1.

Leopold Heißenstein war der reichste und einer der geachtetsten Bürger des mährischen Landstädtchens Weinberg. Ob auch einer der beliebtesten, das stand dahin und machte die geringste seiner Sorgen aus. Witzbolde unter den Eingeborenen meinten, ein Mann von Geist und Geschmack sei er jedenfalls, das bringe schon sein Geschäft mit sich – das ansehnliche Weingeschäft nämlich, das sich seit Generationen in seiner Familie forterbte, und das er zu unerhörter Blüte gebracht hatte.

Wie Leopold der einzige Sohn seines Vaters gewesen war, so wurde auch ihm nur ein männlicher Sprosse, aber ein prächtiger Junge beschert, der den Ruhm des alten Hauses glorreich fortzusetzen versprach.

Ein Töchterchen, das seine Frau ihm in den späteren Jahren der Ehe gebar, betrachtete Heißenstein als ziemlich unwillkommene Zugabe zu seinem Glücke: «Denn», pflegte er zu sagen, «der Sohn trägt Geld in das Haus, die Tochter trägt Geld aus dem Haus.»

Auf eine Mitgift übrigens, wenn auch auf eine sehr anständige, kommt es einem Manne wie Heißenstein nicht an, und damit fertigt er dereinst das Mädchen ab.

Die Existenz dieses Kindes, dem Vater so gleichgültig, wurde für die Mutter eine Quelle unsäglicher Freude; der letzten, welche die kränkliche Frau auf Erden genießen sollte. Der Sohn war ihrer Sorgfalt, sobald dies nur halbwegs anging, entzogen und nach Wien in eine Erziehungsanstalt gebracht worden. Heißenstein, hatte geglaubt, ihn nicht früh genug aus der Kinderstube und den Händen der «Weibsleute»befreien zu können. Wie recht er daran getan, das wurde ihm täglich durch den unheilvollen Einfluß bestätigt, den die abgöttische Liebe der Mutter auf die kleine Rosa ausübte. Die Unarten des Kindes erfüllten ihn mit einer Art von spöttischer Befriedigung. Ihm selbst war die Unerbittlichkeit, mit welcher er Mutter und Sohn einander entfremdete, manchmal grausam erschienen – jetzt fand er sie auf das glänzendste gerechtfertigt.

Daß die arme Frau sich eben mit allen Kräften ihres entschwindenden Lebens an das einzige klammerte, das man ihr ließ, daran dachte er nicht. Er war nicht gewohnt, auf die Empfindungen andrer Rücksicht zu nehmen, am wenigsten auf die seiner stillen Lebensgefährtin. Was er tat, war wohlgetan, und der Eindruck, den es hervorbrachte, gleichgültig. In sicherer Ruhe schritt er dahin, seiner selbst gewiß, nichts fürchtend, nichts bereuend. Und so, in der Fülle der Zufriedenheit, traf ihn der schwerste Schlag, der ihn treffen konnte: er verlor seinen Sohn. Der Knabe wurde so rasch hinweggerafft, daß seine Eltern, die bei der ersten Nachricht seiner Erkrankung herbeigeeilt kamen, ihn nicht mehr am Leben trafen.

Es dauerte lange, bis Heißenstein an seinen Verlust glauben lernte. Die Wirkung des ersten großen Unglücks, das der zuversichtliche Mann erfuhr, war vernichtend.

«Für wen habe ich gearbeitet? – Ich habe keinen Erben!» – in dieser Klage gipfelte sein Schmerz. Seine Hoffnungen waren zerstört, seine Erinnerungen vergällt. Wer blickt gern auf ein Leben voll Mühen zurück, wenn ihm die Früchte derselben geraubt worden sind? Heißenstein konnte, was sein Fleiß erworben, nicht einem Namensträger hinterlassen, demnach war der Lohn seines Fleißes dahin.

Mit wunderbarer Standhaftigkeit hingegen benahm sich die Mutter bei dem Tode ihres Erstgeborenen. Keiner hatte es gehörte, wie sie mit dem letzten Kusse auf seine Lippen ihm die Worte zugehaucht: «Ich komme bald zu dir!»

Und von dem bleichen Toten hinweg wandte sie sich mit verdoppelter Zärtlichkeit ihrem rosigen, lebensfreudigen Liebling zu. Beständig von der Ahnung naher Trennung erfüllt, geizte sie mit jedem Augenblicke, den sie bei dem Kinde zubringen, frohlockte über jedes Lächeln, das sie ihm abgewinnen konnte, warb um seine Liebkosungen, und zagte und zitterte vor seinen Tränen.

Röschen war schon zu dem vollen Bewußtsein ihrer Wichtigkeit und der Unverletzlichkeit ihres Willens gelangt, als sich plötzlich die Augen schlossen, die mit verwöhnender Liebe über ihr gewacht hatten. Frau Heißenstein entschwand eines Morgens wie ein Schatten von der Wand; ohne vorhergegangene sichtbare Krankheit, ohne die geringste Pflege in Anspruch, ohne Abschied genommen zu haben von dem gefürchteten Mann und von dem geliebten Kinde. Bevor Herr Leopold ahnte, daß auch dieser Verlust ihn bedrohe, erfuhr er ihn.

Und seltsam! Die demütige Frau, welcher er, solange sie lebte, nur eine sehr oberflächliche Beachtung gegönnt hatte, wurde von ihm jetzt so bitter vermißt, als ob sie der Mittelpunkt all seiner Interessen gewesen wäre. Das Gefühl des Verlassenseins ergriff ihn, das keinen Menschen mit solcher Trostlosigkeit überfällt wie den Egoisten, wenn die von ihm scheiden, deren Existenz er zu seinen Gunsten ausbeutete. Nun machte er den Versuch, das einzige Geschöpf, das er auf Erden noch sein nannte, an sich heranzuziehen. Allein zwischen dem an Widerspruch nicht gewöhnten Vater und seinem eigensinnigen Töchterlein wollte kein Band sich knüpfen lassen. Der Trotz und der Ungehorsam des Kindes setzten die Geduld Herrn Leopolds gar bald auf harte Proben. Er bestand sie nicht. Nach einigen stürmischen Auftritten, aus denen Rosa zwar hart mißhandelt, aber als Siegerin hervorging, erschrak ihr Vater vor seiner eigenen Heftigkeit und überließ die fernere Erziehung des Wildfangs der Magd des Hauses, einer derben und verläßlichen Person von zweiundzwanzig Jahren, mit Namen Bozena. Für diese äußerte das Kind schon zu Lebzeiten seiner Mutter eine zärtliche Liebe, welche die arme Verstorbene oft eifersüchtig gemacht hatte. Rosa nannte die Dienerin, wie sie es wohl von andern gehört hatte, «die schöne Bozena» und ertrug die rauhe Behandlung, die sie zeitweise von ihr erfuhr, mit fröhlicher Standhaftigkeit.

Die schöne Bozena hätte sich an Größe und Stärke kühnlich mit einem Flügelmanne des Garderegiments Friedrich Wilhelms I. messen können. Dabei besaß sie ein ausdrucksvolles und gescheites Gesicht, in dem ein Paar rabenschwarze Augen funkelten, die auch der mutigste Mann nicht ohne leises Grauen in Ungnaden auf sich gerichtet sah. Das Schönste jedoch an der schönen Bozena war die Röte ihrer Wangen und das blendende Weiß ihrer Zähne. Allerdings konnten die Lippen, hinter denen das prächtige Gebiß zum Vorschein kam, etwas schwellend genannt werden, und was die Nase betraf, so geschah ihr kein Unrecht, wenn man sie – wie ein launiges Mitglied der Paßbehörde «ex officio» getan – «landesüblich» nannte. Gegen alles Schmucke und Zierliche empfand Bozena Verachtung, aber mit der Reinlichkeit nahm sie es genau; die Arbeit flog unter ihren Händen, und so blitzblankes Hausgerät, einen so nett gedeckten Tisch, so sauber gehaltene Stuben wie im Hause Heißenstein fand man auf Meilen in der Runde nicht wieder.

Mit dem Kinde, das ihr nun ausschließlich anvertraut war, ging sie um, wie eine Bärin mit einem jungen Hündchen umgegangen wäre, für das sie eine mütterliche Zuneigung gefaßt hätte. Wenn sie ihre Riesenfaust gegen die Kleine ballte und sie mit einer Stimme anschrie, die aus der Brust eines Ogers zu kommen schien, dann lachte das verwegene Ding, aber es gehorchte.

Bozena war sich wohl bewußt, das Kind und der Haushalt ihres Herrn könnten schwerlich besser betreut werden, als es durch sie geschah, und lebte in tätiger Ruhe dahin; sehr zufrieden mit ihrem Lose, ohne Furcht, daß jemals eine Veränderung eintreten könnte.

Indessen wurde sie, noch vor Verlauf eines Jahres nach dem Tode der Frau, welche sie so vollständig ersetzen zu können meinte, aus ihrer Sicherheit aufgeschreckt. Das Gerücht, Herr Heißenstein stehe im Begriffe, sich zum zweitenmal zu verheiraten, verbreitete sich, und Neugierige, die durch Bozena Bestimmteres darüber zu erfahren hofften, trugen es ihr zu. Sie wurden zwar mit ihrer Nachricht nicht viel besser empfangen, als ein Zündfaden von einer Rakete, aber so fest überzeugt, als Bozena zu sein vorgab, ihr Herr werde «keine solche Dummheit» begehen, war sie doch nicht.

Von Stunde an begann sie den Gebieter unter scharfer Aufsicht zu halten. Trotz der größten Aufmerksamkeit vermochte sie jedoch nicht die geringste Veränderung, weder in seiner Lebensweise noch in seiner Stimmung wahrzunehmen. Höchstens daß sich die letztere in der jüngsten Zeit noch um etwas verschlechtert hatte. Und Bozena, deren Weise es sonst war, wenn sich eine Wolke auf dem Gesichte ihrer Herrschaft zeigte, auf dem ihren sofort ein ganzes Gewitter aufsteigen zu lassen, lächelte jetzt um so freundlicher, je finsterer der Kaufmann erschien. Als dieser eines Abends mit ganz besonders verdrossener Miene heimkam und, nachdem er Befehl gegeben, das für ihn bereitstehende Abendessen wieder abzutragen, sich in sein Zimmer begab, hatte Bozena Mühe, ihren Jubel zu unterdrücken.

«Gute Nacht!» rief sie Herrn Leopold mit ihrer süßesten Stimme nach und setzte für sich triumphierend hinzu: «Er hat ihn, den Korb!»

Sie schlief sehr gut in dieser Nacht und begab sich mit ausgezeichnetem Frohmut am nächsten Morgen an die Arbeit. Es war Sonntag, und da gestern besonders gründlich gescheuert worden war, genügte heute eine leichte Nachhilfe. Bozena beschäftigte sich eben mit Besen und Wischtüchern im Speisezimmer, da trat ihr Herr Heißenstein entgegen, glatt rasiert und stattlich, das Gebetbuch in der Hand.

«Mach fertig» , sprach er, «kleide Rosa an. Ich werde nach der Messe meine Braut hierherbringen, damit sie das Haus und das Kind kennenlerne.»

Nur ein König, dem Krone und Zepter plötzlich entrissen wurden, weiß, was Bozena bei diesen Worten empfand. Ihr Blick zuckte an Heißenstein wie ein Blitz vom Wirbel bis zur Sohle hinab, und unter der Fülle von Geringschätzung, die sich auf ihre Lippen gelagert hatte, erschienen dieselben noch dicker als sonst.

«Braut?» rief sie. «Sie wollen wieder heiraten? … Wozu denn?»

Herr Heißenstein richtete sich, so hoch er konnte, der Riesin gegenüber auf, knöpfte mit stolzer Entschlossenheit seinen neuen dunkelbraunen Winterrock zusammen und erwiderte: «Meine Tochter braucht eine Mutter und ich brauche einen Sohn.»

Damit verließ er wuchtigen Schrittes das Zimmer.