste Eindruck, den sie auf ihn hervorbrachte, war ein ungünstiger, Nannette konnte sich das nicht verhehlen; aber sie tröstete sich mit der Hoffnung, ihr Geist werde ihn bezwingen.

«Zum Abendessen!» rief Heißenstein; «ich habe wahrhaftig Appetit!»

Man begab sich in das Speisezimmer, und Joseph erhielt seinen Platz neben Regula.

Nannette selbst, die ihrer Tochter doch alles mögliche Gute zutraute, war erstaunt über die feine Weise, mit der sie auf den Ideengang des Gastes einzugehen und dabei ihr Licht auf den Scheffel zu stellen verstand.

Er sprach von Nestroys letzter Posse. Sie wußte in seinen Bemerkungen darüber Anknüpfungspunkte zu finden, die sachte hinüberführten auf die Orestie des Äschylus, ihre philosophische Bedeutung und ihren politischen Zweck. Er sprach von der Lieblichkeit der Donauauen – sie schwebte von diesen nach den Sozietätsinseln und nannte den Namen jeder einzelnen. Er sprach von dem Tode seiner Mutter, sie – von der Nadowessischen Totenklage. Er erzählte von dem «Putsch» der Schweizer Radikalen, sie ließ ein Wort über Huitzilopochtli, den Kriegsgott der Azteken, fallen.

Zuletzt wurde das Verständnis zwischen dem jungen Pärchen ein so vollständiges, daß Rede und Gegenrede überflüssig schien. Dem Gaste zum mindesten, der von nun an schwieg.

Beim Beginne des Abendessens hatte sein Blick noch manchmal scheu und prüfend auf der eckigen Gestalt Regulas geruht, auf ihrem gelben Gesichte und den gleichfarbigen, an die Schläfe angeklebten Scheiteln, von denen auch nicht ein Haar abstand; jetzt blieb er hartnäckig auf das Tischtuch geheftet. Joseph wurde bleicher und bleicher, und mußte endlich gestehen, daß er sich unwohl fühle.

Heißenstein hob sofort die Tafel auf und geleitete seinen Gast, der aufzuatmen schien, als er das Speisezimmer im Rücken hatte, auf die für ihn bereit gehaltene Stube.

Am frühen Morgen schon stand ein Postwagen vor dem Hause, und Joseph in Reisekleidern vor Heißenstein.

«Verzeihen Sie mir, mein väterlicher Freund», sprach der junge Mann treuherzig, «aber – ich habe mir’s überlegt, ich fühle noch keinen Beruf, mich zu verheiraten. Ich glaube am ehrlichsten zu handeln, wenn ich es Ihnen gleich eingestehe.»

«Wozu die Eile?» fragte Heißenstein betroffen, «lerne meine Regel besser kennen. Sie gehört zu der Sorte von Weibern, denen jeder Mann ohne Sorge sein Lebensglück anvertrauen kann.»

«Ich bin davon überzeugt», erwiderte Joseph, «allein ob das ihre in meinen Händen gesichert wäre, daran zweifle ich.»

Heißenstein sah ihn an und schüttelte den Kopf: «Sei aufrichtig – sie gefällt dir nicht», sagte er mit einem Ausdruck von so hoffnungsloser Trauer in Stimme und Gebärde, daß Joseph, davon ergriffen, die Hand des alten Mannes faßte und drückte. Dieser klopfte ihm auf die Schulter: «Nun ja, ich habe Besseres für dich im Sinne gehabt. – Es hat aber nicht sein sollen.»

So endete Heißensteins letzter Versuch, den Traum seines Lebens zu verwirklichen. Mansuet suchte vergebens ihn darüber zu trösten, indem er ihn versicherte, er fände zehn für einen Freier für das Fräulein Tochter, und zwanzig für einen, die bereit wären, seinen Namen anzunehmen.

«Keinen mehr, dem ich ihn anbieten möchte!» entgegnete Heißenstein. «Glauben Sie, dazu sei mir leicht einer gut genug? – So mag er denn erlöschen. Ich seh es ein, der Mann, der mir recht wäre, nimmt die Regel nicht!»

Er verfiel in einen dumpfen Trübsinn, aus dem ihn nur noch selten ein Ausbruch des Zornes gegen die Zerstörerin alles dessen weckte, was er noch als Glück zu empfinden vermocht hätte. Mansuet wagte längere Zeit hindurch nicht Rosas zu erwähnen. Er hatte zwar auf seine dringende Nachfrage, wie die junge Frau sich befinde, beruhigende Antwort erhalten, aber Bozena hatte ihm zugleich mitgeteilt, sie habe es ihrem jungen Herrn in die Hand geloben müssen, keine Briefe mehr in das Heißensteinsche Haus zu schicken. Es sei genug gebettelt worden, er selbst wolle nun von einer Versöhnung nichts mehr hören.

«Das habe ich längst gefürchtet», dachte Mansuet. «Er ist k. k. Offizier, er kann sich die fortgesetzten Demütigungen nicht gefallen lassen. Was jetzt beginnen, du guter, lieber Gott? … Wenn von hier aus keine Schritte geschehen, dann ist’s für immer mit der Hoffnung auf eine Aussöhnung vorbei. Wir sind so weit gekommen, daß uns nur mehr eine Person Hilfe schaffen könnte: – Frau Nannette. Sie müßte sich zur Vermittlerin machen zwischen Vater und Tochter. Sie ist jetzt die Herrin des Hauses und ihres alternden Gatten. Er hat aufgehört, ihr Widerstand zu leisten, anfangs aus Gleichgültigkeit, später aus Ohnmacht.»

Die Folge dieser Betrachtungen war, daß sich Mansuet seiner Rosa zuliebe bis zu einer Art demonstrativer Höflichkeit erniedrigte, der verhaßten Gebieterin gegenüber. Er lief nicht mehr davon, wenn er sie von weitem erblickte, er wandte sich nicht ab, wenn er ihr begegnete. Er blieb stehen, machte Front und grüßte sie feierlich. Er brachte es sogar einmal dahin, mit einem Grinsen, das um alles in der Welt freundlich sein sollte, aber einfach – gräßlich war, zu sagen: «Sehr kalt heute? … Belieben zu frieren? …»

Weiter ging es nicht! – Nicht um den Maria-Theresia-Orden! Nicht um die ewige Glückseligkeit!

So versuchte er’s denn doch, sich an Heißenstein zu wenden, und erfuhr keine heftige Abweisung mehr. Der alte Mann antwortete mit schmerzlichen Klagen, mit tiefem Selbstbedauern, daß er nicht verzeihen dürfe – daß seine Pflicht es ihm verbiete.

Mit unerschöpflicher Geduld, mit einem Eifer, der sich nie verleugnete, begann Mansuet immer von neuem Vorstellungen zu machen, um Mitleid zu bitten – es war und blieb vergeblich.

Der alte Mann wurde nur ängstlich, versank nur tiefer in seine Grübeleien und wiederholte melancholisch: «Ich darf nicht, guter Mansuet. Seien Sie mir nicht böse, aber – ich darf nicht.»

In solchem Zustande fand das Revolutionsjahr 1848 den einst so kräftigen Heißenstein. Die Ereignisse der Märztage rüttelten ihn auf aus dem Traumleben, das er seit einiger Zeit führte. Ein neues Interesse ergriff ihn. Zwei Monate lang zählte ihn die liberale Partei zu ihren Anhängern, vom 15. Mai an wurde er ihr erbitterter Gegner.

Mansuet hatte natürlich keinen Augenblick von etwas anderm gesprochen, als von Dreinschlagen, Einhauen und Niederreiten. Wie man dem «Bäckenrummel» in Wien unter weiland Kaiser Franz ein Ende gemacht, so hätte man dieser «Lumperei von einer Revolution» ein Ende machen sollen, die ganz allein durch ein paar Landstände und durch ein halbes Dutzend Studenten «aus purem, verfluchtem Übermut» angerichtet worden war.

Schimmelreiter hingegen erklärte sich für einen konstituierenden Reichstag, mit einer Kammer als Übergangsstadium zur europäischen Republik. Er abonnierte auf die «Konstitution» und schwor, erst seitdem er dieses Blatt halte, wisse er, was es heiße: ein politisches Bewußtsein haben.

Eines Tages las er im Gasthause einigen andächtigen Zuhörern aus seiner Zeitung vor, wie man «auf dem Leichname des Weltkinderspieles ‹Nationalität› zuletzt siegend die Fahne des alles vereinenden Weltbürgertums aufpflanzen müsse,» da riß ihm Mansuet, der von ihm unbemerkt eingetreten war, das Blatt aus der Hand, und forderte ihn auf Degen – und auf Pistolen.

Schimmelreiter erklärte, dieser Forderung nicht entsprechen zu können, und durch volle vierzehn Tage hatte Mansuet für ihn nur das Schweigen der Verachtung. Es herrschte bittere Feindschaft zwischen den beiden, bis die glorreichen Nachrichten aus Italien ihre Gemüter besänftigten. Als Radetzky siegreich in Mailand eingezogen war, zog auch die Versöhnung in das Kontor ein, und die zwei Säulen des Heißensteinschen Hauses ragten wieder in herzerhebender Eintracht ruhig und friedlich nebeneinander.

Im September dieses ereignisvollen Jahres kamen Bekannte Nannettens nach Weinberg: Graf und Gräfin Rondsperg, die Eltern ihrer ehemaligen Zöglinge. Der Graf hatte sein Gut verlassen infolge ziemlich ernster Konflikte, in die er mit seinen Bauern geraten war.

Diese Leute ließen sich’s nicht nehmen, daß eine Änderung eingetreten sei in dem Verhältnisse zwischen «der Herrschaft» und ihnen; nicht nur scheinbar, nicht für kurze Zeit, wie der alte Graf meinte, sondern in Wirklichkeit und für immer. Er aber, dessen Vermögen seit Jahren schon zerrüttet war, wollte nicht an den Bestand einer Neuerung glauben, die seinen völligen Ruin herbeiführen mußte. Doch wurde er es endlich müde, ihnen Vernunft zu predigen, diesen störrischen Dummköpfen, die immer wieder auf die Behauptung zurückkamen: die Patrimonialrechte seien aufgehoben. Zum erstenmal seit der Verheiratung seiner Töchter – seit vollen vierzehn Jahren – verließ der Greis sein Schloß Rondsperg und das undankbare «Gesindel», seine Bauern.

Fern von ihnen wollte er die Wiederkehr der alten Zeiten und die Wiedereinführung der alten, einzig gesetzlichen Gesetze erwarten. Bis dahin sollten die Leute nur sehen, wie sie fertig würden ohne ihn.

Gleich nach der Ankunft des Grafen und seiner Gemahlin in Weinberg begaben sich Heißenstein und Nannette nach dem «Grünen Baum», in dem die Herrschaften abgestiegen waren, und luden sie dringend ein, das unbehagliche Quartier im Gasthofe mit einer Wohnung zu vertauschen, die ihnen Heißenstein in seinem Hause zur Verfügung stellte.

Der Antrag wurde mit liebenswürdiger Freundlichkeit angenommen. Schon am folgenden Tage zog das gräfliche Ehepaar, begleitet von einem einäugigen Kammerdiener und einer gichtbrüchigen Kammerjungfer, in die zu seinem Empfange auf das beste geschmückten Räume ein. Und gewiß betrat Karl V. das Haus Anton Fuggers auf dem Weinmarkte zu Augsburg mit nicht geringerem Bewußtsein einer von ihm erwiesenen Gnade, als Rondsperg des Haus des Kaufmanns Leopold Heißenstein. In seiner Art auch nicht minder gastfrei als der Nachkomme des Webermeisters zu Graben gegen den Beherrscher der Hälfte der damals bekannten Welt, bezeigte sich der Weinhändler gegen den herabgekommenen Edelmann. Während dessen Anwesenheit wurde das Haus von Besuchern nicht leer, und Heißenstein empfing die Gäste seiner Gäste mit derselben Zuvorkommenheit, die er diesen erwies. Frau Nannette drückte abwechselnd ihre einstigen Zöglinge: die Baronin von Waffenau und die Präsidentin von Horsky an ihr bewegtes Herz. Die erste kam von ihrem Gute Haluschka, die zweite kam aus Wien, die erste brachte vier unglaublich wilde Jungen im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren mit, die zweite nur ihren steifen, wortkargen Mann. Alle kamen, um die alten Leute zu sehen und der teuren Ex-Erzieherin und ihrem edlen Gatten Dank- und Lobpreisungen darzubringen. Frau Nannette war manchmal zumute, als ob ihr Flügel wüchsen.

Heißenstein hingegen hatte wahre, wenn auch nicht ungetrübte Herzensfreude nur an einem Gaste, an Ronald, dem Sohn des Grafen, dem die Aufgabe zugefallen war, seinem Vater die Wege zur Rückkehr zu ebnen und die guten Beziehungen zwischen Schloß und Dorf Rondsperg wiederherzustellen. Er fuhr ab und zu, und seine Anwesenheit war für Heißenstein jedesmal ein schmerzliches Fest. Mit einer Mischung von Neid und Wohlgefallen betrachtete er den schönen, ernsten Jüngling und dachte: «Wärst du mein Sohn!»

Während im Reichstage zu Wien und im Parlamente zu Frankfurt die Abschaffung des Adels beantragt wurde, genossen so einige seiner Mitglieder, nur, weil sie diesem Stande angehörten, an den Flammen eines gut bürgerlichen Herdes ein daheim längst entbehrtes Behagen.

Die Gräfin nahm die Gastfreundschaft Heißensteins und die Ergebenheitsbezeigungen Nannettens dankbar und demütig mit der Empfindung hin, mehr zu empfangen, als sie je erwidern könnte. Der Graf ließ sich alle Ehrenbezeigungen huldvoll gefallen, und belohnte sie – wie er überzeugt war, reichlich – durch ein gelegentlich hingeworfenes Wort der Anerkennung.

Im Frühjahr kam Ronald, um seine Eltern wieder nach Rondsperg abzuholen. Der Graf ließ sich überreden, «seine Untertanen» seien durch seine Abwesenheit den ganzen Winter hindurch genug bestraft, und entschloß sich um so leichter in ihre Mitte zurückzukehren, da ihm der Bauernrichter durch Ronald hatte sagen lassen, das leere Schloß käme ihm und der getreuen Gemeinde vor wie eine große Laterne ohne Licht.

Als man Abschied genommen hatte, wandte sich Ronald noch einmal zu Heißenstein, erfaßte seine beiden Hände und sprach: «Ich kann Ihnen niemals vergelten, was Sie für uns getan haben – doch gäbe ich alles darum, es wenigstens versuchen zu dürfen.»

Nannette und Regula vernahmen diese Worte. Ihre Blicke begegneten einander wie zwei Blitze. – Was meinst du? fragte der eine. – Es wäre mein innigster Wunsch, antwortete der andere. Ronald dreiundzwanzig Jahre – du siebzehn. Er vornehm, aber arm – du bürgerlich, aber reich … Sehr reich durch meine Fürsorge, mein Kind …

Ehrgeizige Gedanken stiegen in der Weinhändlerstochter auf. Ihre Mutter jedoch übte sich, in unbelauschten Stunden, in allen möglichen Betonungen der halblaut hingehauchten Worte: «Meine Tochter, die Gräfin von Rondsperg.»

Bozena Kapitel 8

15.

Jahr um Jahr verging. Röschen wuchs heran, körperlich und geistig gar seltsam ausstaffiert – mit Regulas abgelegten Kleidern, mit Mansuets wunderlichem Wissenskrame. Die ärmste Genossin eines reichen Hauses, besaß sie nichts zu eigen; als Kind auch nicht ein Spielzeug, später keine von all den kleinen Herrlichkeiten, die, so wertlos und so wert gehalten, ein Mädchenzimmer schmücken und ein Mädchenherz erfreuen.

Mansuet sparte wie ein Hamster: «Für ihre Zukunft.» Jetzt, meinte er, brauche sie nichts. Und Bozena gab ihm von ganzem Herzen recht. «Man tut ihr nichts Gutes. Sie soll sich nur gewöhnen zu entbehren.» Aber Röschen entbehrte nichts, weil sie niemals etwas besessen hatte und weil ihr jede Gelegenheit zum Vergleiche mit andern fehlte. Sie hatte nur eine Sehnsucht und auch diese halb unbewußt: die Sehnsucht nach mehr Luft, mehr Sonnenschein, als sie im düstern Hause genoß.

Bozena fand nie Zeit, sie spazieren zu führen, und Mansuet konnte sich nachgerade nicht mehr entschließen, seine Stube zu verlassen. Er wurde sehr alt und etwas geschwätzig, und wiederholte täglich dieselben Späße. Das Fräulein konnte nicht im Seidenkleide vorüberrauschen, ohne daß er sang: «Das Schiff streicht durch die Wellen: Fidolin! Fidolin!» – Schimmelreiter nicht über den Platz schreiten, ohne daß Mansuet deklamierte: «Guter Mond, du gehst so stille» usw.

Der Sekretär hingegen blühte wie ein Jüngling. Er war unbeschreiblich glücklich mit seiner Kathi und sang ihr Lob vor jedem, der es hören, und vor jedem, der es nicht hören wollte.

Fräulein Regula veränderte sich wenig; nur die Haut ihres Gesichtes wurde etwas gespannter, nur ihre Zähne wurden noch etwas länger. Wenn auch die Zahl ihrer Jahre zunahm, die Zahl ihrer Verehrer nahm nicht ab, denn der Reichtum, besonders wenn er in stetem Wachsen begriffen ist, erhält immer jung.

Die Stadt Weinberg hatte indessen teilgenommen an den Segnungen des aufblühenden Verkehrs. Seitdem ein stattlicher Bahnhof sich dicht vor den Anlagen erhob, seitdem der Eisenstrang die Stadt im Halbbogen umkreiste, seitdem Telegraphendrähte Nachrichten aus allen Richtungen der Windrose über die Köpfe der guten Weinberger hinübertrugen, war ein gewaltiger Andrang von fremden Zuzüglern entstanden, von unternehmenden Leuten, die ihr Glück versuchen wollten in der im Aufschwunge begriffenen Stadt. Neue Häuser wuchsen wie Pilze aus dem Boden, Regula hatte drei bauen lassen und im Gemeinderat wurde der Beschluß gefaßt, die Gasse, in der sie sich – weiß und glatt wie ungeheure Bogen Papiers – erhoben: Heißensteingasse zu nennen.

Sooft Regula an diesen ihren Schöpfungen vorbeiging, tat es ihr jedesmal leid, daß die Pietät ihr verbot, in einer derselben ihren Wohnsitz aufzuschlagen. Wie stimmten die scharfen Ecken, die geraden Stiegen, die getünchten Gänge dieser Bauwerke mit ihrem Geschmacke überein! Im alten Hause hatte sie sich gefürchtet von Kindheit an. Es knisterte so seltsam in seinem Holzgetäfel, es war immer etwas laut in den Dielen, in den Decken. – Als hätten die grauen Wände von dem Leben der Menschen, dessen jahrhundertelange Zeugen sie waren, einiges in sich gesogen, vernahm man darin jene geheimnisvollen Stimmen des Leblosen, welche die bang lauschende Seele mit leisem Grauen erfüllen.

Aber wie gern sie es auch getan hätte, Regula verließ das Haus ihrer Väter doch nicht; die Leute hätten sie vielleicht deshalb tadeln, sie für frivol oder pietätlos halten können.

Übrigens, was dereinst geschieht, kann niemand wissen; vorläufig ist sie entschlossen, aus dem Familienhause erst zu scheiden – als verheiratete Frau. Daß der Augenblick, in dem sie eine solche werden sollte, sehr nahe bevorstehe, versichern der Direktor und der Sekretär auf das bestimmteste. Dem Grafen Ronald liefe, wie man zu sagen pflegt, das Wasser bereits in den Mund, erklärte der erste, er wisse nicht mehr wo aus noch ein; die größte Wohltat würde ihm der erweisen, der ihn aufmerksam machte, wie nah die schönste Rettung liegt. Schimmelreiter fragte ihn, ob er sich nicht selbst dieses Verdienst erwerben wolle? …

Aber der Direktor bemerkte mit Feinheit, einen solchen Eingriff in ihre Rechte dürfte ihm die Freifrau von Waffenau übelnehmen.

Der Verkehr zwischen Regula und jener vielbeschäftigten Dame war nicht besonders lebhaft. Man sah einander zweimal im Jahre. Im Frühling machte das Fräulein einen Besuch in Halluschka, im Spätsommer erwiderte ihn die Baronin. Da kam sie mit ihrem Manne und mit zweien ihrer Söhne – sie hatte deren sechs – nach Weinberg. Alljährlich wurden nämlich ein paar andere dieser Jünglinge auf das Gymnasium geführt, um dort ihre Maturitätsprüfung zu machen. Sie fielen regelmäßig durch. Die Freifrau sagte: «Ei, ei, welche Schande!»

Der Freiherr sagte: «Zum Gelehrten muß man halt geboren sein –», die Weinberger wiederholten ihren alten Witz, der Baron Waffenau sei mit vier Pferden nach Weinberg gekommen und mit zwei Eseln abgefahren – und alles war gut.

Die Stunden, die der Vater mit seinen Söhnen in dem Tempel der Wissenschaften zubrachte, benützte die Mutter, um ihre Vorräte an Zucker und Kaffee einzukaufen und einen Besuch bei Regula abzustatten. Die Baronin war eine mittelgroße Frau mit feinen Zügen, mit dunklen, immer noch feurigen Augen und Leberflecken auf dem Gesichte; eine unvergleichliche Hausfrau und Gattin, und eine schwache Mutter. Sie war einst sehr schön gewesen, hatte aber keinen Wert darauf gelegt. Die Sorgen für ihren eigenen Herd nahmen sie völlig in Anspruch; fremdes Elend fand, soweit ihre beschränkten Mittel es erlaubten, bei ihr Hilfe, aber kein Mitleid, nie war über ihre Lippen ein anderes Trostwort gekommen als: «Es ist einmal so», und – je nachdem es paßte: «Sie sind selbst schuld», oder «Wer kann dafür?» Gar nicht zu begreifen, ja völlig unnatürlich schien es ihr, daß eine Frau sich für anderes lebhaft interessieren könne, als für ihren Mann, ihre Kinder und ihren Haushalt. Sogar ihren Eltern hatte sie sich allmählich entfremdet. Von Rondsperg sprach sie nur, um zu sagen, daß sich dort alles wohl befinde. Wenn Regula sich die Bemerkung erlaubte, sie habe gehört, «Frau Gräfin Mutter» seien unwohl gewesen, antwortete sie: «Meine Mutter hat eben wieder einen ihrer gewöhnlichen Anfälle von Schwäche gehabt. Das hat nichts zu bedeuten.»

Und im stillen dachte sie. «Was kümmert’s dich, neugierige alte Jungfer!»

Einige Tage nach dem Gespräche zwischen Schimmelreiter und dem Direktor kam die Baronin, diesmal zweispännig und allein beim «Grünen Baum» angefahren. Sie ließ dort ihre Equipage einstellen, trug dem Kutscher auf, sich nicht zu betrinken, die Pferde gut zu versorgen und für drei Uhr nachmittags alles zur Abfahrt bereit zu halten. Sodann begab sie sich zu Fuße nach dem Heißensteinschen Hause.

Als sie bei dem Fräulein eintrat, befand sich die Baronin in großer Aufregung, und gab sich keine Mühe, sie zu verbergen.

Sie wisse wohl längst, sagte sie gleich nach den ersten Begrüßen zu Regula, und es sei ja ein öffentliches Geheimnis, daß die pekuniären Verhältnisse ihrer Eltern nichts weniger als glänzend sind. Dennoch habe die Mitteilung, die Ronald ihr gestern gemacht, sie traurig überrascht –: Rondsperg muß verkauft werden, und zwar so bald als möglich, es gibt kein Mittel, der Familie das Gut zu erhalten.

Regula neigte ihr Haupt und sprach: «Das ist ja schrecklich.»

«Wohl!» rief die Baronin, und ihre Stimme verriet eine tiefe Erschütterung –» besonders wenn man an unsere alten Eltern denkt … Aber – was ist zu tun? Sie glauben mir, liebe Regula, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht gekommen bin, Ihnen vorzuklagen.»

Regula versicherte, sie sei davon überzeugt, und die Baronin fuhr fort: «Sondern vielmehr, um Ihnen einen Vorschlag zu machen, zu dem die Lage der Dinge meinen Bruder zwingt: Wollen Sie Rondsperg kaufen, liebe Regula?»

Das Gesicht des Fräuleins leuchtete auf im Triumph glücklich erfüllter Erwartung, und die Baronin beeilte sich hinzuzusetzen: «Nämlich – unter einer Bedingung!»

Hastig fiel ihr Regula ins Wort und meinte, bevor von Bedingungen die Rede sein könne, müßte man ihr Zeit lassen, den so unerwarteten Antrag in reifliche Erwägung zu ziehen. Noch wisse sie nicht, ob sie überhaupt imstande sei, darauf einzugehen.

«Ei!» dachte die Baronin, «willst du uns zappeln lassen – willst du uns in der Kühlwanne halten, mein Schatz?» und sagte mit einem scharfen Blicke und mit ganz verändertem Tone: «Das versteht sich von selbst, einen solchen Entschluß faßt man nicht von heut auf morgen. Und jetzt sagen Sie mir – wo kaufen Sie Ihren Kaffee? Ich war mit meinem letzten Gold-Java äußerst unzufrieden!»

Die Baronin erwähnte der Angelegenheit, die sie nach Weinberg geführt hatte, mit keinem Worte mehr, aber Regula kam darauf zurück. Dies geschah auf dem Wege zum Gasthofe, wohin sie die Baronin begleitete. Beide Damen traten nun aus ihrer Reserve und verständigten sich bald so weit, daß die Baronin sagen konnte, ihr Bruder werde in den nächsten Tagen kommen, um mit Regula zu sprechen. Das Fräulein erwiderte, es werde sie freuen, obwohl sie «eigentlich» Herrenbesuche nicht empfange. Die Freifrau blieb voll Verwunderung stehen und wollte in ihrer Aufrichtigkeit schon ausrufen: «Tun Sie’s getrost!» Aber sie besann sich; Regulas Miene und affektierte Befangenheit machten einen befremdenden Eindruck auf sie. Wie ein Blitz durchzuckte sie der Gedanke: Die Weinhändlerin hält sich für gefährlich! – und forschend betrachtete sie das gelbe Fräulein … Ihr Reichtum hat vielleicht doch schon einen oder den andern in Versuchung geführt. Ja, ja, Geld beherrscht die Welt. Wäre sie nur nicht gar so reizlos – die einfachste Lösung all der Verlegenheiten läge nahe. Der arme Ronald darf im Grunde weniger Ansprüche machen als sie, und ein Ertrinkender greift sogar nach einer – Regula.

Schweigend erreichte man das Tor des Gasthofes. Der Wagen der Baronin war bereits angespannt, sie bezahlte ihre Rechnung, wechselte einige Worte mit dem Wirte und wandte sich Abschied nehmend zu Regula, der sie beide Hände entgegenstreckte. Das Fräulein legte die Fingerspitzen hinein: die leichte, aber nicht erlernbare Kunst, einem Menschen warm und herzlich die Hand zu drücken, verstand sie nicht.

«Montag also kommt Ronald», sprach die Baronin. Helle Tränen standen ihr in den Augen, als sie davonfuhr. Seit der Todeskrankheit ihres ältesten Sohnes hatte sie nicht mehr geweint. «Armer Ronald!» seufzte sie «das Elend, nicht das deine – das trügest du – aber das Elend deiner Eltern, oder – diese Frau! – Armer Ronald – welche Wahl!»

Ihr schwesterliches Herz, das lange geschlafen hatte, war plötzlich erwacht.

*

Die Zeit, die so vieles vollbringt, hatte dem Professor Bauer im Hause Regulas die Stellung eines Hausfreundes gesichert, das heißt, er brauchte sich nicht mehr immer mißhandeln zu lassen, er durfte manchmal selbst mißhandeln. Die schüchternen Tage kamen bei ihm seltener, um so häufiger die melancholischen und die rabiaten. Er quälte Regula oft mit seiner Eifersucht. Sie jedoch hatte sich an seine bärbeißige Anbetung gewöhnt und hätte sie nicht mehr entbehren mögen. Es ist doch sehr schmeichelhaft, einen Menschen nach Willkür froh oder traurig zu machen, sein Herz stellen zu können wie eine Uhr, zu wissen: diese Anhänglichkeit ist wie ein gutes Gewehr, sie versagt nie.

Der Professor schmollte, zürnte, verlor tausendmal die Geduld, aber er fand sie immer wieder, denn er liebte und war treu. Zur Verzweiflung brachte ihn Regula, wenn sie ihm ihre Freundschaft anbot und sagte, sie wolle leben und sterben wie ihre Ideale: die Königinnen Elisabeth von England und Christine von Schweden. Der Professor schüttelte grimmig sein Haupt und erinnerte an die Grafen Essex und Monaldeschi. Das Fräulein wurde ernstlich böse und erklärte diese beiden Herren für Lügen der Geschichte. Hierauf entbrannte regelmäßig ein heißer Kampf; Ludwig Bauer schleppte alle möglichen Geschichtswerke herbei, die Zeugnis für die in Frage gestellten Existenzen ablegen sollten. Regula wies die Zumutung von sich, dergleichen zu lesen; man schied voll gegenseitigen Unwillens, und es war vorgekommen, daß Professor Bauer sich durch volle drei Tage im alten Hause nicht blicken ließ, wegen der Grafen Essex und Monaldeschi.

Als er von dem bevorstehenden Besuche des Grafen Ronald hörte, geriet er in große Unruhe.

Er fragte so lange: «Was will er? Was hat er hier zu suchen?» bis Regula abweisend sprach: «Vous m’ennuyez, cher Professeur!»

Die Vorbereitungen, die zu dem Empfange des seltenen Gastes getroffen wurden, schmerzten den täglichen auf das tiefste. Er ging, wie er pflegte, wenn ihm das Herz gar zu schwer war, zu Bozena und sprach: «Ich bitte Sie – was fällt ihr ein? Jetzt wird das Silbergeschirr auf der Kredenz aufgestellt … Eben bin ich dem Hausknecht begegnet, der Teppiche aus dem Keller herauftrug … Und die Überzüge werden von den Kronleuchtern herabgenommen … Hat man je dergleichen gesehen? … Was soll das alles heißen, sagen Sie mir um Gottes willen?!»

Regula wußte sehr gut, daß der Professor bei Bozena über sie klagen ging, aber das kümmerte sie gar nicht, obwohl es ihr sonst schrecklich war, wenn auch nur eine Grille etwas anderes zirpte als ihr Lob. Sie war überzeugt, diese Klagen spricht die Liebe, und die Verschwiegenheit hört sie an; sie sterben innerhalb der vier Mauern der Stube Bozenas. Bei der ist ihre Herrin in guten Händen, niemals wird die Dankbarkeit dieses Weibes gegen sie erlöschen. Bozena würde sich lieber die Zunge abbeißen, als ein Wort des Tadels gegen sie aussprechen, eher zu Grunde gehen, als nicken, wenn jemand ein ungünstiges Urteil über sie fällt: Regula hatte ihre Verläßlichkeit hundertmal erprobt.

*

Der Tag, an dem Graf Ronald in Weinberg eintreffen sollte, erschien, und Fräulein «von» Heißenstein, wie die Höflichkeit ihrer Mitbürger sie nannte, empfing zur festgesetzten Stunde ihren Gast im roten Salon.

«Sehr willkommen, Graf Rondsperg», sprach sie, und verfertigte eine ihrer vortrefflichen Verbeugungen, durch welche sie Ehrfurcht vor dem Begrüßten und Selbstgefühl, gemildert durch mädchenhafte Bescheidenheit, auszudrücken wußte.

«Wie schön er geworden ist!» dachte sie dabei fast bestürzt, und lud ihn mit einer steifen Bewegung zum Sitzen ein.

In der Tat, er hatte sich in den Jahren völliger männlicher Reife gar herrlich entwickelt. Noch lag der Hauch der Jugend auf seinem Angesichte, aber aus seinem ganzen Wesen sprach energische Entschlossenheit und die Ruhe selbstbewußter Kraft.

Vollkommene Unbefangenheit vermag in vielen Fällen auch die erfahrenste Weltläufigkeit zu ersetzen. Unbeirrt durch Regulas Zierereien, verstand es der einfache Ronald, das Gespräch allmählich auf das zu lenken, was ihm so wichtig und so schmerzlich war: auf die Ursachen, die ihn zwangen, sich seines Gutes zu entäußern. Sodann setzte er dem Fräulein die Vor- und Nachteile auseinander, die ihr aus der Erwerbung Rondspergs erwachsen würden. Er wies ihr nach, wie die für den Kauf verwendete Summe sich erst in Jahren, dann aber sicher und reichlich verzinsen würde.

Regula war ihm mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt.

«Erlauben Sie!» fiel sie ihm jetzt in das Wort, «wenn ich die beiden, nach Ihrer Angabe zur Entlastung und Instruierung Rondspergs erforderlichen Summen addiere, so ergibt sich der Preis, den Sie für das Gut fordern. Gesetzt, ich schlösse den Kauf, was bliebe dann Ihnen?»

«Nichts», sagte Ronald mit großer Gelassenheit, «aber glauben Sie nicht, daß ich Ihnen Rondsperg ohne Ursache so wohlfeil überließe. Meine Uneigennützigkeit ist eine scheinbare. Man muß dem allzu billigen Verkäufer mißtrauen, er beabsichtigt vielleicht, sich bezahlt zu machen durch – Unbezahlbares.»

Regula war im Begriffe auszurufen: «Zu rasch! Das kommt zu rasch!» als ein verstohlener Blick auf Ronald sie veranlaßte, diese Worte vorläufig noch zu unterdrücken. Auf seinen Lippen schwebte ein trauriges Lächeln, das sie befremdete. Sie schwieg und war in Verlegenheit, und hatte sonderbarerweise den Wunsch, noch verlegener werden zu müssen.

Ronald fuhr fort: «Sehen Sie, verehrtes Fräulein, als mir mein Vater vor sechs Jahren Rondsperg übergab, tat er’s im Glauben, damit ein unschätzbares Geschenk zu machen, und als ein solches nahm ich es an. Hätte ich dem alten Mann sagen sollen: ‹Du gibst, was dir kaum mehr gehört, dein Eigentum ist dir unter den Händen zerronnen. Dein Geschenk ist eine Last; bürde sie mir nicht auf.›»

«Konflikt der Pflichten» murmelte Regula und bemühte sich, einen tiefsinnigen Ausdruck anzunehmen.

«Auch Sie haben Ihren Vater geliebt!» rief Ronald treuherzig, «hätten Sie vermocht, ihn aus einer beglückenden Täuschung zu reißen? … Einen Greis, der in seinen Anschauungen befangen, die Wahrheit kaum mehr zu fassen vermöchte, oder wenn er es vermöchte, unter ihrer Wucht zusammenbräche?»

Regula schlug die Augen nieder und seufzte: «Was ist Wahrheit?»

Ronald hatte sich nicht unterbrechen lassen, er sprach weiter: «Nein, dacht ich, bleib in deinem Wahn und sinke sanft von ihm gewiegt in den Schoß der ewigen Ruhe, dem du so nahe stehst … Ich meinte es durchsetzen und ihm Rondsperg noch erhalten zu können bis an sein Ende – ich habe mich getäuscht. Es ist unmöglich, das Gut zu behaupten, ohne meine Schwestern, ohne Menschen, die uns Vertrauen geschenkt haben, zu benachteiligen … So suche ich denn einen Käufer für Rondsperg, und da ich einen edlen Käufer brauche, bin ich gekommen, um es Ihnen anzubieten.»

«Edel muß seine Gattin sein», sagte Regula bei sich. Sie zog ihr Taschentuch hervor, um nur irgend etwas zu tun; sie richtete ihren Blick auf das schön gestickte R. H. in der Ecke desselben, und sah im Geiste eine Grafenkrone sich neunzackig darüber erheben.

Ronald schien eine Antwort zu erwarten, ein Zeichen der Aufmunterung, und Regula fragte endlich: «Inwiefern brauchen Sie ihn edel?»

«Weil ich ihm zumute», erwiderte Ronald, «einen Besitz zu erwerben, den er nicht antreten dürfte, solange meine Eltern leben. Mein Vorschlag lautet: Sie kaufen Rondsperg, lassen aber den Kaufvertrag ein Geheimnis bleiben zwischen uns und den von uns bestellten Zeugen. Ich verwalte vorläufig den Besitz für Sie und übergebe Ihnen dereinst, statt des verwahrlosten, ein wohlgeordnetes Gut … Sie werden nicht viele Jahre warten … Ich würde Ihnen ein treuer Verweser sein – es gibt nichts, das ich nicht für die tun möchte, der meine Eltern es verdanken, daß sie sterben dürfen auf ihrer heimatlichen Scholle.»

Regula fragte sich, ob diese letzten Worte nicht beinahe ein Eheversprechen enthielten – wenn man es so nehmen wollte? Sie sann und sann. Ganz so, wie sie sich’s gedacht, war die Sache nicht gekommen. Eigentlich schlug ihr der Graf einen guten Handel vor – unter einer sentimentalen Bedingung. Das letztere tut er im Vertrauen auf den Ruf, den sie genießt. Regula überlegt, daß ihr Ruf von Edelmut und Seelengröße sie schon manchen Gulden gekostet hat. Diesmal trägt er etwas ein – viel sogar. Es ist ein Zukunftskauf, der ihr angeboten wird, aber ein glänzender. Sie kennt Rondsperg durch den Direktor so genau! … Nur ist ihr mit dem Kauf allein nicht gedient – als Gräfin von Rondsperg gedenkt sie dort zu residieren. Ronald sieht sie fragend an, wäre jetzt nicht der Moment gekommen, für sie – die Hand auszustrecken, für ihn – die großmütig zu ergreifen?

«Was sagen Sie, mein Fräulein?» spricht er.

«Ich sage – ja», lispelt sie und reicht ihm die zitternde Rechte.

Er erfaßt und drückt sie herzhaft: «Ich danke Ihnen!»

Eine Pause tritt ein. Sein Haupt neigt sich leise. Nun erhebt es sich wieder, und er fährt in entschlossenem Tone fort: «Die gemütliche Seite unserer Angelegenheit wäre abgetan; die geschäftliche kommt an die Reihe.»

«Schon abgetan?» ruft Regula unwillkürlich.

Ronald betrachtete sie erstaunt, und sie schoß bestürzte Blicke umher, denen es nur darum zu tun war, dem seinen auszuweichen. Wahrlich, sie haßte ihn grimmig in diesem Augenblick!

Sie fragt sich: Hat mich dieser Graf zum besten? Verbirgt sich Hohn hinter seiner scheinbaren Offenheit? Sie sinnt bereits auf Rache, aber vor allem muß ihre Verwirrung ihm verborgen werden. Regula lächelt sauersüß und spricht: «Das Geschäftliche bitte ich abzumachen mit meinem Rechtsfreunde, Doktor Wenzel.»

«Er ist auch der meine», erwiderte Ronald, «und wenn Sie erlauben, will ich sogleich zu ihm.»

«Sie träfen ihn vermutlich auf dem Wege hierher, er wird mit uns speisen.»

«Um so besser, wenn ich mich mit ihm in Ihrer Gegenwart besprechen darf. Und wann gedenken Sie nach Rondsperg zu kommen, mein Fräulein?»

«Was soll ich dort?»

«Es kennen lernen. Sie müssen Rondsperg gesehen haben, bevor Sie es kaufen; darauf bestehe ich.»

Er fuhr mit der Hand über seine Stirn und setzte nach kurzem Schweigen hinzu: «Sie werden über die Verwahrlosung erschrecken, die Ihnen dort auf Schritt und Tritt begegnet. Ich wäre nicht gern Zeuge Ihrer ersten unangenehmen Überraschung. Gestatten Sie mir, einige Tage nach Ihnen einzutreffen, um Sie in Ihrem neuen Eigentume zu begrüßen.»

Regula horchte auf. Alle ihre entschwundenen Hoffnungen kehrten im Fluge zurück. Vielleicht zögert er nur noch zu sprechen; er kann es ja kaum tun, ehe sie ihren künftigen Wohnsitz sieht und sich mit ihm zufrieden erklärt.

Und Regula flüstert schüchtern: «Unter welchem Vorwande könnte ich erscheinen?»

«Es bedarf keines Vorwandes. Sie werden eine Einladung von meiner Mutter erhalten. Meine Mutter kennt unsere Lage genau!» Ronald sprach rasch und mit einer Ergriffenheit, deren völlig Herr zu werden er nicht vermochte. «Obwohl sie sich nicht darüber ausgesprochen hat, weiß sie, weshalb ich hier bin. Was meinen Vater betrifft, so war es längst sein Wunsch, Sie nach Rondsperg zu bitten. Wir hielten ihn davon ab, meine Mutter und ich. Der Unterschied zwischen der Gastfreundschaft, die wir einst in Ihrem Hause genossen, und der, die wir Ihnen zu bieten haben, wäre zu groß gewesen.»

«O Herr Graf!» sprach Regula geschmeichelt, «kein Wort weiter. Ich komme, sobald die Frau Gräfin mich dazu auffordert. Es sei mir jedoch gestattet, meine kleine Nichte und eine Dienerin mitzubringen … denn so ganz allein – das könnte auffallen … Meinen Sie nicht auch?»

Sie war in heiterster Laune. Als ihre Tischgäste, Doktor Wenzel, Professor Bauer und der Direktor eintraten, hatten ihre Wangen ein belebtes Gelb, das den Professor entzückte. Niemals war sie ihm angenehmer und wie er sagte «bedeutender» erschienen, ihre Augen strahlten förmlich vor Klugheit und sie sprach gescheite Sachen. Oh, wie haßte er den Reichtum, der sie unabhängig und zugleich für so viele begehrenswert machte! Er hätte ihre Häuser verbrennen, in ihren Geldschrank einbrechen und seinen Inhalt in alle Winde streuen mögen. Er war überzeugt, daß sie füreinander geboren waren, und daß nichts zwischen ihnen stand, als dieser abscheuliche Reichtum. Wenn Regula zuzeiten gnädig sagte: «Ja, mein Freund, ich ermesse die Tiefe der Neigung, die Sie mir weihen», wähnte er sich dem Inbegriff aller Seligkeiten näher. Ludwig Bauer glich der Kohle, die sich in einen Eisblock verliebte, und meinte, der weine vor innerer Rührung, weil ihre Nähe ihn tauen machte.

Das Diner fiel vortrefflich aus. Der Tisch war tadellos gedeckt, ein Bedienter in einfacher, gar nicht geschmackloser Livree servierte behend und geräuschlos die feinen Gerichte, die milden und feurigen Weine. «Echter Heißensteiner!» rief der Direktor nach jedem Trunke begeistert aus.

Die Herren machten der Mahlzeit alle Ehre – den Professor ausgenommen, der sich sonst eines guten Appetits erfreute, aber heute nicht essen konnte. Er verschlang nur Ronald – nämlich mit den Augen. Ihm schwante Böses.

Und Ronald dachte: «Dieser Mann der Wissenschaft scheint sehr aufgeregt; er ist gewiß im Begriffe, eine Entdeckung zu machen.»

Der Professor jedoch machte keine andere Entdeckung, als die immer neue seiner Liebe zu Regula.

Bozena Kapitel 9

16.

Die Eisenbahnfahrt dauerte nur wenige Stunden. Schon um zwölf Uhr mittags waren die Reisenden auf der Station angelangt, wo der Wagen aus Rondsperg ihrer wartete – eine grüne Kalesche auf Schneckenfedern, mit schmalem Kutschbock, der in der Luft zu schweben schien. Freundlich grinsend begrüßte der Kutscher die Damen und hob sie in den Wagen. Mit Hilfe zweier Volontärs, die ihre Dienste angeboten hatten, band er sodann den Koffer des Fräuleins und die Reisetasche ihres Gefolges auf das Trittbrett fest und schwang sich auf seinen luftigen Sitz. Die Volontärs forderten eine unverschämte Entlohnung für ihre Mühewaltung, Regula machte ein saures Gesicht, murmelte etwas von «idyllischen Zuständen», bezahlte, und die Equipage setzte sich in eine halb wiegende, halb schaukelnde Bewegung, die Röschen entzückte. Trotz der Abmahnungen ihrer Tante stand sie auf, kniete auf dem Rücksitz des Wagens nieder, lehnte sich an den Kutschbock und begann ein eifriges Gespräch mit dem Rosselenker. Er war ein alter Mensch mit krummem Rücken, trug einen weitläufigen Rock aus grobem grauem Tuch und auf dem Kopf einen hohen Zylinder, den er trotz des schönen Wetters unter den Schutz eines Überzugs aus Wachsleinwand gestellt hatte, dessen Bändchen ihm gemütlich um die Nase baumelten.

Regula hatte sich anfangs sehr unwirsch über die Hitze geäußert, sich aber doch nicht entschließen können, den grünen Gazeschleier zu lüften, unter dem sie beinahe erstickte. Zuletzt kam sie in so üble Laune, daß sie gar nicht mehr sprach, den Fächer dicht vor das Gesicht hielt und mit geschlossenen Augen sich in die Ecke des Wagens drückte, während Bozena, wie eine japanische Zofe, einen großen Sonnenschirm über dem Haupte der Herrin ausgespannt hielt.

Röschen schwatzte indessen eifrig mit dem Kutscher weiter. Den Gegenstand ihres Gespräches bildeten die zwei Braunen, die in bequem zottelndem Trab das Gefährt hügelauf, hügelab zogen. Sie waren beide tief eingesattelt und hatten lange, abstehende Ohren, die sie unaufhörlich bewegten. Ihre Namen waren Kocka und Myska (Katze und Maus) und Florian hatte sie gewartet von ihrem ersten Lebenstage an bis zu dem ehrwürdigen Matronenalter, in dem sie jetzt standen. Er erzählte seiner aufmerksamen Zuhörerin, sie seien Schwestern, die eine sechzehn Jahre – Röschen rief: «Gerade wie ich!» – die andere siebzehn Jahre alt, und beide besäßen erwachsene Kinder. Als so klug schilderte er seine Zöglinge, daß man wohl begriff, warum er es für überflüssig hielt, ihnen irgendwelche Leitung oder Ermahnung angedeihen zu lassen. «Die spinnen so fort», sagte er, «wenn d’rauf ankommt, ganze Tog, hoben Weg in die Füß‘!» Lustig tanzten die Zügel auf den Kruppen der Braunen, als hätten sie nur den Zweck, ihnen die Fliegen zu verscheuchen. Wenn Myska, was regelmäßig geschah, sooft es bergab ging, stolperte, rief Florian mit geheuchelter Verwunderung: «Oho?!»

Röschen meinte, die Fahrt habe kaum begonnen, als sie sich schon ihrem Ende nahte. Man war am Ausgange eines Wäldchens aus Laub- und Nadelholz angelangt. Florian richtete sich so gerade auf, als die Beschaffenheit seines Rückens es erlaubte, deutete mit der Peitsche auf ein großes, viereckiges Gebäude, das inmitten der Felder vor einem langgestreckten Dorfe lag, und sprach, die Brust von Stolz geschwellt, das Haupt auf die Seite geneigt, über die Achsel zu Röschen: «Rondsperg!»

Nun wurde ein schmaler Feldweg eingeschlagen, der sich so wunderlich krümmte und wand, daß es schien, als führe er statt in die Nähe des Reiseziels weitab von ihm. Kocka und Myska wußten das aber besser. Sie stießen einander mit den Köpfen an und ließen ein gedämpftes Wiehern vernehmen, ohne Übermut, aber voll Zufriedenheit. Jedes Kind mußte verstehen, daß sie sagten: «Wir sind zu Hause!»

Jetzt fuhr der Wagen über eine Hutweide, auf der einige Kühe ihr Futter suchten, aber nicht fanden, wie ihre eingefallenen Flanken und ihre schlotternden Euter bewiesen. Florian rang mit sich selbst, ob er etwas oder nichts sagen sollte. Nach einer Weile entschloß er sich zu ersterem und erklärte in bedauerndem Tone: «Herrschaftliche Viech!» –

Doch rasch, als gälte es, den unliebsamen Eindruck, den seine Worte hervorgebracht haben mochten, schleunigst zu verwischen, streckte er den Arm mit der Peitsche aus, beschrieb einen Bogen, der den halben Horizont umfaßte, und sprach: «Herrschaftliche Grund!»

Ein unabsehbares Heer aufgescheuchter, mit den Flügeln schlagender Gänse begrüßte die Ankömmlinge mit lautem Geschnatter. Ohne sich davon beirren zu lassen, liefen die Braunen über eine breite, geländerlose Brücke, welche die Ufer eines seichten, sanft dahingleitenden Bächleins miteinander verband, und einer Allee von überständigen, meist gipfeldürren Pappeln zu, an deren Ende die Einfahrt zum Schlosse sichtbar wurde. Es war dies ein gemauerter Bogen zwischen zwei steinernen Säulen, auf denen verwitterte Unholde hockten, die unförmigen Tatzen auf Wappenschilder gestützt, deren Embleme nicht mehr sichtbar waren. Die Pferde lenkten ein, der Wagen rasselte über das Pflaster des Schloßhofes und hielt unter der Einfahrt. Nachdem Florian aus allen Kräften mit seiner Peitsche geschnalzt hatte, erschien ein Diener in einem flatternden Zwilchkittel, öffnete den Wagenschlag und half den Damen beim Aussteigen. Bozena machte sich, von Florian auf das bereitwilligste unterstützt, mit der Bagage zu schaffen, Regula und Röschen traten in die Halle. An beiden Seiten derselben befanden sich hohe verhangene Glastüren; eine Doppeltreppe, dem Eingange gegenüber, führte zu dem ersten Geschosse empor. Die Bildhauerarbeit an der Steinrampe und die Stukkaturen an den Wänden waren so oft übertüncht worden, daß es kaum mehr möglich war, ihre ursprünglichen zierlichen Formen zu erkennen.

Vom Korridor her kamen der Graf und die Gräfin herbei und blieben, ihre Gäste erwartend, auf dem obersten Treppenabsatze stehen. Regula beschleunigte ihre Schritte nicht; langsam stieg sie hinan, warf schräge Blicke um sich und dachte: «Ärmlich! … Ärmlich!» – Voll peinlicher Ungeduld folgte Röschen der Tante und flüsterte ihr zu: «Sie warten, die alten Leute warten!»

Endlich vor dem Paare angelangt, machte Regula eine tiefe Reverenz, der Graf erwiderte sie freundlich mit entblößtem Haupte, die Gräfin verbeugte sich mehrmals nacheinander; rasch, und wie es schien, unwillkürlich bewegten sich ihre Lippen. – Wehmütig ergriffen von dem Anblick der alten Frau, trat Röschen auf sie zu und küßte ihre Hand. Der Graf bot der Tante seinen Arm, die Gräfin nahm den der Nichte und so geleiteten sie ihre Gäste zu den ihnen bestimmten Gemächern. An der Schwelle blieb der Hausherr stehen und sprach: «Es ist alles zu Ihrem Empfange bereit, treten Sie ein, meine Damen.»

Die Hausfrau stammelte einige Worte der Entschuldigung und bat, vorlieb zu nehmen.

Unzufrieden unterbrach sie ihr Gemahl: «Ohne Komplimente! Nicht wahr, meine Damen? – Lassen Sie sich’s bei uns gefallen. In einer halben Stunde wird die Tischglocke das Zeichen zur Tafel geben. Auf Wiedersehen!»

Die Zimmer, welche die Ankömmlinge bezogen, waren groß und kahl: sie boten die Aussicht auf den Teich des Dorfes und auf einen Teil des verwilderten Parks. Ein kleineres, an das Röschens anstoßendes Zimmer war für Bozena bestimmt.

Regula ließ sich von dieser ankleiden und fragte spöttisch: «Wie gefällt es Ihnen hier? – Ein hübsches Haus? – Ein hübscher Park?»

Dabei rieb sie sich die Hände mit Mandelkleie und sagte zu sich selbst: «Das wird anders werden.»

Sie hatte ihre Toilette eben beendet, als eine heisere Glocke ertönte und derselbe alte Diener, der sie am Wagen begrüßt hatte, die Meldung brachte, die Suppe sei aufgetragen.

Der «Lakai» war jetzt mit einem Frack nach der Fasson des Rondsperger Schneiders angetan. Er hatte ein weißes Tuch um den Hals geschlungen und trug Gamaschen, aber keine Handschuhe. Die Wappenknöpfe, die auf seiner Kleidung angebracht waren, mochten wohl einmal versilbert gewesen sein.

Mit einer gewissen nachlässigen Grazie geleitete der Edle, sich von Zeit zu Zeit umsehend, ob sie ihm auch folgten, die Damen in den Salon. Der lag in der Mitte des Gartenflügels, hatte fünf Fenster und den Umfang einer mäßig großen Reitschule. An den Wänden ließen sich die Spuren einer äußerst feinen und zarten Malerei entdecken und Reste von Vergoldung an der weiß lackierten Einrichtung im Stile des Kaiserreichs. Über einem Kanapee, auf dem sechs Personen bequem Platz gefunden hätten, hing das Brustbild der Mutter des alten Grafen. Sie war als Hebe gemalt und nur mit einer roten Echarpe aus durchsichtigem Stoff bekleidet. Regula, deren Auge sich zufällig zuerst auf sie gerichtet hatte, dachte mit stillem Entsetzen: «Die Hebe wird verbrannt!» – Und doch war dieses Bild das einzige in dem ganzen Gemache, das nicht mit grausamer Beredsamkeit von Verfall sprach. Die blauen Seidenüberzüge der Möbel, so matt und glanzlos und so vielfach geflickt, die kunstvoll geschnitzten Trophäen über den Fenstern und Türen, die einst kostbare Vorhänge getragen hatten und jetzt so nutzlos in ihren eisernen Haken hingen, an den Pfeilern die halb erblindeten Spiegel, die traurig all diese verblichene Pracht widerstrahlten, wie deutlich bezeugten sie den Gegensatz, der hier herrschte zwischen einst und jetzt!

Am Eingange des Saales stand das greise Ehepaar, wie es im Treppenhause gestanden hatte. Er, zufrieden und selbstbewußt; sie, kummervoll und beschämt. In respektvoller Entfernung hielt sich ein großer alter Mann mit derben Zügen, das dichte graue Haar über der Stirn zu einer Schnecke zusammengedreht, einen goldenen Siegelring auf dem knochigen Zeigefinger. Er wurde von dem Hausherrn als «mein Burggraf» vorgestellt, und man begab sich zu Tische. Die Gräfin selbst servierte eine safrangelbe Suppe, und Peter trug mit großer Geschäftigkeit die gefüllten Teller umher und schien sich nichts daraus zu machen, wenn sein heißer Inhalt seine Daumen umspülte.

Ein bäurischer Gesell, Peters Gehilfe, den dieser seit langem mit wenig Geduld und wenig Glück in die Geheimnisse seines Berufes einzuführen suchte, schlich hinter ihm her. Peter kommandierte ihn mit Blicken, Winken und halblauten Anrufungen, wovon eine – sie lautete: «Du Roß!» – vom Grafen überhört wurde, die Gräfin in Schrecken versetzte, Regulas Indignation erweckte und den Burggrafen ergötzte.

Auf dem Tische stand prachtvolles Obst in Schalen aus Sevresporzellan und dazwischen ein Bronzeaufsatz; wunderbare Arbeit aus der besten Florentiner Zeit, ein Kunstwerk von hohem Werte.

Regula nahm sich vor, heute noch an Wenzel zu schreiben, im Kaufvertrage sei der Punkt, der von der Erwerbung des Schlosses samt Mobiliar handelt, ganz besonders zu betonen.

Und sie sprach: «Ein bewunderungswürdiger Tafelschmuck! – Die Figuren sind vorraffaelisch gedacht und könnten wohl von Donatello oder von Bruneleschi ausgeführt sein, wenn nicht gar von Ghiberti – ja, ich würde es sogar wagen, sie Benvenuto Cellini zuzuschreiben.»

«Sie sind Kennerin!» antwortete der Graf vergnügt. «Ich hatte keine Ahnung von dem Werte dieses Dings. Ein Schurke von Antiquar, der hier herumreist und die Schlösser unter dem Vorwande bestiehlt, er wolle Einkäufe machen für Sabatier in Paris, hat viele tausend Frank dafür geboten. Aber wir pflegen nicht Handel zu treiben, und ich gab Befehl, den Mann an die Luft zu setzen. Unter anderm –» sprach der Greis lebhaft zum Burggrafen: «Ist es geschehen? Ich vergaß bisher, danach zu fragen: Ist es geschehen?»

Der Burggraf verneigte sich und erwiderte: «Sozusagen, gräfliche Gnaden.»

Während die Suppe gegessen wurde, stand Peter mit verschränkten Armen am Kredenztische und warf unverschämte Blicke auf die beiden Fremden. Dabei dachte er: «Nun, ihr Weinhändlerinnen, gefällt es euch bei uns? Habt ihr in eurem Leben schon etwas dergleichen gesehen? … Was sagt ihr dazu?»

Dann servierte er weißes ausgekochtes Rindfleisch auf silberner Schüssel und Kohlrüben in einer blauen Kasserolle mit abgebrochenem Henkel.

Der Hausfrau standen Schweißtropfen auf der Stirn, der Hausherr war in der muntersten Laune, und als Peters Adlatus eine der Sevresschalen fallen ließ und diese zerbrach, sagte der Graf: «Es tut nichts; mein Peter repariert das wieder. Nicht wahr, Peter?»

Peter zog den Mund so schief, als wollte er sich in das Ohr beißen, und antwortete: «Jo.»

Der Graf sprach mehrmals von Ronald, doch geschah dies immer in gereiztem Tone. Er stellte selten eine Behauptung auf, ohne hinzuzufügen: «Mein Sohn ist andrer Meinung.» Er bedauerte, daß Ronald nicht anwesend sei, um den Damen die Honneurs von Rondsperg zu machen – aber: Mein Sohn ist niemals da, wo er sein sollte.»

«Er kommt morgen», warf die Gräfin ein.

Ohne Notiz von den Worten seiner Frau zu nehmen, erklärte der Greis seinen Gästen, warum er sie nicht begleiten könne bei den kleinen Ausflügen in die Umgebung, die er ihnen zu unternehmen riet. Er hatte die Grenzen des Parks seit dem Jahre achtundvierzig nicht mehr überschritten, denn er wollte sich nicht der Möglichkeit aussetzen, einem Bauern zu begegnen, der sich vielleicht besänne, ob er den Hut vor ihm abziehen solle, oder gar einem, der ein Gewehr auf dem Rücken trüge. «Wenn man zu alt ist, die Anarchie zu bekämpfen, muß man zum mindesten gegen sie protestieren. Mein Sohn freilich verträgt sich mit ihr», setzte er achselzuckend hinzu.

Nach dem Speisen begab man sich in den Garten. Der Kaffee wurde auf der Terrasse getrunken, die den Gartenflügel des Schlosses umgab, und zu der man durch die Halle und eine Salle à terrain gelangte, welche einst, ihrer kühlen Lage und freundlichen Aussicht wegen, als Sommerspeisesaal gedient hatte.

Von der Terrasse aus überblickte man den Teil des Parks, der allen Anforderungen, die Jean Jacques Rousseau an einen solchen stellt, auf das vollständigste entsprach. Ringsum dehnte sich das fruchtbare, wohlgepflegte Land. Da war jedes Fleckchen ausgenützt, jeder Wegrain mit Obstbäumen bepflanzt. Schwerlich hätte ein Maler sich hier seine «Motive» geholt; die charakterlosen Hügel in der Nähe, die grüne Bergesreihe, die den Horizont mit einer fast geraden Linie abschloß, konnten auf Schönheit keinen Anspruch machen, aber herzerfreuend wie die Großmut, wie die Dankbarkeit, war der Anblick des tausendfachen Segens, mit dem dieser Boden die Sorgfalt lohnte, die ihm zuteil wurde von Menschenhand.

Der Graf blieb neben Regula stehen und sah sie erwartungsvoll an. Sie schwieg und – schwieg.

Er sprach endlich mit Ungeduld: «Was sagen Sie zu meiner Aussicht?»

Regula liebte es nicht, interpelliert zu werden. Mit steifer Haltung und einem bösen Lächeln antwortete sie: «Wenn ich gleich Ihnen, Herr Graf, mit Polykrates sprechen dürfte: ‹Dies alles ist mir untertänig›, würde ich ohne Zweifel finden, daß Ihre Aussicht schön sei.»

Röschen hatte sich stumm neben die Gräfin gesetzt und versank ganz und gar in Bewunderung. – So große Weizenfelder, das ist ja eine Pracht! Und wie der Wind spielend darübergleitet und sanfte Wellen sich bilden, die jetzt wie Silber schimmern und jetzt wie Gold. Der Schatten einer Wolke kommt geflogen und spiegelt sich in diesem Meere von Ähren. Neben den gelben Feldern stehen grüne, dazwischen farbenprächtige Mohnblumenbeete, sie würden einen Garten schmücken! An der Ecke der Parkmauer, vor der Weg in das Dorf führt, erheben sich drei uralte Linden, ihre Zweige sind so dicht verschlungen, daß sie zusammen nur eine Krone bilden – eine Riesenkuppel über dem heiligen Johannes aus Stein, der sein graues Haupt zu dem Kreuz in seinem Arm demutvoll niederbeugt.

Die vom Acker heimkehrenden Weiber, mit schweren Grasbündeln auf dem Rücken, steigen, so müde sie sind, doch die Stufen des Standbildes hinan und küssen den halbverlöschten Namen Jesu auf seinem Sockel. Desgleichen tun die alten Bauern, und ihre aufgeklärteren Söhne entblößten zum mindesten das Haupt vor dem Schutzpatron des Dorfes. – Die Sonne neigt sich zum Untergange, immer einsamer wird es auf den Wegen, nur einzelne Nachzügler kommen noch langsam einhergeschritten. An ihnen vorbei galoppiert eine Schar kleiner Jungen mit nackten Beinen; sie reiten die Pferde von der Hutweide nach Hause unter Hurra und lautem Geschrei …

Röschen möchte mit ihnen jauchzen, so seelenvergnügt fühlt sie sich. Sie sieht die Augen der Gräfin mit dem Ausdruck so innigen, so mütterlichen Wohlgefallens auf sich gerichtet. Ach, könnte sie etwas tun für die arme alte Frau! … Aber sie kann nichts tun, als sich zu ihr neigen und sagen: «Wie schön ist es bei Ihnen!»

Die Greisin streichelt ihr sanft die Wange – der alte Herr blickt schalkhaft zu ihr hinüber und droht ihr mit dem Finger: «O – o diese Augen! Werden die noch Unheil genug in der Welt anrichten? … Sehen Sie mich nicht an, Fräulein von Fehse – sehen Sie mich nicht an!»

Bozena Kapitel 2

Die Revolution ging indessen unaufhaltsam ihren Gang. Pöbelunruhen in Wien, Bürgerkrieg in Ungarn, die Oktobertage, die Abreise der kaiserlichen Familie nach Olmütz, die Desertion der Tschechen aus dem Reichstage und – parallellaufend mit diesen Ereignissen: in Weinberg – Aufpflanzungen einer schwarzgelben Fahne auf dem Heißensteinschen Hause und Katzenmusik vor demselben; unfreiwillige Entfernungen einiger Bürger aus dem Honoratiorenzimmer im «Grünen Baum», weil die Herren erklärt hatten, die Slovaka-Lipa sei ein Klub von Spitzbuben; die Bildung einer slawogermanischen Partei contra den Weltbürger Schimmelreiter; die Entdeckung: Weinberg stehe auf tschechischem Boden, heiße eigentlich Winohrady, und es sei eine wahre Schande, daß seit Generationen die Landessprache daselbst nur mehr von Handwerkern und Dienstleuten gesprochen werde. Endlich die Entsendung einer Deputation an Weberlein, die ihn als Pan Tkadlecek ansprach, und ihn aufforderte, seinen böhmischen Ahnen zu Ehren diesen Namen, den sie gewiß geführt hätten, wieder anzunehmen.

Mit edlem Freimute ersuchte Mansuet die Herren, sich zum Teufel zu scheren. Er hatte andere Sorgen. Seine Seele, sein Herz, alle seine Gedanken befanden sich auf den Schlachtfeldern in Ungarn, und mit leidenschaftlichem Interesse verfolgte er die Nachrichten, die vom Kriegsschauplatze kamen, vor allen jedoch – die Schicksale des zweiten Ulanenregimentes. Er wußte, daß es an der Theiß im Feuer gestanden und große Verluste erlitten hatte, er erwartete mit Spannung, mit Todesangst die offiziellen Meldungen, die verhängisvollen Listen der Verwundeten und Toten. Als die Nachricht der Kapitulation bei Vilagos kam, grollte und jubelte er in einem Atem. Er liebte die Russen sehr, aber diesen Sieg gönnte er ihnen doch nicht. So breit hätten sich, meinte er, die zum Tanze geladenen Gäste nicht machen dürfen. Auf dem Platz des Hausherrn stellt sich kein anständiger convivus. Über die Meldung des Marschalls Paskiewitsch an seinen Kaiser: «Ungarn liegt zu Eurer Majestät Füßen!» kränkten sich zwei Menschen in Österreich: die «Hyäne von Brescia» und der Kommis Weberlein. Alles, was die andern dabei empfanden, kam im Vergleiche zu der Empfindung dieser beiden nicht in Betracht.

An einem schönen Augustnachmittage befanden sich Heißenstein und Mansuet allein im Kontor, als der Mann eintrat, der für den letzteren zur Zeit die wichtigste Person auf Erden war: der Briefträger.

Er hatte dem Chef mehrere Briefe zu übergeben, dem Kommis nur die Wiener Zeitung und ein zerknittertes und beschmutztes Schreiben, das Weberlein beiseite warf, um sich in das offizielle Journal zu versenken. Es bringt heute eine lange Reihe von Namen, die Namen der in sechs Schlachten Verwundeten und Gefallenen des kaiserlichen Heeres.

Mansuet überfliegt sie alle, aber er sieht nur einen. Der scheint ihm rot geschrieben mit jungem, frischem Blute, der leuchtet ihm entgegen, brennt ihm wie Feuer in die Augen, daß sie schmerzend übergehen, der Name ist: Wilhelm von Fehse …

Er sieht den vor sich, der ihn trug, den schlanken Ulanen mit dem Jünglingsgesicht. Er sieht ihn, Liebe und Leben atmend, auf seinem schwanenhalsigen, breitschulterigen Schwarzbraunen den Platz umkreisen … Und er sieht ihn daliegen bleich und kalt auf zerstampfter, leichenbedeckter Erde, unter den Hufen der über ihn hinwegjagenden Rosse, mit durchschossener Brust …

Mansuets Knie wanken, er wendet behutsam seinen Stuhl und sinkt auf ihn nieder, seinem Herrn den Rücken zukehrend.

Das Zeitungsblatt, das seiner Hand entglitten, das auf den Tisch gefallen ist, bedeckte er vorsichtig mit seinem Taschentuche. Dabei kommt ihm der Brief in die Hand, den er achtlos beiseite geworfen hatte. Er betrachtet ihn einen Augenblick – ein sonderbarer Umstand fällt ihm auf: der Brief trägt den Stempel der k. k. Feldpost. Mansuet eröffnet ihn – ein Blick auf das antiquierte Datum – die fremden Züge – die Unterschrift … O du gerechter Gott! sie lautete: Wilhelm von Fehse.

Weberlein vermag einen dumpfen Schmerzenslaut nicht zu unterdrücken, Heißenstein sieht über das Blatt, in dem er liest, zu ihm hinüber und fragt: «Was haben Sie?»

«Oh – nichts …» antwortet der Kommis und meint seinen Herrn beruhigt zu haben, und bemerkt nicht, daß dieser ihn beobachtet. Er liest:

«Geehrter Herr!

Ich zeige Ihnen, der Sie immer so teilnehmend gegen uns gewesen sind, im eigenen und im Namen meines Töchterchens, den am Zwölften des vorigen Monats erfolgten Tod meiner lieben Rosa an.»

Ein Schleier verdunkelte Mansuets Augen, in seinem Kopfe braust es, ihm war, als schwände ein Teil seines Bewußtseins; er hörte nicht, daß sich hinter ihm jemand erhob, er bemerkte nicht, daß eine Hand die Lehne seines Stuhles umklammerte. Er biß die Zähne übereinander und fuhr im Lesen fort:

«Sie ist in dem kleinen Badeort Rosenau, in Siebenbürgen, wohin ich sie bei Beginn des Frühjahres auf Anraten unseres Regimentsarztes brachte, gestorben. Ich mußte sie im Juni dort verlassen, als wir uns um Pest konzentrierten. Sie und mein Röschen blieben unter der Obhut Bozenas zurück, und durch diese habe ich im Feld die Nachricht des Todes meiner Frau erhalten. – Solange es anging, hielt Bozena meinen zerbröckelnden Haushalt mit kräftiger Hand zusammen. Sie ist jetzt die einzige Beschützerin meines Töchterchens, aber eine treue Beschützerin, und kehre ich aus dem Feldzuge heim, so werden wir drei uns weiterhelfen. In diesem Falle werde ich zu sorgen wissen für das kleine Wesen, an dem ich das Verbrechen gutzumachen habe, daß ich es in dieses Dasein rief. Sollte ich aber fallen, so empfehle ich Ihrer Fürsprache bei Ihrem Herrn das Kind und seine Pflegerin. Über zwei Gräber hinweg wird er doch nicht grollen. Ich wollte den Mann nicht wieder anrufen, aber ich habe schon mehrmals dem Tod ins Auge geblickt, harte Kämpfe stehen uns noch bevor, das weckt ernste Gedanken – und ich bitte für das Kind.

O Herr! Es ist Frevel und Wahnsinn, zu kränken, was man liebt, wie es Frevel und Wahnsinn ist, um jeden Preis besitzen zu wollen, was man liebt. Rosa war ebensowenig danach angetan, den Strapazen des Lebens, das ich ihr anzubieten hatte, wie dem nagenden Schmerz über die Unversöhnlichkeit ihres Vaters zu widerstehen. Er und ich, wir haben sie getötet. Sie brauchen das dem alten Manne nicht zu sagen, aber es ist die Wahrheit.»

«Es – ist – die Wahrheit!» schrie eine Stimme, deren Klang Mansuet mit Schaudern erkannte, und ein schwerer Körper stürzte zu Boden. Auf die Diele hingestreckt lag Heißenstein, mit dunkelrotem Gesichte, mit bläulichen Lippen, mit hervorgequollenen Augen. Er rang nach Worten, und nur unartikulierte Laute, nur ein klägliches Lallen drang aus seinem schmerzvoll verzogenen Munde.

Der eilends herbeigerufene Arzt konstatierte einen Schlaganfall. Nach einigen Tagen war der Kranke außer Lebensgefahr, er vermochte wieder zu sprechen, doch blieben seine Glieder gelähmt.

In der dritten Nacht, die Mansuet allein am Bette seines Herrn durchwachte, begann dieser plötzlich von seiner Tochter Rosa zu sprechen. Er erzählte dem Getreuen, anfangs stockend, dann hastig überstürzt, von dem Tage, an dem er, Wut und Verzweiflung im Herzen, den Ulanen nachgefahren war. Wie er sie in der Hauptstadt eingeholt und, von dem Obersten empfangen, diesem seine Klage vorgebracht habe. Der Oberst hörte ihn mit einer Gelassenheit an, die ihn entrüstete, ließ den Auditor rufen und ersuchte Heißenstein, diesem «die fatale Geschichte» gleichfalls mitzuteilen. Und der Kaufmann sah – oder glaubte zu sehen – wie seine beiden Zuhörer, während er sprach, einander lächelnd zublinzelten.

«Was befehlen Sie, daß nun geschehe?» fragte der Auditor – Heißenstein wußte nicht, ob ihn oder den Oberst.

Der letztere schien sich zu besinnen, und sagte dann nachlässig, zu dem Kläger gewendet: «Wollen Sie, daß der Leutnant Fehse unglücklich, daß ihm der Prozeß gemacht werde? Wollen Sie ihn auf die Festung bringen?»

«Das können Sie», fügte der Auditor ernsthaft hinzu.

«Freilich!» bestätigte der Oberst; «und Ihre Tochter nach Hause führen – triumphaliter.»

Ja, dieses Wort hatte er gebraucht, und spöttisch gebraucht. Heißenstein besann sich dessen ganz genau, jetzt noch, und jetzt noch durch die Tränen, in denen seine Augen schwammen, funkelte ingrimmiger Zorn.

Der Oberst fuhr fort: «Sie können das alles tun, aber glauben Sie mir: lassen Sie es bleiben. Gehen Sie zu Ihrer Tochter, sie soll, wie ich höre, bei der Frau des Regimentsarztes – einer sehr anständigen Person – untergebracht sein, und lesen Sie dem jungen Mädchen tüchtig den Text. Ich will indessen den Herrn Leutnant gehörig ‹verreißen›. Und dann, bin ich der Meinung, ziehen wir beide andere Saiten auf, halten das Maul und verheiraten die Leutchen in aller Stille. Schicken Sie die Kaution, ich komme um die Heiratsbewilligung ein. Sie kriegen einen prächtigen Kerl zum Schwiegersohn, und ich bekomme eine bildhübsche und steinreiche Frau Leutnant ins Regiment, wir können beide zufrieden sein.»

Wieder lächelte der Auditor, und Heißenstein war überzeugt, man habe ihn zum besten. Die reiche Weinhändlerstochter wurde als eine gute Beute angesehen, einem armen Leutnant, der von der Gage lebt, wohl zu gönnen. Abgekartet war alles zwischen diesen Leuten, und seine Tochter war vielleicht weniger ihr Opfer, als ihre Mitschuldige …

«Mansuet», sagte der alte Mann, «als ich nach Hause fuhr, meinte ich immer hinter mir her lachen zu hören, und ich dachte nicht mehr an Strafe für mein ungeratenes Kind, ich dachte Rache an ihm zu nehmen … Und doch», – er schluchzte leise und seine Stimme wurde immer schwächer – «hätte sie damals mein Erbarmen angefleht – hätte sie sich damals an mich gewendet – mein Schmerz war noch jung – mein Groll hatte sich mir noch nicht so in die Seele eingefressen, wie später … vielleicht hätte ich verziehen … Ich hoffe es von mir, Mansuet, daß ich verziehen hätte! …»

Der Kranke weinte bitterlich, und Weberlein trocknete ihm die Augen mit einem Tuche und sagte: «O ganz gewiß, lieber Herr, ganz gewiß!»

«Aber sie schrieb nicht», sprach Heißenstein, indem er tief aufseufzte. «Sie ließ mich in dem Glauben oder in dem Wahne, daß sie mit jenen Leuten einverstanden sei, die meiner spotteten.»

«Es hat niemand Ihrer gespottet», beschwichtigte Mansuet, «am wenigsten der Herr Oberst, so etwas kommt nicht vor bei einem braven Ulanen, Sie werden sich’s in der Aufregung nur eingebildet haben. Und was die Rosa betrifft, so meine ich immer, daß sie damals geschrieben hat. Bozena wenigstens berief sich in ihrem ersten Briefe auf ein Schreiben, das die junge Frau an Sie gerichtet hatte, gleich nach ihrer – gleich nach dem Unglück …»

«Nein, nein», sagte Heißenstein, «ich habe nichts bekommen: nicht ein einziges Wort. Ich wartete einen Tag – zwei Tage … Oh, sehnlich, Mansuet! … Dann war es aus. Der Advokat mußte ihr schreiben, daß sie enterbt und verstoßen sei. – Das wenige, das ihre Mutter hinterlassen hatte, schickte man ihr.»

Weberlein schüttelte ungläubig den Kopf: «Nur das? Sie irren … das hätte ja nicht einmal gereicht, die Leutnantskaution …»

«Es reichte auch nicht!» flüsterte Heißenstein.

«So mußten sie den armen Haushalt auf Schulden gründen. Grausam, grausam!» seufzte Mansuet, setzte sich auf einen Schemel neben Heißensteins Bett und verschränkte seine langen unruhigen Finger so fürchterlich fest, als wollte er sie brechen.

Eine Zeitlang schwiegen die beiden Greise. Endlich wurde es Tag. Mansuet stand auf, löschte die Lampe und beugte sich über seinen regungslos daliegenden Herrn. Der sah ihn fragend an: «Das Kind – nicht wahr? – Die elternlose Kleine –» sprach er.

«Freilich, Herr! An der wollen wir alles gutmachen!» rief Mansuet. «Ich bin jetzt ruhig über Sie, lieber Herr, und bitte um Urlaub. Ich will gehen, die Bozena aufsuchen und ihren Pflegling … wenn Sie es erlauben. In acht Tagen bin ich wieder da.»

«Gehen Sie, mein guter Mansuet – bringen Sie mir das Kind meiner Rosa», bat Heißenstein.

Weberlein küßte die Hand seines Gebieters und Frau Nannette trat ein.

Sie trug einen Schlafrock aus vergilbter Mousseline de laine und auf dem Kopf ein Häubchen mit meergrünen Bändern. «Ein fahler Anblick», dachte der Kommis.

«Frau», sagte Heißenstein zu seiner Gattin, die zärtlich nach seinem Befinden fragte, indem er nach Mansuet hinsah: «er will gehen, Bozena und Röschen abzuholen. – Du hast doch nichts dagegen?»

Nannette biß sich auf die Lippen und antwortete mit der Versicherung, sie wolle sogleich das Frühstück besorgen und freue sich, daß ihr Mann gut geschlafen habe, man sehe es an seinen frischen Augen. Mansuet meinte im stillen, dies sei eine kühne Behauptung, denn jene Augen waren eingesunken und ihre müden Lider halb geschlossen.

«Ich nehme gleich hier von Ihnen Abschied, meine Gnädigste», sprach Weberlein, «noch vor Mittag will ich fort.»

«Wozu die Eile?» erwiderte Nannette. «Wozu überhaupt …» Sie stockte – «Bozena findet ohne Sie ihren Weg.»

«Ich empfehle mich, meine Gnädigste!» sagte Mansuet mit vor Zorn bebender Stimme, und wie aus dem Rohr geschossen, flog er zur Tür hinaus.

Aber nachdem er seinen Koffer bereits aufgegeben und seinen Platz im Poststellwagen bezahlt hatte, trat er, den breitkrempigen Hut à la Wallenstein und einen außerordentlich großen Regenschirm in den Händen, ohne sich anmelden zu lassen, in Nannettens Gemach.

«Gnädigste!» sagte er, und jedes seiner Worte war scharf wie ein Rasiermesser, «ich hoffe in Bälde die Enkelin des Herrn einführen zu können in ihr väterliches Haus. Dann wird dieselbe in die Rechte ihrer Mutter eingesetzt werden. Durch Sie selbst, Gnädigste. Aus Ehrgefühl, um der Achtung Ihrer Mitbürger willen, um des Seelenfriedens Ihres Mannes willen, werden Sie es tun.»

Nannettens Nase, immer das erste und meistens das einzige, das in ihrem Gesicht errötete, brannte wie eine glühende Kohle.

«Ich werde tun, was meinem Gatten recht ist», sprach sie, «nicht mehr, nicht weniger.»

«Alles, was Sie tun, ist recht», rief Mansuet, «nämlich ihm», verbesserte (oder vielmehr verschlechterte) er sich und seine Sache.

«Was ich darf, wird geschehen.»

«Was Sie wollen, wird geschehen!»

«Wollen – dürfen – für mich, Herr Weberlein, eines und dasselbe.» Nannettens Busen hob sich, sie atmete schnell. «Ich bitte, mißverstehen Sie mich nicht. Mir liegt», sprach sie nachdrücklich, «an der Achtung der Menschen und an dem Seelenfrieden meines Gatten. Aber – die wohlgeratene und die ungeratene Tochter, es ist ein Unterschied. Ich sehe nicht ein, warum das Kind dafür belohnt werden soll, daß seine Mutter – davongelaufen ist.»

«O Frau Prinzipalin!» rief Mansuet zugleich beschwörend und drohend, «tun Sie Ihre Schuldigkeit!»

«Vor allem will ich meine Schuldigkeit tun gegen meine Tochter», erklärte Nannette. «Elternpflicht ist die erste Pflicht.»

Mansuet trat einige Schritte zurück.

«O Frau Prinzipalin!» wiederholte er und fuhr nach kurzer Pause mit einem wahrhaft teuflischen Lächeln fort: «Wenn ich bedenke, wie viele große Verbrechen und wie viele kleine Schändlichkeiten schon im Namen der Elternpflicht begangen wurden und täglich begangen werden, dann danke ich meinem Gott, daß die Nötigung zu solcher Pflichterfüllung niemals an mich herangetreten ist und daß ich sterben darf ohne Progenitur!»

Bozena Kapitel 16

19.

Am nächsten Tage, um zehn Uhr morgens, stand der alte Graf vor dem Spiegel und warf einen letzten Blick auf sein Ebenbild, das ihm daraus wohlgefällig entgegenlächelte. Die Gräfin hielt sich auf einige Schritte Entfernung und betrachtete ihn mit wehmütiger Freude.

Der Frack mit dem hohen Kragen und den Schwalbenschwänzen, den er trug, stammte aus den dreißiger Jahren und hätte besser in ein Museum als in eine Garderobe gepaßt. Nicht viel größerer Jugend durften sich das schwarze Beinkleid, die weiße Weste und Krawatte rühmen, die der Greis angetan hatte.

«Etwas gelblich meine Atours!» sagte er, indem er die Falten seiner Krawatte zurechtstrich, «aber es schadet nicht. Fräulein Heißenstein wird das als eine zarte Rücksicht ansehen – auf ihren Teint, den ich nicht in Schatten stellen will. Nun mein Amtszeichen!» rief er und trat vor seine Gemahlin hin. Die Gräfin steckte ihm ein Sträußchen mit winziger Masche in das Knopfloch des alten Fracks, aus dem ein farblos gewordenes Band des Leopoldordens hervorragte. Ihre Finger zitterten dabei, und fast wäre er ärgerlich geworden über ihre Ungeschicklichkeit. Doch er nahm sich zusammen, zog die Luft durch seine geschlossenen Zähne und sagte nur: «Kommt der Peter noch nicht?»

Er ging wieder an den Spiegel und glättete sein dichtes, wie Silber schimmerndes Haar.

Trotz der abgetragenen, ja ärmlichen Kleider, die seine abgemagerte Gestalt in scharfen Falten umschlotterten, hatte er ein gar adeliges Aussehen.

Seine alte Frau folgte ihm mit ihren Blicken, wie er so rasch und aufrecht, Ungeduld in jeder Miene, im Zimmer hin und her schritt. Sie dachte an die Zeiten zurück, da ihr dieser Mann als der höchste aller Menschen erschienen war, an das lange Leben, das sie an der Seite des einzig und ewig Geliebten – vertrauert. Sie dachte, wie sich am Ende doch alles habe ertragen lassen, weil er, wenn auch selbst oft lieblos, doch auf ihre Liebe immer vertraut hatte. In dieser Stunde aber flammte ihre ganze Seele in einer Empfindung des Dankes gegen ihn auf; ging er doch hin um die lieblichste Braut für seinen Sohn zu werben! Konnte, wenn er es tat, der Erfolg zweifelhaft sein? Das Glück, nach dem der bescheidene Ronald die Hand nicht auszustrecken wagt, sein Vater wird es ihm erringen. Und dann – dann hilft Gott weiter! denkt die fromme alte Frau.

Peter erschien und meldete: «Die Freile» ließe bitten.

Die Gräfin sagte: «Ich warte hier auf dich» – ihr Gemahl nickte beistimmend, ergriff seinen Hut und seine Handschuhe und trat mit wichtiger Miene seinen Weg an.

Regula war, als der Besuch des Grafen ihr angekündigt worden, mit einem Briefe an Bauer beschäftigt gewesen. Derselbe begann also:

«Sie wissen, lieber Freund, wie tief ich Houwald immer bewundert habe:

«Und Segen floß auf ihre Tritte,
Wie Himmelstau auf Blumen drauf.»

dasso – sollte mein Leben sein … Aber –

«Begrüßt der Mensch nicht weinend seine Welt?»  –

Gibt es etwas, das uns bestimmt, Bester – wenn nicht – die Verhältnisse? … Die lieben mich gewiß, die mich verstehen!! Verstehen Sie die Opfer, die man seinem besseren Selbst bringt? … Achten Sie mich!! … O Freund! – Bleiben Sie es! …»

Da meldete Peter seinen Herrn, und im Taumel ihres Triumphes wollte Regula mit den Worten schließen: Ich bin die Braut des Grafen Ronald von Rondsperg. Als sie aber: «Ich bin» niedergeschrieben hatte, legte sie die Feder hin. Abergläubische Besorgnisse hielten sie zurück von der Verkündigung einer noch nicht vollzogenen Tatsache.

Sie erhob sich von dem Sessel in der Fensternische, nahm Platz auf dem Kanapee, und gab sich der angenehmsten Erwartung hin. Ihr Herz hüpfte wie ein junges Lämmlein.

Als angehende Gräfin von Rondsperg wird sie also nach Weinberg, der getreuen Stadt, zurückkehren. Sie wird mit namenlosem Jubel empfangen werden, sie wird keine Neider haben; vielmehr wird sich in ihr jeder geehrt fühlen, und ein Fest wird es geben, als ob die gesamte Bevölkerung in den Grafenstand erhoben worden wäre. Sie nimmt sich vor, huldvoll und herablassend zu sein, und so leutselig, als ob sich nichts verändert hätte in ihrem Verhältnisse zu ihren Bekannten. Diese werden entzückt, und ihre Anbeter verliebter sein als je. Wenn sie in die Stadt gefahren kommt mit vier Pferden, feurig und schnaubend wie Drachen, werden die Hüte der Männer fliegen, und die Frauen werden knixen, und jeder wird fragen: «Haben Sie unsere Gräfin gesehen?» Einmal kommt es noch zu einer öffentlichen Ovation …

Da pocht es an der Tür. Sie ruft: «Herein!» Der Graf steht auf der Schwelle.

«O – Herr Graf», stammelte Regula sich erhebend, «in pontificalibus? … Was bedeutet …?»

Der Greis verneigt sich und weist schmunzelnd auf das Sträußchen in seinem Knopfloch.

«Beinahe wie ein Freiwerber», spricht das Fräulein leise, erschrickt aber sofort über diese unpassende Äußerung. Wirklich, sie weiß nicht mehr, was sie sagt, sie muß sich zusammennehmen.

Der alte Herr stellte sich in Positur, drückte die Absätze aneinander, hielt mit beiden an die Brust gepreßten Händen seinen Hut vor sich, neigte das Haupt und sprach mit heiterer Feierlichkeit: «Ich komme, Fräulein Heißenstein, im Namen meines Sohnes, um bei Ihnen, in aller Form und schuldigen Ehrfurcht, anzuhalten um die Hand ihrer Nichte, des Fräuleins Rosa von Fehse.»

Hölle und Tod, was ist das?! – Regula hatte sich lächelnd vorgebeugt, um die lieblichste Botschaft zu vernehmen, und erhielt einen Schlag ins Gesicht. Sie fuhr zusammen und trat keines Wortes mächtig, einen Schritt zurück.

Der Graf war kein Menschenkenner; er hielt ihr stummes Entsetzen für sprachlose Überraschung, und dachte nur: «Diese alte Jungfer sieht sogar in der Freude widerwärtig aus.» Er gönnte ihr einige Augenblicke, um sich zu erholen von dem unerwarteten Glück, das er ihr verkündigt hatte, und hub dann mit herzlicher Selbstzufriedenheit wieder an: «Nun, mein Fräulein? Wird es mir gestattet sein, meinem Sohne eine gute Botschaft zu bringen?»

In einem Tone, der ihn durch seinen gereizten und feindlichen Klang befremdete, erwiderte Regula: «Darf ich fragen, ob Sie als Bevollmächtigter Ihres Sohnes, mit seinem Wissen und Willen kommen, Herr Graf?»

Ohne sich zu besinnen, mit der größten Unbefangenheit, rief der Greis: «Jawohl, mein Fräulein! Und ich kann nicht glauben, daß es Sie in Erstaunen setzt. Ihrem Scharfsinn ist nicht entgangen, was mein guter Ronald so wenig zu verbergen vermag. Seine Liebe zu Fräulein Rosa.»

Regula stieß ein: «Oh!» hervor, das dem Greis trotz all seiner Zuversicht bedenklich erschien. Sollte die «Weinhändlerin» Ronalds Bewerbung um ihre Nichte doch nicht mit unbedingtem Entzücken aufnehmen?

Augenblicklich, beim ersten Zweifel empörte sich sein Stolz.

«Ich hätte nicht gedacht, mein Fräulein, so lange als Bittsteller vor Ihnen stehen zu müssen», sprach er.

Das Fräulein wies ihm einen Stuhl an und nahm Platz auf dem Kanapee. Sie hatte allmählich die Herrschaft über sich wiedererlangt, und sagte so ruhig sie konnte: «Ich gestehe Ihnen, Herr Graf, daß mich diese Bewerbung um die Hand eines Kindes befremdet.» Er wollte Einsprache tun, sie ließ ihn nicht zu Worte kommen, «und daß ich bisher noch nicht daran gedacht habe, Rosa zu verheiraten.»

«Um so mehr Grund, jetzt daran zu denken!» rief der Graf. «Die Gelegenheit, die sich bietet, ist nicht zu verschmähen. Einen brillanteren Mann als meinen Ronald können Sie für Ihre Nichte finden, aber keinen braveren. – Übrigens kommt es mir nicht zu, meinen Sohn zu loben.»

«Mir gegenüber», sprach Regula scharf und spöttisch, «hieße das wohl Eulen nach Athen tragen. Ich kenne seinen Wert.»

«Nun, dann zögern Sie nicht länger», sagte der Greis munter. «Legen Sie die Hände der jungen Leute ineinander, die nur gar zu gern sich in die Arme fallen möchten.»

«So?» hauchte Regula.

Nein! – Daß eine solche Schmach ihr widerfahren könne, hätte sie niemals für möglich gehalten. Man hat sie unter falschen Vorspielungen hierher gelockt und überfällt sie nun mit der Zumutung, ihre Ansprüche aufzugeben, zurückzutreten vor einer andern – und vor wem? Vor einem Geschöpf, das von ihrer Gnade lebt, das betteln ginge ohne sie!

Der Graf denkt: «Sie schweigt lange. Sie meint vermutlich, es sei anständig, nicht merken zu lassen, wie geehrt sie sich fühlt. Gönnen wir ihr dieses unschuldige Vergnügen!» Nach einer kleinen Weile hebt er wieder an: «Fassen Sie einen für uns günstigen Entschluß, verehrtes Fräulein! Tun Sie’s in einer Weise, die Ihrer würdig ist, und würdig des Rufes Ihrer Großmut und Freigebigkeit.»

«Freilich – auf diese war es abgesehen!» sagte Regula zu sich selbst. «Mein Geld wollt ihr, nicht mich.»

Ihr unruhig umherschweifender Blick fällt auf den Brief, den sie eben geschrieben hat, und wie ein Blitz durchzuckt es sie … Das ist’s – da liegt die Lösung. Geschehe, was wolle, strafe sich’s, wie’s mag – was liegt an der Zukunft? Der große Augenblick fordert sein Recht!

«Verständigen wir uns, Herr Graf», spricht Regula; «handelt es sich nur um meine Einwilligung zu der Verbindung der jungen Rosa mit Ihrem Sohne, oder erwarten Sie, daß meine ‹Großmut und Freigebigkeit› dieselbe ermögliche?»

«Mein Fräulein!» rief der Greis auffahrend.

Regula setzte mit erzwungener Gleichgültigkeit hinzu: «Wenn das letztere der Fall wäre, müßte ich Ihnen zu meinem Bedauern erklären, daß ich nichts für meine Nichte tun kann. Ich habe nähere Verpflichtungen, ich bin – verlobt.»

Er war unfähig, die unangenehme Überraschung, in die diese Nachricht ihn versetzte, zu verbergen, und hätte jedes Wort, mit dem er an die Freigebigkeit des Fräuleins appelliert hatte, mit einem Tropfen seines Herzblutes zurückerkaufen mögen.

«Ich wünsche Ihnen und Ihrem Herrn Bräutigam Glück!» sagte er sarkastisch lächelnd, «wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie mir die Erlaubnis geben wollten, auch meinem Sohne Glück wünschen zu dürfen – zu Ihrer Einwilligung …»

Regula unterbrach ihn: «Ich versage sie nicht, Herr Graf. Es kann mir nur lieb sein, meine Nichte in eine Familie treten zu sehen, in welcher auf irdische Güter ein so geringer Wert gelegt wird, denn diese – sind ihr nicht zuteil geworden.»

«Verlieren Sie darüber kein Wort, mein Fräulein!» rief der Graf. «Geldheiraten zu schließen war in unserm Hause niemals Brauch, und heute noch darf, trotz der Ungunst der Zeiten, der Eigentümer von Rondsperg eine Braut nach seinem Herzen wählen.»

Regula erbebte vom Wirbel bis zur Sohle. Der Gegner selbst hatte ihr den vergifteten Pfeil in die Hand gedrückt, den sie nur abzuschnellen brauchte, um tödlich zu treffen und sich zu befreien von dem lechzenden Durst nach Rache, der in ihrem Innern so qualvoll brannte und Befriedigung heischte. Eine Sekunde lang zögerte sie … Ihr Wort war verpfändet, aber ein Narr, der Betrügern Wort hält, Regula ist nicht gewillt, das Unrecht zu beschützen, sondern – es zu entlarven!

«Ihr Sohn ist nicht mehr Eigentümer von Rondsperg», sagte sie gepreßt und stammelnd: «Er hat es mir verkauft.»

Der alte Mann sprang auf, starrte sie an – stumm, verständnislos.

Regula erhob sich gleichfalls und wiederholte jetzt bestimmter, mit fester Stimme: «Er hat es mir verkauft. Rondsperg ist mein – seit gestern.»

Er taumelte zurück unter diesem Schlage – er war totenbleich, der Atem stockte in seiner Brust.

Erschrocken, aber nicht gerührt, betrachtete ihn Regula. «Fassung, Herr Graf», sprach sie kalt.

«So bin ich Ihr Gast? … In Rondsperg Ihr Gast?!» schrie der Greis, und schmerzlich verband sich die Heftigkeit des Zornes, der Entrüstung, der Beschämung, die in ihm rangen, mit dem Bewußtsein seiner Hilflosigkeit. Plötzlich raffte er alle Kraft zusammen, richtete sich auf und stürzte aus dem Zimmer.

Regula war von einem nervösen Zittern ergriffen worden, das ihre Glieder kläglich schüttelte. Es dauerte lange, bis sie vermochte, an den Tisch im Fenster zu treten und den begonnenen Satz: «Ich bin …» zu Ende zu schreiben. Er schloß jetzt anders, als sie es vor einer Weile im Sinne gehabt, und zwar: «Ich bin die Ihre. Regula Heißenstein.»

Sie rief Bozena und trug ihr auf, den Brief sofort durch einen Boten nach der Bahnhofstation zu befördern. Er konnte um fünf Uhr nachmittags in Bauers Händen sein.

«Frau Professor also? … Dies das Ende … Frau Professor Bauer!» Regula brach in unaufhaltsames Weinen aus.

Bozena Kapitel 17

Die Baronin von Waffenau erwartete an der Seite ihrer Mutter in banger Besorgnis den Erfolg der Unterredung des Grafen mit Regula. Als der Greis jetzt erschien, verriet ihr ein Blick auf sein gestörtes Gesicht, was geschehen war.

«Oh, die Schlange, sie hat uns verraten!» rief Thilde.

Diese Worte brachten den Grafen noch mehr außer sich.

«Sie euch – Ihr mich!» keuchte er; die Stimme versagte ihm, er stampfte heftig mit dem Fuße und brachte mühsam die Worte hervor: «Ronald – her – hierher.»

«Ich will um ihn schicken», sprach die Baronin in beruhigendem Tone. «Regen Sie sich nicht so auf, Papa. Was geschehen ist, ist geschehen, weil es mußte, weil es anders nicht möglich war.»

Zu ihrer Mutter sagte sie leise: «Verlieren Sie nicht den Mut, Mama, ich komme gleich wieder», und eilte, einen besorgten Blick auf die Eltern werfend, hinweg.

Der Greis hatte sich auf den Rohrsessel vor seinem Schreibtisch geworfen, die Gräfin trat zu ihm.

«Karl», sprach sie flehend und legte die Hand auf seine Schulter. Er bäumte sich auf, als ob der Verrat ihn berührt hätte, und schleuderte ihre Hand von sich.

«Du hast alles gewußt! Warst einverstanden mit dieser – Brut … Still!» fuhr er sie an, als sie antworten wollte, und die arme Frau wankte eingeschüchtert und bebend zu ihrem vorigen Platz zurück.

Wuchtige Schritte erdröhnten im Gange; der Burggraf erschien.

«Ah!» rief ihm sein Herr mit unheimlichem Gelächter entgegen, «wissen Sie schon? Rondsperg ist – verkauft, verkauft!»

Der Alte schlug schallend die Hände zusammen «Hatt ich mir’s doch gedacht!»

«Ja», fuhr der Graf fort, «jawohl! Meine Kinder verkaufen mir das Dach über dem Kopf, zum Dank dafür, daß ich es ihnen geschenkt habe. Ich lebe hier, in meinem Rondsperg, von einer Krämerin Gnaden – mache vor ihr die lächerliche Figur eines alten Narren, der in fremdem Hause den Herrn spielt. Aber was liegt daran? Die Schmach ihres Vaters wird meinen Kindern – bezahlt. Für Geld ist ja alles feil, das Vätererbe, das uns den Namen gegeben hat, die Gräber der Ahnen, – alles zu haben für Geld … Auf die Trommel damit! Die Millionärin kauft, und mein Sohn macht ein brillantes Geschäft.»

Die Baronin, die inzwischen zurückgekehrt war, trat unerschrocken auf ihren Vater zu. Sie trug ein riesiges Wirtschaftsbuch in den Armen, das sie vor ihn auf den Schreibtisch hinlegte.

«Es ist jetzt nicht mehr Zeit zu verhehlen und zu schonen, Papa. Die ganze Wahrheit wird Ihnen weniger weh tun als die halbe», sagte sie und schlug das Buch auf. «Öffnen Sie die Augen, seien Sie gerecht gegen den besten Sohn. Hier steht, in Zahlen ausgedrückt, die Geschichte seines langen, furchtlosen Kampfes. Sie können auch leicht sehen, was ihm bleibt bei dem brillanten Geschäfte, das er mit Fräulein Heißenstein abgeschlossen hat.»

Der Burggraf spannte hastig seine Brille auf die Nase und fiel wie ein Raubvogel über das Buch her.

Es war sein größter Verdruß, daß ihm konsequent der Einblick in Ronalds Buchführung verweigert worden war. Jetzt endlich lag der Gegenstand seiner Neugier vor ihm, jetzt konnte er sich und andere überzeugen, daß die Leitung der Rondspergschen Güter in einer Reihe von Mißgriffen bestanden hatte, seitdem sie ihm und seinem Freunde, dem Direktor, entzogen worden war. Er nahm auf einen Wink des Grafen Platz neben ihm, und die beiden begannen eifrigst zu rechnen und zu lesen. Der Graf, der seit Jahren nur noch in den Träumen seiner sanguinischen Einbildungen gelebt hatte, mutete plötzlich seinem Verstande eine gewaltige Anstrengung zu. Er rang seine Gemütsbewegung nieder und rief die schlummernden Kräfte seines Urteilsvermögens wach, um mit kaltem Blute beweisen zu können «So viel habe ich gegeben – und so wird’s mir gedankt!»

Blatt um Blatt wurde umgeschlagen. Von Zeit zu Zeit sprach der Graf: «Wie? – Der Acker nicht mit einbezogen?» – «Wie? Der Wald kommt gar nicht vor?» Und jedesmal erhob sich die Baronin und bewies aus dem Buche mit Scharfsinn und raschem Überblick: «An Zahlungsstatt angenommen von dem und dem.» «Versetzt für so und so viel.»

Wohl glühten ihr die Augen wie im Fieber, wohl war sie rot wie eine Mohnblume, doch blieb die innere Ruhe, die trotz aller äußeren Lebhaftigkeit sie niemals verließ, ihr auch jetzt treu.

Fast zwei Stunden vergingen, die Züge des Grafen wurden immer gespannter, ihr Ausdruck immer düsterer und kalter Schweiß trat auf seine Stirn.

Hingegen schien das Interesse des Burggrafen an dem Studium der Wirtschaftsrechnungen allmählich zu erlöschen. Er richtete sich unter verschiedenen «Ahs» und «Ohs» aus seiner gebückten Stellung auf, rieb seine lange Nase mit dem ringgeschmückten Zeigefinger und erhob sich endlich. Seine farblosen borstigen Haare, durch die er fortwährend wider den Strich gefahren war, standen jedes einzeln in die Höhe; er wandte sich zu der Baronin und sagte mit einer Mischung von Frechheit, Bosheit und Beschämung: «Das Papier ist geduldig.»

Der Baronin wallte einen Augenblick die Galle über: «Sie wissen recht gut –» begann sie mit zorniger Stimme, aber sie mäßigte sich sogleich, senkte den Blick auf die Häkelei, an der sie unermüdlich arbeitete, und murmelte: «Wer mit Ihnen streiten wollte, Tropf!»

Als sie nach einer Weile wieder emporsah, war der Platz, an dem der Burggraf gestanden hatte, leer. Der ländliche Intrigant hatte sich leise davongeschlichen.

Der Graf aber saß steif und stumm in seinen Sessel zurückgelehnt. Seine rechte Hand lag auf dem offenen Buche, die linke hing schlaff herab. Weder seine Frau noch seine Tochter wagten ihn anzusprechen. Dumpfe Stille herrschte im Gemache.

Da schlug es zwölf Uhr vom Kirchturm und das Mittagsglöcklein sandte seine hellen Töne durch das geöffnete Fenster herein, sie schienen zu sprechen: «Ruh aus, gequältes Menschenvolk! – Ein Augenblick der kühlen Rast am heißen Tage ist dir gegönnt.» Die Baronin legte ihre Hand an die brennende Stirn, die Gräfin betete leise. Jetzt: «O Himmel sei uns gnädig!» – Sachte war die Tür geöffnet worden, Ronald trat ein. Er sah seine Mutter und seine Schwester fragend an, bestürzt über den Ausdruck von Todesangst in ihren Zügen.

«Sie haben mich rufen lassen, Vater», sprach er.

Bei dem Laute seiner Stimme fuhr der Greis empor, schwankte, als hätte Schwindel ihn ergriffen. Seine Augen schlossen, seine Lippen bewegten sich: «Ronald», sagte er mit bebender, gebrochener Stimme. Er breitete die Arme nach seinem Sohne aus: «Ronald – verzeihe mir!»

*

Es war der Wunsch des Grafen, Rondsperg sogleich zu verlassen und sich nach Haluschka zu begeben, wo seine Tochter ihn und seine Frau einstweilen aufnehmen sollte. Mit Mühe brachte man ihn dahin, die Abreise auf den morgigen Tag zu verschieben, damit der Freiherr von Waffenau von der Ankunft seiner Schwiegereltern verständigt werden und Anstalten zu ihrer Aufnahme treffen könne. Ronald schickte sich an, sofort nach Haluschka zu fahren, um seinem Schwager die Lage der Dinge auseinanderzusetzen. Am folgenden Morgen wollte er wieder zurück sein. Die Baronin schrieb in seinem Auftrage an Regula und teilte ihr mit, daß Ronald am nächsten Tage, um zwölf Uhr mittags, zur förmlichen Übergabe von Rondsperg bereit sein werde.

Der Tag verging mit eifrigen Vorbereitungen zur Abfahrt; dem alten Herrn schien der Boden unter den Füßen zu brennen, die Gräfin beschäftigte sich mit dem Packen ihrer Habseligkeiten. Sie ging still und lautlos im Zimmer umher mit ihrem gewohnten Ausdruck geduldigen Sichfügens in das Unvermeidliche. Ihre Kammerjungfer saß in einem Lehnstuhl, seufzend unter der Last ihrer Gicht und ihres Fettes, und jammerte, daß sie sich der Gebieterin nicht nützlich machen konnte. Neben dem Koffer kniete Röschen, legte Stück für Stück hinein und benetze die Hand der Gräfin, die es ihr reichte, mit ihren Tränen. Die alte Frau versuchte nicht, sie zu trösten, aber wenn das Kind gar zu bitterlich weinte, strich sie ihr sanft über Haare und Wangen, und sagte mit ihrer ängstlichen und hilflosen Stimme: «Nur Mut, nur Mut! »

Regula hatte indessen den Brief der Baronin erhalten und einen zweiten Boten nach der Eisenbahnstation expediert. Er war der Träger eines Telegramms, das an Doktor Wenzel gerichtet war und denselben in Begleitung der Herren Weberlein und Schimmelreiter nach Rondsperg beschied. Die Anwesenheit des Advokaten hätte bei der Übergabe des Gutes vollkommen genügt, aber Regula empfand in diesem schwierigen Augenblick das Bedürfnis, sich mit ihren Getreuen zu umgeben. Sie wurde etwas ruhiger, als diese Vorkehrung getroffen war, doch nagte eine Empfindung an ihr, die sie bisher nicht gekannt hatte, die ihr immer als das größte aller Schrecknisse erschienen war, die Empfindung: es gibt Menschen, die mich nicht bewundern, die mich anklagen, mich vielleicht geringschätzen!

Sie überlegte die Motive ihrer Handlungsweise, rechtfertigte jedes, erschöpfte sich in Beweisen, daß sie das Notwendige, das Richtige getan – und dennoch war ihr die Brust wie zusammengeschnürt, und dennoch wollte der Druck nicht weichen, der beklemmend und schwer auf ihr lastete.

Eine gedämpfte Stimme, die sie leise ansprach, weckte sie aus ihrem Sinnen. Sie erhob den Kopf.

Neben ihr stand Bozena.

Ihre Lippen bebten, sie war totenblaß, leidenschaftliche, aber unterdrückte Erregung verriet sich in ihrem ganzen Wesen. «Die Herrschaften lassen packen», sagte sie. «Es heißt, sie wollen Rondsperg für immer verlassen.»

«Mögen sie», erwiderte Regula mit scheinbarer Gleichgültigkeit. «Ich habe Rondsperg gekauft, bin hier die Herrin und kann niemanden, der nicht gern mein Gast ist, zwingen, es zu sein. Sie wollen fort, ich werde sie nicht bitten zu bleiben.»

«Tun Sie es doch, Fräulein», sprach Bozena. «Die plötzliche Abreise der alten Herrschaften würde gegen Sie, Fräulein, böses Blut machen.»

Regel stieß ein kleines höhnisches Gekicher hervor, das Bozena nicht irre zu machen vermochte; sie fuhr fort: «Niemand weiß, wie sehr Sie beleidigt worden sind –»

«Wissen Sie’s?»

«Ja, Fräulein, ich lebe in Ihrer Nähe und hab offene Augen. Die andern – die Menschen, die Sie nicht kennen, werden sagen: ‹Sie hat sich eingebildet, der junge Graf werde sie heiraten, und weil er ihr das Röschen vorzieht, jagt sie aus Rache seine Eltern aus dem Hause.›»

«Wahr – wahr!» denkt Regula; ihre schlimmsten, geheimsten Befürchtungen, eben erst mühsam zum Schweigen gebracht, gewinnen eine Stimme, die aus fremdem Munde doppelt schrecklich klingt. «Bozena», ruft sie zugleich entrüstet und unsicher, «wie dürfen Sie es wagen …»

«’s ist meine Schuldigkeit, daß ich Sie warne», spricht die Magd. «Was wissen Sie von der Bosheit der Menschen? … Die größte Freude der Menschen ist Lästern, die Besten zu lästern, denn bei den Schlechten, da zahlt sich’s nicht aus. Sie, Fräulein, sind – nach Gebühr –» Bozena neigte ihr Haupt bei diesen letzten Worten, «bisher nur geachtet und geehrt worden. Geben Sie acht, was geschieht, wenn es einmal heißt: ‹Sie hat’s nicht verdient – sie hat uns um unsere Achtung und Ehrfurcht betrogen!›»

«Niemand wird das sagen», rief Regel und streckte die kalten Hände zitternd aus.

«Das und noch viel Schlimmeres, verlassen Sie sich drauf», fuhr Bozena hart und unerbittlich fort. «Plötzlich wird jeder etwas wissen. Der eine: ‹Die ältere Schwester hat im Elend sterben müssen, damit ihr alles zukomme, der Erbschleicherin …›»

«Still!» kreischte das Fräulein.

Bozena jedoch, ruhiger und ruhiger werdend, je furchtbarer Regels Aufregung wuchs, sprach weiter, langsam und nachdrücklich: «Ein andrer steht auf und sagt: ‹Auf dem Totenbette hat ihr der alte Herr das Kind seiner armen Rosa empfohlen, und hat ihr mit seinem letzten Hauch zugerufen: ‹Deine heiligste Pflicht!› … Sie hat sie nicht erfüllt, hat dem Kind nicht gegeben, was ihm gebührt.›»

Regula machte einen verzweifelten Versuch, sich aufzuraffen: «Gebührt?» wiederholte sie, «ihm gebührt nichts. Was ich für das Kind getan habe, geschah aus Gnade und gutem Willen. Jeder billig Denkende sieht das ein. An dem Urteil der bösen Zungen, der Verleumder – braucht mir nichts zu liegen.»

In welchem Widerspruch standen diese Worte mit dem Ausdruck, in dem sie gesprochen wurden!

«Fräulein», sagte Bozena warnend und eindringlich. «Sie wissen es nicht, Ihr Haus ist auf Ungerechtigkeit erbaut. Das ist ein Grund so schmal – er trägt Sie nur, solange Sie geradeaus gehen … Biegen Sie einmal vom rechten Weg ab – um die Breite eines Haares, so stürzt unter Ihnen alles zusammen! … Sie brauchen den Schutz Gottes … geben Sie dem Kind, nicht was ihm vor den Menschen, sondern was ihm vor Gott gebührt. Tun Sie’s, weil Sie großmütig sind und brav! Tun Sie’s von selbst, Fräulein, sonst müßt ich Sie dazu zwingen – – zu Ihrem Besten, gutes Fräulein!»

Ihre Augen funkelten – sie schlägt sie nieder; ihre ganze Gestalt strebt empor – aber Bozena beugt sich. Regula wirft ihr unter den herabgesenkten Brauen einen mißtrauischen Blick zu, sie weiß nicht, ob ihre Magd schmeichelt oder droht. Diese fährt fort, Nachdruck legend auf jede Silbe: «Um Ihretwillen ist Ihre Schwester verstoßen worden …»

«Weil sie’s verdient hat, nicht um meinetwillen!» ruft das Fräulein.

«Doch – um Ihretwillen! Rosa ist um die Verzeihung ihres Vaters bestohlen worden. Das weiß ich, Fräulein, denn, gefoltert von Gewissensqualen, hat es mir Ihre Mutter in ihrer Todesstunde anvertraut. Der Brief …»

«Schweigen Sie!» schreit Regula, «ich weiß nichts; ich will nichts wissen von einem Briefe – ich kann’s beschwören: Ich habe keinen Brief gesehen … und – wer hat ihn gesehen?»

«Niemand», antwortete Bozena mit kalter Ruhe, «denn er ist unterschlagen worden und – verbrannt.»

«Ha!» Regula atmete auf, befreit von einer Zentnerlast. «So gibt es auch keinen unterschlagenen Brief! … Wer kann beweisen, daß es einen gab? Wer wird es glauben?»

Die Magd stand da, umflossen von einer wunderbaren, stillen, stolzen Majestät; ihre große Gestalt schien noch zu wachsen, ihr ganzes Wesen atmete Macht, und wie Erz klang ihre Stimme, als sie sprach: «Beweisen kann ich es nicht, aber ich werde es sagen und – mir wird man glauben!»

Mit schrecklicher Wucht fielen diese Worte auf die Seele Regulas. «Ja, der wird man glauben!»

Deutlich und lebendig in jedem Zug erhob sich vor ihr ein längst vergessenes Bild. Sie sah ihre Magd zwischen Mansuet und den Jäger treten und hörte sie sprechen: «Es ist wahr! …» Bozena hätte damals nicht zu lügen, sie hätte nur zu schweigen brauchen und der Jäger wäre als Verleumder gebrandmarkt gewesen; an ihr – hätte keiner gezweifelt. Aber sie sprach, sie gab der Wahrheit die Ehre. Ja, der wird man glauben! … Und ein zweites Bild tauchte auf vor Regula. Sie erblickte sich auf dem schmalen Pfade, von dem Bozena gesprochen, hoch über allen Menschen und von allen vergöttert. Und nun ein unseliger Schritt, aus Rache getan, im Zorn beleidigter Eitelkeit, und der Glanz, der sie umgab, erlischt, und sie sinkt, sinkt immer tiefer in einen Abgrund – gräßlich, schauderhaft: Die Verachtung der Menschen! … Alles verläßt sie – der zuerst, der sie so redlich geliebt und ihren Reichtum so redlich gehaßt hat … Schon gehaßt, bevor er wußte, daß sie ihn einem Verbrechen dankte.

«Bozena», stöhnt Regel, ihre Zähne schlagen zusammen, ihre Hände greifen stützesuchend umher, «Bozena, was soll ich tun? Was verlangen Sie?» Sie denkt nur noch an Rettung, an Rettung um jeden Preis.

Mühsam ihre Fassung bewahrend, pochenden Herzens, antwortet Bozena demütig und zögernd: «Ich habe meinem Fräulein nichts vorzuschreiben, aber wäre ich Sie, ich würde zu den alten Leuten sagen: Bleibt, Rondsperg gehört eurem Sohn, dem es Röschen zur Morgengabe bringt.»

Regula lachte grell auf und brach dann in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Plötzlich schien ein schwacher Hoffnungsschimmer in ihr aufzuleuchten.

«Bozena», sprach sie – oh, mit gar geringer Zuversicht und zitternd wie Espenlaub: «Wenn ich – Sie – bäte – zu schweigen?»

Die Magd erwiderte kein einziges Wort, aber sie bäumte sich mit einer Gebärde auf, so wild, so stolz, so voll grimmigen Hohnes, daß Regula keinen Ausweg vor sich sehend: wimmerte: «Nein, nein, ich bitte Sie nicht – – ich will tun – was Sie verlangen …»

Da stieg ein Schrei maßlosen Jubels aus Bozenas Brust. «Engel», rief sie jauchzend, «Erlöserin! … meine ewige Seligkeit dank ich Ihnen und meinen zeitlichen Frieden!» Sie warf sich vor der Herrin nieder und berührte den Boden mit ihrer Stirn; ihr ganzer Körper bebte, mit Anstrengung rang sich der Atem aus ihrer Brust. «Erlöserin! Erlöserin!» wiederholte sie weinend und frohlockend, im Taumel eines an Schmerz grenzenden Entzückens.

Regula meinte einen Augenblick, daß ihre immer so ruhige und zurückhaltende Dienerin wahnsinnig geworden sei.

Bozena richtete sich auf die Knie empor, sie erhob den Kopf und die Arme, als bringe sie dem Himmel ein Opfer dar und rief: «Das Glück des Kindes für das Glück der Mutter … Herr! Herr! Sie hätte getauscht! Nimm du es an, und nimm damit die Sünde von mir!»