Bozena Kapitel 14

Die Heimfahrt wurde unter tiefem Schweigen zurückgelegt. Die Baronin gab sich ihren Betrachtungen hin und das Ergebnis derselben war: «Ronald hat ganz recht, in den sauren Apfel zu beißen. Wenn meine Wirtschaft in einem solchen Zustand wäre, wie die seine – und müßt ich, um ihr aufzuhelfen, die Frau des Teufels werden – ich nähm den Teufel, weiß Gott!»

Ronald dachte an ein Paar braune Augen, an einen leuchtenden Blick. Er dachte: «Röschen, Röschen, wie wird es dir ergehen in dieser argen Welt, du Herz voll Mitleid, du Seele voll Begeisterung?»

Regula hingegen sagte zu sich selbst: «Dieser arme Graf, man muß ihn bedauern … Er kann nicht sprechen – aus Delikatesse … Ich werde – es ist schrecklich – die ersten Schritte tun müssen!»

Die Sonne stand schon ziemlich tief, als die Equipage in der Nähe des Parks anlangte; die Baronin schrie plötzlich auf: «Unerhört! Da steht Papa mit Röschen unter den Linden – außerhalb seiner vier Mauern, außerhalb seines ‹freiwilligen Kerkers› … Ein Ereignis! Das ist ja ein Ereignis!» rief sie dem Grafen zu, vor dem jetzt der Wagen hielt.

«Jawohl, aber» – der alte Herr deutete auf seine Begleiterin – «wo es Feen gibt, da geschehen Zeichen und Wunder. Sie befehlen, der Sterbliche gehorcht. Jetzt jedoch, bitte ich euch, mich aufzunehmen. Thilde, räume mir den Platz und ergreife die Zügel. Mein Sohn wird die Ehre haben, Ihnen auf dem Heimwege seinen Schutz angedeihen zu lassen, oder vielmehr, ich empfehle ihn dem Ihren!» sagte er zu Röschen.

Die Baronin hatte sich beeilt, auszusteigen und half ihrem Vater in den Wagen. Dann besann sie sich einen Augenblick und wollte schon sagen: «Fahr zu, Ronald, ich will Röschen geleiten.» Aber als sie zu ihm hinaufblickte, ergriff sie ein menschlich Rühren. Es war ein solcher Glanz des Glückes über sein Gesicht verbreitet, daß sie dachte: Er hat der Bitternisse genug, mag er auch einmal eine Freude haben! … Und schon saß sie auf dem Bock und nahm die Zügel aus Ronalds Hand. Mit einem Satze sprang er herab, die Baronin trieb die Pferde an und rasch rollte der Wagen längs der Mauer des Parks davon.

Ronald sah ihm nach und ihm war zumute, als entführe dieser enteilende Wagen alle seine Sorgen und als stände er nun allein und frei auf der Erde mit dem Lieblichsten, das sie trug, und ihn überkam eine Empfindung der Seligkeit, wie er sie nicht mehr gekannt seit seiner Knabenzeit; seit den Tagen unbewußter Wonne, wo man sich noch nicht wundert, daß man glücklich ist.

Nicht minder froh als er schien Röschen, und als er fragte: «Wohin nun? Welchen Weg nehmen wir?» antwortete sie, ohne sich zu besinnen: «Den weitesten!»

«Das mein ich auch», rief er, «am liebsten führt ich Sie über jene Berge dort!»

Er glitt rasch mit der Hand über die Augen. «Wie wär’s, was denken Sie, wenn wir so zusammen wandern gingen, weit – weit, und erst heimkehrten in unzählig vielen Jahren … Da klopfen ein Paar uralte Leute an der Pforte des Schlosses: ‹Wer ist’s?› fragt eine Stimme, die wir nicht kennen. Ronald und Röschen, die eines schönen Abends spazieren gegangen sind und länger, als sie anfangs dachten, verweilten auf dem Weg …»

«Traurige Heimkehr!» sagte Röschen. «Ihre Mutter tot – Bozena tot – und wir so alt! …»

«Gut denn! Wenn Sie sich vor einer großen Reise fürchten, so wird nur eine kleine unternommen. Wir gehen durchs Dorf, in den Hain, über die Hutweide zu den Pappeln, denselben Weg von dort an, den Sie gekommen sind. Ist das recht?»

«Es ist recht. Sie müssen aber nicht glauben, daß ich mich vor einer großen Reise fürchte. Schon als kleines Kind bin ich aus Siebenbürgen nach Weinberg gereist, durch ganz Ungarn.»

«Ja – auf Bozenas Arm.»

«Und auch zu Fuße.»

«Was hilft’s, daß sie eine so tapfere Reisende sind, wenn Sie nicht mehr reisen wollen?» Ronald blieb stehen und fragte plötzlich: «Wissen Sie, daß ich Ihr Vater sein könnte?»

Röschen antwortete, ohne ihren Blick von dem seinen abzuwenden: «Ich kann mir meinen Vater nur denken, wie ich ihn zum letztenmal gesehen habe …» Sie stockte.

«Erinnern Sie sich seiner?»

«O ganz deutlich – und doch …» Sie hielt von neuem inne.

«Röschen, was denken Sie jetzt?»

«Ob Sie ihm nicht ähnlich sehen? – Er war auch jung wie Sie, und war … Fragen Sie nur Bozena und Mansuet, die haben ihn gekannt.»

Sie schritten weiter, langsam und ernst und dabei glücklich wie Kinder. Bauersleute gingen und fuhren an ihnen vorüber, und mit jedem tauschte Ronald einen Anruf oder einige Worte.

Im Dorf hatte man bereits Feierabend gemacht. Vor einem hübschen Hause, das sich durch den Anschein von Wohlhabenheit vor seinen Nachbarn auszeichnete, saßen drei Männer auf einer Bank: Großvater, Vater und Enkel. Als Ronald sich ihnen näherte, nahm der Greis die Pelzmütze vom Kopfe und erhob sich; der Mann blieb sitzen, zog aber den breitkrempigen Hut grüßend ab. Der Jüngling hatte die Arme gekreuzt, rührte sich nicht und blickte gleichgültig vor sich hin.

Ronald sagte zu Röschen: «Ein Beispiel für viele. An die Art des Greises war mein Vater gewöhnt.»

Er dankte dem Gruße der Männer, trat dicht vor den Jüngling und streifte ihm ruhig das Käppchen ab.

«Nicht meinetwegen», sprach er, «aber deinetwegen. Hut ab, mein Junge, wenn dein Vater und dein Großvater ihre Häupter entblößen, sonst stehst du einst mit dem Hut in der Hand vor deinen Kindern.»

Der Bursche blickte trotzig zu ihm auf und schien von der Lehre wenig erbaut. Aber der Großvater sagte zu seinem Enkel: «Es ist dir recht geschehen.»

Ein junges Weib, das am Zaune ihres Gartens stand, riß die Augen weit auf, als sie Ronald vertraulich mit Röschen plaudernd daherkommen sah, und rief ihm zu: «Aha! Das ist die Braut aus der Stadt.» Sie stemmte beide Hände in die Seiten und betrachtete das Mädchen mit Wohlgefallen: «Meiner Treu, eine Hübsche haben Sie sich ausgesucht.»

«Was fällt Euch ein?» erwiderte er, «das ist nicht meine Braut. Die würde mich ja nicht nehmen, die wartet auf einen Jüngeren.»

«Sie soll sich nicht versündigen!» sprach das Weib und schien sehr aufgelegt, Röschen eine wohlgemeinte Zurechtweisung zu erteilen. Aber Ronald kam ihr zuvor und sagte scherzend: «Die Frau meint mir’s gut!»

An einem der letzten Häuser des Dorfes eilte Röschen rasch vorbei – «denn», sagte sie, «hier wohnt Anitschka, wenn sie mich sieht, will sie wieder mit. An der Hand habe ich sie nach Hause führen müssen, sie wäre sonst nicht gegangen.»

«Wie?» fragte Ronald, «Sie waren heute schon hier?»

«Eben – mit Ihrem Vater.»

«Armer Vater», dachte er, «heute vergaß er seines langjährigen Grolles, heute, da sich das letzte Band gelöst hat zwischen ihm und den Bewohnern seines Rondsperg. Er hat, ohne es zu wissen, Abschied von ihnen genommen.»

Am Ausgange des Dorfes befand sich ein Hain, aus dichtem Gebüsch gebildet, das einzelne Buchen und Birken überragten. Ein klares Wässerchen schlug sich durch das Gehölz, längs seines Ufers führte ein Fußsteig zu einem freien Platze empor. Eine Hügellehne umschloß, eine mächtige Eiche beherrschte die grüne Bucht. Die alte Riesin streckte drohend einen abgestorbenen Zweig in die Lüfte hinaus; ihre dunkel belaubten Äste verschlangen sich wie zu Schutz und Trutz. Finster stand sie da mit ihrem zerklüfteten Stamm und ihrem breiten, von manchem Sturm arg mitgenommenen Wipfel, inmitten des üppigen, strotzenden Anwuchses, und sie schien zu sagen: «Solche wie ihr, hab ich schon viele kommen und – verschwinden gesehen.»

Zu ihren Füßen, unter einem schindelgedeckten Dache, erhob sich ein Standbild der heiligen Anna, die ein Buch in der Hand hielt, aus dem sie eine außerordentlich kleine Jungfrau Maria lesen lehrte. Die Figuren waren aus Holz und von einem einheimischen Künstler bunt bemalt. Auf den Blättern des aufgeschlagenen Buches stand das ABC; demjenigen treu nachgebildet, das der Schulmeister von Rondsperg seiner Jugend vorschrieb.

An den Bergesabhang nebenan war ein Kapellchen angebaut. Es hatte einen niedrigen, dreieckigen Giebel und wölbte sich über einen Brunnen voll reinsten Wassers. Röschen schöpfte sogleich daraus mit der hohlen Hand. – Nein! so wie dieser hatte sie noch nie ein Trunk gelabt. Sie kniete am Rande des Brunnens und sah hinein. Ruhig und dunkel schimmerte der Wasserspiegel, und von der Tiefe herauf drangen, sich regelmäßig wiederholend, glucksende Laute.

Ein leises Lüftchen erhob sich und rauschte wie Gesang in den Wipfeln der Buchen und Birken, und wie ein dumpfes Brausen in dem Gezweig der Eiche. Die kecken Vöglein, die darin hausten, fielen mit lustigem Gezwitscher ein und umflogen geschäftig die traulich sichere Wohnstätte, die ihnen der alte Baum in dem Gewirre seiner Äste bot.

Röschen hatte sich auf eine der Wurzeln gesetzt, die wie gepanzerte Schlangen aus dem Boden ragten; glückselig schaute sie vor sich hin. Eine schlanke, blaue Glockenblume, hoch emporgeschossen aus dem Moose, schien ihre besondere Bewunderung zu erregen; Ronald wollte sie brechen: «Lassen Sie die Blume leben!» rief Röschen, «es sind noch nicht einmal alle ihre Glocken aufgeblüht, und – sehen Sie nicht, wie sie sich freut, daß sie dastehen darf im kühlen Schatten auf ihrem samtenen Teppich? … Aber –» fragte sie plötzlich mit einem forschenden Blick, «warum so traurig?»

» O Fräulein Röschen!» antwortete Ronald, «ich bin es lange nicht so sehr, als ich Ursache dazu hätte … Eine törichte Behauptung – nicht wahr?» beeilte sie hinzuzufügen, als er sah, wie bei diesen Worten die Heiterkeit auf ihrem Gesichte erlosch. «Es kann kein großes Leid sein, das nicht einmal vermag, uns recht traurig zu machen. Und überdies – wer hat nicht seine Sorgen?»

«Ich», sprach Röschen, «habe bis jetzt keine Sorgen gehabt.»

«Jetzt aber haben Sie welche?» versetzte er und beugte sich lächelnd näher zu ihr. Ein sanfter Vorwurf lag in ihren Augen und der Seherblick der Liebe las mit innigem Entzücken Röschens Antwort darin und alle ihre unausgesprochenen Gedanken. Sie sagten in ihrer stummen Sprache: «Wie kannst du so fragen? Weißt du nicht, daß fortan deine Sorgen die meinen sind? … Seit jetzt, – seit dem Augenblick, wo ich dich bewundert habe in deiner Güte, du starker Mann. Plötzlich ist’s gekommen und wird immer bleiben, die Empfindung stirbt nicht, die uns beide zueinander zieht. Kann ich aufhören, das Edle zu lieben? Kannst du aufhören, zu beschützen, was sich dir so vertrauensvoll hingegeben hat?

In gar lieblicher Gestalt tritt die Versuchung an ihn heran, doch er muß ihr widerstehen. Der Traum des Kindes ist zu schön, um Wirklichkeit zu werden … Ein Wort würde den Zauber zerstören. Soll er es sprechen?

Röschen hatte sich erhoben: «Wir vergessen ja, daß wir heute noch heim wollen!» sagte sie.

Er ging voran, bog mit beiden Händen die Zweige auseinander, die den schmalen, steil aufwärts steigenden Pfad überdeckten, und bahnte so seiner Begleiterin den Weg. Sie folgte schweigend. Hinter ihr schlugen die Zweige wieder zusammen, und wenn er anhielt und sich umwandte, sah er sie dastehen unter dem grünen, lebendigen Gewölbe wie ein Heiligenbild in laubgeschmückter Nische. «So bist du mein» dachte er, «so bin ich allein mit dir abgeschlossen von der ganzen Welt.»

Tiefe Stelle senkte sich über den Hain, leise nur zwitscherte noch hie und da ein silbernes Stimmchen in den Wipfeln, bewegte sich ein Blatt an den hängenden Zweigen der Birken; ein rosenroter Schimmer fiel durch das Dickicht, es lichtete sich immer mehr, Ronald und Röschen traten in das Freie. – Der Himmel war mit runden, flockigen Wolken überzogen, die im Widerschein der untergehenden Sonne leuchtend das Firmament bedeckten wie ein ungeheures purpurnes Vließ.

Röschen breitete die Arme aus: «Schön!» rief sie, «wunderbar schön!»

«Ich bin so glücklich, Fräulein Röschen», begann Ronald etwas unsicher und zögernd, «daß es Ihnen hier gefällt. Rondsperg ist vielleicht bestimmt, Ihr zukünftiger Aufenthalt zu werden.»

Sie sah ihn mit schmerzlichem Erstaunen an, der Ton, in dem er diese Worte gesprochen hatte, klang so seltsam, fremd und kühl.

«Es ist doch etwas Ernstes an dem, was ich vorhin im Scherze zu Ihnen sagte», fuhr er fort. «Ich muß wandern, liebes Röschen, wer weiß wie bald – wer weiß wie weit … über die Berge, die Ihnen von den Linden aus so fern erschienen sind. Ich gehe einer ungewissen Zukunft entgegen und darf niemandem sagen: teile sie mit mir. Aber das Schicksal ist mir doch günstig … Sie sollen ja daheim sein an dem Orte, den ich von meiner Kindheit an geliebt habe, und ich werde an Rondsperg nicht denken können, ohne zugleich an Sie zu denken … Das wird mir die Seele erhellen – immer und überall!»

Röschen war sehr blaß geworden, ihr Herz klopfte rasch und bang, tausend Fragen drängten sich auf ihre Lippen, doch sprach sie nur die eine aus: «Sie wollen fort?»

«Nicht heute, noch morgen», antwortete er hastig und beklommen, «und daß ich gehe, ist ein Geheimnis, das nur Sie erfahren, weil ich vor Ihnen keines haben will, und weil ich Ihnen alles Gute zutraue, demnach auch Verschwiegenheit.»

Bestürzt erhob ihr Blick sich zu ihm, er hatte den seinen abgewendet und eilte rasch vorwärts, sie hielt Schritt mit ihm, in wenigen Minuten war die Allee erreicht.

«Wir sind so fröhlich ausgegangen und kommen nun so traurig heim», sagte Ronald, «und ich bin schuld daran …»

«Es tut nichts,» erwiderte Röschen, «traurig sein ist auch gut.»

«Sie sind es nie gewesen. niemals – sagten Sie nicht?»

Sie schüttelte den Kopf und lächelte ihn mit feuchten Augen an.

«O Röschen!» sprach er …

«Willkommen!» rief eine Stimme, und aus dem Schloßhofe trat ihnen der alte Graf entgegen, den Hut auf dem Ohr, gerade aufgerichtet, mit Augen so frisch und hell wie die eines Jünglings. Erbarmungslos ließ er seinen Blick auf dem Gesichte seines Sohnes ruhen und weidete sich an dessen Verwirrung mit herzlichstem Ergötzen.

«Nun, mein Fräulein», sagte er zu Röschen, «ich hoffe, Sie haben meine Begleitung bitter vermißt?»

«Ja – nein – – ja», stotterte sie in größter Verlegenheit und entfloh in das Haus.

«Ich lege mich Ihnen zu Füßen», rief der Greis ihr nach und klopfte mit einer plötzlichen Anwandlung von Zärtlichkeit seinem Sohne auf die Schultern: «Nicht übel die kleine Person? – – Was sagst du? – Flößt dir Aversion ein? … Schade!»

Er lachte, und als Ronald stockend erwiderte: «Was denken Sie, lieber Vater?» sprach er: «Nichts – was sollte ich denken? – Ein alter Mann – wer kümmert sich heutzutage um die Gedanken eines alten Mannes? …»

Er sah Ronald an, und es ward ihm weich und liebevoll zumute wie lange nicht. «Basta … Lassen wir das gut sein …» und wieder klopfte er ihm auf die Schulter. «Wir verstehen uns!» Er war davon überzeugt.

Dieses Mal aber hatte er seltsamerweise recht.

*

Röschen wurde aus dem Schlafe, in den sie gesunken war, sobald sie ihr Haupt auf das Kissen gelegt hatte, durch melodische Klänge geweckt, die leise und lieblich durch das offene Fenster hereinschwebten. Aus einem Zimmer des Erdgeschosses stiegen sie zu der Schlummerstätte des jungen Mädchens empor. Eine Geige sang in ihrer wortlosen Sprache ein beredtes Lied … Kein Lied der Sehnsucht und der werbenden Liebe! – Wie innig und heiß auch seine Töne erklangen, sie sprachen nicht von den ungestümen Wünschen der Menschenbrust, sie sprachen von überwundenem Schmerz, von gebändigter Leidenschaft, von Frieden und von seliger Erhebung über alles Erdenweh.

Röschen lauschte, aufrecht sitzend auf ihrem Lager, mit halbgeöffneten Lippen, mit gefalteten Händen. Wie durchsichtig schimmerte ihr Angesicht im Mondenschein. Sie hörte nicht, daß eine Tür aufgestoßen worden, daß jemand sich näherte, sie zuckte zusammen, als eine wohlbekannte Hand sie berührte, und – lag im nächsten Augenblicke weinend in den Armen Bozenas. Diese schloß das Kind an ihre Brust und sprach ihm beruhigend zu, bis Röschen in den süßen und tiefen Schlummer fiel, der sich so rasch auf müde junge Augenlider senkt.

Bozena beugte sich über die Schlafende: «Armes Kind, streckst du die Hand nach dem Gute deiner Feindin aus? … Was hat der Himmel mit dir vor? – Will er sie strafen durch dich oder mußt auch du zugrunde gehn, damit drüben noch eine steht, die Klage führt über sie vor Gottes Thron? … über sie – und über mich!»

Bozena rang die Hände: «O hätt ich noch meine alte Kraft!»

*

Im Nebenzimmer hatte sich indessen folgendes begeben: Regula erhob sich, nachdem sie eine Weile dem Spiele Ronalds gelauscht, aus ihrem jungfräulichen Bett, zog ihre gelben Pantoffel an und trat an den Tisch, auf dem in einem Glase eine Rose stand, die die Baronin von Waffenau ihr verehrt hatte. Diese Rose nahm Regula und warf sie zum Fenster hinaus, das sie möglichst geräuschlos geöffnet hatte. Sie dachte dabei an «Des Sängers Fluch». Sodann schlüpfte sie wieder unter ihre Decke und schlief unter den Klängen von Ronalds Geige ein. Gegen Morgen träumte sie, Napoleon der Erste sei angekommen und werbe um ihre Hand.

Bozena Kapitel 10

Am nächsten Morgen, in aller Gottesfrühe, war Röschen schon im Garten, und zu Mittag lag schon – niemand wußte, durch welche Zauberkünste – das Kindervolk im ganzen Umkreise des Schlosses in ihren Fesseln. Die zwei «Jüngsten» des Maiers und das «Allerjüngste» des Schmiedes und die «Sämtlichen» des Gärtnergehilfen liefen hinter ihr her wie Hündlein. Eine kleine, kugelrunde Anischka mit kurzem Näschen und roten Pausbacken pflanzte sich vor dem Schloßtore auf, als Röschen darin verschwunden war, und ließ sich so wenig wie eine treue Schildwache von ihrem Posten vertreiben. Sobald der Gegenstand ihrer Leidenschaft wieder erschien, machte sie eine dicke Lippe, ergriff eine Falte von Röschens Kleid und watschelte so resolut neben ihr her, als hieße es nun: «Durch Not und Tod!»

Während Röschen die Jugend bezwang, eroberte Bozena das Alter. Gleich bei ihrer ersten Begegnung mit ihm hatte sie des alten Grafen Gunst errungen. Er erklärte sie sofort für eine der gescheitesten Personen, die ihm jemals vorgekommen seien. Sie mußte sich nachmittags auf der Terrasse einfinden und die Aussicht bewundern. Zufällig (dieser Zufall traf immer ein, sobald der Greis zehn Worte mit einem fremden Menschen gewechselt hatte) kam das Gespräch auf die Ereignisse des Jahres achtundvierzig. Bozena erzählte, durch seine Fragen gedrängt, von ihrem Aufenthalte in Ungarn, von ihrer Wanderung durch das kaum niedergeworfene Land. Der Graf – honneur aux dames! – forderte sie auf, sich zu setzen, und als Bozena diese Zumutung, als könne sie nur im Scherze gemeint sein, lächelnd ablehnte, nahm der alte Herr seinen Hut ab und legte ihn neben sich auf die Bank.

Beim Abendessen sprach er mit Regula mehrmals von ihrer Magd: «Eine Libussa, Ihre –, wie heißt sie? … Eine Fürstin Libussa! … Eine solche Dienerin macht der Herrin Ehre. Auf Ihr Wohl, mein Fräulein!»

Er leerte ein Glas sauern Landweins mit einem solchen Behagen, als verwandle er sich auf seiner Zunge in den edelsten Johannisberger.

Regula hatte den Nachmittag ihrer Korrespondenz gewidmet. Sie schrieb einen langen Brief an Wenzel und einen nicht viel kürzeren an Mansuet. Dem letzteren trug sie Grüße auf an alle ihre Bekannten und Verehrer. In der langen Liste der angeführten Namen fehlte nur der des Professors Bauer. Von diesem Getreuen erwartete sie schon mit der morgigen Post einen Brief, den zu beantworten sie sich vornahm.

Ihr letzter Gedanke, als sie ihr Haupt auf das Kissen ihres dürftigen Lagers legte, war an ihn: «Was wird er sagen, wenn er von meiner Verlobung hört? … Der Arme – vielleicht erschießt er sich!»

*

Es war Sitte auf Schloß Rondsperg, um neun Uhr zur Ruhe zu gehen. Drei Stunden vor Mitternacht mußte der Graf geschlafen haben, sonst hatte er, seiner Meinung nach, nicht geschlafen. Um zehn Uhr durfte eigentlich kein Licht mehr im Hause brennen. So war denn auch heute alles still und dunkel, als Ronald langsam in den Schloßhof ritt. Nur an einem Fenster schimmerte noch ein matter Lichtschein wie der von einer verdeckten Lampe. Zu diesem blickte Ronald eine Weile sinnend und zögernd empor, dann faßte er einen raschen Entschluß, übergab seinen Klepper – einen Sohn der Myska – dem herbeieilenden Florian, und trat einige Minuten später, nach leisem Pochen, in das Schlafzimmer seiner Mutter.

Die alte Frau saß noch angekleidet vor dem Arbeitstischchen im Fenster. Vor ihr, auf dem Nähkissen, lag ein zerlesenes Buch: Albachs «Heilige Anklänge». – Bei dem Anblick ihres Sohnes fuhr sie erschrocken zusammen; er bemerkte es wohl und sprach beklommen: «Sie sind noch auf, gute Mutter …»

«Ich werde sogleich Nacht machen – wollte nur noch –» wie entschuldigend wies sie auf das Buch, «ein wenig beten.»

«Der Vater schläft?»

«Seit einer Stunde.» Sie wagte nicht, ihn anzusehen; ein Gefühl peinlicher Furcht hatte sie ergriffen, das echt weibliche Gefühl der Furcht vor der Entscheidung. «O ging er wieder! … O spräch er nicht!» dachte sie und sagte: «Es ist spät.»

Ronald blieb trotz dieses Winkes. Er holte einen Stuhl aus der Ecke des Zimmers und setzte sich seiner Mutter gegenüber.

«Wir haben Gäste?» fragte er.

«Ja. Und – die kleine Waise», fügte sie mit Lebhaftigkeit hinzu: «Welch ein holdes Geschöpf! … Ein Herzenslabsal, dieses Kind …»

«So?» entgegnete Ronald zerstreut und suchte vergebens nach Worten. Auch er hatte die Augen gesenkt und sah die Hände seiner Mutter in ihrem Schoße beben; und diese welken, hilflosen Hände raubten ihm den Mut, brachten ihn um seine Entschlossenheit.

Mutter und Sohn wandelten seit Jahren fast stumm nebeneinander. Was am schwersten auf ihnen lastete, darüber durften sie nicht sprechen, denn es hätte zur Klage geführt über den Gatten, den Vater, und Sorglosigkeit zu heucheln vermochten sie nicht.

Bei ihrem Manne und bei der Tochter, die in ihrer Nähe lebte, hatte die Gräfin es endlich aufgegeben, Verständnis zu suchen; allzu verschieden von ihr waren sie geartet. Durch mehr als vierzig Jahre konnte sie es täglich erfahren: Sie lieben mich, aber sie kennen mich nicht. Von der zweiten, ihrer Lieblingstochter, war sie durch die Verhältnisse getrennt. Jahre verflossen, ohne daß sie ihres Anblicks froh wurde, Monate, ohne daß Nachrichten von ihr eintrafen. Alle an seine Frau gerichteten Briefe gingen durch des Grafen Hände, er bemerkte es mißbilligend, wenn die Korrespondenz zwischen Mutter und Tochter zuzeiten etwas lebhafter wurde.

«Eine glückliche Frau hat nichts zu schreiben», meinte er, «und glücklich zu sein ist die Pflicht einer jeden, die einen braven Mann hat.»

Es war endlich dahin gekommen, daß die Gräfin nur noch mit Bangen dem Erscheinen der Briefe entgegensah, nach denen sie doch zugleich so sehnsüchtig verlangte.

Ronald saß mit gekreuzten Armen da, starrte vor sich hin und dachte: «Könnt ich ihr’s ersparen!»

Zu drückend wurde dieses Schweigen; die alte Frau unterbrach es mit der Frage: «Du gehst doch morgen auf die Jagd?»

Er nickte wie gequält: «Gewiß – gewiß.»

Seine Stimme klang so seltsam; die Gräfin blickte besorgt zu ihm empor und sah in sein bekümmertes Gesicht. Jeder seiner Züge verriet den Kampf seines Innern – ein bitterer Vorwurf gegen sich selbst, gegen ihr feiges Zagen vor dem eingestandenen Leid regte sich in ihr. «Du armes Kind», dachte sie, und das Mitleid mit dem Sohne gab der Schwachen Kraft, mit einemmal das Schwerste und mit wenigen Worten alles zu sagen: «Ronald – Lieber – sprich getrost. Wann müssen wir wegziehen von hier?»

Aufatmend ergriff er mit beiden Händen die Hand, die sie ihm reichte und rief: «Niemals, gute Mutter! Sie werden Rondsperg nie verlassen!»

«Wie kann das sein, da wir’s doch nicht behaupten können? »

«Der Kauf wird nur unter der Bedingung geschlossen, daß Sie hier fortleben, genau wie bisher.»

Die Greisin schüttelte bedenklich den Kopf: «Wenn diese Bedingung angenommen wurde, dann hast du sie teuer bezahlt …» Er wollte verneinen. «Leugne nicht», sprach sie, «es kann nicht anders sein …»

«O Mutter», fiel er ihr mit erzwungener Heiterkeit ins Wort, «Fräulein Heißenstein verzichtet gern auf das Glück, in unserm alten Neste zu wohnen.»

«Es wird mehr von ihr verlangt als nur das. Sie darf die Rechte, die sie erwirbt, nicht geltend machen, wenn wir hier – wie du sagst – fortleben sollen wie bisher.»

«Auch dazu ist sie bereit.»

«Weil ihr Vorteil es ihr rät. Nicht wahr? … Nicht wahr?» wiederholte sie angstvoll. «Du hast dein Eigentum verschleudert, damit zwei alte Leute ihre letzten Jahre in altgewohnter Weise hindämmern können!»

«Verschleudert? Was du nur denkst? Darüber mache dir keine Sorgen.»

Sie seufzte schmerzlich: «Unser Alter zehrt deine Jugend auf … Ständ es bei mir, das sollte nicht geschehen. Dürft ich sprechen, ich würde dich anflehen, Kind: Vergeude nicht länger dein Leben! – Geh, tausendmal gesegnet – gründe dir eine Zukunft, und laß zusammenstürzen, was morsch und reif zum Untergang ist – der Wechsel alles Irdischen verlangt sein Recht.»

Er wollte sich der Rührung erwehren, die ihn ergriff, und entgegnete: «Wie beredt ist meine Mutter heute geworden! Und wozu? – Um zu sagen, was sie nicht sagen darf.»

Ein leuchtendes Lächeln verklärte ihre Züge: «Beredt – ja. Bin ich nicht wie eine alte Harfe mit zerrissenen Saiten, die auf einmal zu klingen beginnt? Es ist ein Wunder – ein gar vergängliches. Weil mir aber die Zunge gelöst ist, so höre, Sohn, deine stumme Mutter sieht und zählt jeden Schweißtropfen auf deiner lieben Stirn, jeden unterdrückten Widerspruch, jedes still und freudig gebrachte Opfer …»

Plötzlich beugte sie sich nieder und preßte ihre Lippen auf seine Hand.

Im selben Augenblick lag er auf seinen Knien und schloß mit ehrfurchtsvoller Zärtlichkeit die gebrochene Gestalt in seine Arme …

«Und Sie, Mutter?» flüsterte er, «leiden Sie nicht auch?»

«Schweig, mein Kind!» mahnte sie und zog sein Haupt an ihre Brust. Und an diesem schweren Tage war ihnen beiden leichter ums Herz, als seit langer Zeit.

Bozena Kapitel 11

17.

Ronald kam von der Jagd zurück. An seiner Weidtasche hingen zwei Hasen und ein Dutzend Rebhühner und Wachteln. Er ging die Hügellehne, die zum Schlosse führte, langsam hinauf, denn die Sonne stand im Scheitel, und die Hitze war groß. Sein Hund zottelte hinter ihm her mit weit aus dem Maule hängender Zunge. Nun waren sie am Pförtchen in der Parkmauer angelangt, das auf die Felder führte. Während Ronald den Schlüssel aus der Tasche zog und sich bemühte, das vom letzten Regen her noch stark verrostete Schloß zu öffnen, hatte sich der Hund hingelegt, keuchend, mit fliegenden Flanken, den Kopf auf den ausgestreckten Vorderpfoten, und verwandte kein Auge von seinem Herrn, der nun, im Begriffe, die Tür aufzustoßen, lächelnd zu ihm niederblickte, als wollt er sagen: Ist dir’s recht, daß wir heimgekommen sind? Und Herr und Hund sahen einander an mit inniger Freundschaft und mit einem Ausdruck so voll von Rührung, daß er sich beinahe komisch ausnahm in den Angesichtern zweier solcher Recken. Dann gingen sie durch verwachsene Laubgänge über Wege, von Disteln und Hasenkraut überwuchert, dem Hause zu.

Ronald hatte die Terrasse erreicht und schritt dem Saal zu, der zwischen ihr und der Halle lag. Auf der Schwelle, die Klinke der halbgeöffneten Tür in der Hand, blieb er plötzlich stehen und winkte seinem Hunde, der sogleich, wie zu Stein geworden, sich nicht mehr regte, nicht einmal mehr keuchte, sondern seinen Herrn mit derselben atemlosen Aufmerksamkeit anblickte, mit welcher dieser das Bild betrachtete, das sich ihm darbot.

Mitten im Saale auf einem Schemel saß Röschen und erzählte einem Auditorium von sechs kleinen Personen eine, wie es schien, bewegliche Geschichte. Ihre Stimme hob sich hell und laut bis zu einem Ausrufe, dem eine Pause höchster Spannung folgte, dann sank sie zu geheimnisvollem Geflüster herab. Was sie erzählte, verstand Ronald kaum, er lauschte auch nicht ihren Worten, er lauschte nur dieser holden Stimme, ganz ergriffen von ihrem Klang, in dem eine Fülle von Empfindungen nach Ausdruck zu ringen schien. Röschen saß von ihm abgewandt, er konnte ihr Gesicht nur zum Teile sehen, nur den Umriß ihrer zarten Wange, nur die dunkelblonden Zöpfe des reichen Haares, die über ihre Schultern fielen, und die Löckchen in ihrem schlanken Nacken.

Das Publikum der Erzählerin hingegen war eitel Neugier. Die eine der Zuhörerinnen hatte den Zeigefinger in den Mund gesteckt, so tief es ging, riß die Augen und blies die Backen auf, und hörte zu aus allen ihren Kräften. Eine andere preßte das Kinn an die Brust, glühte über und über, hielt beide Fäuste fest geballt, und die trotzige Ungeduld ihrer Mienen sprach: «Weiter! Weiter! – Was kommt jetzt?»

Anitschka, im höchsten Staate, mit buntem, turbanähnlich um den Kopf gewundenem Tuche und breiter Halskrause, saß steif und feierlich neben ihrem Abgotte. Ihr dreijähriges Schwesterchen und noch ein zweites leichtsinniges Wesen in gleichem Alter hockten auf dem Boden und teilten ihre Aufmerksamkeit zwischen der Rednerin und einem goldgrün schimmernden Rosenkäfer, den sie in einem Schächtelchen mitgebracht hatten und nun auf der Diele herumspazieren ließen.

Ronald blieb eine Weile in der Betrachtung dieser Gruppe versunken, bald jedoch, als würde er beschämt inne, daß er hier die unwürdige Rolle eines Lauschers spiele, zog er vorsichtig einen seiner schwerbestiefelten Füße nach dem andern zurück und trat von der Türe weg, die er unhörbar wieder schloß. Dann wendete er sich rasch und stand Aug‘ in Auge mit Bozena.

Sie war hinter ihm durch den Gang gekommen, ohne daß er sie bemerkt hatte.

Die beiden maßen einander mit den Blicken. Fast drohend schien der ihre zu fragen: «Was hast du hier zu lauschen?»

Mit harmlosem Erstaunen schien der seine zu sagen: «Warum mißgönnst du mir den holden Anblick?»

Ronald legte grüßend die Hand an seinen Hut. «Sie sind Bozena», sprach er, «wir haben uns vor zehn Jahren am Grabe Ihres Herrn gesehen.»

Bozena bejahte.

«Und die Märchenerzählerin dort ist das kleine Mädchen, das Sie damals vom Friedhof hinweg in Ihren Armen trugen. Nicht wahr?»

«Ja, Herr Graf.»

«Wie ist die hold und lieblich geworden!» sprach er mehr zu sich selbst als zu ihr.

Das Gesicht der Magd wurde immer finsterer; sie warf den Kopf in den Nacken, sah Ronald wieder an wie früher, mit dem mißtrauisch forschenden Blick, und schritt an ihm vorüber in den Saal.

Ronald gab seine Jagdbeute in der Küche ab und wanderte nach seinen Zimmern. Auf dem Schreibtisch, neben den hochaufgestapelten Wirtschaftsbüchern und Rechnungen, fand er neuangelangte Briefe, alle dringenden, alle gleichen Inhalts. «Ihr sollt bald erledigt werden», dachte er und ergriff die Feder, um den Auszug aus der Gutsbeschreibung zu beenden, die er für Regula entworfen hatte. Die Arbeit wollte nicht vom Fleck gehen; lächerlich zu sagen, denn – wer könnte diese optische Täuschung erklären? – über die Katastralmappe, auf die er von Zeit zu Zeit einen Blick werfen mußte, sah er ganz deutlich kleine braune Locken fliegen, wie man sie doch nur, natürlich gekräuselt und seidenweich im Nacken eines Mädchen schimmern sieht … Und auf dem länglichen Viereck, das zyrillische Buchstaben als «Wiese» bezeichneten, lagen Rosen – Rosen die Fülle … Eine Knospe darunter, die aufgeblühten alle an Schönheit überstrahlend, wunderbar in sich geschlossen, den grünen Kelch in zartes Moos gehüllt. Sie schien sich leise zu regen, ihr duftendes Blättergefüge sich zu lösen, sich atmend zu entfalten unter seinem Blicke … Wie kindisch doch und störend, solch ein müßiges Spiel der Phantasie! – Am störendsten aber und wirklich unerträglich ist ein Vorwurf, den er sich machen muß. Seine Mutter hat gestern zu sprechen begonnen von einem jungen Geschöpf, einem Kinde, dessen Anwesenheit für sie ein wahres Herzenslabsal sei, und er, nur mit dem beschäftigt, was er selbst zu sagen hatte, schenkte ihr kein Gehör. Ein Unrecht, das er sogleich gutmachen will.

Er hat sich rasch umgekleidet und schreitet durch die Halle; heiß strömt die Luft ihm entgegen, die Hitze ist drückend, ein schweres Gewitter steigt am Horizonte auf; wie dichter bleigrauer Qualm türmen die Wolken sich übereinander, dazwischen schießen Blitze ihre glühenden Pfeile.

Ein Knecht rennt über den Hof und ruft Ronald zu: «Das kommt! Das kommt»

Ronald stieg die Treppe empor und begab sich nach dem Zimmer seiner Mutter. Er fand sie nicht allein, das Fräulein von Fehse leistete ihr Gesellschaft; sehr angenehme wie es schien, denn beide lachten herzlich. Die Wände haben Ohren, aber keine Zungen, sonst hätten die alten ihre Bewunderung ausgesprochen über den ihnen völlig fremd gewordenen Schall, der heute so munter an sie anprallte.

Die Gräfin stellte Ronald ihrer kleinen Freundin vor. Diese wurde etwas verlegen, als sie hörte, daß er sie heute schon gesehen, und beinahe in Versuchung geraten war, sie zu belauschen, und sagte: «Das wäre nicht recht gewesen.» Er wisse das wohl, meinte Ronald, deshalb sei es auch nicht geschehen. Sie sprachen angelegentlich zusammen, von Weinberg, von dem alten Hause, in dem Röschen aufgewachsen, von Bozena und Mansuet. So unbefangen auch ihr Auge dem seinen begegnete, es lag etwas in ihrem ganzen Wesen, das sagte: «Wie weit bist du mir jungem Kinde überlegen und lässest mich’s doch nicht empfinden!» – Ihn aber machte der Anblick dieses anmutigen Röschens gar nachdenklich. Für wen bist du erblüht in Dunkel und Stille? Welche Hand ist bestimmt, dich einst zu pflücken? O wär sie stark, dich zu behüten im rauhen Leben … O wär sie zart, den Schimmer nicht abzustreifen, der wie Himmelsabglanz dein Wesen verklärt, ja, stark und zart, und bewahrte dir die Unschuld deiner Seele!

Das Gewitter war immer näher gekommen und stand nun senkrecht über dem Schlosse; keine Pause mehr zwischen dem Aufleuchten des Blitzes und dem Rollen des Donners. Die Gräfin und Röschen waren an das Fenster getreten und blickten hinaus, als plötzlich ein harter, rasselnder Schlag niederfuhr, der das Haus bis in seine Grundmauern erschütterte. Der Graf stürzte mit den Worten herein: «Das hat eingeschlagen!» Ronald eilte aus dem Zimmer, und sein Vater rief ihm nach: «Im Gartenflügel war’s!» … «Nein – nein!» hörte man ihn schon aus der Ferne antworten. – «Doch!» schrie der Graf, «im Gartenflügel!» Und so rasch er konnte, gefolgt von seiner Frau und Röschen, lief er in den Saal hinüber. An der Altanentüre angelangt, schlug der Greis die Hände laut zusammen und jammerte: «Meine Linden brennen! … Der Sturm erhebt sich – kein Tropfen Regen fällt vom Himmel, wir haben so lange Dürre gehabt … Meine Linden sind verloren!»

In der Tat, der große Ast des mittleren der Bäume, der wegstrebend aus der gemeinsamen Krone einen buschigen Bogen über die Straße bildete, stand in Flammen. Knechte und Landleute hatten sich um die Linden versammelt, blickten hinauf, schüttelten die Köpfe und teilten einander mit: «Dort oben brennt’s.» Jetzt aber drängte sich ein Mann durch die Gruppe der müßigen Zuschauer, erstieg den Sockel der Johannesstatue und schwang sich von da aus in die Zweige, in denen er verschwand. Bald sah man ihn, in der halben Höhe des vom Sturme gerüttelten Baumes, auf einem Ast stehen und gegen den brennenden wuchtige Beilhiebe führen, um ihn vom Stamme zu trennen.

«Wer ist der Narr?» fragte der Graf, mit schlecht verhehlter Besorgnis.

«Es ist Ronald», antwortete die Gräfin, kaum des Wortes mächtig. Eine kleine Hand streckte sich nach der ihren aus, Stütze bietend und – suchend, und die alte Frau blieb, an Röschen gelehnt, in stummer, von dem Kinde treulich geteilter Angst, im Fenster stehen.

Die Leute unten hatten inzwischen Feuerhaken herbeigeholt, und zerrten aus allen Kräften an den ihnen erreichbaren Zweigen des brennenden Astes. Das Feuer griff immer weiter um sich, beleckte schon das dürre Holz am Stamme, loderte schon zu Ronalds Füßen empor … Da strömte, wie aus plötzlich geöffneten Schleusen, ein Platzregen aus den Wolken nieder, und fast zugleich stürzte rauchend und prasselnd der gewaltige Ast unter weithin vernehmbarem Gekrache zur Erde. Die Heldenschar am Fuße der Linde machte sich über ihn her und löschte die aufzüngelnden Flammen, die noch um den Leichnam ihres Opfers kämpften. Erstaunliche Tätigkeit entfalteten dabei der Burggraf, Kutscher Florian, vor allen jedoch – Meister Peter.

Von dem Augenblicke an, da der Regen zu strömen begann, war der Graf ungeduldig geworden.

«Da haben wir’s!» rief er, «der Himmel löscht selbst, was er angezündet hat … Warum mir meine schönste Linde ruinieren?» … Er wandte sich um – – und sah mitten im Saale, möglichst fern von Fenstern und Türen, eine schwarz verhüllte Gestalt auf dem Sessel sitzen. Während die Anwesenden das Schauspiel an der Parkmauer mit leidenschaftlichern Interesse verfolgten, mußte sie sich, von ihnen unbemerkt, eingefunden haben.

«Fräulein Heißenstein?» fragte der Graf.

«Jawohl», antwortete eine Stimme unter der seidenen Mantille hervor, die ihre Eigentümerin sich um den Kopf gewickelt hatte: «Aber – sprechen Sie nicht! Der geringste Luftzug könnte einen Blitzstrahl herbeilocken.»

Der Graf versicherte, das Gewitter sei vorübergezogen, und bat sie, «sich zu developpieren.»

Die Gräfin und Röschen halfen ihr bei dieser Operation, denn allein vermochte sie sich nicht zu helfen. Sie war noch zu angegriffen und stammelte nur mit bleichen Lippen: «Ich glaubte, mich in das größte Gemach des Hauses flüchten und mich in Seide isolieren zu sollen … wegen der gefährlichen Elektrizität, Herr Graf, welche jetzt über unserer Atmosphäre schwebt.»

«Bravo, bravo, mein Fräulein», sagte der Greis, «das ist Vorsicht – deren Verwandtschaft mit der Weisheit wir kennen.»

Jetzt kam der Burggraf, pustend und sich den Schweiß von der Stirn wischend: «Keine Gefahr mehr! … Wir haben alles gerettet!»

«Ihr habt! Ihr habt! – Der liebe Herrgott hat – Ihr habt nichts getan als Unsinn, mir meinen Baum verstümmelt … Gibt es denn keine Feuerspritze? Hat keiner von den Dummköpfen an eine Feuerspritze gedacht?» rief der Graf zornig – in diesem Augenblicke war das nächstliegende Auskunftsmittel ihm selbst eingefallen.

«Die Feuerspritze ist noch nicht zurück von dem Waldhof, wohin sie gestern geschickt wurde, weil ein paar leere Bauernscheunen brannten – ganz unnötigerweise – ich hab es gleich gesagt», versetzte der Burggraf.

Sein Herr fuhr ihn an: «Da haben Sie etwas Sauberes gesagt! … Aber lassen Sie das jetzt gut sein. Kümmern Sie sich auch ein wenig um mich – sorgen Sie dafür, daß endlich aufgetragen werde. Meine ganze Hausordnung ist gestört … Wo bleibt Peter?»

Trotz aller Eile, mit der man nun das Auftragen des Mittagsmahles betrieb, wurde es vier Uhr, bevor die Herrschaften sich zu Tische setzen konnten. Der Gewitterregen war in einen dichten, anhaltenden Landregen übergegangen, man mußte den Rest des Tages im Zimmer zubringen, was die üble Laune des Grafen nicht wenig erhöhte.

Er hatte Ronald mit den Worten empfangen: «Trop de zèle, mein guter Ronald – trop de zèle», und sah ihn, schmollend wie ein Kind, entweder verdrießlich, oder gar nicht an. Der Nachmittag drohte langweilig zu werden; die Gesellschaft hatte sich in den großen Saal begeben. Regula dachte im stillen darüber nach, ob Ronald sie wohl verstehe? Der Graf vertiefte sich in die erstaunlichen Kombinationen eines Kapuzinerspieles, auch die Gräfin und Ronald schwiegen. Da sagte Röschen, die bisher ganz still und nachdenklich gewesen war, plötzlich: «Es war schrecklich, das Gewitter!»

«Haben Sie Angst gehabt? » fragte Ronald.

«O sehr», erwiderte Röschen, «um Sie!»

Regula warf ihrer Nichte einen mißbilligenden Blick zu, der Graf jedoch hob den Kopf empor und ein schalkhaftes Lächeln erhellte sein altes Gesicht. Seine Liebe zu seinen Kindern kam ihm augenblicklich zum Bewußtsein, sobald andere ihnen Teilnahme zeigten. Mit unnachahmlicher Liebenswürdigkeit sagte er zu Röschen: «Erlauben Sie, mein Fräulein, daß ich Ihnen im Namen dieses Landjunkers ohne Lebensart ergebenst danke!»

Seine Verstimmung war wie durch Zauber verschwunden, er machte Fräulein Heißenstein förmlich den Hof, was sie entzückte, und bat sie endlich, eine Partie Bézique mit ihm zu spielen. «Um die Ehre, natürlich.» Ronald könne indessen der Gräfin und Röschen etwas vorlesen. «Etwas Heiteres, etwas von Kotzebue. Nur mit deinen Klassikern verschone die Damen!»

Der Graf und Regula gingen an den Spieltisch, der in einer Ecke des Saales stand, und Ronald erkundigte sich nach Fräulein Röschens Geschmack in der Literatur. Die Schülerin Mansuet Weberleins legte arglos ihre Kenntnisse an den Tag, und welch eine drollige Raritätensammlung kam da zum Vorschein! Ronald konnte sich nicht genug wundern. Dieses reichbegabte, begeisterungsfähige Geschöpf hatte in die lichte Zauberwelt der Poesie niemals einen Blick getan; fremd geblieben war ihr alles Schöne, was je gesungen und gesagt worden.

Nach kurzem Besinnen holte Ronald ein stattliches Buch herbei; vielgelesen gab es Zeugnis von der Freundschaft, in welcher sein Besitzer zu ihm stand. Es enthielt einfache und hehre Gesänge aus uralter Zeit. Teils las, teils erzählte Ronald «dem freudig blickenden Mägdlein» von den Kämpfen herrlicher Helden um ein zauberisches Weib, um eine Stadt, die mit dem Urbilde der Schönheit das Verderben in ihre Mauern aufgenommen; vom unversöhnlichen Haß der Menschen und der Götter – – aber auch von Vaterlandsliebe, häuslicher Tugend, von Kindes- und Gattentreue. Er las, wie der tapferste all der Königssöhne, die hinausgezogen, um ihren bedrängten Herd zu verteidigen, Abschied nahm von seiner Gattin und von seinem lieben Kinde, wie er es geküßt und sanft in den Armen gewiegt … Ein tiefes Atmen, ein leises Schluchzen unterbrach Ronald. Röschen, die ihn eben noch mit leuchtenden Augen angesehen hatte, saß nun da mit gesenkten Lidern, bebenden Lippen und rang mit ihren Tränen.

Die Gräfin legte den Arm um sie, Ronald sprang bestürzt empor …

«Double Bézique!» rief der Graf triumphierend und lachte aus vollem Herzen: «Sie hätten das verhindern können, mein Fräulein!»

Aber das Fräulein war zerstreut gewesen. Sie hatte, statt ihre Aufmerksamkeit auf das Spiel zu konzentrieren, Ronalds verwünschtem «Tik-tak-tak» zugehört, wie der Graf, den Silbenfall des Hexameters nachahmend, sagte.

«O Herr Graf!» sprach Regel, ihre Karten auf den Tisch legend, «verunglimpfen Sie nicht den traulichen Sänger von Chios!»

Sie wünschte, daß Ronald weiterlese, aber dieser entschuldigte sich und sah dabei so verlegen, ja fast verstört aus, daß Fräulein Heißenstein der Behauptung des Grafen, eine gelehrte Dame, wie sie, imponiere seinem Sohne viel zu sehr, allen Ernstes Glauben schenkte.

Röschen blieb den Rest des Abends schweigsam; sie hatte einen mächtigen Eindruck empfangen; einen Blick in eine neue Welt getan; Gestalten, von unsterblichem Leben erfüllt, groß in Tugend und Schuld, an sich vorüberwandeln gesehen. Und aus dem Bilde voll Erhabenheit und Glanz war, umstrahlt von der Majestät des Schmerzes, ein liebes, schönes Menschenpaar hervorgetreten, und hatte sie an eine Erinnerung aus frühen Kindertagen gemahnt, die in ihr noch dämmerte.

«Es hat Sie allzusehr ergiffen», sagte Ronald zu Röschen, «den Abschied des Kriegers von Frau und Kind wollen wir nicht mehr lesen.»

«Im Gegenteil, noch oft, sehr oft!» erwiderte sie.

Ronalds Gedanken beschäftigten sich noch lange mit ihr, und kamen auch immer wieder auf eine vorläufig noch fiktive Persönlichkeit, auf den Mann zurück, der sie einst heimführen sollte. Wird er seines Glückes wert sein? – Wird er es zu ermessen verstehen? … Der Beneidenswerte! – Nicht das Leben nur darf er sie kennen lehren, auch dessen verklärtes Bild, die Poesie. Weiß unter Hunderten einer, was das bedeutet? Was es bei ihr bedeuten würde?

Bozena Kapitel 13

Im Laufe des nächsten Vormittags suchte Ronald das Fräulein Heißenstein im Garten auf, wo sie sich nach Bozenas Angabe befand, um ihr die inzwischen beendete Gutsbeschreibung zu übergeben und um mit ihr die Angelegenheiten Rondspergs zu besprechen. Regula versuchte mehrmals, der Unterhaltung einigen Schwung zu verleihen, aber es wollte nicht gelingen. Einmal wurde Ronald sogar fürchterlich zerstreut und antwortete auf ihre Bemerkung, es gebe nichts Träumerischeres, als einen sonnigen Sommertag, besonders nach einem Regentag: «Achthundert Joch, mein Fräulein!» Ein paar Minuten früher waren sie Röschen und Anitschka begegnet, die große Sträuße von Wiesenblumen trugen. Röschen hatte den ihren emporgehalten und Ronald im Vorübereilen zugerufen: «Für Ihre Mutter!»

Er wanderte weiter an Regulas Seite, und in einiger Entfernung von ihnen ging sein Vater mit dem Burggrafen im Garten spazieren; er hatte Ronald und das Fräulein wohl bemerkt, schien ihnen aber sorgfältig auszuweichen. Eine böse Vorbedeutung! Ronald wußte, wenn der alte Herr es vormittags vermeidet, mit ihm zu sprechen, so geschieht es, weil er etwas gegen ihn auf dem Herzen hat. Vor Tisch darf aber keine unangenehme Erörterung stattfinden, das wäre gegen alle Regeln der Hygiene. Ärgern darf man sich ohne Schaden für die Gesundheit erst nachmittags.

Bis dahin versparte sich denn auch heute der Greis das Aussprechen seines Verdrusses; der tückische Anstifter desselben, sein Günstling, wurde ausnahmsweise zum schwarzen Kaffee auf die Terrasse geladen. Und kaum hatte sich die Gesellschaft um den runden Tisch versammelt, als der Graf auch schon seinem ihm gegenübersitzenden Sohne zurief: «Unter anderm! Mir ist gemeldet worden, daß die Bauern Tag und Nacht an der Grenze jagen. Weißt du davon?»

«Nein, Vater», erwiderte Ronald und sah dabei den Burggrafen strafend an, was der mit dreister Gelassenheit ertrug.

«Mein guter Sohn kümmert sich um derlei Lappalien nicht», spöttelte der Graf. «Was liegt ihm daran? … Warum sollte der Bauer nicht jagen? – Es freut auch ihn, und seine Freude wiegt die des Edelmanns auf. Vor Gott sind wir alle gleich. Deshalb nehmen wohl die Hannaken, wie ich ebenfalls höre, die Pfeife nicht mehr aus dem Munde, wenn sie mit dir sprechen.»

Den Anfang seiner Rede hatte der alte Herr an die ganze Gesellschaft, ihren letzten Satz an seinen Sohn allein gerichtet; es war ein direkter Angriff, den Ronald mit lächelnder Ruhe hinnahm und mit dem offenen Geständnis beantwortete: «Es kommt freilich vor.»

Der Graf schüttelte sich, wie durchfröstelt von Widerwillen. «Zu meiner Zeit», fuhr er fort, «steckte der Bauer, wenn er mich von weitem sah, auf die Gefahr hin, in Flammen aufzugehen, die brennende Pfeife in seine Tasche. Dir – klopft er sie einmal auf der Nase aus.»

Dies sollte im Scherz gesprochen sein, kam aber um so bitterer heraus, je mehr der Graf sich bemühte, die in ihm gärende Entrüstung hinter seinem Spotte zu verbergen.

Die Gräfin erbebte leise, Regula verzog den Mund und dachte: «Wie kann man sich das bieten lassen?» Der Burggraf kicherte untertänig und Röschen erschrak und erbleichte … Was wird geschehen? – Wird Ronald zornig auffahren gegen seinen Vater? … Angstvoll schoß ihr Blick zu ihm hinüber und traf ein ernstes, aber unbewegtes Angesicht, auf dem ihr Auge ruhen blieb so voll Mitgefühl, so voll Bewunderung, daß der Mann unter diesem begeisterten Kinderblicke errötete und den seinen senkte.

Es war eine schwüle Sekunde, und allen gereichte es zur Erquickung, einen Wagen in den Hof rollen und Peter melden zu hören: «Frau Baronin kummen.»

«Meine Thilde!» rief der Graf lebhaft und erhob sich, um die Tochter zu begrüßen, deren sonore Stimme sich bereits in der Halle vernehmen ließ.

Gleich bei ihrem Erscheinen erklärte die Baronin, sie käme heute weder um Papas, noch um Mamas, sondern nur um Regulas willen, auf welche sie auch zuerst zuging und der sie flüchtig einen Kuß auf die Wange gab.

«Ronald und ich», rief die Freifrau, «wollen diese Städterin mit unserer Landwirtschaft bekannt machen, für die sie sich außerordentlich interessiert.»

Der Graf dachte zwar, davon habe er bis jetzt nichts bemerkt, aber es freute ihn immer, wenn sich jemand geneigt zeigte, die Herrlichkeiten Rondspergs in Augenschein zu nehmen.

Auf den Wunsch der Baronin mußte ohne Verzug angespannt werden; sie lachte, als ihre Mutter sie bat, doch ein wenig von ihrer Fahrt auszuruhen. Was tut man denn beim Fahren anderes als ruhen? Sie hatte keine Zeit zu verlieren, übermorgen in aller Gottesfrühe mußte sie wieder fort; denn: «Wir nehmen die Sommerbirnen ab und fangen schon Montag an, das Korn zu schneiden.»

Während die Baronin von der bevorstehenden Ernte sprach, hörte sie nicht auf, Röschen zu beobachten, und zwar mit einem Interesse und einem Wohlwollen, das ihr ein fremdes Wesen nicht leicht einflößte.

Sie hatte dem Unglück ihres Bruders heiße Tränen gezollt, damit war aber auch die Sentimentalität abgetan; nun hieß es, sich eine Räson machen, sich in das Unvermeidliche fügen. Ronald kann nichts Gescheiteres tun, als in den sauren Apfel beißen und die Weinhändlerin heiraten. Wenn die einmal ihre Schwägerin ist, wird Thilde sie schon dahin bringen, ihre allerliebste Nichte so großmütig auszustatten, daß sie ohne weiteres auf das Glück Anspruch machen darf, eine Schwiegertochter der Baronin Waffenau zu werden.

«Das kann sich alles finden», dachte die praktische Frau und mahnte zum Aufbruch.

«Auf Wiedersehen, Papa, auf Wiedersehen, Mama, auf Wiedersehen, Kleine!» Sie fuhr schmeichelnd mit der Hand über Röschens Scheitel. «Mich wundert», sagte sie zu sich selbst, «daß die kluge Regula dieses bezaubernde Ding mitgenommen hat. Ronald ist zwar sehr verständig, aber – er ist ein Mann; und ihn so geradezu herausfordern zum Vergleiche … Ich hätt es an ihrer Stelle nicht gewagt.»

Sie nahm Regulas Arm und führte sie hinweg. Fräulein Heißenstein aber fand, die Baronin erweise Höflichkeiten, die sie füglich ihrem Bruder überlassen sollte.

Ein hoher Jagdwagen war vorgefahren; die beiden Damen installierten sich darin, Ronald schwang sich auf den Vordersitz und ergriff die Zügel. Florian wurde, zu seiner großen Unzufriedenheit, daheim gelassen. Er hätte sich so gern zum Cicerone des Stadtfräulein gemacht, weil der junge Herr Graf gar nicht verstand, den Leuten, wie sich’s gehört, Sand in die Augen zu streuen.

Das Ziel, nach dem Ronald lenkte, war ein ansehnlicher, zu Rondsperg gehörender Hof, der von ziemlicher Höhe aus die Gegend beherrschte. Nach einer Viertelstunde raschen Fahrens hielt der Wagen vor einem Gebäude, das ehemals ein Schlößchen gewesen und später in einen Schüttkasten umgewandelt worden war. Leere Scheunen und Ställe schlossen sich hufeisenförmig an ihn an. In der Mitte des Hofes stand ein Kastanienbaum, in dessen Schatten ein alter Hahn mit gichtisch zuckenden Beinen und zerzaustem Gefieder seinen ihn umgebenden Harem bewachte. Ein paar Schritte weiter befand, sich ein Ziehbrunnen, neben dem einige Holzrinnen, die ein Knabe mit Wasser zu füllen beschäftigt war, auf dem Boden lagen. Dieser Junge wurde herbeigerufen und ihm die Hut der Pferde anvertraut.

«Gib acht auf Kocka und Myska!» rief ihm die Baronin zu, und hüpfte leicht, wie ein sechzehnjähriges Mädchen, aus dem Wagen.

Regula zeigte sich beim Aussteigen so unbeholfen, hatte so gar keine Ahnung, wohin sie den Fuß setzen sollte, daß Ronald sich genötigt sah, sie in seine Arme zu nehmen und aus dem Wagen zu heben, was er denn auch ohne Umstände tat und was ihr recht zu sein schien. Dann geleitete er sie durch das offene Tor der Scheune zu einem mit Erlen bewachsenen Platze, der eine weite Fernsicht gewährte.

«Von hier aus», sagte Ronald, «überblicken Sie so ziemlich die Rondsperger Flur. Die Wiese dort unten, hinter dem breiten Gerstenfeld … Mein Gott, Fräulein, wohin sehen Sie denn? Links – noch weiter – so! … Die Wiese dort, die Pappeln auf jener Hügelkette, zu deren Füßen Sie das Schloß sehen … sehen Sie es?»

Regula versicherte, sie «nehme es ganz deutlich wahr».

«Und das Flüßchen drüben im Tale, das stellenweise herüberschimmert, wo seine Ufer sich verflachen – bilden die Grenzen Ihres Reiches. Hier, mein Fräulein, übergebe ich Ihnen Rondsperg. Die gerichtlichen Schritte macht Doktor Wenzel, unser beiderseitiger Vertrauensmann. Für Sie und mich ist der Kauf mit diesem Handschlage geschlossen.»

Er reichte ihr die Hand und seine Schwester bemerkte, daß er leicht erblaßte, als Regulas Hand in die seine sank. Fräulein Heißenstein blickte ihn dabei an, schmachtend – erwartungsvoll, und sah so komisch aus, daß die Baronin ein Lachen verbeißen mußte, obwohl sie in einer Stimmung war – einer Stimmung! … Sie hätte alle Welt prügeln mögen.

Regula warf Kennerblicke um sich, fragte vor einer Stechapfelstaude, ob dies nicht Enzian sei; verwechselte Schierlings- mit Eibischblüte und Hirse mit Reps, und erklärte zuletzt, sie müsse gestehen, daß sie die umliegenden Felder schön finde.

«Sie sind leider verpachtet auf Jahre hinaus», rief die Baronin, «parzellenweise verpachtet und – unter welchen Bedingungen! …»

Sie lief in Verzweiflung zwischen der Scheune und einem Hühnerstalle hin und her. «Das ist der gute Papa gewesen, sehen Sie – der gute Papa! Ganz Rondsperg verpachten, was uns vor Jahren noch hätte retten können – o eher sterben! … Aber hie und da einen abgelegenen Acker an einen Gläubiger, warum nicht? – Dann aber auch um ein Stück Brot! …»

Ronald fiel seiner Schwester ins Wort: «Es bietet sich jetzt die Gelegenheit», sagte er, «den größten Teil der Pächter mit geringen Opfern abzufinden. Sie müssen es tun, Fräulein. Ich rate Ihnen, diesen Ihren besten Hof einzulösen und, wenigstens solange ich noch hier als Ihr Bevollmächtigter fungiere, in eigener Regie zu behalten.»

«Ich werde tun, was Sie mir raten, Herr Graf», sprach Regula und trat an seine Seite, und als die beiden nebeneinander standen, dachte die Baronin: «Es ist doch nicht möglich! – Nein, es ist doch nicht möglich!»

«Auch wollte ich Ihnen ankündigen «, fuhr Regula fort, «daß mein Sekretär mit der ersten Rate des Kaufschillings morgen früh hier eintrifft und …»

«Aber, liebste Regula!» unterbrach sie die Baronin, «was fällt Ihnen ein, den Mann hierher zu bestellen? Seine Ankunft würde Aufsehen in Rondsperg machen. Er darf nicht kommen. Ronald muß Ihren Schimmel» – sie nahm sich niemals Zeit, Schimmelreiters ganzen Namen auszusprechen – «auf der Station erwarten, das Geld in Empfang nehmen, den Überbringer aber bitten, um Gottes willen wieder heimzufahren. Wenn der Burggraf zehn Worte mit dem Sekretär tauscht, so kommt er euch hinter euren frommen Betrug und rapportiert ihn Papa in einer Weise, die an uns allen zusammen nicht ein gutes Haar läßt!»

Ein alter Schäfer, der den Tieren, die er trieb, ähnlich sah, kam mit seiner kleinen Herde den Berg herauf und wünschte «guten Nachmittag». Während Ronald sich mit ihm in ein Gespräch einließ, spazierte Thilde von einem Gebäude zum andern, öffnete die Türen, sah in die Fenster hinein und rief: «Diese Mauer stürzt nächstens zusammen, – hier braucht’s einen neuen Dachstuhl, – der Stall muß eingerissen werden! … Prickelt es einem nicht in allen Fingern? Möchte man nicht gleich selbst Hand anlegen?»

Jetzt kam auch das Weib des Schäfers herbei und begrüßte die Baronin mit großen Freudenbezeugungen, brach aber sofort in heftiges Schluchzen aus und klagte unter beständiger Anrufung des göttlichen Heilands und der «svatá panenka» Maria: «Daß ich meine gnädigen Herrschaften so selten sehe! Dreizehn Jahr – dreizehn Jahr sind der Herr Vater und die Frau Mutter nicht mehr bei uns gewesen … Es ist ihnen hier zu traurig … Freilich, wie sieht es auch aus!»

Die Baronin tröstete sie: «Sei ruhig, Liborka! Es wird anders werden. Nicht wahr?» sprach sie zu ihrem Bruder, der sich genähert hatte, «nächstens schickst du Maurer und Zimmerleute herauf?»

Ronald erwiderte, dies könne, mit Erlaubnis Fräulein Heißensteins, schon morgen geschehen. Fräulein Heißenstein freute sich darüber sehr, erkundigte sich nach den Ziegelpreisen und legte beachtenswerte Kenntnisse im Baufache an den Tag.

Bozena Kapitel 15

18.

«Fremdes Eigentum!» dachte Ronald, als er um die Mittagszeit von der Eisenbahnstation zurückkehrend, auf welcher er Schimmelreiter erwartet hatte, über die Rondsperger Grenze ritt. Ein Fußsteig führte durch die Felder, den schlug er ein. Das Korn stand dicht und mannshoch; vom Winde bewegt, beugten sich die Halme, als ob sie grüßten, und trauliches Geflüster erhob sich in ihren goldig schimmernden Wogen. «Wie bald, und ich werde nicht mehr dein pflegen dürfen, du mütterliche Erde», dachte Ronald.

Wer liebt den Boden nicht, den er bebaut! Dem Landmann war zumute, als er so dahinritt zwischen seinen Feldern, wie einem Herrscher, der scheiden muß von seinem treuen Volke. – –

Baronin Thilde hatte soeben ihre anspruchslose Dinertoilette beendet, da pochte es an die Tür und Ronald trat ein. Sie empfing ihn mit der Frage: «Nun, das Geld erhalten?»

«Ja.»

«Auf dem Heimwege den Notar gesprochen? Mit den Pächtern unterhandelt?»

«Mit zweien schon abgeschlossen.»

«Ja, ja, es ist unglaublich, was man auf dem Lande mit barem Gelde ausrichten kann», sagte die Baronin seufzend.

Sie ließ sich genau Bericht erstatten über die Bedingungen, die vereinbart worden waren, und begleitete Ronalds Auseinandersetzung mit den Ausdrücken ihrer Zufriedenheit.

«Ist recht. – Gebührt ihm. – Gebührt dir. – Der Nutzen gleich groß für beide Teile. – Das sind Geschäfte, wie ich sie liebe, und wie unsereins sie machen darf.»

Während des Gespräches ordnete sie auf dem Tisch die eben benützten Gegenstände aus ihrer Reisetoilette, nachdem sie jeden sorgfältig mit einem Rehfellchen abgewischt hatte, und fuhr fort: «Nimm dich nur vor dem Burggrafen in acht. Ich habe dem alten Spion anvertraut, du hättest ein billiges Anlehen gemacht, das dich in den Stand setzt, alle die Einlösungen und Bauten, die im Werke sind, durchzuführen. Das mag er getrost rapportieren, das schadet nicht. Daß man Schulden machen müsse, leuchtet dem guten Papa immer ein. – Nun aber denk auch an dich, mein Sohn! und daran, dich selbst sicher zu stellen.»

«Wie meinst du das?»

Die Speiseglocke sandte ihre schrillen Töne durch das Haus und die Geschwister beeilten sich, ihrem Rufe zu folgen. Der Graf forderte Pünktlichkeit von seinen Kindern, nicht er wollte sie – sie sollten ihn im Speisesaal erwarten. Es lief niemals ohne Rüge ab, wenn dieses Gesetz auch nur minutenlang übertreten wurde.

«Hast du denn mit ihr gesprochen?» fragte die Baronin im raschen Weiterschreiten.

«Mit wem?»

«Nun – mit ihr – mit der dame de vos pensées»

«Was fällt dir ein?» antwortete Ronald, seine Stimme war bewegt, «wie dürfte ich … Ein solches Glück ist nicht für mich.»

Er blieb plötzlich stehen, erfaßte die Hand seiner Schwester und preßte sie so gewaltig, daß Thilde einen Ausruf des Schmerzes nicht unterdrücken konnte.

«Nun höre!» rief die Baronin, in der das Blut der Rondsperg aufwallte, mit heftigem Unwillen, «Gott danken auf ihren Knien kann sie jede Stunde – die …»

Sie bogen eben um die Ecke des Ganges und erblickten Regula und Röschen, die ihnen entgegen kamen, ebenfalls auf dem Wege nach dem Speisesaal begriffen.

Man begrüßte einander und die Baronin bot Fräulein Heißenstein den Arm.

«Nein!» dachte sie «kostbar wirst du dich nicht machen, meine Beste, schön bitten wirst du, daß man dich aufnehme, denn ‹das Glück› – ach, die Männer sind doch unbegreiflich! – ist ganz und gar auf deiner Seite.»

«Seien Sie barmherzig, Regula», flüsterte sie dem Fräulein zu. «Unser Recke ist schüchtern, wagt es nicht, seine Gefühle auszusprechen – man muß ihm zu Hilfe kommen.»

Regula erwiderte: «O Baronin!» Ihr Gesicht glänzte von jener kalten Freude, die befriedigte Eitelkeit allen eines tieferen Gefühls Unfähigen gewährt.

«Schüchtern ist er allerdings über die Maßen!» sagte sie zu sich selbst. «Er hat nicht einmal gewagt, die Rose aufzuheben, die gestern abends aus meinem Fenster flog.» Sie lag am Morgen noch auf derselben Stelle, auf die Regula sie geworfen hatte, und es blieb dem Fräulein nichts übrig, als hinzuschleichen und das inzwischen verwelkte, verräterische Symbol ihrer Huld – wieder abzuholen.

Ronald hatte (vermutlich um nicht unhöflich zu erscheinen im Vergleiche mit seiner Schwester) Röschen seinen Arm geboten. Die kleine Hand, die sich auf denselben legte, zitterte so sehr, sah so schutzbedürftig aus, daß es unmöglich gewesen wäre, sie nicht mit der freigebliebenen Linken zu erfassen, sie nicht zu drücken, treuherzig und warm. Und dann war es wieder unmöglich, die freudige Bestürzung zu sehen, die die Augen des Mädchens aussprachen, ohne mit innigster Teilnahme zu fragen: «Was ist Ihnen, liebes Röschen?»

Es erfolgte keine Antwort. Sehr beängstigend – – und doch auch wieder sehr natürlich. Man war ja mechanisch weiter geschritten, man trat ja schon in den Saal, wo der Graf und die Gräfin soeben von Fräulein Heißenstein bekomplimentiert wurden. Arm in Arm und Hand in Hand stand das junge Paar vor dem alten.

Der Vater warf einen triumphierenden Blick auf seinen Sohn – wie aus dem Traum erwachend ließ Ronald den Arm plötzlich sinken und stammelte einige unverständliche Worte. Die Gräfin aber zog Röschen, die in lieblicher Verwirrung auf sie zueilte, an ihr Herz.

Zu Anfang des Mittagessens trug der alte Graf die Kosten der Unterhaltung fast allein. Er erzählte Anekdoten, denen man gleich anmerkte, daß sie einer bedenklichen Pointe zusteuerten, sobald er sich der jedoch näherte, hielt er inne, mit gespielter Verwirrung und sprach: «Die Ehrfurcht, die ich für Sie hege, meine Damen, verbietet mir, Ihnen das Ende dieser Geschichte zu erzählen.»

Er überbot sich an Liebenswürdigkeit gegen Regula und sagte ihr sogar etwas Schmeichelhaftes über die Farbe ihres Kleides, die er – da sein Geschmack ein ausgezeichneter war – abscheulich fand; er gab sich Mühe, sie zu bereden, ein Gläschen Wein zu trinken, sie lehnte es ab mit einem obligaten Schreckensrufe. Als der Braten kam, wurde Fräulein Heißenstein gelehrt und brachte mancherlei wissenschaftliche Dinge zur Kenntnis der Gesellschaft. Sie befliß sich einer besonderen Vornehmheit in jeder ihrer Bewegungen, und steckte keinen Bissen in den Mund, ohne dabei ein Gesicht zu machen, das ihre Verachtung einer so untergeordneten Beschäftigung, wie es die Ernährung des leiblichen Menschen ist, an den Tag legte. Sie war ganz Geist, ganz Verstand, und bediente sich nur der gewähltesten Ausdrücke; sie sagte Kossaten statt Halbbauern und Pretia rerum statt Preise der Lebensmittel.

Nachmittags hatte Ronald einen Auftrag seines Vaters auszuführen, entschuldigte sich und fuhr davon. Die Gräfin begab sich mit Regula und Röschen nach der Terrasse, die Baronin, die ihnen folgen wollte, wurde von ihrem Vater zurückgehalten, da er mit ihr zu sprechen wünschte.

«Wir werden die Ehre haben, Sie bald einzuholen, meine Damen, und hoffen Sie dann in günstiger, huldvoller Stimmung zu finden», sprach der alte Herr und zwinkerte dabei Regula schalkhaft zu. Sie fand es angemessen, die Augen niederzuschlagen – sie verstand ihn ja so wohl! Ronald hatte sich seinem Vater anvertraut und ihm die Förderung seiner Herzensangelegenheit übertragen. Der Graf will sich nun mit seiner Tochter beraten, in welcher Weise dies am besten geschähe. Das alles liegt auf der Hand. Die Entscheidung naht – morgen vermutlich wird die Verlobung gefeiert. Regula kann nicht umhin, mit dem größten Erbarmen an Ludwig Bauer zu denken. In den letzten drei Tagen hatte er dreimal geschrieben. Es tut ihr leid um ihn – aber wer kann helfen? Der Augenblick, in dem man die Hand nach einer Grafenkrone ausstreckt, ist nicht der, in dem man in Versuchung kommt, Frau Professor zu werden. Regulas Wege sind gewiesen, und Ehrgeiz ist und bleibt die Leidenschaft großer Seelen.

«Nun Thilde!» fragte der Graf, indem er sich auf seinen mit gesteiftem Kattun überzogenen Diwan niederließ, «was habe ich dir zu sagen?»

«Nun, lieber Papa», erwiderte die Baronin, die sich an seine Seite gesetzt hatte und sofort eifrig an ihrer Häkelei zu arbeiten begann, «wenn Sie das nicht selbst wissen –»

Er lachte, lehnte sich behaglich zurück und sprach: «Sag einmal an, Thilde, was sind von jeher meine Ansichten gewesen über den Wert der Gabel im Stammbaume? Was halte ich davon?»

«Nicht viel», erwiderte die Baronin und sah ihren Vater verwundert an. «Ja», sagte sie zu sich selbst, «wenn sich’s nur um die Gabel handelte – ich sehe aber nicht einmal eine Zinke.»

«Ich bin für das englische Prinzip!» rief der Graf. «Der Mann gibt seiner Frau mit seinem Namen auch seine Ahnen.»

«Jawohl, Papa, das ist Ihre Ansicht.»

«Und so habe ich denn nichts gegen eine Verbindung deines Bruders mit dem kleinen Fräulein von Fehse einzuwenden», fuhr der Graf fort, «es ist mir gleichgültig, daß ihre Mutter aus bürgerlichem Hause stammte. Der Adel ihres Vaters macht alles wieder gut.»

«O Gott, der arme Papa!» dachte die Baronin, und ließ in stummer Bestürzung die Arbeit in ihren Schoß sinken.

«Du kannst mit der Tante sprechen», sagte der alte Herr in einem Tone, als ob er seiner Tochter die huldvollste Vergünstigung erwiese. «Heiraten einleiten ist Weibersache. Mein guter Ronald, obwohl rechtschaffen verliebt, tut den Mund nicht auf. Wenn man ihn sich selbst überläßt, findet er Mittel, sich die Sache am Ende gar noch auszureden. Lauter Vernunft, lauter Überlegung und kein Entschluß, das sind die Liebhaber von heute. Was meinst du, Thilde?» fragte er etwas ungeduldig nach einer Pause, in welcher er vergeblich auf ein Wort der Zustimmung gewartet hatte.

Die Baronin war – ein seltener Fall – ratlos und außer Fassung. Wie es kam, wußte sie nicht, aber es kam, es ging ihr plötzlich auf, deutlich und überzeugend: der unpraktische Papa versteht diesmal seinen unpraktischen Sohn. Ronald hat die Torheit begangen, sich in die kleine rosige Fee zu verlieben. Thilde erklärte sich jetzt alles: seine erregte Antwort von vorhin, seinen leidenschaftlichen Händedruck. An eine Verbindung mit dem Fräulein Heißenstein hat er nie gedacht, er hat Rondsperg ohne jeden eigennützigen Vorbehalt verkauft. Die Baronin irrte sich, wie schon so oft, in ihm, indem sie meinte, das Vernünftige erscheine auch ihm einmal als das Selbstverständliche. Sie ist voll Unmut gegen ihn, und doch – welch ein Wirrsal von Gefühlen in ihrer Brust! – doch auch wieder stolz auf diesen törichten Bruder, mit seiner verwünschten Selbstlosigkeit, mit seiner Großmut, die an Tollheit grenzt. Das Abscheulichste ist das Klügste in gar vielen Fällen und wär’s in diesem ganz gewiß. Wie hatte sie es ihrem edlen Ronald zutrauen können? – Sie begreift sich nicht! Sie fühlt sich beschämt über ihre Kurzsichtigkeit, sie ist entsetzt über den voreiligen Wink, den sie Regula gab. Diese denkt nichts andres, als Gräfin Rondsperg zu werden – das ist ausgemacht. Sie wird sich bitter rächen, wenn ihre Hoffnungen nicht in Erfüllung gehen, die kalte Kreatur, und sie kann es – Ronald ist in ihren Krallen.

Die Baronin war eine zu starke Seele, um durch ihre Mienen zu verraten, was in ihr vorging. Ihr Vater las darin nichts von ihrer Angst und ihrer Bestürzung, aber gar ernst sah die Tochter aus, und ihr langes Schweigen verdroß ihn. In gereiztem Tone wiederholte er den letzten Satz seiner unbeantwortet gebliebenen Rede: «Was meinst du, Thilde?»

Sie erwiderte langsam und zögernd: «Ach – Papa – es ist schwer …»

Der alte Herr fuhr auf: «Was ist schwer? – Einem Menschen ankündigen, daß man beabsichtigt, ihm eine Ehre zu erweisen? … Die Weinhändlerin hat sich wohl in ihren kühnsten Träumen nicht bis zu einer Verbindung mit unserm Hause verstiegen. Ich meine, sie würde, um eine solche zu ermöglichen, alle denkbaren Opfer bringen. Nun – Opfer fordern wir gerade nicht, aber sie kann etwas tun für ihre Nichte. Ronald braucht nichts von seiner Frau, aber seine Frau braucht etwas für sich. Sie wird bei uns nicht einziehen wollen wie Griseldis bei Percival von Wales. Und so wünsche ich denn», fügte der Graf freundlich und fast bittend hinzu, «daß meine kluge Thilde die Sache mit der alten Tante in Ordnung bringe, und zwar gleich; wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn du uns durchaus morgen schon verlassen willst.»

Die Baronin hatte ihre Häkelei wieder aufgenommen und schien ganz vertieft in ihre Arbeit. Jetzt erhob sie den Kopf und sprach: «Lieber Papa, das geht nicht so schnell.»

Ihr Vater stand mit einer zornigen Gebärde auf. Er machte, leise und ungeduldig vor sich hinsummend, einige Gänge durch das Zimmer, blieb dann plötzlich stehen und sprach: «Du legst großen Eifer für das Wohl deines Bruders an den Tag.»

«Was ich irgend kann, will ich für ihn tun.»

«So tu es gleich», sagte er, etwas besänftigt.

«Unmöglich – ärgern Sie sich nicht, Papa!» rief sie, als er wieder Miene machte, aufzufahren, «aber ich werde morgen noch hier bleiben, und dann wollen wir sehen.»

«Wollen wir sehen», spöttelte er giftig, und mit der Absicht, zu verletzen. «Du sprichst wie ein Minister … Meine Kinder dürfen sich nicht oft rühmen oder – beklagen, daß ich Ansprüche an sie stelle. Wenn es aber einmal geschieht, dann lassen sie mich fühlen, daß es nie geschehen sollte!»

«Der arme Papa – der arme Papa!» dachte die Baronin wieder. Sie legte ihre Arbeit zusammen. Ganz und gar mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt, fiel ihr nicht ein, dem heftigen Ausfall ihres Vaters die geringste Beachtung zu schenken. Sie hatte sich erhoben und schritt dem Ausgange zu.

«Wohin?» rief der Graf.

«Ich will einen Boten nach Haluschka senden, damit sie mich dort nicht umsonst erwarten», antwortete sie und verließ das Zimmer.

Der alte Herr blieb sehr unzufrieden zurück; ein Verdacht steigt ihm auf. Die Baronin hat vielleicht die Nichte der Millionärin einem ihrer Söhne bestimmt, aber das soll sich die kluge Thilde aus dem Kopf schlagen. Daraus wird nichts. Der Graf wünscht seinen Enkeln alles mögliche Gute, aber ein Röschen verdient keiner von ihnen, denn sie sind doch nur – tölpelhafte Krautjunker.

Er ging noch lange in seinem Zimmer auf und ab und sann über einen Entschluß nach, den er gefaßt hatte, und ohne Verzug ins Werk zu setzen gedachte.

*

Als Ronald gegen Abend in den Schloßhof fuhr, saß Bozena auf einer Bank unter einer der Kugelakazien. Sobald er sie erblickte, hielt er an, übergab Florian die Zügel, sprang vom Wagen und eilte auf sie zu. Sie hatte sich erhoben und blieb, ihn erwartend, ruhig stehen.

«Das ist ja eine Gnade», sagte Ronald, «daß Sie nicht wie gewöhnlich vor mir davonlaufen. Was haben Sie gegen mich, Bozena? Seien Sie aufrichtig, mit mir kann man’s sein.»

«Und mit mir soll man’s sein», antwortete Bozena. «Obwohl mir’s niemand gesagt hat, Herr Graf, weiß ich ja, weshalb wir hierhergekommen sind.»

«Kein Wunder», sprach er. «Alle Leute – meinen Vater ausgenommen – kennen meine Verhältnisse.»

«Also!» rief Bozena, und der Ernst, mit dem sie ihn angesehen hatte, verwandelte sich in Strenge: «Betören Sie mir das kleine Mädchen nicht.»

«O weh!» erwiderte Ronald, und indes er sich bemühte zu scherzen, zuckte es schmerzlich über sein Gesicht, «das kleine Mädchen hat mich betört. Ich bin ein ganzer Narr geworden, der oft das Gegenteil von dem tut, was er tun möchte.»

Sie schoß einen finster funkelnden Blick nach ihm und sprach: «Wenn’s so ist –»

«Seien Sie ruhig», fiel er ihr ins Wort, «Sie können dennoch ruhig sein. Ich hab Übung in der Kunst, zu mir selbst zu sagen: ‹Möchtest das wohl gern? – Du sollst es nicht haben.› – Als ich dieses Röschen neulich sah, da wußt ich, bei meiner Treu, zugleich: ‹Nach dem hast dich dein Leben lang gesehnt›, und: ‹Es soll nicht blühen an deiner Brust.› – Glauben Sie mir», setzte er nach einer kleinen Pause hinzu, «ich hab mein Herz in der Hand.» Er ballte dabei die Faust, als ob er darin etwas zerdrücken wollte.

«Das ist schon gut», sagte Bozena, «machen Sie aber auch dem Kind das Herz nicht schwer.»

«Ich will ja nicht,» rief er «aber gestern … Ich sage Ihnen alles, Bozena – gestern war ein Augenblick, in dem ich dachte: ‹Warum soll ich mein Glück von mir weisen? Ich hab ein Recht auf Glück so gut wie ein andrer.› Da wollt ich schon zu Ihnen gehen – denn Röschen gehört Ihnen; Sie sind so gut die Mutter des Mädchens, als ob Sie es geboren hätten – und Ihnen sagen: ‹Trauen Sie mir’s zu, daß ich ein Weib ernähren kann?› Ich weiß, was es heißt, sich plagen, man wird mir auftun, wo ich anklopfe. Ich wollt Ihnen sagen: ‹Sie sind schon einmal mit einem armen Paare in die Welt gezogen …›»

Bozena schüttelte den Kopf: «Weil ich’s schon einmal getan habe, tu ich’s nicht wieder, Herr Graf.»

«Und ich bin auch nicht gekommen, Sie darum zu bitten», sprach Ronald. «Ich habe mir den schönen Traum aus dem Sinn geschlagen. Ich darf an mich nicht denken, solange meine Eltern leben, und mir sagen: ‹Wenn sie tot sind, wirst du anfangen glücklich zu sein› – das geht auch nicht. Auf Gräber pflanzt man Zypressen, nicht Myrten. Ich mag auf den Tod meiner Eltern nicht warten.»

Bozenas Augen senkten sich und sie sagte: «Brav.»

«So heißt es Abschied nehmen.» Er brauchte alle Kraft der Selbstüberwindung, um mit fester Stimme sagen zu können: «Ich werde sie vielleicht gar nicht mehr sehen. Wie ich höre, fährt Ihr Fräulein schon übermorgen nach Weinberg zurück. Und ich komme ohnedies spät nach Hause, und bin auch wieder fort beim ersten Morgengrauen.»

«Damit wird Fräulein Heißenstein schlecht zufrieden sein», sagte Bozena. Er fragte jedoch mit solcher Unbefangenheit, was dem Fräulein an ihm läge? und sagte, als sie entgegnete: «Das wissen Sie nicht?» so vorwurfsvoll und doch mit einem so unwillkürlichen Lächeln: «Aber Bozena!» daß sie ihm plötzlich mit den Worten: «Nichts für ungut!» ihre Hand reichte.

Ronald hielt sie fest: «Glauben Sie mir?»

«Ich glaube Ihnen.»

«Nun denn. Ich habe Röschen unaussprechlich lieb, aber jetzt, hier, ohne daß sie es hört, sage ich ihr: Lebewohl.»

Sie schüttelten einander die Hände und traten beide in das Haus.