Zwanzigstes Kapitel


Mein Aufenthalt in Riga. – Campioni. – Ste.-Héleine. – D’Aragon. – Ankunft der Kaiserin. – Meine Abreise von Riga und Ankunft in St. Petersburg. – Besuche. – Ich kaufe Zaïra.

Prinz Karl Biron, jüngerer Sohn des regierenden Herzogs von Kurland, Generalmajor in russischen Diensten, Ritter des Alexander-Newskis-Ordens, empfing mich, durch den Brief seines Vaters günstig gestimmt, mit großer Auszeichnung. Der Prinz war sechsunddreißig Jahre alt, hatte ein sehr angenehmes, wenn auch nicht schönes Gesicht, war höflich und sprach sehr gut französisch. Er sagte mir in wenigen Worten, was ich von ihm zu erwarten hätte, wenn ich einige Zeit in Riga zu verbringen gedächte. Er bot mir seinen Tisch, seine Gesellschaft, seine Vergnügungen, seinen Marstall, seinen Rat und seine Börse an, und er tat es mit jenem freimütigen Ton, der einem Soldaten so gut ansteht, und mit jener herzlichen Güte, die eigentlich eine unzertrennliche Eigenschaft aller Fürsten sein sollte.

»Eine Wohnung biete ich Ihnen nicht an,« sagte er zu mir, »weil mein eigenes Haus ein wenig eng ist; aber ich werde dafür sorgen, daß Sie eine passende Wohnung finden.«

In Wirklichkeit war diese Wohnung bereits gefunden, und ich wurde von einem Adjutanten des Prinzen hingeführt. Kaum hatte ich mich eingerichtet, so machte der General mir bereits einen Besuch und nötigte mich, so wie ich war, mit ihm zum Essen zu gehen. Es war eine Mahlzeit ohne alle Umstände, und zu meiner angenehmen Überraschung sah ich dabei Campioni wieder, von dem ich bereits zwei- oder dreimal in diesen Erinnerungen gesprochen habe. Dieser Campioni war ein Tänzer, der weit über seinem Berufe stand und für die gute Gesellschaft geschaffen war: er war höflich, witzig, heiter und ein Lebemann, hatte keine Vorurteile, liebte Frauen, gutes Essen und hohes Spiel, war vorsichtig, verschwiegen, tapfer und lebte ruhig, sowohl wenn das Glück ihm günstig wie wenn es ihm ungünstig war. Wir freuten uns beide, uns wiederzusehen.

Ein anderer Gast, ein Savoyarde, Baron von Ste.-Héleine, hatte eine junge Frau, die ziemlich hübsch, im übrigen aber sehr unbedeutend war. Der Baron, dick und fett, war Spieler, Esser und Trinker. Fügt man zu diesem dreifachen Verdienst noch die Kunst, Schulden zu machen und seine Gläubiger vortrefflich in Sicherheit zu wiegen, so hat man das Ganze seiner Kunst und Wissenschaft; denn im übrigen war er dumm in der vollen Bedeutung des Wortes. Ein Adjutant und die Geliebte des Prinzen speisten ebenfalls mit uns. Diese Geliebte war blaß, traurig, mager, träumerisch, dabei aber ziemlich hübsch; sie mochte etwa zwanzig Jahre alt sein. Sie aß beinahe gar nichts, weil sie alles schlecht fand. Sie sagte, sie sei krank, und alle ihre Züge drückten Mißbehagen aus. Der Prinz forderte sie vergeblich zum Essen und Trinken auf; sie wies alles verächtlich zurück. Der Prinz neckte sie lachend wegen ihrer Lächerlichkeiten, aber er tat es in so zartfühlender Form, daß sie sich nicht allzusehr verletzt fühlen konnte.

Wir verbrachten beinahe zwei Stunden recht heiter bei Tische. Nach dem Kaffee schüttelte der Prinz mir die Hand, da er anderweitige Geschäfte hatte; er bat mich, mittags und abends an seinen Tisch zu kommen, wenn ich nichts Besseres wüßte, und ließ mich mit Campioni allein.

Mein alter Freund und liebenswürdiger Landsmann führte mich in seine Wohnung, um mich mit seiner Frau und seiner Familie bekannt zu machen. Ich wußte nicht, daß er sich wieder verheiratet hatte. Ich fand in seiner angeblichen Frau eine sehr liebenswürdige, etwas magere, aber geistsprühende Engländerin. Sie hatte eine Tochter von elf Jahren; diese war sehr frühreif, denn man hätte ihr ohne weiteres fünfzehn Jahre gegeben. Sie war geist- und talentvoll, tanzte, sang und spielte Klavier, und ihre Augen schleuderten Blitze, ein Beweis, daß ihre Natur den Jahren vorausgeeilt war. Sie eroberte mich, und ihr Vater wünschte ihr Glück dazu. Darüber freute sie sich; aber ihre Mutter kränkte sie sichtlich, indem sie sie kleine Bambina nannte – eine blutige Beleidigung für ein junges Mädchen, das seine Bestimmung zu fühlen beginnt.

Auf einem Spaziergang, den ich mit Campioni machte, gab er mir Auskunft über alles; zuerst über sich selber: »Seit zehn Jahren lebe ich mit dieser Frau. Betty, die Sie so reizend finden, ist nicht meine Tochter; die anderen aber sind meine Kinder, und ich habe sie von meiner Engländerin erhalten. Vor zwei Jahren habe ich Petersburg verlassen, und ich lebe hier recht gut. Ich habe Zöglinge, die mir Ehre machen. Ich spiele beim Prinzen – gewinne, verliere, kann aber niemals eine so große Summe gewinnen, um einen unglückseligen Gläubiger zu befriedigen, den ich in Petersburg zurückgelassen habe und der mich auf Grund eines Wechsels verfolgt. Er kann mich ins Gefängnis setzen lassen, und ich bin jeden Tag darauf gefaßt.«

»Handelt es sich um eine große Summe?«

»Fünfhundert Rubel.«

»Aber das ist doch nicht so arg: Zweitausend Franken!«

»Ich weiß es wohl, aber wenn man sie nicht hat?«

»Sie hätten die Schuld durch Teilzahlungen decken sollen.«

»Davon will der Unmensch nichts wissen.«

»Und was gedenken Sie nun zu tun?«

»Wenn es möglich ist, will ich das Eintreten des starken Frostes abwarten; dann werde ich allein die Flucht ergreifen und nach Polen gehen; dort werde ich sehen, ob ich alles in Ordnung bringen kann. Der Baron von Ste.-Héleine wird ebenfalls ausreißen, wenn er kann; er hält sich nur noch durch Versprechungen aufrecht. Der Prinz, den wir alle Tage besuchen, ist uns sehr nützlich, denn wir können bei ihm spielen; sollte uns aber ein Unglück zustoßen, so könnte er uns auch nicht helfen. Er ist nämlich selber überschuldet, weil die Ausgaben, die er machen muß, seine Einnahmen bei weitem übersteigen. Er spielt und verliert immer. Seine Geliebte kostet ihn viel und ärgert ihn durch ihre schlechte Laune.«

»Warum ist sie denn, so verdrießlich?«

»Sie verlangt uon ihm, er solle ihr sein Wort halten; denn er hat ihr versprochen, sie nach Ablauf von zwei Jahren zu heiraten, und nur unter dieser Bedingung hat sie ihm erlaubt, ihr zwei Kinder zu machen. Jetzt, wo die zwei Jahre verflossen und die beiden Kinder gemacht sind, erlaubt sie ihm nichts mehr, weil sie Angst hat, ein drittes Kind könnte dabei herauskommen.«

»Kann der Prinz ihr denn nicht einen Heirater finden?«

»Er hat einen Leutnant für sie gefunden, aber sie verlangt wenigstens einen Major.«

Der Prinz gab dem kommandierenden General Wojakoff, an den ich einen Brief vom Feldmarschall Lewald hatte, ein Galadiner; ich traf bei dieser Gelegenheit die Baronin Korff von Mitau, Madame Ittinoff und ein schönes adliges Fräulein, die Braut des Barons von Budberg, den ich in Florenz, Turin und Augsburg gekannt hatte, von dem ich aber vielleicht in diesen Erinnerungen noch nicht gesprochen habe.

Im Verkehr mit allen diesen Herrschaften vergingen mir drei Wochen sehr angenehm; besonders entzückt war ich vom alten General Wojakoff. Dieser wackere alte Herr war vor fünfzig Jahren in Venedig gewesen, als die Russen noch Moskowiter genannt wurden und der Gründer oder Schöpfer von Petersburg noch lebte. Allmählich war er alt geworden wie eine Eiche, immer auf demselben Fleck wurzelnd und immer mit dem gleichen Horizont um sich herum. In seinen Augen war alles noch so wie es damals gewesen war, und er pries mir Venedig und dessen Regierung in dem Glauben, es sei alles noch so wie vor fünfzig Jahren.

In Riga erfuhr ich von einem englischen Kaufmann, Collins, daß der angebliche Baron Stenau, der mir in London den falschen Wechsel gegeben und mich dadurch zu meiner plötzlichen Abreise gezwungen hatte, in Portugal gehängt worden war. Dieser angebliche Baron war ein Livländer, der Sohn eines armen Kaufmanns, und war selber ein armer Kommis gewesen. Er hatte sein Kontor verlassen, um dem Glücke nachzujagen, das ihn leider an den Galgen brachte. Der liebe Gott schenke ihm seinen Frieden.

Eines Abends kam ein Russe, der im Auftrage seines Hofes in Polen gewesen war, auf der Rückreise zum Prinzen, beteiligte sich am Spiel und verlor zwanzigtausend Rubel auf Wort. Campioni hielt die Bank. Der Russe gab Wechsel in Höhe des Betrages; sobald er aber in Petersburg war, erklärte er vor dem Handelsgericht seine eigenen Wechsel für ungültig, verleugnete also gegen Treu und Glauben sein Ehrenwort und seine Unterschrift. Infolge dieser hinterlistigen Handlung wurden nicht nur alle Gläubiger um ihren Anspruch betrogen, sondern es wurde auch ein strenges Verbot gegen das Spiel erlassen, das in Zukunft auch bei den Stabsoffizieren nicht mehr stattfinden durfte.

Der Russe, der diese Gemeinheit beging, war derselbe Schuft, der alle geheimen Maßnahmen der Zarin Elisabeth verriet, als sie mit dem König von Preußen Krieg führte. Er schickte dem Neffen der Kaiserin und erklärten Thronfolger, Peter, alle Befehle, die seine Herrscherin ihren Generälen erteilte, und Peter schickte schleunigst alles dem von ihm angebeteten König von Preußen.

Nach Elisabeths Tode machte Peter der Dritte den Halunken zum Vorsitzenden des Handelsgerichts, und dieser veröffentlichte mit Ermächtigung des neuen Zaren die von ihm geleisteten Dienste, die ihm diese schöne Belohnung eingetragen hatten: er rühmte sich also seines abscheulichen Vorgehens, statt sich dessen zu schämen. Peter wußte offenbar nicht, daß man aus Politik zuweilen ein Verbrechen belohnt, daß man aber den Verbrecher stets verachtet.

Ich sagte, Campioni habe die Bank gehalten; sie ging aber für Rechnung des Prinzen. Ich war mit einem Zehntel daran beteiligt, das mir ausgezahlt werden sollte, sobald der Schuldner seine Wechsel eingelöst hätte; als ich aber bei Tisch sagte, ich setzte keine Hoffnungen darauf und würde gerne meinen Anteil für hundert Rubel abtreten, nahm der Prinz mich beim Wort und zahlte mir sofort diesen Betrag aus. So kam es, daß ich der einzige war, der von dem Abend einen gewissen Vorteil hatte.

Katharina die Zweite wünschte sich in den neuen Staaten zu zeigen, die unter ihre Herrschaft gekommen waren, obgleich sie in der Person ihres früheren Günstlings Stanislaus Poniatowski einen Schattenkönig auf den polnischen Thron gesetzt hatte. Sie kam durch Riga, und dort sah ich zum erstenmal diese große Fürstin. Ich war Zeuge der Liebenswürdigkeit und der anmutigen Freundlichkeit, womit sie die Huldigungen des livländischen Adels entgegennahm: alle adligen Fräuleins, die ihr die Hand küssen wollten, küßte sie auf den Mund. Um sie herum standen die Orloffs und einige andere hohe Herren, die die Verschwörung geleitet hatten. Die Kaiserin sagte lächelnd zu ihnen, sie wolle für ihre treuen Diener eine Pharaobank von zehntausend Rubeln auflegen.

In einem Augenblick war der Tisch hergerichtet; es wurden Karten gebracht und Goldstücke aufgestapelt. Sie nahm die Karten, tat, wie wenn sie mischte, und gab sie dem ersten besten zum Abheben. Sie hatte das Vergnügen, in der ersten Taille die Bank gesprengt zu sehen, wie es nicht anders sein konnte; denn wenn sie nicht blödsinnig waren, mußten die Spieler stets wissen, welche Karte herauskommen würde. Am nächsten Tage reiste die Zarin nach Mitau, wo ihr zu Ehren Triumphbogen errichtet waren; diese Triumphbogen waren aus Holz, denn Steine sind in diesem Lande selten, außerdem hätte man auch keine Zeit gehabt, sie aus Stein aufzuführen.

Am Tage nach ihrer Ankunft gab es einen großen Schreck: man vernahm, daß in Petersburg eine Revolution auszubrechen drohte und daß es sogar schon zur Ausführung gekommen war. Man hatte den unglücklichen Iwan Iwanowitsch, der in der Wiege zum Zaren ausgerufen und von Elisabeth Petrowna entthront worden war, mit Gewalt aus der Zitadelle befreien wollen, in der er gefangen gehalten wurde. Die beiden Offiziere, die mit der Bewachung des unglücklichen Prinzen beauftragt waren, töteten den armen unschuldigen Monarchen, sobald sie sahen, daß sie nicht stark genug waren, um seine Befreiung zu verhindern.

Die Ermordung des unschuldigen Opfers machte einen so starken Eindruck auf das Publikum, daß der vorsichtige Panin einen Ausbruch des Unwillens befürchtete und Kurier um Kurier schickte, um die Kaiserin Katharina anzuflehen, sie möchte zurückkehren und sich ihrem Volke zeigen. Dieser Grund nötigte die Zarin, Mitau schon vierundzwanzig Stunden nach ihrer Ankunft wieder zu verlassen. Statt ihre Vergnügungsreise bis Warschau fortzusetzen, kehrte die Kaiserin in größter Eile nach Petersburg zurück, wo sie alles in der größten Ruhe fand. Die Politik veranlaßte sie, die Mörder des unglücklichen Iwan zu belohnen und den Frechen, die sie aus Ehrgeiz hatten vom Thron stoßen wollen, den Kopf abzuschlagen.

Man verbreitete das Gerücht, Katharina sei mit den Mördern im Einverständnis gewesen; aber man kam bald zu der Überzeugung, daß dies eine Verleumdung war. Die Zarin hatte eine starke Seele, aber sie war nicht hinterlistig und grausam. Als ich sie in Riga sah, war sie fünfunddreißig Jahre alt; sie regierte damals seit zwei Jahren. Obwohl sie nicht schön war, hatte sie etwas an sich, was gefiel: sie war groß, gut gewachsen, freundlich, leutselig und besonders von einer Ruhe, die sie nie verließ.

Um diese Zeit kam ein Freund des Barons von Ste.-Héleine von Petersburg an, um nach Warschau zu reisen. Er war ein Marchese Dragon, der sich d’Aragon nennen ließ. Er war Neapolitaner, ein großer Spieler, schön gewachsen, ein geschickter Fechter und stets bereit, in heiklen Fällen mit seiner Person einzustehen. Er hatte Petersburg verlassen, weil die Orloffs die Kaiserin überredet hatten, die Glücksspiele verbieten zu lassen. Man fand es eigentümlich, daß gerade die Orloffs das Glücksspiel verbieten ließen, da sie doch von weiter nichts lebten, bevor sie durch ein viel gefährlicheres, aber gewiß nicht edleres Mittel ihr Glück machten. Und doch waren sie vollkommen weise, indem sie diese Maßregel trafen. Sie wußten, daß die Spieler, die vom Spiel leben müssen, notwendigerweise Gauner sind: sie waren es selber gewesen. Sie wußten, daß solche Spieler im allgemeinen zu allen Ränken bereit sind, sobald sich nur irgendeine Aussicht auf Gewinn bietet: auch hierüber konnten sie selber am besten urteilen. Die Orloffs würden sich wohl gehütet haben, das Spiel in den Bann tun zu lassen, wenn sie nicht selber reich gewesen wären. Bürgerliche Tugenden richten sich fast immer nach den Umständen.

übrigens kann ein Spieler ein Schwindler sein und doch ein großes Herz haben, und gerechterweise muß man sagen, daß dies von den Orloffs gilt. Alexis hat die Narbe, die seine Wange ziert, in einer Schenke empfangen; der Mann, der ihn mit diesem Messerhieb zeichnete, hatte eine große Summe Geldes an ihn verloren und behauptete, Orloff verdanke diesen Gewinn mehr seiner Geschicklichkeit als dem Glück. Sobald Alexis reich und mächtig war, beeilte er sich den Mann, der ihn so empfindlich gezüchtigt hatte, glücklich zu machen; er dachte nicht daran, sich für die Verunglimpfung seines Antlitzes zu rächen. Dies ist ein edler Zug.

Die erste Kunst dieses Dragon bestand darin, stets die ihm günstige Karte umzuschlagcn, die zweite, den Degen zu führen. Er war im Jahre 1759 mit dem Baron von Ste.-Héleine nach Petersburg gekommen. Elisabeth regierte damals noch, aber der Thronfolger, Herzog Peter von Holstein, spielte schon eine große Rolle. Dragon ging auf einen Fechtboden, den der Prinz oft besuchte, und schlug dort alle Anwesenden. Der Herzog ärgerte sich darüber, nahm eines Tages ein Florett in die Hand und forderte den neapolitanischen Marchese heraus. Dragon nahm an und ließ sich zwei Stunden lang verdreschen; der Herzog entfernte sich triumphierend, denn nun konnte er sich für den besten Fechter von Petersburg halten.

Als der Prinz fort war, konnte Dragon sich nicht enthalten, zu sagen, er habe sich nur schlagen lassen, um nicht sein Mißfallen zu erregen; natürlich wurde diese Renommisterei dem Großfürsten hinterbracht. Dieser wurde zornig und schwor, er werde ihn zwingen, seine ganze Kraft aufzubieten, und wenn der Marchese ihn nicht vollständig besiege, so werde er ihn aus Petersburg ausweisen lassen. Zugleich ließ Seine Hoheit Dragon befehlen, sich am nächsten Tage auf dem Fechtboden einzufinden.

Der Herzog kam in seiner Ungeduld zuerst, bald aber erschien auch d’Aragon. Sobald der Prinz ihn sah, machte er ihm bittere Vorwürfe über seine Bemerkungen; der Neapolitaner versuchte nicht zu leugnen, sondern antwortete, er habe allerdings aus Furcht, dem Thronfolger zu mißfallen, ihm ein Zeichen seiner besonderen Hochachtung geben wollen, indem er sich zwei Stunden lang habe verdreschen lassen.

»Gut,« sagte der Großfürst, »aber jetzt werden Sie mich verdreschen, und zwar ohne jede Schonung; sonst lasse ich Sie morgen aus Petersburg ausweisen.«

»Gnädiger Herr, es soll nach den Befehlen Eurer Hoheit geschehen. Sie werden mich nicht ein einziges Mal berühren, aber ich hoffe, Prinz, Sie werden mir darob nicht zürnen, sondern mir im Gegenteil Ihren mächtigen Schutz gewähren.«

Die beiden Kämpen fochten den ganzen Vormittag miteinander, und der Großfürst empfing etwa hundert Stöße, ohne an den Marchese überhaupt herankommen zu können. Schließlich sah der Prinz die Überlegenheit seines Gegners ein, warf sein Florett weg und streckte dem Marchese die Hand entgegen. Er machte AjH ihn zu seinem Fechtmeister und ernannte ihn zum Major in seinem holsteinischen Garderegiment.

Nachdem d’Aragon auf diese Weise sich beim Großfürsten in Gunst gesetzt hatte, erhielt er bald darauf die Erlaubnis, im Palais des Herzogs eine Pharaobank zu halten. In drei oder vier Jahren besaß er hunderttausend Rubel in bar; mit diesen ging er an den Hof des neuen Königs Stanislaus, wo alle Spiele erlaubt waren. In Riga stellte Ste.-Héleine ihn dem Prinzen Karl vor, der ihn bat, am nächsten Tage mit dem Florett gegen ihn und einige Freunde seine Kunst zu zeigen. Ich hatte die Ehre, dabei zu sein. Er verdrosch uns alle ganz gehörig, denn seine Geschicklichkeit war wirklich teufelsmäßig. Es kränkte meine Eitelkeit, von ihm mit jedem Stoß getroffen zu werden, und ich sagte in meiner Empfindlichkeit zu ihm: mit dem blanken Degen in der Hand würde ich ihn nicht fürchten. Er hatte mehr Selbstbeherrschung wie ich und beruhigte mich, indem er mir die Hand hinstreckte und mir sagte: »Mit dem blanken Degen schlage ich mich ganz anders; Sie haben vollkommen recht, wenn Sie im Einzelkampf niemanden fürchten, denn Ihre Fechtweise muß Ihnen Achtung verschaffen.«

Am nächsten Tage reiste d’Aragon ab. Leider fand er in Warschau Griechen, die besser griechisch konnten als er – Gauner, die sich nicht auf dem Fechtboden amüsierten und ihm in weniger als sechs Monaten seine hunderttausend Rubel abnahmen. So geht’s dem Spieler: Es gibt kein dümmeres und niederträchtigeres Gewerbe als berufsmäßiges Spiel.

Acht Tage vor meiner Abreise von Riga, wo ich zwei Monate zubrachte, reiste Campioni mit Unterstützung des trefflichen Prinzen Karl in aller Heimlichkeit ab. Drei oder vier Tage später folgte ihm der Baron von Ste.-Héleine, ohne sich von seinen zahlreichen Gläubigern zu verabschieden. Nur dem Engländer Collins, dem er tausend Taler schuldete, schrieb er ein Briefchen, worin er sagte, als Ehrenmann lasse er seine Schulden an dem Ort, wo er sie gemacht habe. In einigen Jahren werde ich wieder auf diese drei Herren zu sprechen kommen.

Campioni überließ mir seinen Schlafwagen; infolgedessen mußte ich sechsspännig nach Petersburg fahren. Der Abschied von seiner Tochter Betty machte mir großen Kummer, und mit der Mutter unterhielt ich während meines ganzen Petersburger Aufenthalts einen Briefwechsel.

Am 15. Dezember reiste ich bei fünfzehn Grad Kälte von Riga ab; aber ich fühlte die Kälte nicht einen einzigen Augenblick, obgleich ich Tag und Nacht fuhr; denn während der sechzigstündigen Fahrt verließ ich meinen Schlafwagen nicht ein einziges Mal. Um so schnell reisen zu können, hatte ich bereits in Riga alle Posten bis Petersburg bezahlt, und der Gouverneur von Livland, Marschall Brown, hatte mir den Passierschein für die Post ausfertigen lassen. Auf dem Kutschbock hatte ich einen französischen Bedienten, der mich gebeten hatte, mich während meiner Reise bedienen zu dürfen, und dafür keinen anderen Lohn verlangte, als einen Platz neben dem Kutscher. Er hielt sein Versprechen und bediente mich sehr gut. Trotz seiner schlechten Kleidung hielt er zwei Tage und drei Nächte lang die entsetzliche Kälte aus, ohne daß sie ihn zu belästigen schien. Nur ein Franzose kann derartige Temperaturunterschiede aushalten; ein Russe würde in einer so leichten Kleidung wie mein Franzose in vierundzwanzig Stunden erfroren sein, trotz allem Kornbranntwein, den er trinken würde.

Nach der Ankunft in Petersburg verlor ich diesen Franzosen aus den Augen; aber drei Monate darauf begegnete ich ihm wieder: er saß in einem reichen Tressenkleide neben mir an der Tafel des Herrn von Tschernitscheff; er war Uschitel eines jungen Grafen, der an seiner anderen Seite saß. Ich werde noch Gelegenheit haben, von der Stellung zu sprechen, die der Uschitel oder Hofmeister in Rußland einnimmt.

Lambert lag neben mir in meinem Schlafwagen; während der ganzen Reise tat er nichts als essen, trinken und schlafen. Da er stotterte, sprach er niemals ein Wort, wenn er nicht mußte. Außerdem konnte er sich nur über mathematische Probleme unterhalten, und ich war nicht immer in der Laune, mich mit solchen zu beschäftigen. Niemals machte er eine scherzhafte Bemerkung, niemals eine kritische Beobachtung über das, was wir sahen. Er war langweilig, denn er war dumm; aber dieser Eigenschaft verdankte er den Vorzug, sich selber niemals zu langweilen.

Ich wurde wahrend meiner Reise von Riga nach Petersburg nur ein einziges Mal angehalten, nämlich in Narwa, wo ich einen Paß zeigen mußte, den ich nicht besaß. Ich sagte dem Gouverneur: »Als Venetianer, der nur zu seinem Vergnügen reist, habe ich nicht geglaubt, daß ein Paß für mich notwendig ist; denn meine Republik liegt mit keiner anderen Macht im Kriege, und Rußland hat in Venedig keinen Gesandten. Sollte jedoch Eure Exzellenz Schwierigkeiten machen, so werde ich sofort umkehren; aber ich werde mich beim Marschall Brown beklagen, der mir den Passierschein für die Post gegeben hat, obgleich er wußte, daß ich keinen diplomatischen Paß besitze.« Nachdem er sich einen Augenblick die Stirn gerieben hatte, gab der Gouverneur mir einen Passierschein, den ich noch jetzt aufbewahre. Ich bin damit nach Petersburg hineingekommen, ohne daß man mich danach gefragt hat, ja sogar ohne daß man meine Koffer und meinen Wagen durchsuchte.

Zwischen Koporie und Petersburg ist nur ein einziges Nachtlager in einem ärmlichen Hause, das nicht einmal Poststation ist. Das Land ist eine Einöde, und man spricht nicht einmal russisch. Es heißt Ingermannland; die Volkssprache hat, wie ich glaube, mit keiner anderen Sprache etwas gemein. Die Bauern der dortigen Gegend betreiben das Gewerbe, den Reisenden, die nur einen Augenblick ihren Wagen außer acht lassen, alles zu stehlen, was sie können.

Ich kam in Petersburg in dem Augenblick an, wo die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne den Horizont vergoldeten. Da wir uns zur Zeit der Wintersonnenwende befanden, und da ich die Sonne genau um neun Uhr vierundzwanzig Minuten über einer ungeheuren Ebene aufgehen sah, so kann ich versichern, daß die längste Nacht dieser Gegend achtzehn und dreiviertel Stunden dauert.

Ich nahm eine Wohnung in einer großen und schönen Straße, die die Million genannt wird. Man gab mir zu billigem Preise zwei Zimmer, die vollständig leer waren, die man aber im Handumdrehen mit zwei Betten, vier Stühlen und zwei kleinen Tischen möblierte. Da ich Ofen von riesiger Größe sah, so glaubte ich, es sei eine große Menge Holz nötig, um sie zu erwärmen; aber ich irrte mich. Nur in Rußland besitzt man die Kunst, Ofen zu bauen, wie man nur in Venedig Zisternen zu graben versteht. Ich untersuchte im Sommer und mit einer Sorgfalt, wie wenn ich die Absicht gehabt hätte, den Russen diese Kunstfertigkeit zu stehlen – ich untersuchte, sage ich, das Innere eines dieser Ofen. Er war zwölf Fuß hoch und sechs Fuß breit und heizte einen ungeheuren Saal. Ich bewunderte die vernünftige Anlage der Züge. Diese Öfen werden nur einmal in vierundzwanzig Stunden geheizt, weil man eine oben angebrachte Klappe schließt, sobald das ganze Holz in glühende Kohlen verwandelt ist.

Nur bei reichen Herren wird täglich zweimal geheizt, weil es den Bedienten streng verboten ist, jemals die Klappe zu schließen. Der zweifellos sehr vernünftige Grund dieses Verbots ist folgender:

Wenn ein Herr ermüdet von der Jagd oder von einer Reise zurückkehrt und schlafen möchte, befiehlt er seinen Leuten, sein Zimmer zu heizen, um zu Bett gehen zu können. Wenn nun aus Unaufmerksamkeit oder Gedankenlosigkeit der Bediente die Klappe schließt, bevor alles Holz durchgeglüht ist, geht der Herr zu Bett und schläft ein, um nicht wieder aufzustehen: in drei oder vier Stunden gibt er seinem Schöpfer seine Seele zurück, ohne um Hilfe rufen zu können, ohne auch nur die Augen zu öffnen. Wenn man am Morgen das Zimmer betritt, findet man den Herrn erstickt; vergebens sucht man ihn ins Leben zurückzurufen; nun verfolgt man den armen Teufel von Diener, der sich geflüchtet hat, den man aber mit erstaunlicher Leichtigkeit zu finden weiß. Man hängt ihn auf der Stelle auf, ohne seine Verteidigungsgründe auch nur anzuhören. Dies Verfahren der Polizei oder der Justiz ist strenge, ja sogar grausam; aber es ist heilsam und verhindert manches Unglück; denn ohne dasselbe könnte jeder Diener seinen Herrn ad patres schicken, sobald er nur den geringsten Anlaß hätte, sich an ihm zu rächen.

Nachdem ich die Preise für alles abgemacht und alles billig gefunden hatte – was heutzutage nicht mehr der Fall ist, denn jetzt wird alles so teuer bezahlt wie in London – kaufte ich einige Möbel, die ich nicht entbehren konnte, die aber damals in Rußland nicht viel in Gebrauch waren, zum Beispiel eine Kommode, einen Schreibtisch und dergleichen.

Die Umgangssprache in St. Petersburg, ausgenommen in den Kreisen des niedrigsten Volkes, war die deutsche. Ich sprach diese damals nicht besser als heute; es wird mir ziemlich schwer, mich auszudrücken, und meine Zuhörer lachen immer über das, was ich sage. Diese Sprache gehört nun einmal zur russischen Landessitte, aber ich gestehe, daß es mir etwas schwer wurde, mich daran zu gewöhnen.

Nach dem Mittagessen sagte mein Wirt mir, am Abend finde ein Gratis-Maskenball für fünftausend Personen bei Hofe statt und dieser Ball dauere sechzig Stunden. Er gab mir eine Eintrittskarte und sagte mir, ich brauchte diese nur am Eingang zum kaiserlichen Palast vorzuzeigen.

Da ich glaubte, es müßte ganz interessant sein, gleich nach meiner Ankunft eine so zahlreich besuchte Gesellschaft zu sehen, so entschloß ich mich, von der Eintrittskarte Gebrauch zu machen. Ich besaß noch den Domino, den ich in Mitau gekauft hatte, und brauchte nur eine Maske. Ich ließ mich in einer Sänfte hintragen und traf eine Menge Menschen, die in mehreren Sälen nach den Klängen mehrerer Orchester tanzten. Ich fand mehrere Büfetts, die mit Eßwaren und Getränken beladen waren, und wo ein jeder, der Hunger oder Durst hatte, nach Herzenslust aß oder trank. Freude und Freiheit herrschte überall, und die in verschwenderischer Zahl angebrachten Kerzen verbreiteten Helligkeit in jeden Winkel. Ich fand das alles prachtvoll und bewunderungswürdig und bewunderte es um so rückhaltloser, je größer der Gegensatz zu dem Wetter draußen war. Plötzlich hörte ich neben mir eine Maske zu einer anderen sagen: »Da kommt die Zarin. Jetzt werden wir gleich auch Gregor Orloff sehen; denn er hat Befehl, ihr von weitem zu folgen, und trägt einen Domino, der wie Katharinas Domino wohl fünf Kopeken wert ist.«

Ich folgte dieser Maske und gewann bald die Gewißheit, daß es wirklich die Herrscherin war, denn zwanzig Personen zur Linken und zur Rechten wiederholten es; aber niemand tat, wie wenn er sie kenne. Diejenigen, die sie wirklich nicht kannten, stießen sie an, als sie sich so durch das Gedränge schob. Ich stellte mir gern das Vergnügen vor, das sie darüber empfinden mußte; denn hierdurch mußte sie die Überzeugung gewinnen, daß man sie nicht erkannte. Mehrere Male sah ich, wie sie sich neben Leute setzte, die russisch sprachen und sich vielleicht über sie unterhielten. Allerdings setzte sie sich hierdurch einigen Enttäuschungen für ihre Eitelkeit aus. Aber sie verschaffte sich dadurch den unschätzbaren Vorteil, Wahrheiten zu erfahren, die sie von den Höflingen, welche ihr ohne Maske schmeichelten, niemals zu hören hoffen durfte. In einiger Entfernung sah ich stets die Maske, die man als Gregor Orloff bezeichnet hatte. Er verlor sie keine Minute aus den Augen; jedermann erkannte ihn an seinem hohen Wuchs und an der Art, wie er den Kopf vorstreckte.

In einem Saal, wo ein französischer Kontertanz ganz ausgezeichnet getanzt wurde, blieb ich stehen, um mit Vergnügen zuzusehen. Plötzlich sah ich eine Maske in Bahute, Mantel, weißer Larve und aufgeschlagenem Hut eintreten. Der Herr war zu gut kostümiert, um nicht mein Landsmann zu sein, denn ich habe selten gesehen, daß Fremde unsere Tracht so gut nachahmen, um eine Täuschung erregen zu können. Zufällig stellte er sich neben mich.

»Man würde Sie für einen Venetianer halten«, sagte ich auf französisch zu ihm.

»Ich bin es ja auch.«

»Wie ich.«

»Ich scherze nicht.«

»Ich auch nicht.«

»So sprechen wir doch venetianisch!«

»Sprechen Sie nur; ich werde Ihnen antworten.«

Wir sprachen nun miteinander venetianisch, aber an dem Worte sabato Samstag, das man in Venedig sabo ausspricht, erkannte ich, daß er zwar Venetianer war, aber nicht aus der Hauptstadt stammte. Er gab es zu und sagte mir, er erkenne an meiner Sprache mit Bestimmtheit, daß ich aus der Stadt Venedig selbst sei.

»So ist es.«

»Ich glaubte, in Petersburg gäbe es keinen anderen Italiener als Bernardi.«

»Wie Sie sehen, kann man sich täuschen.«

»Ich bin Graf Volpati von Treviso.«

»Geben Sie mir Ihre Adresse; ich werde Sie aufsuchen und Ihnen sagen, wer ich bin; hier kann ich Ihnen das nicht sagen.«

»Meine Adresse? Hier!«

Ich trennte mich vom Grafen und streifte wieder auf diesem eigenartigen Ball herum. Zwei oder drei Stunden später überraschte mich die Stimme einer weiblichen Maske, die im Kreise mehrerer anderer Masken in Falsett nach der Mode der Opernbälle pariserisch sprach.

Die Stimme erkannte ich nicht, aber der Stil ließ mir keinen Zweifel darüber, daß es eine von meinen Bekannten wäre; denn sie gebrauchte dieselben Ausdrücke und Zwischenrufe, die ich in Paris an allen Orten, die ich häufiger besuchte, in die Mode gebracht hatte: oh! la bonne chose! le cher homme! Ich war neugierig, wer das wohl sein möchte; da ich sie aber nicht anreden wollte, bevor ich sie kannte, so wartete ich geduldig, um sie im verstohlenen sehen zu können, wenn sie einmal ihre Maske abnähme. Nach einer Stunde etwa gelang mir dies. Der Leser stelle sich meine Überraschung vor, als ich die Baret erkannte, die Strumpfhändlerin von der Ecke der Rue St. Honoré! Bei ihrem Anblick erwachte meine Liebe von neuem; ich trat auf sie zu und sagte ihr mit Falsettstimme, ich sei ihr Freund vom Hotel d’Elbeuf.

Offenbar wurde sie neugierig; aber sie erriet nicht, wer ich war, und wagte kein Wort zu sagen. Ich flüsterte ihr ins Ohr: Gilbert, Baret, Rue des Prouvères, sowie einige Tatsachen, die nur ihr selber und einem glücklichen Liebhaber bekannt sein konnten.

Als sie sah, daß ich ihre geheimsten Angelegenheiten kannte, ließ sie alle anderen stehen, hängte sich an meinen Arm und bat mich, ihr doch zu sagen, wer ich sei.

»Ich bin Ihr Liebhaber – einstmals sehr glücklicher Liebhaber; bevor ich Ihnen aber mehr sage, bitte ich Sie, mir anzugeben, mit wem Sie hier sind und wie es Ihnen geht.«

»Schön! Aber vor allen Dingen bitte ich Sie, keinem Menschen zu sagen, was Sie von mir wissen! Ich verließ Paris mit Herrn d’Anglade, Parlamentsrat in Rouen. Nachdem ich eine Zeitlang mit ihm ziemlich glücklich gelebt hatte, verließ ich ihn, um dem Direktor einer komischen Oper zu folgen, der mich unter dem Namen l’Anglade als Schauspielerin hierher gebracht hat. Jetzt werde ich vom polnischen Gesandten, Grafen Rzewuski, unterhalten. Und nun, wo Sie alles wissen, sagen Sie mir, bitte, wer Sie sind.«

Da ich sicher war, sie wiederum zu besitzen, nahm ich meine Maske ab. Freudetrunken drückte sie mir die Hände und rief: »Mein guter Engel führt Sie nach Petersburg.«

»Wieso?«

»Rzewuski ist genötigt, nach Polen zurückzukehren; ich kann mich daher nur Ihnen anvertrauen, damit Sie es mir möglich machen, Rußland zu verlassen; denn ich kann es hier nicht mehr aushalten, da ich einen Beruf ausüben muß, für den ich wohl nicht geboren bin: denn ich kann weder singen noch Komödie spielen.«

Sie gab mir ihre Adresse, und ich verließ sie, hocherfreut über meine Entdeckung. Nachdem ich eine halbe Stunde an einem Büfett verbracht hatte, wo ich einige Leckerbissen aß und französische Weine trank, mischte ich mich wieder unter die Menge und sah meine schöne l’Anglade mit Bolpati plaudern. Er hatte sie mit mir gesehen und war sofort zu ihr gegangen, um zu erfahren, wer ich sei; sie war jedoch verschwiegen, wie ich es von ihr zum Lohn für meine eigene Diskretion verlangt hatte, und hatte ihm gesagt, ich sei ihr Gemahl; mit diesem Namen rief sie mich an, indem sie sagte, die neugierige Maske wolle es nicht glauben, obwohl es doch wahr sei.

Ermüdet verließ ich gegen Morgen den Ball; ich legte mich mit der Absicht zu Bett, in der Frühe aufzustehen, um in die Messe zu gehen. Nachdem ich eine gute Weile geschlafen hatte, wachte ich auf; da ich aber alles noch dunkel sah, drehte ich mich auf die andere Seite und schlief wieder ein, endlich wachte ich zum zweiten Male auf; da ein schwaches Tageslicht durch mein Doppelfenster drang, so stand ich auf und ließ einen Friseur holen. Ich sagte meinem Bedienten, er solle sich beeilen, denn ich wolle die Messe hören, weil heute der erste Sonntag meines Petersburger Aufenthalts sei.

»Aber, gnädiger Herr, der erste Sonntag war ja gestern; heute haben wir Montag.«

»Wie? Montag?«

»Gewiß, gnädiger Herr.«

Ich hatte siebenundzwanzig Stunden geschlafen. Nachdem ich herzlich über meinen Irrtum gelacht hatte, überzeugte ich mich bald von der Richtigkeit der Tatsache, denn ich verspürte einen Wolfshunger.

Das ist der einzige Tag in meinem Leben, wovon ich sagen kann, daß ich ihn wirklich verloren habe, aber ich werde darüber nicht weinen, wie der römische Kaiser, sondern ich lache darüber; freilich ist das nicht der einzige Unterschied zwischen Titus und Casanova.

Ich ging zu dem griechischen Kaufmann Demetrio Papanelopulo, bei dem ich für hundert Rubel monatlich akkreditiert war. Außerdem war ich von Herrn da Loglio an ihn empfohlen worden. Er nahm mich ausgezeichnet auf und bat mich, jeden Tag bei ihm zu speisen; die fällige Monatsrate zahlte er mir sofort aus, zeigte mir, daß er meinen Mitauer Wechsel eingelöst hatte, und besorgte mir einen Bedienten, für dessen Treue er mir bürgte, sowie ein Mietsfuhrwerk für achtzehn Rubel monatlich, etwas mehr als sechs Dukaten. Eine Billigkeit, die heutzutage nicht mehr vorhanden ist.

Am nächsten Tage speiste ich bei dem braven Griechen mit dem jungen Bernardi, dem Sohn des Bernardi, der aus Verdachtsgründen, die von der Weltgeschichte bestätigt oder widerlegt werden mögen, vergiftet wurde. Als der Nachtisch aufgetragen wurde, kam Graf Volpati und erzählte, er habe auf dem Ball einen Venetianer getroffen, der ihm versprochen hatte, ihn aufzusuchen.

»Dieser Venetianer, Herr Graf, würde sein Versprechen gehalten haben, wenn er nicht nach dem Ball siebenundzwanzig Stunden geschlafen hätte. Dieser Venetianer bin ich, und ich bin entzückt, hier meine Bekanntschaft mit Ihnen zu vervollständigen.«

Der Graf wollte abreisen; seine Abreise war bereits in der Petersburger Zeitung angekündigt, wie es damals in Rußland Vorschrift war. Niemand bekam einen Paß früher als vierzehn Tage, nachdem seine Abreise öffentlich angekündigt war. Infolgedessen geben die Kaufleute Fremden gern Kredit, während die Fremden es sich zweimal überlegen, bevor sie Schulden machen.

Am nächsten Tage überbrachte ich einen Brief an den damaligen Oberst und späteren Artillerie-General Pietro Iwanowitsch Melissino. Der Brief war von Madame da Loglio, die mit ihm sehr befreundet gewesen war. Er empfing mich aufs beste, stellte mich seiner sehr liebenswürdigen Gemahlin vor und lud mich ein für allemal ein, jeden Abend bei ihnen zu speisen. Sein Haushalt war nach französischer Art eingerichtet: man spielte, man soupierte in zwangloser Weise. Ich lernte bei ihm auch seinen älteren Bruder kennen, Prokurator des Synods; dieser war mit einer Fürstin Dolgorucki verheiratet. Es wurde Pharao gespielt, und die Gesellschaft bestand nur aus zuverlässigen Leuten, die sich weder über ihre Verluste beklagten, noch sich ihrer Gewinne rühmten. Man war daher sicher, daß die Regierung niemals die Verletzung des Spielverbotes entdecken würde. Die Bank hielt Baron Lefort, ein Sohn des berühmten Admirals Peters des Großen. Dieser Lefort war ein Beispiel für die Unbeständigkeit des Glückes: er war damals in Ungnade wegen einer Lotterie, die er gelegentlich der Krönung der Kaiserin in Moskau veranstaltet hatte; die Zarin selber hatte ihm die Mittel dazu geliefert, um ihrem Hof ein kleines Vergnügen zu machen. Aus Mangel an guter Leitung war die Lotterie in die Luft geflogen, und die Verleumdung hatte dem Baron schuld daran gegeben.

Ich spielte an jenem Abend mit bescheidenen Einsätzen und gewann ein paar Rubel. Beim Essen saß ich neben dem Baron Lefort und wurde mit ihm näher bekannt; nachdem ich ihn später mehrere Male freundschaftlich besucht hatte, weihte er mich in seine Verhältnisse ein.

Während wir vom Spiel sprachen, pries ich die edle Gleichgültigkeit, womit ein gewisser Fürst tausend Rubel an ihn verloren hatte. Er lachte und sagte mir, der schöne Spieler, dessen vornehme Gleichgültigkeit ich bewundere, spiele auf Kredit, bezahle aber nicht.

»Aber die Ehre?«

»Die Russen haben ihre besondere Auffassung von Ehre, und wenn einer seine Schulden nicht bezahlt, so leidet darunter seine Ehre nicht. Es ist eine stillschweigende Bedingung, daß derjenige, der auf Wort verliert, nur bezahlt, wenn er will; der Gewinner würde sich lächerlich machen, wenn er ihn an seine Schuld erinnern würde.«

»Ohne Zweifel hat aber dafür ein Bankhalter das Recht, unbare Sätze zurückzuweisen?«

»Selbstverständlich. Niemand darf sich dadurch beleidigt fühlen. Der Spieler entfernt sich oder gibt Pfänder, übrigens ist die Verderbnis unter den Spielern in Rußland so hoch gestiegen, daß man solche Dinge, wie sie hier vorkommen, anderswo in ganz Europa kaum in einer Diebeshöhle antreffen würde. Ich kenne junge Leute vom höchsten Adel, die damit renommieren, daß sie das Glück zu meistern verstehen – mit anderen Worten: daß sie betrügen. Ein Matuschkin hat sogar alle fremden Betrüger herausgefordert, ihm etwas abzugewinnen. Er hat soeben die Erlaubnis erhalten, drei Jahre lang im Ausland zu reisen, und er machte lein Geheimnis daraus, daß er draußen seine Geschicklichkeit auszuüben gedenkt. Er hat sich vorgenommen, mit reicher Beute nach Rußland zurückzukehren.«

Ein junger Gardeoffizier, namens Zinowieff, ein Verwandter der Orloffs, den ich bei Melissino getroffen hatte, verschaffte mir die Bekanntschaft des englischen Gesandten Macartney, eines schönen und geistvollen jungen Mannes, der ein großer Freund des Vergnügens war. Er hatte sich in ein Fräulein von Schitroff, eine Hofdame der Kaiserin, verliebt; und da die Schöne dieser Liebe gegenüber nicht unempfindlich geblieben war, so war ein Püppchen das Ergebnis gewesen. Die Kaiserin hatte diese englische Freiheit sehr unverschämt gefunden; der Sünderin verzieh sie allerdings, aber sie ließ den Verführer abberufen. Diese Nachsicht der Zarin, wurde dem Umstände zugeschrieben, daß Fräulein von Schitroff das Talent hatte, sehr anmutig auf der kaiserlichen Bühne zu tanzen. Ich kannte den Bruder dieser Hofdame, einen sehr jungen und sehr schönen Offizier, der zu guten Hoffnungen berechtigte. Ich hatte den Vorzug, zu einer Hofaufführung zugelassen zu werden, und sah bei dieser Gelegenheit Fräulein von Schitroff tanzen. Ferner tanzte das schöne Fräulein Sievers, die jetzige Fürstin von ***, die ich vor vier Jahren mit ihrer Tochter, einer sehr gut erzogenen jungen Prinzessin, in Dresden wiedersah. Dieses Fräulein Sievers bezauberte mich. Ich verliebte mich in sie; da ich ihr aber niemals vorgestellt wurde, so habe ich es ihr niemals sagen können. Der Kastrat Putini besaß ihre Gunst, und er verdiente sie ebensosehr durch sein Talent wie durch seinen Geist und seine persönlichen Vorzüge.

Der gute Papanelopulo machte mich mit dem Minister Alsuwieff bekannt. Dies war ein geistvoller Mann, dick und fett und der einzige Gelehrte, den ich in Rußland kennen gelernt habe. Er hatte in Upsala gute Studien gemacht, liebte die Frauen, den Wein und eine gute Tafel. Er lud mich ein, bei Locatelli in Katharinenhof zu speisen; dies war ein kaiserliches Lustschloß, das die Zarin dem alten Theaterdirektor auf Lebenszeit überlassen hatte. Er war verwundert, mich zu sehen, und ich war noch viel mehr verwundert, als ich sah, daß er Restaurateur geworden war; denn für einen Rubel, ohne den Wein, gab er jedem, der kam, ein ganz ausgezeichnetes Essen. Herr Alsuwieff machte mich auch mit seinem Kollegen, dem Kabinettssekretär Teploff, bekannt; dieser hatte das Laster, hübsche Knaben zu lieben, und das Verdienst, Peter den Dritten erdrosselt zu haben, als dieser durch den Genuß von Limonade die Wirkungen des Arseniks beseitigt hatte, das man ihm in einer Flasche Burgunder hatte trinken lassen. Die Tänzerin Mécour, der ich einen Brief von der Santina überwacht hatte, machte mich mit ihrem Liebhaber bekannt, dem dritten Kabinettssekretär Yelagin, der zwanzig Jahre in Sibirien verbracht hatte.

Ein Brief von da Loglio verschaffte mir die freundlichste Aufnahme von Seiten des Kastraten Luini, eines liebenswürdigen Menschen, bei dem man ausgezeichnet speiste. Er war der Geliebte der sehr tüchtigen ersten Tänzerin Colonna; aber sie schienen nur zusammen zu sein, um sich zu quälen, denn nicht einen einzigen Tag sah ich sie einträchtig. Bei ihm machte ich die Bekanntschaft eines anderen sehr liebenswürdigen Kastraten, namens Millico, eines sehr guten Freundes des Großjägermeisters Narischkin. Da Millico oftmals mit Achtung von mir sprach, wünschte er mich ebenfalls kennen zu lernen. Dieser Narischkin, ein liebenswürdiger und ziemlich gebildeter Herr, war der Gatte der berühmten Maria Paulowna.

An der prunkvollen Tafel des Großjägermeisters lernte ich den Kalogero Platon kennen, der jetzt Erzbischof von Nowgorod ist. Damals war er Hofprediger der Kaiserin. Dieser schlaue Mönch verstand griechisch, sprach lateinisch und französisch, hatte Geist und war, was man einen schönen Mann nennen kann; es war nicht zu verwundern, daß er in Rußland sein Glück machte; denn in diesem Lande hat der Adel sich niemals dazu herbeilassen wollen, sich um geistige Würden zu bewerben.

Da ich einen Brief von da Loglio für die Fürstin Daschkoff hatte, brachte ich ihn ihr nach ihrem drei Werst von Petersburg gelegenen Landgut, wo sie in der Verbannung lebte, weil sie geglaubt hatte, den Thron, den Katharina mit ihrer Hilfe bestiegen hatte, mit der Zarin teilen zu dürfen. Die große Katharina konnte den Ehrgeiz der früheren Freundin nicht befriedigen und mußte ihn daher tödlich kränken.

Ich fand die Fürstin in Trauer wegen des Todes ihres Gemahls. Sie empfing mich mit großer Güte und versprach mir, meinetwegen mit Herrn Panin zu sprechen. Drei Tage darauf schrieb sie mir, ich könne mich diesem hohen Herrn vorstellen, sobald ich wolle. Bei dieser Gelegenheit sah ich, daß die Zarin ein großer Mensch war: sie hatte die Fürstin in Ungnade fallen lassen, aber sie hielt ihren Günstling und ersten Minister nicht ab, ihr jeden Abend seinen Besuch zu machen. Ich habe von glaubwürdigen Leuten gehört, Graf Panin sei nicht der Liebhaber, sondern der Vater der Fürstin Daschkoff gewesen; diese ist jetzt Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften, und ohne Zweifel haben die Gelehrten in ihr eine zweite Minerva erkennen müssen, denn sonst würden sie wahrscheinlich darüber erröten, daß eine Frau an ihrer Spitze steht. Man braucht den Russen nur noch eine Frau zu wünschen, die ihr Heer kommandieren kann; aber die Jungfrauen von Orléans sind nicht reichlich.

Am Dreikönigstage wohnte ich mit Melissino einer ganz außerordentlichen Feier bei, nämlich der Einsegnung des Wassers der Newa, die damals mit fünf Fuß dickem Eis bedeckt war.

Nachdem das Wasser gesegnet ist, tauft man darin Kinder, indem man sie in ein großes Loch im Eise eintaucht. An jenem Tage geschah es, daß dem Popen ein Kind, das er taufen sollte, aus den Händen glitt. »Drugoi!« rief er. Das hcißt: »Gebt mir ein anderes.«

Man stelle sich meine Überraschung vor, als ich Vater und Mutter des verunglückten Kindes freudetrunken sah! Sie waren überzeugt, daß ihr Kind auf geradem Wege zum Himmel emporgeflogen sei. Glückliche Unwissenheit!

Ich hatte einen Brief von der Florentinerin Bregonci, die mich in Memel zum Abendessen eingeladen hatte, an ihre Freundin, die Venetianerin Roccolini. Diese hatte die Laune gehabt, Venedig zu verlassen, um an der Petersburger Oper zu singen, obgleich sie keine Note kannte und niemals vorher die Bühne betreten hatte. Die Kaiserin hatte über ihre Torheit gelacht und ihr sagen lassen, sie habe keine Stellung zu vergeben, die ihrem besonderen Talent entspreche. Die Roccolini, die man die Vicenza nannte, war nicht die Frau, sich durch eine solche Kleinigkeit entmutigen zu lassen. Sie schloß eine enge Freundschaft mit einer französischen Kaufmannsfrau, namens Proté, die bei dem Großjägermeister wohnte. Diese Proté war gleichzeitig die Geliebte des Großjägermeisters und die Vertraute seiner Frau, Marin Puulowna, die ihren Mann nicht liebte und daher glücklich war, daß die Französin sie von ihren ehelichen Verpflichtungen befreite.

Diese Proté war eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe, und ohne Zweifel die schönste, die es damals in Petersburg gab. In der Blüte ihrer Jahre stehend, vereinigte sie mit dem galantesten Wesen den ausgesuchtesten Geschmack in der Kunst der Kleidung. Keine Frau wußte sich so anzuziehen wie sie, und da sie sehr lustig und in Gesellschaft außerordentlich liebenswürdig war, so war sie überall beliebt. Die Vicenza war nun ihre Freundin, Vertraute und Kupplerin geworden. Sie empfing in ihrer Wohnung die Kavaliere, die sich in die Proté verliebt hatten, und die zu erhören der Mühe wert erschien. Die Proté kam dabei auf ihre Rechnung, und die Vermittlerin verlor nichts, denn sie empfing von allen Seiten.

Ich erkannte die Signora Roccolini auf den ersten Blick wieder; da aber seit unserer Bekanntschaft schon etwa zwanzig Jahre verflossen waren, so wunderte sie sich nicht, daß ich so tat, wie wenn ich mich nicht mehr erinnerte, und suchte auch nicht mein Gedächtnis aufzufrischen. Ihr Bruder hieß Montellato; er hatte mich eines Nachts, als ich vom Ricotto kam, mitten auf dem Markusplatze ermorden wollen. Bei der Roccolini hatte man das Komplott geschmiedet, das mir das Leben gekostet hätte, wenn ich einen Augenblick gezögert hätte, durch das Fenster auf die Straße zu springen.

Die Roccolini empfing mich, wie man eben einen lieben Landsmann in der Fremde begrüßt. Sie erzählte mir im einzelnen alles Unglück, das sie gehabt hatte, aber sie war stolz auf ihren Mut und sagte zu mir: »Ich brauche keinen Menschen und verkehre vergnügt und guter Dinge mit den liebenswürdigsten Damen von St. Petersburg. Da Sie oft beim Großjägermeister Narischkin speisen, so wundere ich mich, daß Sie dort noch nicht die schöne Madame Proté kennen gelernt haben; denn sie ist ja mit Narischkin ein Herz und eine Seele. Kommen Sie morgen zum Kaffee zu mir; Sie werden ein Wunder sehen!«

Ich stellte mich pünktlich ein und fand die Dame noch weit erhaben über das Lob, das die Venetianerin ihr gezollt hatte. Ich war von ihr geblendet; da ich aber nicht mehr reich war, so bot ich meinen Geist auf, um mich bei ihr in Gunst zu setzen.

Obwohl ich wußte, wie sie hieß, fragte ich sie nach ihrem Namen. Sie antwortete mir: »Proté.«

»Sie könnten mir, meine Gnädige, nichts Angenehmeres sagen, denn Sie haben mir soeben gesagt, daß Sie mir gehören.«

»Wieso?« fragte sie mit einem reizenden Lächeln.

Ich erklärte ihr das lateinische Wortspiel (Pro te) und sie lachte darüber. Nachdem ich ihr allerlei angenehme Dinge gesagt hatte, gab ich ihr offen zu erkennen, welche Wirkung ihre Schönheit auf mich ausgeübt hatte, und sprach die Hoffnung aus, daß ich sie mit der Zeit durch meine Bewerbungen gewinnen könnte. Die Bekanntschaft war gemacht, und seitdem sprach ich jedesmal entweder vor oder nach dem Essen bei ihr vor, wenn ich zu Narischkin ging.

Da der polnische Gesandte um diese Zeit nach seiner Heimat zurückkehrte, mußte ich meine Liebschaft mit der schönen l’Anglade aufgeben, denn sie nahm einen vorteilhaften Vorschlag an, den ein Graf Braun ihr machte. Einige Monate später starb die reizende Französin an den Pocken. Ohne Zweifel war dies für sie eine Wohltat des Schicksals; denn da sie weder sparsam noch eigennützig war, hätte sie im Elend enden müssen, sobald ihre Schönheit ihr nicht mehr den Unterhalt verschaffen konnte.

Ich hatte Lust, die Gunst der schönen Proté zu erwerben, und lud sie daher nach Katharinenhof zum Speisen bei Locatelli ein; außerdem bat ich Luini, die Colonna, den Gardeoffizier Zinowieff, die Signora Vicenza und deren Liebhaber, einen Geigenvirtuosen. Wir hatten ein ausgezeichnetes Essen; Wein und Fröhlichkeit brachten die Gäste in die von mir gewünschte Stimmung, so daß nach der Mahlzeit ein jeder mit der Seinen die Einsamkeit suchte; bald war ich bei meiner schönen Proté auf dem besten Wege zum Erfolge, als ein Zwischenfall uns störte. Luini rief uns heran, um ihn als Jäger zu bewundern; denn er hatte seine Gewehre mitgebracht und seine Hunde kommen lassen.

Ich hatte mich mit Zinowieff etwa hundert Schritte vom Kaiserlichen Lustschloß entfernt, als ich eine junge Bäuerin von wahrhaft überraschender Schönheit entdeckte. Ich machte den jungen Offizier auf sie aufmerksam, und wir gingen auf sie zu; aber leicht und gewandt wie ein Reh lief sie davon und trat in eine nahe gelegene Hütte ein. Wir folgten ihr und sahen in der Hütte ihren Vater, ihre Mutter, mehrere Kinder und die Schöne, die sich in eine Ecke gedrückt hatte, wie ein Kaninchen, das Angst hat, von der verfolgenden Meute zerrissen zu werden.

Zinowieff – der, nebenbei bemerkt, derselbe ist, der zwanzig Jahre lang in Madrid Gesandter der Kaiserin war – sprach ziemlich lange Zeit russisch mit dem Vater. Natürlich verstand ich nichts davon, aber ich erriet, daß von dem jungen Mädchen die Rede war, denn der Vater rief sie heran, und sie trat mit gehorsamer und unterwürfiger Miene heran und stand mit gesenkten Augen vor uns.

Nachdem er ziemlich lange gesprochen hatte, ging Zinowieff hinaus; ich gab dem Bauern einen Rubel und folgte meinem Freunde. Zinowieff gab mir Bericht über sein langes Gespräch: er habe den Vater gefragt, ob er ihm seine Tochter als Magd geben wolle, der Vater habe ihm geantwortet, das wolle er sehr gern tun, aber er verlange hundert Rubel für sie, weil sie noch Jungfrau sei. »Es ist also, wie Sie sehen, nichts dabei zu machen.«

»Wieso nichts zu machen?«

»Natürlich nicht. Hundert Rubel!«

»Und wenn ich Lust hätte, dieses Geld zu geben?«

»Dann wäre sie Ihre Magd, und Sie könnten mit ihr anfangen, was Sie wollten; nur töten dürfen Sie sie nicht.«

»Und wenn sie nicht wollte?«

»Das kommt niemals vor; aber dann könnten Sie sie prügeln.«

»Nehmen wir an, sie sei einverstanden: könnte ich sie noch weiter behalten, wenn ich sie nach meinem Geschmack gefunden hätte?«

»Sie werden ihr Herr, sage ich Ihnen; Sie können sie sogar festnehmen lassen, wenn sie Ihnen fortläuft; oder sie muß Ihnen die hundert Rudel wiedergeben, die Sie für sie ausgegeben haben.«

»Und was muß ich ihr monatlich geben?«

»Nichts. Sie bekommt nur Essen und Trinken, und Sie müssen sie jeden Samstag baden lassen, damit sie Sonntags in die Kirche gehen kann.«

»Und könnte ich sie zwingen, mit mir zu kommen, wenn ich von Petersburg fortginge?«

»Nein; es wäre denn, daß Sie gegen Bürgschaft die Erlaubnis dazu erhielten; denn das Mädchen wird zwar Ihre Leibeigene, aber sie bleibt darum doch in erster Linie Leibeigene der Kaiserin.«

»Gut. Wollen Sie mir diese Sache in Ordnung bringen? Ich werde die hundert Rubel geben und sie gleich mitnehmen. Ich verspreche Ihnen, sie nicht als Leibeigene zu behandeln. Aber ich verlasse mich auf Sie; ich möchte nicht gerne betrogen werden.«

»Ich werde selber den Handel abschließen und verspreche Ihnen, daß man Sie nicht betrügen wird. Soll es gleich geschehen?«

»Nein, morgen. Denn ich wünsche nicht, daß unsere Gesellschaft etwas davon erfährt.«

»Schön; also morgen.«

»Wir fuhren alle zusammen in einem großen Phaeton nach Petersburg zurück. Am anderen Morgen ging ich um neun Uhr zu Zinowieff, der, wie er sagte, entzückt war, mir diesen kleinen Dienst leisten zu können. Unterwegs sagte er mir: »Wenn Sie Lust haben , bringe ich Ihnen in ein paar Tagen einen Harem von soviel schönen Mädchen zusammen, wie Sie wünschen.«

»Wenn ich verliebt bin, brauche ich nur eine.«

Mit diesen Worten gab ich ihm die hundert Rubel. Wir gingen in die Hütte und fanden Vater, Mutter und Tochter. Zinowieff sagte ihm in wenigen Worten, worum es sich handelte; der Vater dankte nach dem Landesbrauch dem heiligen Nikolaus für das Glück, das er ihm bescherte; hierauf sprach er mit seiner Tochter, die mich ansah und auf russisch »ja« sagte. Dies Wort verstand ich.

Zinowieff sagte mir, ich müsse mich überzeugen, daß sie unberührt sei; denn bei der Unterzeichnung des Vertrages müsse ich anerkennen, daß ich sie als Jungfrau gekauft habe. Ich fürchtete sie dadurch zu beleidigen und wies daher jede Untersuchung zurück, aber Zinowieff sagte mir, das Mädchen würde gekränkt sein, wenn ich sie nicht untersuchte; ich würde ihr im Gegenteil ein großes Vergnügen bereiten, wenn sie dadurch ihre Eltern überzeuge könnte, daß sie keusch geblieben wäre. Ich untersuchte sie daher so zartfühlend, wie ich nur konnte, aber ganz gründlich, und fand sie unberührt. Allerdings würde ich sie sicherlich nicht verraten haben, selbst wenn ich sie nicht als Jungfrau gefunden hätte.

Zinowieff übergab hierauf die hundert Rubel dem Vater, der sie seiner Tochter gab; diese aber nahm sie nur, um sie sofort ihrer Mutter zu reichen. Mein Bedienter und mein Kutscher traten ein und unterschrieben als Zeugen den Vertrag, von dessen Inhalt sie keine Ahnung hatten.

Das junge Mädchen, dem ich den Namen Zaïra gab, stieg in ihrem groben Tuchrock und ohne Hemd in unseren Wagen und fuhr mit uns nach Petersburg. Nachdem ich Zinowieff nach Hause gebracht hatte, fuhren wir zu mir. Vier Tage lang schloß ich mich mit ihr ein und wich nicht einen Augenblick von ihrer Seite, bis ich sie ohne Luxus, aber sehr sauber nach französischer Art gekleidet sah. Es war mir sehr schmerzlich, daß ich nicht Russisch konnte, aber in weniger als drei Monaten verstand Zaïra genug Italienisch, um mich verstehen zu können und um mir alles zu sagen, was sie wünschte. Es dauerte nicht lange, so liebte sie mich, später wurde sie eifersüchtig. Aber davon werden wir im nächsten Kapitel sprechen.

Zwölftes Kapitel


Eigentümlichkeiten der Engländer. – Castelbajac. – Graf Schwerin. – Meine Tochter Sophie in Pension. – Die Charpillon.

Ich verbrachte eine jener Nächte, die wie ein beständiges Alpdrücken sind. Traurig und düster stand ich auf; ich war in einer Stimmung, daß ich einen Menschen hätte totschlagen oder auf Herzaß um sein Lebm hätte spielen mögen. Das Dach meines Hauses, das mir bis dahin so schön vorgekommen war, schien mit seinem ganzen Gewicht auf meiner Brust zu lasten. Ich ging aus, ohne an meinen Anzug zu denken; denn ich zog mechanisch meine Reisekleider wieder an. Der Anblick von etwa zwanzig Personen, die in einem Kaffeehause Zeitungen lasen, zog mich an, und ich trat ein.

Ich setzte mich an einen Tisch, den ich zufällig frei fand, und da ich kein Englisch verstehe, beobachtete ich die Gäste, wie sie kamen und gingen. Nach einigen Minuten wurde jedoch meine Aufmerksamkeit durch die Stimme eines Mannes erregt, der französisch sprach und an einen anderen folgende Worte richtete: »Tommy hat sich das Leben genommen, und daran hat er meiner Seel‘ recht getan, denn seine Vermögensverhältnisse waren in der allerschlimmsten Unordnung. Wenn er weitergelebt hätte, wäre er sehr unglücklich geworden.«

»Da irren Sie sich ganz und gar«, sagte der andere mit doktoraler Ruhe. »Da er auch mir schuldig war, war ich gestern dabei, als das Inventar seines Vermögens aufgenommen wurde, und da hat ein jeder sich überzeugen können, daß er einen wahren Anfängerstreich gemacht hat; denn er konnte noch sechs Monate warten, bis er sich das Leben nahm, und hätte trotz der Unordnung seiner Verhältnisse sich’s sehr wohl sein lassen können.«

über diese Art des Rechnens würde ich gelacht haben, wenn ich in einer weniger düsteren Stimmung gewesen wäre; aber es ist eine Tatsache, daß dieses Gefühl negativer Heiterkeit mir gut tat. Ich überlasse es den Physiologen, festzustellen, wie auf einen Menschen eine solche Wirkung hervorgebracht werden kann, daß er aus dem Zustande von Betäubung, worin ihn ein großer Verlust versetzt, in einen Zustand von Gleichgültigkeit übergeht, worin er sich besser befindet.

Ich verließ das Kaffeehaus, ohne ein Wort gesprochen oder auch nur etwas verzehrt zu haben, und ging nach der Börse, um mir Geld geben zu lassen. Bosanquet gab mir sofort so viel, wie ich verlangte, und begleitete mich hierauf. Da ich einen Herrn sah, dessen Gesicht mich interessierte, fragte ich ihn: »Wer ist dieser Herr?«

»Das ist ein Mann, der hunderttausend Pfund wert ist.«

»Und wer ist jener?«

»Das ist einer, der keine zehn wert ist.«

»Aber ich frage Sie ja nicht, wieviele Pfund Sterling die Herren wert sind, sondern ich frage Sie nach ihren Namen.«

»Den weiß ich nicht.«

»Aber wie können Sie ihren Wert abschätzen, ohne ihren Namen zu kennen?«

»Hier macht der Name nichts aus, der Wert aber alles. Einen Menschen kennen heißt: wissen, über welchen Betrag er verfügen kann. Was kommt es denn auch auf einen Namen an? Verlangen Sie von mir tausend Pfund und quittieren Sie darüber in meiner Gegenwart mit dem Namen Attila oder Sokrates – mir genügt das. Sie werden nicht als Seingalt, sondern als Sokrates oder Attila bezahlen, und wir werden lachen.«

»Aber wenn Sie Wechsel unterschreiben?«

»Das ist etwas anderes, denn diese muß ich mit demselben Namen unterzeichnen, den der Aussteller mir gibt.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie sind eben kein Engländer und kein Kaufmann.«

»Allerdings nicht.«

Von ihm begab ich mich nach dem Park; da ich aber vorher noch eine Banknote von zwanzig Guineen wechseln wollte, ging ich zu einem reichen Kaufmann, einem Lebemann, den ich im Gasthof kennen gelernt hatte. Ich warf eine Banknote auf seinen Tisch und bat ihn, mir dafür Goldstücke zu geben.

»Kommen Sie in einer Stunde wieder,« sagte er; »ich habe in diesem Augenblick kein Geld hier.«

»Gut; ich werde wieder vorsprechen, wenn ich vom Park zurückkomme.«

»Nehmen Sie Ihre Banknote wieder und geben Sie sie mir, wenn ich Ihnen die zwanzig Goldstücke auszahle.«

»Das ist einerlei. Behalten Sie sie nur; ich zweifle nicht an Ihrer Rechtschaffenheit.«

»Das ist Unsinn, lieber Freund; denn wenn Sie mir die Banknote hierlassen, werde ich Ihnen kein Geld mehr geben, wäre es auch nur, um Ihnen eine Lehre zu verabfolgen.«

»Ich halte Sie einer unredlichen Handlung nicht für fähig.«

»Ich bin es auch nicht; aber wenn es sich um eine so einfache Sache handelt, wie die, eine Banknote in die Tasche zu stecken, was durchaus keine Mühe macht, dann kann der redlichste Mensch glauben, er habe den Gegenwert dafür gegeben, und ein kleiner Irrtum des Gedächtnisses könnte zu einem Streit führen, bei welchem Sie sicherlich unterliegen müßten; denn man würde Ihnen ins Gesicht lachen, falls Sie etwa klagen sollten.«

»Ich fühle die Richtigkeit Ihrer Gründe, besonders in einer Stadt, wo man den Kopf fortwährend voll von Gedanken hat.«

Im Park fand ich Martinelli, dem ich für seinen Decamerone dankte; er hatte mir das Buch inzwischen gesandt. Er beglückwünschte mich zu meinem Wiedererscheinen in der Gesellschaft und zu der schönen Dame, deren glücklicher Besitzer und gewiß auch Sklave ich geworden sei. »Lord Pembroke hat sie gesehen und hat sie reizend gefunden.«

»Wie? Was sagen Sie da? Wo hat er sie gesehen?«

»Mit Ihnen in einem vierspännigen Wagen; Sie fuhren in scharfem Trab nach Rochester zu. Es ist etwa drei oder vier Tage her.«

»Schön, mein lieber Martinelli; jetzt kann ich es Ihnen ja sagen: ich brachte sie nach Calais und werde sie niemals wiedersehen.«

»Werden Sie Ihre Wohnung wieder zu denselben Bedingungen vermieten?«

»Nein, niemals wieder – obgleich der Gott der Liebe mich sehr gnädig behandelt hat. Sie werden mir ein Vergnügen machen, wenn Sie zu mir kommen, so oft Sie Lust haben.«

»Muß ich mich vorher anmelden?«

»Nein, für meine Freunde speist Lukullus bei Lukullus.«

Wir setzten unseren Spaziergang fort, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, und sprachen von Literatur und allerlei Gebräuchen. Plötzlich bemerkte ich in der Nähe von Buckingham-House zu meiner Linken im Gebüsch fünf oder sechs Personen, die ein dringendes Bedürfnis verrichteten und dabei den Vorübergehenden den Hintern zukehrten. Diese Stellung erschien mir empörend unanständig, und ich sprach Martinelli gegenüber meinen Abscheu aus, indem ich besonders bemerkte, diese schamlosen Menschen müßten doch zum mindesten den Vorübergehenden ihr Gesicht zukehren.

»Keineswegs!« rief er; »denn dann würde man sie vielleicht erkennen, und ganz sicherlich würde man sie ansehen, während sie durchaus keine Gefahr laufen, erkannt zu werden, wenn sie nur ihren Hintern den Blicken preisgeben; außerdem nötigen sie dadurch jeden einigermaßen zartfühlenden Menschen, seine Blicke von ihnen abzuwenden.«

»Ich erkenne Ihre Gründe als richtig an, mein lieber Freund, aber Sie werden es natürlich finden, daß so etwas einen Ausländer empört.«

»Natürlich; in allen Ländern wurzeln die besonderen Gebräuche sich ebenso fest ein wie die Vorurteile. Sie haben wohl schon bemerkt, daß ein Engländer, der auf der Straße seine Schleusen öffnen muß, nicht wie bei uns in einen Gang tritt oder sich an eine Tür stellt oder einen Prellstein als Deckung benutzt?«

»Ja, ich habe gesehen, daß Leute sich nach der Mitte der Straße wandten; aber wenn sie es auf diese Weise vermeiden, von den Leuten gesehen zu werden, die auf den Bürgersteigen oder in den Läden sind, so werden sie dafür von denen gesehen, die vorüberfahren, und das ist doch auch nicht richtig.«

»Wer zwingt denn die Herrschaften, die bequem im Wagen fahren, hinzusehen?«

»Das ist allerdings auch wieder wahr.«

Wir gingen bis zum Greenpark und trafen dort Lord Pembroke, der einen Spazierritt machte. Sobald er mich sah, hielt er an und erhob ein lautes Geschrei. Ich erriet die Ursache seiner Überraschung und sagte ihm, ohne seine Frage abzuwarten: »Ich habe zu meinem großen Bedauern meine Freiheit wiedererlangt und fühle mich an meiner guten Tafel sehr vereinsamt.«

»Ich bin ein wenig neugierig, mein lieber Seingalt, und werde vielleicht heute zu Ihnen kommen und Ihnen Gesellschaft leisten.«

Wir trennten uns, und da ich darauf rechnete, daß ich ihn zum Mittagessen bei mir sehen würde, so ging ich nach Hause, um meinem Koch zu sagen, ich würde im Apollosaale speisen. Martinelli hatte sich für diesen Tag schon verpflichtet und konnte daher nicht kommen; aber er zeigte mir eine Ausgangstür des Parkes, die ich noch nicht kannte, und brachte mich auf den Weg.

Als wir in eine Straße einbogen, sahen wir eine Menge Leute, die etwas zu beobachten schienen. Martinelli ging an den Haufen heran, kam dann wieder zu mir und sagte: »Sie werden da etwas Eigentümliches sehen, was Sie Ihren Beobachtungen englischer Gebräuche einverleiben können.«

»Was ist es denn?«

»Ein Mensch, der in einer Viertelstunde an den Folgen eines Faustschlages auf die Schläfe sterben wird, den er bei einer Boxerei von einem anderen braven Mann erhalten hat.«

»Gibt es denn kein Mittel dagegen?«

»Es ist ein Chirurg da, der ihn zu retten verspricht, wenn man ihm erlaubt, den Mann zur Ader zu lassen.«

»Wer kann ihm denn das verbieten?«

»Das ist eben das Merkwürdige: Zwei Männer haben zwanzig Guineen auf das Leben des Mannes gewettet. Der eine hat gesagt: ich wette, daß er stirbt; der andere: ich wette, er wird nicht sterben. Der erste erhebt Einspruch gegen den Aderlaß; denn wenn der Chirurg den Verwundeten heilt, wird der zweite seine zwanzig Guineen verlangen.«

»Ein sehr unglücklicher Mensch und sehr unbarmherzige Wetter!«

»In betreff des Wettens sind die Engländer eigentümliche Leute. Bei ihnen wird auf alles gewettet. Es gibt hier eine Gesellschaft, die man den Wettklub nennt. Wenn Sie Lust haben, dem Verein beizutreten, werde ich Sie vorstellen.«

»Spricht man französisch?«

»Ohne allen Zweifel; denn die Mitglieder sind geistreiche und vornehme Leute.«

»Und was macht man in diesem Klub?«

»Man plaudert, man disputiert; und wenn jemand irgend etwas leugnet, was ein anderer behauptet, so muß eine Wette angenommen werden, falls einer von den beiden sie vorschlägt; sonst muß eine Geldstrafe zugunsten einer allgemeinen Kasse bezahlt werden, die am Ende eines jeden Monats geteilt wird.«

»Lieber Freund, verschaffen Sie mir doch den Zutritt zu diesem reizenden Klub! Ich werde da reich werden; denn ich werde mit meiner Meinung nicht zurückhalten, so oft ich entgegengesetzter Ansicht bin, aber ich werde darauf halten, daß ich meiner Sache sicher bin.«

»Nehmen Sie sich in acht, denn Sie werden es mit starken Gegnern zu tun haben!«

»Aber kommen wir noch einmal auf den sterbenden Mann! Was wird man dem anderen tun, der ihn getötet hat?«

»Man wird seine Hand untersuchen, und wenn diese glatt ist wie die Ihrige und wie die meinige, wird man sich damit begnügen, sie zu zeichnen.«

»Das begreife ich nicht. Bitte, erklären Sie es mir! Woran erkennt man eine gefährliche Hand?«

»Wenn man die Hand gezeichnet findet, so ist dies ein Beweis, daß er bereits einen Menschen getötet hat. Nachdem man seine Hand gezeichnet hat, sagt man zu ihm: Nimm dich in acht, noch einen zu töten; denn wenn du dies tust, wird man dich hängen.«

»Aber wenn dieser Mann angegriffen wird?«

»Er braucht nur seine Hand zu zeigen. Bei diesem Anblick entfernt sich sofort ein jeder und läßt, ihn in Ruhe.«

»Aber wenn man ihn zwingt?«

»Dann befindet er sich in der Notwehr, und wenn er einen Totschlag begeht, wird er freigesprochen, vorausgesetzt, daß er Zeugen hat.«

»Ich wundere mich, daß der Faustkampf erlaubt ist, da er den Tod eines Menschen herbeiführen kann.«

»Er ist nur als Wette erlaubt. Die Gegner werfen vor Beginn des Kampfes ein Geldstück oder mehrere auf die Erde und bekunden dadurch, daß sie eine Wette eingehen. Haben sie das nicht getan, so wird der Sieger gehenkt, wenn er den anderen tötet.«

»O Gesetze, o Sitten!«

Durch solche Beobachtungen lernte ich diese stolze Nation kennen, die so groß und zugleich so klein ist.

Der edle Lord erschien pünktlich zur verabredeten Stunde, und ich bewirtete ihn aufs beste, um ihm Lust zu machen, recht bald wieder zu kommen. Obgleich wir beide allein miteinander speisten, saßen wir sehr lange bei Tisch, denn ich wünschte von ihm Erklärungen über alles, was ich am Morgen gesehen hatte, besonders über den Wettklub. Der liebenswürdige Pembroke riet nur, nicht einzutreten, wenn ich mir nicht etwa vornehmen wollte, eine oder fünf Wochen lang vollständig zu schweigen.

»Aber wenn man mich fragt.«

»Dann müssen Sie ausweichen.«

»Natürlich werde ich ausweichen, wenn ich nicht imstande bin, meine Meinung abzugeben; aber im gegenteiligen Falle wäre selbst Satan nicht imstande, mich zum Schweigen zu bringen.«

»Um so schlimmer.«

»Aber sind es denn Gauner?«

»Ganz gewiß nicht. Es sind lauter Edelleute, Gelehrte, reiche Herren und Lebemänner. Aber sie sind unbarmherzig im Vorschlagen und Annehmen von Wetten.«

»Ist die Kasse reich?«

»Nichts weniger als das, denn man betrachtet es als eine Schande, die Buße zu bezahlen, und nimmt lieber eine mäßige Wette an. Wer wird Sie vorschlagen?«

»Martinelli.«

»Ja, er wird sich an Spencer wenden, der Mitglied der Gesellschaft ist. Ich habe es abgelehnt, mich einführen zu lassen.«

»Warum?«

»Weil ich nicht gerne disputiere.«

»Ich habe den entgegengesetzten Geschmack, und darum will ich mich um meine Zulassung bewerben.«

»Wissen Sie übrigens, Herr von Seingalt, daß Sie ein eigentümlicher Mensch sind?«

»Warum, Mylord?«

»Sie schließen sich einen ganzen Monat lang mit einer Frau ein, die vierzehn Monate in London gelebt hat, ohne daß es einem Menschen gelungen ist, sie kennen zu lernen oder auch nur zu erfahren, aus welchem Lande sie ist! Die Neugier aller Liebhaber seltsamer Dinge ist hierdurch aufs höchste angestachelt worden.«

»Woher haben Sie erfahren, daß sie vierzehn Monate hier gelebt hat?«

»Mehrere Personen haben sie im Hause einer ehrbaren Witwe gesehen, bei der sie den ersten Monat wohnte. Sie hat auf die Anträge, die man ihr machte, niemals auch nur eine Antwort gegeben: Ihr Anschlagzettel hat geradezu Wunder gewirkt.«

»Zum Unglück für mich! Denn ich fühle, daß ich nach ihr kein anderes Weib mehr lieben kann.«

»Ach, das ist Kinderei, mein Lieber. In acht Tagen lieben Sie eine andere, vielleicht morgen schon, wenn Sie zu mir aufs Land kommen und bei mir zu Mittag speisen wollen. Ich traf gestern zufallig in Chelsea eine richtige französische Schönheit, die sich bei mir zum Essen einlud. Ich habe meine Anordnungen getroffen und einigen Freunden, die das Spiel lieben, Bescheid sagen lassen.«

»Das Glücksspiel?«

»Selbstverständlich.«

»Spielt diese reizende Französin gern?«

»Sie nicht, aber ihr Mann.«

»Wie heißt der?«

»Er läßt sich Graf Castelbajac nennen.«

»Ah! Castelbajac?«

»Ja.«

»Gascogner?«

»Ja.«

»Groß, mager, schwarz, pockennarbig?«

»Ganz recht! Ich bin entzückt, daß Sie ihn kennen. Ist seine Frau nicht wirklich eine Schönheit?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich habe vor sechs Jahren diesen Castelbajac oder den Herrn, der sich so nennt, kennen gelernt und habe niemals etwas davon gehört, daß er verheiratet wäre. Übrigens stehe ich Ihnen zu Verfügung, Mylord, und es ist mir sehr angenehm, Ihre Gesellschaft mitzumachen. Nur muß ich Sie bitten, nichts zu sagen, falls er etwa so tun sollte, wie wenn er mich nicht kennte; denn er könnte triftige Gründe dazu haben, übermorgen werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen können, die dem Herrn keine Ehre macht. Ich wußte nicht, daß er Spieler ist. Ich werde in der Gesellschaft der Wetter auf meiner Hut sein, und ich rate Ihnen, Mylord, seien Sie morgen in Ihrer Gesellschaft auf Ihrer Hut!«

»Ich werde mir den Rat zunutze machen.«

Nachdem Pembroke sich entfernt hatte, ging ich aus und machte einen Besuch bei der Cornelis, die mir vor acht Tagen mitgeteilt hatte, daß meine Tochter krank sei. Sie beklagte sich, daß sie zu zwei verschiedenen Malen, wo sie mich aufgesucht habe, nicht angenommen worden sei, obwohl ich ganz bestimmt zu Hause gewesen sei. Ich antwortete ihr: ich sei in meinem Hause verliebt und glücklich gewesen und habe darum meine Tür vor jedermann verschlossen gehalten. Hiermit mußte sie sich zufrieden geben.

Der Zustand meiner kleinen Sophie beunruhigte mich; sie lag mit starkem Fieber zu Bett, war sehr abgemagert, und ihr ausdrucksvoller Blick sagte mir, daß ein Kummer an ihr nagte. Ihre Mutter war in Verzweiflung, denn sie liebte sie leidenschaftlich, und ich glaubte, sie würde mir die Augen ausreißen, als ich ihr sagte: wenn das Kind sterben sollte, so würde sie sich seinen Tod vorzuwerfen haben. Sophie mit ihrem ausgezeichneten Herzen rief sofort: »Nein, nein, mein lieber Papa!«

Dann fiel sie ihrer Mutter um den Hals und suchte sie durch ihre Liebkosungen zu beruhigen.

Ich rief die Mutter auf die Seite und sagte zu ihr: »An Sophien« Krankheit ist nur die Furcht vor Ihrer übergroßen Strenge schuld. So zärtlich Sie sie lieben, behandeln Sie sie doch mit einem unerträglichen Despotismus. Geben Sie sie für ein paar Jahre in eine Pension, wo sie mit Töchtern aus guten Familien zusammen ist. Teilen Sie ihr dies noch heute Abend mit und Sie sollen sehen, morgen geht es ihr besser.«

»Aber eine gute Pension kostet jährlich hundert Guineen!«

»Wenn die Pension, die Sie wählen, mir zusagt, bin ich bereit, für ein Jahr vorauszubezahlen.«

Als sie dies hörte, umarmte diese Frau, die trotz ihrem Luxus und ihrem scheinbaren Reichtum wirklich in Not war, mich mit allen Anzeichen der lebhaftesten Dankbarkeit.

»Kommen Sie!« rief sie; »kommen Sie, mein lieber Freund, und sagen Sie es selber meiner Tochter. Ich will sehen, was für ein Gesicht sie dazu macht!«

»Gern.«

»Meine liebe Sophie,« sagte ich zu dem Kinde, »deine Mutter und ich sind überzeugt, daß eine Luftveränderung dich bald wieder gesund machen wird. Wenn du ein oder zwei Jahre in einer der besten Pensionen auf dem Lande verbringen willst, so bin ich bereit, sofort für das erste Jahr zu bezahlen.«

»Ich kann nur meiner lieben Mama gehorchen«, sagte Sophie.

»Von Gehorsam ist nicht die Rede. Gehst du gern in die Pension? Sprich dich ganz offen aus!«

»Aber wird es meiner lieben Mama angenehm sein?«

»Sehr angenehm, mein liebes Kind, wenn du gern gehst.«

»O! Dann gehe ich mit dem größten Vergnügen, liebe Mama!«

Bei diesen Worten wurde das Gesicht des Kindes feuerrot – für mich ein deutliches Zeichen, daß ich richtig gesehen hatte. Ich verabschiedete mich von ihnen, indem ich die Cornelis bat, mir Nachricht zu geben.

Am nächsten Morgen um zehn Uhr fragte Jarbe mich, ob ich meine Gesellschaft vergessen habe.

»Nein, aber es ist ja erst zehn Uhr.«

»Allerdings, Herr, aber Sie haben zwanzig Meilen zu fahren.«

»Zwanzig Meilen?«

»Ja, gewiß, Sie müssen ja nach St. Albans.«

»Ich finde es sonderbar, daß Pembroke mir davon nichts gesagt hat. Woher weißt du es denn?«

»Er hat seine Adresse hinterlassen, als er ging.«

»So sind die Engländer!«

Ich nahm die Post, was keine Umstände machte, denn sie ist überall zu haben, und in weniger als drei Stunden war ich an Ort und Stelle. Es gibt nichts Schöneres, als die englischen Landstraßen, und nichts Lieblicheres, als die lachende Landschaft. Nur der Weinstock fehlt, denn Englands Boden, so fruchtbar er ist, taugt doch nicht für den Weinbau.

Das Haus des Lords Pembroke ist nicht groß, kann aber doch bequem zwanzig Herrschaften mit ihren Dienern aufnehmen.

Da die Dame noch nicht gekommen war, zeigte der Lord mir seinen Park, seine Bäder, seine prachtvollen Gewächshäuser und einen Hahn, der in einem Verschlage angekettet war. Dieses Tier sah wirklich zum Erschrecken wild aus.

»Was haben Sie denn da, Mylord?«

»Das ist ein Hahn.«

»Das sehe ich; aber er ist angekettet – warum denn?«

»Weil er wild ist. Er ist sehr verliebt, und wenn er nicht angekettet wäre, würde er auf Liebesabenteuer ausgehen und alle Hähne der Nachbarschaft töten.«

»Aber warum verdammen Sie ihn zum Zölibat?«

»Damit er kriegstüchtig bleibt. Sehen Sie, hier ist die Liste seiner Siege.«

Er zeigte mir eine beglaubigte Liste aller Kämpfe, aus denen der Hahn als Sieger hervorgegangen war, nachdem er seinen Gegner getötet hatte: es waren mehr als dreißig. Ferner zeigte er mir die Stahlsporen, mit denen man ihn an den Kampftagen bewaffnete. Als der Hahn sie sah, fing er an zu zittern und krähte. Ich mußte unwillkürlich lachen, als ich solchen kriegerischen Mut bei einem so kleinen Tier bemerkte. Der Hahn schien vom Kampfteufel besessen zu sein; er hob seine Füße hoch, wie wenn er darum bitten wollte, daß man ihm seine Waffen anschnallte.

Nach den Sporen zeigte Pembroke mir den Helm, der ebenfalls aus sehr glänzendem Stahl verfertigt war.

»Aber,« bemerkte ich, »wenn er solche Vorteile hat, ist er natürlich sicher, seinen Gegner zu besiegen!«

»Durchaus nicht! Denn wenn er mit allen seinen Waffen gerüstet ist, verschmäht er einen Gegner, der nicht dieselben Waffen hat.«

»Das ist kaum zu glauben, Mylord.«

»Es ist vollkommen beglaubigt. Lesen Sie nur!«

Er zeigte mir nun eine Liste, die den ganzen Stammbaum dieses sonderbaren Zweifüßlers enthielt. Er konnte besser als mancher adelige Herr zweiunddreißig Ahnen nachweisen – aber natürlich nur von väterlicher Seite; denn hätte er auch von Seiten der Mütter sein reines Blut nachweisen können, so hätte Lord Pcmbroke ihn zum mindesten mit dem Orden vom Goldenen Vließ dekoriert.

»Dieser Hahn«, sagte er zu mir, »kostet mir hundert Guineen, aber ich würde ihn nicht für tausend hergeben.«

»Hat er Kinder?«

»Er arbeitet daran, aber die Sache ist schwierig.«

Ich erinnere mich nicht mehr, was der Lord mir über die Art dieser Schwierigkeiten sagte. Die Engländer sind das sonderbarste Volk; bei keiner anderen Nation kann der aufmerksame Beobachter so viele Eigentümlichkeiten sehen.

Endlich sah ich einen Wagen mit einer Dame und zwei Kavalieren ankommen. Der eine war der Gauner Castelbajac, der andere ein magerer Herr, der sich als Grafen Schwerin vorstellte, Neffen des berühmten gleichnamigen Feldmarschalls, der auf dem sogenannten Totenbett der Helden und Feld der Ehre starb. General Bekw …, ein Engländer, der das Regiment des Feldmarschalls im Dienste des Königs von Preußen kommandierte und einer der Gäste des Lords Pembroke war, sagte dem Herrn aus Höflichkeit, sein Oheim sei in seiner Gegenwart gestorben. Dies veranlaßte den bescheidenen Neffen, das blutbefleckte Band des Schwarzen Adlerordens aus seiner Tasche zu ziehen und zu uns zu sagen: »Dieses Band trug mein Oheim an seinem Todestage, und Seine Majestät von Preußen hat mir erlaubt, es als ein edles Andenken zu behalten.«

»Aber«, sagte ein anderer von den anwesenden Engländern, »so etwas trägt man doch nicht in der Tasche.«

Der angebliche Schwerin tat, wie wenn er ihn nicht verstände, und dies genügte mir, um zu sehen, wes Geistes Kind er war.

Lord Pembroke bemächtigte sich sofort der Dame, die aber nach meiner Meinung einen Vergleich mit Pauline nicht aushalten konnte; sie war weißer, weil sie blond war, aber sie war weniger groß und hatte nicht den geringsten adeligen Anstand. Sie ließ mich vollkommen kalt, denn das Lächeln machte sie häßlicher, und das ist ein großer Schönheitsfehler bei einer Frau; denn das Lachen muß sie verschönern, damit sie wirklich interessant werde.

Lord Pembroke stellte seine Gäste der Gesellschaft vor, und als er meinen Namen nannte, bezeugte Castelbajac eine große Freude, mich wiederzusehen, obgleich mein Name Seingalt ihm ja erlaubt haben würde, sich zu stellen, als ob er mich nicht kenne.

Wir hielten eine fröhliche Mahlzeit mit englischen Gerichten, und zum Schluß schlug Madame eine Partie Pharao vor.

Da Mylord niemals spielte, so erbot der General sich, zur Unterhaltung der Gesellschaft die Bank zu halten. Er legte etwa hundert Guineen und mehrere Banknoten auf den Tisch; alles in allem mochte die Bank etwa tausend Guineen stark sein. Hierauf gab er jedem Spieler zwanzig Marken, indem er erklärte, daß eine jede zehn Schilling gelte. Da ich nur gegen bar spielen wollte, so nahm ich keine Marken an. Bei der dritten Taille hatte Schwerin seine zwanzig Marken verloren und verlangte neue; als jedoch der Bankhalter ihm sagte, er spiele nicht auf Wort, schwieg der angebliche Neffe des Feldmarschalls und spielte nicht mehr.

Bei bei nächsten Taille kam Castelbajac in dieselbe Lage; da er neben mir saß, bat er mich um Erlaubnis, zehn Goldstücke von meinem Gelde nehmen zu dürfen.

»Sie würden mir Unglück bringen,« sagte ich kalt, indem ich zugleich seine Hand zurückstieß. Er ging in den Garten hinaus, jedenfalls, um die Beleidigung zu verdauen, die ich ihm zugefügt hatte. Die Dame sagte, ihr Mann habe seine Brieftasche vergessen. Eine Stunde darauf legte der General die Karten hin, und ich entfernte mich, indem ich Mylord und die ganze Gesellschaft für den nächsten Tag zum Mittagessen in mein Haus einlud.

Um elf Uhr war ich wieder zu Hause. Ich hatte unterwegs keine Straßenräuber getroffen, wie ich erwartet hatte; ich hatte für diesen Fall sechs Guineen in eine kleine Börse gesteckt, die ich zu opfern bereit war. Ich ließ meinen Koch wecken und sagte ihm, am nächsten Tage hätte ich zwölf Personen zu Tisch, und ich erwartete, daß er mir Ehre machte. Auf meinem Tisch fand ich einen Brief von der Cornelis, die mir schrieb, sie werde am nächsten Sonntag mit ihrer Tochter bei mir speisen und nach dem Essen wollten wir die Pension ansehen, in der sie das Kind unterzubringen gedächte.

Am nächsten Tage kam zuerst Lord Pembroke mit der schönen Französin in einem Wagen mit zwei engen Plätzen; aber diese Enge war der Liebe günstig. Der Gascogner und der Preuße kamen zuletzt.

Wir setzten uns um zwei Uhr zu Tisch und tafelten bis vier Uhr; wir waren alle sehr zufrieden mit meinem Koch und noch mehr mit meinem Weinhändler; denn obwohl wir vierzig Flaschen verschiedener ausgezeichneter Weine geleert hatten, waren wir alle bei Besinnung.

Nach dem Kaffee lud der General alle Anwesenden ein, bei ihm zu Abend zu essen, und Madame Castelbajac forderte mich auf, eine Bank zu legen. Ohne mich lange bitten zu lassen, legte ich tausend Guineen auf; da ich jedoch keine Spielmarken hatte, so erklärte ich, daß ich nur gegen bar spielen und daß ich aufhören würde, sobald es mir paßte.

Die beiden Grafen bezahlten vor Beginn des Spiels dem General ihren Verlust vom vorigen Tage mit zwei Banknoten, die der General mich ihm zu wechseln bat. Ich wechselte den Herren noch zwei andere und legte die vier Scheine unter meine Tabaksdose auf die Seite.

Das Spiel begann. Da ich keinen Kroupier hatte, mußte ich langsam abziehen und dabei auf die beiden Grafen achten, die sich beständig zu ihrem Vorteil irrten. Dies machte mich verdrießlich. Endlich waren sie alle beide auf dem Trockenen und hatten zu meinem Glück auch keine Banknoten mehr. Castelbajac zog einen Wechsel über zweihundert Guineen aus der Tasche und warf mir diesen hin, indem er mich bat, ihn zu diskontieren.

»Ich verstehe mich nicht auf Handelspapiere«, antwortete ich.

Ein Engländer nahm den Wechsel, untersuchte ihn sehr gründlich, und legte ihn dann wieder auf den Tisch, indem er sagte, er kenne weder den Aussteller noch den Akzeptanten noch den Indossanten.

»Der Indossant bin ich,« sagte Castelbajac, »und ich denke, das muß Ihnen genügen.«

Alle Anwesenden lachten, außer mir. Ich nahm den Wechsel, gab ihn höflich dem Herrn zurück und sagte, er könne ihn am nächsten Tage an der Börse diskontieren. Verdrießlich stand er auf und entfernte sich, indem er unverschämte Worte murmelte. Schwerin folgte ihm.

Nachdem die beiden Ehrenmänner sich entfernt hatten, zog ich in aller Ruhe bis tief in die Nacht hinein weiter ab. Obwohl ich im Verlust war, hörte ich endlich auf, weil der General zu sehr im Glück war. Bevor sie gingen, nahmen der Lord und er mich auf die Seite und baten mich, dafür zu sorgen, daß die beiden Schwindler am nächsten Abend nicht zum Essen kämen; »denn«, sagte der General, »wenn der Gascogner sich auch nur die Hälfte der Unverschämtheiten mir zu sagen erlaubte, die er sich Ihnen gegenüber herausgenommen hat, so würde ich ihn zum Fenster hinauswerfen lassen.«

Pembroke sagte ihm, er brauche nur die Frau damit zu beauftragen.

»Glauben Sie,« fragte ich ihn, »daß diese vier Banknoten, die von ihm herrühren, möglicherweise falsch sind?«

»Das ist sehr leicht möglich!«

»Was würden Sie tun, um den Zweifel zu beseitigen?«

»Ich würde sie nach der Bank schicken, um sie wechseln zu lassen.«

»Und wenn die Bank sie als falsch erkennt?«

»Dann würde ich den Verlust ruhig hinnehmen oder ich würde die Gauner verhaften lassen.«

Am nächsten Morgen ging ich selber auf die Bank. Der erste, dem ich meine vier Banknoten gab, reichte sie mir zurück und sagte kalt: »Das ist falsches Geld, mein Herr.«

»Wollen Sie sie, bitte, aufmerksam prüfen!«

»Das ist nicht nötig, die Scheine sind falsch. Geben Sie sie demjenigen zurück, der sie Ihnen gegeben hat; er wird sich nicht lange bitten lassen, sie Ihnen wieder zu wechseln.«

Ich wußte wohl, daß ich die beiden Gauner hinter Schloß und Riegel bringen konnte, aber es widerstrebte mir, dies zu tun. Ich ging zu Lord Pembroke, um mir ihre Adresse sagen zu lassen. Er lag noch im Bett; aber einer von seinen Leuten führte mich zu ihnen. Mein Erscheinen überraschte sie. Ich sagte ihnen ziemlich ruhig, ihre Banknoten wären falsch, und ich bäte sie daher, sie zurückzunehmen und mir dafür vierzig Goldstücke zu geben.

»Ich habe kein Gold,« sagte Castelbajac; »aber was Sie da sagen, überrascht mich sehr. Ich kann die Banknoten nur an den zurückgeben, von dem ich sie habe, das heißt: wenn es dieselben sind, die Sie gestern von uns erhalten haben.«

Bei dieser beleidigenden Andeutung stieg mir das Blut zu Kopfe. Ich warf ihm einen entrüsteten Blick zu und verließ ihn mit einem kurzen Wort, das ihn als das brandmarkte, was er war. Der Bediente, der mich begleitet hatte, führte mich sogleich zu dem zuständigen Richter, der mich meine Aussage beschwören ließ und mir eine Urkunde ausfertigte, die mich ermächtigt«, die Betrüger verhaften zu lassen. Ich gab die Urkunde einem Alderman, der es übernahm, sie zur Ausführung zu bringen, und ging sehr verdrießlich über diese ärgerliche Geschichte nach Hause.

Dort erwartete mich Martinelli; er war gekommen, um mit mir zu speisen. Ich erzählte ihm die Geschichte, ohne ihm jedoch zu sagen, daß die Spitzbuben verhaftet werden sollten. Er faßte die Sache als Philosoph auf und sagte mir ruhig, an meiner Stelle würde er mit den vier Banknoten ein Autodaf veranstalten. Der Rat war gut; leider befolgte ich ihn nicht. Der wackere Martinelli glaubte mir ein Vergnügen zu machen, indem er mir sagte, er habe mit Lord Spencer den Tag meines Eintritts in den Wettklub verabredet. Ich antwortete ihm jedoch, mir sei die Lust vergangen, Mitglied zu werden. Ich hätte diesen Mann, der sich durch sein Wissen ebenso sehr auszeichnete wie durch seinen Lebenswandel, höflich und rücksichtsvoll behandeln sollen. Aber wer könnte wohl je die Tiefen der menschlichen Schwächen ergründen! Oft nimmt man es einem anständigen Menschen übel, daß er einen klugen Rat gibt, den zu befolgen man nicht den Mut hat.

Gegen Abend begab ich mich zum General, bei dem ich die sogenannte Gräfin Castelbajac auf Lord Pembrokes Knien sitzend fand. Das Abendessen war schön und lustig; die beiden unglücklichen Kavaliere erschienen nicht, und es wurde von ihnen nicht gesprochen. Nach Tisch gingen wir in ein anderes Zimmer, wo wir bis Tagesanbruch spielten. Ich ging mit einem Verlust von zwei- oder dreihundert Guineen nach Hause.

Als ich am nächsten Tage sehr spät erwachte, sagte mein Diener mir, es sei ein Mensch da, der mit mir zu sprechen wünsche. Ich ließ ihn hereinkommen, und da er nur englisch sprach, mußte Jarbe mir als Dolmetscher dienen. Der Mann war der Anführer der Polizisten; er ließ mir sagen, daß er gegen Erstattung der Reisekosten bereit sei, Castelbajac in Dover zu verhaften, wohin dieser gegen Mittag abgereist sei. Den anderen werde er ganz bestimmt im Laufe der Nacht einfangen.

Ich gab ihm eine Guinee und ließ ihm sagen, die Verhaftung des zweiten genüge mir, und er könne den anderen ruhig laufen lassen.

Der nächste Tag war ein Sonntag – der einzige Tag der Woche, wo die Cornelis sich in den Lodoner Straßen sehen lassen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß ein Polizeibeamter oder ein Gerichtsbote sie verhaftete. Sie kam daher mit ihrer Tochter zu mir, die durch die Aussicht, demnächst ihre Mutter verlassen zu dürfen, wie von einem Zaubermittel wiederhergestellt war. Die Pension, die die Cornelis gewählt hatte, befand sich in Harwich, und dorthin fuhren wir nach dem Essen.

Die Leiterin der Anstalt war katholisch. Trotz ihren sechzig Jahren sah sie frisch aus; sie besaß viel Geist und Weltgewandtheit. Da Lady Harrington ihr bereits eine Empfehlung geschickt hatte, empfing sie die junge Cornelis sehr freundlich. Sie hatte etwa fünfzehn junge Pensionärinnen von dreizehn bis vierzehn Jahren. Als sie ihnen Sophie als neue Kameradin vorstellte, umringten alle diese jungen Damen sie und überhäuften sie mit Liebkosungen. Fünf oder sechs waren Engel von entzückender Schönheit, und zwei oder drei waren abstoßend häßlich. Solche Gegensätze findet man in England öfter als anderswo. Meine Tochter war kleiner als alle anderen, aber sie war schön genug, um keinen Vergleich scheuen zu müssen, und ihre Klugheit machte sie einer jeden ebenbürtig. Sie erwiderte die Liebkosungen mit jener Leichtigkeit des Benehmens, die man in späteren Jahren nur durch lange Übung erwirbt.

Als wir die innere Einrichtung des Hauses besichtigten, begleiteten alle Schülerinnen uns; diejenigen, die gut genug französisch oder italienisch sprachen, redeten mich an und sagten mir, sie würden meine Tochter herzlich lieb haben. Die anderen hielten sich abseits, wie wenn sie sich ihrer Unwissenheit schämten. Wir besahen die Klaviere, die Harfen, die Schulsäle, die Schlafzimmer – alles, und ich fand, daß meine Sophie es gar nicht besser hätte treffen können. Wir gingen daher in das Privatzimmer der Vorsteherin, und die Cornelis zahlte ihr hundert Guineen für ein Jahr voraus, worüber sie sich eine Quittung geben ließ. Hierauf verabredeten wir, Sophie solle von dem Tage an, wo sie mit einem Bett und der erforderlichen Ausrüstung kommen werde, in die Anstalt eintreten und als Pensionärin behandelt werden. Die Cornelis besorgte dies schon am nächsten Sonntag.

Am Tage nach diesem Besuche teilte der Alderman mir mit, der Graf Schwerin sei bei ihm als Gefangener und wünsche mit mir zu sprechen. Anfangs weigerte ich mich; als aber der Bote des Aldermans mir durch Jarbe sagen ließ, der arme Teufel habe keinen Penny, da wurde ich mitleidig und änderte meinen Entschluß; denn da es sich um falsche Banknoten handelte, so würde man ihn nach Newgate gebracht haben, und dort wäre er in großer Gefahr gewesen, an den Galgen zu kommen.

Ich folgte dem Abgesandten des Beamten und ich kann nicht beschreiben, wie schmerzlich mir der Anblick der strömenden Tränen und der verzweifelten Gebärden des Unglücklichen war, der mich flehentlich bat, ich möchte doch Mitleid mit ihm haben. Er schwor mir, die Banknoten seien ihm von Castelbajac gegeben worden; er wisse aber, von wem dieser sie erhalten habe, und er erbot sich, mir die Person zu nennen, wenn ich ihm die Gnade erweisen wolle, ihn wieder in Freiheit setzen zu lassen.

Ein Restchen von Ärger veranlaßte mich, ihm zu antworten, er brauche ja nur die betreffende Person zu nennen und sei dann sicher, nicht gehenkt zu werden. Ich wolle es mir jedoch täglich vier Pence kosten lassen und ihn solange im Gefängnis lassen, bis er mir mein Geld wieder gegeben habe. Auf diese Drohungen hin begann er wieder zu weinen und zu schreien, er sei im allertiefsten Elend; nachdem er alle seine Taschen umgedreht hatte, in denen sich wirklich kein Heller befand, bot er mir das blutige Ordensband seines angeblichen Oheims als Pfand an. Ich freute mich, einen Vorwand zu haben, ohne mich schwach zeigen zu müssen. Ich nahm daher das Band an und gab ihm eine Quittung über seine Schuld, indem ich mich verpflichtete, ihm dieses Brimborium, woran der Schwarze Adler hing, zurückzugeben, sobald er mir vierzig Guineen auszahlen würde.

Nachdem ich meine Abstandserklärung schriftlich gegeben und die Kosten, seiner Haft bezahlt hatte, verbrannte ich in seiner Gegenwart und in der des Aldermans die vier falschen Banknoten und ließ ihn in Freiheit setzen.

Zwei Tage darauf fand die angebliche Gräfin sich bei mir ein und sagte mir, sie wisse nicht, wo sie ihr Haupt niederlegen solle, da Castelbajac und Schwerin abgereist seien. Sie beklagte sich bitterlich über Lord Pembroke, der sie ebenfalls verlassen habe, nachdem sie ihm die unzweifelhaftesten Beweise ihrer Zärtlichkeit gegeben habe. Um sie zu trösten, sagte ich ihr, er würde sehr unrecht daran getan haben, sie vorher zu verlassen, denn er müsse sie als seine Schuldnerin ansehen.

Um die Frau loszuwerden, mußte ich ihr das Reisegeld nach Calais geben. Sie sagte mir, sie wolle den Gascogner nicht wieder sehen; übrigens sei er gar nicht ihr Gatte. Wir werden in drei Jahren dieselben Persönlichkeiten wiederfinden.

Einen oder zwei Tage darauf ließ ein Italiener sich bei mir melden; er gab mir einen Brief meines Freundes Baletti, der mir den Überbringer, Constantini aus Vicenza, empfahl. Dieser komme nach London in einer wichtigen Angelegenheit, die er mir mitteilen müsse. Er bat mich, ihm nützlich zu sein, so sehr ich nur könnte.

Nachdem ich Herrn Constantini versichert hatte, ich würde mich glücklich schätzen, das Vertrauen eines meiner besten Freunde rechtfertigen zu können, faßte er den Mut, mir zu sagen: »Die lange Reise, die ich gemacht habe, hat meine Börse so ziemlich erschöpft; aber ich weiß, daß meine Frau hier ist und daß sie reich ist. Es wird mir leicht sein, ihren Aufenthalt zu entdecken, und wie Sie wissen,, gehört mir als Ehemann alles, was sie besitzt.«

»Das wußte ich nicht.«

»Sie kennen also die Gesetze dieses Landes nicht?«

»Nein.«

»Das tut mir leid, aber es ist so. Ich gedenke morgen zu ihr zu gehen und sie in dem Kleide, das sie auf dem Leibe hat, auf die Straße zu werfen, denn ihre Möbel, Kleider, Wäsche, Schmucksachen gehören mir – mit einem Wort: alles, was sie besitzt, ist mein. Dürfte ich Sie bitten, mich zu begleiten, wenn ich diesen schönen Streich ausübe?«

Ich war ganz verblüfft. Ich fragte ihn, ob er Baletti von seinen Absichten in Kenntnis gesetzt hätte, und er antwortete:

»Ich habe es keinem Menschen auf der ganzen Welt anvertraut; Sie sind der erste, dem ich mich eröffnet habe.«

Ich konnte ihn nicht als einen Wahnsinnigen behandeln, denn er sah nicht danach aus; auch war es wohl möglich, daß das Gesetz, wovon er sprach, in England gültig war. Ich antwortete ihm, ich sei nicht geneigt, mich in diese Angelegenheit einzumischen, die ich übrigens entschieden mißbillige, es sei denn, daß seine Gemahlin die Sachen, die sie in diesem Augenblick besitze, ihm entwendet habe.

»Meine Gattin, mein Herr, hat mir nur meine Ehre gestohlen und hat nur ihr Talent mitgenommen, als sie mich verließ. Sie muß hier ein großes Vermögen erworben haben, und habe ich nicht recht, wenn ich mich desselben bemächtige, wäre es auch nur, um sie zu bestrafen und um mich an ihr zu rächen?«

»Das mag wohl sein; aber da Sie mir ein vernünftiger Mann zu sein scheinen, so frage ich Sie: was würden Sie von mir halten, wenn ich so ohne weiteres bereit wäre, Sie bei einer Handlung zu unterstützen, die ich grausam finde, mögen Sie auch noch so gute Gründe haben? Außerdem wäre es sehr leicht möglich, daß ich Ihre Frau kenne, ja, daß ich sogar deren Freund bin.«

»Ich werde Ihnen den Namen nennen.«

»Nein, tuen Sie das nicht, bitte! obgleich ich keine Signora Constantini kenne.«

»Sie hat ihren Namen geändert, nennt sich Calori und ist Sängerin am Haymarkettheater.«

»Jetzt weiß ich, wer sie ist; und ich sage Ihnen, Sie haben unrecht getan, mir ihren Namen zu nennen.«

»Ich zweifle nicht an Ihrer Verschwiegenheit. Ich werde mich unverzüglich nach ihrer Wohnung erkundigen, denn das ist die Hauptsache.«

Der Mann ging weinend hinaus, und er tat mir leid. Indessen ärgerte ich mich, daß er mich, obgleich ohne mein Zutun, in sein Geheimnis eingeweiht hatte. Einige Stunden darauf machte ich der Binetti einen Besuch, und diese schilderte mir die Verhältnisse aller Virtuosinnen Londons. Als sie an die Calori kam, sagte sie mir, diese habe mehrere Liebhaber gehabt, von denen sie viel Geld erhalten habe; im Augenblick habe sie jedoch keinen Liebhaber außer dem berühmten Geiger Giardini, in den sie sich ernstlich verliebt habe.

»Wo ist sie her?« fragte ich.

»Aus Vicenza.«

»Ist sie verheiratet?«

»Ich glaube nicht.«

Ich dachte schon nicht mehr an diese üble Geschichte, als ich drei oder vier Tage darauf einen Brief aus dem Kings-Bench-Gefängnis erhielt. Er war von Constantini. Der Unglückliche schrieb mir, er sehe in mir den einzigen Freund, den er in London habe, und hoffe daher, ich werde ihn besuchen, um ihm wenigstens einen guten Rat zu geben.

Ich glaubte seiner Bitte nicht mein Ohr verschließen zu dürfen und ging daher in das Gefängnis. Ich fand den unglücklichen Menschen in verzweifelter Stimmung; bei ihm war ein alter englischer Sachwalter, den ich kannte, und der das Italienische radebrechte.

Constantini war am Tage vorher wegen mehrerer von seiner Frau akzeptierter und nicht eingelöster Wechsel verhaftet worden. Die Calori schuldete angeblich tausend Guineen. Der Sachwalter hatte diese Wechsel, fünf an der Zahl, in Händen und war nun zu dem Ehemann gekommen, um diesem einen Vergleich vorzuschlagen.

Ich sah sofort, daß hier ein niederträchtiger Betrug im Werke war; denn die Binetti hatte mir gesagt, daß die Calori sehr reich sei. Ich 3öS bat den Sachwalter, mich einen Augenblick mit dem Gefangenen allein zu lassen, da ich diesem etwas unter vier Augen zu sagen hätte.

»Man verhaftete mich,« sagte er mir, »wegen Schulden meiner Frau und sagte mir, ich müsse sie bezahlen, weil ich ihr Mann sei.«

»Ihnen wird da von Ihrer Frau ein Streich gespielt, weil sie ohne Zweifel erfahren hat, daß Sie in London sind.«

»Sie hat mich vom Fenster aus gesehen.«

»Warum haben Sie mit der Ausführung Ihres Planes solange gezögert?«

»Ich würde ihn heute morgen ausgeführt haben; wie konnte ich auch ahnen, daß die Spitzbübin Schulden hat!«

»Sie hat ja auch keine, und diese Wechsel sind fingiert. Sie sind vordatiert, denn sie sind erst gestern geschrieben worden. Das ist eine böse Geschichte, die ihr teuer zu stehen kommen kann.«

»Aber einstweilen bin ich im Gefängnis!«

»Bleiben Sie ruhig hier und verlassen Sie sich auf mich.«

Ich war empört über diese Spitzbüberei und entschloß mich, die Sache des unglücklichen Mannes zu der meinigen zu machen. Ich ging daher zu Bosanquet und trug ihm den Fall vor. Er antwortete mir, solche Schiebungen kämen in London jeden Tag vor; man wisse aber seit langer Zeit, wie man sie zu vereiteln habe. Wenn ich mich für den Gefangenen interessiere, werde er einen Anwalt besorgen, der ihm aus der Klemme helfen werde; die Frau und ihr Liebhaber, der ihr wahrscheinlich dabei geholfen habe, würden ihr Vorgehen zu bereuen haben. Ich bat ihn, vorzugehen, wie wenn es sich um mich selber handele, und mich nötigenfalls als Bürgen anzusehen.

»Das genügt,« sagte er; »Sie brauchen sich um die ganze Sache nicht mehr zu bekümmern.« Einige Tage später kam Bosanquet zu mir und sagte: »Wie mir der Anwalt, den ich mit der Angelegenheit betraut habe, soeben mitteilt, hat Constantini nicht nur das Gefängnis, sondern sogar England verlassen.«

»Wieso denn? Das ist ja unmöglich!«

»Nein, es ist im Gegenteil sehr einfach. Der Liebhaber seiner Frau wird das Gewitter vorausgesehen haben, und der unglückliche Ehemann wird für eine mehr oder weniger starke Geldsumme bereit gewesen sein, die Flucht zu ergreifen. Damit ist die Sache erledigt. Aber sie ist sehr komisch, und man wird sie bald in den Zeitungen lesen, denn sie ist geradezu ein Musterbeispiel für derartige Fälle. Ganz gewiß wird man Giardini loben, daß er seiner Geliebten diese edle Handlung geraten hat.«

Ich war allerdings mit dem Ausgang der Sache zufrieden, ärgerte mich aber trotzdem etwas über Constantini, daß er dem Liebespaar nicht einen kleinen Denkzettel gegeben hatte. Ich schrieb Baletti die ganze Geschichte, und ich erfuhr von der Binetti, daß die Calori hundert Guineen bezahlt habe; dafür habe Constantini sich verpflichtet, zu fliehen. Einige Jahre später habe ich die Calori in Prag wiedergefunden.

Ein vlamischer Offizier, dem ich in Aachen mit meiner Börse ausgeholfen hatte, machte mir mehrere Besuche; er speiste sogar zwei- oder dreimal bei mir. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich so unhöflich gewesen war, ihm nicht einmal einen Anstandsgegenbesuch zu machen, und ich mußte erröten, als ich ihn zufällig auf der Straße traf und er mir in aller Höflichkeit einen leisen Vorwurf machte. Er hatte seine Frau und seine Tochter bei sich in London. Ein wenig Scham und viel Neugier veranlaßten mich unglücklicherweise, ihn in seiner Wohnung aufzusuchen.

Sobald er mich sah, fiel er mir um den Hals und stellte mich seiner Frau vor, indem er mich seinen Retter nannte. Ich mußte alle Komplimente über mich ergehen lassen, die die Gauner stets für anständige Leute, die sie zu betrügen, gedenken, in Bereitschaft halten. Einige Minuten später sah ich eine alte Frau mit einem jungen Mädchen eintreten. Der Offizier stellte mich ihnen als den Chevalier de Seingalt vor, von dem er ihnen schon so oft erzählt habe. Das junge Mädchen spielte die Erstaunte und sagte, sie habe einen Herrn Casanova gekannt, der mir sehr ähnlich sehe. Ich antwortete ihr, dies sei ebenfalls mein Name; ich habe jedoch nicht das Glück, mich ihrer zu erinnern.

»Ich nannte mich damals Ansperger; heute heiße ich jedoch Charpillon; da Sie mich nur ein einzigesmal gesehen und mit mir gesprochen haben, so ist es ja leicht erklärlich, daß Sie mich vergessen haben, zumal, da ich damals erst dreizehn Jahre alt war. Einige Zeit darauf bin ich mit meiner Mutter und meinen Tanten nach London gekommen, und seit vier Jahren wohnen wir hier.«

»Aber mein Fräulein, wo habe ich denn das Vergnügen gehabt, mit Ihnen zu sprechen?«

»In Paris.«

»Und an welchem Ort?«

»Im Palais Marchand. Sie waren in Begleitung einer reizenden Dame und schenkten mir diese Schuhschnallen« – sie zeigte sie mir an ihren Füßen. »Hierauf erwiesen Sie mir auf Veranlassung meiner Tante die Ehre, mich zu umarmen.«

Nun erinnere ich mich der Begebenheit; auch meine Leser werden sich erinnern, daß ich damals die schöne Strumpfhändlerin Baret bei mir hatte.

Ich sagte also zu ihr: »Jetzt entsinne ich mich, mein Fräulein; aber Ihre Frau Tante erkenne ich nicht wieder.«

»Diese hier ist die Schwester jener, die damals bei mir war; aber wenn Sie die Güte haben wollen, bei uns Tee zu trinken, werden Sie sie sehen.«

»Wo wohnen Sie, mein Fräulein?«

»Wir wohnen in Denmark-Street, Soho. Ich werde Ihnen das schmeichelhafte Kompliment, das Sie an mich richteten, schriftlich zeigen.«

Dreizehntes Kapitel


Die Charpillon. – Verhängnisvolle Folgen dieser Bekanntschaft.

Der Name Charpillon erinnerte mich daran, daß ich einen Brief für sie hatte. Ich zog meine Brieftasche, überreichte ihr das Billett und sagte ihr, dieses Briefchen werde uns gleich doppelt miteinander bekannt machen.

»Wie? Ein Briefchen von meinem lieben Botschafter, dem Herrn Prokurator Morosini! Wie mich dies freut! Und Sie sind schon drei Monate in London, mein Herr, und haben nicht daran gedacht, mir dieses Erinnerungszeichen zu überbringen?«

»Ich bekenne, daß ich sehr schuldig bin, mein Fräulein; aber das Briefchen trägt, wie Sie sehen, keine Adresse; außerdem hat Herr von Morosini die Sache durchaus nicht als eilig bezeichnet… Ich freue mich des Zufalls, der es mir heute erlaubt, mich dieser Pflicht zu entledigen.«

»Kommen Sie doch morgen zum Mittagessen zu uns!«

»Das kann ich nicht; ich habe dem Lord Pembroke versprochen, ihn zu erwarten.«

»Werden Sie allein sein?«

»Ich denke, ja. Wir wollen unter vier Augen speisen.«

»Das ist mir angenehm; dann komme ich mit meiner Tante.«

»Hier meine Adresse, mein Fräulein; Sie werden mir ein großes Vergnügen machen, wenn Sie mich besuchen.«

Sie nahm die Adresse, und zu meiner Überraschung sah ich sie lächeln.

»Dann sind Sie also jener Italiener, der den Zettel aushängte, über welchen die ganze Stadt gelacht hat?«

»Der bin ich.«

»Man hat mir gesagt, dieser Spaß sei Ihnen teuer zu stehen gekommen.«

»Ganz im Gegenteil; ich verdanke ihm eine meiner süßesten Erinnerungen.«

»Aber jetzt, da die schöne Dame nicht mehr hier ist, müssen Sie sich wohl recht unglücklich fühlen?«

»Ich gestehe es; aber es gibt Schmerzen, die so süß sind, daß man sie nicht missen möchte.«

»Niemand weiß, wer sie ist, aber Sie müssen das doch wissen.«

»Ja.«

»Machen Sie ein Geheimnis daraus?«

»Ganz gewiß; ich würde lieber sterben, als es verraten.«

»Fragen Sie meine Tante, ob ich nicht hingehen wollte, um bei Ihnen ein Zimmer zu mieten! Meine Mutter wollte es aber nicht erlauben.«

»Wozu haben Sie nötig, eine billige Wohnung zu suchen?«

»Das habe ich allerdings nicht nötig, aber ich wollte gern einmal lachen, und ich hatte Lust, den kühnen Verfasser einer solchen Anzeige zu bestrafen.«

»Wie würden Sie mich bestraft haben?«

»Ich hätte Sie in mich verliebt gemacht und Sie dann entsetzliche Qualen erdulden lassen. O, hätte ich gelacht!«

»Sie glauben also die Macht zu haben, jeden beliebigen Mann in sich verliebt zu machen, und Sie sind imstande, den schnöden Plan zu hegen, die tyrannische Gebieterin des Mannes zu werden, der Ihrer Schönheit die gebührende und von Ihnen erwartete Ehre erweisen würde? Einen solchen Plan kann nur ein Ungeheuer aushecken, und es ist ein Unglück für die Männer, daß Sie ganz und gar nicht so aussehen. Indessen bin ich Ihnen dankbar für Ihre Offenheit und werde mir diese zunutze machen, um auf der Hut zu sein.«

»Dann müßten Sie sich zwingen, mich nicht zu sehen; sonst würden alle Anstrengungen vergeblich sein.«

Da die Charpillon während dieses ganzen Gespräches unaufhörlich lachte, hielt ich ihre Bemerkungen natürlich nur für einen Scherz; aber ich konnte mich nicht enthalten, ihren Geist zu bewundern, der im Verein mit ihrer Schönheit es ihr leicht machen mußte, einen Mann zu unterjochen. Wie dem auch sei – der Tag, da ich dieses Weib kennen lernte, war für mich ein Unglückstag; meine Leser werden selber darüber urteilen können.

Gegen Ende des Septembers 1763 machte ich die Bekanntschaft der Charpillon, und an diesem Tage begann mein Sterben. Wenn der aufsteigende Teil des Lebens dem absteigenden gleich ist – wie es der Fall sein muß –, so glaube ich heute, den ersten November 1797, noch auf etwa vier Lebensjahre rechnen zu dürfen, die nach dem Satze motus in fine velacior sehr schnell vergehen werden.

Die Charpillon, die ganz London gekannt hat, und die, wie ich glaube, noch lebt, war eine jener Schönheiten, an denen man kaum den geringsten körperlichen Mangel entdecken kann. Ihre schönen Haare waren hellrotbraun und von erstaunlicher Länge und Fülle; ihre blauen Augen hatten das natürliche Schmachtende, das dieser Farbe eigen ist, und glänzten zugleich wie die einer Andalusierin; ihre von einer leichten Rosenfarbe angehauchte Haut war blendend weiß; ihr hoher Wuchs ließ erwarten, daß sie mit zwanzig Jahren eine stolze Erscheinung wie Pauline sein werde. Ihre Brüste waren vielleicht ein wenig klein, aber von vollkommener Form; ihre weißen, zarten Hände waren schlank und etwas länger, als sonst Hände gewöhnlich sind; ihre Füße waren sehr klein, ihr Gang hatte jene edle Anmut, die selbst einer nicht schönen Frau so großen Reiz verleiht. Ihr sanftes, offenes Gesicht trug den Ausdruck der Aufrichtigkeit und jenes feinen Zartgefühls, das stets eine unwiderstehliche Waffe für das schöne Geschlecht ist. Leider hatte die Natur gelogen, indem sie ihrem Gesicht diesen Ausdruck gab. Wäre doch lieber alles übrige Betrug gewesen und hätte sie in diesem Punkte die Wahrheit gesagt! Diese Sirene hatte, schon ehe sie mich kannte, daran gedacht, mich unglücklich zu machen, und sie sagte es mir, gleichsam um dadurch ihren Triumph noch zu erhöhen.

Ich war wie betäubt, als ich Malingans Wohnung verließ; ein sinnlicher Mensch wie ich, der in das weibliche Geschlecht leidenschaftlich verliebt war, hätte fröhlich sein müssen, die Bekanntschaft einer seltenen Schönheit gemacht zu haben, die er zur vollständigen Befriedigung seiner Wünsche zu besitzen hoffen durfte. Ich aber war vor Erstaunen wie betäubt, daß Paulinens Bild, das mir immer vor Augen stand und sich gebieterisch vor mir aufrichtete, so oft ich eine Frau sah, deren Schönheit Eindruck auf meine Sinne machen konnte – ich war, wie gesagt, vor Erstaunen wie betäubt, daß dieses Bild nicht imstande war, die Macht einer Charpillon, die ich unwillkürlich verachten mußte, zu vernichten.

Ich söhnte mich mit mir selber aus, indem ich mir einredete, ich sei nur durch die besonderen Umstände, durch den mächtigen Reiz der Neuheit und durch die Hoffnung, daß die Entzauberung bald eintreten werde, verleitet worden. »Ich werde sie nicht mehr so wunderbar finden,« sagte ich mir selber, »sobald ich sie besessen habe, und das kann nicht lange dauern.«

Der Leser wird sich vielleicht für berechtigt halten, mich für einen anmaßenden Gecken zu erklären. Aber wie hätte ich auf den Gedanken kommen können, daß die Charpillon Schwierigkeiten machen würde? Sie hatte sich selber bei mir zum Essen eingeladen; sie hatte dem Prokurator Morosini angehört, der jedenfalls nicht lange nach ihr geschmachtet hatte, denn das war nicht seine Art, und der sie bezahlt haben mußte, denn er war weder jung noch schön. Ganz abgesehen davon, daß ich ihr zu gefallen hoffen durfte, hatte ich Gold und war nicht geizig. So konnte ich also annehmen, daß sie mir keinen Widerstand leisten würde.

Pembroke war mein Freund geworden, seitdem ich das gute Werk an Schwerin getan hatte, und besonders deshalb, weil ich nicht die Hälfte des Betrages vom General zurückverlangt hatte. Er hatte mir gesagt, wir wollten eine Vergnügungspartie machen und auf diese Weise einen angenehmen Tag verbringen. Als er nun vier Gedecke aufgelegt sah, fragte er mich sofort, wer meine beiden anderen Gäste seien. Er war sehr überrascht, als er hörte, daß die Charpillon und ihre Tante kommen sollten, und daß das Mädchen sich selber eingeladen hatte, sobald sie erfuhr, daß er allein mit mir speisen würde.

»Diese Spitzbübin«, erzählte der Lord mir, »hatte mir für einige Augenblicke eine heftige Lust erregt, sie zu besitzen. Als ich sie eines Abends mit ihrer Tante in Vauxhall traf, bot ich ihr zwanzig Guineen, wenn sie allein mit mir in der dunklen Allee spazieren gehen wolle. Sie nahm an, aber unter der Bedingung, daß ich ihr das Geld im voraus gäbe; leider war ich so schwach, dies zu tun. Sie ging mit mir in die Allee hinein; als wir aber ein Stück gegangen waren, ließ sie meinen Arm los, und ich konnte sie die ganze Nacht nicht mehr finden.«

»Sie hätten sie öffentlich ohrfeigen sollen.«

»Damit hätte ich mir eine böse Geschichte aufgeladen; außerdem würde man mich ausgelacht haben. Ich habe es vorgezogen, das Mädchen zu verachten und die Summe, um die sie mich begaunert hatte, zu verschmerzen. Sind Sie verliebt in sie?«

»Nein, aber ich bin neugierig auf sie, wie Sie es gewesen sind.«

»Nehmen Sie sich in acht; denn sie wird alles versuchen, um Sie anzuführen.«

Die Charpillon trat ein, begrüßte Mylord, sagte ihm die artigsten Dinge von der Welt und beachtete mich überhaupt nicht. Sie lacht, scherzt, erzählt den Streich, den sie ihm in Vauxhall gespielt hat, und neckt ihn damit, daß er wegen einer Eulenspiegelei, die ihn doch eigentlich nur noch mehr habe reizen müssen, nicht mehr den Mut gehabt habe, sie noch weiter zu verfolgen.

»Ein anderes Mal werde ich Ihnen nicht wieder weglaufen.«

»Das kann wohl sein, meine Schöne; denn ein anderes Mal werde ich gewiß nicht wieder vorausbezahlen.«

»Pfui! ›Bezahlen‹ ist ein häßliches Wort, das Sie herabsetzt.«

»Und das Sie vielleicht ehrt?«

»Von so etwas spricht man nicht.«

Lord Pembroke lobte ihren Witz und lachte nur über alle unverschämten Bemerkungen, die sie an ihn richtete; offenbar ärgerte sie sich über die Gleichgültigkeit, womit er fortwährend zu ihr sprach. Bald nach dem Essen entfernte sie sich, nachdem sie mir das Versprechen abgenommen hatte, am übernächsten Tage bei ihr zu speisen.

Den nächsten Tag verbrachte ich mit dem liebenswürdigen Lord, der mich ein Bagnio auf englische Art kennen lehrte. Dies ist ein teueres Vergnügen, das ich nicht näher beschreiben will, weil ein jeder es kennt, der sechs Guineen ausgegeben hat, um sich diesen Genuß zu verschaffen. Wir hatten bei dieser Partie zwei sehr hübsche Schwestern, die man die Garich nannte.

Am Tage darauf trieb mich mein böser Stern, zur Charpillon zu gehen. Sie stellte mir ihre Mutter vor, die ich sofort erkannte, obwohl sie alt, krank und abgezehrt war.

Im Jahre 1759 hatte ein Genfer, namens Bolomé, mich überredet, Schmucksachen im Werte von sechstausend Franken an sie zu verkaufen; sie hatte mir dafür zwei Wechsel gegeben, die von ihr und ihren beiden Schwestern auf eben diesen Bolomé gezogen waren: sie nannten sich damals Ansperger. Der Genfer machte vor dem Verfall der Wechsel Bankerott, und die drei Schwestern verschwanden. Man kann sich denken, wie überrascht ich war, sie in England wiederzufinden, und besonders, durch die Charpillon zu ihnen geführt zu werden. Diese wußte von dem üblen Handel ihrer Mutter und ihrer Tanten nichts und hatte ihnen daher nicht gesagt, daß der Chevalier de Seingalt identisch war mit jenem Casanova, den sie um sechstausend Franken geprellt hatten.

»Ich habe das Vergnügen, mich Ihrer zu erinnern, Madame,« waren die ersten Worte, die ich an sie richtete.

»Mein Herr, ich erkenne Sie ebenfalls; der Spitzbube Bolomé …«

»Sprechen wir jetzt nicht davon, Madame; verschieben wir die Auseinandersetzung auf einen anderen Tag! Sie sind krank, wie ich sehe.«

»Ich war dem Tode nahe; aber jetzt geht es ein wenig besser. Meine Tochter hat Sie nicht unter Ihrem Namen angemeldet.«

»Verzeihung, sie hat Ihnen den richtigen Namen gesagt. Ich heiße Seingalt und heiße auch Casanova. Diesen letzteren Namen trug ich in Paris, als ich dort Ihre Tochter kennen lernte, ohne zu wissen, daß sie zu Ihnen gehörte.«

In diesem Augenblick trat die Großmutter, die wie ihre Tochter Ansperger hieß, mit den beiden Tanten ein. Eine Viertelstunde darauf kamen drei Herren, von denen der eine der Chevalier Goudar war, den ich in Paris gekannt hatte. Die beiden anderen kannte ich nicht; sie wurden mir unter den Namen Rostaing und Caumon vorgestellt. Die drei Herren waren Freunde des Hauses – Gauner, deren Aufgabe darin bestand, Dumme heranzuschleppen, um auf diese Weise gegenseitig Vorteil zu haben.

In diese niederträchtige Gesellschaft sah ich mich also eingeführt. Obgleich ich sofort wußte, woran ich war, entfernte ich mich nicht, und nahm mir nicht einmal vor, nicht wieder hinzugehen. Es gibt unbegreifliche Zustände von Verblendung. Ohne Zweifel glaubte ich, nichts zu wagen, wenn ich auf meiner Hut wäre; da ich keine andere Absicht hatte, als ein Liebesverhältnis mit der Tochter anzufangen, so sah ich alles übrige als etwas Unwesentliches an, das mit meinen Absichten nichts zu tun hatte.

Bei Tische stimmte ich in den Ton der Gesellschaft ein, ja, ich ging sofort mit meinem Beispiel voran: ich neckte, ich wurde geneckt, und ich fühlte mich sicher, daß ich meinen Zweck ohne Mühe erreichen würde. Nur eins mißfiel mir: nachdem sie sich entschuldigt hatte, daß sie mich schlecht bewirtet habe, bat die Charpillon mich, sie und die ganze Gesellschaft an einem Tage, den ich selbst bestimmen möchte, zum Abendessen einzuladen. Da ich mich nicht ausreden konnte, so bat ich sie, den Tag selber zu bestimmen, und sie tat dies, nachdem sie ihre würdigen Berater um ihre Meinung gefragt hatte.

Nach dem Kaffee spielten wir vier Robber Whist. Ich verlor. Gegen Mitternacht ging ich gelangweilt und unzufrieden mit mir selber nach Hause. Leider aber war ich nicht gebessert; denn das Frauenzimmer hatte mich völlig behext.

Immerhin besaß ich die Kraft, zwei Tage vergehen zu lassen, ohne sie aufzusuchen. Am dritten – das war der, den sie für das verfluchte Abendessen bestimmt hatte – sah ich sie schon am Morgen um neun Uhr mit ihrer Tante eintreten.

»Ich bin gekommen,« sagte sie in liebenswürdigstem Ton, »um mit Ihnen zu frühstücken und mit Ihnen über ein Geschäft zu sprechen.«

»Sofort oder nach dem Frühstück?«

»Nachher; denn wir müssen allein sein.«

Wir frühstückten; hierauf ging die Tante in ein anderes Zimmer, und die Charpillon schilderte mir die Lage ihrer Familie und sagte dann, alle Not würde ein Ende haben, wenn ihre Tante hundert Guineen besäße.

»Was würde sie dann tun?«

»Sie würde Lebensbalsam machen. Sie hat das Rezept und würde gewiß ein Vermögen damit verdienen.«

Hierauf schilderte sie mit Behagen die wunderbaren Eigenschaften dieses Balsams, den wahrscheinlichen Absatz in einer Stadt wie London und die Vorteile, die ich selber davon haben würde; denn ich würde natürlich am Gewinn beteiligt sein. Außerdem würden ihre Mutter und ihre Tante sich schriftlich verpflichten, mir die hundert Guineen nach sechs Jahren zurückzuzahlen.

»Ich werde Ihnen nach dem Abendessen eine bestimmte Antwort geben.«

Hierauf nahm ich die schmeichelnde und unternehmende Miene eines Verliebten an, der den höchsten Genuß sucht. Aber alle meine Anstrengungen waren vergebens, obgleich es mir gelungen war, sie auf mein breites Sofa auszustrecken. Geschmeidig wie eine Schlange entschlüpfte die Charpillon mir und lief lachend zu ihrer Tante. Ich folgte ihr und mußte ebenfalls lachen, als sie mir die Hand hinstreckte und mir sagte: »Leben Sie wohl! Auf heute Abend!«

Als ich allein war, fand ich diesen Anfang ganz natürlich, und er erschien mir durchaus nicht von schlechter Vorbedeutung, besonders, wenn ich an die hundert Guineen dachte, die sie brauchte und von mir erbeten hatte. Ich sah wohl, daß ich nicht daran denken konnte, mich um die Huld eines Mädchens von ihrem Charakter zu bewerben, ohne diese Summe zu zahlen. Ich dachte daher auch nicht daran, zu feilschen, aber sie mußte ihrerseits wissen, daß sie die hundert Guineen nicht bekommen würde, wenn sie es sich einfallen lassen sollte, die Zimperliche zu spielen. Meine Sache war es, mich so einzurichten, daß ich nicht zu befürchten brauchte, von ihr geprellt zu werden.

Als am Abend die Gesellschaft da war, forderte die Schöne mich auf, bis zum Essen eine kleine Bank zu legen; ich antwortete aber nur mit einem lauten Lachen, das sie nicht erwartet hatte.

»Dann wollen wir doch wenigstens eine Partie Whist spielen!«

»Mir scheint,« antwortete ich ihr, »Sie haben es nicht eilig, Ihre Antwort betreffs der schwebenden Angelegenheit zu erhalten.«

»Ach so! Sie haben sich wohl entschlossen, nicht wahr?«

»Ja. Kommen Sie!«

Sie folgte mir ins Nebenzimmer. Ich ließ sie auf dem Sofa Platz nehmen und sagte ihr: »Die hundert Guineen stehen zu Ihrer Verfügung.«

»Geben Sie sie meiner Tante; denn sonst würden die Herren sich einbilden, ich hätte sie durch eine schimpfliche Gefälligkeit erlangt.«

»Sie können sich darauf verlassen.«

Nach dieser Versicherung wollte ich mich ihrer bemächtigen; aber alle meine Anstrengungen waren wiederum vergeblich, und ich gab sie schließlich auf, als sie zu mir sagte: »Sie werden niemals, weder durch Geld noch durch Gewalt, etwas von mir erlangen; aber Sie können alles von meiner Freundschaft erhoffen, wenn ich Sie unter vier Augen vollkommen sanft finde.«

Ich ging in den Salon zurück. Ich fühlte eine teuflische Wut in allen meinen Adern, und um diese zu verbergen, beteiligte ich mich an einer Whistpartie, die während unserer Abwesenheit zustande gekommen war. Die Charpillon war von sprühender Heiterkeit, aber sie langweilte mich. Beim Abendessen saß sie mir zur Rechten; sie ärgerte mich durch hundert Ausgelassenheiten, die mich in den siebenten Himmel versetzt haben würden, wenn sie mich nicht zweimal an einem Tage abgewiesen hätte.

Nach dem Essen nahm sie mich auf die Seite und sagte mir: wenn ich die hundert Guineen geben wollte, würde sie die Tante ins Nebenzimmer rufen. Ich sagte: »Es müßte ja schriftlich gemacht werden, und das würde zeitraubend sein; wir wollen die Sache auf einen anderen Tag verschieben.«

»Wollen Sie den Zeitpunkt bestimmen?«

Ich zog meine Börse voll Gold aus der Tasche, zeigte sie ihr und sagte: »Der Zeitpunkt wird da sein, sobald Sie ihn kommen lassen wollen.«

Als meine abscheulichen Gäste fort waren, wurde ich mir darüber klar, daß die junge Intrigantin es auf mich abgesehen hatte, um mich zu prellen und mir mein Geld zu entlocken, ohne mir dafür etwas zu bewilligen. Ich beschloß daher, auf sie zu verzichten. Der Kampf hatte mich gedemütigt; trotzdem fühlte ich mich von der Schönheit dieses Mädchens stark angezogen, obgleich alles andere an ihr mich abstieß.

Ich fühlte das Bedürfnis, mich zu zerstreuen und meine Gedanken durch andere Gegenstände abzulenken. In dieser Absicht fuhr ich am nächsten Tage, mit einem riesigen Korb voll Zuckerzeug versehen, zu meiner Tochter.

Ich machte die ganze jugendliche Gesellschaft glücklich; denn Sophie strahlte vor Freude, alle diese Leckereien unter ihre Kameradinnen verteilen zu können, die sie dankbar annahmen. Kinder sind ja so leicht glücklich zu machen und sind so dankbar für alle Freundschaft.

Ich fand den Tag so köstlich, daß ich eine Zeitlang sehr oft wieder hinging. Ich brachte ihnen eine Menge Kinkerlitzchen, von denen sie entzückt waren. Die Vorsteherin überhäufte mich mit höflichen Aufmerksamkeiten, und meine Tochter, die mich nur ihren lieben Papa nannte, überzeugte mich jeden Tag mehr, daß ich die zärtlichsten Vatergefühle für sie empfand.

Es waren noch keine drei Wochen vergangen, da konnte ich mir schon Glück wünschen, die Charpillon vergessen und durch eine unschuldige Liebe ersetzt zu haben. Allerdings gefiel eine von den Freundinnen meiner Tochter mir ein bißchen zu sehr, um mich ganz wunschlos zu lassen.

In diesem Zustand befand sich meine Seele, als ich eines Morgens um acht Uhr die Lieblingstante der Charpillon bei mir eintreten sah. Sie sagte mir, ihre Nichte und die ganze Familie seien tief betrübt, daß sie mich seit jener Abendgesellschaft, die ich ihnen gegeben hätte, nicht wiedergesehen hätten; besonders sie bedauere es, da ihre Nichte ihr Hoffnung gemacht habe, ich werde ihr die Mittel zur Bereitung des Lebensbalsams geben.

»Allerdings, Madame, würde ich Ihnen hundert Guineen gegeben haben, wenn Ihre Nichte mich wie einen Freund behandelt hätte; aber sie hat mir sogar die Gunstbeweise verweigert, die eine Vestalin bewilligt haben würde, und Sie wissen wohl, daß sie das nicht ist.«

»Verzeihen Sie, wenn ich lache! Das liebe Kind ist ein bißchen unbesonnen und manchmal etwas rappelköpfig; sie gibt sich nur hin, wenn sie überzeugt ist, geliebt zu werden. Sie hat mir alles erzählt. Sie liebt Sie, aber sie befürchtet, Ihre Liebe sei nur eine Laune. Diesen Augenblick liegt sie wegen einer starken Erkältung zu Bett; sie glaubt ein wenig Fieber zu haben. Suchen Sie sie auf; ich bin gewiß, Sie werden sie nicht unzufrieden verlassen.«

Diese wohlberechnete Rede, die mir nur Verachtung hätte einflößen sollen, erweckte in mir die heftigste Begierde. Ich stimmte in das Lachen der Alten ein und fragte sie schließlich, zu welcher Stunde ich hingehen solle, um die Schöne ganz bestimmt im Bett zu finden.

»Kommen Sie sofort und klopfen Sie nur einmal.«

»Gehen Sie voraus und erwarten Sie mich!«

Ich wünschte mir Glück, am Ziel zu sein und keinen Betrug zu fürchten zu haben; denn da ich mich mit der Tante auseinandergesetzt hatte und diese für mich war, so hatte ich keinen Zweifel mehr.

Ich zog meinen Überrock an, und es war noch keine Viertelstunde vergangen, da klopfte ich schon in der verabredeten Weise an die Tür der Charpillon. Die Tante kam auf den Fußspitzen herangeschlichen, öffnete mir und sagte: »Kommen Sie in einer halben Stunde wieder! Ihr ist ein Bad verordnet worden, und sie hat sich gerade eben in die Wanne gelegt.«

»Das ist wieder eine gemeine Betrügerei! Sie sind eine Lügnerin, wie Ihre Nichte eine infame Intrigantin ist.«

»Sie sind hart und ungerecht; aber wenn Sie mir versprechen wollen, vernünftig zu sein, will ich Sie in den dritten Stock führen, wo sie ihr Bad nimmt. Sie kann dann sagen, was sie will; jedenfalls werden Sie die Überzeugung haben, daß ich Sie nicht betrüge.«

»Wenn Sie die Wahrheit sagen, so wollen wir gehen!«

Sie geht die Treppe hinauf; ich folge ihr leise; sie öffnet eine Tür und schiebt mich in ein Zimmer hinein, dessen Tür sie hinter mir schließt. Die Charpillon lag in einer großen Badewanne, mit dem Kopfende nach der Tür. Die niederträchtige Kokette tat, wie wenn sie mich für ihre Tante hielte, machte keine Bewegung und sagte: »Geben Sie mir Handtücher, Tante!«

Sie lag in der verführerischsten Stellung da, und da die Wanne nur halb voll war, konnte ich mich an allen Schönheiten des Körpers einer Venus weiden, ohne daß die Flüssigkeit, die sie wie eine leichte Gaze bedeckte, meinen gierigen Blicken etwas entzog.

Sobald sie mich erblickte, stieß sie einen Schrei aus, kauerte sich zusammen und rief mit erheucheltem Zorn: »Gehen Sie!«

»Schreien Sie nicht, meine Schöne! Ich lasse mich nicht mehr anführen.«

»Gehen Sie!«

»Nein; lassen Sie mich erst wieder zu mir kommen!«

»Ich sage Ihnen noch einmal: gehen Sie!«

»Nein. Aber seien Sie ruhig und fürchten Sie keine Vergewaltigung. Die würde Ihnen nur zu gut in Ihre Pläne passen.«

»Meine Tante soll mir das bezahlen! Darauf kann sie sich verlassen.«

»Wie Sie wollen; aber sie wird in mir einen Freund finden. Ich werde Sie nicht anrühren; aber bitte, entwickeln Sie sich!«

»Wie? Ich soll mich entwickeln?«

»Ja, legen Sie sich wieder so hin, wie Sie bei meinem Eintritt lagen!«

»O! das tue ich ganz gewiß nicht. Gehen Sie!«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich gehe nicht. Aber Sie brauchen nichts zu befürchten … für Ihre Jungfräulichkeit.«

»Sie sind ein Ungeheuer!«

Sie kauerte sich noch mehr zusammen und bot dabei meinen Blicken ein Bild, das noch verführerischer war als das erste. Dann schlug sie auf einmal einen sanften Ton an und sagte: »Ich bitte Sie, lieber Freund, gehen Sie! Ich werde Ihnen später dafür erkenntlich sein.«

Da sie jedoch sah, daß ihr dies nichts nützte, und daß ich, ohne sie zu berühren, bereits dabei war, selber das Feuer zu löschen, das sie in meinen Sinnen entzündet hatte, drehte sie mir den Rücken zu, damit ich nicht denken sollte, sie fände Vergnügen daran, mir zuzusehen, und damit nicht etwa dieser Gedanke meinen brutalen Genuß vermehrte. Ich wußte das alles, aber für mich war es notwendig, meine Besinnung wiederzuerlangen, und ich mußte mich daher erniedrigen, um die mich fortreißende Glut meiner Sinne zu beschwichtigen, übrigens war es mir nicht unlieb, die Wirkung dieses Notbehelfs zu bemerken, denn diese brutale Befriedigung bewies mir, daß das Übel nicht tief saß, da es durch eine bloße tierische Betätigung zu beseitigen war.

Als ich eben fertig war, trat die Tante ein. Ohne ein Wort zu sagen, ging ich hinaus. Zu meiner Freude empfand ich nur Verachtung für einen so kalt berechnenden Charakter, der gar kein Gefühl kannte.

An der Haustür holte die Tante mich ein; sie fragte mich, ob ich zufrieden sei, und lud mich ein, in ihr Wohnzimmer zu treten.

»Jawohl, ich bin sehr zufrieden – zufrieden nämlich, daß ich euch alle beide jetzt kenne. Da ist die Belohnung!«

Mit diesen Worten zog ich eine Banknote von hundert Guineen hervor und warf sie ihr dummerweise zu, indem ich ihr sagte, sie könnte ihren Lebensbalsam anfertigen; aus ihrer Unterschrift mache ich mir nichts, denn ich wisse, was die wert sei. Ich besaß nicht die Kraft, fortzugehen, ohne ihr etwas zu geben, wie ich es hätte tun sollen, und die erfahrene Kupplerin war schlau genug, das sofort zu begreifen.

Als ich wieder nach Hause kam und reiflich über das Abenteuer nachdachte, erfüllte mich ein Gefühl von Freude und Befriedigung. So kehrte denn bald meine gute Laune zurück, und ich glaubte sicher zu sein, daß ich das Haus dieses elenden Gezüchtes niemals wieder betreten würde. Es waren sieben Weiber, darunter zwei Mägde; um ihren Unterhalt zu bestreiten, war ihnen jedes Mittel recht. Wenn sie bei ihren Beratungen die Notwendigkeit erkannten, sich der Hilfe von Männern zu bedienen, wandten sie sich an die drei Schufte, die ich vorhin nannte, und die ihrerseits, um existieren zu können, auf diese Weiber angewiesen waren.

Ich dachte nur noch daran, mich aufs beste zu amüsieren, und besuchte zu diesem Zwecke alle Orte, wo ich mich vergnügen konnte. Fünf oder sechs Tage nach der Badeszene traf ich in Vauxhall die Spitzbübin mit ihrer Tante und Goudar. Ich wich ihr aus; sie ging mir jedoch nach und warf mir mit einer Sirenenstimme mein schlechtes Betragen vor. Ich gab ihr eine schroffe Antwort; sie machte sich jedoch nichts daraus, sondern trat in eine Laube und lud mich ein, eine Tasse Tee mit ihr zu trinken.

»Ich will keinen Tee,« antwortete ich ihr; »ich will lieber zu Abend essen.«

»Ich bin bereit, mit Ihnen zu speisen. Sie werden mich nicht zurückweisen, wenn Sie nicht etwa noch einen Groll gegen mich haben.«

Ich befahl, vier Gedecke aufzulegen, und im nächsten Augenblick saßen wir beisammen, wie wenn wir die besten Freunde gewesen wären.

Ihre verführerischen Reden, ihre Heiterkeit, ihre Reize zwangen mich wieder unter ihren Bann. Der Wein trug dazu bei, meine Seele zu erniedrigen, und ich schlug ihr vor, einen Spaziergang in den dunklen Alleen zu machen, indem ich bemerkte, sie werde mich hoffentlich nicht so behandeln wie Lord Pembroke. Sie antwortete mir sanft und mit einem Schein von Aufrichtigkeit, der mich beinahe getäuscht hätte: sie wolle ganz und gar die Meine sein, aber bei hellem Licht und nur unter der Bedingung, daß sie die Genugtuung habe, mich jeden Tag wie einen wahren Freund des Hauses bei sich zu sehen.

»Ich verspreche es Ihnen; aber geben Sie mir sofort ein kleines Pröbchen Ihrer Zärtlichkeit.«

»Nein! Unter keinen Umständen!«

Ich stand auf, um die Rechnung zu bezahlen, und entfernte mich, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Bitte, sie nach Hause zu bringen, schlug ich ab. Mein Kopf war ein wenig benebelt, als ich nach Haus kam; ich legte mich sofort zu Bett.

Als ich am andern Morgen erwachte, war mein erster Gedanke ein Gefühl des Glücks, daß sie mich nicht beim Wort genommen hatte; ich fühlte instinktmäßig, daß ich alle Beziehungen zwischen diesem Geschöpf und mir hätte abbrechen sollen. Ich fühlte, daß sie eine unüberwindliche Herrschaft über mich ausübte und daß es nur ein einziges Mittel gab, mich davor zu schützen, daß sie mich noch weiterhin betrog: ich mußte entweder beharrlich ihren Anblick meiden, oder ich mußte, wenn ich noch weiter mit ihr verkehrte, ohne jeden Hintergedanken auf den Genuß ihrer gefährlichen Reize völlig verzichten.

Da dieses Zweite mir unmöglich erschien, beschloß ich, mich standhaft an das erste Mittel zu halten; aber das unwürdige Geschöpf ging darauf aus, alle meine Vorsätze zuschanden zu machen. Die Art und Weise, wie sie ihre Absicht zu erreichen suchte, war offenbar das Ergebnis einer von ihrer ganzen Clique abgehaltenen Beratung.

Einige Tage nach dem Abendessen von Vauxhall erschien Goudar bei mir und sagte: »Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem weisen Entschluß, nicht mehr zu den Anspergers zu gehen; denn wenn Sie noch weiter hingegangen wären, hätten Sie sich immer mehr in die Schöne verliebt, und diese würde Sie schließlich an den Bettelstab bringen.«

»Sie halten mich wohl für sehr dumm? Wenn ich sie gefällig gefunden hätte, so würde sie mich erkenntlich gefunden haben, ohne daß ich jedoch in den Beweisen dieser Erkenntlichkeit über meine Kräfte gegangen wäre. Hätte ich sie grausam gefunden, aber nicht so lächerlich, wie sie sich benommen hat, so hätte ich jeden Tag tun können, was ich bereits getan habe, und wäre darum doch noch nicht an den Bettelstab gekommen.«

»Ich wünsche Ihnen Glück dazu, denn das ist ein Beweis, daß Sie über solide Mittel verfügen. Sie sind also fest entschlossen, sie nicht wiederzusehen?«

»Sehr fest.«

»Sie sind also nicht in sie verliebt?«

»Ich war es, aber ich habe es mir abgewöhnt, und in einigen Tagen werde ich sie vollständig vergessen haben. Ich dachte schon nicht mehr an sie, als ich sie neulich mit Ihnen in Vauxhall traf.«

»Das beweist, daß Sie nicht geheilt sind. Glauben Sie mir, man wird von einer Liebe nicht geheilt, wenn man die Geliebte flieht; denn wenn man in derselben Stadt lebt, kann es zu leicht vorkommen, daß man sich wieder begegnet, und Pulver ist ein feuergefährlicher Stoff.«

»Kennen Sie ein besseres Mittel?«

»Gewiß! Man muß sich durch Genuß übersättigen. ES ist wohl möglich, daß die Charpillon Sie nicht liebt; aber Sie sind reich, und sie hat nichts. Für eine runde Summe hätten Sie sie haben können; Sie wären dann auf angenehme Weise geheilt worden, wenn Sie gefunden hätten, daß sie Ihrer Beständigkeit nicht würdig ist; denn schließlich wissen Sie doch, wer sie ist.«

»Ich würde dieses Mittel gern angewandt haben, wenn ich nicht klar und deutlich ihre Absicht entdeckt hätte.«

»Diese hätten Sie zuschanden machen können, wenn Sie eine vernünftige Abmachung getroffen hätten. Sie hätten niemals vorausbezahlen sollen. Ich weiß alles.«

»Was können Sie wissen?«

»Ich weiß, daß sie Ihnen hundert Guineen kostet und daß Sie nicht einmal einen Kuß von ihr bekommen haben. Nun, mein lieber Herr, für dieses Geld hätten Sie sie ganz bequem in Ihrem Bett haben können. Sie prahlt damit, sie habe Sie angeführt, so klug Sie sich auch dünken mögen.«

»Dieses Geld habe ich ihrer Tante aus Mitleid gegeben.«

»Ja, für die Anfertigung ihres Lebensbalsams; aber Sie werden zugeben,daß ohne die Nichte die Tante nichts bekommen haben würde.«

»Ich gebe es zu; aber sagen Sie mir: was bewegt Sie, heute in dieser Weise zu mir zu sprechen? Sie gehören doch zu ihrer Clique?«

»Nichts, das schwöre ich Ihnen, als ein freundschaftliches Gefühl für Sie. Wenn Sie meinen, daß ich zu ihrer Clique gehöre, so irren Sie sich. Das will ich Ihnen beweisen, indem ich Ihnen erzähle, wie ich das Mädchen, ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre beiden Tanten kennen lernte: Vor sechzehn Monaten war ich eines Abends in Vauxhall. Da sah ich den venetianischen Prokurator, Herrn von Morosini, ganz allein spazieren gehen. Er war gerade eben in London eingetroffen, um im Namen seiner Republik dem König die Glückwünsche zur Thronbesteigung zu überbringen. Da ich sah, daß der hohe Herr ganz entzückt war und mit großem Vergnügen die Londoner Schönheiten musterte, hatte ich den Einfall, ihn anzureden und ihm zu sagen, daß alle diese Nymphen ihm zu Diensten stünden, und daß er nur der, die ihm am besten gefiele, sein Schnupftuch zuzuwerfen brauchte. Als er hierüber lachte, sagte ich ihm, es sei kein Scherz von mir. Hierauf bezeichnete er eine mit dem Auge und fragte mich, ob diese Dame ebenfalls zu seiner Verfügung stehe. Da ich sie nicht kannte, bat ich ihn, er möchte seinen Spaziergang fortsetzen, ich würde ihm sofort Bescheid bringen. Da ich keine Zeit zu verlieren hatte und außerdem an ihrem ganzen Benehmen sah, daß ich es nicht mit einer Vestalin zu tun haben würde, trat ich an das junge Mädchen, und ihre Begleiterin heran und sagte ihr, der Botschafter sei in sie verliebt, und wenn sie ihn empfangen wolle, werde ich ihn ihr zuführen. Die Tante sagte mir, die Bekanntschaft eines Herrn von so hohem Range könne für ihre Nichte nur eine große Ehre sein. Ich erhielt ihre Adresse und ging dem Botschafter nach. Unterwegs traf ich einen meiner Bekannten, der ein großer Kenner von dieser Art Ware ist. Ich zeigte ihm die Adresse, die ich noch in der Hand hielt und erfuhr von ihm, was für eine Sorte die Charpillon ist.«

»War sie es?«

»Ja. Mein Freund sagte mir, sie sei eine junge Schweizerin, die noch nicht auf das große Trottoir gekommen sei; das würde aber nicht lange mehr dauern, denn sie sei nicht reich und habe einen zahlreichen Anhang zu ernähren.

Ich ging zu meinem Venetianer, sagte ihm, daß die Sache in Ordnung sei, und bat ihn, mir anzugeben, zu welcher Stunde ich ihn am nächsten Tage vorstellen könne, indem ich ihn darauf aufmerksam machte, daß sie ihn nicht allein empfangen werde, da sie bei ihrer Mutter und ihren Tanten wohne.

›Das ist mir durchaus nicht unangenehm,‹ antwortete der Botschafter mir, ›es ist mir im Gegenteil lieb, daß sie nicht öffentlich ist.‹

Nachdem wir uns für den nächsten Tag verabredet hatten, trennten wir uns.

Ich sagte den Damen, wann wir kommen würden, und belehrte sie, wie sie sich dem hohen Herrn gegenüber zu verhalten hätten: sie müßten nämlich tun, wie wenn sie ihn nicht kennten. Hierauf ging ich nach Hause.

Am nächsten Tage ging ich zu Herrn von Morosini; wir nahmen einen Fiaker, und ich führte ihn inkognito zu den Damen, bei denen wir eine Stunde in allen Ehren verbrachten, und ohne daß irgend ein Vorschlag gemacht wurde; hierauf gingen wir wieder. Unterwegs sagte der Botschafter mir, er werde mir am nächsten Tage in seiner Wohnung seine Bedingungen schriftlich geben; zu diesen Bedingungen wünsche er das Mädchen zu besitzen, aber sonst nicht.

Die Bedingungen lauteten: Das Fräulein sollte allein in einem möblierten Häuschen wohnen, das ihr nichts kosten würde. Sie dürfte keinen Menschen dort empfangen. Seine Exzellenz würde ihr monatlich fünfzig Guineen geben und würde ihr das Abendessen bezahlen, so oft er Lust hätte, die Nacht mit ihr zu verbringen. Er beauftragte mich, ein Haus für sie ausfindig zu machen, wenn seine Bedingungen angenommen würden. Die Mutter sollte den Vertrag mit unterschreiben.

Da der Botschafter es eilig hatte, brachte ich die Angelegenheit in drei Tagen in Ordnung; ich verlangte jedoch von der Mutter ein Schriftstück, wodurch sie sich verpflichtete, mir ihre Tochter für eine Nacht zu überlassen, sobald der Botschafter wieder abgereist wäre; man wußte, daß er in London nur ein Jahr bleiben würde.«

Goudar zog dieses Schriftstück aus der Tasche und zeigte es mir; ich las es mehrere Male mit ebensogroßer Überraschung wie Freude; hierauf fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Durch die Abreise des Botschafters wurde die Charpillon frei; sie hatte nun nacheinander Lord Baltimore, Lord Grosvenor, den portugiesischen Gesandten, Herrn de Saa und mehrere andere, jedoch keinen offiziellen Liebhaber. Ich habe von der Mutter verlangt, sie solle mir, laut ihrer Verpflichtung, meine Nacht verschaffen; aber sie führt mich an der Nase herum, und die Tochter, die mich nicht leiden kann, lacht mir ins Gesicht, wenn ich ein Wort davon sage. Ich kann sie nicht verhaften lassen, denn sie ist noch minderjährig; aber eines schönen Tages werde ich die Mutter ins Gefängnis bringen, und dann sollen Sie sehen, wie ganz London lachen wird. Jetzt wissen Sie, warum ich diese Frauenzimmer besuche; Sie haben unrecht, wenn Sie glauben, ich hätte irgend etwas mit ihren Anschlägen zu tun. Indessen kann ich Ihnen versichern, daß man auf Mittel und Wege sinnt, Sie zu prellen, und das wird ihnen gelingen, wenn Sie nicht sehr auf Ihrer Hut sind.«

»Sagen Sie der Mutter, ich stelle ihr noch hundert Guineen zur Verfügung, wenn sie mir eine einzige Nacht mit ihrer Tochter verschaffen kann.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Ganz gewiß; aber ich will erst nach der Operation bezahlen.«

»Das ist das wahre Mittel, um nicht angeführt zu werden. Ich übernehme den Auftrag mit Vergnügen.«

Ich behielt den Burschen zum Mittagessen bei mir; denn bei dem Lebenswandel, den ich in London führte, konnte er mir nur nützlich sein. Er wußte alles und erzählte mir eine Menge galanter Geschichten, die ich mit Vergnügen hörte. Obwohl ein richtiger Taugenichts, war Goudar übrigens doch nicht ohne einige gute Eigenschaften. Er war Verfasser mehrerer Werke, die zwar schlecht waren, aber doch einen gewissen Geist bekundeten. Er schrieb damals seinen »Chinesischen Spion« und verfaßte täglich fünf oder sechs Briefe in den verschiedenen Kaffeehäusern, in die der Zufall ihn führte. Ich schrieb auch einige für ihn, die ihm viel Vergnügen machten. Der Leser wird sehen, unter welchen Umständen ich ihn einige Jahre darauf in Neapel wiederfand.

Schon am nächsten Tage, in einem Augenblick, wo ich durchaus nicht daran dachte, sah ich die Charpillon bei mir eintreten. Mit einer ernsten Miene, die man bei einem anreren Mädchen für Bescheidenheit hätte halten können, sagte sie zu mir: »Ich bitte Sie nicht um ein Frühstück, sondern nur um eine Erklärung und möchte Ihnen Miß Lorenzi vorstellen.«

Ich machte ihr und ihrer Begleiterin eine Verbeugung und sagte:

»Was für eine Erklärung wünschen Sie, mein Fräulein?«

Bei diesen Worten glaubte Miß Lorenzi, die ich zum ersten Male sah, und die gewissermaßen die Stelle des obligaten Satyrs auf den Bildern der Venus vertrat, uns allein lassen zu müssen, und ich sagte Jarbe, ich sei für niemanden zu Hause. Damit die Begleiterin meiner Nymphe sich nicht langweilte, befahl ich, ihr ein Frühstück vorzusetzen.

»Mein Herr,« begann die Charpillon, »ist es wahr, daß Sie den Chevalier Goudar beauftragt haben, meiner Mitter zu sagen, Sie würden ihr hundert Guineen dafür geben, daß ich eine Nacht mit Ihnen verbringe?«

»Nicht dafür, daß Sie sie mit mir verbringen, sondern erst, wenn Sie sie mit mir verbracht haben werden. Ist es nicht genug?«

»Keine Scherze, bitte! Es handelt sich hier nicht um ein Feilschen um den Preis. Ich bin nicht gekommen, um um den Preis zu feilschen; ich will nur wissen, ob Sie das Recht zu haben glauben, mich zu beleidigen, und ob Sie sich einbilden, ich sei gegen eine solche Beschimpfung unempfindlich.«

»Wenn Sie sich beschimpft fühlen, so kann ich Ihnen den Gefallen tun, zu glauben, daß ich unrecht habe; aber ich gestehe, ich erwartete nicht, daß Sie sich für berechtigt hielten, mir einen solchen Vorwurf zu machen. Goudar ist ein intimer Bekannter von Ihnen, und der Vorschlag ist nicht der erste dieser Art, den der Chevalier Ihnen gemacht hat. Ich konnte mich nicht unmittelbar an Sie wenden, denn ich weiß jetzt, woran ich mit Ihnen bin, da Sie sich ja nur eine Ehre daraus machen, Ihr Wort zu brechen.«

»Ich kümmere mich nicht um die wenig schmeichelhaften Bemerkungen, die Sie sich gegen mich erlauben, aber ich will Sie daran erinnern, daß ich Ihnen gesagt habe, Sie werden mich niemals, weder durch Gewalt noch für Geld, bekommen, sondern nur, wenn Sie mich durch Ihr Benehmen in Sie verliebt machen. Beweisen Sie mir, daß ich Ihnen nicht Wort gehalten habe. Im Gegenteil, haben Sie Ihr Wort gebrochen: erstens, indem Sie mich im Bade überraschten, dann wieder gestern, indem Sie von meiner Mutter verlangten, mich Ihnen zur Befriedigung Ihrer tierischen Lust auszuliefern. Nur ein Halunke wie Goudar konnte solchen Auftrag von Ihnen übernehmen.«

»Goudar ein Halunke! Der ist ja Ihr allerbester Freund! Sie wissen doch, daß er Sie liebt, und daß er nur in der Hoffnung, Sie zu besitzen, Ihnen den Botschafter verschafft hat. Das Schriftstück, das er bei sich hat, beweist Ihr Unrecht. Sie sind seine Schuldnerin; kommen Sie daher dieser Verpflichtung nach, und dann nennen Sie ihn einen Halunken, wenn Sie sich selber unschuldig finden können. Weinen Sie nicht! Ich kenne die Quelle Ihrer Tränen; sie ist nicht von der Art, die man mit Stolz nennen kann. Sie ist unrein.«

»Sie kennen sie nicht. Ich liebe Sie, und es ist sehr hart für mich, daß ich mich so von Ihnen behandelt sehen muß.«

»Wenn Sie mich lieben, so haben Sie es sehr verkehrt angefangen, um mich davon zu überzeugen.«

»Ebenso verkehrt, wie Sie es angefangen haben, um mich von Ihrer Achtung zu überzeugen. Sie haben mich vom Anfang an wie eine ganz gemeine Prostituierte behandelt; gestern haben Sie mich behandelt wie ein willenloses Tier, wie eine erbärmliche Sklavin meiner Mutter. Mir scheint, wenn Sie nur ein wenig Gefühl für die einfachste Schicklichkeit gehabt hätten, so hätten Sie sich an mich selber wenden müssen; aber nicht so, wie Sie es getan haben, sondern schriftlich. Dazu hätten Sie nicht dieses elenden Boten bedurft; ich hätte Ihnen auf alle Fälle geantwortet, und Sie hätten nicht zu befürchten brauchen, von mir betrogen zu werden.«

»Nehmen Sie an, ich hätte an Sie geschrieben – was würden Sie mir geantwortet haben?«

»Ich will ganz offen sein: ich würde Ihnen, ohne etwas von den hundert Guineen zu sagen, versprochen haben. Sie zu befriedigen, unter der Bedingung, daß Sie mir vierzehn Tage lang den Hof machten, indem Sie mich in meiner Wohnung besuchten, ohne jemals auch nur die geringste Gefälligkeit zu verlangen. Wir hätten im Familienkreise miteinander gelebt, hätten gelacht und gescherzt; wir wären ins Theater gegangen, hätten Spaziergänge gemacht, und ich würde mich rasend in Sie verliebt haben. Dann hätten Sie mich bekommen, wie Sie’s verdient hätten, nicht aus Gefälligkeit, sondern aus Liebe. Ich kann immer noch gar nicht begreifen, daß ein Mann wie Sie sich damit begnügen kann, wenn eine Person, die er liebt, sich ihm nur aus Gefälligkeit oder aus Eigennutz hingibt. Finden Sie das nicht demütigend für beide Teile? Sie können mir’s glauben: ich schäme mich, wenn ich daran denke, daß ich stets nur aus Gefälligkeit geliebt habe. Ich Unglückliche! Ich fühle mich zur Liebe geschaffen und ich habe einen Augenblick geglaubt, Sie seien der Mann, den mein guter Stern nach England geführt habe, um mich durch wahre Liebe glücklich zu machen. Aber Sie haben im Gegenteil mein Unglück nur verschlimmert! Sie sind der erste Mann, der mich hat weinen sehen. Sie haben mir sogar mein Familienleben verbittert; denn meine Mutter wird niemals das Geld bekommen, das Sie ihr haben anbieten lassen, und wenn es mir nur einen einzigen Kuß kosten sollte.«

»Es tut mir leid, Ihnen wehgetan zu haben; denn das konnte niemals meine Absicht sein. Aber ich sehe kein Mittel dagegen.«

»Kommen Sie zu uns – das wird das rechte Mittel sein. Behalten Sie Ihr Geld, das ich verachte. Wenn Sie mich lieben, so erobern Sie mich wie ein rechter Liebhaber, aber nicht mit brutalen Mitteln. Ich werde Ihnen entgegenkommen; denn Sie können jetzt an meiner Liebe nicht mehr zweifeln.«

Diese Rede schien mir zu natürlich zu sein, um eine Falle enthalten zu können. So ließ ich mich denn fangen: ich versprach ihr, alles zu tun, was sie wünschte, aber nur während der von ihr festgesetzten zwei Wochen. Sie bestätigte ihr Versprechen, indem sie es noch einmal wiederholte, und ihre Stirn erheiterte sich wieder. Die Charpillon war zu einer ausgezeichneten Komödiantin geboren.

Sie stand auf, um zu gehen. Als ich sie um einen Kuß als Pfand unserer Versöhnung bat, sagte sie mir mit einem Lächeln, dem sie den größten Reiz zu verleihen wußte, wir dürften nicht damit anfangen, unsere Bedingungen zu verletzen. Sie ging. Ich war verliebt und folglich voll Reue über mein früheres Benehmen gegen sie.

Hätte die Sirene, anstatt mir mündlich ihre Predigt zu halten, mir ihre Auseinandersetzungen schriftlich geschickt, so würde das ganze Märchen mich wahrscheinlich kalt gelassen haben, und ich hätte darüber gelacht; denn in einem Brief hätte ich nicht ihre Tränen gesehen, nicht ihre entzückenden Gesichtszüge, nicht ihre Blicke, die so feurig zu einem Richter sprachen, der schon im voraus durch die Leidenschaft bestochen war. Ohne Zweifel hatte sie dies vorausgesehen, denn der Instinkt der Frau ist so fein, daß in Herzensangelegenheiten das bloße Gefühl sie in einer Minute mehr lehrt, als wir Männer unser ganzes Leben lang lernen.

Gleich an demselben Abend begann ich meine Besuche, und an dem Empfang, der mir zuteil wurde, glaubte ich den Triumph meiner heldenmütigen Entsagung zu erkennen:

Quel che l’uom vede, Amor gli fà invisibile,
E l’invisibil fà veder Amor.

Was einer sieht, die Liebe macht’s unsichtbar;
Und was unsichtbar ist, sie macht es sehn.

Ich verbrachte die vierzehn Tage, ohne ihr auch nur die Hand zu küssen, und ich betrat nicht ein einziges Mal ihr Haus, ohne ihr ein wertvolles Geschenk mitzubringen, das sie mit bezaubernder Anmut und mit anscheinend grenzenloser Dankbarkeit entgegennahm. Außerdem unternahmen wir, um die Zeit zu verkürzen, jeden Tag irgendeinen Ausflug in die Umgegend von London oder gingen ins Theater. Ich kann rechnen, daß diese vierzehn Tage mit ihren Dummheiten mir mindestens vierhundert Guineen kosteten.

Am letzten Tage der Frist fragte ich sie in Gegenwart ihrer Mutter, ob sie wünschte, daß wir die letzte Nacht in ihrem oder in meinem Hause verbrächten. Die Mutter sagte mir, wir würden darüber nach dem Abendessen entscheiden. Ich wandte nichts dagegen ein, obgleich ich ihr gern gesagt hätte, daß bei mir das Abendessen feiner und leckerer und daher eine bessere Vorbereitung für den bevorstenden Liebeskampf sein würde.

Nach dem Essen nahm die Mutter mich auf die Seite und sagte mir, ich möchte mich mit der übrigen Gesellschaft entfernen und später wiederkommen. Obgleich ich bei mir selber über diese überflüssige Geheimtuerei lachte, gehorchte ich. Als ich wieder kam, fand ich im Wohnzimmer Mutter und Tochter, und auf dem Fußboden war ein Bett zurecht gemacht.

Obgleich diese Zurichtung nicht eben nach meinem Geschmack war, war ich doch so verliebt, daß ich mich damit begnügte. Ich glaubte nun endlich, daß jede Gefahr einer Täuschung beseitigt wäre, war jedoch sehr erstaunt, als die Mutter mir gute Nacht wünschte und mich fragte, ob ich die hundert Guineen vorausbezahlen wollte.

»Pfui!« rief die Tochter, und die Mutter ging hinaus.

Wir schlossen uns ein.

Der Augenblick war da, wo meine Liebe, die ganz gegen meine sonstigen Gewohnheiten so lange im Zaum gehalten worden war, endlich der Knechtschaft entrinnen sollte. Ich ging also mit offenen Armen auf sie zu. Sie entzog sich jedoch meinen Liebkosungen, wenngleich mit sanftem Wesen, und bat mich, ich möchte mich zuerst hinlegen; sie würde sich zurecht machen und mir sogleich folgen.

Ich fügte mich ihrem Willen, kleidete mich aus und legte mich liebeglühend zu Bett. Voller Wonne sah ich sie sich ausziehen; aber als sie fertig war, löschte sie die Kerzen aus. Als ich mich hierüber beklagte, sagte sie mir, sie könne bei Licht nicht schlafen. Da ich wußte, daß dies von der Schönen eine reine Laune sein mußte, begann ich den Verdacht zu hegen, daß sie mir Schwierigkeiten machen wollte, um mich dadurch noch mehr anzustacheln; ich hoffte jedoch, auch diese zu besiegen, und faßte mich abermals in Geduld.

Sobald ich sie neben mir liegen fühlte, näherte ich mich ihr, um sie in meine Arme zu schließen; aber ich fand sie zusammengekauert und mit gekreuzten Armen und den Kopf auf die Brust gelegt in ihr langes Hemd eingewickelt. Soviel ich bat, schalt, fluchte – sie blieb in ihrer Lage, ohne ein Wort zu sagen.

Anfangs hielt ich es für einen Scherz; bald aber überzeugte ich mich, daß es keiner war, und merkte, daß ich wiederum angeführt war. So war ich denn in meinen eigenen Augen ein elender Dummkopf, um so mehr, da ich mich um einer abscheulichen Prostituierten willen erniedrigt hatte.

In einer solchen Lage schlägt die Liebe leicht in Wut um. Ich packte sie wie einen Sack, rollte sie hin und her, stieß sie; aber vergebens – sie leistete keinen Widerstand, sagte aber auch kein Wort. Ich sah, daß das Hemd ihr Hauptschutzmittel war, und es gelang mir, es auf dem Rücken zu zerreißen, aber es war mir nicht möglich, es vollständig von ihr abzustreifen. Mit den Schwierigkeiten wuchs meine Wut: Meine Hände wurden zu Klauen, und ich ersparte ihr nicht die grausamsten Mißhandlungen. Aber das alles nützte mir nichts. Ich entschloß mich endlich, von ihr abzulassen, als ich meine Hand an ihrer Kehle hatte und die Versuchung fühlte, sie zu erwürgen.

Grausame Nacht, entsetzliche Nacht! In allen Tonarten sprach ich zu dem Scheusal: mit Sanftmut, Zorn, Vernunftgründen, Vorstellungen, Drohungen, Wut, Verzweiflung, Tränen, Schimpfworten und den schrecklichsten Beleidigungen drang ich auf sie ein; sie widerstand mir drei volle Stunden, ohne eine einzige Antwort zu geben, ohne jemals trotz allen Mißhandlungen ihre unbequeme Lage aufzugeben.

Um drei Uhr morgens stand mein Kopf in Flammen; mein Körper war besudelt, ermattet, mein Geist wie betäubt. Ich faßte endlich den Entschluß, mich im Dunkeln anzuziehen. Ich öffnete die Zimmertür, fand aber die Haustür verschlossen; ich machte Lärm, und eine Magd öffnete mir. Ich ging nach Hause und legte mich zu Bett; aber die beleidigte Natur verweigerte mir die Ruhe, deren ich bedurfte. Ich trank eine Tasse Schokolade, aber ich konnte sie nicht verdauen. Bald darauf ergriff mich ein Fieberschauer, der erst am nächsten Tage aufhörte; dann aber war ich an allen Gliedern wie gelähmt.

Ich mußte einige Tage im Bett liegen bleiben, aber ich wußte, daß ich bald wieder meine volle Gesundheit erlangt haben würde. Wie Balsam ergoß es sich durch alle meine Adern, als ich die Gewißheit erlangte, endlich von meinem Wahnsinn geheilt zu sein. Dies erkannte ich daran, daß ich an keinen Racheplan dachte. Ich schämte mich so, daß ich mich selber verabscheute.

Als mich das Fieber befiel, hatte ich meinem Bedienten befohlen, alle Besucher abzuweisen, niemanden bei mir zu melden und alle ankommenden Briefe in meinen Schreibtisch zu legen. Ich wollte nichts hören und sehen, bevor ich gänzlich wiederhergestellt war.

Am nächsten Tage fühlte ich mich wieder wohl und befahl Jarbe, mir meine Briefe zu geben. Ich fand einen von Pauline, die mir von Madrid aus schrieb, Clairmont habe ihr beim Übergang über einen Fluß das Leben gerettet; da sie einen Diener wie ihn nicht finden zu können glaube, so habe sie beschlossen, ihn bis Lissabon zu behalten; sie werde ihn von dort aus zu Schiff nach England schicken. Damals freute ich mich über diesen Beschluß; aber er wurde meinem treuen Clairmont und infolgedessen auch mir verhängnisvoll. Vier Monate darauf erfuhr ich, daß das Schiff, mit welchem er gesegelt war, untergegangen war, und da ich ihn nicht wiedergesehen habe, so habe ich nicht daran zweifeln können, daß dieser ausgezeichnete Diener in den Wellen umgekommen ist.

Unter den Londoner Briefen fand ich zwei von der niederträchtigen Mutter der niederträchtigen Charpillon und einen von dieser selbst. Der erste war sofort am Morgen nach der schrecklichen Nacht geschrieben. Die Mutter, die nicht wußte, daß ich krank war, teilte mir mit, ihre Tochter liege mit einem starken Fieber zu Bett; sie sei infolge der von mir erhaltenen Schläge mit Wunden bedeckt; daher sei sie, die Mutter, genötigt, mich vor Gericht zu belangen. In dem zweiten, der vom nächsten Tage war, schrieb sie mir, sie habe gehört, daß auch ich krank sei wie ihre Tochter; sie bedauere dies, denn ihre Tochter habe ihr gestanden, ich könne vielleicht Gründe haben, mich über sie zu beklagen; aber sie werde sich bei unserer ersten Zusammenkunft rechtfertigen. Der Brief der Charpillon war ebenfalls am zweiten Tage geschrieben. Sie sagte mir, sie sehe ihr Unrecht vollkommen ein und sei nur erstaunt, daß ich sie nicht getötet hätte, als ich sie an der Gurgel packte; sie schwor mir, sie würde sich nicht gewehrt haben, denn in der entsetzlichen Zwangslage, in der sie sich befunden habe, sei es ihre Pflicht gewesen, alles hinzunehmen. Sie sei überzeugt, daß ich entschlossen sei, nicht wieder zu ihr zu gehen; darum bitte sie mich, sie nur ein einziges Mal in meinem Hause zu empfangen, denn sie müsse mir sofort etwas mitteilen, was für mich von Wichtigkeit sei; sie könne es mir aber nur mündlich sagen. Goudar hatte mir am Morgen geschrieben, er habe mir etwas zu sagen und werde um die Mittagsstunde kommen. Ich gab Befehl, ihn eintreten zu lassen.

Zu meinem Erstaunen erzählte der eigentümliche Mensch mir mit allen Einzelheiten den Auftritt, den ich mit der Charpillon gehabt hatte. »Ich habe die ganze Schilderung von der Mutter, der die Tochter alles erzählt hat. Die Charpillon hat kein Fieber gehabt, aber ihr ganzer Leib war mit schwarzen Flecken bedeckt, deutlichen Beweisstücken der empfangenen Schläge. Den größten Kummer aber machte der alten Kupplerin, daß sie die hundert Goldstücke nicht bekommen hat, die Sie ihr gewiß vorausbezahlt haben würden, wenn die Tochter es gewollt hätte.«

»Sie hätte sie am Morgen bekommen, wenn sie gefügig gewesen wäre.«

»Sie hatte ihrer Mutter unter Eid versprochen, es nicht zu sein. Geben Sie nur alle Hoffnung auf, sie zu besitzen, wenn die Mutter nicht ihre Einwilligung gibt.«

»Und warum gibt sie diese nicht?«

»Sie behauptet, Sie werden sie verlassen, sobald Sie sie genossen haben.«

»Das könnte wohl sein; aber bevor ich sie verlassen hätte, würde ich sie mit Geschenken überhäuft haben. Jetzt ist sie ebenfalls verlassen und hat keine Hoffnung, irgend etwas zu bekommen.«

»Sind Sie fest entschlossen, bei Ihrem Vorsatz zu bleiben?«

«Ganz fest.«

»Das ist der vernünftigste Entschluß, den Sie fassen können; ich rate Ihnen sehr, bleiben Sie dabei. Indessen möchte ich Ihnen etwas zeigen, was Sie überraschen wird. Ich komme in wenigen Augenblicken wieder.«

Als er wiederkam, hatte er einen Packträger bei sich, der einen mit einer Schürze überzogenen Lehnstuhl in mein Zimmer brachte. Sobald wir allein waren, nahm Goudar den Überzug ab und fragte mich, ob ich den Stuhl kaufen wolle.

»Was soll ich denn damit? Das Möbel sieht überdies nicht verlockend aus.«

»Trotzdem verlangt man hundert Guineen dafür.«

»Ich würde keine drei dafür geben.«

»Der Lehnstuhl hat fünf Federn, die sich gleichzeitig lösen, sobald ein Mensch sich hineinsetzt. Der Vorgang vollzieht sich sehr schnell: zwei Federn umgreifen die Arme und halten sie fest umklammert; zwei andere bemächtigen sich der Knie und spreizen die Schenkel soweit wie möglich; die fünfte Feder hebt den Sitz in die Höhe, so daß die gefangen gehaltene Person eine gekrümmte Stellung einnehmen muß.«

Nachdem er diese Beschreibung gegeben hatte, setzte Goudar sich auf die gewöhnliche Art in den Stuhl; sofort spielten die Federn, und ich sah ihn in der Stellung einer Frau, die ein Kind gebärt.

»Lassen Sie die schöne Charpillon sich auf diesen Stuhl setzen, und die Sache ist erledigt.«

Ich mußte unwillkürlich über die Erfindung lachen, die ich ebenso sinnreich wie teuflisch fand; es widerstrebte mir jedoch, mich eines solchen Mittels zu bedienen.

»Ich werde den Stuhl nicht kaufen,« sagte ich zu ihm; »aber Sie tun mir einen Gefallen, wenn Sie ihn mir bis morgen hier lassen.«

»Nicht einmal eine Stunde, wenn Sie ihn nicht etwa kaufen; denn der Besitzer wartet hier ganz in der Nähe auf mich.«

»Dann lassen Sie ihm also den Stuhl zurückbringen und kommen Sie zum Essen wieder.«

Er zeigte mir, was ich zu tun hatte, um ihm seine Freiheit wiederzugeben. Hierauf zog er die Schutzdecke über den Stuhl, ließ den Packträger hereinkommen und ging.

Die Wirkung des Mechanismus war unfehlbar, und es war durchaus nicht Geiz, was mich davon abhielt, den Stuhl zu kaufen. Wie ich bereits sagte, fand ich die Erfindung teuflisch und auf den ersten Blick abstoßend; außerdem aber bedurfte es nur geringer Überlegung, um mir zu sagen, daß die Anwendung mich an den Galgen bringen könnte, da ich mich in einem Lande befand, dessen Richter mehr über die bei einem Verbrechen bekundete moralische Gesinnung, als über das Verbrechen selbst urteilen, überhaupt hätte ich mich bei kaltem Blut niemals entschließen können, mich der Charpillon gewaltsam zu bemächtigen, noch weniger mit Hilfe dieser schrecklichen Maschine, bei deren Anwendung sie vor Furcht hätte sterben können.

Beim Essen sagte ich Goudar, die Charpillon habe an mich geschrieben und mich um eine Unterredung in meinem Hause gebeten. Ich hätte daher den Lehnstuhl gern behalten, um ihr zu zeigen, daß ich mich ihrer hätte bemächtigen können, wenn ich gewollt hätte. Ich zeigte ihm den Brief, und er riet mir, auf ihren Vorschlag einzugehen, wäre es auch nur aus Neugier.

Ich hatte es nicht eilig, dies Geschöpf mit blauen Flecken an Gesicht und Brust wiederzusehen; denn diese Flecken hätte sie mir gewiß gezeigt, um mich zu rühren und wegen meiner Roheit zu beschämen. Ich ließ daher acht oder zehn Tage vergehen, ohne sie zu empfangen. Goudar kam jeden Tag und unterrichtete mich über die Beratungen dieser Weiberbande, die darauf ausging, nur von Gaunereien zu leben.

Ich erfuhr von ihm, daß die Großmutter eine Bernerin war, die sich ohne jedes Recht den Namen Ansperger angemaßt hatte; denn sie war nur die Geliebte eines ehrenwerten Bürgers dieses Namens gewesen, dem sie vier Mädchen geboren hatte; die Mutter der Charpillon war die jüngste von diesen, und da sie ziemlich hübsch war und einen ausschweifenden Lebenswandel führte, hatte die Regierung sie samt ihrer Mutter und ihren Schwestern ausgewiesen. Sie hatte sich hierauf in der Freigrafschaft niedergelassen, wo sie eine Zeitlang vom Verkauf des Lebensbalsams lebten. Dort kam die Charpillon zur Welt; nach der Behauptung der Mutter soll ein Graf de Coutainvilliers der Vater sein. Da das Mädchen hübsch wurde, glaubte die Mutter, sie müsse in Paris ihr Glück machen. Sie ließ sich dort nieder; da aber ihr Lebensbalsam trotz aller Güte nicht für ihren Unterhalt ausreichte, und da die Charpillon, weil sie noch zu jung war, niemanden fand, der sie unterhalten wollte, da ihr endlich wegen ihrer Schulden das Gefängnis drohte, so faßte sie auf den Rat ihres damaligen Liebhabers Rostaing den Beschluß, nach London zu ziehen.

Goudar schilderte mir dann den ganzen Schwindelbetrieb, wovon die Familie lebte; mich interessierte dies damals, aber den Leser könnte es nicht interessieren; er wird mir daher wohl Dank wissen, wenn ich darüber hinweggehe.

Da ich die Sprache des Landes nicht kannte und durchaus nichts zu tun hatte, so schätzte ich mich beinahe glücklich, über Goudar verfügen zu können. Er machte mich mit den berühmtesten Londoner Kurtisanen bekannt, besonders auch mit der vielgefeierten Kitty Fisher, die damals schon anfing, aus der Mode zu kommen. Ferner zeigte er mir in einem Bierausschank, wo wir eine Flasche »Strongbeer« – das besser ist als Wein – tranken, eine Aufwärterin, die sechzehn Jahre alt und ein wahres Wunder von Schönheit war. Sie war eine katholische Irländerin und hieß Sarah. Ich wollte sie erobern oder kaufen, aber Goudar hatte seine bestimmten Absichten mit ihr und entführte sie auch wirklich das Jahr darauf.

Schließlich heiratete er sie, und sie ist eben jene Sarah Goudar, die in Neapel, Florenz, Venedig und an anderen Orten glänzte und die wir vier oder fünf Jahre später, immer mit ihrem Gemahl, wiederfinden werden. Goudar hatte die Absicht, sie als die Geliebte Ludwigs des Fünfzehnten an die Stelle der Dubarry zu bringen; aber eine lettre de cachet nötigte ihn, anderswo sein Glück zu versuchen. Glückliche Zeiten der lettres de cachet, ach, ihr seid nicht mehr!

Der Charpillon wurde es schließlich zu langweilig, auf eine Antwort zu warten; als vierzehn Tage verstrichen waren, ohne daß sie ein Wort von mir gehört hatte, beschloß sie, den Angriff zu erneuern. Ohne Zweifel war dies das Ergebnis einer sehr geheimen Beratung; denn Goudar hatte mir nichts davon gesagt.

Sie kam allein in einer Sänfte zu mir, und dies bestimmte mich, sie zu empfangen. Ich trank gerade meine Schokolade und empfing sie, ohne aufzustehen und ohne ihr ein Frühstück anzubieten. Sie bat mich in bescheidenem Tone selber darum und setzte sich neben mich, indem sie mir ihr Gesicht zum Kuß hinhielt; dies hatte sie früher niemals getan. Ich wandte den Kopf ab, aber selbst diese unerhörte Zurückweisung brachte sie nicht aus der Fassung, sondern sie sagte: »Ohne Zweifel sind es die noch allzu sichtbaren Spuren Ihrer Schläge, die Ihnen mein Gesicht abschreckend erscheinen lassen.«

»Sie lügen! Ich habe Sie nicht geschlagen.«

»Einerlei; Ihre Tigerklauen haben Male an meinem ganzen Körper hinterlassen. Sehen Sie her! Sie laufen ja keine Gefahr, daß das, was ich Ihnen zeige, Sie verführen könnte. Übrigens ist es Ihnen ja nichts Neues.«

Mit diesen Worten entblößte das schurkische Weib sich und zeigte meinen Blicken die ganze Oberfläche ihres Körpers, worauf wirklich trotz der seither verstrichenen Zeit noch einige fahle Flecke zu sehen waren.

Ich Feigling! Warum habe ich nicht meine Augen abgewandt. Warum? Ich will es dir sagen, Leser: weil sie schön war, weil ich ihre Reize liebte und weil die »Reize« nicht ihren Namen verdienten, wenn sie nicht die Macht hätten, die Vernunft zum Schweigen zu bringen. Ich tat, wie wenn ich nicht hinsähe; aber wie lächerlich mußte ich dabei aussehen! Ich errötete über mich selber. Ein unwissendes kleines Mädchen, das nicht, wie ich, in staubigen alten Büchern studiert hatte, wußte mehr als ich. Ja, sie wußte, daß das Gift durch alle meine Poren drang. Plötzlich, als sie annahm, ich sei vom Gift glühender Begierden genügend durchseucht, brachte sie ihre Kleidung wieder in Ordnung und setzte sich wieder an meine Seite. Offenbar war sie überzeugt, daß es mir lieb gewesen wäre, wenn sie mit diesem berauschenden Schauspiel noch nicht aufgehört hätte.

Ich nahm mich jedoch, so gut ich konnte, zusammen und sagte ihr, es sei ihre eigene Schuld, wenn ich ihr so weh getan habe; denn ich könnte nicht einmal darauf schwören, daß diese Quetschungen von mir herrührten.

»Ich weiß,« antwortete sie, »daß alles meine eigene Schuld gewesen ist; denn wenn ich gefügig gewesen wäre, wie ich es hätte sein sollen, wären Sie nicht grausam, sondern zärtlich gewesen. Aber Reue macht begangenes Unrecht gut, und ich bin hier, um Sie um Verzeihung zu bitten. Kann ich darauf hoffen?«

»Ich kann Ihnen diese Bitte nicht abschlagen. Ich trage Ihnen nichts mehr nach, und es tut mir nur leid, nicht mir selber vergeben zu können. Jetzt aber können Sie gehen, denn Sie brauchen auf mich nicht mehr zu rechnen; ich hoffe, Sie werden in Zukunft nicht mehr versuchen, meine Ruhe zu stören.«

»Es geschehe, wie Sie wünschen. Aber Sie wissen nicht alles, und ich bitte Sie, mich einen Augenblick anzuhören.«

»Da ich nichts zu tun habe, so können Sie bleiben und sprechen; ich werde Ihnen zuhören.«

Vernunft und Ehre zwangen mich, den Stolzen und Kalten zu spielen; in Wirklichkeit aber war ich tief bewegt, und was das Schlimmste war: ich fühlte mich geneigt, zu glauben, daß das Mädchen nur deshalb wieder zu mir gekommen war, weil sie endlich zu verdienen wünschte, daß ich ihr Freund und Liebhaber würde.

Was sie mir zu sagen hatte, hätte in einer Viertelstunde gesagt werden können, aber allerlei Abschweifungen, geschickte Wiederholungen, Tränenergüsse brachten es dahin, daß sie zwei Stunden dazu brauchte, mir zu sagen, ihre Mutter habe sie bei ihrer Seele schwören lassen, die Nacht so mit ihr zu verbringen, wie sie es getan habe. Zum Schluß sagte sie mir, sie wolle endlich keine Sklavin mehr sein, und sei daher bereit, mir unter denselben Bedingungen anzugehören wie dem Herrn von Morosini. Sie wolle bei mir wohnen, weder ihre Mutter noch ihre anderen Verwandten sehen und werde mit mir nur dahin gehen, wohin ich wünsche; aber ich müsse ihr monatlich eine gewisse Summe aussetzen, die sie ihrer Mutter geben werde, damit diese sie nicht durch die Gerichte beunruhige; denn sie sei noch nicht in dem Alter, sich für unabhängig erklären zu dürfen. Sie aß mit mir zu Mittag; diesen Vorschlag machte sie mir jedoch erst am Abend, als ich wieder ruhig geworden und nach ihrer Meinung in der richtigen Stimmung war, mich von neuem betören zu lassen. Ich sagte ihr, wir könnten miteinander leben, wie sie es vorschlüge; ich wollte jedoch den Vertrag mit ihrer Mutter abschließen, und sie würde mich daher schon am nächsten Tage in ihrer Wohnung sehen. Diese Erklärung schien sie zu überraschen.

Wahrscheinlich würde die Charpillon mir an diesem Tage alles bewilligt haben, was ich nur hätte wünschen können, und dann wäre in Zukunft von Widerstand und Täuschung nicht mehr die Rede gewesen. Warum habe ich also nicht alles von ihr verlangt? Weil die Liebe, die geschickt macht, zuweilen auch das Gegenteil bewirkt; weil ich mir einbildete, ich sitze an diesem Tage gewissermaßen über die Verbrecherin zu Gericht und es würde daher eine niedrige Handlung sein, wenn ich mich an ihr rächte, indem ich meine Liebesbegierden befriedigte; und vielleicht auch, lieber Leser, weil ich in diesem Augenblick ein Dummkopf war, wie ich es in meinem Leben manchesmal gewesen bin.

Die Charpillon mußte wütend sein, als sie von mir ging; ohne Zweifel war sie entschlossen, sich dafür zu rächen, daß ich an diesem Tage gewissermaßen ihre Person verachtet hatte.

Goudar war sehr überrascht, als ich ihm am nächsten Tage von dem Besuch erzählte und ihm sagte, wie kläglich ich den Tag verwandt hatte. Ich bat ihn, mir ein möbliertes Häuschen zu besorgen, wie Morosini es gehabt hatte. Am Abend suchte ich das hinterlistige Weib in ihrer Wohnung auf; ich war immer noch auf den ernsten Ton gestimmt, dessen Lächerlichkeit ihr ohne Zweifel nicht entgehen konnte.

Da ich sie mit ihrer Mutter allein fand, setzte ich ihnen sofort meinen Plan auseinander. »Ihre Tochter«, sagte ich zur Mutter, »bekommt in Chelsea ein Haus, worin ich Herr bin; außerdem erhält sie monatlich fünfzig Guineen, womit sie anfangen kann, was sie will.«

»Wieviel Sie ihr monatlich geben, ist mir einerlei; ich will davon nichts wissen. Aber wenn sie von mir fortgeht, um anderswo zu wohnen, soll sie mir die hundert Guineen geben, die sie eigentlich von Ihnen dafür bekommen sollte, daß Sie die Nacht mit ihr zubrachten.«

»Eigentlich ist es ja Ihre Schuld, wenn sie sie nicht bekommen hat. Aber wir wollen die Sache kurz machen: Sie wird Ihnen das Geld geben.«

»Bis Sie das Haus gefunden haben,« sagte die Tochter, »werden Sie mich, hoffe ich, besuchen.«

»Ja.«

Schon am nächsten Tage fuhr Goudar mit mir nach Chelsea und zeigte mir ein hübsches Haus; ich mietete es und zahlte zehn Guineen für einen Monat voraus, nachdem ich meine Bedingungen gemacht und mir eine Quittung hatte geben lassen. Am Nachmittag ging ich zu der Mutter und schloß mit ihr den Handel ab; die Tochter war dabei zugegen und bereit, mir zu folgen. Die Mutter verlangte von mir die hundert Guineen, und ich gab sie ihr. Ich fürchtete nicht mehr, betrogen zu werden, denn die ganze kleine Ausrüstung ihrer Tochter war bereits in meiner Wohnung.

Wir fuhren ab und waren bald in Chelsea. Die Charpillon fand das Haus vollkommen nach ihrem Geschmack; wir machten einen Spaziergang und speisten dann fröhlich zu Abend. Nach dem Essen legten wir uns zu Bett, und sie bewilligte mir Liebkosungen und das Vorspiel; als ich aber zum Hauptangriff schritt, fand ich einen Widerstand, den ich nicht erwartet hatte. Sie schützte gewisse natürliche Gründe vor. Ich war nicht der Mann, mir aus einer solchen Kleinigkeit etwas zu machen; aber alle meine Anstrengungen waren vergeblich: sie widerstand mir, aber sie tat dies so sanft und liebenswürdig, daß ich schließlich von ihr abließ und einschlief.

Da ich vor ihr erwachte, wollte ich mich überzeugen, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Vorsichtig hob ich die Decke auf, schob ihr Hemd zur Seite und sah, daß sie mich wiederum angeführt hatte. Sie wachte auf und wollte sich mir widersetzen; aber es war zu spät. Ich machte ihr wegen der neuen Täuschung nur sanfte Vorwürfe, und bereit, alles zu verzeihen, schickte ich mich an, die verlorene Zeit wieder einzuholen. Sie schlug jedoch einen hohen Ton an und schimpfte, daß ich sie überrascht hätte. Ich suchte ihren Zorn zu besänftigen, indem ich sie bat, sich mir zu ergeben; das unwillige Geschöpf aber machte sich meine Sanftmut zunutze, verdoppelte den Widerstand und wollte mir nichts erlauben. Ich durchschaute ihre Absicht und beschloß, sie in Ruhe zu lassen, machte jedoch meiner Entrüstung in Worten Luft, wie ihr Benehmen sie verdient hatte, Anfangs lächelte die freche Person nur verächtlich; sie richtete sich im Bett auf und begann sich anzukleiden; dann aber erlaubte sie sich die unverschämtesten Antworten. Außer mir über den gemeinen Ton, den sie anschlug, gab ich ihr eine kräftige Ohrfeige und versetzte ihr einen Fußtritt, daß sie der Länge nach auf die Diele fiel. Sie fing an zu schreien, stampfte mit den Füßen und machte einen fürchterlichen Lärm. Der Wirt kam herauf, und sie sprach mit ihm englisch, während ihr das Blut aus der Nase strömte.

Zu meinem Glück sprach der Wirt italienisch. Er sagte mir, sie wolle gehen, und riet mir, mich dem nicht zu widersetzen, denn sonst könnte sie mir eine sehr unangenehme Geschichte an den Hals hängen und er würde genötigt sein, gegen mich auszusagen. Ich antwortete ihm: »Lassen Sie sie so schnell wie möglich verschwinden; hoffentlich sehe ich sie niemals wieder.«

Sie stillte die Blutung, zog sich fertig an und entfernte sich in einem Tragstuhl. Ich blieb stumm und gleichsam versteinert zurück; ich fühlte mich unwürdig, noch weiter zu leben, und fand das Benehmen des unglücklichen Mädchens unbegreiflich und unglaublich.

Als nach etwa einer Stunde die dumpfe Betäubung von mir gewichen war, entschloß ich mich, ihr ihren Koffer durch einen Fiaker zuzuschicken; hierauf ging ich nach Hause, befahl, keinen Menschen vorzulassen, und legte mich zu Bett.

Ich verbrachte vierundzwanzig Stunden mit bitteren Gedanken. Als schließlich die Vernunft sich geltend machte, sah ich ein, daß ich ihr unrecht getan hatte, und fand mich in meinen eigenen Augen verächtlich. Von dem Gefühl, das mich damals beherrschte, ist nur ein Schritt zum Selbstmord. Glücklicherweise und mit Recht tat ich diesen Schritt nicht.

Am nächsten Tage wollte ich gerade ausgehen, als Goudar kam. Er bat mich, mit ihm wieder hineinzugehen, da er mir etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Er sagte mir, die Charpillon sei zu Hause und habe eine so stark geschwollene Wange, daß sie sich nicht sehen lassen könne. Er riet mir, alle meine Ansprüche gegen sie oder ihre Mutter aufzugeben; sonst sei sie entschlossen, mich durch eine Verleumdung, die mir das Leben kosten könne, zugrunde zu richten. Denen, die England und besonders London kennen, brauche ich nicht zu sagen, welcher Art diese Verleumdung sein sollte, die bei den Engländern so leicht glaubhaft zu machen ist und sich auf die Greuel bezieht, die einst Sodoms Untergang veranlaßten. Goudar sagte mir: »Die Mutter hat mich gebeten, die Sache zu vermitteln; sie will Ihnen durchaus nichts zuleide tun, wenn Sie sie in Ruhe lassen.«

Nachdem ich den Tag mit diesem Vermittler verbracht und mich stundenlang in dummen Klagen ergangen hatte, sagte ich ihm, er könne der Mutter mitteilen, daß ich meine Ansprüche aufgeben wolle; ich möchte jedoch gern wissen, ob sie und ihre Tochter den Mut haben würden, diese Zusicherung aus meinem eigenen Munde zu empfangen.

»Ich will es ausrichten,« antwortete er mir; »aber ich bedauere Sie, denn Sie werden wieder in ihre Netze geraten, und sie werden Sie zugrunde richten, ohne Ihre Wünsche zu befriedigen. Sie tun mir leid.«

Ich bildete mir ein, die beiden Geschöpfe würden nicht den Mut haben, mich zu empfangen. Aber wie wenig kannte ich sie! Goudar kam und sagte mir lachend, die Mutter hoffe, ich werde stets ein Freund des Hauses bleiben. Es wäre mir, glaube ich, angenehm gewesen, eine abschlägige Antwort zu erhalten; denn ich wünschte, diese Elende, die mir soviel innerliche Unruhe bereitete, nicht wiederzusehen; aber ich hatte nicht die Kraft, wie ein Mann zu handeln und mir den einzigen Vorteil zunutze zu machen, den ihre Habsucht mir bot. Gegen Abend ging ich zu ihnen und saß eine Stunde lang, ohne eine Silbe zu sprechen, der Charpillon gegenüber, die ihre Blicke auf eine Stickerei gesenkt hielt. Von Zeit zu Zeit tat sie, wie wenn sie eine Träne trocknete, und ab und zu enthüllte sie ihr Gesicht, um mir zu zeigen, wie ich ihre Wange zugerichtet hatte.

Jeden Tag ging ich zu ihr und saß schweigend da, bis endlich die Spur der bösen Ohrfeige gänzlich verschwunden war. Während dieser törichten Besuche durchdrang das Gift heißer Begierde mich so ganz und gar, daß sie mir alles, was ich besaß, für eine einzige Gunstbezeigung hätte abnehmen können, wenn sie meinen Zustand geahnt hätte.

Als sie wieder schön war, starb ich vor Begier, sie wieder in meinen Armen zu sehen, wie ich sie sanft und liebkosend bereits einmal, wenn auch nur unvollkommen, besessen hatte. Ich kaufte einen prachtvollen Stehspiegel und ein herrliches Frühstücksgeschirr von Meißener Porzellan und sandte ihr diese Geschenke mit einem Liebesbrief, der mich in ihren Augen entweder als den größten Verschwender oder als den erbärmlichsten Menschen erscheinen lassen mußte. Sie antwortete mir, sie erwarte mich in ihrem Zimmer zum Abendessen unter vier Augen, um mir, wie ich es verdiene, die zärtlichsten Beweise ihrer Dankbarkeit zu geben.

Dieser Brief raubte mir so völlig die Besinnung, daß ich in einem Wahnsinnsanfalle von Begeisterung den Entschluß faßte, ihr die beiden Wechsel über sechstausend Franken anzuvertrauen, die Bolomé mir ausgestellt hatte, und die mir das Recht gaben, ihre Mutter und ihre Tante ins Gefängnis bringen zu lassen.

Beseligt von dem Glück, das meiner wartete, und von dem Gedanken, daß ich es durch die heroische Handlung verdiente, die ich der Charpillon gegenüber begehen wollte, ging ich zum Abendessen zu ihr. Sie empfing mich mit ihrer Mutter im Wohnzimmer, und ich sah voller Freude den Spiegel über dem Kamin angebracht und das Porzellangeschirr auf einem Tischchen stehen. Nachdem sie mich hundertmal ihrer Zärtlichkeit versichert hatte, lud sie mich ein, auf ihr Zimmer zu gehen, und ihre Mutter wünschte uns eine gute Nacht.

Ich war freudetrunken. Nachdem wir eine leckere kleine Mahlzeit zu uns genommen hatten, zog ich aus meiner Brieftasche die beiden Wechsel, deren Geschichte ich ihr erzählte. Dann übergab ich sie ihr und sagte, ich würde sie an ihre Ordre indossieren, sobald sie mich als bevorzugten Liebhaber behandelt hätte; ich wollte ihr dadurch beweisen, daß ich nicht im geringsten daran dächte, mich an ihrer Mutter und an ihren Tanten rächen zu wollen. Ich ließ mir von ihr versprechen, die Wechsel nicht aus den Händen zu geben. Sie nahm sie dankbar an, pries mein edles Benehmen und schloß endlich die Wechsel sorgfältig in ihre Kassette ein, nachdem sie mir alles versprochen hatte.

Nun glaubte ich ihr Beweise meiner Leidenschaft geben zu können. Ich fand sie sanft; als ich aber die Frucht pflücken wollte, umschlang sie mich fest mit ihren Armen, kreuzte ihre Beine und weinte heiße Tränen.

Ich zwang mich zur Ruhe und fragte sie, ob sie ihr Benehmen ändern würde, wenn wir beieinander im Bett lägen. Sie seufzte, schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Nein.«

Diese Antwort versteinerte mich. Länger als eine Viertelstunde saß ich da, ohne mich zu rühren, ohne ein Wort zu sprechen. Dann stand ich mit scheinbarer Ruhe auf und nahm meinen Mantel und meinen Degen.

»Wie?« rief sie, »Sie wollen nicht die Nacht mit mir verbringen?«

»Nein.«

»Werden wir uns morgen sehen?«

»Ich hoffe es. Leben Sie wohl!«

Ich verließ diese Hölle, ging nach Hause und legte mich zu Bett.

Zehntes Kapitel


Die Gesellschaft bei der Cornelis. – Erlebnis in Ranelagh-House. – Ich bin der englischen Kurtisanen überdrüssig. – Die Portugiesin Paulina.

Ich begab mich nach dem Gesellschaftssaal; der Sekretär, der neben der Türe saß, nahm mir meine Eintrittskarte ab und schrieb meinen Namen ein. Sobald die Cornelis mich bemerkte, kam sie auf mich zu und sagte mir, es freue sie sehr, daß ich mit einer Eintrittskarte gekommen sei; sie habe sich aber schon gedacht, daß ich kommen werde.

»Das war nicht schwer zu erraten,« antwortete ich ihr, »denn sobald Sie wußten, daß ich bei Hof empfangen war, mußten Sie auch wissen, daß ein Eintrittsgeld von zwei Guineen mich nicht abhalten würde, hierher zu kommen. Um unserer alten Freundschaft willen tut es mir leid, daß ich diese beiden Guineen nicht Ihnen selber gegeben habe; denn Sie mußten doch wissen, daß ich niemals die allzubescheidene Rolle angenommen haben würde, die Sie mir bestimmt hatten.«

Diese ironischen Worte brachten die Cornelis in Verlegenheit. Lady Harrington, die eine ihrer eifrigsten Beschützerinnen war, kam ihr zu Hilfe. Sie sagte: »Ich habe Ihnen, meine liebe Cornelis, eine Anzahl Guineen zu übergeben, darunter auch zwei von Herrn von Seingalt, von dem ich mir gleich dachte, daß er ein alter Bekannter von Ihnen sei. Ich habe jedoch nicht gewagt, ihm das zu sagen«, fuhr sie fort, indem sie einen boshaften Blick auf mich warf.

»Warum denn nicht, Mylady? Ich habe schon seit langer Zeit die Ehre, Madame Cornelis zu kennen.«

»Das glaube ich«, rief sie lachend, »und ich mache Ihnen beiden mein Kompliment. Ich vermute auch, Chevalier, daß Sie die liebenswürdige Miß Sophie kennen.«

»Mylady, die Sache ist ganz einfach: wer die Mutter kennt, muß auch die Tochter kennen.«

«Ja, ja.«

Mylady umarmte zärtlich Sophie, die neben mir stand, und sagte dann zu mir: »Wenn Sie sich selber lieben, müssen Sie auch sie lieben, denn sie ist Ihr Ebenbild.«

»Das ist eins von den tausend Spielen der Natur.«

»Gewiß; aber diesmal hat sie mit Sachkenntnis gespielt.«

Mit diesen Worten nahm die Lady Sophie bei der Hand und führte uns, indem sie sich auf meinen Arm stützte, in das Gewimmel hinein. Geduldig mußte ich eine Menge Fragen mit anhören, welche von Leuten, die mich noch nicht kannten, an sie gerichtet wurden:

Das ist wohl der Mann von Madame Cornelis?

Ganz gewiß ist Herr Cornelis angekommen!

Ah! Das ist natürlich Herr Cornelis!

Ei sieh! Das ist ganz gewiß der Gemahl von Madame Cornelis!

»Nein, nein, nein!« sagt Lady Harrington den Neugierigen. Die Sache wurde mir langweilig, denn alle diese Fragen wurden nur deswegen fortwährend wiederholt, weil man der Kleinen ihre Abstammung am Gesicht ansah, und weil ein jeder erriet, daß ich ihr Vater war. Ich wünschte, Mylady sollte die Kleine gehen lassen; aber sie fand an der Sache zu viel Spaß, um mir diesen Gefallen zu tun.

»Bleiben Sie bei mir«, sagte sie zu mir, »wenn Sie die ganze Gesellschaft kennen lernen wollen.«

Sie setzte sich, ließ mich einen Platz neben ihr einnehmen und behielt die Kleine an ihrer Seite. Die Mutter kam heran, um der Lady ihre Aufwartung zu machen. Als ein jeder dieselben Fragen auch an sie richtete, die mich schon so lange langweilten, faßte sie ihren Entschluß und sagte ganz tapfer, ich sei ihr bester, ihr ältester Freund, und nicht ohne Grund staunte man über die vollkommene Ähnlichkeit ihrer Tochter mit mir. Jeder lachte und sagte, dabei sei nichts Erstaunliches, sondern es sei im Gegenteil höchst natürlich. Um die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, sagte die Cornelis schließlich, die kleine Sophie habe das Menuett gelernt und tanze es ausgezeichnet.

»Das müssen wir sehen!« rief Lady Harrington. »Lassen Sie einen Geiger kommen, damit wir die hübsche Virtuosa bewundern können!«

Wir befanden uns in einem Zimmer neben dem Saal, und der Ball hatte noch nicht begonnen. Ich wünschte, daß die Kleine allgemeinen Beifall ernten sollte; sobald daher der Geiger gekommen war, nahm ich sie bei der Hand, und das Menuett wurde zur großen Zufriedenheit des uns umgebenden, auserlesenen Zuschauerkreises getanzt.

Hierauf begann der Ball. Er dauerte die ganze Nacht ohne Unterbrechung, denn die Gäste aßen abteilungsweise und zu jeder Stunde, die ihnen beliebte: es war eine Verschwendung, die eines fürstlichen Hauses würdig war. Ich machte an diesem Abend die Bekanntschaft des ganzen Adels und der ganzen königlichen Familie; denn alle Prinzen und Prinzessinnen waren erschienen mit Ausnahme Ihrer Majestäten und des Prinzen von Wales. Die Cornelis hatte mehr als zwölfhundert Guineen eingenommen; aber die Ausgaben waren ungeheuer; denn es herrschte keine vernünftige Einteilung, und es war keine einzige von den Vorsichtsmaßregeln getroffen worden, die notwendig gewesen wären, um zu verhindern, daß an allen Ecken und Enden gestohlen wurde. Unermüdlich stellte sie ihren Sohn allen möglichen Leuten vor; aber der arme Junge sah wie ein Opfer aus und wußte nur tiefe Verbeugungen zu machen, was in England einen vollkommen linkischen Eindruck macht. Er tat mir leid.

Den ganzen nächsten Tag verbrachte ich im Bett; am Tage darauf ging ich zum Mittagessen in die Staven-Tavern, wo man die hübschesten, nicht jedermann zugänglichen Mädchen von London finden sollte. Ich hatte diese Nachricht vom Lord Pembroke erhalten, der sehr oft dorthin ging. Ich verlangte ein Zimmer für mich; als der Wirt bemerkte, daß ich nicht englisch sprach, redete er mich französisch an und leistete mir Gesellschaft; er bestellte alles, was ich wollte, und setzte mich durch sein vornehmes, ernstes und anständiges Benehmen dermaßen in Erstaunen, daß ich nicht den Mut fand, ihm zu sagen, daß ich mit einer hübschen Engländerin zu speisen wünschte. Schließlich sagte ich ihm mit einer respektvollen Umschweifung: ich wüßte nicht, ob Lord Pembroke mich getäuscht hätte – aber er hätte mir gesagt, ich könnte bei ihm die hübschesten Mädchen von ganz London finden.

»Er hat Sie durchaus nicht getäuscht, mein Herr, und wenn Sie es wünschen, können Sie eine nach Ihrem Belieben haben.«

»Ich bin in dieser Absicht hierher gekommen.«

Er rief. Ein sehr sauberer Kellner trat ein, und in demselben Ton, wie wenn er etwa gesagt hätte, man solle mir eine Flasche Champagner bringen, befahl der Wirt ihm, ein Mädchen für mich kommen zu lassen. Der junge Mann ging hinaus, und einige Minuten darauf sah ich ein Mädchen von herkulischen Körperformen eintreten.

Mein Herr«, sagte ich zum Wirt, »das Äußere dieses Mädchens gefällt mir nicht.«

»Geben Sie einen Schilling für die Sänftenträger und schicken Sie sie wieder fort; in London macht man keine Umstände, mein Herr.«

Diese Bemerkung versetzte mich in eine behagliche Stimmung; ich befahl, den Leuten einen Schilling zu geben und mir eine andere, hübschere zu bringen. Die zweite kam, sie war noch schlimmer als die erste, und ich schickte sie ebenfalls wieder fort. So ging es noch zehnmal nach der Reihe. Ich freute mich, daß mein wählerischer Geschmack dem Wirt, der mir während der ganzen Zeit Gesellschaft leistete, offenbar Spaß machte. Schließlich sagte ich zu ihm: »Ich will kein Mädchen mehr, sondern wünsche nur noch gut zu Mittag zu essen. Ich bin überzeugt, der Bordellwirt hat sich über mich lustig gemacht, um den Sänftenträgem einen Verdienst zuzuwenden.«

»Das ist sehr leicht möglich, mein Herr; sie machen es oft so, wenn man ihnen nicht Namen und Wohnung des Mädchens angibt, das man haben will.«

Am Abend machte ich einen Spaziergang im St. James-Park; plötzlich fiel mir ein, daß ein Fest in Ranelagh gefeiert wurde. Da ich diesen Ort kennen zu lernen wünschte, nahm ich einen Wagen und fuhr allein, ohne Bedienten, dorthin, um mich bis Mittemacht zu belustigen und mir irgend eine Schönheit nach meinem Geschmack zu suchen.

Die Rotunde von Ranelagh gefiel mir; ich ließ mir Tee geben und tanzte einige Menuetts. Ich sah jedoch keine Bekannten, und obwohl ich mehrere sehr hübsche Mädchen und Frauen bemerkte, wagte ich doch nicht, so aufs Geratewohl eine anzureden. Schließlich wurde es mir langweilig, und ich beschloß, nach Hause zu fahren. Es war fast schon Mitternacht, und ich ging nach dem Eingang, wo ich meinen Wagen zu finden glaubte, den ich noch nicht bezahlt hatte. Der Kutscher war jedoch nicht mehr da, und so befand ich mich in großer Verlegenheit. Eine sehr hübsche Frau, die vor der Tür auf ihren Wagen wartete, bemerkte meine Verlegenheit und sagte mir auf Französisch: wenn ich nicht weit von Whitehall wohne, könne sie mich an meiner Tür absetzen. Ich sagte ihr meine Wohnung und nahm ihr Anerbieten mit Dankbarkeit an. Ihr Wagen fährt vor; ein Lakai öffnet den Schlag; sie nimmt meinen Arm, steigt ein, fordert mich auf, neben ihr Platz zu nehmen, und gibt Befehl, vor meinem Hause zu halten.

Sobald ich im Wagen bin, danke ich ihr in den überschwenglichsten Ausdrücken, sage ihr meinen Namen und spreche mein Bedauern aus, sie nicht auf dem letzten Gesellschaftsabend am Soho-Square gesehen zu haben.

»Ich war nicht in London«, sagte sie; »ich bin erst heute von Bath zurückgekommen.«

Ich preise mein Glück, sie getroffen zu haben, bedecke ihre Hände mit Küssen und wage es, ihr einen Kuß auf die Wange zu geben; da ich keinen Widerstand, sondern nur sanfte, lächelnde Liebe finde, so presse ich meine Lippen auf ihren Mund; da ich meinen Kuß erwidert fühle, werde ich kühn und bald habe ich ihr den deutlichsten Beweis der Glut gegeben, die sie mir eingeflößt hat.

Ich hatte sie so sanft und hingebend gefunden, daß ich mir schmeichelte, ihr nicht mißfallen zu haben. Ich bat sie daher, mir zu sagen, wo ich sie treffen könnte, um ihr während der ganzen Zeit, die ich in London zu verbringen gedächte, meine eifrigen Huldigungen darzubringen; sie antwortete mir jedoch nur: »Wir werden uns noch wiedersehen, seien Sie verschwiegen!«

Ich schwor ihr dies und drang nicht weiter in sie; einen Augenblick später hielt der Wagen. Ich küßte ihr die Hand und ging, sehr befriedigt von diesem hübschen Abenteuer, in mein Haus.

Es vergingen vierzehn Tage, ohne daß ich sie wiedersah. Endlich traf ich sie in einem Hause, das ich auf Wunsch der Lady Harrington aufsuchte, um mich mit einer Empfehlung von ihr der Besitzerin vorzustellen. Es war eine Lady Betty German, eine berühmte alte Dame. Sie war nicht zu Hause; da sie jedoch binnen kurzem zurückkommen sollte, bat man mich zu warten und führte mich in den Salon. Zu meiner angenehmen Überraschung sah ich meine schöne Dame von Ranelagh, die eine Zeitung las. Ich hatte den Einfall, sie zu bitten, mich der übrigen Gesellschaft vorzustellen. Ich ging auf sie zu und fragte sie, ob sie die Güte haben wolle, mich vorzustellen. Sie antwortete mir höflich, sie könne dies nicht, da sie nicht die Ehre habe, mich zu kennen.

»Ich habe Ihnen meinen Namen gesagt, Madame. Erinnern Sie sich meiner nicht?«

»Ich erinnere mich Ihrer sehr gut; aber ein toller Streich gibt keinen Anspruch auf Bekanntschaft.«

Ich war ganz starr ob dieser eigentümlichen Antwort. Sie las ruhig ihre Zeitung weiter und sprach mit mir kein Wort mehr, bis Mylady German kam.

Die schöne Philosophin nahm zwei volle Stunden lang am Gespräch teil, ohne im geringsten zu verraten, daß sie mich kannte; doch antwortete sie mir mit großer Höflichkeit, wenn die Gelegenheit es mir erlaubte, das Wort an sie zu richten. Sie war eine Dame von hohem Range, die in London in bestem Rufe stand.

Eines Tages ging ich zu Martinelli, um ihm meinen ersten Besuch zu machen. Eine schöne junge Dame warf mir von einem gegenüberliegenden Hause Kußhändchen zu. Ich fragte ihn, wer sie sei, und war sehr angenehm überrascht, als ich hörte, es sei eine Tänzerin, Madame Binetti. Sie hatte mir vor etwa vier Jahren in Stuttgart den großen Dienst geleistet, wie meine Leser sich vielleicht noch erinnern. Ich wußte nicht, daß sie in London war. Sofort verabschiedete ich mich von Martinelli, um sie aufzusuchen, und ich tat dies um so lieber, da mein Freund mir sagte, sie lebe nicht mit ihrem Mann zusammen, obgleich dieser mit ihr im Theater am Haymarket tanze.

Sie empfing mich mit offenen Armen und rief: »Ich habe Sie auf den ersten Blick erkannt! Ich bin überrascht, Sie in London zu sehen, mein lieber Doyen.«

Sie nannte mich ihren Doyen, weil ich der älteste von ihren Bekannten war.

»Ich wußte nicht, daß Sie hier waren, meine Liebe. Ich habe Sie nicht tanzen sehen, weil ich erst nach dem Schluß der Oper hier angekommen bin. Wie kommt es, daß Sie nicht mehr mit Ihrem Gatten zusammenleben?«

»Weil er spielt, verliert und mich von allem entblößt. Außerdem kann eine Frau meines Berufes nicht erwarten, daß ein reicher Liebhaber ihr Besuche macht, wenn sie mit ihrem Gatten zusammenlebt; lebt sie dagegen für sich allein, so kann sie alle ihre Freunde empfangen, ohne sich irgendwelchen Zwang aufzuerlegen.«

»Was hätte denn solch ein Herr von Binetti zu befürchten? Er war doch sonst niemals eifersüchtig oder unbequem.«

»Das ist er auch jetzt nicht; aber, mein lieber Doyen, du mußt wissen, daß es in England ein Gesetz gibt, das einen Ehegatten ermächtigt, den Liebhaber seiner Frau verhaften zu lassen, wenn er ihn auf frischer Tat bei ihr ertappt. Er braucht nur zwei Zeugen zu haben. Es genügt sogar, daß er ihn auf ihrem Bett sitzend findet; dazu hat nach hiesigen Anschauungen nur ein Ehemann das Recht. Der Liebhaber wird verurteilt, dem Ehemann, der die Schande seiner Gattin offenbart, die Hälfte seines ganzen Vermögens zu bezahlen. Mehrere reiche Engländer sind auf diesen Leim gegangen, und infolgedessen geht niemand mehr zu einer verheirateten Frau, besonders wenn sie eine Italienerin ist.«

»Dann hast du also über die Gefälligkeit deines Gatten dich nicht zu beklagen, sondern mußt ihm im Gegenteil dankbar dafür sein; denn da du deine volle Freiheit hast, so kannst du jeden empfangen, der dir gefällt, und kannst reich werden.«

»Leider weißt du nicht alles, mein lieber Freund. Sobald er glaubt, ich habe von irgendeinem Besuche ein Geschenk erhalten – und das erfährt er sofort durch seine Spione – kommt er nachts in einer Sänfte und droht mir, mich auf die Straße zu werfen, wenn ich ihm nicht all mein Geld gebe. Du kennst diesen niederträchtigen Halunken nicht!«

Ich gab der armen Frau meine Adresse und lud sie ein, zu mir zum Essen zu kommen, so oft sie Lust hätte, bat sie jedoch zugleich, mir einen Tag vorher Bescheid sagen zu lassen. Ich hatte bei ihr in bezug auf Besuche bei Damen wieder einmal etwas Neues gelernt. England hat sehr gute Gesetze; aber sie sind im allgemeinen so, daß leicht Mißbrauch mit ihnen getrieben werden kann. Da die Geschworenen einen Eid leisten, nach dem Buchstaben des Gesetzes zu erkennen, so werden manche, die nicht klar genug abgefaßt sind, auf eine Weise ausgelegt, die den Absichten der Gesetzgebung vollkommen widerspricht, so daß dadurch die Richter oft in die größte Verlegenheit kommen. Infolgedessen ist man genötigt, unaufhörlich neue Gesetze zu erlassen und die alten durch neue Auslegungen zu erläutern.

Eines Tages sah Lord Pembroke mich am Fenster stehen und kam zu mir herein. Nachdem er mein Haus und meine Küche, wo der Koch am Werke war, besichtigt hatte, machte er mir das Kompliment: kein Lord, wenigstens niemand von denen, die in London regelmäßig einen Teil des Jahres verbrächten, hielte ein so gut eingerichtetes Haus wie das meinige. Er machte einen Überschlag der Kosten und sagte zu mir: »Wenn Sie Freunde empfangen und bewirten wollen, 27Z brauchen Sie monatlich dreihundert Pfund. Aber Sie können hier nicht leben, Seingalt, ohne ein hübsches Mädchen bei sich zu haben. Wenn Sie dies tun, wird ein jeder Sie als vernünftig loben; denn Sie gehen auf diese Weise sicher und sparen viel Geld.«

»Haben Sie ein Mädchen bei sich, Mylord?«

»Nein; mich ekelt leider jedes Weib an, sobald ich es einen einzigen Tag in meinem Besitz gehabt habe.«

»Da brauchen Sie also jeden Tag eine neue?«

»Ja, und infolgedessen gebe ich viermal so viel aus als Sie, obgleich ich nicht annähernd so gut eingerichtet bin. Ich bin eben Junggeselle, lebe in London als Fremder und esse niemals zu Hause. Ich wundere mich, daß Sie allein essen.«

»Ich spreche nicht englisch, ich liebe die Suppe und ich trinke gern guten Wein. Dies sind Gründe genug, um Ihre Wirtshäuser zu meiden.«

»Bei Ihrer Vorliebe für französische Lebensweise begreife ich das.«

»Geben Sie zu, daß diese Vorliebe nicht schlecht ist?«

»Ich kann das nicht bestreiten; denn obgleich ich ein guter Engländer bin, gefällt mir doch das Pariser Leben sehr.«

Er lachte laut auf, als ich ihm sagte, ich hätte in Staven-Tavern zwanzig Mädchen fortgeschickt, ohne mich einer einzigen zu bedienen, und an meiner Enttäuschung wäre er schuld.

»Ich habe Ihnen nicht die Namen der Mädchen genannt, die ich für mich holen lasse, und das war unrecht von mir.«

»Ja, Sie hätten mir dies sagen sollen.«

»Aber da sie Sie nicht kennen, wären sie nicht gekommen; denn sie sind durch Kuppler nicht zu haben. Versprechen Sie mir, dasselbe zu bezahlen wie ich, und ich werde Ihnen Briefe geben; daraufhin werden die Mädchen kommen.«

»Kann ich sie auch hier haben?«

»Ganz nach Ihrem Belieben.«

»Das paßt mir besser. Schreiben Sie mir die Briefchen und suchen Sie vor allem solche Mädchen aus, die französisch sprechen.«

»Das ist gerade der Übelstand: die schönsten sprechen nur englisch.«

»Schreiben Sie nur auch an diese! In bezug auf das, was ich von ihnen will, werden wir uns schon verständigen.«

Er schrieb an mehrere Mädchen zu vier und für sechs Guineen; eine einzige war mit dem Preise von zwölf Guineen bezeichnet.

»Diese ist doppelt so schön?«

»Eigentlich nicht; aber sie macht einen Herzog und Pair von England zum Hahnrei. Er hält sie aus, besucht sie aber jeden Monat nur ein- oder zweimal.«

»Wollen Sie, Mylord, mir zuweilen die Ehre erweisen, die Kunst meines Kochs auf die Probe zu stellen?«

»Gern; aber nur, wenn ich zufällig einmal vorbeikomme.«

»Und wenn Sie mich nicht finden?«

»Das schadet dann nicht; da werde ich eben ins Wirtshaus gehen.«

Da ich an diesem Tage nichts anderes vorhatte, schickte ich Jarbe zu einer von den Schönen, die Pembroke auf vier Guineen taxiert hatte, und ließ sie einladen, mit mir allein zu speisen. Sie kam; aber obgleich ich den besten Willen hatte, sie liebenswürdig zu finden, schien sie mir doch nur wert, nach Tisch einen Augenblick mit ihr zu schäkern. Sie konnte keine vier Guineen von mir erwarten, denn sie hatte einen solchen Lohn nicht verdient; daher war sie denn hocherfreut, als ich ihr zum Schluß trotzdem die vier Goldstücke in die Hand drückte. Die zweite, die ebenfalls vier Guineen kosten sollte, aß am nächsten Tage mit mir zu Abend. Sie war einmal sehr hübsch gewesen und war es noch; ich fand sie jedoch traurig und zu gleichgültig, so daß ich mich nicht entschließen konnte, sie sich ausziehen zu lassen.

Am dritten Tage hatte ich keine Lust, noch ein drittes Briefchen zu versuchen; ich ging daher nach Covent-Garden. Ein junges Mädchen fand ich so anziehend, daß ich sie ansprach und auf französisch fragte, ob sie mit mir zu Abend speisen wolle.

»Was werden Sie mir zum Nachtisch schenken?«

»Drei Guineen.«

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung.«

Nach dem Theater ließ ich mir ein gutes Abendessen für zwei auftragen, und sie bot mir die Spitze mit einem guten Appetit, wie ich ihn liebte. Nach dem Essen fragte ich sie nach ihrer Adresse und war sehr überrascht, als ich fand, daß sie eine von denen war, für die Lord Pembroke sechs Guineen bezahlte. Ich sah, daß ich meine Angelegenheiten selber besorgen mußte oder jedenfalls mich keines großen Herrn als Vermittler bedienen durfte. Die anderen Briefchen verschafften mir nur Personen, die höchstens einer flüchtigen Bekanntschaft wüidig waren. Die letzte, die zu zwölf Guineen, die ich mir als besonderen Leckerbissen aufgespart hatte, gefiel mir am allerwenigsten. Ich fand sie nicht einmal eines Opfers würdig und verzichtete darauf, dem edlen Lord, der sie aushielt, Hörner aufzusetzen.

Lord Pembroke war jung, schön, reich und geistvoll. Als ich ihn eines Tages besuchte, war er gerade eben aufgestanden. Wir beschlossen zusammen einen Spaziergang zu machen, und er befahl seinem Kammerdiener, ihn zu rasieren,

»Aber Sie haben ja nicht einmal einen Anflug von Bart im Gesicht!« rief ich.

»Einen solchen werden Sie niemals bei mir sehen, lieber Freund; denn ich lasse mich dreimal täglich rasieren.«

»Dreimal täglich?«

»Ja. Wenn ich das Hemd wechsele, wasche ich mir die Hände; wenn ich mir die Hände wasche, muß ich mir auch das Gesicht waschen, und das Gesicht eines Mannes darf nur mit einem Rasiermesser gewaschen werden.«

»Wann nehmen Sie denn diese drei Reinigungen vor?«

»Wenn ich aufstehe, wenn ich mich ankleide, um zum Mittagessen oder in die Oper zu gehen, und unmittelbar bevor ich mich zu Bett lege; denn das Weib, das die Nacht mit mir verbringt, darf meinen Bart nicht fühlen.«

Wir machten einen kleinen Spaziergang, worauf ich mich von ihm trennte, um zu Hause Briefe zu schreiben. Beim Abschied fragte er mich, ob ich zu Hause essen würde. Ich sagte ja, und da ich voraussah, daß er mir Gesellschaft leisten würde, machte ich es wie Lukullus und befahl meinem Koch, uns gut zu bedienen, dabei aber jeden Anschein zu vermeiden, als ob ich einen vornehmen Gast erwartete. Die Eitelkeit hat mehr als eine Sehne an ihrem Bogen.

Kaum war ich zu Hause, so ließ die Binetti sich melden; sie sagte mir, wenn sie mir nicht ungelegen komme, wolle sie sich zum Essen einladen. Ich nahm sie freundschaftlich auf, und sie versicherte mir, ich mache sie glücklich, denn sie sei überzeugt, ihr Mann werde sich den Kopf zerbrechen, um herauszubringen, wo sie gespeist habe.

Sie gefiel mir immer noch; denn obgleich sie damals schon fünfunddreißig Jahre zählte, hätte kein Mensch sie für älter als fünfundzwanzig gehalten. Sie war in jeder Beziehung anmutig. Ihr Mund war etwas zu groß, aber er war mit zwei Reihen Perlen von schönstem Schmelz geschmückt, und ihre Lippen waren frisch wie Rosenblätter. Eine zarte glatte Haut, Augen von unbeschreiblichem Glanz und eine Stirn, auf der die Unschuld selber hätte thronen können – mit einem Wort, ihr Kopf war wirklich zum Entzücken. Dazu hatte sie einen vollendet schönen Busen und eine unverwüstliche, fröhliche Laune; so wird der Leser leicht begreifen, daß selbst ein wählerischerer Geschmack als der meinige sie wohl reizend finden konnte.

Sie war kaum eine halbe Stunde bei mir, als Lord Pembroke eintrat. Beide schrieen vor Überraschung laut auf, und der Lord sagte mir, er sei schon seit sechs Monaten in sie verliebt und habe ihr feurige Briefe geschrieben. Sie sei jedoch nicht darauf eingegangen.

»Ich habe ihn nicht erhören wollen,« rief sie, »weil er der größte Wüstling in ganz England ist; und das ist recht schade, denn er ist der liebenswürdigste Kavalier.«

Dieser Auseinandersetzung folgte ein Dutzend Küsse, und ich sah, daß sie einig waren.

Wir hielten eine ausgezeichnete Mahlzeit nach französischer Art, und Lord Pembroke versicherte mir: »Ich habe seit Jahr und Tag nicht so gut gegessen. Es tut mir nur leid, daß Sie nicht jeden Tag Gesellschaft bei sich haben.«

Die Binetti war ebenfalls Feinschmeckerin; wir standen daher in sehr fröhlicher Stimmung von Tisch auf und hatten große Lust, vom Kultus des Comus zu dem der Cypris überzugehen; aber unsere Schöne war zu gewitzigt, um dem Engländer etwas anderes zu bewilligen als Küsse ohne Bedeutung.

Ich blätterte in meinen Büchern, die ich am Tage vorher gekauft hatte, und ließ sie sich unter vier Augen unterhalten, so viel sie wollten; damit sie sich jedoch nicht für einen anderen Tag zusammen zum Essen einlüden, beeilte ich mich ihnen zu sagen, ich hoffe, der Zufall werde mir die Gunst eines so schönen Festes gelegentlich wieder einmal verschaffen.

Um sechs Uhr gingen meine beiden Gäste fort, und ich kleidete mich an, um nach Vauxhall zu gehen. Ich traf dort den französischen Offizier Mallingan, dem ich in Aachen meine Börse geöffnet hatte. Da er mir sagte, er müsse mit mir sprechen, so gab ich ihm meine Adresse. Ich fand dort auch den nur zu gut bekannten Chevalier Goudar, der mir von Spiel und Mädchen erzählte. Mallingacm stellte mir als etwas ganz Besonderes einen Herrn vor, der mir nach seiner Behauptung in London sehr nützlich werden konnte. Es war ein Mann von vierzig Jahren, mit kritischen Gesichtszügen; er nannte sich Friedrich und war der Sohn des verstorbenen sogenannten Königs Theodor von Korsika, der vierzig Jahre vor dieser Zeit zu London im größten Elend gestorben war, einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, worin unbarmherzige Gläubiger ihn sechs oder sieben Jahre lang eingesperrt gehalten hatten. Ich hätte besser getan, an diesem Tage nicht nach Vauxhall zu gehen.

Das Eintrittsgeld kostet für Vauxhall nur die Hälfte von dem, was man in Ranelagh bezahlen mußte. Trotzdem konnte man sich die größte Abwechslung von Genüssen verschaffen: gutes Essen, Musik, Spaziergänge auf dunklen und einsamen Gartenwegen oder in Alleen, die von tausend Lämpchen beleuchtet waren. Außerdem fand man dort im bunten Gewimmel die berühmtesten Schönheiten Londons vom höchsten bis zum niedrigsten Range.

Trotz allen diesen Vergnügungen langweilte ich mich, weil ich meine gute Tafel und mein reizendes Heim nicht mit einer lieben Freundin teilte. Ich war nun doch schon seit sechs Wochen in London. So etwas war mir noch niemals vorgekommen, und die Sache erschien mir selber unerklärlich.

Meine Wohnung schien geradezu gemacht zu sein, um in der anständigsten Weise eine Freundin aufzunehmen; da ich die Tugend der Beständigkeit besaß, so brauchte ich weiter nichts, um glücklich zu sein. Aber wie sollte ich in London eine Frau finden, die zu mir paßte und an Charakter einer von denen ähnelte, die ich so innig geliebt hatte? Ich hatte bereits etwa fünfzig Mädchen gesehen, die alle Welt als hübsch bezeichnete, und die ich selber nicht einmal leidlich gefunden hatte. Indem ich unaufhörlich hierüber nachdachte, hatte ich schließlich einen sonderbaren Einfall. Ich führte diesen aus.

Ich rief meine alte Housekeeper und ließ ihr durch das Mädchen, das uns als Dolmetscherin diente, folgendes sagen: »Ich will das zweite ober dritte Stockwerk vermieten, um Gesellschaft zu haben; obgleich ich hierzu ohne weiteres berechtigt bin, will ich Ihnen doch für die Bedienung wöchentlich eine halbe Guinee schenken. Lassen Sie sofort dieses Plakat am Fenster aushängen:

Zu vermieten: zweites oder drittes Stockwerk, möbliert, an ein alleinstehendes und unabhängiges junges Fräulein, das englisch und französisch spricht, und weder bei Tage noch bei Nacht Besuche empfängt.«

Das Mädchen übersetzte der Alten das Plakat, und diese, die früher selber flott gelebt hatte, lachte darüber so sehr, daß ich glaubte, sie würde ersticken.

»Warum lachen Sie denn so sehr, meine gute Dame?«

»über diesen Zettel muß man wohl lachen!«

»Sie glauben gewiß, es wird keine kommen, um die Wohnung zu mieten?«

»Oh, ganz im Gegenteil. Ich werde vom Morgen bis zum Abend im Hause Neugierige haben; aber mit denen mag Fanny fertig werden. Sagen Sie mir bitte nur, wieviel ich verlangen soll.«

»Den Preis will ich selber festsetzen, nachdem ich mit dem Fräulein gesprochen habe. Ich glaube nicht, daß so sehr viele Mädchen kommen werden; denn ich verlange, daß die Mieterin jung ist, daß sie englisch und französisch spricht und daß sie außerdem noch ein anständiges Mädchen ist; denn sie darf durchaus keinen Besuch empfangen, nicht einmal von ihren Eltern, wenn sie welche hat.«

»Aber es werden eine Menge Leute stehen bleiben, um den Zettel zu lesen.«

»Um so besser. Wenn er auffällt, so schadet das nichts.«

Wie die Alte gesagt hatte, blieb ein jeder stehen, um die Anzeige zu lesen. Jeder machte seine Glossen darüber und ging dann lachend weiter. Schon am zweiten Tage teilte mein Neger Jarbe mir mit, meine Anzeige sei wörtlich in St. James-Chronicle abgedruckt, mit einem scherzhaften Kommentar. Ich ließ mir die Zeitung bringen, und Fanny übersetzte mir den Artikel, der folgendermaßen lautete:

»Der Herr des zweiten und dritten Stockwerks bewohnt wahrscheinlich selber das erste. Er muß ein Mann von Geschmack sein, der das Vergnügen liebt; denn er verlangt eine Mieterin, die allein steht, unabhängig und natürlich auch jung ist: und da sie keinen Besuch empfangen kann, so muß er wohl bereit sein, ihr gute Gesellschaft zu leisten.

»Zu befürchten ist nur, daß der Besitzer der Wohnung bei diesem Handel angeführt wird; denn es ist leicht möglich, daß irgend ein hübsches Mädchen die Wohnung mietet, um dort nur zu schlafen oder gar nur von Zeit zu Zeit dorthin zu gehen; außerdem könnte dieses hübsche Mädchen, wenn es ihr so paßt, ganz einfach sich den Besuch des Hausherrn verbitten.«

Diese sehr vernünftige Glosse machte mir Spaß und gefiel mir, weil sie mich vor Überraschungen warnte.

Diese Artikel machen die englischen Zeitungen so angenehm. Alle Vorgänge werden in voller Unabhängigkeit besprochen, und die Zeitungsschreiber wissen die einfachsten Kleinigkeiten des Alltagslebens interessant zu machen. Glücklich die Völker, bei denen man alles sagen und alles schreiben darf.

Lord Pembroke war der erste, der zu mir kam und mir zu meiner Erfindung Glück wünschte. Später kam Martinelli, der jedoch befürchtete, ich könnte leicht zu Schaden kommen; »denn«, sagte er, »in London gibt es viele Mädchen, die eine große Erfahrung besitzen und vielleicht nur zu dem Zweck kommen würden, Ihnen den Kopf zu verdrehen.«

»Da gilt es dann eben List gegen List,« antwortete ich ihm; »wir werden ja sehen. Sollte ich angeführt werden, so wird man freilich das Recht haben, auf meine Kosten zu lachen; denn ich hätte ja auf meiner Hut sein können.«

Ich will meine Leser nicht mit einer Beschreibung von etwa hundert Mädchen langweilen, die während der ersten neun oder zehn Tage kamen. Ihnen allen schlug ich unter verschiedenen Vorwänden die Wohnung ab, obgleich einige von ihnen recht anmutig und schön waren. Endlich aber, am elften oder zwölften Tage erschien ein junges Mädchen von zwanzig bis vierundzwanzig Jahren, als ich gerade bei Tisch saß. Sie war mehr als mittelgroß, ihre Kleidung war nett und sauber, jedoch ohne Luxus, ihr Gesicht edel und von sanftem Ausdruck, obgleich ernst. Sie hatte regelmäßige Züge, eine etwas blasse Farbe, schwarze Haare und war in jeder Beziehung schön. Sie machte mir eine vornehme und zugleich ehrerbietige Verbeugung, die ich erwidern mußte, indem ich mich erhob. Als ich stehen blieb, bat sie mich im Tone der guten Gesellschaft, ich möchte mich nicht stören lassen, sondern ruhig weiter essen. Ich bat sie, Platz zu nehmen. Sie tat es. Hierauf bot ich ihr Süßigkeiten an, denn sie hatte bereits Eindruck auf mich gemacht; sie lehnte jedoch dankend ab und zwar in einem bescheidenen Tone, der mich entzückte.

Hierauf sogte das schöne Fräulein, nicht in dem tadellosen Französisch, wie sie begonnen hatte, sondern in einem Italienisch, das ohne den geringsten fremden Akzent und daher einer Senesin würdig war: sie würde ein Zimmer im dritten Stock nehmen, und gebe sich der Hoffnung hin, daß ich ihr dies nicht abschlagen würde, denn sie glaubte, noch jung zu sein; den anderen Bedingungen, die in meiner Ankündigung erwähnt wären, unterwürfe sie sich gern.

»Mein Fräulein, es steht Ihnen frei, sich nur des einen Zimmerzu bedienen, doch wird die ganze Wohnung Ihnen gehören.«

»Mein Herr, der Zettel besagt allerdings, die Wohnung sei billig: trotzdem würde die ganze Wohnung zu teuer für mich sein, denn ich kann für meine Unterkunft nur zwei Schillinge in der Woche ausgeben.«

»Das ist gerade der Preis, den ich für die ganze Wohnung verlange. Sie können also, wie Sie sehen, darüber verfügen, mein Fräulein, Die Magd wird Sie bedienen und Ihnen das Essen besorgen, das Sie brauchen; außerdem wird sie für Sie waschen. Sie können auch Ihre Besorgungen von ihr machen lassen, damit Sie nicht wegen jeder Kleinigkeit auszugehen brauchen.«

»Dann werde ich also meine Magd entlassen, und das ist mir nicht unlieb; denn sie bestiehlt mich. Allerdings stiehlt sie mir wenig, aber das ist trotzdem viel zu viel für meine Verhältnisse. Ich werde Ihrem Mädchen sagen, was sie mir jeden Tag zu essen holen soll; die kleine Summe, die ich hierfür aussetze, darf niemals überschritten werden. Ich werde ihr für ihre Mühe wöchentlich zehn Pence geben.«

»Sie wird damit sehr zufrieden sein. Ich kann Ihnen sogar empfehlen, sich an die Frau meines Koches zu wenden; denn diese kann Ihnen Mittag- und Abendessen für dasselbe Geld liefern, das Sie ausgeben würden, wenn Sie es sich von draußen holen ließen.«

»Das halte ich kaum für möglich; denn ich schäme mich, Ihnen zu sagen, wie wenig ich ausgebe.«

»Wenn Sie auch nur einen Penny täglich ausgeben könnten, so würde ich der Frau sagen, sie soll Ihnen nicht mehr liefern, als für diesen Preis zu haben ist. Ich rate Ihnen, nehmen Sie ruhig das Essen, das Sie in der Küche bekommen können, und machen Sie sich wegen der Billigkeit keine Gedanken; denn ich habe die Gewohnheit, für vier Personen reichlich kochen zu lassen, obgleich ich fast immer allein speise; was übrig bleibt, gehört dem Koch. Ich werde nichts weiter tun, als daß ich Sie ihm empfehle, damit Sie gut bedient werden, und ich hoffe. Sie werden es mir nicht übel nehmen, daß ich mich für Sie interessiere.«

»Mein Herr, Ihr Anerbieten ist überraschend; Sie sind sehr großmütig.«

»Warten Sie einen Augenblick, mein Fräulein! Sie werden sofort sehen, daß es auf die allernatürlichste Art von der Welt zugeht.«

Ich befahl Clairmont, die Magd und die Frau des Kochs zu rufen, und sagte zu dieser letzteren: »Wieviel verlangen Sie täglich für Mittag- und Abendessen für diese junge Dame, die nicht reich ist und nicht mehr essen will, als sie zum Leben braucht?«

»Ich werde ihr das Essen sehr billig liefern, denn der gnädige Herr speist fast immer allein und läßt für vier Personen kochen.«

»Schön; infolgedessen hoffe ich, können Sie die Dame sehr gut für den Preis beköstigen, den sie Ihnen bezahlen will.«

»Ich kann täglich nur fünf Pence ausgeben.«

»Für fünf Pence, mein Fräulein, werden wir Sie verköstigen.«

Ich befahl sofort, das Aushängeschild zu entfernen und das Zimmer, das die junge Dame wählen würde, mit allen Bequemlichkeiten zu versehen. Als die Küchin und die Magd sich entfernt hatten, sagte die junge Dame mir, sie werde nur am Sonntag ausgehen, um in der Kapelle des bayrischen Gesandten die Messe zu hören; außerdem gehe sie einmal monatlich zu einer Person, die ihr drei Guineen für ihren Lebensunterhalt auszahle.

»Sie können ausgehen, wann Sie wollen, mein Fräulein, und brauchen darüber keinem Menschen Rechenschaft zu geben.«

Schließlich bat sie mich, niemals Besuche zu ihr zu führen und der Hausbesorgerin zu befehlen, sie solle jedem, der sich nach ihr erkundige, antworten, sie kenne sie nicht. Ich versprach ihr, daß alles nach ihren Wünschen geschehen solle, und sie entfernte sich, indem sie mir sagte, sie werde ihren Koffer bringen lassen.

Sobald sie gegangen war, befahl ich allen meinen Leuten, ihr mit der größten erdenklichen Rücksicht zu begegnen. Die alte Hausmeisterin sagte mir, sie habe für die erste Woche vorausbezahlt und sich darüber eine Quittung geben lassen; hierauf habe sie sich in einer Sänfte entfernt, wie sie gekommen sei. Zum Schluß faßte die gute Alte sich Mut und ließ mir durch unsere Dolmetscherin sagen, ich möchte mich vor Fallen hüten.

»Vor was für einer Falle? Ich sehe keine. Wenn sie vernünftig ist und ich mich in sie verliebe – nun, um so besser; das wünsche ich ja gerade. Ich brauche nur acht Tage, um sie kennen zu lernen. Welchen Namen hat sie Ihnen angegeben?«

»Mistreß Pauline; als sie ankam, war sie ganz blaß; aber als sie wieder fort ging, war sie feuerrot.«

Ich war schon voller Hoffnung; dieser Glücksfund erfüllte mich mit inniger Freude. Um mein Temperament zu befriedigen, brauchte ich keine Frau – denn das findet man überall; aber ich brauchte eine, um sie zu lieben. Es war für mich eine Notwendigkeit, an dem Gegenstand meiner Zärtlichkeit Schönheit des Leibes und der Seele zu finden, und meine Liebe wuchs im Verhältnis zu den Schwierigkeiten, die sich meiner Voraussicht nach dem Erfolge entgegenstellten. Ich gestehe, daß ich einen Mißerfolg als unmöglich ansah; denn ich wußte, daß es keine Frau gibt, die der ausdauernden Bewerbung und den Aufmerksamkeiten eines Mannes widerstehen könnte, der sie verliebt machen will, besonders wenn dieser Mann sich in den Verhältnissen befindet, große Opfer bringen zu können.

Als ich am Abend nach dem Theater nach Hause kam, sagte die Magd mir, Madame habe ein bescheidenes Hinterstübchen gewählt, das nur einem Dienstboten genügen könne. Sie habe bescheiden zu Abend gegessen und dazu nur Wasser getrunken; als sie die Frau des Kochs gebeten habe, ihr nur einen Teller Suppe und ein Gericht zu liefern, habe diese ihr geantwortet: sie müsse annehmen, was man ihr vorsetze; was sie nicht wolle, werde die Magd essen. Nach dem Essen habe sie ihr sehr gütig gute Nacht gesagt und sich dann eingeschlossen, um zu schreiben.

»Was nimmt sie morgen« zum Frühstück?«

»Ich habe sie danach gefragt, und sie hat mir geantwortet, sie esse nur ein wenig Brot.«

»Du wirst ihr morgen früh sagen: es sei im Hause Brauch, daß der Koch zum Frühstück Kaffee, Tee, Schokolade oder Fleischbrühe liefere, wie es einem jeden beliebe; wenn sie es zurückweise, werde sie mich vielleicht verletzen. Laß dir aber nicht einfallen, ihr zu sagen, daß ich mit dir hierüber gesprochen habe. Da hast du eine Krone; du sollst jede Woche eine bekommen, wenn du sie auf das freundlichste bedienst.

Bevor ich zu Bett ging, schrieb ich ihr ein sehr höfliches Briefchen, worin ich sie bat, das erwählte Kämmerchen mit einem anderen Zimmer zu vertauschen. Sie tat dies, aber sie ließ ihre Sachen in ein Zimmer bringen, das ebenfalls nach hinten hinaus lag. Fannys Vorstellungen brachten sie dahin, zum Frühstück Kaffee anzunehmen. Ich wünschte, sie zu veranlassen, daß sie mit mir zu Mittag und zu Abend äße. Darum kleidete ich mich an, um ihr einen Besuch zu machen, und sie auf eine Art darum zu bitten, daß sie sich nicht gut weigern konnte. In diesem Augenblick meldete Clairmont mir den jungen Cornelis. Ich empfing ihn lachend, indem ich ihm dafür dankte, daß er mich seit sechs Wochen zum ersten Male besuche.

»Mama hat mir niemals erlaubt, zu Ihnen zu gehen. Ich kann es nicht mehr aushalten; zwanzigmal war ich in Versuchung, trotz ihrem Verbot zu kommen. Bitte, lesen Sie diesen Brief; Sie werden darin etwas finden, was Sie überraschen wird.«

Ich öffnete den Brief; er lautete:

»Ein Gerichtsbote benutzte gestern einen Augenblick, wo meine Türe offenstand, trat in mein Zimmer ein und verhaftete mich. Ich war gezwungen, ihm zu folgen, und befinde ich mich jetzt bei ihm im Gefängnis; wenn ich nicht im Lauf des Tages Bürgschaft stelle, wird er mich heute Abend in das Kings-Bench-Gefängnis bringen. Diese Bürgschaft beträgt zweihundert Pfund Sterling für einen bereits verfallenen Wechsel, den ich nicht habe zahlen können. Ich flehe Sie an, mein wohltätiger Freund: befreien Sie mich sogleich aus diesem Ort! Sonst könnte ich das Unglück haben, daß schon morgen eine Menge Gläubiger erscheinen und mich einsperren lassen würden; dadurch würde mein Zusammenbruch unvermeidlich werden. Verhindern Sie diesen, ich bitte Sie flehentlich, und damit auch das Unglück meiner unschuldigen Familie. Als Ausländer können Sie nicht für mich Bürgschaft leisten; aber Sie brauchen nur einem Hausbesitzer ein Wort zu sagen, und Sie werden zehn für einen bereit finden. Wenn Sie Zeit haben, bei mir vorzusprechen, so kommen Sie! Sie werden dann erfahren, daß ich den letzten Ball nicht hätte geben können, wenn ich nicht diesen unglückseligen Wechsel unterschrieben hätte; denn ich hatte mein ganzes Silbergeschirr und Porzellan versetzt.«

Empört über dieses unverschämte Weib, das sich mir gegenüber soweit vergessen hatte, schrieb ich ihr, ich könne sie nur bedauern, ich habe keine Zeit, sie zu besuchen, und schäme mich außerdem, irgend jemanden zu bitten, für sie Bürgschaft zu leisten.

Nachdem der kleine Cornelis sehr traurig fortgegangen war, befahl ich Clairmont, zu Pauline hinaufzugehen und sie zu fragen, ob sie mir gestatten wolle, ihr guten Tag zu wünschen. Sie ließ mir sagen, es stehe bei mir, sie aufzusuchen. Ich ging zu ihr hinein und fand auf dem Tische mehrere Bücher liegen; außerdem sah ich auf einer Kommode Kleidungsstücke, die nicht auf Bedürftigkeit schließen ließen.

»Ich bin Ihnen für Ihre Freundlichkeiten unendlich dankbar«, sagte sie zu mir.

»Sprechen wir nicht davon, Madame; glauben Sie mir, daß ich im Gegenteil Ihnen dankbar sein muß.«

»Was kann ich tun, mein Herr, Ihnen meine Erkenntlichkeit zu zeigen?«

»Sie können dies tun, Madame, indem Sie sich den Zwang auferlegen und mir die Ehre erweisen, mir bei Tisch Gesellschaft zu leisten, so oft niemand bei mir speist; denn wenn ich allein bin, esse ich wie ein Oger, und darunter leidet meine Gesundheit; wenn Sie sich nicht geneigt fühlen, mir dieses Vergnügen zu machen, werden Sie mir verzeihen, Sie darum gebeten zu haben; selbst wenn Sie sich weigern, werden die Vorteile, die ich Ihnen in meinem Hause verschafft habe, sich nicht vermindern.«

»Ich werde die Ehre haben, mein Herr, mit Ihnen zu speisen, so oft Sie allein sind und mir Bescheid sagen lassen. Es tut mir nur leid, daß ich nicht sicher bin, ob meine Gesellschaft Ihnen nützlich sein und Sie erheitern kann.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madame, und verspreche Ihnen, daß Ihre Gefälligkeit Sie niemals gereuen soll. Ich werde mir alle Mühe geben, Sie aufzuheitern, und werde glücklich sein, wenn mir das gelingt; denn Sie haben mir die lebhafteste Teilnahme eingeflößt. Um ein Uhr essen wir zu Mittag.«

Ich setzte mich nicht, sah mir nicht ihre Bücher an und fragte sie nicht einmal, ob sie gut geschlafen habe. Ich bemerkte nur soviel, daß sie bei meinem Eintritt blaß und sorgenvoll aussah, und daß ihre Wangen scharlachrot waren, als ich hinausging.

Ich machte hierauf einen Spaziergang im Park. Ich war bereits in das reizende Mädchen heftig verliebt und war fest entschlossen, alles aufzubieten, damit sie mich lieben mußte; denn ich wollte ihrer Gefälligkeit nichts zu verdanken haben. Ich war außerordentlich neugierig, wer sie wohl sein möchte. Ich vermutete in ihr eine Italienerin; aber ich nahm mir vor, sie durch keine Frage zu belästigen, denn ich fürchtete, ihr dadurch zu mißfallen. Dieser Gedanke war etwas romantisch; aber er paßte zu dem überspannten Gefühl, das man Liebe nennt. Als ich wieder zu Hause war, kam Pauline hinunter, ohne daß ich sie hatte bitten lassen. Die Aufmerksamkeit gefiel mir außerordentlich, denn ich sah darin ein gutes Vorzeichen. Ich dankte ihr deshalb lebhaft dafür. Da wir noch eine halbe Stunde vor uns hatten, fragte ich sie, ob sie mit ihrer Gesundheit zufrieden sei.

»Die Natur«, antwortete sie mir, »hat mich mit einer so glücklichen Leibesbeschaffenheit begabt, daß ich nie in meinem Leben auch nur im geringsten unwohl gewesen bin, außer auf dem Meere; denn dieses Element ist mir feindlich gesinnt.« »Sie sind also über das Meer gereist?« »Das mußte ich wohl, um nach England zu gelangen.« »Ich konnte vielleicht annehmen, daß Sie Engländerin seien.« »Das ist wohl möglich; denn die englische Sprache ist mir seit meiner zartesten Kindheit vertraut.«

Wir saßen auf einem Sofa. Auf dem Tische vor uns stand ein Schachspiel. Pauline schob die Figuren hin und her; das veranlaßte mich zu der Frage, ob sie Schach spielen könne. »Ja; man hat mir sogar gesagt, ich spiele gut.« »Ich spiele schlecht; aber lassen Sie uns eine Partie machen. Meine Niederlagen werden Ihnen Spaß bereiten.«

Wir beginnen. Pauline zieht an, und mit dem vierten Zuge bin ich schach und matt. Sie lacht; ich bewundere sie. Wir fangen wieder an: beim fünften Zuge bin ich wieder matt. Hierüber lacht meine liebenswürdige Besucherin von ganzem Herzen. Während dieses Lachens berausche ich mich vor Liebe, als ich ihre herrlichen Zähne und ihre entzückende Aufregung sehe, besonders aber als ich bemerkte, welch einen innigen Ausdruck von Glück die Heiterkeit ihr verleiht. Wir beginnen die dritte Partie; Pauline ist unaufmerksam, und ich bringe sie in Verlegenheit.

»Ich glaube,« ruft sie, »Sie können mich besiegen!«

»Welch ein Glück wäre das für mich!«

Man meldet uns, daß das Essen angerichtet sei.

»Unterbrechungen sind oft lästig«, sagte ich zu ihr, indem ich aufstand und ihr meinen Arm bot. Ich war fest überzeugt, daß die Bedeutung der letzten Worte ihr nicht entgangen war; denn die Frauen lassen eine Anspielung niemals unbemerkt.

Als wir uns eben zu Tisch gefetzt hatten, meldete Clairmont mir die kleine Cornelis mit Frau Rancour.

»Sagen Sie ihnen, ich sei beim Essen und werde nicht vor drei Stunden fertig sein.«

Als Clairmont hinausging, um meine Antwort zu überbringen, schlüpfte die kleine Sophie ins Zimmer, lief auf mich zu und warf sich vor mir auf die Knie. Dann weinte sie so heftig, daß sie vor Schluchzen nicht sprechen konnte.

Ganz gerührt von diesem Anblick, beeile ich mich sie aufzuheben; ich setze sie auf meine Knie, trockne ihre Tränen und beruhige sie, indem ich ihr sage: ich wisse schon, was sie wünsche, und wolle aus Liebe zu ihr ihren Wunsch erfüllen.

Plötzlich von der Verzweiflung zur Freude übergehend, umarmt das liebe Kind mich und nennt mich ihren lieben Vater, so daß ich schließlich ebenfalls zu weinen anfange.

»Iß mit uns, liebes Kind; das wird es mir leichter machen, dir deinen Wunsch zu erfüllen.«

Sophie entwand sich meinen Armen und lief zu Paulinen, die ebenfalls aus Sympathie mitweinte. Dann begannen wir voller Glück zu essen. Sophie sagte zu mir: »Bitte, lassen Sie doch auch der Rancour etwas zu essen geben. Mama hat ihr verboten, mit hinaufzukommen.«

»Es soll nach deinem Wunsche geschehen, liebes Kind – aber nur dir zuliebe; denn diese Rancoul verdiente wohl, daß ich sie vor der Türe stehen ließe, um sie für die Rücksichtslosigkeit zu bestrafen, womit sie mich bei meiner Ankunft behandelte.«

Während der ganzen Mahlzeit unterhielt das Kind uns auf eine erstaunliche Weise. Pauline war ganz Ohr und sagte kein Wort vor lauter Erstaunen, ein solches Kind mit einem Verstande sprechen zu hören, den man an einem Mädchen von zwanzig Jahren bewundert haben würde. Ohne jemals die Schranken der Ehrfurcht zu überschreiten, verdammte sie das Betragen ihrer Mutter.

»Wie unglücklich bin ich,« rief sie, »daß meine Pflicht mich zwingt, mich ihr zu fügen und blindlings ihrem Willen zu gehorchen!«

»Ich möchte wetten, du liebst sie nicht?«

»Ich achte sie, aber ich kann sie nicht lieben; denn sie macht mir immer Angst. Ich sehe sie niemals ohne Furcht.«

»Warum weintest du denn so?«

»Aus Mitleid mit ihr und unserer ganzen Familie, besonders aber wegen der Worte, die sie mir sagte, als sie mir befahl, zu Ihnen zu gehen.«

»Was waren das für Worte?«

»Geh!« sagte sie mir. »Wirf dich vor ihm auf die Knie! Nur du kannst ihn rühren, und ich setze meine ganze Hoffnung nur auf dich allein!«

»Du hast dich also nur darum auf die Knie geworfen, weil sie es dir gesagt hat?«

»Ja! Denn wenn ich meinem eigenen Antriebe gefolgt wäre, hätte ich mich in Ihre Arme geworfen.«

»Du hast recht. Aber warst du sicher, daß du mich überreden würdest?«

»Nein; denn sicher ist man überhaupt niemals. Aber ich hoffte es; denn ich erinnerte mich der Worte, die Sie zu mir im Haag sagten. Meine Mutter sagt, ich sei damals erst drei Jahre alt gewesen; ich weiß jedoch, daß ich schon fünf Jahre alt war. Sie hatte mir auch befohlen, mit Ihnen zu sprechen, ohne Sie anzusehen. Zum Glück wußten Sie sie zu nötigen, ihr Verbot zu widerrufen. Alle Leute sagen zu ihr, Sie seien mein Vater, und im Haag hat sie selber mir dies gesagt. Hier aber wiederholt sie mir fortwährend, ich sei die Tochter des Herrn de Montpernis.«

»Aber, liebe Sophie, deine Mutter schadet dir, indem sie dich für eine natürliche Tochter ausgibt, während du doch die rechtmäßige Tochter des Tänzers Pompeati bist, der sich in Wien selber tötete. Er lebte aber noch, als du zur Welt kamst.«

»Wenn ich Pompeatis Tochter bin, sind Sie also nicht mein Vater?«

»Nein, ganz gewiß nicht, denn du kannst doch nicht die Tochter zweier Väter sein.«

»Aber wie kommt es denn, daß ich Ihnen sprechend ähnlich sehe?«

»Das ist ein Spiel des Zufalls.«

»Sie rauben mir eine Illusion, die mir Freude machte.«

Auf Paulinen machte Sophiens Beredsamkeit großen Eindruck; sie sagte beinahe kein Wort, aber sie bedeckte sie mit Küssen, die die Kleine ihr reichlich zurückgab. Diese fragte mich, ob Madame meine Gemahlin sei; als ich diese Frage bejahte, nannte sie sie ihre liebe Mama, worüber Pauline herzlich lachte.

Beim Nachtisch zog ich vier Banknoten von je fünfzig Pfund Sterling aus meiner Brieftasche, gab sie Sophien und sagte ihr, sie könne sie ihrer Mutter schenken; aber ich gäbe sie ihr und nicht ihrer Mutter.

»Wenn du ihr das Geschenk bringst, liebe Tocbter, kann deine Mutter heute abend in ihrem schönen Hause schlafen, wo sie mich so unwürdig empfangen hat.«

»Es tut mir leid; aber verzeihen Sie ihr!«

»Ja, Sophie, das will ich; aber ich tue es nur dir zuliebe.«

»Schreiben Sie ihr, daß Sie mir die zweihundert Pfund schenken; denn ich wage es nicht, ihr dies selber zu sagen.«

»Du fühlst wohl, mein Kind, daß ich ihr das nicht schreiben kann; denn ich würde damit ihren Schmerz beleidigen. Begreifst du das?«

»Oh, vollkommen!«

»Du kannst ihr sagen, sie werde mir ein großes Vergnügen bereiten, so oft sie dich mittags oder abends schicke, um mit mir zu essen.«

»Oh! Das können Sie ihr aber doch schreiben, ohne ihren Schmerz zu kränken, nicht wahr? Oh, tun Sie es doch bitte. Meine liebe Mama,« – dabei sah sie Pauline an – »bitten Sie doch meinen Papa, das zu schreiben; dann werde ich manchmal mit Ihnen speisen.«

Pauline lachte herzlich, nannte mich ihren Mann und bat mich, ich möchte doch ein paar Worte auf einen Zettel schreiben. Daran würde die Mutter erkennen, daß ich Sophie lieb hätte, und das würde nur die Liebe vermehren, die sie zu einer solchen Tochter hegen müßte. Ich gab nach, indem ich ihr sagte, ich könne der anbetungswürdigen Frau, die mich mit dem Namen ihres Mannes geehrt hätte, keinen Wunsch abschlagen. Sophie entfernte sich glückstrahlend, nachdem sie uns viele zärtliche Küsse gegeben hatte.

»Ich habe seit langer Zeit nicht soviel gelacht« sagte Pauline zu mir, »und ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so angenehm gespeist. Diese Kleine ist ein kostbares Juwel. Das arme Kind fühlt sich unglücklich! Sie wäre es nicht, wenn ich ihre Mutter wäre.«

Hierauf erzählte ich ihr im Vertrauen, wer Sophie war und welche Gründe ich hatte, ihre Mutter zu verachten.

»Ich möchte lachen, wenn ich daran denke, was sie sagen wird, wenn Sophie ihr erzählt, sie habe Sie mit Ihrer Frau bei Tisch gefunden.«

»Sie wird es nicht glauben; denn sie weiß, daß die Heirat ein Sakrament ist, das ich verabscheue.«

»Warum?«

»Weil sie das Grab der Liebe ist.«

»Nicht immer.«

Pauline seufzte, schlug ihre schönen Augen nieder und sprach von etwas anderem. Sie fragte mich, ob ich mich lange in London aufzuhalten gedächte. Ich antwortete ihr, ich werde wahrscheinlich neun oder zehn Monate hier verbringen; hierauf glaubte ich, an sie dieselbe Frage stellen zu dürfen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie mir; »denn meine Rückkehr in die Heimat hängt von einem Briefe ab.«

»Dürfte ich Sie fragen, was Ihre Heimat ist?«

»Ich sehe voraus, daß ich vor Ihnen keine Geheimnisse haben werde, wenn Ihnen etwas daran liegen sollte, diese kennen zu lernen; aber lassen Sie bitte noch einige Tage vergehen. Ich habe erst heute begonnen, Sie näher kennen zu lernen, und zwar auf eine Art, die Sie in meinen Augen sehr achtungswert macht.«

»Ich werde glücklich sein, wenn ich Ihren Beifall gewinnen und Sie in der guten Meinung bestärken kann, die Sie von meinem Charakter gefaßt haben.«

»Sie haben sich bis jetzt von einer Seite gezeigt, die meine höchste Ehrfurcht verdient.«

»Schenken Sie mir Ihre Achtung; auf diese lege ich den größten Wert; aber verschonen Sie mich mit Ihrer Ehrfurcht, denn diese schließt, wie mir scheint, die Freundschaft aus. Ich strebe aber nach Ihrer Freundschaft, und ich glaube, Sie darauf aufmerksam machen zu müssen, daß ich Ihnen alle möglichen Fallen stellen werde, um diese Freundschaft zu gewinnen.«

»Ich glaube, Sie sind sehr geschickt in solcher Jagd; aber ich halte Sie auch für großmütig und bin überzeugt, daß Sie mich schonen werden. Sollte ich eine zu innige Freundschaft für Sie fassen, so würde die Trennung zu schmerzlich für mich sein; diese Trennung kann aber jeden Augenblick eintreten – ich muß das sogar wünschen.«

Unsere Unterhaltung wurde gefühlvoll. Pauline brachte daher mit jener Gewandtheit, die der Verkehr in der vornehmen Welt verleiht, das Gespräch auf gleichgültige Dinge. Nach einiger Zeit bat sie mich um Erlaubnis, auf ihr Zimmer gehen zu dürfen. Ich hätte gern den ganzen Tag mit ihr verbracht; denn ich hatte selten ein Weib gefunden, das so liebenswürdige und zugleich so vornehme Manieren hatte.

Als ich allein war, verspürte ich ein gewisses Gefühl von Leere. Ich ging daher zur Binetti, die mich mit der Frage empfing, wie es dem Lord Pembroke gehe. Sie war ärgerlich auf ihn.

»Er ist ein abscheulicher Mensch!« rief sie, »er braucht jeden Tag eine neue Frau. Wie findest du das?«

»Ich beneide ihn, daß er so glücklich ist, sich das verschaffen zu können.«

»Er kann es, weil die Weiber dumm sind. Mich hat er angeführt, weil er mich bei dir überrumpelt hat; sonst würde er mich niemals gehabt haben. Du lachst?«

»Ja, ich lache. Denn wenn er dich gehabt hat, so hast du ihn ebenfalls gehabt. Also seid ihr quitt.«

»Du weißt nicht, was du sagst.«

Um acht Uhr kam ich nach Hause. Pauline kam herunter, sobald sie erfuhr, daß ich da sei; denn Fanny hatte ihr auf ihren Befehl meine Rückkunft mitgeteilt. Ich glaubte in diesem Benehmen die Absicht zu sehen, mich durch Aufmerksamkeiten zu fesseln, und da ich dieselben Gefühle hegte, die ich gerne bei ihr vorausgesetzt hätte, so konnte es nicht lange dauern, bis wir zu einer Verständigung gelangten.

Das Abendessen wurde aufgetragen; wir setzten uns zu Tisch und blieben bis Mitternacht sitzen. Wir plauderten über allerlei Nichtigkeiten, aber so angenehm, daß die Stunden uns verstrichen, ohne daß wir es merkten. Zum Schluß wünschte sie mir gute Nacht und sagte mir, sie vergesse über meiner Unterhaltung zu sehr ihr Unglück.

Am nächsten Tage lud Pembroke sich bei mir zum Frühstück ein und beglückwünschte mich zum Verschwinden meines Aushängezettels.

»Ich wäre recht neugierig, Ihre Mieterin kennen zu lernen.«

»Ich glaube es, Mylord; aber im Augenblick kann ich Ihre Neugierde nicht befriedigen; denn sie hat einsiedlerische Neigungen und duldet mich nur aus Notwendigkeit.«

Er sprach nicht mehr davon, und um seine Gedanken von diesem Gegenstande abzulenken, sagte ich ihm, die Binetti verabscheue seine Unbeständigkeit, und dies spreche zu seinen Gunsten. Er lachte darüber, antwortete mir aber nicht, sondern fragte mich: »Speisen Sie heute zu Hause?«

»Nein, Mylord, heute nicht.«

»Ich verstehe; das ist auch ganz natürlich. Leben Sie wohl; machen Sie die Sache gut!«

»Ich arbeite daran.«

Martinelli hatte im Advertiser drei oder vier Parodien meiner Anzeige gefunden. Er brachte mir die Zeitung, und ich mußte lachen, als er sie mir übersetzte; es waren aber weiter nichts als Übertreibungen, die darauf berechnet waren, das Publikum zum Lachen zu bringen und eine Spalte der Zeitung zu füllen. Die Artikel waren durchweg unanständig; dies war kein Wunder; denn in London wird mit dem Recht, alles sagen zu dürfen, ein großer Mißbrauch getrieben.

Martinelli war zu vorsichtig und zu zartfühlend, um überhaupt von meiner Mieterin zu sprechen. Da Sonntag war, bat ich ihn, mit mir zur Messe beim bayrischen Gesandten zu gehen; es geschah, das gestehe ich hier in aller Demut, nicht aus Frömmigkeit, sondern in der Hoffnung, Pauline zu sehen. Meine Erwartung wurde betrogen; denn sie hatte sich, wie ich später erfuhr, in einen Winkel gesetzt, wo niemand sie beobachten konnte. Die Kapelle war voll von Menschen, und Martinelli zeigte mir Lords, Ladies und andere hervorragende Persönlichkeiten, die katholisch waren und dieses nicht verbargen. Im Augenblick, wo ich nach Hause kam, übergab ein Bedienter der Cornelis mir einen Brief von dieser Dame. Sie schrieb mir: da sie am Sonntag frei ausgehen könne, wünsche sie, daß ich ihr erlauben möge, bei mir zu speisen. Ich ging sofort zu Pauline hinauf und fragte sie, ob sie etwas dagegen einzuwenden habe, wenn die Cornelis mit uns esse. Das liebenswürdige Mädchen antwortete mir, sie würde gerne mit ihr speisen, vorausgesetzt, daß sie keinen Mann mitbrächte. Ich ließ ihr daher sagen, ich würde sie mit Vergnügen empfangen, wenn sie mit meiner Tochter käme. Sie kam, und Sophie ging nicht einen Augenblick von meiner Seite. Die Cornelis fühlte sich durch Paulinens Gegenwart verlegen; sie nahm mich daher auf die Seite, um mir mehrere chimärische Pläne mitzuteilen, die sie in kurzer Zeit reich machen müßten.

Meine kleine Sophie war die Seele unserer Mahlzeit. Als ich aber der Cornelis sagte, Pauline sei eine ausländische Dame, an die ich eine Wohnung vermietet habe, rief Sophie: »Sie ist also nicht Ihre Frau?«

»Nein, so glücklich bin ich nicht. Ich habe es nur zum Scherz gesagt, und Madame hat sich über deine Leichtgläubigkeit belustigt.«

»Wißt ihr was, ich will bei ihr schlafen.«

»So? Wann denn.«

»Sobald Mama es mir erlaubt.«

»Man müßte doch erst sehen, ob Madame damit einverstanden wäre.«

»Sie hat keine abschlägige Antwort zu befürchten«, rief Pauline, indem sie sie umarmte.

»Nun, Madame, ich lasse sie Ihnen mit Vergnügen hier; ich werde sie morgen von der Gouvernante abholen lassen.«

»Es genügt,« sagte ich, »wenn sie morgen um drei Uhr kommt, denn Sophie muß erst mit uns zu Mittag essen.«

Als Sophie sah, daß ihre Mutter stillschweigend zustimmte, eilte sie zu dieser und gab ihr Küsse, die diese sich kalt gefallen ließ. Sie kannte nicht das Glück, sich lieben zu lassen.

Als die Mutter fort war, fragte ich Pauline, ob es ihr recht sei, mit der Kleinen und mir eine Spazierfahrt in der Umgegend von London zu machen, wo kein Mensch uns sehen werde.

»Ich darf aus Vorsicht nur allein ausgehen.«

»So werden wir also hier bleiben?«

»Ja; wir könnten auch nirgend besser aufgehoben sein.«

Pauline und Sophie sangen englische, italienische, französische Duette, und ich fand dieses Konzert entzückend. Fröhlich aßen wir zu Abend, und gegen Mitternacht führte ich sie in das dritte Stockwerk hinauf, wo ich zu Sophie sagte, ich würde am Morgen hinaufkommen und mit ihr frühstücken, aber ich wollte sie im Bett finden. Ich hegte den Wunsch, zu sehen, ob ihr Körper ebenso schön sei wie ihr Gesicht. Gerne hätte ich Pauline gebeten, mir dieselbe Gunst zu gewähren, aber ich war noch nicht weit genug vorgeschritten, um mir eine solche Kühnheit erlauben zu können. Ich fand sie denn auch am anderen Morgen bereits aufgestanden und in einem sehr anständigen Morgen- kleide.

Als sie mich sah, fing Sophie zu lachen an und versteckte sich unter der Bettdecke; als sie mich aber an ihrer Seite fühlte, zeigte sie mir ihr hübsches Gcsichtchen, das ich mit Küssen bedeckte.

Nachdem sie aufgestanden war, frühstückten wir sehr heiter; hierauf vertrieben wir uns auf das angenehmste die Zeit, bis die Rancour kam, um die Kleine abzuholen. Diese ging traurig mit ihr fort, und ich blieb allein mit meiner großen Pauline, die mich dermaßen zu quälen begann, daß es jeden Augenblick zu einem Ausbruch meiner Leidenschaft kommen konnte; trotzdem hatte ich ihr noch nicht einmal die Hand geküßt.

Als Sophie fortgegangen war, bat ich sie, sich neben mich zu setzen, ergriff ihre Hand, küßte sie leidenschaftlich und fragte: »Sind Sie verheiratet, liebe Pauline?«

»Kennen Sie die Mutterliebe?«

»Nein. Aber es bedarf für mich keiner großen Anstrengung, um mir eine richtige Vorstellung von ihr zu machen.«

»Sind Sie von Ihrem Gatten getrennt?«

»Ja, durch die Gewalt der Umstände und gegen unseren Willen. Man hat uns getrennt, bevor wir die Ehe vollzogen hatten.«

»Ist er in London?«

»Nein, er ist sehr weit von hier; aber bitte, lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen.«

»Sagen Sie mir nur noch: werden Sie alsdann zu ihm gehen, wenn ich Sie einmal verlieren muß?«

»Ja, und ich verspreche Ihnen: wenn Sie mich nicht etwa fortschicken, werde ich nur von Ihnen gehen, um England zu verlassen; ich werde aber diese glückliche Insel nur verlassen, um mit dem Gatten meiner Wahl glücklich zu sein.«

»Reizende Pauline! Ich werde unglücklich hier zurückbleiben; denn ich liebe Sie, und ich fürchte Ihnen zu mißfallen, wenn ich Ihnen Beweise meiner Liebe gäbe.«

»Seien Sie großmütig, mäßigen Sie sich! Ich bin nicht meine eigene Herrin, um mich der Liebe hingeben zu können, und vielleicht würde ich nicht die Kraft haben, Ihnen Widerstand zu leisten, wenn Sie meiner nicht schonten.«

»Ich werde Ihnen gehorchen, aber ich werde vor Sehnsucht vergehen; doch wie könnte ich wohl unglücklich sein, wenn ich nicht das Unglück habe, Ihnen zu mißfallen.«

»Ich habe Pflichten zu erfüllen, lieber Freund, und ich würde mich verächtlich machen, wenn ich diese verletzte.«

»Ich würde mich für den unwürdigsten aller Menschen halten, wenn ich meine Achtung einer Frau versagen könnte, weil sie mich glücklich gemacht hätte, indem sie einer ihr von mir eingeflößten Neigung nachgegeben hätte.«

»Ich habe allerdings zu große Achtung vor Ihnen, um Sie einer solchen Handlung fähig zu glauben; aber mäßigen wir uns und denken wir daran, daß wir schon morgen uns genötigt sehen können, uns zu trennen; gestehen Sie: wenn wir den Begierden der Liebe nachgäben, würde unsere Trennung viel bitterer sein, als wenn wir ihnen Widerstand leisten. Wenn Sie das nicht zugeben, ist Ihre Liebe von anderer Natur als die meinige.«

»Von welcher Natur ist denn die Liebe, die ich das Glück gehabt habe Ihnen einzuflößen?«

»Sie ist von solcher Art, daß der Genuß sie nur steigern könnte; trotzdem scheint dieser mir nur eine fast überflüssige Zugabe zu meiner Liebe zu sein.«

»Welches ist denn nach Ihrer Meinung das wesentliche Gefühl jeder Liebe?«

»Daß man in einer durch nichts zu störenden Eintracht beisammen lebt.«

»Dies ist ein Glück, das uns vom Morgen bis zum Abend beschert ist; aber warum sollten wir nicht jenes Zubehör hinzufügen, das uns nur wenige Augenblicke beschäftigen und das unseren liebenden Herzen die Ruhe und den Frieden geben wird, den wir bedürfe»? Außerdem, göttliche Pauline, werden Sie zugeben, daß dieses Zubehör der eigentlichen Liebe als Nahrung dient.«

»Ich gebe es zu; aber geben auch Sie Ihrerseits zu, daß diese Nahrung ihr fast immer tödlich wird.«

»Dies ist, glaube ich, nicht der Fall, wenn man wirklich liebt; und dies gilt von mir. Können Sie glauben. Sie werden mich weniger lieben, wenn Sie mich mit der vollen Glut der Zärtlichkeit besessen haben?«

»Nein, das glaube ich nicht; und weil ich vom Gegenteil überzeugt bin, gerade deshalb fürchte ich, der Augenblick der Trennung würde mich zur Verzweiflung bringen.«

»Ich muß vor Ihrer unwiderstehlichen Dialektik die Segel streichen, reizende Pauline. Ich möchte wohl sehen, womit Sie Ihren erhabenen Geist nähren; ich möchte also Ihre Bücher sehen. Sollen wir hinaufgehen? Ich werde nicht ausgehen.«

»Mit Vergnügen; aber Sie werden angeführt sein.«

»Auf welche Weise denn?«

»Kommen Sie nur!«

Wir gehen in ihr Zimmer, ich sehe mir ihre Bücher an und finde lauter portugiesische, mit Ausnahme des Milton in englischer, des Ariosto in italienischer und der Charaktere des Labruyère in französischer Sprache.

»Dies alles, meine liebe Pauline, gibt mir einen sehr hohen Begriff von Ihnen; aber woher diese Vorliebe für Camoens und alle diese anderen Portugiesen?«

»Aus einem sehr natürlichen Grunde: Ich bin Portugiesin.«

»Sie Portugiesin? Ich habe Sie für eine Italienerin gehalten. In Ihrem jugendlichen Alter sprechen Sie fünf Sprachen – denn Sie müssen auch spanisch können.«

»Allerdings, obgleich das nicht durchaus notwendig ist.«

»Welche Erziehung!«

»Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, aber ich beherrschte diese Sprachen schon mit achtzehn.«

»Sagen Sie mir, wer Sie sind! Sagen Sie mir alles! Ich verdiene Ihr Vertrauen.«

»Ich glaube es, und ich werde es Ihnen beweisen, indem ich mich Ihnen ohne Furcht und ohne Rückhalt anvertraue; denn da Sie mich lieben, so können Sie mir nur wohlwollen.«

»Und was bedeuten alle diese beschriebenen Blätter?«

»Meine Geschichte, die ich hier niedergeschrieben habe. Setzen wir uns!«

Elftes Kapitel


Paulinens Geschichte. – Mein Glück. – Ihre Abreise.

Ich bin die einzige Tochter des unglücklichen Grafen X…., den Carvalho Oeiras nach dem den Jesuiten zugeschobenen Anschlag auf das Leben des Königs im Gefängnis sterben ließ. Ich weiß nicht, ob mein Vater schuldig, oder ob er ein unschuldiges Opfer einer Privatrache war; aber soviel weiß ich, daß der tyrannische Minister es nicht gewagt hat, ihm den Prozeß zu machen oder sein Vermögen zu konfiszieren; ich bin daher im Besitz desselben, kann aber Einkünfte davon nur beziehen, wenn ich wieder in meine Heimat zurückkehre.

Meine Mutter ließ mich in einem Kloster erziehen, dessen Äbtissin ihre Schwester war; diese hielt mir alle möglichen Lehrer, unter anderen auch einen gelehrten Italiener aus Livorno, der mich in sechs Jahren alles lehrte, was ich nach seiner Ansicht wissen durfte. Ich fand ihn stets bereit, meine Fragen zu beantworten, soweit sie nicht die Religion betrafen; aber ich muß gestehen, daß seine Zurückhaltung in dieser Hinsicht mir durchaus nicht mißfiel, sondern im Gegenteil ihn mir noch lieber machte, denn er ließ es sich angelegen sein, mein Urteil zu bilden, und gab meinem Geist Nahrung, indem er mich lehrte, selber nachzudenken und zu urteilen.

Als ich achtzehn Jahre alt war, nahm mein Großvater mich aus dem Kloster, obgleich ich erklärt hatte, ich würde mit Vergnügen solange bleiben, bis sich die Gelegenheit böte, mich zu verheiraten. Ich hing mit zärtlicher Liebe an meiner Tante, die seit dem Tode meiner guten Mutter alles aufbot, um mir den doppelten Verlust, den ich erlitten hatte, weniger schmerzlich zu machen. Mein Austritt aus dem Kloster war für mein ganzes Leben entscheidend, und da er nicht auf meinen Willen erfolgt war, so habe ich ihn nicht zu bereuen gehabt.

Mein Großvater brachte mich zu seiner Schwägerin, der Marchesa X…. mo, die mir die Hälfte ihres Palastes einräumte. Man gab mir auch eine Hausdame, eine Gesellschafterin, Kammerzofen, Pagen und Bediente, die alle unter dem unmittelbaren und ausschließlichen Befehl der Hausdame standen, einer Adeligen, die zum Glück eine rechtliche und sehr gute Frau war.

Ein Jahr nach meinem Eintritt in die Welt kam mein Großvater zu mir und sagte mir in Gegenwart meiner Hausdame, Graf Fl…. bewerbe sich um mich für seinen Sohn, der an demselben Tage aus Madrid eintreffen solle.

»Was haben Sie ihm geantwortet, mein lieber Papa?«

»Daß diese Heirat dem ganzen Adel nur angenehm sein könne und gewiß die Billigung des Königs und der ganzen königlichen Familie finden werde.«

»Aber, lieber Großpapa, weiß man denn auch gewiß, daß ich dem Grafen gefalle, und andererseits, daß ich ihn nach meinem Geschmack finde?«

»Daran zweifelt man nicht, liebes Kind, und braucht sich also nicht damit zu beschäftigen.«

»Aber ich, Großpapa, kann wohl daran zweifeln, und in meinem Interesse liegt es, daran zu denken. Wir werden also sehen.«

»Ihr werdet euch vor dem Abschluß der Heirat sehen, aber an dem Zustandekommen der Vermählung kann dies nichts mehr ändern.«

»Ich wünsche es, ich hoffe es sogar, lieber Großpapa; aber wir wollen es nicht verschwören, sondern abwarten.«

Als mein Großvater fortgegangen war, sagte ich meiner Hausdame, ich sei fest entschlossen, meine Hand nur dem Manne zu geben, dem ich mein Herz schenken würde; und das würde ich nur tun, nachdem ich den Charakter des Betreffenden geprüft hätte und zu der Überzeugung gekommen wäre, daß er mich glücklich machen könnte. Meine Hausdame antwortete mir nicht, und als ich sie bestimmte, mir ihre Meinung zu sagen, antwortete sie mir, in einer so zarten Angelegenheit müsse sie sich Schweigen zur Pflicht machen. Dies sagte mir klar und deutlich, daß sie meine Ansicht billigte, oder wenigstens glaubte ich dies.

Gleich am nächsten Tage suchte ich meine Tante, die Äbtissin, auf. Sie hörte mich mit gütiger Teilnahme an und sagte mir dann, es sei zu wünschen, daß der Graf mir gefalle und daß ich seine Eroberung mache. Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, so würde die Heirat wahrscheinlich doch zustande kommen; denn sie glaube zu wissen, daß dieser Plan von der Prinzessin von Brasilien herrühre, die den Grafen Fl. begünstige.

Obgleich diese Nachricht mich sehr betrübte, war es mir doch lieb, daß ich sie erfahren hatte; sie bestärkte mich nur in meinem Entschluß, mich nur zu verheiraten, wenn die Partie nach meinem eigenen Wunsch wäre.

Nach vierzehn Tagen kam Graf Fl. mit seinem Vater. Mein Großvater stellte ihn mir vor; mehrere Damen waren dabei zugegen. Vom Heiraten war nicht die Rede, aber man ließ den jungen Herrn viel von fremden Ländern und von den Sitten und Gebräuchen anderer Völker erzählen. Ich hörte alles mit der größten Aufmerksamkeit an und tat selber fast nicht ein einziges Mal den Mund auf. Da ich wenig Welterfahrung, besaß, konnte ich über den Bewerber nicht durch Vergleichung urteilen; aber es schien mir unmöglich zu sein, daß er wirklich Ansprüche darauf machte, einer Frau zu gefallen, und daß ich ihm jemals angehören könnte. Er war ein anmaßender Spötter, ein schlechter Spaßmacher, albern, dumm und fromm bis zum Aberglauben und Fanatismus, Außerdem – und das ist in dem Auge jedes Weibes wichtig – war er häßlich, schlecht gewachsen und dermaßen eitel, daß er sich nicht schämte, in spöttischer und verächtlicher Weise von mehreren galanten Abenteuern zu erzählen, die er in Frankreich und Italien gehabt haben wollte.

Voller Hoffnung, ihm nicht gefallen zu haben, ging ich nach Hause; denn ich hatte mich nicht liebenswürdig gegen ihn gezeigt; ein achttägiges Schweigen bestärkte mich in dieser angenehmen Meinung. Aber meine Täuschung wurde mir gar bald genommen. Meine Großtante lud mich zum Essen ein; ich fand den Dummkopf und dessen Vater anwesend, und mein Großvater stellte mir den Sohn als meinen künftigen Gatten vor und bat mich, den Tag festzusetzen, um den Heiratevertrag zu unterschreiben. Da ich entschlossen war, lieber mein Todeseurteil zu unterzeichnen, so antwortete ich ziemlich höflich, aber in sehr lautem und festem Ton: ich würde den Tag bestimmen, wenn ich mich entschlossen hätte, mich zu verheiraten; aber dazu wäre Zeit nötig. Beim Essen ging es sehr still her; ich öffnete den Mund nur zu einsilbigen Antworten, wenn ich durchaus nicht umhin konnte, auf unmittelbare Fragen zu erwidern, die von den anderen Gästen, außer dem mir ekelhaften Dummkopf, an mich gerichtet wurden. Nach dem Kaffee entfernte ich mich, indem ich nur meine Tante und meinen Großvater grüßte.

Abermals verflossen mehrere Tage, ohne daß ich jemanden sah, und ich begann schon zu hoffen, daß ich den jungen Herrn von jeder weiteren Bewerbung um meine Person abgeschreckt hätte; da ließ meine Hausdame mir sagen, Vater Freire sei im Vorzimmer und wünsche mit mir zu sprechen. Ich ließ ihn eintreten; er war der Beichtvater der Prinzessin von Brasilien, und nach einigen einleitenden Redensarten sagte er mir, die Prinzessin habe ihn beauftragt, mir zu meiner bevorstehenden Heirat mit dem Grafen Fl. Glück zu wünschen.

Ohne mir irgendwelche Überraschung anmerken zu lassen, antwortete ich ihm, ich sei für die Güte Ihrer Königlichen Hoheit gebührend dankbar; aber es sei noch nicht fest entschieden, denn ich denke noch nicht daran, mich zu verheiraten.

Der Priester war ein feiner Höfling; er sagte mir mit einem halb gütigen, halb spöttischen Lächeln, ich habe das Glück, mich in dem schönen Alter zu befinden, wo ich an nichts zu denken brauche, da ich diese Sorge meinen mich liebenden Verwandten überlassen könne. Meine Entscheidung sei also eine reine Formsache, die sich in einem Augenblick erledigen lasse.

Ich antwortete ihm nur durch ein ungläubiges Lächeln, das er trotz seiner Mönchsschlauheit für Verlegenheit eines jungen Mädchens halten konnte.

Da ich voraussah, daß man mich hartnäckig verfolgen würde, fuhr ich gleich am nächsten Tags mit meiner Hausdame zu meiner Tante, der Äbtissin, die mir in meiner Verlegenheit einen Rat nicht verweigern konnte. Dieser Rat sollte jedoch nur die äußeren Formen betreffen, denn ich erklärte ihr von Anfang an meinen festen Entschluß, lieber zu sterben, als jemals meine Einwilligung zur Heirat mit einem mir widerwärtigen Menschen zu geben.

Die gute Nonne antwortete mir, man habe ihr den Grafen vorgestellt; sie habe ihn allerdings ebenfalls unleidlich gefunden, befürchte aber doch, man werde Mittel finden, mich trotz meinem Widerwillen zu dieser Vereinigung zu zwingen.

Diese Antwort machte auf mich einen solchen Eindruck, daß es mir nicht möglich war, noch ein Wort über die Sache zu sagen; ich sprach daher bis zum Ende meines Besuches von allen möglichen anderen Dingen. Kaum aber war ich wieder zu Hause, so faßte ich, nur der Stimme meiner Verzweiflung folgend, und ohne einen Menschen zu Rate zu ziehen, den seltsamsten Entschluß: ich schloß mich in mein Zimmer ein und schrieb an den Henker meines unglücklichen Vaters, den unbarmherzigen Oeiras. Ich setzte ihm die ganze Angelegenheit auseinander und flehte ihn um seine Fürsprache beim König an. Ich schrieb ihm, er sei mir diese schuldig, denn er habe mich zur Waise gemacht und dadurch vor Gott die Verpflichtung auf sich genommen, mein Beschützer zu sein. Ich wünsche, daß er mich vor der Ungnade der Prinzessin von Brasilien beschütze, und daß man mir die Freiheit lasse, über meine Hand nur zugleich mit meinem Herzen zu verfügen.

Ich setzte zwar bei Pombal keine Menschlichkeit voraus, aber ich konnte doch annehmen, daß auch er ein Menschenherz hätte, und daß ich dieses rühren könnte; übrigens glaubte ich durch meine feste und entschlossene Sprache seine Teilnahme zu erregen und durch meinen ungewöhnlichen Schritt seinem Stolz zu schmeicheln. Ich war überzeugt, daß er sich bemühen werde, mir Gerechtigkeit zu verschaffen, um mir zu beweisen, daß er gegen meinen Vater nicht ungerecht gewesen sei. Wie man sehen wird, täuschte ich mich nicht; obgleich ich noch ein ganz junges Mädchen war, Menschen und Welt nicht kannte, hatte mein Instinkt mir das richtige gesagt.

Zwei Tage, nachdem ich meinen Brief durch einen Pagen hatte bestellen lassen, kam ein Abgesandter Pombals zu mir und ließ mich um die Ehre einer geheimen Unterredung bitten. Er sagte mir, Oeiras lasse mir vertraulich raten, ich solle allen denen, die mir zu dieser Heirat zureden würden, antworten: ich würde mich nicht eher entscheiden, als bis man mich davon überzeugt hätte, daß Ihre Königliche Hoheit die Prinzessin von Brasilien diese Heirat wünschte. Der Minister ließ mich um Entschuldigung bitten, daß er mir nicht schriftlich antworte; er habe zwingende Gründe, so zu handeln; aber ich könne mich auf ihn verlassen.

Nachdem der Bote das gesagt hatte, machte er mir eine tiefe Verbeugung und entfernte sich, ohne mir Zeit zu einer Antwort zu lassen. Übrigens hatte mich, das muß ich gestehen, der Anblick dieses jungen Boten stumm gemacht. Ich kann den Eindruck nicht beschreiben, den er auf meinen Geist machte; aber ich muß sagen, daß er den größten Einfluß auf mein Verhalten geübt hat und ohne Zweifel auch auf mein ganzes übriges Leben üben wird.

Die Botschaft des Ministers benahm mir alle Unruhe; denn er konnte in solcher Weise nie zu mir gesprochen haben, wenn er nicht die Gewißheit hatte, daß die Prinzessin sich nicht mehr um die Heirat bekümmern würde. Ich überließ mich nun völlig dem neuen Gefühl, das mich beherrschte. Aber so stark dies Gefühl auch war, es würde sich ohne Zweifel verwischt haben, wenn es nicht jeden Tag neue Nahrung erhalten hätte. Als ich fünf oder sechs Tage später dem jungen Boten in der Kirche begegnete, erkannte ich ihn kaum; von diesem Augenblick an jedoch traf ich ihn überall: auf der Promenade, im Theater, in den Häusern, wo ich Besuche machte. Wenn ich aus dem Wagen steigen oder wieder einsteigen wollte, stets war er da, um mir seine Hand zu reichen. Ich gewöhnte mich dermaßen daran, ihn zu sehen und an ihn zu denken, daß ich unruhig wurde, wenn ich ihn einmal nicht in der Kirche fand; ich verspürte dann eine Leere, die mich unglücklich machte.

Fast alle Tage sah ich die Grafen Fl. bei meiner Großtante; da aber von einer Heirat zwischen uns nicht mehr die Rede war, so sah ich sie ohne Verdruß wie ohne Vergnügen. Ich hatte ihnen verziehen, aber ich war nicht glücklich. Das Bild des jungen Boten, dessen Name und Rang mir immer noch unbekannt waren, verfolgte mich ohne Unterlaß, und ich errötete über meine Gedanken, obgleich ich mir selber keine Rechenschaft darüber abzulegen wagte.

In diesem Geisteszustand befand ich mich, als eines Morgens der Klang einer mir unbekannten Stimme mich in das Zimmer meiner Kammerjungfer lockte. Ich sah auf einem Tisch Spitzen ausgebreitet und trat heran, ohne auf ein junges Mädchen zu achten, das dabei stand und mir eine Verbeugung machte. Als ich nichts davon nach meinem Geschmack fand, sagte sie, sie werde am nächsten Tage eine neue Auswahl bringen. Ich warf einen Blick auf sie und sah zu meiner Überraschung vor mir das Gesicht des Jünglings, der Tag und Nacht meine Gedanken beschäftigte. Ich zweifelte jedoch, daß er es wirklich sei, und dachte, ich könne auch durch eine zufällige Ähnlichkeit getäuscht sein. Es beruhigte mich etwas, daß das Mädchen mir größer vorkam. Außerdem erschien eine solche Kühnheit mir doch unwahrscheinlich. Das Mädchen packte die Spitzen wieder zusammen und entfernte sich, ohne mir ins Gesicht zu sehen; dies vermehrte meinen Verdacht.

»Kennen Sie dieses Mädchen?« fragte ich in gleichgültigem Ton meine Kammerjungfer. Sie antwortete mir: »Ich sehe sie heute zum ersten Mal.«

Ich glaubte dies nicht, aber ich ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen.

Fortwährend mußte ich an diese Ähnlichkeit denken, und da ich mir beinahe lächerlich vorkam, bemühte ich mich, diesen Gedanken zu verjagen, zugleich aber beschloß ich, mit dem Mädchen zu sprechen, wenn es wiederkommen sollte, und es zu entlarven, wenn mein Verdacht begründet wäre. Ich sagte mir, vielleicht sei sie eine Schwester des jungen Mannes, in den ich mich verliebt hätte; sie könne also wohl unschuldig sein, und wenn dies der Fall wäre, würde es mir vielleicht weniger schwer werden, von meiner Leidenschaft zu genesen. Ein junges Mädchen, das über Herzensangelegenheiten nachdenkt, legt einen großen Weg zurück, ohne es zu merken, besonders, wenn sie niemanden hat, dem sie sich anvertrauen kann, und der sie vor falschen Schritten zu bewahren vermag, zu denen sich so reiche Gelegenheit bietet.

Die angebliche Modistin kam pünktlich mit einem Kasten voll Blonden und Spitzen. Unverzüglich ließ ich sie in mein Zimmer eintreten, sobald man sie mir meldete. Ich wollte sie nötigen, mich anzusehen, und redete sie daher an. Sofort bemerkte ich, daß ich unzweifelhaft das Wesen vor mir hatte, dem alle meine Gedanken gehörten, und das eine Macht über mich ausübte, die mich völlig bezwang. Ich war so bewegt, daß ich nicht imstande war, auch nur eine einzige von den Fragen an ihn zu richten, die ich mir vorher zurecht gelegt hatte. Außerdem war meine Jungfer anwesend, und die Befürchtung, mich in ihren Augen bloßzustellen, hielt mich, wie ich glaube, ebenso stark zurück wie meine Aufregung. Mechanisch begann ich einige Blonden auszusuchen. Als ich aber meine Zofe hinausgeschickt hatte, um meine Börse zu holen, fiel plötzlich die falsche Spitzenhändlerin mir zu Füßen und rief in leidenschaftlichem und doch ehrerbietigem Tone:

»Entscheiden Sie, ob ich leben oder sterben soll, Madame! Sie erkennen mich!«

»Ja, ich erkenne Sie, und ich kann Sie nur für wahnsinnig halten.«

»Ja, ich bin es vielleicht, Madame; aber ich bin wahnsinnig vor Liebe und Verehrung: ich bete Sie an.«

»Stehen Sie auf. Meine Kammerjungfer kommt gleich wieder.«

»Sie kennt mein Geheimnis.«

»Wie? Sie haben gewagt… ?«

Er stand auf. Die Kammerjungfer trat ein und zählte ihm mit größter Ruhe sein Geld auf. Er warf die auf dem Tisch herumliegenden Spitzen in den Kasten, machte mir eine tiefe Verbeugung und ging.

Es wäre natürlich gewesen, wenn ich nach seinem Fortgehen mit meiner Kammerfrau gesprochen hätte; noch natürlicher aber wäre es gewesen, wenn ich sie auf der Stelle fortgeschickt hätte. Ich hatte nicht den Mut dazu, und über meine Schwäche werden nur strenge Sittenrichter sich wundern, die das Herz eines jungen Mädchens nicht kennen, und die ohne Wohlwollen der Lage gegenüberstehen, worin ich mich befand: jung, verliebt und nur auf mich selber angewiesen.

Da ich nicht sofort getan hatte, was strenge Pflicht mir sofort geboten hätte, wenn ich mich mit ruhiger Überlegung nur nach dieser gerichtet hätte, so sah ich bald, daß es zu spät war. Wie man ja stets leicht Trostgründe zu finden weiß, wenn man sich selber in eine unangenehme Lage gebracht hat, so überredete ich mich, ich könnte so tun, wie wenn ich nicht wüßte, daß meine Kammerjungfer das Geheimnis kannte. Ich beschloß also, nichts zu sagen; ich hoffte, ich würde den kecken Jüngling nicht wiedersehen, und die Sache würde damit erledigt sein.

Dieser Entschluß war jedoch nur einer augenblicklichen verdrießlichen Regung entsprungen. Denn als vierzehn Tage vergangen waren, ohne daß ich dem jungen Manne auf den Spaziergängen oder im Theater oder an den sonstigen Orten begegnete, wo ich ihn früher getroffen hatte, wurde ich traurig und träumerisch, obgleich ich darüber errötete, daß ein Gefühl, dessen Gegenstand meiner vielleicht nicht würdig war, mich so völlig unterjochte. Ich brannte vor Verlangen, seinen Namen zu erfahren, und diesen konnte mir nur meine Kammerjungfer sagen, denn ich konnte natürlich nicht zu Oeiras gehen und diesen fragen. Ich verabscheute meine Kammeriungfer und errötete, wenn ich sie vor mir sah. Ich bildete mir ein, sie wisse, daß ihr Vergehen mir bekannt sei, und sie habe Spaß an meiner Zurückhaltung. Andererseits fürchtete ich, diese Zurückhaltung könnte ihr einen unziemlichen Begriff von meiner Ehre geben. Mit einem Wort, ich befürchtete, sie könnte glauben, daß ich den Jüngling liebte, und der bloße Gedanke an diesen Verdacht, der mir schimpflich schien, brachte mich auf. Der allzu kühne junge Mensch erschien mir mehr beklagenswert als tadelnswert; denn ich dachte nicht daran, daß er sich für geliebt halten könnte; ich fühlte mich daher genügend dadurch gerächt, daß er glauben würde, ich müßte ihn verachten.

Aber so dachte ich nur in den Augenblicken, wo meine Eitelkeit stärker war als meine Liebe, und diese Augenblicke waren von kurzer Dauer; denn bald rächte die Verzweiflung ihn an meinem Stolz: da ich ihn nicht mehr sah, so bildete ich mir ein, er habe beschlossen, nicht mehr an mich zu denken, und habe mich vielleicht schon vergessen.

Ein Zustand so heftiger Gemütsbewegung kann nicht sehr lange dauern; denn wenn kein äußerer Anlaß die Ruhe des gequälten Geistes wiederherstellt, so macht dieser bald eine Anstrengung aus sich selber heraus, um das verlorene Gleichgewicht wiederzufinden.

Als die Verräterin mir eines Tages ein Spitzentuch umlegte, das ich von der falschen Modistin gekauft hatte, sagte ich zu ihr: »Was ist denn eigentlich aus dem Mädchen geworden, von dem ich diese Spitzen gekauft habe?«

Ich stellte diese Frage ohne vorherige Überlegung; sie war eine Eingebung meines guten oder meines bösen Geistes.

Meine Kammerjungfer war ebenso schlau wie ich naiv gewesen war. Sie antwortete mir, die Modistin habe ohne Zweifel deshalb nicht wiederzukommen gewagt, weil sie befürchtet habe, ich hätte ihre Verkleidung bemerkt.

»Selbstverständlich habe ich diese bemerkt; aber es wundert mich nicht wenig, daß Sie wissen, daß unter dieser Verkleidung sich ein junger Mann verbarg.«

»Madame, ich glaubte nichts zu tun, was Ihnen mißfallen könnte; denn ich kannte ihn persönlich.«

»Wer ist er?«

»Graf von Al…., den Sie ohne Zweifel wiedererkannt haben; denn Sie haben ihn vor ungefähr vier Monaten in diesem selben Zimmer empfangen.«

»Das ist wahr; es ist sogar möglich, daß ich ihn wiedererkannt habe; aber ich wünsche zu wissen, warum Sie gelogen haben, als ich Sie fragte, ob Sie dies Mädchen kennen?«

»Madame, ich habe gelogen, um Sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Außerdem habe ich befürchtet, Sie würden ärgerlich darüber sein, daß ich die Maske kannte.«

»Sie hätten mir mehr Ehre angetan, wenn Sie das Gegenteil angenommen hätten. Als Sie in Ihrem Zimmer waren, befahl ich ihm sofort zu gehen; ich sagte ihm, seine Handlungsweise sei ein Wahnsinn und er müsse befürchten, daß Sie ihn vor mir auf den Knien fänden. Da sagte er mir: Sie seien in das Geheimnis eingeweiht!«

»Wenn es ein Geheimnis ist, so gestehe ich es; aber ich sah die ganze Sache als einen Spaß ohne Bedeutung an.«

»Ich will diese Möglichkeit nicht bestreiten; ich aber habe der Sache eine solche Bedeutung beigelegt, daß ich, um Sie nicht fortjagen zu müssen, beschlossen habe, darüber zu schweigen, wie wenn ich nichts gesehen hätte.«

»Ich hatte mir eingebildet, Madame, diese Maskerade könne Ihnen nur Spaß machen; da ich nun aber erfahre, daß Sie sie ernst genommen haben und böse darüber sind, so bin ich wirklich in Verzweiflung, mir gewissermaßen vorwerfen zu müssen, daß ich meine Pflicht verletzt habe.«

Wie schwach ist ein Frauenherz, wenn die Liebe es eingenommen hat! Ich sah in dieser Erklärung, die mir die ganze Größe des von meiner Dienerin begangenen Fehlers hätte enthüllen müssen, nur eine volle Rechtfertigung. Allerdings machte sie mein Herz ruhig, und das war damals viel, aber mein Geist fand trotzdem noch nicht jene Ruhe, deren er bedurfte. Ich wußte, daß es einen jungen Grafen Al…. gab, der aus sehr gutem Hause stammte, aber gar kein Vermögen hatte. Er hatte weiter nichts als den Schutz des Minister und Aussicht auf eine gute Anstellung. Der Gedanke, daß der Himmel mich vielleicht dazu bestimmt hätte, die Ungerechtigkeit des Glücks wieder auszugleichen, wiegte mich zuweilen in süße Träume, und dann ertappte ich mich dabei, zu finden, daß meine Kammerjungfer mehr Geist hätte als ich, indem sie den gewagten Schritt des Grafen als eine Eulenspiegelei ansähe, die die Liebe entschuldigen müsse. Ich ging sogar so weit, mein gewissenhaftes Zartgefühl lächerlich zu finden und es nur für Prüderie zu halten. Ich war mehr verliebt, als ich selber glaubte, und das kann meine übrige Auffassung verzeihlich machen: ich hatte keinen Menschen, dem ich mich hätte anvertrauen können, keinen Menschen, der mich hätte leiten oder beraten können.

Aber nach solchen tröstlichen Gedanken kamen andere von düsterer Art. Es war die Kehrseite der Medaille. Mein Geist glich einem ebbenden und flutenden Meere, das bald ruhig, bald bewegt war. Da der Graf anscheinend beschlossen hatte, mich nicht mehr zu sehen, so mußte ich annehmen, daß er entweder sehr beschränkten Geistes, oder daß seine Liebe sehr gering war. Dies schmerzte mich mehr als alles andere, denn eine solche Annahme demütigte mich. Ich sagte zu mir selber: wenn der Graf es übel genommen hat, daß sein Wagnis mir als die Handlungsweise eines Wahnsinnigen vorkam, so ist er ganz gewiß nicht zartfühlend und verständig, also auch meiner Zärtlichkeit nicht würdig.

Während ich mich in dieser grausamen Ungewißheit befand, dem Schlimmsten, was es auf der Welt gibt, nahm meine Kammerjungfer es auf sich, dem Grafen zu schreiben, er könne sie in der gleichen Verkleidung besuchen; sie sei überzeugt, ich werde ihre Kühnheit nicht tadeln.

Er folgte ihrem Rat, und eines schönen Morgens trat die schlaue Zofe bei mir ein und sagte mir lachend, die falsche Modistin sei mit allerlei Tand in ihrem Zimmer. Diese Nachricht regte mich sehr auf; doch gelang es mir, mich zu beherrschen, so daß ich meine Aufregung wenigstens zum Teil verbergen konnte, und ich lachte wie sie, obgleich die Sache mir durchaus nicht lächerlich vorkam.

»Soll ich sie hereinkommen lassen, Madame?«

»Bist du verrückt?«

»Soll ich sie fortschicken?«

»Nein, ich werde selber kommen und mit ihr sprechen.«

An diesem Tage begann unsere große Liebesgeschichte. Während meine Kammerjungfer aus und ein ging, hatten wir vollauf Zeit, uns zu verständigen und uns gegenseitig alle gewünschten Erklärungen abzugeben. Ich gestand ihm offen, daß ich ihn liebe; aber ich machte ihm begreiflich, daß die Klugheit von mir verlange, ihn zu vergessen, weil es nicht wahrscheinlich wäre, daß meine Verwandten jemals ihre Einwilligung zu unserer Verbindung geben würden. Er dagegen erklärte mir, der Minister habe beschlossen, ihn unverzüglich nach England zu schicken, und er werde an Verzweiflung sterben, wenn er nicht die Hoffnung mitnehmen könne, mich eines Tages zu besitzen. Denn er liebe mich zu sehr, um sich darein fügen zu können, daß er ohne mich leben solle. Er bat mich, ihm zu erlauben, daß er mich zuweilen in seiner Verkleidung aufsuchen dürfe. Obgleich ich ihm nichts verweigern zu dürfen glaubte, wandte ich doch ein, daß wir uns dadurch großen Gefahren aussetzen könnten.

»Mir genügt es,« rief er feurig und voller Zärtlichkeit, »daß ich nichts für Sie zu befürchten habe: meine Besuche können niemals Ihnen zugeschrieben werden, sondern stets nur Ihrer Kammerjungfer.«

»Aber mir genügt es, daß ich um Sie in Furcht sein müßte; denn schon Ihre Verkleidung ist ein Verbrechen; Ihr guter Ruf würde darunter leiden, und das wäre kein gutes Mittel, uns der Erfüllung unserer Wünsche näher zu bringen.«

Obgleich ich diese Einwendungen machte, sprach doch mein Herz zu seinen Gunsten, außerdem wußte er seine Sache so beredt zu vertreten, er versprach mir, so vorsichtig zu sein, daß ich ihm schließlich sagte, er könne sicher sein, daß ich ihn stets mit dem größten Vergnügen sehen werde.

Graf Al…. war zweiundzwanzig Jahre alt und ist kleiner als ich; er ist schlank und gut gewachsen, so daß er in seiner Verkleidung als Frau schwer zu erkennen war; auch ist seine Stimme sehr sanft. Er weiß Bewegungen und Benehmen einer Frau täuschend nachzuahmen; er hat sehr schwachen Bartwuchs und ist so schön, daß mehr als eine Frau gern damit einverstanden sein würde, ihm ähnlich zu sehen.

So kam denn also der Graf fast drei Monate lang jede Woche drei- oder viermal; wir trafen uns stets im Zimmer meiner Vertrauten, und fast immer war diese zugegen. Aber wenn wir auch volle Freiheit gehabt hätten, so würde er doch niemals auch nur die geringste Rücksichtslosigkeit begangen haben; denn er befürchtete zu sehr, mir zu mißfallen. Heute glaube ich, daß diese gegenseitige Zurückhaltung mächtig dazu beigetragen hat, die Glut anzufachen, die uns verzehrte; denn wenn wir an den nahe bevorstehenden Augenblick der Trennung dachten, kam Traurigkeit über uns, und wir versanken in einen stummen Schmerz. Trotzdem aber dachten wir gar nicht daran, irgendeinen Entschluß zu fassen, um uns glücklich zu machen. Unsere Liebe machte uns stumpfsinnig, indem sie unseren Geist zu Boden drückte. Wir schmeichelten uns mit der Hoffnung, daß der Himmel irgendein Wunder tun oder daß der Augenblick der Trennung niemals erscheinen würde; oder wir hielten uns die Gedanken daran absichtlich fern. So war denn der Augenblick plötzlich ganz unversehens und natürlich viel zu früh da: wir wußten nicht, ob wir einen Entschluß fassen sollten oder nicht.

Eines Morgens kam der Graf früher als gewöhnlich und teilte mir unter Tränen mit, der Minister habe ihm am Tage vorher einen Brief an den portugiesischen Gesandten in London, Herrn de Saa, gegeben; ein zweiter offener Brief sei an den Kapitän einer Fregatte gerichtet, die von Ferrol erwartet werde und die nach einem Aufenthalt von wenigen Stunden nach England weitersegeln solle. In diesem zweiten Brief befahl der Minister dem Kapitän, den Grafen Al…. an Bord zu nehmen, ihn nach England zu bringen und ihn mit Auszeichnung zu behandeln.

Mein armer Liebhaber war völlig vernichtet; Tränen erstickten seine Stimme, und sein Kopf befand sich in einem Zustande, daß er keine zwei Gedanken miteinander verbinden konnte. Ich sah nur seinen Schmerz und meine Liebe, und da er selber nicht handeln konnte, so faßte ich augenblicklich den kühnen Plan, mit ihm als sein Bedienter zu reisen, oder noch besser ihn als seine Frau zu begleiten, damit ich mein Geschlecht nicht zu verbergen brauchte. Als ich ihm meinen Plan mitteilte, war er von freudiger Überraschung wie geblendet. Das Übermaß des Glückes versetzte ihn in eine solche Aufregung, daß er nicht imstande war, über eine so wichtige Sache nachzudenken, sondern alles meinem Willen überließ. Wir verabredeten, am nächsten Tage ausführlicher darüber zu sprechen, und trennten uns dann.

Da ich voraussah, daß es mir vielleicht Schwierigkeiten machen würde, mein Haus in Frauenkleidung zu verlassen, so beschloß ich, mich als Mann zu verkleiden; da ich aber als solcher nur als Kammerdiener meines Geliebten auftreten konnte, so überlegte ich mir, daß ich im Falle einer stürmischen Seefahrt Strapazen ausgesetzt sein würde, die über die Kräfte einer zarten Frau gehen würden. Infolgedessen kam ich auf den Gedanken, selber den Herrn zu spielen, falls etwa der Kapitän den Grafen nicht persönlich kennen sollte; indem ich diesen Plan weiter ausdachte, widerstrebte es mir jedoch, meinen Geliebten als Diener auftreten zu sehen, und ich beschloß daher, ihn für meine Frau auszugeben. Sobald wir in England an Land gestiegen sind, sagte ich bei mir selber, werden wir uns heiraten, und dann legt ein jedes wieder die Kleider seines Geschlechtes an. Durch unsere eheliche Verbindung wird der Makel unserer Flucht getilgt; vielleicht wird man meinen Liebhaber anklagen, mich entführt zu haben; aber man entführt eine junge Dame doch nicht ohne ihre Einwilligung, und es ist nicht anzunehmen, daß Graf Oeiras mich verfolgen wird, weil ich seinen Günstling glücklich gemacht habe. Um bis zum Eintreffen meiner Einkünfte leben zu können, wird der Verkauf meiner Diamanten, über die ich verfügen kann, uns genügende Mittel geben.

Als ich am nächsten Tage dem Grafen diesen seltsamen Plan mitteilte, konnte oder wollte er nichts dagegen einwenden. Das einzige Hindernis war nach seiner Meinung die Möglichkeit, daß der Kapitän des erwarteten Kriegsschiffes ihn persönlich kannte. Dies schien ihm jedoch nicht wahrscheinlich zu sein, und wir mußten das Wagnis eben auf uns nehmen. Wir machten ab, daß er mir die nötigen Kleider für meine neue Rolle sofort besorgen solle.

Ich sah meinen Liebhaber erst drei Tage darauf bei Einbruch der Nacht wieder. Ihm war von der Admiralität mitgeteilt worden, daß die Fregatte von Ferrol angekommen sei und an der Mündung des Tajo liege; der Kapitän werde sofort wieder absegeln, wenn er an Bord komme; er sei nur an Land gegangen, um seine Depeschen zu überbringen und vom Marineministerium neue Befehle zu erhalten. Graf Al…. werde daher aufgefordert, um Mitternacht an einem bestimmten Ort zu sein, wo eine Schaluppe ihn erwarten werde, um ihn an Bord zu bringen.

Da ich fest entschlossen war, so brauchte ich nichts mehr zu wissen als den Ort, wo wir uns treffen sollten. Ein Unwohlsein vorschützend, schloß ich mich in mein Zimmer ein, packte die allernotwendigsten Sachen und das kostbare Juwelenkästchen in ein Köfferchen, zog Männerkleider an und verließ den Palast auf einer Treppe, die nur für die Dienstboten bestimmt war. Ich wurde nicht einmal von dem Türhüter bemerkt, als ich die Schwelle meines Palastes überschritt.

Etwa hundert Schritte vom Hause erwartete mich der Graf, der befürchtet hatte, ich könnte mich vielleicht verirren. Es war für mich eine angenehme Überraschung, als er meinen Arm nahm und mir gleichzeitig sagte: Ich bin’s. An dieser einfachen und natürlichen Vorsicht erkannte ich, daß er Verstand hatte; denn da er meine Entschlossenheit noch nicht kannte, hatte er gefürchtet, mich zu erschrecken, wenn er mich berührte, ohne sich zu erkennen zu geben. Wir gingen zusammen in ein Haus, wo er seinen Koffer hatte, und in einer halben Stunde war er vollständig umgezogen. Als alles fertig war, holte ein Packträger unser geringes Gepäck, und wir gingen ans Ufer des Flusses, wo die Schaluppe bereits auf uns wartete. Es war elf Uhr, als wir vom Ufer abstießen. Da ich glaubte, daß mein Schmuckkästchen in seiner Tasche sicherer sei als in meinem Koffer, so gab ich es ihm. Geduldig warteten wir auf die Ankunft des Kapitäns. Gegen Mitternacht kam er mit seinen Offizieren; er trat auf mich zu und sagte mir, er habe Befehl, mich mit Auszeichnung zu behandeln. Ich dankte ihm herzlich für seinen Empfang und stellte ihm hierauf meine Frau vor. Er begrüßte diese ehrerbietig und sagte ihr, er sei entzückt, eine liebenswürdige Landsmännin an Bord zu haben, der wir gewiß eine glückliche Fahrt zu verdanken haben würden. Er war zu galant, um es auffällig zu finden, daß der Minister, der ihm den Grafen so angelegentlich empfohlen hatte, nichts davon erwähnt hatte, daß dessen Gemahlin an der Reise teilnehmen sollte.

In einer kleinen Stunde waren wir auf der Fregatte, die drei Meilen seewärts auf der Reede lag; sobald wir an Bord waren, ließ der Kapitän die Segel setzen. Er führte uns in eine Kajüte, die für ein Kriegsschiff recht bequem war, und entfernte sich dann, nachdem er uns gebeten hatte, uns einzurichten, so gut wir könnten.

Als wir allein waren, dankten wir dem Himmel, daß alles so gut abgegangen war. Wir gingen nicht zu Bett, sondern verbrachten den ganzen Rest der Nacht damit, über den kühnen Schritt uns zu unterhalten, den wir getan oder vielmehr erst begonnen hatten, der aber nach unserer Meinung ein ebenso glückliches Ende haben mußte, wie der Anfang gewesen war. Als der Morgen dämmerte, freuten wir uns, daß Lissabon nicht mehr in Sicht war. Da wir der Ruhe bedürftig waren, warf ich mich auf eine Bank, während der Graf sich in eine breite Hängematte legte. Wir blieben beide in unseren Kleidern.

Kaum hatten wir ein wenig zu schlummern begonnen, so wurden wir von der Seekrankheit befallen, die uns drei Tage lang nicht einen Augenblick Ruhe ließ. Am vierten Tage konnten wir uns kaum noch aufrecht halten; der Hunger quälte uns dermaßen, daß wir alle Selbstbeherrschung aufbieten mußten, um uns von allzu gierigem Essen zurückzuhalten, das uns leicht eine ernstliche Krankheit hätte zuziehen können. Zum Glück für uns hatte der Kapitän einen reichen Vorrat von guten Sachen, und die Mahlzeiten, die wir erhielten, waren sehr gut und lecker zubereitet. Mein Liebhaber, der unter der Seekrankheit noch mehr litt als ich, benützte gerne diesen Vorwand, um die Kajüte nicht zu verlassen; der Kapitän kam nur ein einziges Mal, um ihm einen Besuch zu machen. Wir konnten diese Zurückhaltung nur einer übergroßen Höflichkeit zuschreiben; denn bei uns ist es einem Manne erlaubt, eifersüchtig zu sein, ohne für lächerlich zu gelten. Ich selber war fast den ganzen Tag auf Deck; die frische Luft tat mir wohl, und ich unterhielt mich damit, mit meinem Fernrohr die Gegenstände zu beobachten, die man in der Ferne entdecken konnte.

Am siebenten Tage unserer Fahrt zitterte mir das Herz, wie von einem Vorgefühl von Unglück, als man mir sagte, ein Kriegsschiff, das wir in ziemlich weiter Entfernung bemerkten, sei eine Korvette, die einen Tag nach uns in See gegangen sein müsse, die aber als Schnellseglerin zwei oder drei Tage vor der Fregatte in England ankommen werde.

Obgleich die Überfahrt von Lissabon nach England sehr lange dauert, da man fast das ganze Atlantische Meer zu durchsegeln hat, so kamen wir doch, dank einem leichten Winde, den wir beständig im Rücken hatten, schon am vierzehnten Tage ans Ziel und warfen mit Tagesanbruch im Hafen von Plymouth den Anker aus.

Der Offizier, den der Kapitän an Land schickte, um die Erlaubnis zur Ausschiffung der Passagiere einzuholen, kam gegen Abend wieder an Bord und überbrachte ihm Briefe. Nachdem er einen davon mit ganz besonderer Aufmerksamkeit gelesen hatte, rief der Kapitän mich beiseite und sagte zu mir:

»Dieser Brief ist vom Grafen Oeiras, der mich bei meinem Kopfe dafür verantwortlich macht, daß eine junge, portugiesische Dame mein Schiff nicht verläßt, falls sie sich darauf befinden sollte, es sei denn, daß sie mir persönlich bekannt wäre. Er befiehlt mir, sie nach Lissabon zurückzubringen, nachdem ich einige Aufträge ausgeführt haben werde, die mich noch etliche Tage hier zurückhalten müssen. Auf der Fregatte befindet sich weder eine Frau noch ein Mädchen, mit Ausnahme der Frau Gräfin, Ihrer Gemahlin. Beweisen Sie mir, daß sie wirklich Ihre Frau ist, und ich setze ihrer Landung durchaus kein Hindernis entgegen; sonst aber darf ich, wie Sie begreifen werden, gegen die Befehle des Ministers nicht ungehorsam sein.«

»Sie ist meine Frau«, erwiderte ich ihm kaltblütig. »Da ich jedoch auf etwas Derartiges nicht gefaßt gewesen bin, so habe ich nicht ein einziges Papier bei mir, das Sie davon überzeugen könnte.«

»Das tut mir leid, denn nun wird sie mit mir nach Lissabon zurückfahren, übrigens können Sie sich darauf verlassen, daß sie, gemäß dem ausdrücklichen Befehle des Herrn Ministers, mit aller erdenklichen Ehrerbietung behandelt werden wird.«

»Aber, Herr Kapitän, die Frau ist doch untrennbar von ihrem Gatten!«

»Das gebe ich Ihnen zu, aber ich kann gegen die von meinem Vorgesetzten empfangenen Befehle nichts machen, übrigens hindert Sie ja nichts, auf der Korvette nach Lissabon zurückzufahren. Sie werden vor uns dort sein.«

»Warum kann ich nicht auf dieser Fregatte zurückfahren?«

»Weil ich ausdrücklichen Befehl habe, Sie an Land zu setzen. Da fällt mir ein: warum ist in dem Brief, der mir befiehlt, Sie nach England zu bringen, kein Wort von Ihrer Frau gesagt? Wenn Madame nicht die Person ist, die der Minister sucht, so können Sie sich darauf verlassen, daß man sie Ihnen wieder nach London schicken wird.«

»Werden Sie mir gestatten, noch einmal mit ihr zu sprechen?«

»Gern, aber nur in meiner Gegenwart.«

Mir blutete das Herz, indessen galt es gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich suchte den Grafen auf, redete ihn meine liebe Frau an und verkündete ihm den grausamen Befehl, der uns trennen wollte. Ich fürchtete, er würde sich verraten, aber er besaß die Kraft, sich zu beherrschen, und antwortete mir, uns bliebe nichts anderes übrig, als uns zu unterwerfen, da wir ja sicher sein könnten, in einigen Monaten uns wiederzusehen.

Ich konnte ihm in Gegenwart des Kapitäns nichts sagen, als was alle Welt hören durfte. Ich beschränkte mich daher darauf, ihm mitzuteilen, daß ich von London aus unverzüglich an die Äbtissin schreiben werde, daß er in Lissabon diese zu allererst aufsuchen müsse, und daß er von ihr meine Adresse erfahren werde. Ich hütete mich wohl, mein Schmuckkästchen von ihm zu verlangen, denn der Kapitän hätte möglicherweise geglaubt, es in Verwahrung nehmen zu müssen, da ein so reicher Schatz von Diamanten ihn auf die Vermutung bringen konnte, meine angebliche Frau wäre vielleicht irgendein reiches Fräulein, das ich entführt hätte. Wir mußten uns gänzlich unserem Schicksal überlassen. Weinend umarmten wir uns, und der Kapitän, der durch und durch ein Ehrenmann war, weinte ebenfalls, als er den Grafen zärtlich zu mir sagen hörte: »Legen Sie Ihr Glück und das meinige in die Hände dieses würdigen Kapitäns; wir wissen ja, daß wir uns auf einander verlassen können!«

Der Koffer des Grafen wurde in die Schaluppe gebracht, und da ich nicht wagte, meine Reisetasche an mich zu nehmen, so besaß ich bei meiner Ankunft am Lande weiter nichts als eine Ausrüstung von Männerkleidern, deren ich mich nicht hätte bedienen können, selbst wenn ich meine Verkleidung noch hätte fortsetzen wollen.

Auf dem Zollamt erfuhr ich, was ich besaß: Schreibhefte, Bücher, Briefe, Wäsche, einige Anzüge, einen Degen, zwei Paar Pistolen, von denen ich das eine sofort in meine Tasche steckte. Hierauf ließ ich mich nach einem Gasthof führen, dessen Wirt mir sofort bei meinem Eintritt sagte: wenn ich am nächsten Morgen nach London reisen wolle, werde ich nur ein Pferd zu bezahlen haben.

»Wer sind die Personen, die einen Begleiter wünschen?«

»Ich werde Sie mit ihnen zu Abend essen lassen, wenn Sie es wünschen.«

Ich nahm das Anerbieten an und fand einen Geistlichen der Hochkirche und zwei Damen, deren Benehmen es mir angenehm erscheinen ließ, von der Gelegenheit Gebrauch zu machen. Ich hatte das Glück, ihnen ebenfalls zu gefallen, und am nächsten Tage kamen wir bei guter Zeit in London an und stiegen am Strand in einem Gasthof ab. Dort aß ich nur zu Mittag und machte mich sofort auf die Suche nach einer Wohnung, die mit meinen Mitteln und mit der von mir zu beobachtenden Lebensweise in Einklang stünde. Ich besaß nur fünfzig Lisbonninen und einen Ring von ungefähr gleichem Werte.

Ich nahm ein Zimmer im dritten Stock eines Hauses, dessen Wirtin mir wegen ihres guten und ehrbaren Gesichtes gefiel. Da ich weder Erfahrung noch Empfehlungen an irgendeinen Menschen besaß, konnte ich mich nur auf Gott und auf meinen guten Willen verlassen und mußte mein Schicksal der Freundlichkeit meiner Mitmenschen anheim stellen. Die Frau gefiel mir, und ich nahm bei ihr ein Zimmer zu zehn Schilling wöchentlich. Ich bat sie, mir sofort behilflich zu sein, um mich sauber, aber ohne jeden Luxus meinem Geschlecht gemäß zu kleiden; denn in meinen Männerkleidern wagte ich nicht mehr auszugehen.

Schon am nächsten Tage sah ich mich mit allem versehen, was ein armes Mädchen braucht, das weder blenden noch überhaupt die Blicke seiner Mitmenschen auf sich ziehen will. Da ich gut genug englisch sprach, um nicht als Ausländerin zu erscheinen, so wußte ich, wie ich mich zu benehmen hatte, um keine Unannehmlichkeiten befürchten zu müssen. Obgleich meine Wirtin eine recht gute Frau war, bemerkte ich doch bald, daß ihr Haus nicht ganz meiner Lage entsprach; denn die Ordnung meiner Angelegenheit konnte lange Zeit dauern, und wenn mir das Geld ausgegangen wäre, hätte ich mich unglücklich gefühlt. Ich beschloß also, das Haus zu verlassen. Da ich meine eigene Herrin war, so hatte ich keine Besuche empfangen; aber ich konnte es nicht verhindern, daß den ganzen Tag Neugierige an meine Türe kamen; es kamen immer mehr, je weiter die Nachricht bekannt wurde, daß ich keine Besuche empfinge. Es verkehrten zu viele Menschen in diesem Hause. Da es nicht weit von der Börse lag, so wimmelte die Straße von jungen Menschen, und mehrere Herren, die im ersten Stock zu Mittag aßen, versuchten alles mögliche, um mich von meiner sogenannten Traurigkeit zu heilen, obgleich ich durchaus nicht so tat, wie wenn ich solcher Heilung bedürftig wäre.

Ich beschloß, wöchentlich nur eine Guinee auszugeben, und da mein Ring vollkommen nutzlos für mich war, so entschloß ich mich, ihn zu verkaufen, aber unter der Bedingung, daß ich den Wert nur in Teilzahlungen nach und nach erhielte. Ein alter Händler, der nebenan wohnte, und für dessen Redlichkeit meine Wirtin einstand, schätzte meinen Ring auf hundertundfünfzig Guineen und bat mich, ihm das Vorkaufsrecht zu geben, wenn ich keinen besseren Preis fände. Ich hielt den Ring nicht für so weltvoll und überließ ihm denselben unter der Bedingung, daß er mir monatlich vier Guineen auszahlen solle, und daß ich ihn für dieselbe Zahl von Guineen, die ich empfangen haben würde, zurückkaufen könnte, wenn ich dazu vor der völligen Bezahlung imstande wäre.

Das bare Geld, das ich bei mir hatte und noch jetzt besitze, wollte ich behalten, um auf dem Landwege nach Lissabon zurückkehren zu können, sobald man mir schreiben würde, daß ich mich unbesorgt dort wieder sehen lassen könnte. Ich hatte unter der Seekrankheit so sehr gelitten, daß ich mich nicht entschließen konnte, noch einmal eine solche Fahrt zu machen.

Ich teilte meine Verlegenheit meiner braven Wirtin mit, die noch jetzt meine Freundin ist. Sie half mir eine andere Wohnung suchen; aber ich war genötigt, eine Magd anzunehmen, um meine kleinen Einkäufe zu besorgen, da ich mich nicht entschließen konnte, außer dem Hause zu essen. Hieraus entsprangen für mich lauter Unannehmlichkeiten und Verdrießlichkeiten, denn ich fand nichts als Spitzbübinnen. Da ich nun nicht mehr als einen Schilling täglich ausgeben wollte, so konnte ich begreiflicherweise nicht über die kleinen Diebstähle hinwegsehen, an die diese elenden Frauenzimmer so gewöhnt sind, daß sie es als Ehrensache ansehen, beim kleinsten Einkauf ein Extraprofitchen für sich zu machen.

Die nüchterne Lebensweise, die ich mir zur Pflicht gemacht hatte, griff mich so an, daß ich von Tag zu Tag abmagerte, denn ich lebte beinahe nur von Wasser und Brot. Ich sah jedoch keine Möglichkeit, mir so bald etwas Besseres gönnen zu dürfen. Da fiel zufällig mein Blick auf Ihr eigenartiges Aushängeschild. Ich lachte bei mir selber darüber, aber mich trieb eine unwiderstehliche Gewalt oder auch vielleicht die Neugier, die, wie wir gestehen müssen, unserer Frauennatur innewohnt, und ich konnte nicht der Lust widerstehen, mit Ihnen zu sprechen. Instinktmäßig suchte ich ein Mittel, meine Lage zu verbessern, ohne meine Ausgaben zu vermehren.

Als ich nach Hause kam, fand ich bei meiner Wirtin eine Nummer des Advertiser, worin der Herausgeber über das soeben von mir gelesene Schild seine Scherze machte. Er sagte, der Herr des Hauses sei ein Italiener, der sich offenbar vor einem Angriff nicht fürchte. Da ich meinerseits glaubte, daß ich eine Gewalttätigkeit nicht werde zu befürchten brauchen, so faßte ich den Mut, das Wagnis zu bestehen. Ich fühle jedoch, daß ich sehr anmaßend gewesen bin, und daß es süß sein kann, Angriffen keinen Widerstand zu leisten. Da ich von einem Italiener, einem klugen und rechtschaffenen Manne, erzogen worden bin, so habe ich stets eine große Vorliebe für Ihre Nation gehabt. – Meine schöne Portugiesin war mit ihrer Erzählung zu Ende. Nach einer kleinen Pause sagte ich zu ihr: »Ihre kleine Geschichte, meine Gnädige, hat mir viel Spaß gemacht; es ist ja ein richtiger Romanstoff.«

»Das glaube ich auch, und er würde den Vorzug haben, ein historischer Roman zu sein. Mich freut am meisten, daß Sie meine Erzählung haben anhören können, ohne sich zu langweilen.«

»Falsche Bescheidenheit, Madame! Ihre Erzählung hat mir nicht nur sehr gefallen, sondern seitdem ich weiß, daß Sie Portugiesin sind, fühle ich mich sogar mit Ihrer Nation völlig wieder ausgesöhnt.«

»Sie liebten uns also nicht?«

»Ich hatte einen Groll auf euch, weil ihr vor zweihundert Jahren euren Virgil habt im Elend sterben lassen.«

»Camoens! Aber vor uns haben die Griechen das Unrecht begangen, ihren Homer so sterben zu lassen.«

»Das ist wahr; aber das Unrecht des einen entschuldigt nicht das Unrecht des anderen.«

»Das gebe ich zu; aber wie können Sie Camoens so hoch schätzen, wenn Sie nicht portugiesisch verstehen?«

»Ich las eine Übersetzung in lateinischen Hexametern, die so schön waren, daß ich Virgil zu lesen glaubte.«

»Ist das auch wahr?«

»Ich kann Ihnen nichts vorlügen.«

»Nun, so gelobe ich hiermit, daß ich lateinisch lernen will!«

»Dieses Gelübde ist Ihres Geistes würdig; aber Sie müssen von mir diese schöne Sprache lernen. Ich will in Portugal leben und sterben, wenn Sie mir Ihr Herz versprechen.«

»Mein Herz! Warum habe ich nicht zwei! Seitdem ich Sie kenne, liebe ich mich selber weniger, denn ich befürchte sehr, unbeständig zu sein.«

»Ich werde mich damit begnügen, nur so geliebt zu werden, wie wenn ich Ihr Vater wäre; nur müssen Sie mir erlauben, zuweilen meine Tochter an mein Herz drücken zu dürfen. Bitte, fahren Sie in Ihrer Geschichte fort; das Wesentliche haben Sie mir noch zu erzählen. Was ist aus Ihrem Liebhaber geworden? Und was taten Ihre Verwandten, als Ihre Flucht ihnen bekannt wurde?«

Am dritten Tage nach meiner Ankunft in dieser Riesenstadt schrieb ich meiner Tante, der Äbtissin, einen langen Brief, worin ich ihr ausführlich und wahrheitsgemäß alles schilderte, was mir begegnet war. Ich bat sie, meinen Gatten zu beschützen und mir zu helfen, meinen Entschluß durchzusetzen: ich würde nicht früher nach Lissabon zurückkehren, als bis sie mir versichert hätte, daß meiner Heirat keine Hindernisse mehr bereitet würden und daß ich, als Herrin meines Vermögens, offen vor aller Welt mit dem Gatten meiner Wahl leben könnte. Zugleich bat ich sie, mich über alles auf dem Laufenden zu halten und ihre Briefe an meine Wirtin zu adressieren, indem sie der Adresse nur die Worte hinzufügte: »für Miß Pauline.«

Ich ließ meinen Brief über Paris und Madrid gehen; das ist zu Lande der nächste Weg; ich erhielt daher die Antwort erst nach drei Monaten. In ihrem Brief schrieb meine Tante mir, die Fregatte, die mich nach London gebracht habe, sei erst seit wenigen Tagen wieder in Lissabon. Sofort nach seiner Ankunft habe der Kapitän dem Minister geschrieben: die einzige Dame, die er bei seiner Ankunft in England an Bord gehabt habe, befinde sich noch bei ihm; denn er habe sie wieder zurückgebracht, trotz dem Einspruch des Grafen Al…., der ihm erklärt habe, daß die Dame seine Gemahlin sei. Zum Schluß seines Briefes bat der Kapitän seine Exzellenz, ihm nähere Verhaltungsmaßregeln zu geben, an welchen Ort er besagte Dame zu bringen habe.

Der Minister Oeiras zweifelte nicht daran, daß ich diese angebliche Gemahlin sei, und befahl dem Kapitän, mich in das Kloster meiner Tante zu bringen und ihr einen Brief zu übergeben, den er ihm zugleich schicke. In diesem Brief schrieb er meiner Tante, er sende ihr ihre Nichte und bitte sie, diese bis auf weiteren Befehl in guter Hut zu halten. Meine Tante war sehr überrascht; aber ihre Überraschung wäre noch größer gewesen, wenn sie nicht wenige Tage vorher bereits meinen Brief empfangen hätte. Sie dankte dem Kapitän und führte die angebliche Nichte in ein Zimmer, in das sie sie einschloß. Hierauf schrieb sie dem Grafen Oeiras: Gemäß dem Befehle Seiner Exzellenz habe sie vom Kapitän eine Person empfangen, die für ihre Nichte gelte; da jedoch diese Person ein als Frau verkleideter Mann sei, so könne sie diesem nicht länger Zuflucht in ihrem Kloster geben und bitte daher Ihre Exzellenz, dieser Verlegenheit sobald wie möglich ein Ende zu machen.

Nachdem die Äbtissin diesen eigenartigen Brief an den Minister abgeschickt hatte, machte sie dem Grafen Al…. einen Besuch. Er warf sich ihr zu Füßen, meine gute Tante aber hob ihn sofort auf und zeigte ihm meinen Brief. Sie teilte ihm mit, daß sie an den Minister habe schreiben müssen und daß man ihn ohne Zweifel nach wenigen Stunden an einen anderen Ort bringen werde. Der Graf brach in Tränen aus, flehte die würdige Äbtissin an, sich unserer gemeinsamen Angelegenheiten anzunehmen, und übergab ihr mein Schmuckkästchen, das meine Tante bereitwillig in Verwahrung nahm. Bevor sie ging, versprach sie ihm noch, mir alles zu berichten.

Da der Minister sich auf einem seiner Güter befand, erhielt er den Brief der Oberin erst am nächsten Tage. Er beeilte sich, ihr seine Antwort persönlich zu überbringen. Meine Tante überzeugte Seine Exzellenz mit leichter Mühe, daß es von größter Wichtigkeit sei, die Sache geheim zu halten, da durch die Verletzung des Klosterbannes ihre Ehre ernstlich bedroht sei. Sie gab dem stolzen Minister den Brief, den sie von mir erhalten hatte, und teilte ihm mit, daß der ehrenwerte junge Mann ihr meinen Schmuck übergeben habe. Der Graf dankte der Äbtissin für die Offenheit, womit sie ihn in die ganze Angelegenheit eingeweiht habe, und bat sie lachend um Verzeihung, daß er ihr einen hübschen Jungen zur Gesellschaft geschickt habe.

»Es ist von allergrößter Wichtigkeit,« sagte Seine Exzellenz, »daß die Sache geheim bleibt, und um dessen sicher zu sein, dürfen wir keinen Dritten ins Vertrauen ziehen. Ich werde Sie daher in eigener Person von der falschen Nichte befreien und diese auf der Stelle in meinem Wagen mitnehmen.«

Meine Tante nahm die Exzellenz beim Wort und holte den jungen Eingesperrten. Dieser stieg in den Wagen, der vor der Tür hielt, und fuhr mit dem Minister ab. Die gute Äbtissin sagte mir, von diesem Augenblick an habe sie nichts mehr erfahren. Ganz Lissabon spreche von meiner Geschichte, aber man füge noch einen Umstand hinzu, der die Sachlage ganz wesentlich verändere und den Grafen Oeiras ohne Zweifel höchlichst ergötzen müßte: man sage nämlich, der Minister habe mich zuerst der Äbtissin anvertraut, habe sich aber dann später meiner bemächtigt und halte mich verborgen; man kenne jedoch nicht den Ort, wo er mich eingesperrt halte.

Man glaubt also, daß Graf Al…. in London ist und daß ich mich in der Gewalt des Ministers befinde, dem die Skandalchronik wahrscheinlich zärtliche Gefühle für mich zuschreibt. Ohne Zweifel ist Seine Exzellenz über meinen Aufenthalt hier in London vollkommen unterrichtet, denn er weiß meinen Namen und meine Adresse und es fehlt ihm sicherlich nicht an Spionen.

Auf den Rat meiner Tante habe ich vor einigen Monaten dem Grafen Oeiras geschrieben: ich sei bereit, nach Lissabon zurückzukehren, wenn Seine Exzellenz mir eigenhändig schreiben wolle, daß sofort nach meiner Rückkehr in die Heimat Graf Al…. vor der Öffentlichkeit mein Gatte werden solle, und daß niemand über mein Tun und Lassen Rechenschaft fordern dürfe, selbst nicht unter dem Vorwande der Freundschaft. Werden diese Bedingungen mir nicht bewilligt, so, habe ich dem Minister erklärt, sei ich entschlossen, niemals London zu verlassen, wo die Gesetze mir völlige Freiheit verbürgen. Ich erwarte jeden Augenblick seine Antwort, und ich habe kaum einen Grund, anzunehmen, daß sie den von mir kundgegebenen Wünschen entgegen sein wird; denn unter allen Umständen kann mich kein Mensch meiner Einkünfte berauben, und ich brauche mir daher aus der Gunst des Hofes nichts zu machen; aber auch abgesehen davon bin ich überzeugt, daß Oeiras sich glücklich schätzen wird, mir seinen Schutz zu gewähren, täte er es auch nur, um das Odium zu mildern, das ihm infolge des Todes meines Vaters anhaftet.

Pauline machte mir kein Geheimnis aus den Namen der Personen, die in dieser Geschichte vorkommen; aber sie lebt vielleicht noch, und ihr Andenken ist mir immer noch zu teuer, als daß ich mich der Gefahr aussetzen möchte, ihr Mißfallen zu erregen, indem ich diese Namen nenne, obgleich diese Erinnerungen wahrscheinlich nicht dazu bestimmt sind, zu meinen Lebzeiten das Licht der Welt zu erblicken. Um die Wahrheit des von meiner schönen Portugiesin Erzählten zu bestätigen, genügt es mir, daß ihre Geschichte allen Einwohnern von Lissabon recht gut bekannt ist, und daß die Mitspielenden, die in dieser Komödie auftreten, lauter Leute sind, deren Dasein in Portugal keinem Menschen ein Geheimnis ist.

Ich lebte mit der schönen Pauline in inniger Eintracht; von Tag zu Tag fühlte ich meine Liebe zu ihr wachsen und flößte ich ihr zärtlichere Gefühle ein. Aber wie nun meine Liebe wuchs und immer unwiderstehlicher wurde, magerte ich sichtlich ab, verlor Ruhe, Schlaf und Appetit: ich wäre an meiner Sehnsucht zugrunde gegangen, wenn ich sie nicht hätte befriedigen können. Pauline dagegen blühte auf und wurde jeden Tag schöner.

Eines Tages sagte ich zu ihr: »Wenn mein Leiden dazu dient, Ihre Reize zu vermehren, so müssen Sie dafür sorgen, daß ich nicht sterbe: denn ein Toter leidet nicht mehr.«

»Sie glauben, Ihr Leiden sei eine Folge des Gefühls, das ich Ihnen einflöße?«

»Daran kann ich nicht zweifeln.«

»Ich will gern glauben, daß etwas Wahres an Ihrer Behauptung ist; aber glauben Sie mir, ein so süßes Gefühl kann nicht an Ihrer Abmagerung und an Ihrer Schlaflosigkeit schuld sein. Ich schreibe mit gutem Grunde Ihre Veränderung der sitzenden Lebensweise zu, die Sie führen, seitdem ich in Ihrem Hause bin. Wenn Sie mich lieben, müssen Sie mir einen Beweis davon geben: machen Sie einen Spazierritt!«

»Ich kann Ihnen nichts abschlagen, schöne Pauline! Und nachher?«

»Nachher? Da werden Sie mich dankbar finden, werden guten Appetit haben und werden schlafen.«

»Schnell ein Pferd, schnell meine Stiefel!«

Ich küsse ihr die Hand – denn weiter war ich noch nicht bei ihr – und reite nach Kingston hinaus. Da das Traben mir unangenehm ist, so setze ich mein Pferd in Galopp. Plötzlich stürzt es, und ich liege vor der Tür des Herzogs von Kingston auf dem Pflaster. Miß Chudleigh stand gerade am Fenster, und als sie mich alle Vier von mir strecken sah, stieß sie einen lauten Schrei aus, wie eine erste Regung des Gefühls ihn so leicht einer Frau entreißt. Als ich infolge dieses Schreies meinen Kopf umwandte, erkannte sie mich und schickte mir sofort einen ihrer Leute zu Hilfe. Sobald ich wieder aufrecht stand, wollte ich zu ihr gehen, um ihr meinen Dank auszusprechen, aber es war mir unmöglich, mich von der Stelle zu rühren. Man trug mich in ein Zimmer des Erdgeschosses und zog mir die Stiefel aus. Ein Kammerdiener, der zugleich Chirurg war, untersuchte mich und stellte fest, daß ich den Knöchel verrenkt hätte, und daß ich acht Tage lang mich vollkommen ruhig verhalten müßte.

Die junge Miß sagte mir sofort, wenn ich bei ihr bleiben wolle, könne ich der sorgfältigsten Pflege sicher sein. Ich dankte ihr lebhaft, sagte aber, ich wolle ihr keine Umstände machen, und sprach den Wunsch aus, nach meinem Hause gebracht zu werden. Sofort gab sie mit reizender Anmut alle nötigen Befehle, und bald hatte ein bequemer Wagen mich nach Hause gebracht. Es war mir unmöglich, die beiden Bedienten, die mich begleiteten, zur Annahme eines Geldgeschenkes zu bewegen; ich erkannte darin jene zartfühlende Gastfreundschaft, die man den Engländern zur Ehre anrechnet. Sie verdienen auch dieses Lob in mancher Hinsicht, obgleich andererseits Egoismus einer der hervorstechendsten Züge ihres Nationalcharakters ist.

Zu Haufe angekommen, legte ich mich sofort ins Bett und ließ einen Wundarzt rufen, der über die angebliche Verrenkung herzlich lachte.

»Ich wette, es ist nur eine einfache Verstauchung, und ich wünschte, der Fuß wäre gebrochen, um Ihnen zeigen zu können, was ich kann.«

»Ich bin entzückt, daß ich Ihr Talent nicht auf eine solche Probe zu stellen brauche, und ich werde die beste Meinung von Ihnen haben, wenn Sie mich recht schnell wieder herstellen.«

Zu meinem Erstaunen sah ich Pauline nicht. Man sagte mir, sie habe sich in einer Sänfte forttragen lassen, und ich empfand darüber beinahe Eifersucht, obgleich ein beleidigender Verdacht mir fern blieb. Zwei Stunden darauf trat sie endlich ganz aufgeregt bei mir ein; die alte Hausmeisterin hatte ihr gesagt, ich hätte ein Bein gebrochen und es sei bereits ein Arzt eine volle Stunde bei mir gewesen.

»Ich Unglückselige!« rief sie, indem sie an mein Bett eilte, »an diesem Unglück bin ich schuld!«

Kaum hatte sie dies gesagt, so erbleichte sie und sank beinahe ohnmächtig an meine Seite. »Göttliches Weib!« rief ich, indem ich sie in meine Arme schloß, »es ist nichts… eine einfache Verstauchung.«

»Dummes altes Weib! Wie weh hat sie mir getan! Aber Gott sei gelobt! Fühlen Sie mein Herz.«

»Oh! Ich fühle es mit Entzücken! Glücklicher Sturz!«

Meine Lippen auf die ihrigen pressend fühlte ich mit Entzücken, wie unsere Küsse ineinander verschmolzen, und ich segnete meine glückliche Verstauchung.

Nach diesem ersten Ergusse unseres Glücksgefühles sah ich Pauline lachen.

»Worüber lachen Sie, entzückende Freundin?«

»Über die Spitzbüberei der Liebe, die schließlich doch immer triumphiert.«

»Wo waren Sie?«

»Ich war bei meinem Alten, um meinen Ring einzulösen, und ich schenke ihn Ihnen, damit Sie eine Erinnerung an mich haben.«

»O, meine Pauline, ein bißchen Liebe wäre mir viel lieber als dieser schöne Solitär.«

»Sie haben den Diamanten und meine Liebe. Bis zu meiner Abreise, die nur zu bald erfolgen wird, werden wir als zwei zärtlich liebende Gatten miteinander leben und die Hochzeit werden wir heute Abend feiern, indem wir hier an Ihrem Bette speisen; denn die Verstauchung und ich, mein süßer Freund, verbieten Ihnen, es zu verlassen.«

»Ach, meine liebe Pauline, was für holde Worte aus Ihren Lippen! Welch ein Glück verkünden Sie mir! Nein, ich würde es nicht ertragen, wenn ich es nur in Aussicht hätte. Gestatten Sie mir, daran zu zweifeln, bis ich die volle Wirklichkeit genieße!«

»Gern, mein Freund, wenn Sie das wollen; aber Ihr Zweifel darf nur ganz leicht sein, sonst könnte er mir Unrecht tun. Ich war es müde, so mit Ihnen zusammenzuleben und durch meine Liebe sie unglücklich zu machen. Darum beschloß ich, Ihnen anzugehören, als ich Sie zu Pferde steigen sah. Infolgedessen ging ich während Ihrer Abwesenheit schnell fort, um meinen Ring einzulösen, und nun will ich nicht mehr Ihre Arme verlassen, bis der verhängnisvolle Brief, den ich aus Lissabon erwarte, mich Ihnen entreißen wird. Seit acht Tagen lebe ich in beständiger Furcht; denn diesen Brief, den ich so sehr ersehnt habe, fürchte ich jetzt eintreffen zu sehen.«

»Wenn doch der Kurier unterwegs seines Briefsackes beraubt würde.«

»Solches Glück werden wir nicht haben.«

Da Pauline noch immer neben meinem Bett stand, bat ich sie, in meine Arme zu kommen; denn ich starb vor Verlangen, ihr die lebhaftesten Zeichen meiner Zärtlichkeit zu geben.

»Nein, mein Freund! Die Liebe schließt ja nicht die Vorsicht aus, und wie Sie sehen, steht die Türe offen.«

Sie holte den Ariosto und las mir das Abenteuer Ricciardettos mit der spanischen Prinzessin Fiordespina vor – die schönste Episode des fünfundzwanzigsten Gesanges dieses schönen Gedichtes, das ich auswendig wußte. Sie stellte sich vor, daß sie die Prinzessin und ich Ricciardetto sei.

Ihr machte der Gedanke Spaß:

che il ciel l’abbia concesso,
bradamante cangiato in miglior sesso …

Verwandelt ruht dann neben ihr der echte
Genoß, und zwar von besserem Geschlechte.

Dann kam sie an die Stanze:

Ie belle braccia al collo indi mi getta,
E dolcemente stringe, e baccia in bocca:
Tu buoi pensar se allora la saeta
Dirizza Amor, se in mezzo al cor mi tocca.

Der schöne Arm umschlingt mich alldieweile;
Sie drückt mich hold und küßt mich in den Mund.
Du magst dir denken, wie von Amors Pfeile
Die Spitze mir im tiefsten Herzen stund.

Sie wünschte eine Erklärung über das bacciar in bocca und über die Liebe, die in diesem Augenblick Ricciardettos Pfeil aufrichtete; ich gab ihr eine ausführliche Erläuterung und überraschte sie, indem ich sie plötzlich ebensolchen Pfeil berühren ließ wie jenen, von dem Ariosto spricht. Sie wurde darüber böse. Dies war auch ganz in der Ordnung; aber ihr Zorn konnte nicht lange dauern, und sie lachte laut auf, als sie an die Verse kam:

Io il veggo, io il sento, e a pena vero parmi:
Sento in maschio da femina mutarmi.

Kaum glaub ich’s, doch ich seh’s, ich fühl’s am Leibe:
Ich wandle mich zum Mann aus einem Weibe.

Und weiter:

Cosi le dissi, e feci ch’ella stessa
Trovò con man la verità espressa.

Ich sag’s und führ die Hand dem lieben Kinde,
Damit es selbst die volle Wahrheit finde.

Sie war erstaunt, daß Rom nicht dieses Gedicht verboten hätte, das, wie sie sagte, von Schmutzereien wimmelte.

»Ich glaube. Sie irren sich, meine liebe Pauline; was Sie Schmutzereien nennen, sind nur poetische Freiheiten, und mit solchen ist Rom nicht geizig.«

»Das ist ein frecher Witz, der Ihnen die Zensur der Kirche auf den Hals hetzen und Sie selber auf den Scheiterhaufen der heiligen Inquisition bringen könnte. Aber was nennen Sie denn Schmutzereien?«

»Dinge, die Ekel erregen, nicht aber solche, die gefallen.«

»Sie haben eine eigentümliche Logik. Aber bei dem augenblicklichen Zustande meines Herzens kann ich sie nicht bekämpfen; ich finde es scherzhaft, daß Ariosto von den Frauen aller anderen Nationen gerade eine Spanierin wählte, um ihr den seltsamen Geschmack zuzuschreiben, der sie gerade in den als Weib verkleideten Bradamante sich verlieben ließ.«

»Die Glut des Klimas hat ihn veranlaßt, ein glühendes Temperament und infolgedessen einen perversen Geschmack anzunehmen.«

»Die Dichter sind Narren, die sich alles Mögliche erlauben, was ihren Neigungen schmeichelt!«

Wir setzten die Vorlesung und das Gespräch fort, und ich glaubte, die Schäferstunde habe geschlagen, als sie an die Stelle kam:

Io senza scala in su la rocca salto,
E lo stendardo piantovi di botto
E la nemica mia mi caccio sotto.

Und ohne Leiter in das Schloß ich drang.
Dort pflanz‘ ich stolz mein Banner auf beim Siege,
Als ich die Feindin glücklich niederkriege.1

Ich wollte sofort die Szene dramatisch mit ihr darstellen, aber sie sagte mir mit jenem feinen Zartgefühl der Frauen, das diese so trefflich als Stachel anzuwenden wissen: »Mein lieber Freund, Sie könnten Ihr Übel verschlimmern; ich bitte Sie, mäßigen Sie sich, bis Ihre Verstauchung geheilt ist.«

»Müssen wir denn meine Heilung abwarten, um unsere Ehe zu vollziehen!«

»Ich glaube ja; denn wenn ich mich nicht irre, können Sie das Werk nicht ohne eine gewisse Bewegung vollbringen…«

»Sie irren sich, köstliche Pauline! Aber selbst wenn es so wäre! Verlassen Sie sich darauf, ich würde nicht bis morgen warten, und wenn es mir das Bein kosten sollte! Übrigens werden Sie sehen, daß es Mittel gibt, um den Zweck ziemlich leicht zu erreichen, ohne mein Übel zu verschlimmern. Sind Sie überzeugt? Sagen Sie es mir; denn Ihre Ängstlichkeit beunruhigt mich.«

»Ich weiß nicht… Ich schäme mich …«

»Aber, mein Herz, müssen Sie nicht über solche Gewissensbedenken erröten? Diese passen doch wirklich nicht für Ihren Geist!«

»Nun, so wollen wir doch wenigstens die Kerzen auslöschen; in einer Minute gehöre ich Ihnen.«

»Wenn es denn nicht anders sein kann! Allerdings beraubt die Abwesenheit des Lichtes mich großen Genusses. Also schnell die Kerzen aus!«

Ganz mit unserem künstlichen Licht beschäftigt, achtete meine reizende Portugiesin nicht darauf, daß der Mondschein das Zimmer hell erleuchtete und daß meine Musselinvorhänge kein genügendes Hindernis boten, um mir den Anblick der entzückendsten Formen zu entziehen, besonders in der Stellung, die sie zufällig angenommen hatte. Wäre Pauline eine Kokette gewesen, so hätte ich glauben können, dieses ganze Manöver sei absichtlich berechnet gewesen, um meine Glut zu steigern. Aber sie hatte dies nicht nötig. Endlich hielt ich sie in meinen Armen, und wir versanken in ein ungewöhnliches Schweigen, das durch keine andere Bewegung als durch einen innigen Druck und durch keinen anderen Laut als durch das leise Geräusch unserer Küsse unterbrochen wurde. Bald war unsere Vereinigung vollständig, und ihre Seufzer, ihre glühende Hingabe bewiesen mir, indem sie mir ihre Erstlinge darbrachte, daß ihr Liebesbedürfnis das meinige noch übertraf. Ich bewahrte genügende Selbstbeherrschung, um nicht zu vergessen, daß ich ihre Ehre schonen mußte. Sie war darüber sehr erstaunt; denn sie gestand mir, sie habe an eine solche Ausflucht nicht gedacht, sondern sich mir ohne Hintergedanken hingegeben und sei bereit gewesen, die Folgen auf sich zu nehmen, die sie für unvermeidlich gehalten habe. Ich machte sie glücklich, indem ich ihr das Geheimnis erklärte.

Bis zu diesem Augenblick hatte die Liebe allein mich belebt, aber nach dem blutigen Opfer fühlte ich mich von Achtung und Dankbarkeit durchdrungen. Ich sagte ihr mit überströmendem Herzen, ich fühle die ganze Größe meines Glückes und sei bereit, ihr mein Leben zu opfern, um sie von der Beständigkeit meiner Zärtlichkeit zu überzeugen.

Beglückt durch das Gefühl der Sicherheit, das ich ihr einzuflößen verstanden hatte, überließ Pauline sich der ganzen Glut ihres südlichen Temperamentes, und ich hielt ihr tapfer stand; wir wirkten jedoch so eifrig, daß uns schließlich die Erschöpfung übermannte und daß das letzte Opfer nicht ganz vollzogen werden konnte. Wir überließen uns einem friedlichen und tiefen Schlaf. Ich erwachte zuerst. Strahlende Sonne erleuchtete das Zimmer, und ich betrachtete lange Paulinen, die an meiner Seite lag. Auf meinen Ellbogen gestützt, stieß ich unwillkürlich einen tiefen Seufzer aus, als ich dies entzückende Weib in meinem Besitz sah, den einzigen Sprößling einer erlauchten Familie, die erste Schönheit Portugals, die sich mir in Liebe ergeben hatte und die ich leider nur kurze Zeit besitzen durfte. Pauline erwachte, und ihr Blick, leuchtend und sanft wie der erste Strahl einer Frühlingssonne, ruhte voll Vertrauen und Liebe auf mir.

»Woran denkst du, mein süßer Freund?«

»Ich suche mich zu überzeugen, daß mein Glück nicht ein Traum ist; und wenn es Wirklichkeit ist, so wünsche ich zu sterben, bevor ich dich verliere. Ich bin der glückliche Sterbliche, dem du einen unermeßlichen Schatz geschenkt hast, dessen ich mich unwert fühle, obgleich ich dich unbeschreiblich liebe.«

»Mein Freund, du bist meiner ganzen Hingebung und meiner ganzen Liebe würdig, wenn du mich noch achten kannst.«

»Dich nicht mehr achten! Pauline, könntest du daran zweifeln?«

»Nein, lieber Freund, ich glaube an deine Zärtlichkeit, und ich bin sicher, daß ich es niemals zu bereuen haben werde, Vertrauen zu dir gehabt zu haben.«

Nachdem wir das süßeste Opfer noch einmal erneut hatten, stand Pauline auf. Mit einem anmutigen Lachen machte sie die Bemerkung, daß sie sich jetzt nicht mehr in meiner Gegenwart schäme.

Plötzlich aber ging sie vom Scherz zu tiefsinnigen Betrachtungen über und sagte: »Lieber Freund, wenn das Verschwinden der Scham eine Wirkung erworbenen Wissens ist, woher kommt es, daß unser erstes Urelternpaar sich erst schämte, nachdem es wissend geworden war?«

»Das weiß ich nicht, angebetete Freundin; aber sage mir, ob du jemals diese Frage an deinen gelehrten italienischen Lehrer gerichtet hast, von dem du mir erzähltest?«

»Hm – ja!«

»Was hat er dir geantwortet?«

»Sie hätten sich geschämt, nicht weil sie genossen hätten, sondern weil sie ungehorsam gewesen wären; indem sie die Körperteile bedeckten, die sie verführt hätten, glaubten sie, den begangenen Fehltritt verleugnen zu können. Was man auch sagen mag, ich bin der Meinung, daß Adam viel mehr Schuld hatte als Eva.«

»Wieso?«

»Weil Adam das Verbot von Gott selber erhalten hatte, während Eva es nur von Adam vernommen haben konnte.«

»Ich glaube, alle beide empfingen das Verbot unmittelbar von Gott.«

»Du hast also nicht die Schöpfungsgeschichte gelesen?«

»Du machst dich über mich lustig.«

»Dann hast du sie also schlecht gelesen; denn es steht darin klar und deutlich, daß Gott die Eva schuf, nachdem er Adam verboten hatte, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen.«

»Ich finde es seltsam, daß unsere Bibel-Ausleger diesen Umstand nicht hervorgehoben haben, denn er scheint mir sehr wichtig zu sein.«

»Die Theologen sind eben Betrüger; sie sind fast alle Feinde unseres Geschlechts.«

»O, was das anbelangt, so geben sie sehr oft Beweise vom Gegenteil.«

»Bitte, laß uns davon nicht mehr sprechen! Aber mein Lehrer war ein ehrlicher Mann.«

»War er Jesuit?«

»Ja, aber von der kurzen Robe.«

»Was heißt das?«

»Darüber wollen wir ein anderes Mal sprechen.«

»Schön, meine Liebe; wir werden dann sehen, wie die Begriffe: Jesuit und ehrlicher Mann sich miteinander vertragen können.«

»Es gibt Ausnahmen von allen Regeln.«

Meine Pauline war eine tiefe Denkerin, und da sie sehr an ihrer Religion hing, so beschäftigte sie sich mehr damit als ich. Ich hätte diesen ihren Vorzug niemals kennen gelernt, wenn sie nicht meine Bettgenossin geworden wäre. Ich habe mehrere Frauen von solcher Geistesanlage gekannt: um die Höhe ihres Geistes, die Erhabenheit ihrer Seele zu erkennen, muß man sie zuerst dahin bringen, sich der Verdammnis zu ergeben; wenn einem dies gelingt, ist man ihres vollen Vertrauens sicher, denn sie haben kein Geheimnis mehr vor dem Sieger, der sie zu erobern wußte. Hauptsächlich aus diesem Grunde liebt das schwache und reizende Geschlecht die Tapferen und verachtet die Feigen. Allerdings sieht man zuweilen, wie Feiglinge anscheinend bevorzugt werden; aber dies sind Erfolge, die sie nur ihrer Schönheit oder einer Weiberlaune verdanken: die Frauen treiben ihren Spaß mit ihnen, und wenn ein Tapferer dem Feigling den Stock zu kosten gibt, sind sie die ersten, die darüber lachen.

Nach der köstlichsten Nacht, die die Liebe mir verschafft hatte und die mir die süßeste zu sein schien, die der liebe Gott mir jemals gewährt hat, beschloß ich, mein Haus nicht mehr zu verlassen, solange Pauline noch in London bleiben würde.

Das reizende Weib wich nicht einen Augenblick von meiner Seite, abgesehen von der kurzen Zeit, die sie brauchte, um am Sonntag die Messe zu hören. Ich verschloß meine Tür vor aller Welt, selbst vor dem Jünger Äskulaps, denn meine Verstauchung heilte von selbst. Ich beeilte mich, die liebenswürdige Miß Chudleigh von meiner schnellen Heilung in Kenntnis zu setzen; infolgedessen schickte sie nun nicht mehr zweimal täglich zu mir, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, wie sie es bis dahin getan hatte.

Pauline war nach unserem Liebeskampf auf ihr Zimmer gegangen und kam erst zum Mittagessen wieder herunter. Aber wie strahlte sie da vor Schönheit! Ich glaubte, eine Nereide zu sehen oder vielmehr einen Engel. Ihr Gesicht, das durch ihr Darben zu bleich geworden war, hatte jene Farbe von Lilien und Rosen angenommen, die immer ein Zeichen von Jugend und Gesundheit sind, und auf ihrem Antlitz lag ein Ausdruck von Zufriedenheit und Glück, den ich unermüdlich bewundern mußte.

Da wir beide unsere Bildnisse zu besitzen wünschten, schrieb ich an Martinelli, er möchte mir den besten Maler von London schicken; er sandte mir einen Juden zu, dem seine Aufgabe trefflich gelang. Ich ließ mein Bild in einen Ring fassen, und dies war das einzige Geschenk, das Pauline von mir annehmen wollte, der ich mich doch nur um so reicher gefühlt hätte, wenn sie alles angenommen hätte, was ich besaß.

So verbrachten wir drei Wochen in einem Übermaß von Glück, das keine Feder beschreiben könnte. Ich war vollkommen wieder hergestellt; wir erfreuten uns einer ausgezeichneten Gesundheit, und unsere Liebe war voll Wollust und Gefühl. In jedem Augenblicke des Tages und der Nacht gehörten wir einander an, und da unsere Begierden stets befriedigt wurden und stets wieder von neuem erwachten, so befanden wir uns auf dem Höhepunkt des Glückes. Wir hatten keine Zeit, an die Zukunft zu denken, und vielleicht erhöhte dieser Umstand noch unsere Seligkeit. Mit einem Wort, ich glaube, es ist schwer, sich eine richtige Vorstellung von der Lage zweier Menschen zu machen, denen alle leiblichen Genüsse im Überfluß zu Gebote stehen und die kein Bedenken darin stört; die ganz in der Gegenwart leben und deren Gedanken keine Furcht vor der Zukunft beschäftigt; die durch sich selber und durch alles, was sie angeht, glücklich sind und deren Glück verhundertfacht wird durch die Genüsse, die sie sich unaufhörlich gegenseitig verschaffen. In solcher Lage befand ich mich damals, befand sich meine göttliche Pauline.

Jeden Tag entdeckte ich an meiner Geliebten Eigenschaften, die sie mir immer lieber machten: ihr Geist und ihr glücklicher Charakter waren ein unerschöpflicher Schatz; denn die Natur hatte sie mit moralischen Eigenschaften noch besser bedacht als mit körperlicher Schönheit, und einer ausgezeichneten Erziehung, die ihre Intelligenz gekräftigt hatte, verdankte sie eine außerordentliche Entwicklung aller ihrer Geistesgaben. Pauline hatte außer ihrer weiblichen Schönheit, Anmut und Sanftmut auch jenen festen und stolzen Charakter und den weiten Gesichtskreis, die nur höchstbegabten Männern eigen sind. Schon begann sie zu hoffen, der verhängnisvolle Brief, der sie zurückrufen sollte, werde gar nicht kommen, und Graf Al…. existierte in ihrer Erinnerung nur noch wie ein bedeutungsloser Traum; sie sagte mir manchmal, sie begreife nicht, wie ein hübsches Gesicht eine so materielle Macht ausüben könne, daß es aller Vernunft zum Trotz eine tiefe Neigung hervorrufe. »Ich fühle zu spät,« sagte sie, »daß nur der Zufall eine Vereinigung glücklich machen kann, die durch eine solche animalische Wirkung zustande kommt.«

Der erste August war ein verhängnisvoller Tag für sie und für mich. Pauline empfing aus Lissabon zwei Briefe, die ihr keinen Vorwand übrig ließen, um ihre Rückreise zu verzögern, und ich erhielt aus Paris die Nachricht, daß Frau von Urfé tot sei. Frau du Rumain schrieb mir: zufolge der Aussage ihrer Kammerfrau hätten die Ärzte erklärt, die Marquise habe sich selber umgebracht, indem sie eine zu große Menge einer von ihr als Panacee bezeichneten Flüssigkeit eingenommen habe. Man habe ein Testament gefunden, das nach dem Irrenhause schmecke: sie vermache ihr ganzes Vermögen dem ersten Sohn oder der ersten Tochter, die sie gebären werde; denn sie behaupte, schwanger zu sein.

Mich hatte sie zum Vormund des erwarteten Kindes bestellt, was mir sehr schmerzlich war, denn über eine solche Geschichte mußte ganz Paris mindestens eine Woche lang lachen. Die Gräfin du Châtelet, ihre Tochter, hatte sich ihres ganzen unbeweglichen Vermögens und ihres Portefeuilles bemächtigt, worin man zu meinem großen Erstaunen vierhunderttausend Franken gefunden hatte. Ich war von diesem Schlage wie betäubt, aber ich suchte meinen Schmerz und meine Reue über der Teilnahme zu vergessen, die die beiden Briefe meiner Pauline in mir erregten. Der eine war von ihrer Tante, der andere vom Grafen Oeiras, der sie aufforderte, sobald wie möglich auf dem See- oder Landwege nach Lissabon zurückzukehren, und ihr versicherte, sie werde sofort nach ihrer Ankunft in den Besitz ihres Vermögens gelangen und könne den Grafen Al… offen vor aller Welt heiraten. Er schickte ihr einen Sichtwechsel über zwanzig Millionen Reis. Ich hatte über den geringen Wert dieser Münze niemals nachgedacht und war daher außer mir; aber Pauline sagte mir lachend, der Wert betrage nur zweitausend Pfund Sterling. Immerhin erlaubte diese Summe ihr, wie eine Herzogin zu reisen. Der Minister riet ihr, den Seeweg zu benutzen, sie brauche in diesem Fall ihren Wunsch nur dem Herrn de Saa zu erkennen zu geben, der den Auftrag habe, eine portugiesische Fregatte, die sich augenblicklich in einem der englischen Häfen befinde, ihr zur Verfügung zu stellen. Pauline wollte weder von der Seefahrt noch von Herrn de Saa etwas wissen; kein Mensch sollte glauben können, daß sie zur Rückreise genötigt gewesen sei. Sie war ärgerlich, daß Oeiras ihr die Anweisung geschickt hatte, weil sie daraus sah, daß der Minister sich dem Glauben hingab, sie befinde sich in mißlichen Umständen. Es gelang mir allerdings ohne Mühe, ihr diese Sache im richtigen Lichte darzustellen, und sie gab schließlich zu, daß das Vorgehen des Ministers zartfühlend sei; denn er schrieb ihr nicht, daß er ihr mit der Anweisung ein Geschenk mache; dies würde sie allerdings beleidigt haben.

Pauline war reich und hatte eine große Seele. Dies geht schon daraus hervor, daß sie mich genötigt hatte, ihren Ring anzunehmen, als sie sich sozusagen im Elend befand; ganz gewiß rechnete sie niemals auf meine Börse, obgleich sie überzeugt war, daß ich sie niemals würde verlassen haben. Ich bin sicher, daß sie mich für sehr reich hielt, und ich tat allerdings nichts, woraus sie auf das Gegenteil hätten schließen können.

Wir verbrachten den Tag und sogar die Nacht sehr traurig. Am nächsten Morgen sprach Pauline zu mir mit jenem auserlesenen Feingefühl und mit jener Überzeugungskraft, die nur einem großen Charakter eigen sind:

»Wir müssen uns trennen, mein lieber Freund, und uns zu vergessen suchen; meine Ehre verlangt, daß ich sofort nach meiner Ankunft in Lissabon die Frau des Grafen Al…. werde. Denn alle Welt muß glauben, daß ich mich ihm bereits hingegeben habe; sobald ich aber mich dem Grafen gelobt habe, ist es meine Pflicht, ihm mein Herz wie meine Person ungeteilt zu geben. Dies wird mir nicht schwer werden; denn es ist mir nicht möglich, mir vorzustellen, daß ich auf andere Art glücklich sein könnte, und sobald ich dich nicht mehr sehe, wird mein Pflichtgefühl die Oberhand gewinnen; denn was man wirklich will, muß man auch können. Meine erste Liebe, die du beinahe verwischt hast, wird wieder die alte Gewalt erlangen, sobald ich dich verlassen habe, und ich bin überzeugt, daß ich meinen Gatten lieben werde, denn er ist gut, sanft und liebenswürdig; dies habe ich in den wenigen Tagen, die wir zusammen verlebten, wohl erkennen können.

Nach dieser Vorrede, mein lieber Freund, will ich dir nun sagen, worum ich dich bitten muß und was du mir gewähren mußt, sei es auch nur als eine Gnade: versprich mir, niemals nach Lissabon zu kommen, wenn ich dir nicht die Erlaubnis gebe. Ich hoffe, ich brauche dir nicht die Gründe zu sagen; du darfst es nicht wagen, den Frieden meiner Seele zu stören; denn wenn ich schuldig würde, müßte ich zugleich auch unglücklich werden, und du, der du mich so zärtlich liebst, wirst gewiß nicht das Werkzeug meines Unglücks werden wollen. Ach glaube mir, ich stelle mir vor, ich sei deine Gattin gewesen; sobald wir getrennt sind, werde ich mir einbilden, ich sei Witwe und reise nach Lissabon, um dort eine andere Ehe einzugehen.«

Unter strömenden Tränen schloß ich sie in meine Arme und versprach ihr Gehorsam.

Pauline antwortete dem Minister Oeiras und ihrer Tante, der Äbtissin, sie werde im Laufe des Oktobers in Lissabon eintreffen; sobald sie in Spanien sei, werde sie ihm weitere Nachricht geben. Da sie über die nötigen Mittel verfügte, kaufte sie einen Reisewagen, und nahm eine Kammerjungfer durch Vermittlung der braven Frau, bei der sie im Anfange ihres Londoner Aufenthaltes gewohnt hatte.

Die letzte Woche, die sie mit mir zubrachte, verging mit diesen Reisevorbereitungen. Als besondere Gunst bewilligte sie mir, daß Clairmont sie bis nach Madrid begleiten durfte. Sie sollte mir sofort nach ihrer Ankunft in der spanischen Hauptstadt diesen treuen Diener zurückschicken; aber das Schicksal hatte beschlossen, daß ich ihn nicht wiedersehen sollte, und ich gestehe, dies war einer der schlimmsten Streiche, die es mir in meinem Leben gespielt hat.

Wir verbrachten die letzten acht Tage in Bitternis und Wonne. Wir sahen uns an, ohne zu sprechen; wir sprachen, ohne zu wissen, was wir sagten. Wir vergaßen, uns zu Tisch zu setzen und zu essen; wir gingen zu Bett und hofften, wir würden vor Liebe und Schmerz nicht schlafen können; aber wir täuschten uns. Eine Lethargie, die durch die Erschöpfung unserer Sinne hervorgerufen war, versenkte uns in einen tiefen Schlaf, und wenn wir in inniger Verschlingung erwachten, schilderten tiefe Seufzer und feurige Küsse den wirklichen Zustand unserer Seelen.

Pauline konnte mir und sich das Glück nicht versagen, daß ich sie bis Calais begleitete. Wir reisten am zehnten August ab und hielten uns in Dover nur solange auf, wie notwendig war, um den Wagen auf ein Paketboot bringen zu lassen. Vier Stunden später landeten wir in Calais, wo Pauline, um ihre Witwenschaft zu beginnen, mich bat, in einem Zimmer zu schlafen, das von dem ihrigen getrennt war. Am zwölften August reiste sie ab. Mein armer Clairmont ritt voran, und sie hatte beschlossen, nur bei Tage zu reisen.

Meine Trennung von Pauline hat eine große Ähnlichkeit mit der schmerzlichen Trennung von Henriette, die ich fünfzehn Jahre früher in Genf durchmachen mußte. Auffallend ist die Charakterähnlichkeit dieser beiden unvergleichlichen Frauen, die nur in der Art ihrer Schönheit voneinander verschieden waren. Vielleicht war dies nötig, damit ich mich in die zweite ebenso leidenschaftlich verlieben konnte, wie ich mich in die erste verliebt hatte. Beide waren klug und verständig, beide waren tiefe Denkerinnen, und nur eine verschiedene Erziehung hatte bewirken können, daß die eine heiterer war, mehr Talente und weniger Vorurteile hatte als die andere. Pauline hatte den edlen Stolz ihrer Nation, sie hatte einen Hang zum Ernst, und die Religion war für sie Herzenssache; außerdem übertraf sie Henriette an verliebter Glut und an Neigung zum Liebesgenuß. Ich war mit beiden glücklich, weil ich reich war; sonst hätte ich weder die eine noch die andere überhaupt gekannt. Ich habe sie vergessen, weil wir Menschen alles vergessen; aber wenn ich mir die Erinnerung an sie zurückrufe, finde ich, daß der Eindruck, den Henriette auf mich machte, doch der tiefere war – ohne Zweifel nur deshalb, weil ich damals erst zweiundzwanzig Jahre alt war, während ich in London bereits siebenunddreißig zählte. Je älter ich werde, desto mehr fühle ich, wie das Alter unsere Eindrucksfähigkeit abstumpft, und desto mehr bedauere ich, daß ich nicht das Geheimnis habe finden können, die Jugend festzuhalten, diese glückliche Zeit süßer Einbildungen. Ohnmächtiges Bedauern! Wir müßten enden, wie wir beginnen, oder wir müßten die von der Natur aufgestellte Ordnung umstoßen, das heißt, damit beginnen, womit wir endigen. Noch einmal – ohnmächtiges Bedauern!

Ich schiffte mich am selben Tage wieder ein und hatte eine sehr unangenehme Überfahrt. Trotzdem hielt ich mich in Dover nicht auf, und sobald ich in London angekommen war, schloß ich mich in düsterster Stimmung in einem wirklich britannischen »Spleen« in mein Zimmer ein, um darüber nachzudenken, wie ich Pauline vergessen könnte. Jarbe brachte mich zu Bett. Dieser Jarbe war ein braver Junge, den ich für die Zeit von Clairmonts Abwesenheit in meinen persönlichen Dienst genommen hatte. Als er am nächsten Morgen in mein Zimmer trat, brachte er eine schauderhafte Naivität vor, über die ich bald darauf aber doch lachen mußte.

»Mein Herr,« sagte er zu mir, »die Alte läßt Sie durch mich fragen, ob sie das Schild wieder aushängen soll?«

»Das elende Weib! Sie will wohl, daß ich sie in der Wut erwürge?«

»Aber mein Gott, mein Herr, sie hängt sehr an Ihnen; und als sie Sie so traurig gesehen hat, da hat sie gedacht…«

»Sage ihr, sie soll sich’s nicht wieder einfallen lassen, derartige Gedanken zu haben, und du…«

»O – ich, Herr, werde alles tun, was Sie wollen.«

»Laß mich zufrieden!«

  1. Ich entnehme die Übersetzungen der Verse der bei Georg Müller erschienenen zweibändigen Ariost-Ausgabe von Alfons Kißner. Das herrlich ausgestattete Werk ist eine wahre Herzensfreude für jeden Bücherliebhaber.

Erstes Kapitel


Ein altes Schloß. – Clementina. – Die schöne Büßerin. – Lodi. – Gegenseitige Liebeserklärung ohne Furcht vor den Folgen.

Das herrschaftliche Schloß der kleinen Stadt Sant‘ Angelo ist ein sehr großes Gebäude; es ist mindestens achthundert Jahre alt, aber ganz unregelmäßig und von einem Baustil, aus welchem man nicht auf die Zeit der Errichtung schließen kann. Es besteht aus einem Erdgeschoß, das in eine Menge kleiner Kammern geteilt ist, einem Stockwerk, das mehrere große, sehr hohe Wohnräume enthält, und aus einem ungeheuren Dachboden. Die Mauern, obgleich an vielen Stellen geborsten, sind von einer Dicke, die dafür zeugt, daß unsere Vorfahren für ihre Urenkel bauten, was heutzutage nicht mehr vorkommt; denn wir fangen an, auf englische Art zu bauen, das heißt kaum für die gewöhnliche Lebensdauer eines Menschen. Die Treppen bestanden aus breiten Steinfließen, aber sie waren so abgenutzt, daß man beim Hinauf- wie beim Hinuntergehen sehr vorsichtig sein mußte. Die Fußböden bestanden überall aus Ziegeln, und da diese von verschiedenem Alter und vielleicht seit länger als einem Jahrhundert nicht neu gestrichen waren, so bildeten sie eine Art von Mosaik, die für das Auge nicht eben angenehm war. Die Fenster standen mit dem Ganzen in Einklang; da sie keine Scheiben hatten und da die Rahmen an mehr als einer Stelle das Gewicht von Läden nicht mehr hätten tragen können, so standen sie beständig offen, und kein einziges hatte einen Laden. Glücklicherweise machte sich in dem milden Klima dieser Mangel nicht besonders fühlbar. Zimmerdecken waren verpönt; ihre Stelle nahmen große Balken ein, und Nester aller Art, selbst von Nachtvögeln, nebst vielen Spinnengeweben vertraten die Arabesken.

In diesem gotischen Palast – denn es war weit mehr ein Palast als ein Schloß, da es weder Türme noch sonstige Abzeichen feudaler Macht hatte, mit Ausnahme des riesigen, sehr gut erhaltenen Familienschildes über der Torfahrt – in diesem Palast also, dem Denkmal des alten Adels der Grafen A.B., auf das sie mehr Wert legten als auf das schönste Gebäude, das sie für ihr Geld hätten erwerben können – in diesem Palast waren an drei Stellen vier oder fünf nebeneinander gelegene Zimmer, die etwas besser erhalten waren i als die übrigen. Dies waren die Wohnräume der augenblicklichen Herren; denn es gab deren drei: meinen Freund, den Grafen A.B., den Grafen Ambrogio, der beständig im Schloß wohnte, und einen dritten, der als Offizier bei der Wallonischen Garde in Spanien stand. Die Wohnung dieses letzteren wurde mir angewiesen. Doch sprechen wir nun von der Aufnahme, die mir bereitet wurde.

Graf Ambrogio empfing mich am Tor des Schlosses wie den größten und mächtigsten Herrn. Die beiden Flügel waren weit geöffnet; aber ich will mir auf diesen Umstand nichts einbilden, denn es wäre unmöglich gewesen, sie zu schließen, da sie bereits vor Altersschwäche zusammenfielen.

Der edle Graf erschien, seine baumwollene Mütze in der Hand, in einem anständigen, aber vernachlässigten Anzuge, obwohl er kaum vierzig Jahre alt war. Er sagte mir mit ebenso edlem wie bescheidenem Anstand, sein Bruder habe unrecht getan, mich zur Besichtigung ihrer Armseligkeiten einzuladen. Ich würde bei ihnen nicht die Bequemlichkeiten finden, an die ich gewöhnt sei; dafür könne ich aber auf das Mailänder Herz rechnen. Dies ist eine Redensart, die die Mailänder beständig im Munde führen; da sie sie aber rechtfertigen, so steht sie ihnen gut. Sie sind im allgemeinen gut, ehrlich, dienstbereit und gastfreundlich; die Offenheit ihres Charakters beschämt die Piemontesen und Genuesen, ihre beiden Nachbarn.

Der gute Ambrogio stellte mich der Gräfin, seiner Gemahlin, und seinen beiden Schwägerinnen vor, von denen die eine eine vollendete Schönheit war, abgesehen von einer gewissen Verlegenheit, die aber offenbar nur von dem Mangel an Verkehr in guter Gesellschaft herrührte, denn sie kamen nur mit einigen Nachbarn zusammen, die von den guten Manieren der vornehmen Gesellschaft nicht viel wußten. Die andere Schwägerin war eine jener Frauen, von denen man nicht spricht, das heißt: weder schön noch häßlich und wie man sie zu Hunderten findet. Die Gräfin hatte ein Madonnengesicht von engelhafter Sanftheit, mit Würde und Unschuld gemischt. Diese drei Schwestern waren sehr jung, sehr adlig und sehr arm. Beim Essen sagte der Graf, er habe seine Frau trotz ihrer Armut geheiratet, weil er auf ihre Tugend und ihren Charakter mehr Wert lege als auf ihre Herkunft. »Sie macht mich glücklich«, rief er, »und obwohl sie mir nichts zugebracht hat, fühle ich mich doch von ihr bereichert, denn sie hat mich gelehrt, alles, was wir nicht haben, als überflüssig zu betrachten.«

»Dies«, sagte ich, »ist die wahre Philosophie eines Ehrenmannes.«

Hocherfreut über das Lob ihres Gatten und meine Zustimmung, lächelte die Gräfin ihm verliebt zu; dann nahm sie der Frau, die es trug, ein bildhübsches Püppchen von fünf oder sechs Monaten ab und reichte ihm ihren Busen, der weiß und fest wie Alabaster war. Dies ist das Vorrecht einer Mutter, die ihr Kind säugt; die Natur hat ihr gesagt, daß sie dadurch in keiner Weise die Scham verletzt. Man nimmt an, daß ihr Busen, der eine Quelle des Lebens geworden ist, in den Augen aller, die ihn sehen, kein anderes Gefühl als das der Achtung erwecken kann. Ich gestehe jedoch, daß dieser Anblick in mir ein zärtlicheres Gefühl hätte erwecken können; denn das Bild war entzückend, und hätte Raphael es vor Augen gehabt, so würde, davon bin ich überzeugt, seine schöne Madonna Vollkommenheiten erhalten haben, die uns an den erhabensten Schöpfungen der Malkunst noch unbekannt sind.

Das Essen, das Graf Ambrogio mir gab, wäre ausgezeichnet gewesen ohne die Ragouts, die ich abscheulich fand. Suppe, gesottenes Fleisch, frisches Pökelfleisch, Bratwürste, Mettwürste, Milchspeisen, Wild, Mascarponkäse, eingemachte Früchte – alles war köstlich; da aber sein Bruder ihm gesagt hatte, daß ich Feinschmecker sei und an die Tafel besonders große Ansprüche stelle, so glaubte der gute Ambrogio, mir recht raffinierte Gerichte geben zu müssen, und diese waren geradezu schlecht. Aus Höflichkeit mußte ich davon kosten; aber ich nahm mir vor, nicht wieder darauf anzubeißen. Nach Tisch nahm ich meinen Amphitryo bei Seite und machte ihm begreiflich, daß sein Tisch mit zehn Schüsseln einfacher Art und ohne jedes Ragout lecker und vorzüglich sein würde. Seitdem speiste ich jeden Tag ganz ausgezeichnet.

Wir waren sechs bei Tische, alle fröhlich und gesprächig, mit Ausnahme der schönen Clementina. So hieß die junge Gräfin, die auf mich einen so lebhaften Eindruck gemacht hatte. Sie sprach nur, wenn sie genötigt war, eine Antwort zu geben, und dabei errötete sie jedesmal; da ich jedoch kein anderes Mittel hatte, ihre schönen Augen zu sehen, als indem ich sie zwang, mit mir zu sprechen, so richtete ich tausend Fragen an sie. Als ich aber aus ihrem Erröten schließen mußte, daß ich ihr lästig wurde, so beschloß ich zuletzt, sie in Ruhe zu lassen und eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um mit ihr näher bekannt zu werden.

Endlich führte man mich auf mein Zimmer und ließ mich dort allein. Die Fenster waren mit Scheiben versehen und hatten Vorhänge wie die des Saales, worin wir gespeist hatten; aber Clairmont sagte mir: wenn ich ihn nicht von jeder Verantwortung entbinden wolle, wage er nicht meine Koffer auszupacken, denn weder Türen noch Kommoden hätten Schlüssel. Ich fand, daß er recht hätte, und suchte meinen Freund auf. Er antwortete mir: »Im ganzen Schloß gibt es nur zum Weinkeller Schlüssel; trotzdem ist hier alles in Sicherheit. In Sant‘ Angelo gibt es keine Diebe; und selbst wenn es welche gäbe, würden sie es nicht wagen, bei uns einzudringen.«

»Das glaube ich, mein lieber Graf; aber Sie sehen wohl ein, daß ich verpflichtet bin, überall Diebe anzunehmen; Sie werden begreifen, daß mein eigener Diener diese Gelegenheit benutzen könnte, mich zu plündern, ohne daß es mir möglich sein würde, ihn zu überführen; denn ich müßte natürlich schweigen, wenn ich bestohlen werden sollte.«

»Ich begreife es vollkommen. Morgen früh wird ein Schlosser Ihre Türen mit Schlössern versehen, und Sie werden im ganzen Schloß der einzige sein, der daran denkt, Maßregeln gegen Diebe zu ergreifen.«

Ich hätte ihm mit Juvenal antworten können: Cantat vacuus coram latrone viator – Unbekümmert um den Räuber singt der Wanderer mit leeren Taschen.

Aber ich würde ihn gekränkt haben. Ich sagte also zu Clairmont, er solle mit dem Öffnen meiner Koffer bis zum nächsten Tage warten, und ging mit dem Grafen A.B. und seinen beiden Schwägerinnen aus, um einen Spaziergang durch das Städtchen zu machen. Graf Ambrogio und seine schöne Ehehälfte blieben im Schloß, denn die liebenswürdige und zärtliche Mutter wich nicht einen Augenblick von ihrem Säugling. Die schöne Clementina war achtzehn Jahre alt, vier Jahre jünger als ihre verheiratete Schwester. Sie nahm meinen Arm an, und der Graf bot den seinigen der Gräfin Eleonora, indem er gleichzeitig zu mir sagte: »Wir wollen der schönen Büßerin einen Besuch machen.«

Auf meine Frage, wer die schöne Büßerin sei, antwortete er mir, ohne sich wegen seiner beiden Schwägerinnen Zwang anzutun: »Sie ist eine frühere Lais, die ein paar Jahre lang in Mailand wegen ihrer Schönheit in solchem Rufe stand, daß nicht nur aus Mailand, sondern auch aus den benachbarten Städten alle reichen Leute zu ihr strömten, um ihre Neugierde zu befriedigen. Ihr Haus öffnete und schloß sich täglich hundertmal, und diese außerordentliche Gastfreundschaft genügte noch nicht, um alle Begierden zu befriedigen, die sie erregte. Vor einem Jahre hat man nun diesem Skandal, wie die Frommen und alten Leute es nannten, ein Ende gemacht. Graf Firmian, ein gelehrter und geistreicher Mann, war nach Wien gegangen; vor seiner Rückreise erhielt er den Befehl, sie in dieses Kloster einsperren zu lassen. Die erhabene Maria Theresia hat der käuflichen Schönheit niemals verzeihen können. Der Graf mußte den Befehlen der sittengestrengen Herrscherin gehorchen und ließ also die schöne Sünderin einsperren. Man sagte ihr, sie sei schuldig, forderte ihr eine Generalbeichte ab und verurteilte sie zu lebenslänglicher Buße in diesem Kloster. Kardinal Pozzobonelli, der höchste Würdenträger des Ambrosianischen Ritus, erteilte ihr die Absolution und reichte ihr hierauf das Sakrament der Firmelung; zugleich veränderte er ihren Taufnamen Teresa in Maria Maddalena, um dadurch der schönen Sünderin den Weg zum ewigen Heil anzuzeigen und sie darauf hinzuweisen, daß sie in ihrer Buße ihrer neuen Schutzheiligen nacheifern solle, von der sie bisher nur die Ausschweifungen nachgeahmt habe. – Das Kloster, das unter dem Patronat unserer Familie steht, ist für Büßerinnen bestimmt. Es ist ein unzugänglicher Ort, wo die Eingesperrten unter der Aufsicht einer Oberin leben, deren sanfter Charakter wohl geeignet ist, ihnen die Qualen des Überganges von den Lüsten der Welt zu den härtesten Entbehrungen zu erleichtern. Sie können nur arbeiten und zu Gott beten. Sie sehen keinen anderen Mann als den Beichtvater, der ihnen täglich die Messe liest. Wir sind die einzigen, denen die Oberin den Zutritt zu diesem Gefängnis nicht verwehren kann; übrigens weist sie Personen, die mit uns kommen, niemals zurück.«

Diese Erzählung rührte mich tief; mir standen die Tränen in den Augen. Arme Maria Maddalena! Barbarische Kaiserin! Ich glaube an einer andern Stelle bereits erwähnt zu haben, weshalb sie diese strenge Tugend übte.

Wir ließen uns melden. Die Oberin empfing sofort den Grafen an der Tür und ließ uns in einen ziemlich großen Saal eintreten, wo ich, ohne fragen zu müssen, die berühmte Büßerin leicht unter fünf oder sechs anderen jungen Mädchen erkennen konnte, die wie sie büßen mußten, aber ohne Zweifel nur wegen geringer Sünden, denn sie waren häßlich oder doch jedenfalls nicht hübsch. Sobald die armen Mädchen uns erblickten, hörten sie auf zu nähen und zu stricken und standen ehrfurchtsvoll vor uns auf. Trotz ihrer groben Kleidung machte Teresa einen tiefen Eindruck auf mich. Welche Schönheit! Welche Majestät trotz ihrer demütigen Miene! Ich, mit meinen Augen eines Weltkindes, sah nicht die ungeheure Sünde, für die sie eine so tyrannische Behandlung erdulden mußte, sondern glaubte die verkörperte Unschuld in Gestalt einer büßenden Venus zu sehen. Ihre schönen Augen waren zu Boden gerichtet; aber wie groß war meine Überraschung, als sie sie plötzlich aufschlug, mich starr ansah und ausrief: »Gott! Was sehe ich! Heilige Jungfrau Maria, komme nur zu Hilfe! Hebe dich weg von hier, abscheulicher Sünder, obgleich du mehr als ich hier zu sein verdienst, du Schurke!«

Mir war nicht lächerlich zu Mute. Die Lage dieser Unglücklichen und ihre sonderbare Ansprache an mich zerrissen mir das Herz. Die Oberin sagte schnell zu mir: »Nehmen Sie keinen Anstoß daran, mein Herr; das unglückliche arme Mädchen ist wahnsinnig geworden, und falls sie Sie nicht etwa erkannt hat…«

»Sie kann mich unmöglich erkannt haben, hochwürdige Frau, ich sehe sie zum ersten Male in meinem Leben.«

»Ich glaube es Ihnen; aber verzeihen Sie ihr gütigst, denn sie hat den Verstand verloren.«

»Ach! Vielleicht ist dies eine Gnade vom lieben Gott.«

In Wirklichkeit sah ich in dem Ausfall der Büßerin mehr ein Anzeichen von gesundem Menschenverstand als von einem Wahnsinnsausfall; denn das arme Mädchen mußte entrüstet darüber sein, daß sie an diesem Orte ihrer Qualen meiner müßigen Neugier preisgegeben wurde. Ich fühlte mich tief bewegt, und eine Träne rann unwillkürlich über meine Wange. Der Graf, der sie kannte, lachte. Ich bat ihn, sich zusammenzunehmen. Aber die Sache war noch nicht zu Ende. Einen Augenblick darauf bekam die Unglückliche einen neuen Anfall. Von neuem brach sie in Schmähungen aus, die alle Anzeichen wahnsinniger Wut an sich trugen. Sie bat die Oberin, mich hinauszuweisen, denn ich hätte sie nur aufgesucht, um sie in Verdammnis zu stürzen. Die gute Dame machte ihr mit mütterlicher Milde einige Vorwürfe und ließ sie dann hinausbringen; sie sagte zu ihr, sie wäre im Irrtum, und die Besucher könnten keinen anderen Wunsch haben als den, zu ihrem Seelenheil mitzuwirken; aber sie beging auch die Härte, ihr zu sagen, niemand habe mehr gesündigt als sie, und die arme Maddalena verließ uns bitterlich weinend.

Hätte ich das Glück gehabt, an der Spitze eines siegreichen Heeres in Mailand einzuziehen, so wäre ganz gewiß mein erster Schritt gewesen, diese Unglückliche der Strafe zu entziehen, die eine Tyrannin ihr auferlegt hatte; die Äbtissin mit ihren honigsüßen Worten hätte ich durchgepeitscht, wenn sie Miene gemacht hätte, sich meinem Willen zu widersetzen.

Als Maddalena hinausgegangen war, sagte die Äbtissin zu uns, die Unglückliche habe alle Eigenschaften eines Engels, und wenn Gott sie vor dem Unglück bewahre, vollständig wahnsinnig zu werden, so bezweifle sie nicht, daß sie dereinst eine Heilige sein werde wie ihre Schutzpatronin. »Sie hat mich gebeten, aus dem Betsaal zwei Gemälde entfernen zu lassen, von denen das eine den heiligen Alois Gonzaga, das andere den heiligen Antonius darstellt, weil diese Bilder ihr unwiderstehliche Zerstreuungen verursachten. Ich habe geglaubt, ihrer Bitte nachkommen zu müssen, trotz dem Beichtvater, der in diesem Punkte keine Vernunft annehmen wollte.«

Der Beichtvater war ein Tölpel; dies sagte ich der Oberin nicht, doch ließ ich sie als eine kluge Frau meine Meinung über ihn erraten.

Traurig, schweigend und im Grunde unserer Herzen die Tyrannei der frommen Herrscherin verwünschend, die von ihrer Gewalt einen so kläglichen Gebrauch machte, verließen wir diesen Ort der Qual.

Wenn nach der wahren Lehre unserer heiligen Religion die Seele der Kaiserin Maria Theresia in der sogenannten Ewigkeit oder im anderen Leben einen Platz finden soll, so muß sie, vorausgesetzt, daß sie nicht bereut hat, in die Hölle kommen, selbst wenn sie weiter nichts Böses getan hätte, als daß sie auf tausenderlei Art die armen Mädchen quälte, die schon unglücklich genug sind, von dem Handel mit ihren Reizen leben zu müssen. Die arme Maddalena wurde wahnsinnig und litt an Höllenqualen, weil die Natur, die allgöttliche Herrscherin, sie mit der köstlichsten aller Gaben, Schönheit, und einem ausgezeichneten Herzen beschenkt hatte. Sie hatte Mißbrauch damit getrieben, das mag wohl sein; aber durfte wegen dieses Verbrechens, das ganz gewiß das kleinste von allen ist, und das für ein Verbrechen zu erklären nur Gott allein zusteht, eine Frau, die vielleicht eine größere Sünderin war als sie, ihr die allergrausamste Strafe auferlegen? Ich fordere jeden vernünftigen Menschen heraus, diese Frage mit ja zu beantworten!

Als wir nach dem Schloß zurückgingen, lachte Clementina, der ich den Arm gereicht hatte, von Zeit zu Zeit, sagte aber nichts. Ich war neugierig, worüber sie lachte, und sagte daher: »Dürfte ich es wagen, schöne Gräfin, Sie zu fragen, worüber Sie so ganz allein lachen?«

»Verzeihen Sie mir! Ich lachte nicht darüber, daß das arme Mädchen Sie erkannt hat, denn sie muß sich geirrt haben; aber ich muß unwillkürlich lachen, wenn ich daran denke, wie überrascht Sie waren, als Sie sie sagen hörten, Sie verdienten eher als sie in dieses Kloster eingesperrt zu sein.«

»Und vielleicht sind Sie der gleichen Meinung?«

»Ich? Gott bewahre! Aber sagen Sie mir, wie kommt es, daß die arme Unglückliche nicht meinen Schwager angegriffen hat?«

»Wahrscheinlich, weil ich ihr als ein größerer Sünder vorkam.«

»Ich glaube auch, das ist der einzige Grund; darum muß man auch niemals auf die Reden von Wahnsinnigen achten.«

»Schöne Gräfin, Sie sprechen ironisch; aber ich nehme Ihre Worte im Ernst. Ich bin vielleicht ein großer Sünder und sehe auch so aus; aber bedenken Sie, daß die Schönheit mir Nachsicht schuldet, denn für gewöhnlich bin ich nur durch sie verführt worden.«

»Ich finde es eigentümlich, daß die Kaiserin sich nicht den Spaß macht, ebensogut die Männer einsperren zu lassen wie die Frauen.«

»Sie hofft vielleicht viele Männer zu ihren Füßen zu sehen, wenn sie keine Mädchen mehr finden.«

»Ein schlechter Witz! Sagen Sie lieber, sie kann ihren Schwestern die Verletzung einer Tugend nicht verzeihen, die sie selber im höchsten Grade besitzt und die außerdem so leicht auszuüben ist.«

»Ich zweifle nicht im geringsten, mein gnädiges Fräulein, an der Tugend der Kaiserin: aber – mit Ihrer gütigen Erlaubnis – im allgemeinen bezweifle ich sehr, daß es so leicht ist, wie Sie glauben, die Tugend auszuüben, die man Enthaltsamkeit nennt.«

»Jeder spricht und denkt ohne Zweifel nach den Begriffen, die er durch Selbstprüfung gewinnt. Oft hält man Mäßigkeit für eine Tugend bei einem Menschen, dem sie durchaus nicht als Verdienst anzurechnen ist. Sie finden vielleicht schwierig, was mir sehr leicht erscheint, und umgekehrt. Wir können wohl alle beide recht haben.«

Diese interessante und geistreiche Unterhaltung veranlaßte mich, Clementina mit meiner schönen Mailänder Marchesa zu vergleichen; zwischen ihnen bestand nur der Unterschied, daß Fräulein Q. ihre Meinungen sehr anspruchsvoll vorbrachte, und daß die junge Gräfin ihre Weltanschauung auf völlig naive Weise und mit dem Ton vollkommener Gleichgültigkeit auseinandersetzte. Ich fand bei ihr einen so gesunden Verstand, eine so sorgfältig gepflegte und doch natürliche Ausdrucksweise, daß ich beschämt war, sie bei Tische so verkehrt beurteilt zu haben. Ihr Schweigen und ihr plötzliches Erröten, sobald sie auf irgend eine Frage antworten mußte, hatten in mir den Verdacht erregt, daß ihre Ideen sich in einer gewissen Verwirrung befänden, die mir nicht zugunsten ihres Geistes zu sprechen schien; denn allzu große Schüchternheit ist oft nur Dummheit. Aber das Gespräch, das ich soeben berichtet habe, brachte mich auf ganz andere Ansichten. Die schöne Marchesa war im Wortgefecht gewandter als Clementina, weil sie älter war und mehr in der Welt verkehrt hatte; aber Clementina war zweimal meiner Frage auf eine sehr feine, geistreiche Art ausgewichen, und dies ist für ein Fräulein von guter Herkunft die allerhöchste Kunst; ich sah mich daher genötigt, ihr die Palme zuzuerkennen.

Im Schlosse fanden wir eine Dame mit ihrem Sohn und ihrer Tochter und außerdem einen Verwandten des Grafen, einen jungen Abbate, der mir im höchsten Maße mißfiel.

Er war ein unbarmherziger Schwätzer, behauptete, mich in Mailand gesehen zu haben, und glaubte sich dadurch berechtigt, mich auf eine ekelhafte Art anzuschmeicheln. Außerdem liebäugelte er mit Clementina, und ich war sehr wenig geneigt, einen solchen Schwätzer zum Freunde oder zum Nebenbuhler zu haben. Ich sagte ihm daher sehr kurz angebunden, ich könne mich durchaus nicht erinnern, ihn irgendwo gesehen zu haben; aber diese Grobheit, die jeden zartfühlenden Menschen zurückgeschreckt hätte, brachte ihn durchaus nicht in Verlegenheit. Er setzte sich neben Clementina, ergriff ihre Hand und lud sie ein, meine Eroberung zu machen. Seine Bemerkungen waren so flach, daß das junge Mädchen nur darüber lachen konnte; ich fühlte dies, aber ich war verdrießlich, und ihr Lachen mißfiel mir. Mir schien, sie hätte ihm antworten müssen – ja, was, das wußte ich selber nicht, aber jedenfalls irgend etwas Kränkendes. Aber ganz im Gegenteil! Als der Unverschämte ihr etwas ins Ohr flüsterte, antwortete sie ihm ebenso, und ich fand das ganz abscheulich. Als bei irgend einer Gelegenheit jeder seine Meinung äußerte, forderte der Abbate mich auf, auch meine Ansicht zu sagen. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm sagte, aber ich erinnere mich, daß meine Antwort kaustisch war. Ich hoffte ihn dadurch zum Schweigen zu bringen und ihn verdrießlich zu machen; aber er schien wie ein gutes Trompeterpferd an alle Töne gewöhnt zu sein: nichts brachte ihn außer Fassung. Er legte bei Clementina Berufung ein, und mir widerfuhr die Kränkung, hören zu müssen, daß sie ihm, wenn auch errötend, recht gab. Befriedigt ergriff der Geck die Hand der jungen Gräfin und küßte sie mit dem Ausdrucke höchsten Glückes. Das war zu viel! Ich konnte nicht mehr an mich halten und haßte nun Clementina ebensosehr wie den Abbate. Ich stand auf und trat an ein Fenster.

Das Fenster ist ein ausgezeichneter Zufluchtsort für einen ärgerlichen Menschen, den der gute Ton zu einiger Zurückhaltung nötigt. Dort kann er denen, die ihm lästig fallen, den Rücken zudrehen, ohne daß man ihn geradezu der Unhöflichkeit beschuldigen könnte; aber man errät seinen Verdruß, und dies ist für ihn eine Erleichterung.

Ich habe diesen Umstand nur berichtet, um darauf hinzuweisen, wie ungerecht verdrießliche Laune die Menschen macht, die sich ihr überlassen. Der arme Abbate mißfiel mir, weil er Clementinen schmeichelte, in die ich bereits verliebt war, ohne mir selber Rechenschaft darüber gegeben zu haben; ich sah in ihm einen Nebenbuhler, der mich verletzte. In Wirklichkeit hatte er mich ganz und gar nicht beleidigt, sondern alles aufgeboten, um mir zu gefallen, und ich hätte seinen guten Willen anerkennen müssen. Übrigens war dieser Hang, mich unter dergleichen Umständen meiner verdrießlichen Laune zu überlassen, stets einer der kennzeichnenden Züge meines Geistes; heute ist es zu spät, um mir noch Mühe zu geben, mich von diesem Fehler zu heilen. Ich glaube sogar, dies nicht mehr nötig zu haben; denn wenn mir so etwas zuweilen noch begegnet, setzen meine Zuhörer mich in höflicher Weise, aber ohne ein Wort zu sagen, um ein halbes Jahrhundert zurück. Unglücklicherweise bin ich gezwungen, innerlich ihnen recht zu geben.

Clementina hatte mich gänzlich außer Fassung gebracht, und dies war ihr in wenigen Stunden gelungen. Allerdings war ich von sehr leicht entzündlicher Natur; niemals aber hatte bis dahin eine Schöne in so kurzer Zeit eine derartige Verheerung in meinem Innern angerichtet. Da ich fühlte, daß ich ganz der ihrige war, so glaubte ich, alles aufbieten zu müssen, um sie dahin zu bringen, ganz mein zu sein. An dem Gelingen zweifelte ich nicht einen Augenblick. Ich gestehe, daß meine Zuversicht eine starke Beimischung von Geckenhaftigkeit hatte, es lag aber auch eine vernünftige Bescheidenheit darin; denn ich fühlte, daß ich viele Schwierigkeiten würde ebnen müssen, um ihr Herz rühren zu können, und daß das geringste Hindernis meinen Plan zum Scheitern bringen könnte. Darum sah ich in dem Abbate eine Wespe, die zerquetscht werden mußte. Die Eifersucht, das schrecklichste aller Gefühle, das wie ein wahres Gift am Herzen frißt, hatte sich eingemischt und machte mich ungerecht gegen Clementina; denn ich bildete mir ein, sie sei, wenn auch nicht in diesen Affen verliebt, so doch nachsichtig gegen ihn, und von diesem Gedanken erfüllt, verspürte ich eine entsetzliche Rachsucht, die ich gerne an ihr ausgelassen hätte. Die Liebe ist die Gottheit der Natur; aber was ist die Natur, wenn ihre Gottheit ein unartiges Kind ist? Wir kennen es, wir wissen, was für seltsame Launen es hat, und doch beten wir es an.

Mein Freund, der Graf, wunderte sich vielleicht, daß ich mich so lange Zeit damit beschäftigte, den Himmel anzustarren; er trat zu mir heran und fragte mich in herzlichem Tone, ob ich vielleicht irgend etwas nötig hätte. Ich antwortete ihm: »Ich habe ein paar Geschäfte im Kopf und werde in mein Zimmer gehen, um vor dem Abendessen noch einige Briefe zu schreiben.«

»Wie?« rief er, »Sie wollen uns verlassen! Clementina, helfen Sie mir doch, Herrn von Seingalt zurückzuhalten. Sie müssen ihn dahin bringen, daß er das Briefschreiben aufgibt.«

»Aber, lieber Schwager,« versetzte das reizende Mädchen, »wenn der Herr Geschäfte hat, wäre es doch unhöflich von mir, wollte ich versuchen, ihn zurückzuhalten.«

Ich fand den Einwand boshaft, obgleich ich mich nicht enthalten konnte, ihn vernünftig zu finden; aber mein Verdruß wurde dadurch nicht vermindert, wie ja jeder Umstand dem Ärger frische Nahrung gibt, wenn ein Mensch einmal übler Laune ist. Da kam auch der Abbate und sagte mir mit gutmütiger Herzlichkeit, ich täte besser, eine Pharaobank aufzulegen. Da alle Welt ihm beistimmte, so mußte ich einwilligen.

Man brachte Karten und Spielmarken von verschiedenen Farben. Ich setzte mich und legte dreißig Dukaten vor mich hin. Dies war eine sehr starke Summe für eine Gesellschaft, die sich nur amüsieren wollte; denn man mußte fünfzehn Marken verspielen, um eine Zechine zu verlieren. Die Gräfin Ambrogio setzte sich mir zur Rechten, und der Abbate nahm sich’s heraus, sich zu meiner Linken zu setzen. Wie wenn sie sich verabredet hätten, mich zu ärgern, machte Clementina ihm Platz. Dies war im Grunde ganz natürlich; ich aber fand es unverschämt und sagte zum Bäffchenträger, ich zöge stets nur zwischen zwei Damen an und niemals an der Seite eines Priesters.

»Sie glauben, das würde Ihnen Unglück bringen?«

»Ich liebe die Unglücksvögel nicht.«

Clementina stand auf und nahm seinen Platz ein.

Nach drei Stunden meldete man, daß das Abendessen aufgetragen sei. Alle hatten von meiner Bank gewonnen, mit Ausnahme des Abbate; der arme Teufel hatte zwanzig Zechinen in Marken verloren.

Als Verwandter blieb der Abbate zum Abendessen; die Dame aber und ihre Kinder ließen sich trotz aller Anstrengungen nicht zurückhalten.

Als ich die Betrübnis des Abbate sah, kehrte meine gute Laune zurück und mit ihr die Lust zu scherzen. Ich begann Clementina Komplimente zu machen, und da sie auf tausend Fragen antworten mußte, so versetzte ich sie in die Notwendigkeit, ihren Geist leuchten zu lassen, und ich las in ihren Blicken, daß sie mir dafür dankbar war. Dies stimmte mich versöhnlich, und ich hatte Mitleid mit dem Abbate. Um ihn aufzumuntern, redete ich ihn freundlich an und fragte ihn nach seiner Meinung über eine aufgeworfene Frage.

»Ich habe nicht darauf geachtet,« antwortete er mir, »aber ich hoffe, Sie werden mir nach dem Abendessen Gelegenheit geben, meinen Verlust wieder wett zu machen.«

»Nach dem Abendessen, Herr Abbate, werde ich zu Bett gehen; aber morgen, wenn Sie es wünschen, werde ich Ihnen Genugtuung geben, soviel sie wollen, vorausgesetzt, daß das Spiel meinen reizenden Gastgeberinnen Spaß macht. Ist das Glück Ihnen heute feindlich gewesen, so hoffe ich, es wird Ihnen ein anderes Mal günstiger sein.«

Nach dem Abendessen ging der Abbate sehr traurig fort. Der Graf brachte mich auf mein Zimmer, wünschte mir gute Nacht und sagte, ich könne ruhig schlafen; meine Tür habe allerdings keinen Schlüssel, seine Schwägerinnen aber, die nebenan schliefen, wären nicht besser geschützt als ich.

Ich war über dieses Vertrauen nicht weniger erstaunt und entzückt als über die prachtvolle Gastfreundschaft, die diese wackere Familie mir erzeigte. Ich nenne diese Gastfreundschaft prachtvoll, denn alles auf der Welt ist relativ.

Ich befahl Clairmont, sich mit dem Einwickeln meiner Haare zu beeilen, weil ich ruhebedürftig sei. Er war mit seiner Arbeit kaum halbfertig, als ich durch das Eintreten der schönen Clementina angenehm überrascht wurde. Sie sagte zu mir: »Mein Herr, da wir keine Kammerzofe haben, die die Besorgung Ihrer Wäsche übernehmen könnte, so möchte ich Sie bitten, dies mir zu gestatten.«

»Sie, reizende Gräfin, wollen dies tun?«

»Jawohl, ich; und ich bitte Sie, sich meiner Absicht nicht zu widersetzen. Ich mache mir ein Vergnügen daraus, ja noch mehr, ich hoffe mir ein Lob zu verdienen. Lassen Sie mir das Hemd geben, das Sie morgen anziehen wollen, und bitte, keine Widerrede!«

»Ich füge mich, mein gnädiges Fräulein.«

Nachdem ich mit Hilfe von Clairmont den Koffer, der meine Wäsche enthielt, in ihr Zimmer geschleppt hatte, fuhr ich fort: »Ich brauche jeden Tag ein Hemd, eine Halsbinde, ein Kamisol, eine Unterhose, ein Paar Strümpfe, zwei Taschentücher; aber die Wahl ist mir gleichgültig, und ich überlasse diese Ihnen, wie ich Ihnen alles überlassen möchte. Ich bin glücklicher als Jupiter und werde glücklich schlafen. Leben Sie wohl, reizende Hebe!«

Ihre Schwester Eleonora, die schon im Bett lag, konnte gar kein Ende finden, mich um Entschuldigung zu bitten. Ich befahl Clairmont, auf der Stelle dem Grafen zu melden, daß ich keine Schlösser mehr an meinen Türen haben wolle. Konnte ich wohl wegen meiner paar Lumpen argwöhnisch sein, da ich sah, daß diese köstlichen Wesen nicht die geringste Besorgnis vor meiner Neugier hatten? Ich hätte befürchten müssen, sie zu beleidigen.

Ich hatte ein ausgezeichnetes Bett und schlief vortrefflich. Clairmont war gerade dabei, mein Haar zu machen, als meine junge Hebe mit einem Korb in ihren hübschen Händen sich meinen Blicken darbot.

»Ich hoffe,« sagte sie zu mir, nachdem sie mir guten Morgen gewünscht hatte, »Sie werden mit meiner Geschicklichkeit zufrieden sein.«

Ich sah sie entzückt an, denn nicht das geringste Anzeichen auf ihrem wonnigen Gesicht verriet jene falsche Scham, die dem Vorurteil des Adelsstolzes entspringt. Die leichte Röte, die ihre Stirn überzog, verriet im Gegenteil die Befriedigung, die sie empfand – eine Befriedigung, deren nur stolze Seelen fähig sind, auf denen nicht der dumme Stolz lastet, der Emporkömmlingen und eitlen Tröpfen eigen ist. Ich küßte ihr die Hand und sagte, niemals habe mir ein Anblick so gut gefallen.

Mein Freund trat ein und dankte Clementina für ihre Aufmerksamkeit gegen mich. Dies fand ich sehr gut; aber er begleitete seine Danksagungen mit einem Kuß, den sie aufs beste hinnahm, und das fand ich sehr übel. Aber, wird man mir einwenden, er war doch ihr Schwager, und sie war seine Schwägerin. Das gebe ich gerne zu; aber ich war einmal eifersüchtig, und damit ist alles gesagt. Die Natur ist klüger als ihre Menschen, und die Natur sagte mir, daß ich recht hätte. Es ist unmöglich, auf eine Geliebte, deren Besitz man noch nicht errungen hat, nicht eifersüchtig zu sein, denn man muß stets befürchten, daß die Begehrte durch einen anderen einem geraubt wird.

Der Graf zog einen Brief aus der Tasche, überreichte ihn mir und bat mich, ihn zu lesen. Er war von seinem Vetter, dem Abbate, der ihn ersuchte, ihn bei mir zu entschuldigen, daß er die verlorenen zwanzig Zechinen mir nicht innerhalb der im Ehrenkodex der Spieler vorgeschriebenen Frist bezahlen könne; er werde seine Schuld im Lauf der Woche begleichen.

»Gut, mein lieber Herr Graf, sagen Sie Ihrem Vetter, er möge mir ohne alle Umstände die Schuld bezahlen, wenn es ihm paßt; dies solle seiner Ehre kein Abbruch tun. Aber machen Sie ihn darauf aufmerksam, daß er heute Abend nicht spielen darf; ich würde seine Sätze nicht halten.«

»Aber er kann doch mit barem Gelde spielen?«

»Nicht, bevor er mich bezahlt hat; denn er würde mit meinem Gelde setzen. Übrigens ist die ganze Sache eine Lappalie, und es wird mir angenehm sein, wenn er sich hinsichtlich der Bezahlung keine Unbequemlichkeit macht.«

»Er wird sich gekränkt fühlen.«

»Um so besser!« sagte Clementina. »Warum hat er den Vorschlag gemacht, zu spielen, und vor allen Dingen, warum spielt er auf Wort, wenn er doch weiß, daß er nicht sofort bezahlen kann? Dies wird eine gute Lehre für ihn sein.«

Dieser Ausfall war Balsam für mein Herz. So ist der Mensch: Die Leidenschaft macht ihn hart und eigensüchtig. Aber so ist nun einmal seine Natur.

Der Graf antwortete mir nicht und ließ uns allein.

»Reizende Clementina,« sagte ich zu dem Mädchen, »ich flehe Sie an, seien Sie aufrichtig: Sagen Sie mir, ob die etwas derbe Art, wie ich den Abbate behandelte, Ihnen unangenehm ist. Ich werde Ihnen zwanzig Zechinen geben, die Sie ihm schicken können. So kann er sie mir heute Abend aufzählen und dadurch eine gute Figur spielen. Ich verspreche Ihnen, daß niemals ein Mensch etwas davon erfahren soll.«

»Ich danke Ihnen. Ich nehme an der Ehre des Abbate nicht so viel Anteil, um Ihr Anerbieten anzunehmen. Es ist für ihn ganz gut, wenn er diesen Denkzettel bekommt. Eine kleine Beschämung wird ihm vielleicht Lebensart beibringen.«

»Sie werden sehen, er wird heute Abend nicht kommen.«

»Das kann wohl sein; aber glauben Sie, das würde mir leid tun?«

»Das hätte ich wohl annehmen dürfen.«

»Warum denn? Gewiß doch nur, weil er mit mir gescherzt hat? Der Abbate ist ein Windbeutel, aus dem ich mir ganz und gar nichts mache.«

»Da ist er ebensosehr zu beklagen, wie derjenige, aus dem Sie sich etwas machen, sich beglückt fühlen muß.«

»Dieser Mensch ist vielleicht noch gar nicht geboren.«

»Wie? Sie waren noch keinem Manne begegnet, der Ihrer Aufmerksamkeit würdig gewesen wäre?«

»Sehr vielen, die meiner Aufmerksamkeit würdig sind; aber das genügt nicht für mich, um mir etwas aus ihnen zu machen. Dazu müßte ich jemanden finden, den ich lieben würde.«

»Sie haben also niemals geliebt?«

»Niemals.«

»Also ist Ihr Herz leer!«

»Da muß ich lachen. Ist es ein Glück? Ist es ein Unglück? Das ist noch sehr die Frage. Wenn es ein Glück ist – so wünsche ich mir Glück dazu; ist es ein Unglück –- was macht es mir aus, da ich es ja nicht empfinde?«

»Nichtsdestoweniger ist es ein Unglück; davon werden Sie von dem Tage an überzeugt sein, an dem Sie zum erstenmal lieben.«

»Und wenn ich in der Liebe unglücklich sein würde, müßte ich dann nicht finden, daß die Herzensleere für mich ein Glück war?«

»Das kann ich nicht leugnen; aber es scheint mir unmöglich zu sein, daß Sie in der Liebe unglücklich sein könnten.«

»Diese Unmöglichkeit ist nur allzuleicht möglich. Damit ich glücklich werde, ist eine gegenseitige Übereinstimmung nötig; eine solche ist nicht leicht, und noch schwieriger, glaube ich, ist die Dauer dieser Übereinstimmung.«

»Das gebe ich zu; aber Gott hat uns dazu erschaffen, dies zu wagen.«

»Ein Mann kann solches Bedürfnis haben und sein Vergnügen daran finden, ein junges Mädchen aber ist anderen Gesetzen unterworfen.«

»Die Natur macht keinen Unterschied in den Bedürfnissen, sondern nur in den Folgen; die Anstandsgebote sind nur von der Gesellschaft aufgestellt worden.«

In diesem Augenblick unterbrach uns der Graf. Er war erstaunt, uns noch beisammen zu finden, und sagte zu uns: »Ich wollte, ihr verliebtet euch ineinander!«

»Sie wünschen uns also unglücklich zu sehen«, sagte Clementina.

»Wieso denn, schöne Gräfin?« rief ich aus.

»Ich würde unglücklich werden, weil ich einen Unbeständigen lieben würde, und Sie, weil Sie Gewissensbisse empfinden und damit die Vernichtung meiner Ruhe teuer erkaufen würden!«

Nach diesem schönen Ausspruch schlüpfte sie hinaus.

Ich war wie versteinert; der Graf aber, der in seinem ganzen Leben noch nie nachgedacht hatte, rief aus: »Die reizende Clementina ist zu romantisch. Nun, sie ist ein junges Mädchen; das wird sich schon geben.«

Wir gingen zur Gräfin, um ihr guten Tag zu sagen, und fanden sie damit beschäftigt, ihrem lieben Säugling die Brust zu geben.

»Wissen Sie auch, liebe Schwester,« sagte der Graf zu ihr, »daß der Herr Chevalier in Clementina verliebt ist, und daß sie seine zärtlichen Gefühle erwidert?«

»Ich möchte gern,« sagte die Gräfin lächelnd, »daß wir durch eine rechte Heirat Verwandte würden.«

Das Wort Heirat ist ein Zauberwort, das oft nur dazu dient, der allerschmeichelhaftesten Idee eine Maske zu geben. Die Antwort der Gräfin gefiel mir sehr, und ich erwiderte sie durch eine herzliche Verneigung, obwohl dieses Wort stets eine sehr zarte Saite in meinem Herzen anschlug.

Wir gingen aus, um der Dame vom vorigen Tage einen Gegenbesuch zu machen. Wir fanden bei ihr einen Domherrn, der mir die größten Schmeicheleien sagte und mein Vaterland pries, das er zu kennen glaubte, weil er die Geschichte Venedigs gelesen hatte. Schließlich fragte er mich, was denn das für ein Orden sei, dessen Kreuz ich um den Hals trage. Ich antwortete ihm mit einer Miene bescheidenen Stolzes, es sei ein Zeichen des Wohlwollens, womit unser Heiliger Vater, der Papst, mich beehrt habe, indem er mich aus eigenem Antrieb zum Ritter des heiligen Johannes vom Lateran und zum Apostolischen Protonotar gemacht habe.

Der Mönch war nie auf Reisen gewesen. Er war ein liebenswürdiger Mann, aber wenn er Weltkenntnis besessen hätte, so hätte er diese Frage nicht an mich gerichtet. Er wollte mich jedoch durchaus nicht beleidigen, sondern glaubte vielmehr allen Ernstes, mir eine Ehre zu erweisen, indem er mir seine Teilnahme bezeigte und mir Gelegenheit gäbe, von meinen Verdiensten zu sprechen.

Es gibt eine Menge Fragen, die in einer Gesellschaft aufrichtiger Menschen nicht unbescheiden zu sein scheinen, es aber dennoch sind. Der Orden vom Goldenen Sporn ist so verrufen, daß er für mich eine wahre Folterqual war, wenn man mit mir darüber sprach, während mir dies ohne Zweifel sehr angenehm gewesen wäre, wenn ich kurz und bündig hätte antworten können: »Es ist das goldene Vließ.« So aber erforderte, nachdem ich die Wahrheit gesagt hatte, die verletzte Eitelkeit, zu meiner Rechtfertigung einen Kommentar hinzuzufügen, und dies war für mich eine wahre Fron. Ich kann sagen, für mich war mein Kreuz ein wahres Kreuz, eine wirkliche Qual; da es aber ein prachtvolles Schmuckstück war, das auf die überall so zahlreichen Dummköpfe Eindruck machte, so trug ich es sogar zu meinem Morgenanzug.

Der portugiesische Christus-Orden ist ebenso verrufen wie der Goldene Sporn, weil der Papst das Vorrecht hat, ihn ebenso wie Seine Allergetreueste Majestät zu verleihen.

Auf den Roten Adler-Orden legt man erst Wert, seitdem der König von Preußen Großmeister des Ordens ist; vor dreißig Jahren hätte kein anständiger Mensch sich mit diesem Orden zu schmücken gewagt, weil der Markgraf von Bayreuth ihn dem ersten Besten für bares Geld verkaufte.

Das blaue Band des Michael-Ordens ist heutzutage angesehen, weil der Kurfürst von Bayern es verleiht; früher wollte kein Mensch es haben, weil man es zu billigem Preise von den Höflingen des Kölner Kurfürsten erhielt. Diese hatten den Orden an eine Menge von Leute weggeworfen, die eher würdig gewesen wären, auf ihrem Rücken eine Galgenleiter zu tragen als auf ihrer Brust ein Ehrenkreuz. Vor fünf Jahren sah ich in Prag einen Ritter dieses Ordens; aber man durfte ihn nicht fragen, von wem er ihn bekommen hätte.

Die Sucht nach Ordenssternen wächst mit der Verderbnis der Sitten. Je tiefer man in seiner eigenen Meinung steht – denn kein Mensch täuscht sich selber, wenn er mit seinem Gewissen Zwiesprache hält – desto mehr ist man bestrebt, in den Augen anderer Menschen ausgezeichnet zu erscheinen. Die Eitelkeit der Menschen, die Geldgier der Regierungen und vor allen Dingen die Käuflichkeit der Höflinge haben es denn auch dahin gebracht, daß Ordenszeichen für niemanden mehr eine wirklich ehrenvolle Auszeichnung sind. Bedenkt man die Verschiedenheit der Abzeichen, Ordensbänder und Wahlsprüche, so gibt es keinen noch so gelehrten Mandarin, der sich schmeicheln könnte, sie alle in seinem Gedächtnis zu beherbergen. Außer den Orden der gekrönten Häupter und kleinen Fürsten gibt es eine Menge Ordenszeichen von obskuren Domkapiteln, Privatgesellschaften, Akademien, Jagd-, Musik- und Betvereinen und vielleicht sogar von Gesellschaften Liebender. Wie soll man aus diesem Chaos die Ordensabzeichen von Verschwörern und vielleicht sogar Gaunern herauskennen?

Was die Ordenszeichen der Frauen anbetrifft, so genügt für jeden anständigen Mann der gesunde Menschenverstand, um sich der Frage zu enthalten, was dieses oder jenes verborgene Medaillon, eine auffällig angebrachte Busennadel oder ein in einem Ring getragenes Porträt bedeute. Derartige Sächelchen haben niemals etwas zu bedeuten. Man muß die Frauen lieben, aber nicht auf ihre Geheimnisse neugierig sein, zumal da sie im allgemeinen selber diesen Spielereien keinen Wert beilegen, sondern nur Neugierde zu erregen beabsichtigen.

Es ist so weit gekommen, daß man in der guten Gesellschaft, wenn man für einen höflichen Mann gelten will, niemanden mehr nach seiner Heimat fragen kann; denn wenn der Betreffende, den du fragst, Normanne oder Kalabreser ist, so muß er dich um Entschuldigung bitten, indem er es dir eingesteht, und ein Wandtländer wird dir sagen, er sei Schweizer.

Ebenso wirst du einen vornehmen Herrn nicht nach seinem Wappen fragen; denn wenn er die heraldischen Fachausdrücke nicht kennt, bringst du ihn in Verlegenheit. Du darfst keinem Menschen ein Kompliment wegen seiner schönen Haare machen; denn vielleicht trägt er eine Perücke, und dann wäre dein Kompliment eine Beleidigung. Ich lobte einmal die schönen Zähne einer Frau; ein paar Tage darauf sah ich durch eine kleine Indiskretion die Rechnung ihres Zahnarztes. Ich erinnere mich, daß man mich, als ich vor fünfzig Jahren nach Frankreich kam, unhöflich fand, weil ich eine junge Gräfin nach ihrem Taufnamen fragte. Sie wußte ihn nicht. Ein anderes Mal befriedigte ein Stutzer, der unglücklicherweise Jean hieß, meine ungezogene Neugier, indem er mir einen Degenstich anbot.

In London gilt es für die allergrößte Unhöflichkeit, jemanden nach seiner Religion zu fragen; auch in Deutschland kann dies der Fall sein; denn ein Herrenhuter oder ein Wiedertäufer werden ungern sagen, wes Glaubens sie sind. Wenn dir also daran liegt, bei allen Leuten beliebt zu sein, so ist es das sicherste, keinen Menschen nach etwas zu fragen, nicht einmal ob er einen Louis wechseln kann.

Clementina war während des Mittagessens zum Entzücken, denn sie antwortete anmutig, geistreich und gewandt auf alle Fragen, die ich an sie richtete. Allerdings waren ihre Bemerkungen für die anderen zum Teil verloren, denn der Geist wird erstickt durch die Dummheit derer, die ihn nicht verstehen; mir aber bereitete sie ein unsägliches Vergnügen.

Da sie mir zu oft einschenkte, machte ich ihr einen sanften Vorwurf, und dieser führte ein Gespräch herbei, durch das sie mich vollends bezwang:

»Sie beklagen sich mit Unrecht,« sagte sie zu mir, »denn es ist Hebes Pflicht, den Becher des Herrn der Götter stets gefüllt zu halten.«

»Sehr gut; aber Sie wissen doch, daß Jupiter sie zurückwies.«

»Allerdings; aber ich weiß auch weshalb, und ich werde niemals eine solche Ungeschicklichkeit begehen wie sie. Niemals wird aus solchem Grunde ein Ganymed meinen Platz einnehmen.«

»Das ist sehr vernünftig. Jupiter hatte unrecht; darum nehme ich von Stund an den Namen Herkules an. Ist Ihnen das recht, schöne Hebe?«

»Nein; denn er hat sie erst nach seinem Tode geheiratet.«

»Das ist wieder wahr; so kann ich also nur Iolas sein, denn…«

»Schweigen Sie! Iolas war alt.«

»Allerdings. Auch ich war gestern alt, aber ich bin es nicht mehr: Sie haben mich jung gemacht.«

»Das freut mich, lieber Iolas; aber bedenken Sie, was ich mit ihm machte, als er mich verließ!«

»Was machten Sie denn mit ihm? Ich erinnere mich dessen nicht.«

»Das glaube ich nicht.«

»Sie können mir’s glauben.«

»Ich nahm ihm das Geschenk, das ich ihm gemacht hatte.«

Bei diesen letzten Worten wurde das reizende Gesicht des erstaunlichen Mädchens feuerrot. Ich hätte gedacht: ich würde meine Hand verbrennen, hätte ich sie auf ihre Stirn gelegt; aber die Funken, die ihre schönen Augen sprühten, drangen mir ins Herz und erfüllten es mit eisigem Frost.

Seid mir nicht böse, ihr Naturwissenschaftler, wenn ich sage, daß das Feuer ihrer Blicke mich in Eis verwandelte. Ich gebe das nicht für ein Wunder aus; es ist vielmehr eine ganz natürliche Erscheinung, die jeden Tag vorkommt, die ihr aber vielleicht noch niemals bemerkt habt. Eine große Liebe, die den Menschen über sich selber erhebt, ist ein mächtiges Feuer, dem ein Frost von derselben Stärke, wie ich ihn damals verspürte, die Spitze bieten muß; denn wenn die Glut länger als eine Minute gedauert hätte, so würde sie mich getötet haben.

Die überlegene Art, wie Clementina die Fabel von der Hebe angewandt hatte, hatte mir gezeigt, daß das reizende Mädchen nicht nur eine gründliche Kennerin der Mythologie war, sondern daß sie auch einen gesunden, tiefen und nachdenklichen Verstand hatte. Sie hatte mir nicht nur bewiesen, daß sie Kenntnisse besaß, sondern mehr als das, sie hatte mich erraten lassen, daß ich ihre Teilnahme erregte, daß sie an mich gedacht hatte und daß sie mich auf eine angenehme Weise hatte überraschen wollen. Alle diese Gedanken dringen gleichzeitig auf einen Mann ein, dessen Herz bereits vorher eingenommen war, und dann entzünden sie alle seine Sinne zu heller Glut. Im Nu war ich frei von allen Zweifeln: ich sah klar und deutlich, daß Clementina mich liebte, und zog daraus natürlich den Schluß, daß wir glücklich sein würden.

Clementina hatte das Bedürfnis, sich zu beruhigen, und eilte hinaus; dadurch erhielt ich Zeit, mich von meinem Erstaunen zu erholen. Ich wandte mich an ihre Schwester und sagte: »Ich bitte Sie, gnädige Frau, sagen Sie mir doch, wo ist das Fräulein erzogen worden?«

»Auf dem Lande. Sie hat stets dem Unterricht beigewohnt, den mein Bruder von Sardini erhielt. Der Lehrer beschäftigte sich niemals mit ihr, sie aber war die einzige, die von dem Unterricht Nutzen hatte, denn mein Bruder gähnte nur. Clementina brachte meine Mutter zum Lachen und setzte zuweilen den alten Lehrer in Verlegenheit.«

»Wir haben von Sardini Dichtungen, die nicht ohne Wert sind; aber niemand liest sie, weil sie mit mythologischen Ausdrücken gespickt sind.«

»Das ist wahr. Clementina besitzt ein Manuskript, das er ihr geschenkt hat, und das eine Menge Fabeln aus der heidnischen Götterwelt enthält. Suchen Sie sie zu überreden, daß sie Ihnen ihre Bücher und die Verse zeigt, die sie selbst gedichtet hat, die sie aber sonst keinem Menschen zeigt.«

Ich war voll Bewunderung. Als sie wieder hereinkam, machte ich ihr Komplimente und sagte hierauf: »Ich bin ein großer Freund der Dichtkunst und der schönen Wissenschaften, und Sie würden mir ein großes Vergnügen bereiten, wenn Sie mir Ihre Verse zeigen wollten.«

»Ich würde mich schämen. Ich mußte vor zwei Jahren meine Studien aufgeben, als ich infolge der Heirat meiner Schwester in dieses Schloß übersiedeln mußte, wo wir nur mit braven Leuten verkehren, die an weiter nichts als an ihre Haushaltung und an ihre Ernte denken und sich nur um Regen und Sonnenschein bekümmern. Sie sind der erste, von dem ich angenommen habe, daß er ein Freund der Wissenschaften sei, da Sie mich Hebe nannten. Hätte unser alter Sardini uns hierher begleitet, so würde ich mich weitergebildet haben; meiner Schwester lag jedoch nichts daran, ihn bei sich zu haben.«

»Aber, meine liebe Clementina,« rief die Gräfin, »sage mir doch bitte, was hätte meinem Mann ein achtzigjähriger Greis nützen können, der nur Luftschlösser baut, Verse macht und von Mythologie spricht?«

»Ich hätte ihn gern genommen,« sagte ihr Gatte, »wenn er sich in der Wirtschaft hätte verwenden lassen. Aber er ist ein ehrlicher Greis, der durchaus nicht zugeben will, daß es Spitzbuben gibt. Er ist vor lauter Gelehrtheit dumm geworden.«

»Großer Gott!« rief Clementina, »Sardini dumm! Es ist allerdings nicht schwer, ihn zu betrügen; aber das würde niemandem gelingen, wenn er weniger Redlichkeit und Geist hätte. Ich liebe einen Mann, den man aus solchen Gründen leicht täuschen kann. Aber man sagt ja auch von mir, ich sei verrückt.«

»Nein, liebe Schwester,« sagte die Gräfin, »im Gegenteil, alles, was du sagst, trägt den Stempel der Weisheit; aber es liegt außerhalb deiner Sphäre – ich will sagen, außerhalb der Sphäre einer Frau. Denn schöne Wissenschaften, Poesie und Philosophie hat eine Hausherrin nicht nötig, und sollte sich dir eine Gelegenheit zum Heiraten bieten, so würde deine fast ausschließliche Neigung für die Wissenschaften vielleicht ein Hindernis sein, eine gute Partie zu machen.«

»Darauf bin ich gefaßt und darum habe ich auch Lust, als Mädchen zu sterben; dies gereicht aber nicht den Männern zur Ehre.«

Um die Erregung zu begreifen, die dieses Gespräch in meiner Seele hervorrief, muß man leidenschaftlich und verliebt sein, wie ich es damals war. Ich fühlte mich unglücklich. Wäre ich adlig und reich gewesen, so hätte ich ihr hunderttausend Taler gegeben und sie im selben Augenblick geheiratet. Sie sagte mir, Sardini sei in Mailand und leide an der Krankheit der Altersschwäche.

»Haben Sie ihm in der letzten Zeit einen Besuch gemacht?« fragte ich sie.

»Ich habe Mailand niemals gesehen.«

»Ist es möglich! Bei der geringen Entfernung.«

»Was wollen Sie? Entfernungen sind relativ.«

Wie hübsch sie das ausdrückte! Sie gab mir dadurch ohne falsche Bescheidenheit zu verstehen, daß es ihr an Mitteln fehlte, und ich war ihr dankbar für diese Offenherzigkeit. Aber wofür wäre ich ihr wohl nicht dankbar gewesen in der Herzensstimmung, in die sie mich versetzt hatte! Es gibt Augenblicke im Leben, wo eine Frau – ich will nicht einmal sagen, eine schöne, eine liebenswürdige, geistreiche Frau, sondern eine Frau, die wir lieben – uns durch einen bloßen Hinweis dahin bringen kann, alles zu tun, was sie will.

Ich drang auf eine so zärtliche Weise in sie, daß sie mich nach dem Kaffee in ein Kabinett neben ihrem Zimmer führte, um mir ihre Bücher zu zeigen. Sie besaß nur etwa dreißig, aber diese waren gut gewählt, wenn sie gleich nicht über die Literatur eines mit seinen Studien in der rhetorischen Klasse fertigen jungen Menschen hinausgingen. Für einen Geist, wie Clementina ihn hatte, genügten sie nicht. Sie konnte daraus weder geschichtliche Belehrung noch naturwissenschaftliche Kenntnisse schöpfen, durch die sie aus der Unkenntnis über das Wesentliche hätte entrissen und den Freuden des Lebens zugeführt werden können.

»Haben Sie auch gemerkt, liebe Hebe, welche Bücher Ihnen fehlen?«

»Ich kann es mir wohl denken, teurer Iolas, obgleich ich nicht genau weiß, was ich wohl nötig haben könnte.«

»Wie reizend naiv, angebetetes Weib! Lassen Sie mich machen.«

Nachdem ich eine Stunde lang Sardinis Schriften durchblättert hatte, bat ich sie, mir etwas von ihrer eigenen Hand zu zeigen.

»Nein,« sagte sie, »es sind zu viele Fehler darin.«

»Auf diese Antwort war ich gefaßt; aber ich werde mehr des Guten darin finden als des Schlechten.«

»Daran zweifle ich.«

»Zweifeln Sie nicht daran! Ich verzeihe sprachlichen Fehlern, Verstößen gegen Stil und gesunde Vernunft, dem Mangel an Methode und sogar mißglückten Versen.«

»Das ist ein bißchen zu viel, Iolas; einer so ausgedehnten Nachsicht braucht Hebe nicht zu bedürfen. Hier, mein Herr, haben Sie mein ganzes Gekritzel; klauben Sie nur alle meine Fehler und Mängel heraus, und tun Sie sich keinen Zwang an!«

Hochentzückt, daß mir meine List gelungen war, indem ich ihre Eitelkeit angestachelt hatte, begann ich ganz langsam ein anatreontisches Lied vorzulesen, indem ich durch meine Betonung alle Schönheiten des Gedichtes hervorhob. Ich weidete mich an der Freude, die auf ihrem ganzen Gesichte glänzte, als sie ihre Verse so schön vorlesen hörte. Wenn ich an einen Vers kam, den ich durch eine Veränderung von diesem oder jenem Wort rührender gemacht hatte, bemerkte sie es, denn sie folgte mir mit den Augen; aber sie fühlte sich dadurch nicht gekränkt, sondern war mir im Gegenteil für meine Verbesserungen dankbar. Sie fand, daß meine Pinselstriche nur das Kolorit erhöhten, daß aber darum doch das Gemälde immer noch ihr Werk blieb, und sie war entzückt, als sie sah, daß dieses Vorlesen mir vielleicht ein noch größeres Vergnügen bereitete, als sie selber dabei empfand. Unser gegenseitiger Genuß dauerte drei Stunden lang. Es war nur ein geistiger Genuß; aber da wir verliebt waren, so ließe sich schwerlich ein reinerer und zugleich wollüstigerer vorstellen. Glücklich, ja überglücklich wären wir gewesen, wenn wir dabei stehen geblieben wären. Aber der Gott der Liebe ist ein Verräter, ein Betrüger, der alle Menschen auslacht, die sich einbilden, mit ihm spaßen zu können, ohne in seine Netze zu fallen. Wenn man sich damit belustigt, mit glühenden Kohlen zu spielen, wie sollte man sich nicht verbrennen!

Die Gräfin unterbrach uns, um uns einzuladen, wir möchten wieder zur Gesellschaft kommen. Clementina stellte schnell wieder alles an seinen Platz und dankte mir für das Vergnügen, das ich ihr bereitet hätte, mit einer Innigkeit, die sich in der Glut aussprach, die ihr ganzes Gesicht überzog. Als sie so unter die Gesellschaft trat und man sie fragte, ob sie sich vielleicht geschlagen hätte, errötete sie noch tiefer. Dies konnte verdächtig erscheinen.

Der Spieltisch stand bereit; bevor ich jedoch Platz nahm, befahl ich meinem Clairmont für den nächsten Morgen bei Tagesanbruch vier gute Pferde zu besorgen: ich wollte nach Lodi fahren, aber vor dem Mittagessen wieder zurück sein.

Alle Anwesenden spielten wie am Tage vorher, außer dem Abbate, der zu meiner großen Befriedigung überhaupt nicht erschien; dafür hatten wir aber einen Domherrn, der immer einen Dukaten zur Zeit setzte und einen ganzen Haufen Goldstücke vor sich liegen hatte. Diese kamen meiner Bank zugute, und am Ende der Partie sah ich zu meiner großen Freude, daß alle Anwesenden zufrieden waren; nur der Domherr hatte etwa dreißig Zechinen verloren, doch tat dieser Verlust seiner guten Laune keinen Abbruch.

Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch fuhr ich, ohne einem Menschen etwas davon zu sagen, nach Lodi und kaufte dort alle Bücher, die für die schöne Clementina paßten. Da sie nur italienisch sprach, so kaufte ich Übersetzungen, die ich zu meiner großen Überraschung in Lodi fand; ich hatte diese Stadt bis dahin nur wegen ihres ausgezeichneten Käses verehrt, der in ganz Europa unter dem Namen Parmesankäse bekannt ist. Dieser vortreffliche Käse ist nämlich aus Lodi und nicht aus Parma. Ich verfehlte nicht, noch am gleichen Tage eine Notiz darüber dem Artikel Parmesankäse in meinem Käse-Lexikon hinzuzufügen, woran ich damals arbeitete. Ich habe diese Arbeit später aufgegeben, da ich fand, daß sie über meine Kräfte ging, wie J. J. Rousseau fand, daß er der Botanik nicht gewachsen war. Dieser sonderbare und eigentümliche große Mann hatte zu jener Zeit das Pseudonym Reneau le Botaniste angenommen. Quisque histrioniam exercet. Schauspieler sind wir alle. Leider hatte Rousseau bei aller seiner Beredsamkeit keine Freude am Lachen und auch nicht die herrliche Gabe, andere zum Lachen zu bringen.

Ich hatte den Einfall, am übernächsten Tage in Lodi ein großes Essen zu geben; da ein Plan dieser Art keiner langen Überlegung bedurfte, ging ich sofort in den besten Gasthof, um die Anordnungen zu treffen. Ich bestellte eine auserlesene Mahlzeit für zwölf Personen, machte eine Anzahlung und ließ mir vom Wirt Quittung und schriftliche Bestätigung meiner Bestellung geben; zugleich nahm ich ihm das Versprechen ab, mich soviel Geld wie nur möglich ausgeben zu lassen.

Als ich wieder im Schloß Sant‘ Angelo angekommen war, ließ ich meinen großen Sack voll von Büchern in Clementinas Zimmer bringen. Das entzückende Mädchen war bei diesem Anblick wie versteinert. Es waren mehr als hundert Bände, Dichter, Geschichtschreiber, Geographen, Naturforscher, Philosophen – nichts fehlte an der Sammlung. Ich hatte auch einige gute Romane hinzugefügt, Übersetzungen aus dem Spanischen, Englischen und besonders Französischen; denn wir haben im Italienischen zwar etwa vierzig gute Dichtungen, aber keinen einzigen guten Roman in Prosa. Doch mögen die Fremden sich dieses Geständnis nicht zunutze machen, um sich eine Überlegenheit zuzuschreiben! Italien hat die anderen Völker um wenig zu beneiden und besitzt tausend Meisterwerke, um die alle Nationen es beneiden müssen. Was käme wohl dem Meisterwerk des menschlichen Geistes gleich, das unter dem Namen Orlando furioso bekannt ist? Nichts! Und dieses wunderbare Werk wird niemals einer anderen Sprache auf dem Wege der Übersetzung zu eigen werden. Die schönste und wahrste Lobrede auf Ariosto hielt der große Voltaire, als er sechzig Jahre alt war. Hätte er nicht durch diesen Widerruf das falsche Urteil zurückgenommen, das er über den großen Genius ausgesprochen hatte, so hätte ihm ohne Zweifel die Nachwelt, wenigstens in Italien, den Zutritt zum Tempel der Unsterblichkeit verweigert, worauf er übrigens einen so vielfach begründeten Anspruch hat. Es ist jetzt sechsunddreißig Jahre her, daß ich ihm ungefähr dasselbe sagte, was ich hier niederschreibe, und der große Mann glaubte mir. Er hatte Furcht, und daran tat er wohl.

Ich bitte meine Leser – wenn ich nach meinem Tode deren haben sollte – um Entschuldigung, daß ich auf solche Weise meine Erzählung unterbreche. Sie wollen freundlichst berücksichtigen, daß ich jetzt, da ich meine Erinnerungen schreibe, alt bin und daß das Alter gesprächig ist. Auch für sie wird die Zeit kommen, da sie nachsichtig sein werden, und da werden sie sehen, daß Menschen meines Alters sich nur darum so gerne wiederholen, ja sogar weitschweifig werden, weil sie nur noch von Erinnerungen leben, denn die Wirklichkeit ist für uns recht herzlich wenig und die Hoffnung gar nichts mehr. Ich komme nun auf mein Thema zurück, das ich keineswegs aus den Augen verloren habe.

Clementina war von Erstaunen und Bewunderung hingerissen; ihre Blicke schweiften von den Büchern zu mir und von mir zu den Büchern: sie schien daran zu zweifeln, daß dieser Schatz wirklich ihr gehören sollte. Nachdem sie sich endlich ein bißchen beruhigt hatte, sagte sie mir in einem Tone tiefgefühlter Zärtlichkeit und Dankbarkeit: »Sie sind also nach Sant‘ Angelo gekommen, um mich mit Glück zu überhäufen!«

In solchen Augenblicken wird der Mensch zum Gott. Denn es ist unmöglich, daß ein Wesen, das solche Worte sagt, nicht entschlossen wäre, alles aufzubieten, was in seinen Kräften steht, um seinerseits den glücklich zu machen, der es mit so leichter Mühe beglückt hat.

Die Wonne über den Ausdruck von Dankbarkeit auf dem Antlitz einer angebeteten Frau hat etwas Erhabenes, Unbeschreibliches an sich. Wenn du dies nicht ebenso fühlst wie ich, mein lieber Leser, so beklage ich dich und bin der Meinung, du mußt ein Geizhals oder ein Teufel und folglich nicht wert sein, geliebt zu werden.

Clementina erschien bei Tisch, tat aber den Speisen sehr wenig Ehre an; bald zog sie sich in ihr Zimmer zurück, wohin ich ihr unverzüglich folgte. Wir stellten miteinander die Bücher auf. Sie ließ einen Tischler kommen und bestellte bei ihm einen verschließbaren Bücherschrank mit einem Gitter. Sie sagte zu mir, ihre Bibliothek werde ihr Entzücken sein, wenn ich wieder abgereist sei.

Am Abend war sie glücklich im Spiel und von einer bezaubernden Heiterkeit. Ich lud die ganze Gesellschaft zum Mittagessen ein, und da dieses für zwölf Personen bestellt war, so erbot die Gräfin Ambrogio sich, in Lodi die beiden fehlenden Gäste aufzutreiben, und der Domherr übernahm es, die Dame mit der Tochter und dem Sohn zu begleiten.

Der nächste Tag war ein Tag der Ruhe und des Glückes; ich verbrachte ihn, ohne das Schloß zu verlassen, und beschäftigte mich nur damit, meiner Hebe einen Begriff von der Sphäre und Geschmack an der Wolffschen Philosophie beizubringen. Ich schenkte ihr mein mathematisches Besteck, das in ihren Augen eine unschätzbare Gabe war.

Ich war in Liebe zu dem reizenden Mädchen entbrannt. Aber würde wohl ihre Neigung zu Wissenschaft und Literatur genügt haben, mich in sie verliebt zu machen, wenn mich nicht ihre Reize schon vorher geblendet hätten? Es ist sehr zweifelhaft. Ich liebe Speisen, die meinem Gaumen schmeicheln; aber wenn sie nicht vorher meinen Augen schmeicheln, weise ich sie als schlecht zurück. Zu allererst interessiert stets die Oberfläche: sie ist der Sitz der Schönheit. In zweiter Linie kommt die Prüfung der Formen und Eigenschaften; wenn auch diese entzückt, so stehen wir in Flammen. Ein Mensch, der nicht auch Eigenschaften des Geistes und des Herzens sucht, ist oberflächlich; aber auf der Oberfläche beginnt eben jeder Liebeseindruck. Allerdings sind davon die Erscheinungen auszunehmen, die der Phantasie entspringen – Schimären, die die Wirklichkeit fast immer zerstört.

Als ich, ganz von Clementinas Bild erfüllt, mich zu Bette legte, dachte ich über mich selber nach, und ich war ganz erstaunt, daß sie bei unseren Zusammenkünften unter vier Augen nicht den geringsten Nebengedanken in mir erregte, obgleich wir stundenlang beieinander waren. Indessen war es, was mich zurückhielt, keine Furcht; es war keine Schüchternheit, denn die ist mir fremd; es war keine falsche Bescheidenheit, und ebensowenig war es das sogenannte Pflichtgefühl. Auch war es keine Tugend, denn in solchem Maße schwärme ich für Tugend nicht. Was war es also? Ich quälte mich nicht lange mit Nachdenken darüber; ich wußte nur, daß dieses platonische Verhältnis nicht lange dauern konnte, und das tat mir leid; aber dieses Bedauern war der Todeskampf der Tugend. Die schönen Bücher, die wir lasen, erregten unsere Teilnahme in so hohem Maße, daß in dieser Teilnahme die Verliebtheit unterging, die uns unser Beisammensein so köstlich finden ließ; aber, wie das Sprichwort sagt: der Teufel kam dabei nicht zu kurz. Dem Geiste gegenüber verliert das Herz seine Herrschaft: die Tugend triumphiert, aber der Kampf kann nur kurz sein. Unsere Siege verblendeten uns: wir glaubten unserer selber sicher zu sein; aber diese Sicherheit war ein Koloß mit tönernen Füßen und hatte jedenfalls nur darin ihren Grund, daß wir zwar ganz genau wußten, daß wir liebten, aber nicht wußten, ob wir geliebt würden. Im Augenblicke dieser Entdeckung mußte das Gebäude zusammenstürzen.

Diese vermessene Zuversicht veranlaßt mich, sie aufzusuchen, um ihr etwas in bezug auf unsere Fahrt nach Lodi zu sagen; die Wagen standen nämlich schon bereit. Sie schlief noch; als sie mich aber in ihrem Zimmer hörte, fuhr sie plötzlich empor. Ich dachte nicht einmal daran, mich bei ihr zu entschuldigen. Sie sagte mir, Tassos Aminta habe so sehr ihre Teilnahme erregt, daß sie vor dem Zubettegehen das ganze Gedicht gelesen habe.

»Der Pastor fido wird Ihnen noch viel mehr gefallen.«

»Ist er schöner?«

»Das kann man eigentlich nicht sagen.«

»Warum glauben Sie also, daß er mir mehr gefallen wird?«

»Weil er einen Zauber an sich hat, der zum Herzen geht. Er rührt, er verführt, und wir lieben die Verführung.«

»Er ist also ein Verführer?«

»Nein, aber er ist verführerisch wie Sie.«

»Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Ich werde ihn heute Abend lesen. Nun will ich mich ankleiden.«

Sie zog sich an, ohne daran zu denken, daß ich ein Mann war, aber auch ohne den Anstand zu verletzen. Indessen glaubte ich zu bemerken, daß sie zurückhaltender gewesen wäre, wenn sie gewußt hätte, daß ich in sie verliebt war; denn während sie ihr Hemd überstreifte, ihr Mieder schnürte, ihre Schuhe anzog und ihre Strumpfbänder oberhalb der Knie befestigte, sah ich Schönheiten aufblitzen, die mich verführten; ich mußte hinausgehen, bevor sie noch fertig war, um ein wenig die Glut zu dämpfen, die sie in allen meinen Sinnen entfacht hatte.

Ich nahm in meinen Wagen die Gräfin Ambrogio und Clementina und setzte mich selber auf den Klappsitz, indem ich auf einem schönen Kissen den Säugling auf meinem Schoß hielt. Meine beiden schönen Begleiterinnen wollten sich zu Tode lachen; denn ich sah aus wie eine Amme, so gut spielte ich meine Rolle. Unterwegs bekam der kleine Säugling Bedürfnis nach der Mutterbrust. Die hübsche Mama gab sofort seiner Begier eine köstliche Halbkugel preis, die ich mit den Augen verschlang; doch war ihr meine Bewunderung durchaus nicht unangenehm. Mit lüsternen Blicken betrachtete ich das wundervolle Bild; ich konnte meine Freude nicht verhehlen. Als das Kind satt war, verließ es den schwellenden Busen der Mutter, und beim Anblick des reichlich herabträufelnden Saftes rief ich aus: »O, Signora, das ist ein Mord! Erlauben Sie meinen Lippen, diesen Nektar aufzufangen, der mich den Unsterblichen gleichmachen wird, und fürchten Sie meine Zähne nicht!«

Damals hatte ich noch welche!

Da die Gräfin lachte und sich meinen Wünschen nicht widersetzte, so machte ich mich ans Werk, indem ich meine beiden Begleiterinnen ansah, die vor Lachen nicht mehr konnten und Mitleid mit mir zu haben schienen. Dieses köstliche Lachen läßt sich nicht schildern. Nur Homer, der göttliche Homer, hat es wiederzugeben verstanden, indem er uns Andromache beschreibt, wie sie den kleinen Astyanax auf ihren Armen hält, als Hektor von ihr Abschied nimmt, um zum Heere zurückzukehren.

Mich trieb eine unersättliche Lust, sie noch mehr lachen zu machen. Darum fragte ich Clementina, ob sie den Mut haben würde, mir die gleiche Gunst zu bewilligen.

»Warum nicht, wenn ich Milch hätte?«

»Es genügt, daß Sie die Quelle haben; alles übrige übernehme ich selber.«

Bei diesen Worten errötete das reizende Mädchen so stark, daß ich es bereute, sie ausgesprochen zu haben; ich brachte jedoch das Gespräch auf etwas anderes, und bald war ihre Röte verschwunden. Nichts störte unsere Heiterkeit, und als wir vor dem Gasthof in Lodi ausstiegen, hatten wir gar nicht gemerkt, daß wir überhaupt gefahren waren.

Die Gräfin schickte sofort zu einer ihr befreundeten Dame und bat sie, mit uns zu speisen und ihre Schwester mitzubringen.

Unterdessen schickte ich Clairmont zu einem Papierhändler; er kaufte in meinem Auftrag eine prachtvolle verschließbare Schreibmappe von Maroquin, Papier, Siegellack, Federn, Tintenfaß, Falzbein, Petschaft, Federmesser und was sonst auf einen Schreibtisch gehört. Das Geschenk wollte ich meiner Clementina vor dem Essen überreichen. Ich hatte das Vergnügen, an ihrem Staunen zu bemerken, wie glücklich dieses Geschenk sie machte. Ich las Dankbarkeit in ihren schönen Augen. Eine aufrichtige Frau wird unfehlbar von einem Mann besiegt werden, der sie zur Dankbarkeit zu nötigen weiß. Dies ist stets das sicherste Mittel, zum Ziele zu gelangen, aber man muß es richtig anzuwenden wissen.

Die Freundin der Gräfin kam mit ihrer Schwester, einem jungen Mädchen, das es an Schönheit mit seinem ganzen Geschlecht aufnehmen konnte. Ich war von ihr geblendet; aber die Göttin der Liebe selber hätte mich in diesem Augenblick nicht meiner Clementina untreu machen können. Nachdem die Freundinnen sich in der Freude ihres Wiedersehens umarmt hatten, wurde ich vorgestellt, wobei man mich mit solchen Komplimenten bis in die Wolken erhob, daß ich schließlich ihren Überschwenglichkeiten mit einigen spaßhaften Bemerkungen ein Ende machen mußte.

Wir erhielten ein üppiges und feines Mahl. Beim Nachtisch vermehrte sich die Gesellschaft um zwei freiwillige Gäste, den Mann der Dame und den Liebhaber der Schwester; sie waren willkommen, denn sie trugen zur Erhöhung der Heiterkeit bei. Um die Fröhlichkeit zu krönen, in die uns der Champagner versetzte, gab ich den Wünschen der Gesellschaft nach und legte eine Pharaobank auf. Als wir nach drei Stunden aufhörten, sah ich zu meinem großen Vergnügen, daß meine Börse um etwa vierzig Zechinen erleichtert worden war. Diesen kleinen Verlusten zur rechten Zeit verdankte ich zum großen Teil meinen Ruf, der nobelste Spieler Europas zu sein.

Der Liebhaber des schönen Fräuleins hieß Vigi; ich fragte ihn daher, ob er vom Verfasser des dreizehnten Gesanges der Äneide abstammte. Er bejahte meine Frage, und sagte, er habe seinem Ahnherrn zu Ehren diesen Gesang in italienische Stanzen übertragen. Da ich den Wunsch äußerte, seine Übersetzung zu sehen, versprach er mir, sie am übernächsten Tage nach Sant‘ Angelo mitzubringen. Ich machte ihm mein Kompliment zu seinem alten Adel, denn Maffeo Vigi blühte zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts.

Mit Einbruch der Nacht fuhren wir wieder ab und gelangten in weniger als zwei Stunden nach Sant‘ Angelo. Der Mond, der alle meine Bewegungen beleuchtete, zwang mich der Verführung zu widerstehen, die eins von Clementinas Beinen mir einflößte; sie hatte nämlich, um ihren kleinen Neffen besser auf ihrem Schoß halten zu können, den einen Fuß auf den Klappsitz gesetzt. Die hübsche Mama sprach unermüdlich von dem Vergnügen, das ich ihnen verschafft hätte, und alle wetteiferten in Lobeserhebungen wegen meiner Bewirtung.

Da wir keine Lust hatten, zu Abend zu speisen, zogen wir uns auf unsere Zimmer zurück; ich begleitete Clementina, die mir anvertraute, sie schäme sich, daß sie keine Ahnung von der Äneide habe. Vigi werde mit seiner Übersetzung des dreizehnten Gesanges kommen, und nun wisse sie kein Wort darüber zu sagen!

Ich tröstete sie, indem ich zu ihr sagte: »Wir werden heute Nacht Annibale Caros schöne Übersetzung des Gedichts lesen, die Sie besitzen. Sie haben ebenfalls die Übersetzung von Anguilara, ferner Ovids Metamorphosen und Marchettis Lucrezübertragung.«

»Aber ich wollte ja den Pastor fido lesen.«

»Wir wollen zunächst emmal das Dringlichste erledigen; den Pastor fido lesen wir ein anderes Mal.«

»Ich werde alles machen, was Sie mir raten, mein lieber Iolas.«

»Dadurch machen Sie mich glücklich, liebe Hebe.«

Wir verbrachten also die ganze Nacht damit, dieses herrliche Gedicht in italienischen Blankversen zu lesen; aber dieses Vorlesen wurde oft durch das geistreiche Lachen unterbrochen, das meine reizende Schülerin nicht zurückhalten konnte, wenn gewisse Stellen ihre Sinne zu sehr kitzelten. Sie lachte laut auf, als sie hörte, wie der Zufall Äneas veranlaßte, der Dido in einer sehr unbequemen Lage ein tüchtiges Zeichen seiner Zärtlichkeit zu geben. Und sie lachte noch mehr, als die Liebende sich über die Untreue des Priamus-Sohnes mit den Worten beklagte: »Ich könnte dir noch verzeihen, wenn du vor deiner Abreise mir einen kleinen Äneas zurückgelassen hättest, den ich auf meinem Hofe herumspielen sähe.« Clementina hatte recht, daß sie lachte, denn der Vorwurf ist sehr komisch. Aber woher kommt es, daß man keine Lachlust empfindet, wenn man das Lateinische liest?

Si quis mihi parvulus aula luderet Aeneas.

Nur die ernste Schönheit der Sprache kann dieser komischen Klage einen Firnis von Würde geben.

Wir beendeten die interessante Vorlesung erst mit Tagesanbruch.

»Welch‘ eine Nacht!« rief Clementina mit einem Seufzer; »für mich war sie eine Herzensfreude, aber für Sie?«

»Mir war sie eine außerordentliche Freude, da ich die Ihrige sah.«

»Und wenn Sie diese nun nicht gesehen hätten?«

»Auch dann wäre es für mich eine große Freude gewesen, aber doch eine viel geringere. Ich liebe Ihren Geist außerordentlich, teure Clementina; aber sagen Sie mir, bitte, ob Sie es für möglich halten, den Geist eines Menschen zu lieben, ohne zugleich auch die körperliche Hülle zu lieben?«

»Nein, denn ohne die Hülle würde der Geist sich ja verflüchtigen.«

»Hieraus ist also die Folgerung zu ziehen, daß ich Sie sehr lieben muß, und daß ich unmöglich sechs oder sieben Stunden mit Ihnen allein verbringen kann, ohne vor Lust zu vergehen, Sie mit meinen Küssen zu bedecken.«

»Das ist wahr, und ich glaube, wir widerstehen dieser Lust nur deshalb, weil wir Pflichten haben und weil wir uns gedemütigt fühlen würden, wenn wir diese verletzten.«

»Auch das ist wahr; aber wenn Sie ebenso empfinden wie ich, so muß Ihnen diese Zurückhaltung sehr schmerzlich sein.«

»Ebenso schmerzlich vielleicht wie Ihnen; aber ich glaube, der Widerstand gegen gewisse Wünsche fällt uns nur im Anfang schwer. Nach und nach gewöhnt man sich daran, einander zu lieben, ohne dabei sich einer Gefahr auszusetzen und ohne sich einen Zwang antun zu müssen. Unsere Hüllen, die anfangs so anziehend sind, werden uns schließlich gleichgültig, und wenn wir erst einmal so weit sind, werden wir ganze Tage und Nächte mit einander verbringen können, ohne daß eine fremde Begier uns stört.«

»Für mich selber zweifle ich daran; aber wir werden sehen. Leben Sie wohl, allzu schöne Hebe.«

»Leben Sie wohl, guter Iolas, schlafen Sie gut!«

»Mit Ihrem Bilde im Herzen.«

Viertes Kapitel


Meine Abreise von Grenoble. – Avignon. – Der Quell von Vaucluse. – Die falsche Astraudy und die Bucklige. – Gaetano Costa. – Meine Ankunft in Marseille.

Während die drei Mädchen des Hausmeisters meinem Leduc beim Kofferpacken halfen, kam der Wirt herein und übergab mir seine Rechnung. Ich fand diese angemessen und bezahlte sie, worauf er mir seine Freude äußerte, daß ich sein Haus beehrt hätte. Ich sprach ihm hierauf meine Zufriedenheit aus, wie es sich gehörte, worüber er sich sehr zu freuen schien. Dann sagte ich: »Mein Herr, ich werde Ihr Haus nicht verlassen, ohne mir das Vergnügen zu machen, mit Ihren liebenswürdigen Fräuleins zusammen zu speisen, denn ich möchte ihnen zeigen, wie sehr ich die sorgsame Aufwartung zu schätzen weiß, die sie mir während meines Verweilens haben angedeihen lassen. Bereiten Sie mir also bitte eine leckere Mahlzeit für vier Personen und lassen Sie auch Postpferde bestellen, damit ich mit Einbruch der Nacht abreisen kann.«

»Mein Herr,« sagte hierauf Leduc zu mir, »ich bitte Sie zugleich für mich ein Sattelpferd zu bestellen, denn ich bin nicht der Mann, hinter dem Wagen aufzusteigen.«

Die Base lachte ihm wegen dieser Prahlerei ins Gesicht, und der Schlingel sagte zu ihr, um sich dafür zu rächen, er sei etwas ganz anderes als sie.

»Gleichwohl, Herr Leduc, werden Sie sie bei Tisch bedienen.«

»Ja, wie sie Sie im Bett bedient.«

Ich lief nach meinem Rohrstock; aber der Bursche, der ganz gut wußte, was ihm bevorstand, hüpfte auf die Fensterbank und sprang in den Hof hinunter. Die Mädchen und der Hausmeister schrien vor Entsetzen laut auf; als wir aber an das Fenster traten, sahen wir ihn unten tausend Affensprünge machen.

Ich freute mich, daß er kein Glied gebrochen hatte, und rief ihm zu: »Komm herauf, ich verzeihe dir.«

Die jungen Mädchen sprachen mir ihre große Freude darüber aus, desgleichen auch ihr braver Vater, der sich nicht so leicht einen Floh ins Ohr setzen ließ. Leduc kam freudestrahlend wieder herauf und sagte: »Ich hätte nicht geglaubt, daß ich so gut springen könnte.«

»Das ist ganz schön und gut, aber ein anderes Mal sei weniger unverschämt. Da, nimm diese Uhr!«

Es war eine sehr schöne goldene Uhr; er nahm sie und sagte: »Für eine zweite solche würde ich gleich nochmal springen.«

So war dieser Spanier, den ich zwei Jahre später fortjagen mußte, was mir seither oft leid getan hat.

Bei Tisch suchte ich vergeblich die drei jungen Mädchen berauscht zu machen, und die Stunden verflossen so schnell, daß ich beschloß, erst am nächsten Tage abzureisen. Ich war der Geheimtuerei müde und wollte sie alle zusammen besitzen; da schien mir denn die Nacht sehr geeignet zu sein, eine solche Orgie ins Werk zu setzen. Ich sagte ihnen, wenn sie die ganze Nacht auf meinem Zimmer verbringen wollten, würde ich erst am nächsten Tage abreisen. Sie schrien darüber laut auf und lachten über meine Bemerkung, wie wenn sie ein Scherz wäre, der sich unmöglich verwirklichen ließe; ich aber neckte sie, um sie noch mehr aufzureizen. Während wir darüber sprachen, kam der Hausmeister herein und riet mir, doch lieber nicht nachts zu reisen, sondern auf einem bequemen Schiff, auf welchem ich auch meinen Wagen unterbringen könnte, bis Avignon zu fahren. Ich würde dadurch Unbequemlichkeiten und Geld sparen.

»Mir soll es recht sein, vorausgesetzt, daß die Fräuleins sich bereit erklären, mir die ganze Nacht Gesellschaft zu leisten; denn ich habe beschlossen, nicht zu Bett zu gehen.«

»Meiner Seel!« antwortete er lachend, »das ist ihre Sache.«

Dies gab den Ausschlag; sie erklärten sich einverstanden, der Hausmeister schickte einen Boten fort, um das Schiff zu bestellen, und versprach mir ein leckeres Abendessen für Mitternacht.

Die Stunden bis zum Souper vergingen unter fröhlichen Scherzen, und bei Tisch ließ ich die Champagnerpfropfen knallen, so daß die Schönen ein bißchen angeheitert wurden. Ich war selber ein wenig erhitzt, und da ich das kleine Geheimnis einer jeden von ihnen besaß, war ich so kühn, ihnen zu sagen, ihre Bedenken seien lächerlich, da ja eine jede bereits mir die letzte Gunst bewilligt hätte.

Sie sahen einander mit einer Art von Erstaunen an, wie wenn sie über meine Worte entrüstet wären. Da ich mir dachte, daß der weibliche Stolz sie vielleicht veranlassen könne, meine Worte für Verleumdung zu erklären, so hielt ich es für besser, ihnen keine Zeit dafür zu lassen: ich zog daher Manon auf meinen Schoß und umarmte sie mit solchem Feuer, daß sie ihre Niederlage zugab und sich meiner Glut überließ. Durch dieses Beispiel besiegt, machten die beiden anderen es wie sie, und fünf Stunden lang schwelgten wir in allen Genüssen der Sinnenlust. Schließlich wurden wir der Ruhe bedürftig, und ich hätte gern etwas geschlafen; aber ich hatte fest beschlossen, abzureisen. Ich wollte ihnen Schmucksachen schenken, aber sie sagten mir, es wäre ihnen lieber, wenn ich für dreißig Louis Handschuhe bei ihnen bestellte. Ich bezahlte es ihnen im voraus und habe natürlich niemals die Handschuhe gefordert.

Auf dem Schiff schlief ich ein und wachte erst in Avignon auf. Man führte mich in den Gasthof zum »Heiligen Homer«, und ich speiste auf meinem Zimmer zu Abend, obwohl Leduc mir von einer jungen Schönheit, die an der Gasttafel speiste, wahre Wunderdinge erzählte. Am nächsten Tage sagte mein Spanier mir, die Schönheit wohne mit ihrem Gatten in dem Zimmer neben dem meinigen. Zugleich gab er mir den Theaterzettel, und ich sah, daß die Vorstellung von einer Abteilung der Pariser Truppe gegeben wurde und daß Fräulein Astraudy singen und tanzen sollte. Ich stieß einen Schrei des Erstaunens aus: wie kann die reizende Astraudy, die berühmte Sünderin, in Avignon sein? Sie wird sich sehr wundern, mich hier zu sehen!

Da ich durchaus keine Lust hatte, als Einsiedler zu leben, so ging ich in den Speisesaal, um mit der ganzen Gesellschaft zu essen; ich fand etwa zwanzig Personen an einem Tische, der derartig reich besetzt war, daß es mir unmöglich schien, der Wirt könne ein solches Essen für vierzig Sous liefern. Die hübsche Fremde erregte die allgemeine Aufmerksamkeit und fesselte auch insbesondere die meinige. Sie war eine vollendete Schönheit, sehr jung, sprach niemals ein Wort, sah beständig auf ihren Teller und gab auf alle Fragen nur einsilbige Antworten, wobei sie zwei blaue Augen von einer schwer zu beschreibenden Schönheit über den Fragenden dahingleiten ließ. Ihr Gemahl saß am anderen Ende des Tisches. Er hatte eines jener gemeinen Gesichter, die beim ersten Anblick Verachtung einflößen. Er war jung und pockennarbig, ein Leckermaul und Schwätzer, lachte und schwatzte Unsinn über alles Mögliche und machte mir in jeder Beziehung den Eindruck eines verkleideten Bedienten. Da ich überzeugt war, daß ein solcher Mensch nicht nein sagen könnte, so schickte ich ihm ein Glas Champagner, das er sofort auf meine Gesundheit austrank.

»Erlauben Sie mir, der gnädigen Frau ebenfalls eins anzubieten?«

Er antwortete mir mit lautem Lachen, ich möchte mich an sie selber wenden; die Dame neigte leise den Kopf und sagte mir, sie trinke niemals Champagner. Beim Nachtisch stand sie auf, und ihr Mann folgte ihr auf ihr Zimmer. Ein Fremder, der sie wie ich zum erstenmal sah, fragte mich, wer sie sei. Als ich ihm antwortete, ich sei erst eben angekommen, berichtete ein anderer uns, ihr Mann lasse sich Chevalier Stuard nennen; er komme von Lyon, sei auf der Reise nach Marseille und halte sich seit acht Tagen in Avignon auf; er habe keine Dienerschaft und nur sehr schmales Gepäck.

Da ich mich in Avignon nur so lange Zeit hatte aufhalten wollen, um die Quelle von Vaucluse, die sogenannte Kaskade, zu besuchen, hatte ich nicht daran gedacht, mich mit Empfehlungsbriefen zu versehen; ich konnte also nicht daran denken, Bekanntschaften zu machen und dadurch einen Vorwand zu gewinnen, wegen der schönen Augen der Fremden noch zu bleiben. Aber ein Italiener, der den göttlichen Petrarca gelesen hat und verehrt, muß den Wunsch hegen, die Stellen kennen zu lernen, die er durch seine Liebe zur schönen Laura de Sade berühmt gemacht hat.

Ich ging ins Theater und sah dort den Vizelegaten Salviati, eine Anzahl weder schöner noch häßlicher Damen von Stande und eine elende Oper; aber ich entdeckte weder die Astraudy noch einen einzigen Künstler von der Italienischen Gesellschaft in Paris.

»Wo ist denn die berühmte Astraudy?« fragte ich nach Schluß der Vorstellung einen jungen Mann, der neben mir saß, »ich habe sie gar nicht gesehen.«

»Ich bitte um Verzeihung, sie hat vor Ihnen gesungen und getanzt.«

»Alle Wetter, das ist unmöglich! Ich kenne sie ziemlich genau, und wenn sie, was aber doch unmöglich ist, sich so verändert hätte, daß sie nicht mehr zu erkennen wäre, so wäre sie ja nicht mehr die Astraudy.«

Ich ging hinaus. Zwei Minuten darauf holte der junge Mann mich ein und bat mich, ich möchte doch umkehren; er werde mich in die Loge der Astraudy führen, die mich erkannt habe. Ich folgte ihm, ohne ein Wort zu sagen, und sah mich plötzlich einem häßlichen Mädchen gegenüber. Sie fiel mir um den Hals und nannte mich bei meinem Namen, aber ich konnte darauf schwören, sie niemals gesehen zu haben. Sie ließ mir jedoch keine Zeit, ihr dies zu sagen. Ganz in der Nähe bemerkte ich einen Mann, der für den Vater der schönen Astraudy galt, die ganz Paris kannte und die den Grafen Egmont, einen der liebenswürdigsten Kavaliere vom Hofe Ludwigs des Fünfzehnten, ins Grab gebracht hatte. Mir fiel ein, daß die Häßliche vielleicht ihre Schwester sein könnte; daher setzte ich mich und machte ihr ein Kompliment über ihre Talente. Sie bat mich um Erlaubnis, ihr Theaterkostüm ablegen zu dürfen, und entkleidete sich unter beständigem Lachen und Hin- und Herlaufen mit einer Großmut, die sie vielleicht nicht bewiesen haben würde, wenn das, was sie zeigte, des Sehens wert gewesen wäre.

Ich lachte innerlich über diese Manöver, denn so, wie ich eben von Grenoble kam, wäre es ihr sehr schwer geworden, mich in Versuchung zu führen, wenn sie auch ebenso schön gewesen wäre, wie sie häßlich war. Ihre Magerkeit und braune Haut waren wenig geeignet, mich über ihr abstoßendes Gesicht hinwegsehen zu lassen. Ich bewunderte das Vertrauen, das sie in ihre Reize setzte, denn sie mußte mir einen geradezu teufelsmäßigen Appetit zutrauen; aber derartige Geschöpfe finden oft in der Raffiniertheit der Verderbnis Hilfsmittel, die sie vom Zartgefühl nicht erwarten dürften. Sie beschwor mich, bei ihr zu Abend zu essen, und da sie auf dieser Einladung bestand, mußte ich auf eine Weise ablehnen, die ich mir gegen eine andere Frau nicht gestattet haben würde. Hierauf bat sie mich, ich möchte ihr für die nächste Vorstellung, die ihr Benefiz wäre, vier Karten abkaufen.

Da ich sah, daß die ganze Geschichte nur zwölf Franken ausmachte, freute ich mich, so billigen Kaufs davonzukommen, und bat sie, mit sechzehn Karten zu geben. Ich glaubte, sie würde vor Freude verrückt werden, als ich ihr einen doppelten Louisdor gab. Das war nicht die echte Astraudy. Ich kehrte in meinen Gasthof zurück und aß auf meinem Zimmer köstlich zu Abend.

Als Leduc mir für die Nacht das Haar zurecht machte, erzählte er mir, vor dem Abendessen habe der Wirt die schöne Fremde aufgesucht und ihr in Gegenwart ihres Mannes in dürren Worten gesagt, er verlange durchaus Bezahlung am nächsten Morgen, sonst bekämen sie nichts mehr zu essen, sie hätten den Gasthof zu verlassen und er würde ihr Gepäck nicht herausgeben.

»Wer hat dir das gesagt?«

»Ich habe es von hier aus gehört; denn ihr Zimmer ist nur durch eine Bretterwand von dem Ihrigen getrennt. Ich bin überzeugt, wenn sie drinnen wäre, würde sie alles hören, was wir sprechen.«

»Wo sind sie?«

»Bei Tisch. Sie essen gleich für morgen. Aber die Dame weint. Die Aktien stehen gut für Sie, gnädiger Herr.«

»Halte den Mund! Ich werde mich nicht hineinmischen. Das Weib ist ein Lockvogel; denn eine ehrenwerte Frau würde lieber Hungers sterben, als so an einer Wirtshaustafel weinen.«

»Ach! Wenn Sie nur sähen, wie sehr diese Tränen sie verschönen! Ich bin nur ein armer Teufel, aber ich würde ihr gern zwei Louis geben, wenn sie sie sich verdienen wollte.«

»Biete sie ihr doch an!«

Gleich darauf traten der Mann und seine Dame in ihr Zimmer. Ich hörte sie weinen und ihn laut und zornig sprechen; da er jedoch wallonisch sprach, konnte ich nicht verstehen, was er sagte.

»Geh zu Bett,« sagte ich zu Leduc, »und sage dem Wirt, ich wünsche morgen ein anderes Zimmer zu erhalten, denn eine Scheidewand biete zu geringen Widerstand für Leute, die vor Verzweiflung außer sich sind.«

Ich ging zu Bett; das Weinen und leise Sprechen nahmen erst nach Mitternacht ein Ende.

Am anderen Morgen rasierte ich mich, als Leduc hereinkam und den Chevalier Stuard meldete.

»Sag ihm, ich kenne niemanden dieses Namens.«

Er richtete seinen Auftrag aus und kam sofort wieder herein und sagte mir, der Chevalier habe auf meine Weigerung hin wütend mit dem Fuße gestampft und nach der Decke gesehen; hierauf sei er in sein Zimmer gegangen und gleich darauf mit dem Degen an der Seite wieder herausgekommen.

»Ich werde doch für alle Fälle gleich nachsehen,« fuhr er fort, »ob die Zündhütchen auf Ihren Pistolen in Ordnung sind.«

Ich mußte lachen, bewunderte aber nichtsdestoweniger die Vorsicht meines Spaniers, denn ein verzweifelter Mensch ist zu allem fähig. Ich schickte ihn zum Wirt und ließ ihn dringend bitten, mir sofort ein anderes Zimmer zu geben. Dieser kam persönlich, um mir zu sagen, er könne meinen Wunsch erst am nächsten Tage erfüllen.

»Wenn ich kein anderes Zimmer bekomme, verlasse ich sofort Ihren Gasthof; denn ich liebe es nicht, die ganze Nacht Weinen und Zanken zu hören.«

»Hören Sie es denn, mein Herr?«

»Aber Sie können es ja in diesem selben Augenblick selber hören! Sagen Sie mir doch: ist das erheiternd? Die Frau wird sich das Leben nehmen, und daran sind Sie schuld. «

»Ich, mein Herr? Ich habe weiter nichts getan, als daß ich verlangte, was mir zukommt.«

»Hören Sie nur den Mann, ich bin überzeugt, er sagt in seinem Kauderwelsch der Frau, daß Sie ein Ungeheuer sind.«

»Er mag sagen, was er will, wenn er mich nur bezahlt!«

»Sie haben sie zum Hungertode verurteilt. Wieviel sind sie Ihnen schuldig?«

«Fünfzig Franken.«

»Und Sie schämen sich nicht, um einen solchen Bettel so viel Lärm zu machen?«

»Mein Herr, schämen würde ich mich nur, wenn ich wirklich unrecht hätte; und dies ist nicht der Fall, wenn ich verlange, was man mir schuldig ist.«

»Da haben Sie Ihr Geld. Sagen Sie den Leuten, die Rechnung sei bezahlt und sie könnten weiter essen; aber sagen Sie ihnen auf keinen Fall, wer sie bezahlt hat.«

»Sie haben ein gutes Werk getan!« sagte der Flegel, und mit diesen Worten ging er hinaus. Er trat sofort bei ihnen ein und sagte: »Sie sind mir nichts mehr schuldig; aber Sie werden niemals erfahren, wer für Sie bezahlt hat. Es steht Ihnen frei, unten zu Mittag und zu Abend zu essen; aber Sie werden Tag für Tag bezahlen!«

Nachdem er mit lauter Stimme diesen Monolog hergesagt hatte, so daß ich jedes Wort hören konnte, wie wenn ich im Zimmer gewesen wäre, trat er bei mir ein. Ich stieß ihn hinaus: »Dummes Vieh! Sie wissen alles.«

Mit diesen Worten schloß ich die Tür.

Leduc stand vor mir und sah mich mit einem ganz blödsinnigen Gesicht an.

»Was hast du denn, Dummkopf?« fragte ich ihn.

»Das ist schön. Ich begreife. Ich will Schauspieler werden. Sie machen Ihre Sache nicht schlecht.«

»Du bist ein Esel.«

»Kein so großer, wie Sie glauben.«

»Ich will einen Spaziergang machen. Hüte dich, das Zimmer einen Augenblick zu verlassen.«

Kaum war ich draußen, so redete der Chevalier mich an; seine Danksagungen nahmen gar kein Ende. Ich antwortete ihm: »Mein Herr, ich weiß nicht, wovon Sie reden.« Hierauf ließ er mich in Ruhe, nachdem er mir noch einmal gedankt hatte. Ich ging an das Rhoneufer und betrachtete mit Vergnügen die alte Brücke und den Fluß, der nach der Behauptung der Geographen der schnellste in ganz Europa ist. Zum Mittagessen ging ich nach dem Gasthof zurück, wo der Wirt, dem ich gesagt hatte, daß ich sechs Franken für die Mahlzeit bezahlen wollte, mir ein ausgezeichnetes Essen vorsetzte. Ich erinnere mich noch, daß ich dort den besten Hermitagenwein getrunken habe. Ich fand ihn so köstlich, daß ich gar keinen anderen Wein trank. Zu meiner Pilgerfahrt nach Vaucluse bat ich ihn, mir einen guten Cicerone zu besorgen. Nachdem ich Toilette gemacht hatte, ging ich ins Theater.

Ich fand die Astraudy an der Tür, gab ihr die sechzehn Billetts und nahm neben der Loge des Vizelegaten Platz. Dieser, Principe Salviati, kam bald nachher mit einem zahlreichen Gefolge von Damen und Herren, die mit Ordenszeichen und Goldstickereien überdeckt waren.

Der angebliche Vater der falschen Astraudy kam zu mir und sagte mir ins Ohr, seine Tochter bäte mich, ich möchte doch sagen, sie wäre die berühmte Astraudy, die ich in Paris gekannt hätte. Ich antwortete ihm ebenfalls ins Ohr, ich würde mich der Gefahr aussetzen, Lügen gestraft zu werden, indem ich einen Schwindel beglaubigte. Es ist unglaublich, mit welcher Unverfrorenheit ein Gauner einen Ehrenmann auffordert, sich an einer Gaunerei zu beteiligen; ohne Zweifel bildet er sich ein, diesem eine Ehre zu erweisen, indem er ihm sich anvertraut. Nach dem ersten Akt verteilten etwa zwanzig Lakaien in der Livree des Fürsten in den Logen des ersten Ranges Gefrorenes. Ich glaubte ablehnen zu müssen. Ein bildschöner junger Mann trat hierauf mit edlem und leichtem Anstand auf mich zu und fragte mich, warum ich nicht ein Glas Eis angenommen hätte.

»Da ich nicht die Ehre habe, hier bekannt zu sein, so wünschte ich nicht, daß jemand behaupten könnte, einen Unbekannten bewirtet zu haben.«

»Mein Herr, ein Mann wie Sie bedarf keiner Empfehlungen.«

»Sie erweisen mir viel Ehre.«

»Sie wohnen doch im Gasthof zum Heiligen Homer, mein Herr?«

»Ja. Ich habe hier nur haltgemacht, um Vaucluse zu sehen, wohin ich morgen zu fahren gedenke, wenn ich einen guten Cicerone finden kann.«

»Wenn Sie mir gütigst diese Ehre bewilligen wollen, werde ich Ihnen von Herzen gern gefällig sein. Ich heiße Dolci und bin der Sohn des Hauptmanns von der Garde des Vizelegaten.«

»Ich weiß die Ehre, die Sie mir erweisen wollen, wohl zu schätzen und nehme Ihr liebenswürdiges Anerbieten mit Vergnügen an. Ich werde meine Abfahrt bis zu Ihrer Ankunft verschieben.«

»Ich werde um sieben Uhr bei Ihnen sein.«

Ich war ganz erstaunt über die edle Ungezwungenheit dieses Adonis, den man für ein schönes Mädchen hätte halten können, wenn nicht ein gewisser Klang der Stimme den Mann verraten hätte. Ich lachte über die angebliche Astraudy, die ebenso schlecht spielte, wie sie häßlich war und während des ganzen Stückes nicht einen Moment ihre weißen Augen von meinem braunen Gesicht abwandte. Beim Singen sah sie mich lachend an und machte dabei kleine Gebärden des Einverständnisses, durch welche die ganze Versammlung auf mich aufmerksam werden mußte, die ohne Zweifel meinen schlechten Geschmack beklagte. Unter den Künstlerinnen war eine, deren Stimme und Augen mir gefielen, eine Person, wie ich sie nie in meinem Leben gesehen hatte: jung, groß und bucklig. Obwohl sie vorne und hinten einen sehr ausgebildeten Buckel hatte, war sie sehr groß: ohne ihren Körperfehler, durch den sie kleiner geworden war, wäre sie mindestens sechs Fuß hoch gewesen. Ich dachte mir, sie würde außer ihrer sehr schönen Augen und leidlichen Stimme auch Geist haben, den ja fast alle Buckligen besitzen. Ich fand sie mit der häßlichen Astraudy vor der Tür, als ich das Theater verließ. Diese wartete auf mich, um mir ihren Dank zu sagen, die andere suchte Eintrittskarten für ihre Benefizvorstellung unterzubringen.

Nachdem die Astraudy mir gedankt hatte, wandte die Bucklige sich an mich, öffnete lachend ihren Mund, der von einem Ohr zum anderen ging und mindestens vierundzwanzig prachtvolle Zähne sehen ließ, und sprach die Hoffnung aus, ich würde ihr die Ehre erweisen, bei ihrer Benefizvorstellung anwesend zu sein. Ich antwortete ihr, ich würde ihr gerne den Gefallen tun, vorausgesetzt, daß ich nicht vorher abreiste. Bei diesen Worten fing die freche Astraudy an zu lachen und sagte ihrer Freundin in Gegenwart mehrerer Damen, die auf ihren Wagen warteten: sie könne sicher sein, daß ich kommen werde, denn sie werde mich nicht abreisen lassen. »Gib ihm sechzehn Billette!« Ich mochte ihr keine abschlägige Antwort erteilen und gab ihr zwei Louis. Hierauf sagte die Astraudy etwas leiser zu mir: »Nach der Vorstellung werden wir zu Ihnen zum Souper kommen; aber nur unter der Bedingung, daß wir allein sind, denn wir wollen uns betrinken.« Trotz einem gewissen Gefühl des Ekels fand ich doch, daß dieses Zusammensein jedenfalls komisch sein würde, und da ich in der Stadt gänzlich unbekannt war, beschloß ich, in der Hoffnung, daß ich Spaß davon haben würde, auf ihren Plan einzugehen.

Ich saß allein bei Tisch, als Stuard und seine Frau ihr Zimmer betraten. An diesem Abend hörte ich weder Weinen noch Vorwürfe; aber zu meiner großen Überraschung erschien bei Tagesanbruch der Chevalier bei mir und sagte zu mir, wie wenn wir gute Bekannte gewesen wären: er habe gehört, daß ich nach Vaucluse fahre, und er wisse, daß ich einen viersitzigen Wagen habe; wenn ich allein sei, so bitte er mich zu erlauben, daß er und seine Frau, die sehr gerne die Quelle sehen möchte, mitfahren dürften. Ich erklärte mich einverstanden.

Leduc bat mich, zu Pferde mich begleiten zu dürfen, und sagte, er sei ein guter Prophet gewesen. Es schien allerdings klar, daß das Pärchen sich dahin geeinigt hatte, mich für meine Auslagen mit neuen Hoffnungen zu bezahlen. Das Abenteuer mißfiel mir nicht, denn alles war zu meinem Vorteil: ich hatte noch nicht die geringsten Schritte getan, um das zu erlangen, was man allem Anschein nach mir bewilligen wollte.

Dolci kam. Er war schön wie ein Engel. Meine Nachbarn waren bereit; auf dem Wagen befand sich alles Notwendige, um gut zu essen und noch besser zu trinken; so fuhren wir denn ab, die Dame und Dolci auf dem Rücksitz des Wagens, der Chevalier und ich auf dem Vordersitz. Ich hatte geglaubt, das Gesicht der Schönen würde sich aufheitern und ihre Traurigkeit würde einer heiteren Stimmung weichen oder doch wenigstens einem höflichen Eingehen auf unsere Unterhaltung. Aber ich hatte mich getäuscht; denn auf alle meine ernsten oder scherzhaften Bemerkungen antwortete sie nur mit einsilbigen Ausrufen oder mit ganz strengen lakonischen Bemerkungen. Der arme Dolci, der viel Geist hatte, war ganz verblüfft. Er glaubte, an der Traurigkeit der Dame schuld zu sein, und machte sich Vorwürfe, daß er unschuldigerweise eine düstere Stimmung in unseren Ausflug hineingebracht hätte, der doch ganz und gar dem Vergnügen gewidmet sein sollte. Ich beseitigte seine Verlegenheit, indem ich ihm sagte: als er mir das Vergnügen gemacht hätte, mir seine liebenswürdige Gesellschaft anzubieten, hätte ich noch nicht gewußt, daß ich die Ehre haben würde, der schönen Dame einen Dienst zu erweisen. Als ich bei Tagesanbruch davon erfahren, hätte ich mich des Zufalls gefreut, daß ich ihm eine so schöne Gefährtin zugeführt hätte.

Die Dame sagte kein Wort; immer schweigsam und traurig blickte sie nach rechts und nach links, wie wenn sie gar nicht wüßte, was sie sähe.

Meine Erklärung hatte Dolci seine Sicherheit wiedergegeben, und der liebenswürdige junge Mann begann Bemerkungen an sie zu richten, die auf ihre Seele wohl hätten Eindruck machen können; aber er hatte keinen Erfolg. Er unterhielt sich lange Zeit über hundert Dinge mit ihrem Gatten, wobei er fortwährend die Dame hineinzuziehen suchte; aber sie tat ihren schönen Mund nicht ein einziges Mal auf. Sie saß da wie die Bildsäule der Pandora, bevor sie von dem göttlichen Feuer belebt wurde.

Ihr Gesicht war von vollendeter Schönheit: Augen von einem leuchtenden Blau und sehr schön geschnitten; eine leicht angehauchte Hautfarbe von reinster Weiße; Arme, die die Grazien gerundet hatten; weiche zarte Hände; einen Nymphenwuchs, der einen prachtvollen Busen ahnen ließ; die schönsten hellbraunen Haare, die man sich denken kann; einen kleinen Fuß – kurzum, sie hatte alles, was eine Frau schön macht, nur nicht jenen lebendigen Geist, der die Schönheit verschönert und sogar der Häßlichkeit Reiz gibt. Meine glühende unstete Phantasie ließ mich alles, was ich nicht sehen konnte, nackt erblicken; ich fand alles köstlich; dennoch glaubte ich, daß diese Frau mit ihrer Traurigkeit wohl Liebe, aber nicht ein dauerndes Gefühl einflößen könne; denn so wie sie war, konnte sie unmöglich einen Mann glücklich machen, selbst wenn sie ihm die höchste Lust gewährte.

Als wir in Isle ankamen, war ich fest entschlossen, in Zukunft ein Zusammentreffen mit ihr zu vermeiden; denn vielleicht war sie wahnsinnig oder in Verzweiflung darüber, daß sie sich in der Gewalt eines Mannes befand, den sie unmöglich lieben konnte. Sie flößte mir Mitleid ein, und dennoch fand ich es unverzeihlich, daß sie, eine anständige Frau von guter Erziehung, sich meinem Ausfluge angeschlossen hatte, denn sie mußte doch überzeugt sein, daß sie mit ihrer trüben Stimmung das ganze Vergnügen verderben würde, das ich mir von der Lustpartie versprochen hatte.

Ob der vorgebliche Ritter Stuard ihr Gatte oder ihr Liebhaber war, kam nicht in Betracht; ich hatte nicht nötig, mir lange den Kopf zu zerbrechen, um zu erraten, wes Geistes Kind er war. Er war zwar jung, aber keineswegs schön, wenn auch nicht gerade häßlich; in seinem Auftreten lag nichts Besonderes, sein Ton war gezwungen, seine Umgangsformen waren schlecht, und in seinen Reden verriet er sich als unwissend und dumm. Wie konnte übrigens ein solcher Bettler, der keinen Pfennig und nicht das geringste Talent besaß, eine Schönheit mit sich herumschleppen, die ihn wegen ihres mürrischen Wesens nur dann ernähren konnte, wenn er rechte Dummköpfe fand? Vielleicht allerdings hatte er trotz seiner Unwissenheit die Bemerkung gemacht, daß die Welt von solchen Dummköpfen wimmelt. Trotzdem machte er hier die Erfahrung, daß man sich darauf nicht sicher verlassen kann.

Als wir in Vaucluse angekommen waren, überließ ich mich der Führung Dolcis. Er hatte diesen Ort hundertmal besucht und besaß das in meinen Augen unermeßliche Verdienst, den Liebhaber Lauras zu lieben. Wir ließen den Wagen in Apt und gingen nach dem Quell, wo sich an diesem Tage eine große Menge von Neugierigen versammelt hatte. Der Born sprudelt aus einer großen Höhle hervor, einem Werke der Natur, das der Menschen Kunst nicht nachahmen kann. Diese Höhle befindet sich am Fuße eines spitzen Felsens, der etwa hundert Fuß hoch und ebenso breit ist. Die Höhle ist kaum halb so hoch, und das Wasser schießt in solcher Stärke hervor, daß schon die Quelle den Namen eines Flusses verdient. Es ist die Sorgue, die bei Avignon in den Rhone fließt. Unmöglich kann man reineres und klareres Wasser finden, denn an den Felsen, die den Wasserlauf einschließen, findet sich keine Spur von Bodensatz. Es gibt Leute, denen dieses Wasser Grauen erregt, weil es ihnen schwarz erscheint; diese bedenken nicht, daß die Grotte außerordentlich dunkel ist und nur dadurch den Fluten diese Entsetzen erregende Färbung mitteilt.

Chiare fresche e dolci acque
Ove le belle membra
Pose colei che sola a me par donna.

Die klaren, kalten, süßen Fluten,
In die die schönen Glieder tauchte
Sie, die allein mir Weib erscheint.

Ich stieg bis zur Spitze des Felsens empor, wo Petrarca sein Haus hatte. Mit tränenden Augen betrachtete ich diese Trümmer, wie Leo Allatius, als er Homers Grab sah. Sechzehn Jahre später weinte ich wieder in Arqua, wo Petrarca gestorben ist und wo das von ihm bewohnte Haus damals noch stand. Die Ähnlichkeit der Gegend war erstaunlich; denn von dem Zimmer aus, worin Petrarca in Arqua schrieb, sieht man die Spitze eines Felsens gleich jenem, den man in Vaucluse sieht und auf dessen Spitze Madonna Laura wohnte. »Gehen wir hin!« rief ich aus; »es ist ja nicht weit!«

Ich will nicht versuchen, die Gefühle wiederzugeben, die ich empfand, als ich die Überreste des Hauses dieser Frau erblickte, die der liebende Petrarca durch einen einzigen Vers schon unsterblich gemacht hat, einen Vers, der ein Marmorherz rühren müßte:

Morta bella parea nel suo bel viso.

Tot, schien sie schön in ihrem schönen Antlitz.

Mit ausgebreiteten Armen warf ich mich über diese Ruinen hin, wie wenn ich sie umarmen wollte; ich küßte sie, ich überströmte sie mit meinen Tränen, ich suchte den göttlichen Hauch einzuatmen, der sie einst belebt hatte. Dann bat ich Frau Stuard um Verzeihung, daß ich ihren Arm hätte fahren lassen, um den Manen einer Frau zu huldigen, die den tiefsten Geist geliebt, den die Natur jemals hervorgebracht hätte.

»Ich sage den Geist; denn der Körper hat nichts damit zu tun gehabt, mag man auch sagen, was man will. Vor vierhundertundfünfzig Jahren, meine Gnädige,« sagte ich zu der kalten Statue, die mich ganz überrascht anblickte, »da ging an denm Orte, wo Sie jetzt stehen, Laura de Sade spazieren; sie war vielleicht nicht so schön wie Sie, aber sie war fröhlich, höflich, sanft, heiter und sittsam. Möchte diese Luft, die jene eingeatmet hat und die Sie in diesem Augenblick einatmen, Sie mit dem göttlichen Feuer beleben, das durch ihre Adern kreiste, das ihr Herz schlagen und ihren Busen wogen ließ. Dann würden Sie die Verehrung aller gefühlvollen Menschen gewinnen; Sie würden niemanden finden, der Ihnen den geringsten Kummer zu bereiten wagte. Fröhlichkeit, meine Gnädige, ist das Erbteil der Seligen, Traurigkeit aber ist das entsetzlichste Schreckbild der Geister, die zu ewigen Höllenstrafen verdammt sind. Seien Sie also fröhlich und erwerben Sie sich dadurch das Recht, schön zu sein.«

Meine Begeisterung riß den liebenswürdigen Dolci fort; er fiel mir um den Hals, küßte mich mehrere Male. Der dumme Stuard lachte, und seine Frau, die mich vielleicht für verrückt hielt, schien nicht den geringsten Eindruck erhalten zu haben. Sie nahm meinen Arm, und wir lehnen ganz langsam nach dem Hause des Messer Francesco d’Arezzo zurück, wo ich eine Viertelstunde verwandte, meinen Namen einzuschneiden. Hierauf speisten wir.

Dolci hatte für die eigentümliche Frau noch mehr Aufmerksamkeiten wie ich. Stuard tat nichts anderes als essen und trinken; er verschmähte das Wasser der Sorgue, das nach seiner Behauptung den Hermitagewein nur verderben könnte; vielleicht dachte Petrarca in diesem Punkte nicht anders als er. Wir brachten reichliche Trankopfer, ohne daß unser Verstand darunter litt; die Dame war jedoch sehr mäßig. Als wir wieder in Avignon waren, machten wir unsere Verbeugung, ohne auf die Einladung des dummen Stuard einzugehen, der uns aufforderte, wir möchten uns in seinem Zimmer ausruhen.

Ich nahm Dolcis Arm, um die letzte Stunde des Tages am Ufer des Rhône mit ihm zu verbringen. Im Laufe eines abwechslungsreichen und geistsprühenden Gespräches bemerkte der reizende junge Mann zu mir: »Diese Frau ist eine abgefeimte Spitzbübin, die von ihrem eigenen Wert über alle Maßen eingenommen ist. Ich möchte wetten, sie hat ihre Heimat nur verlassen, weil sie dort anfangs mit ihren Reizen so verschwenderisch war, daß späterhin niemand mehr etwas von ihr wissen wollte. Ohne Zweifel ist sie überzeugt, überall ihr Glück zu machen, wo man sie für eine Novize nimmt. Der Bursche, der für ihren Mann gilt, ist nach meiner Meinung ein Gauner; ihre Traurigkeit ist Verstellung und nur darauf berechnet, um jemanden, der sich auf ihre Eroberung versteift, wahnsinnig verliebt zu machen. Sie hat ihren Dummen noch nicht gefunden; aber da es ihr darauf ankommen muß, einen reichen Mann in ihre Netze zu ziehen, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß sie Sie aufs Korn genommen hat.«

Wenn ein junger Mensch in Dolcis Alter so vernünftig denkt, so wird er ohne Zweifel einmal ein Meister der Lebenskunst werden. Ich umarmte ihn zum Abschied, dankte ihm für seine Gefälligkeit, und wir verabredeten ein Wiedersehen.

In meinen Gasthof zurückgekehrt fand ich dort einen gut aussehenden, schon etwas bejahrten Herrn, der mich mit meinem Namen anredete und mich auf das höflichste fragte, ob ich Vaucluse meiner Neugier würdig gefunden habe. Ich erkannte mit großem Vergnügen Marchese Grimaldi aus Genua, einen geistvollen, liebenswürdigen und reichen Mann, der fast immer in Venedig wohnte, weil er dort die Freuden des Lebens in größerer Freiheit genießen konnte als in seiner Heimat – ein Beweis, daß Venedig nicht der am wenigsten freie Ort der Welt war.

Nachdem ich eine höfliche Frage ebenso höflich beantwortet hatte, begleitete ich ihn auf sein Zimmer. Als wir über die Quelle nichts mehr zu sagen hatten, fragte er mich, ob ich mit meiner schönen Gesellschaft zufrieden gewesen wäre.

»Ich kann mit ihr nur sehr zufrieden sein,« antwortete ich.

Er bemerkte meine Zurückhaltung und suchte mich zum Reden zu bringen, indem er mir folgendes sagte: »Wir haben in Genua sehr schöne Frauen; aber wir haben keine einzige, die den Vergleich mit jener aushalten könnte, mit der Sie heute nach Isle gefahren sind. Ich saß gestern Abend bei Tisch ihr gegenüber, und ihre Vollkommenheiten machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich bot ihr meinen Arm, um sie die Treppe hinaufzuführen, und sagte ihr, es tue mir sehr leid, sie traurig zu sehen, und wenn sie glaube, daß ich imstande sei, sie zu trösten, so brauche sie nur ein Wort zu sagen. Ich wußte nämlich, daß sie kein Geld hatte. Ihr angeblicher oder echter Gatte dankte mir für mein Anerbieten, und ich verließ sie, indem ich ihnen gute Nacht wünschte.

Vor einer Stunde, nachdem Sie sie bis an die Tür begleitet hatten, ließen Sie sie mit ihrem Manne allein; sofort nahm ich mir die Freiheit, ihr meinen Besuch zu machen. Sie empfing mich mit einer tiefen Verbeugung; ihr Gatte ging im selben Augenblick hinaus, indem er mich bat, ihr bis zu seiner Rückkehr Gesellschaft zu leisten.

Die Schöne machte durchaus keine Schwierigkeiten, sich mit mir aufs Kanapee zu setzen; dies erschien mir als ein günstiges Vorzeichen; als ich jedoch ihre Hand ergriff, zog sie sie zurück, wenn auch ohne Schroffheit. Ich glaubte ihr nun in wenigen Worten sagen zu müssen, ihre Schönheit hätte mich verliebt gemacht, und wenn sie hundert Louis nötig hätte, ständen ihr diese zu Diensten, vorausgesetzt, daß sie so freundlich wäre, mir gegenüber ihre ernste Miene aufzugeben und einen heiteren Ton anzuschlagen, wie er den mir von ihr eingeflößten Gefühlen entspräche. Sie antwortete mir nur mit einer Kopfneigung, die ihre Dankbarkeit aussprach, zugleich aber auch eine unbedingte Ablehnung meines Anerbietens bedeutete.

»Morgen reise ich, Madame.« – Keine Antwort. Als ich hierauf von neuem ihre Hand ergriff, zog sie sie mit einer verächtlichen Miene zurück, die mich verletzte. Ich bat sie um Entschuldigung und ging hinaus, ohne mich länger aufzuhalten.

Dies passierte mir vor einer halben Stunde, Ich bin in die Frau nicht verliebt; meine Begierde entspringt mir einer Laune, und wie Sie sehen, lache ich darüber. Nur wundert mich ihr Benehmen, weil ich weiß, daß sie keinen Heller in der Tasche hat. Nun ist mir eingefallen, daß Sie vielleicht heute die Dame in den Stand gesetzt haben, mein Anerbieten verschmähen zu können; hierdurch würde mir ihr Verhalten einigermaßen verständlich werden; sonst aber wäre es eine Erscheinung, die ich mir durchaus nicht erklären könnte. Darf ich es wagen. Sie frei heraus zu bitten, mir zu sagen, ob Sie glücklicher gewesen sind als ich?«

Hoch erfreut über das Vertrauen einer so ehrenwerten Persönlichkeit, sagte ich ihm alles, ohne zu zögern; nachdem wir noch einige Vermutungen angestellt hatten, lachten wir beide über unser Mißgeschick. Ich mußte ihm versprechen, ihm nach Genua zu berichten, was ich während der beiden Tage erleben würde, die ich noch in Avignon zu verbringen beabsichtigte. Hierauf lud er mich ein, mit ihm an der Gasttafel zu Abend zu speisen, um die Haltung der schmollenden Schönen zu bewundern.

»Sie haben sehr gut zu Mittag gegessen,« sagte ich zu ihm, »und werden daher wahrscheinlich nicht zu Abend essen.«

»Ich wette, Sie tun es doch,« versetzte der Marchese lachend. Er hatte richtig geurteilt, und ich sah es nun klar, daß die Frau zu bestimmten Zwecken Komödie spielte. Neben sie hatte man einen Neuangekommenen Grafen Bussy gesetzt, einen hübschen jungen Mann und eitlen Windhund, Er verschaffte uns den Genuß des folgenden Auftrittes.

Er war ein liebenswürdiger Spaßmacher, sogar etwas possenhaft aufgelegt, gegen Frauen kühn bis zur Frechheit, und da er schon um Mitternacht abreisen wollte, begann er sogleich, seiner schönen Nachbarin den Hof zu machen und auf alle mögliche Weise sie zu reizen. Er fand jedoch nur eine stumme Bildsäule. Da er es aber nicht für menschenmöglich hielt, daß sie ihn zum besten halten könnte, so sprach und lachte er ganz allein immer darauf los.

Ich sah Herrn von Grimaldi an, der wie ich kaum imstande war, ernst zu bleiben. Der junge Lebemann wurde schließlich etwas ärgerlich, setzte aber seine Neckereien fort, indem er ihr die besten Bissen zu essen hinreichte, nachdem er selber davon gekostet hatte. Als die Schöne sich weigerte, diese anzunehmen, versuchte er, sie ihr in den Mund zu stecken. Dies brachte die Schöne in Harnisch, und sie stieß ihn zornig zurück. Als er sah, daß niemand ernstlich geneigt war, die Festung zu verteidigen, beschloß der junge Windbeutel, sie mit Sturm zu nehmen. Er ergriff mit Gewalt die Hand der Dame und küßte sie mehrere Male. Um sich frei zu machen, stand sie auf; er aber faßte sie um die Hüften und zog sie auf seinen Schoß. Nun stand jedoch der Mann auf, nahm ihren Arm und führte sie aus dem Saal. Ein wenig aus der Fassung gebracht, sah der Angreifer ihr einen Augenblick nach, setzte sich aber dann wieder an den Tisch und aß und lachte weiter, während die ganze übrige Gesellschaft in tiefem Schweigen dasaß. Er wandte sich an seinen Läufer, der hinter seinem Stuhl stand, und fragte ihn, ob sein Degen oben sei. Der Läufer sagte nein. Hierauf wandte sich der Hasenfuß zu einem Abbé, der neben ihm saß, und fragte ihn: »Wer ist der Herr, der meine Dame hinausgeführt hat?«

»Ihr Gatte.«

»Ihr Gatte! Oh! das ist etwas anderes! Ehemänner schlagen sich nicht, aber ein Mann von Ehre hat sich bei ihnen zu entschuldigen.«

Er stand auf, ging nach oben und kam gleich wieder herunter.

»Das ist ein dummer Ehemann! Er hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen und mir gesagt, ich solle in andere Häuser gehen, um meine Gelüste zu befriedigen. Es ist für mich nicht der Mühe wert, hier zu bleiben; es tut mir jedoch leid, der Geschichte keinen Abschluß geben zu können.«

Hierauf ließ er Champagner kommen und bot allen Anwesenden zu trinken an, von denen jedoch keiner seine Einladung annahm. Hierauf grüßte er die Gesellschaft und ging.

Herr von Grimaldi, der mich auf mein Zimmer begleitete, fragte mich, was ich bei der soeben erlebten Szene empfunden hätte. Ich sagte ihm, ich würde mich nicht gerührt haben, selbst wenn der Windbeutel ihr die Röcke hochgehoben hätte.

»Ich auch nicht,« sagte er; »aber wenn sie meine hundert Louis angenommen hätte, dann allerdings wäre es etwas anderes gewesen. Jedenfalls bin ich neugierig, wie die Sirene es anfangen wird, sich aus ihrer unangenehmen Lage zu ziehen; ich rechne darauf, Sie zu sehen, wenn Sie durch Genua kommen.«

Mit Tagesanbruch reiste er ab.

Als ich aufstand, erhielt ich einen Brief von der falschen Astraudy; sie fragte mich, ob ich sie mit ihrer großen Kameradin zum Abendessen erwarten wollte. Kaum hatte ich eine bejahende Antwort hierauf gegeben, als ich den falschen Herzog von Kurland vor mir sah, den ich in Grenoble getroffen hatte. Er sagte mir in sehr unterwürfigem Ton, er sei der Sohn eines Uhrmachers in Narwa, seine Schuhschnallen seien wertlos, und er bitte mich um ein Almosen. Ich gab ihm vier Louis. Als er mich hierauf um Diskretion bat, sagte ich ihm: »Sollte mich jemand nach Ihnen fragen, so werde ich die Wahrheit sagen – nämlich, daß ich nicht im geringsten weiß, wer Sie sind.«

»Ich reise nach Marseille und danke Ihnen noch sehr.«

»Gute Reise!«

Ich werde später meinen Lesern sagen, in welchen Verhältnissen ich den Mann in Genua traf; denn es ist nützlich, solche Leute, deren es leider in der Welt nur zu viele gibt, wahrheitsgetreu zu schildern.

Ich ließ den Wirt hinaufkommen und sagte ihm, daß ich ein leckeres Abendessen für drei Personen zu haben wünschte. Zugleich befahl ich ihm, in meinem Zimmer decken zu lassen.

Er antwortete mir: »Sie werden zu Ihrer Zufriedenheit bedient werden, übrigens komme ich eben vom Chevalier Stuard, bei dem ich Lärm gemacht habe.«

»Warum?«

»Weil er kein Geld hat, die Tagesrechnung zu bezahlen. Ich werde sie sofort vor die Tür setzen lassen, obgleich die schöne Dame im Bett liegt und solche Krämpfe hat, daß sie keine Luft kriegen kann.«

»Machen Sie sich an ihrer Schönheit bezahlt und machen Sie einen Strich durch die Rechnung.«

»Au« Schönheit mache ich mir sehr wenig; meine Zeit ist vorüber. Ich will aber keine Szenen mehr; denn sie schaden meinem Hause.«

»Sagen Sie ihr, sie würde von nun an mit ihrem Gemahl mittags und abends auf ihrem Zimmer speisen und ich würde für sie bezahlen, solange ich noch hier bleibe.«

»Das ist sehr edel! Aber Sie wissen doch, mein Herr, daß für Essen auf dem Zimmer der doppelte Preis gerechnet wird?«

»Das weiß ich.«

»Dann ist es gut.«

Ich verspürte ein gewisses Entsetzen, indem ich mir vorstellte, daß dieses schöne Weib, ohne andere Hilfsmittel als ihre eigene Person, von der sie keinen Gebrauch machen wollte, auf die Straße gestoßen werden sollte. Anderseits aber konnte ich es dem Gastwirt nicht verdenken; denn diese Art Leute sind für gewöhnlich wenig galant. Ich hatte ohne jede eigennützige Nebenabsicht nur einer Regung des Mitleids nachgegeben. Während ich mich noch diesen Gedanken hingab, trat Stuard bei mir ein. Er bedankte sich bei mir und bat mich, seine Frau aufzusuchen und ihr zuzureden, daß sie sich anders benehmen möchte.

»Sie wird mir nicht antworten, und das ist, wie Sie wissen, nicht angenehm.«

»Kommen Sie nur! Sie weiß, was Sie für uns getan haben; sie wird sprechen, denn das Gefühl ist doch schließlich…«

»Wie können Sie mir von Gefühlen sprechen nach dem, was ich gestern gesehen habe?«

»Der Herr ist um Mitternacht abgereist, und daran hat er wohl getan, denn sonst hätte ich ihn heute früh getötet!«

»Sie sind ein Prahlhans, mein lieber Herr – nehmen Sie mir es nicht übel, wenn ich Ihnen das sage. Nicht heute früh, sondern gestern hätten Sie ihn töten oder ihm wenigstens einen Teller ins Gesicht schmeißen müssen. Doch gehen wir zu Ihrer Frau!«

Ich fand sie in ihrem Bette, ihr Gesicht nach der Wand gekehrt, bis zum Halse zugedeckt und herzbrechend schluchzend. Ich begann ihr vernünftig zuzureden, aber sie erwiderte wie gewöhnlich wieder kein Wort darauf. Stuard wollte mich allein lassen; ich sagte ihm jedoch, ich würde sofort gehen, wenn er sich entfernte; denn es wäre für mich ganz unmöglich, sie zu trösten, und das könnte er sich ja selber sagen, nachdem sie die hundert Louis zurückgewiesen hätte, die der Herr Marchese Grimaldi ihr hätte geben wollen, ohne etwas anderes von ihr zu verlangen, als ihr die Hand küssen zu dürfen und sie lächeln zu sehen.

»Hundert Louis!« schrie der Rüpel mit einem Wachtstubenfluch. »Was ist das für ein Benehmen! Damit hätten wir nach Lüttich reisen können, wo wir unser Haus haben. Eine Prinzessin läßt sich die Hand umsonst küssen, um wieviel mehr also … Hundert Louis! das ist ja gräßlich!«

Diese Ausrufe, die in der Lage der Leute ganz natürlich waren, machten mich lachen. Der arme Teufel fluchte in allen Tonarten und wollte schließlich hinausgehen, als plötzlich die arme unglückliche Frau von ihren wahren oder verstellten Krämpfen befallen wurde. Sie streckte den einen Arm aus und packte eine Wasserkaraffe, die sie mitten ins Zimmer schmiß; dann streckte sie den anderen Arm aus und entblößte dabei ihren Busen. Stuard eilte hinzu, um sie festzuhalten, aber die Krämpfe wurden immer stärker, und die Decke verschob sich so, daß die zartesten und vollkommensten Formen völlig nackt dalagen. Endlich beruhigte sie sich, und da lag sie nun mit geschlossenen Augen, scheinbar völlig erschöpft, in der wollüstigsten Stellung da, die die personifizierte Liebesgier jemals erfinden könnte. Ich war in einer ungeheuren Erregung. Wie hätte ich auch so viele Reize sehen können, ohne den heftigsten Wunsch nach ihrem Besitz zu empfinden! In diesem Augenblick ließ der elende Gatte sie allein und ging hinaus, indem er zu mir sagte, er wolle Wasser holen. Ich merkte die Falle, und mein Selbstgefühl bewahrte mich davor, in sie hinein zu gehen. Ich glaubte zu bemerken, daß dieser ganze Auftritt nur ein abgekartetes Spiel war, um mir einen tierischen Genuß zu verschaffen und dabei noch der von einem dummen Stolz erfüllten Person die Möglichkeit zu lassen, ihre Teilnahme zu leugnen. Ich tat mir Gewalt an, zog sachte die Decke in die Höhe und verhüllte, was ich so gern noch mehr entblößt hätte. In die Hölle wünschte ich die entzückenden Schönheiten, die das Ungeheuer mir nur ausliefern wollte, um mich dadurch zu erniedrigen.

Stuald war ziemlich lange abwesend. Als er mit einer vollen Wasserflasche eintrat, fand er mich ganz anders, als er ohne Zweifel erwartet hatte, mit ruhigem Gesicht und in vollkommener Ordnung, Einige Augenblicke darauf ging ich hinaus, um durch einen Spaziergang am Rhôneufer mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

Ärgerlich auf mich selber, weil ich mich von dieser Spitzbübin behext fühlte, lief ich mit großen Schritten den Weg entlang. Vergebens führte ich mir alle möglichen Vernunftgründe vor; meine Aufregung schien nach der körperlichen Bewegung nur zu wachsen, und ich kam zu dem Schluß, daß Genuß, brutaler oder sentimentaler Genuß, der von mir gesehenen Schönheiten für mich notwendig sei, um meine auf Abwege geratene Vernunft wieder zu sich selber zu bringen. Ich sah, daß ich sie kaufen mußte, daß hier zartfühlende Umwerbung nichts nützen konnte, sondern daß ich ihr Geld geben und daß ich mich allen Opfern unterwerfen mußte. Ich bedauerte nur, daß ich mich einem falschen Zartgefühl hingegeben hatte; denn auf alle Fälle hätte ich nach der Befriedigung, wenn sie die Zimperliche gespielt hätte, sie verachten und ihr meine Verachtung fühlbar machen können. In meiner Ratlosigkeit beschloß ich schließlich, dem Gatten zu sagen, ich würde ihm fünfundzwanzig Louis geben, wenn er mir eine Zusammenkunft verschaffte, bei welcher ich mich befriedigen könnt«.

Ganz voll von diesem Gedanken, ging ich nach Hause. Ohne mich nach ihrem Befinden zu erkundigen, ließ ich mir das Mittagessen auf meinem Zimmer auftragen. Leduc sagte mir, die Schöne speise ebenfalls auf ihrem Zimmer und der Wirt habe gesagt, sie werde nicht in den Speisesaal kommen. Dies wußte ich ja schon.

Nach dem Essen machte ich dem liebenswürdigen Dolci einen Besuch. Er stellte mich seinem Vater vor, einem sehr liebenswürdlgen Herrn, der leider nicht reich genug war, um den Wunsch seines Sohnes zu erfüllen und diesen reisen zu lassen. Der junge Mann besaß eine wunderbare Geschicklichkeit und konnte eine große Menge Taschenspielerstücke. Er war von sehr sanftem Charakter, und als er sah, daß mich der Zustand seines Herzens interessierte, erzählte er mir allerlei Geschichten, aus denen ich sah, daß ein Jüngling in seinem beneidenswerten Alter nur darum unglücklich sein kann, weil er noch keine Erfahrung hat. Eine reiche Frau wollte er nicht, weil eine solche von ihm verlangen würde, was ihm ohne Liebe zu gewähren schmachvoll dünkte; er schwärmte für ein junges Mädchen, das auf Ehrbarkeit Anspruch machte. Ich glaubte ihm einen guten Rat geben zu müssen. Ich sagte ihm, er solle der freigebigen Reichen seine Huld zuwenden und dem jungen Mädchen gegenüber von Zeit zu Zelt ein bißchen die Achtung verletzen, dabei jedoch immer höflich bleiben; sie würde ihn dafür ausschelten, aber ihm unfehlbar verzeihen. Er war kein Wüstling und neigte ein ganz klein wenig zu frommen, aber ketzerischen Ideen. Ei unterhielt sich in unschuldiger Weise mit gleichaltrigen Freunden in einem Garten in der Nähe von Avignon, wo eine Schwester der Gärtnersfrau ihn belustigte, wenn er allein mit ihr war.

Als die Nacht anbrach, ging ich nach Hause, und die Astraudy mit der Lepi – so hieß die Bucklige – ließen nicht auf sich warten. Als ich diese beiden Karikaturen vor mir sah, war ich doch sehr verdutzt. Ich hatte allerdings mich auf etwas Derartiges gefaßt gemacht, aber die Wirklichkeit erschreckte mich doch. Die Astraudy war häßlich und wußte es; darum suchte sie ihre Mängel durch eine maßlose Unanständigkeit zu ersetzen. Die Lepi war hinten und vorn bucklig, besaß aber Talent und den Geist ihres Handwerks in hohem Grade; sie konnte sicher sein, Begierden zu erregen, denn ihre Augen und Zähne waren von seltener Schönheit; die letzteren schien ihr riesiger Mund absichtlich sehen zu lassen, damit man ihre Regelmäßigkeit und die Frische ihres Schmelzes bewunderte. Die Astraudy lief auf mich zu und gab mir einen florentinischen Kuß, den ich wohl oder übel hinnehmen mußte, die Lepi war schüchterner und bot mir nur ihre Wange, die ich flüchtig mit den Lippen berührte. Als ich sah, daß die Astraudy schon mit ihren tollen Streichen beginnen wollte, bat ich sie, sie möchte sich mäßigen, denn ich wäre ein Neuling in derartigen Vergnügungspartien und müßte nach und nach dazu animiert werden, wenn ich Geschmack daran finden sollte. Sie versprach mir, daß sie vernünftig sein wollte. Während wir auf das Abendessen warteten, fragte ich sie, in Ermangelung eines anderen Gesprächsstoffes, ob sie in Avignon einen Liebhaber gefunden hätte.

»Ich habe hier nur den Auditor des Vizelegaten, der zwar geschlechtlich unnormal, aber liebenswürdig und freigebig ist. Ich habe mich seinem Geschmack schließlich doch anbequemt, was ich vor einem Jahre für unmöglich gehalten haben würde, weil ich mir einbildete, es müsse sehr weh tun; aber ich täuschte mich.«

»Der Auditor behandelte dich also als Knaben?«

»Ja. Meine Schwester würde ihn dafür angebetet haben, denn das ist ihre Leidenschaft.«

»Aber deine Schwester hat sehr stattliche Hüften.«

»Ich vielleicht nicht? Sieh doch nur, fühle doch nur!«

»Du bist sehr gut versehen. Aber warte doch, bitte, es ist noch Zeit dafür.«

»Nach dem Essen wollen wir richtig toll sein!«

»Weißt du,« sagte die Lepi zu ihr, »du bist jetzt schon toll!«

»Wieso denn toll?«

»Pfui! ist es denn erlaubt, sich so zu zeigen?«

»Liebe Freundin, du wirst es genau ebenso machen; wenn man in guter Gesellschaft ist, befindet man sich im goldenen Zeitalter.«

»Ich wundere mich,« sagte ich zu ihr, »daß du dein eigentümliches Verhältnis mit dem Auditor so einem jeden erzählst.«

»Das ist gut! Nicht ich erzähle es, sondern jeder erzählt es mir und macht mir Komplimente darüber. Man weiß, daß der brave Mann niemals Frauen geliebt hat, und es wäre lächerlich von mir, leugnen zu wollen, was ein jeder errät. Ich wunderte mich über meine Schwester; aber in dieser Welt soll man sich über nichts wundern. Aber bist denn du kein Freund davon?«

»Nein, ich bin nur Freund hiervon.«

Mit diesen Worten berührte ich die Lepi an der Stelle, wo wir gewohnheitsmäßig vermuten, was ich unter dem hiervon verstand. Als die Astraudy bemerkte, daß ich nichts fand, lachte sie laut auf, ergriff meine Hand und führte sie in die Höhe, bis zu dreiviertel Teilen des Körpers unmittelbar unter dem Buckel, wo ich wirklich das Gewünschte fand. Der Leser stelle sich meine Überraschung vor! Das arme Mädchen schämte sich, die Zimperliese zu spielen, und stimmte in das Gelächter ihrer Freundin ein. Auch ich geriet dadurch in heitere Stimmung, indem ich daran dachte, welches Vergnügen mir nach dem Abendessen eine solche für mich vollkommen neue Entdeckung verschaffen würde.

»Haben Sie denn niemals einen Liebhaber gehabt, meine liebe Lepi?«

»Nein,« antwortete die Astraudy für ihre Freundin; »sie ist noch Jungfer.«

»Das ist nicht wahr!« rief die Lepi etwas verwirrt, »ich habe je einen Liebhaber in Bordeaux und einen anderen in Montpellier gehabt.«

»Allerdings; trotzdem bist du aber doch noch immer so, wie du auf die Welt gekommen bist.«

»Das kann ich freilich nicht leugnen.«

»Wie, zwei Liebhaber und noch Jungfer! Das verstehe ich nicht. Bitte erzählen Sie mir das doch; denn so etwas ist ja einzig in seiner Art.«

»Bevor mein erster Liebhaber sich befriedigte, war ich ebenso, wie ich jetzt bin, und ich war damals erst zwölf Jahre alt.«

»Das ist ein wahres Wunder. Und was sagte er, als er Sie so fand, wie Sie sind?«

»Ich schwor ihm, er sei der erste; er glaubte mir dieses und schrieb meinen Zustand meiner körperlichen Gestalt zu.«

»Er war ein vernünftiger Mann; aber tat er Ihnen denn nicht weh?«

»Ganz und gar nicht; allerdings ging er sehr sachte mit mir um.«

»Du mußt,« sagte die Astraudy zu mir, »nach dem Essen einen Versuch machen; das wird komisch sein.«

»O nein! Das geht nicht!« rief die Lepi; »der Herr ist zu groß.«

»Ein schöner Grund! Hast du etwa Angst, daß sein ganzer Körper dabei beteiligt ist? Warte mal, ich will ihn dir zeigen!«

Mit diesen Worten begann das schamlose Frauenzimmer mich völlig zu entblößen, und ich ließ sie gewähren.

»Ich hatte es mir wohl gedacht!« rief die Lepi. »Das Ding geht niemals hinein!«

»Sicherlich ist das Geschmeide sehr groß,« sagte die Astraudy; »aber es gibt für alles ein Mittel: der gnädige Herr wird sich damit begnügen, wenn er nur zur Hälfte ein Unterkommen findet.«

»Ach, meine Liebe, nicht die Länge macht mir angst, sondern der Umfang; denn die Tür ist zu eng.«

»Das ist doch ein wahres Glück für dich; dann kannst du ja deine Erstlinge verkaufen, nachdem du schon zwei Liebhaber gehabt hast. Dies wäre freilich nichts Neues; unter solcher falschen Flagge segeln ja viele.«

Ihr Gespräch, dem es nicht an Witz mangelte, und besonders die Naivität der Buckligen, hatte bereits den Entschluß in mir gezeitigt, mich selber zu überzeugen. Das Essen wurde aufgetragen, und ich hatte das Vergnügen, die beiden Nymphen wie zwei Halbverhungerte essen und noch tüchtiger trinken zu sehen. Der Hermitagewein übte seine unausbleibliche Wirkung, und die Astraudy machte den Vorschlag, zu dem Kostüm unserer Ureltern zurückzukehren und uns aller künstlichen Hüllen zn entledigen, die die Natur entstellen.

»Mir ist es recht,« sagte ich zu ihr; »ich werde euch dabei nicht genieren.«

Ich trat hinter meine Bettvorhänge, zog mich aus, legte mich ins Bett und drehte ihnen den Rücken zu, bis sie fertig waren. Die Astraudy sagte mir Bescheid, und nun erregte die Lepi meine ganze Aufmerksamkeit.

Das Mädchen war schön, trotz seiner doppelten Mißbildung. Meine Blicke schüchterten sie ein; denn sie trat wahrscheinlich zum erstenmal als Mitwirkende in einer solchen Orgie auf. Ich suchte sie zu ermutigen, indem ich einzelne Schönheiten pries, die ihre sehr weißen und sehr hübschen Hände mir nicht verbergen konnten, und überredete sie endlich, sich an meine Seite zu legen. Ihr Buckel mnachte es ihr unmöglich, sich auf den Rücken zu legen, wenn man den Platz, den der Buckel einnahm, so nennen darf. Die Astraudy war jedoch ebenso raffiniert wie hilfsbereit; mit Hilfe von Kissen schob sie ihr Stützen unter, wie einem Schiff, das von Stapel gelassen werden soll. Mit der freundlichen Beihilfe der Astraudy glückte endlich die Einführung zur großen Befriedigung des Opferpriesters wie des Opfers. Nach Beendigung der feierlichen Handlung küßte sie mich, was sie vorher nicht gekonnt hatte; denn ihr Mund befand sich meiner Brust gegenüber, während meine Beine kaum bis zur Hälfte der ihrigen hinunterreichten. Ich hätte zehn Louis darum gegeben, um mich an dem sonderbaren Anblick weiden zu dürfen, den wir ohne Zweifel darboten, während wir diese Gruppe bildeten.

»Jetzt kommt aber die Reihe an mich!« rief dann die Astraudy; »nur darfst du dir keine Übergriffe in die Rechte meines Auditors erlauben. Bitte untersuche erst die Gegend, damit du weißt, wohin du kommst. Da!«

»Was soll ich denn mit dieser halben Zitrone machen?«

»Ich wünsche, daß du dich überzeugst, daß der Ort sauber ist und daß du ihn ohne Gefahr besuchen kannst.«

»Ist dies ein sicheres Mittel?«

»Ein unfehlbares; denn wenn der Weg nicht in Ordnung wäre, könnte ich das Brennen nicht ertragen.«

»Es ist geschehen. Bist du nun zufrieden?«

»Vollkommen. Aber höre, betrüge mich nicht: alles oder nichts! Mein Ruf würde gemacht sein, wenn ich meinen Gürtel erweitern müßte.«

Ich bitte meine Leser um die Erlaubnis, über gewisse Umstände dieser wirklich skandalösen Orgie einen Schleier ziehen zu dürfen. Das häßliche Geschöpf lehrte mich wirklich noch Neues. Endlich, obgleich ich mehr ermüdet als erschöpft war, sagte ich ihnen, sie möchten gehen; die Astraudy bestand jedoch darauf, zum Schluß noch einen Punsch zu machen. Ich willigte ein; da ich aber von allen beiden nichts mehr wissen wollte, so zog ich mich wieder an. Der Champagnerpunsch versetzte sie jedoch in eine solche Erregung, daß sie schließlich mich dahin brachten, mich ihrer Brunft ebenfalls hinzugeben. Die Astraudy gab ihrer Kameradin eine so eigentümliche Lage, daß ihre Buckel völlig verschwanden. Wie wenn ich Jupiters Oberpriesterin vor mir hätte, brachte ich ihr noch ein langes Opfer, währenddessen Tod und Leben mehrere Male bei ihr wechselten. Voller Ekel vor mir selber, entriß ich mich endlich ihrer geilen Wut. Um sie los zu werden, gab ich ihnen zehn Louis, worüber sie beinahe vor Seligkeit verrückt wurden. Die Astraudy fiel vor mir auf die Knie, segnete mich, dankte mir und nannte mich ihren Gott; die Lepi aber lachte und weinte gleichzeitig vor Freude. Dies verschaffte mir eine Viertelstunde lang einen Auftritt ganz eigentümlicher Art. Ich ließ sie in meinem Wagen nach Hause fahren.

Nachdem ich bis zehn Uhr geschlafen hatte, wollte ich gerade mein Zimmer verlassen, um einen Spaziergang zu machen, als Stuard mit verzweifelter Miene bei mir eintrat und mir sagte, wenn ich ihm nicht die Mittel gäbe, vor mir abzureisen, würde er sich in den Rhône stürzen.

»Das ist ja sehr tragisch,« sagte ich zu ihm; »aber dagegen gibt es noch Mittel. Ich bin bereit, fünfundzwanzig Louis zu zahlen; aber ich will sie Ihrer Frau Gemahlin geben und nur unter der Bedingung, daß sie eine Stunde lang mit mir allein und sanft wie ein Lamm ist.«

»Mein Herr, das ist gerade die Summe, die wir brauchen.«

»Sie steht zu Ihrer Verfügung. Sprechen Sie mit ihr darüber. Ich komme erst um zwölf Uhr nach Hause.«

Ich tat fünfundzwanzig Louis in eine hübsche kleine Börse und ging aus. Ich glaubte, der Sieg könnte mir nicht mehr entgehen, und eilte daher früher wieder nach Hause, als ich eigentlich gewollt hatte.

Ich betrat ihr Zimmer und näherte mich sehr rücksichtsvoll ihrem Bette. Bei meinem Anblick richtete sie sich auf, ohne ihren Busen zu verhüllen und sagte zu mir, bevor ich ihr guten Tag wünschen tonnte: »Da bin ich, mein Herr! Ich bin bereit, mit meiner Person die elenden fünfundzwanzig Louis zu bezahlen, die mein Mann braucht. Sie können mit mir machen, was Sie wollen; ich werde nicht den geringsten Widerstand leisten. Aber vergessen Sie eins nicht:indem Sie sich meine Lage zunutze machen, um Ihre tierische Begier zu befriedigen, müssen Sie sich weit tiefer erniedrigt fühlen, als ich es bin; denn ich verkaufe mich nur darum zu so niedrigem Preise, weil die Not mich dazu zwingt. Ihre Gemeinheit ist schmachvoller als meine Erniedrigung. Kommen Sie, hier haben Sie mich!«

Während sie die letzten Worte dieser schmeichelhaften Ansprache hervorbrachte, stieß sie heftig die Decke von sich und stellte ihren ganzen Leib, den ich schon einmal mit anderen Gefühlen hatte betrachten können, mir zur Schau. Eine Minute stand ich wie betäubt und voller Entrüstung vor ihrem Bett. Jedes Gefühl war in mir erloschen; ich sah in ihren wollüstigen Formen nur noch Reize, die allerdings entzückend waren, aber nur dazu dienten, eine verworfene oder rohe Seele zu verlarven. Mit der größten Kaltblütigkeit hob ich die Decke wieder auf, breitete sie über sie und sprach in kaltem, verächtlichem Ton folgende Worte:

»Nein, Madame, das werden Sie nicht erleben, daß ich dieses Zimmer durch Ihre Worte gedemütigt verlasse; aber ich gehe nicht eher, als bis ich Ihnen Wahrheiten gesagt habe, die Sie auf das tiefste demütigen müssen. Sie sollen nicht länger darüber im Zweifel sein, daß Sie keine Frau sind, die auch nur auf die geringste Achtung Anspruch erheben darf. Ich bin kein Tier, und um Sie davon zu überzeugen, werde ich von Ihnen gehen, ohne mich Ihrer Reize bemächtigt zu haben, die ich jetzt ebenso sehr verachte, wie ich sie hochgeschätzt haben würde, wenn Sie dieser Schönheiten würdig wären. Hier sind fünfundzwanzig Louis – eine erbärmliche Summe, um die Huld einer anständigen Frau zu bezahlen, aber mehr als zuviel für das, was Sie gewähren können, wenn man Sie kennt. Ich gebe Ihnen dieses Geld nur aus einer Regung des Mitleides, deren ich mich nicht erwehren kann, und die das einzige Gefühl ist, das Sie mir noch einflößen, aber eines muß ich Ihnen noch sagen: wenn Sie sich einmal für Geld preisgeben, so sind Sie ebensogut eine Verlorene, wenn Sie hundert Millionen, wie wenn Sie fünfundzwanzig Louis erhalten, sobald Sie nicht das Gefühl des Mannes teilen, dem Sie sich hingeben, oder sobald Sie sich nicht wenigstens so stellen, um das scheinbare Recht zu erwerben, sich selber noch achten zu dürfen. Leben Sie wohl!«

Ich ging wieder auf mein Zimmer, und nach einiger Zeit kam Stuard, um mir zu danken. Ich sagte ihm: »Ich bitte Sie, mein Herr, sprechen Sie nicht mehr von Ihrer Frau und lassen Sie mich in Ruhe.«

Den Tag darauf reiste er mit ihr nach Lyon ab. Meine Leser werden sehen, wie ich sie in Lüttich wiederfand.

Nach dem Essen kam Dolci und holte mich ab, um mit mir nach seinem Garten zu gehen und mir die Schwester der Gärtnersfrau zu zeigen. Sie war hübsch, aber nicht so hübsch wie er. Bald war sie in angeregter Stimmung, und nachdem sie sich ein bißchen geziert hatte, erklärte sie sich bereit, in meiner Gegenwart zärtlich mit ihm zu sein. Ich sah, daß dieser Adonis von der Natur reichlich ausgestattet war, und sagte mir, daß ein so reichbegabter Jüngling wie er nicht nötig habe, die Börse seines Vaters in Anspruch zu nehmen, wenn er reisen wolle. Bald darauf machte er sich meine Ratschläge zunutze. Ich hätte bei diesem schönen Ganymed infolge seines Liebesspiels mit der Gärtnerin leicht zum Jupiter werden können.

Auf dem Heimweg sah ich einen jungen Menschen von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren aus einem Schiff steigen. Seine Gesichtszüge trugen den Ausdruck von Traurigkeit, und er schien ein anständiger Mensch zu sein. Als er sah, daß ich ihn betrachtete, trat er auf mich zu und bat mich bescheiden um ein Almosen, indem er mir zugleich einen Schein reichte, der ihn dazu ermächtigte, und mir seinen Paß zeigte, aus welchem hervorging, daß er vor sechs Wochen Madrid verlassen hatte. Er stammte aus Parma und hieß Costa. Als ich das Wort Parma las, sprach das Heimatsgefühl zu seinen Gunsten bei mir, und ich fragte ihn, durch welches Unglück er so weit herunter gekommen sei, um betteln zu müssen.

»Nur dadurch, daß es mir an dem nötigen Gelde fehlte, um in mein Vaterland zurückzukehren,«

»Was taten Sie in Madrid, und weshalb gingen Sie dorthin?«

»Ich kam dorthin vor vier Jahren als Kammerdiener des königlichen Leibarztes Doktor Pistoria; da ich es bei ihm nicht gut hatte, so verließ ich ihn. Aus diesem Zeugnis hier geht hervor, daß ich ihm treu gedient habe.«

»Was können Sie?«

»Ich habe eine schöne Handschrift und kann als Sekretär dienen; ich gedenke in meiner Vaterstadt mich als öffentlicher Schreiber zu ernähren. Diese Verse hier habe ich gestern abgeschrieben.«

»Ihre Handschrift ist schön; aber sind Sie auch imstande, richtig zu schreiben?«

»Nach Diktat kann ich französisch, lateinisch und spanisch schreiben.«

»Aber auch richtig?«

»Gewiß, mein Herr, – wenn man nur richtig diktiert; denn es ist die Sache des Diktierenden, auf die Korrektheit zu achten.«

Ich sah, daß Gaetano Costa ein unwissender Mensch war; trotzdem nahm ich ihn mit auf mein Zimmer und ließ Leduc spanisch mit ihm sprechen. Er antwortete ziemlich gut; als ich ihm aber italienisch und französisch diktierte, stellte es sich heraus, daß er von Orthographie gar keine Ahnung hatte.

»Aber Sie können ja nicht schreiben!«

Als er über diese Worte gekränkt war, tröstete ich ihn, indem ich ihm sagte, ich würde ihn auf meine Kosten nach seiner Heimat bringen. Er küßte mir die Hand und versicherte mir, ich würde in ihm einen treuen Diener finden.

Der junge Mann gefiel mir wegen seiner eigentümlichen Denkweise; da er sich dieselbe zunutze zu machen gewußt hatte, um sich von den Dummköpfen zu unterscheiden, unter denen er bis dahin gelebt hatte, so brachte er sie mit gutem Gewissen allen anderen Leuten gegenüber zur Anwendung. Die Kunst eines Schreibers bestand nach seiner Ansicht nur in einer guten Handschrift; wer die beste hatte, übertraf in seinen Augen alle anderen. Dies sagte er zu mir, indem er ein von mir beschriebenes Papier betrachtet. In der Tat war meine Handschrift nicht so leserlich wie die seinige. Er gab mir also stillschweigend zu verstehen, daß ich hinter ihm zurückstehe und ihm daher in Anbetracht seiner Überlegenheit eine gewisse Achtung nicht versagen könne. Ich lachte über diese törichte Einbildung, und da ich glaubte, daß er nicht unverbesserlich sei, so behielt ich ihn. Ohne diese Überspanntheit würde ich ihm ein Almosen gegeben haben und wäre niemals auf den unvernünftigen Einfall gekommen, ihn bei mir zu behalten. Er sagte, die Orthographie sei überflüssig; denn wer sie kenne, könne leicht den Sinn der Worte erraten, wer sie aber nicht kenne, sei auch nicht imstande, die Fehler zu bemerken. Ich lachte, und da ich mich in eine Erörterung darüber nicht einließ, sah er mein Lachen als eine Zustimmung an. In einem der Sätze, die ich ihm diktierte, wurde auch das Konzil von Trente erwähnt. Nach seinem System schrieb er dies Wort mit einer 3 und einer 0. Ich lachte laut auf. Er geriet dadurch jedoch keineswegs aus der Fassung, sondern sagte, da die Aussprache dieselbe sei, so erhalte das Wort seine Bedeutung durch die Idee und nicht durch die verschiedenen Buchstaben, aus denen es bestehe. Der Bursche war in der Tat nur dumm, weil in ihm Geist mit Unwissenheit und Anmaßung gemischt war. Kurz und gut, ich behielt ihn, weil mir sein ganzes Wesen originell erschien. Wie der Leser spater bemerken wird, bewies ich dadurch, daß ich dümmer war als er.

Am anderen Morgen verließ ich Avignon und fuhr geraden Weges nach Marseille, ohne in Aix, wo das Parlament seinen Sitz hat, Aufenthalt zu nehmen. Ich stieg in den „Dreizehn Kantonen“ ab, da ich mindestens acht Tage in der alten Kolonie der Phokäer verbringen und meine Freiheit recht ausnützen wollte. Darum hatte ich mich nicht mit Empfehlungsbriefen versehen; denn da ich reichlich bares Geld besaß, brauchte ich keinen Menschen. Ich befahl meinem Wirt, das Essen auf meinem Zimmer auftragen zu lassen und mir eine gute Mahlzeit aus Fastenspeisen zurecht zu machen; denn ich wußte, daß der Fisch in Marseille köstlicher ist als überall sonst auf der ganzen Welt.

Am nächsten Morgen ging ich mit einem Lohndiener aus, um mich von ihm nach meinem Gasthof zurückbringen zu lassen, sobald ich genug spazieren gegangen wäre. Indem ich aufs Geratewohl meiner Nase nach ging, kam ich auf einen sehr langen und sehr breiten schönen Kai. Ich glaubte in Venedig zu sein, und mein Busen schwoll von einem Gefühl des Glücks; so tief wurzelt die Liebe zum Vaterland im Herzen jedes wackeren Menschen. Ich sah zahlreiche Schenken, in denen viele Zecher sich an griechischen und spanischen Weinen gütlich taten. Eine Menge geschäftiger Leute bewegte sich drängend und schiebend nach allen Richtungen hin; jeder dachte nur an sich und fragte wenig danach, ob er etwa anderen lästig würde. Hausierer, schlecht und gut gekleidete, mehr oder weniger hübsche Mädchen, Weiber mit schamlosen Blicken, die jedem winkten, der sie ansah, bewegten sich in diesem Gewühl. Ich sah auch andere Frauen, die bescheiden, aber gut gekleidet waren, ohne jeden Seitenblick ihres Weges gehen und so den vollkommensten Gegensatz zu den anderen bildend, obgleich viele von ihnen das gleiche Ziel verfolgten.

Das bunte Gemisch aller Trachten: der ernste Türke neben dem lebhaften Andalusier, der französische Stutzer, der stumpfsinnige Afrikaner, der schlaue Grieche, der schwerfällige Holländer – dies alles erinnerte mich an meine Heimat, und ich fühlte mich glücklich.

Nachdem ich einige Augenblicke an einer Straßenecke stehen geblieben war, um den Theaterzettel zu lesen, kehrte ich recht ermüdet in meinen Gasthof zurück, um mich an einem köstlichen Mahle zu erquicken, das ich reichlich mit gutem Syrakuser Wein benetzte. Nach dem Essen zog ich mich elegant an und ging dann in die Komödie, wo ich einen Platz im Amphitheater nahm.

Fünftes Kapitel


Rosalie. – Toulon. – Nizza. – Meine Ankunft in Genua. – Herr von Grimaldi. – Veronika und ihre Schwester.

Ich bemerkte, daß die ersten vier Logen auf beiden Seiten des Theaters von gutgekleideten hübschen Frauen ohne einen einzigen Kavalier besetzt waren. Während des ersten Zwischenaktes sah ich Herren aller Stände kavaliermäßig in diesen Logen eintreten und an die erste beste Dame galante Bemerkungen richten. Plötzlich hörte ich, wie ein Malteserritter zu der Dame, die allein in einer Loge neben der meinigen saß, die Worte sprach: »Ich komme morgen zu dir zum Frühstück.« Dies genügte mir, um völlig Bescheid zu wissen. Ich sah sie mir näher an, und da ich sie sehr appetitlich fand, sagte ich zu ihr, sobald der Ritter sich entfernt hatte: »Wollen Sie mir ein Abendessen geben?«

»Mit Vergnügen, mein guter Freund; aber man hat mich so oft angeführt, daß ich nicht auf dich warten werde, wenn du mir nicht ein Handgeld gibst.«

»Was heißt das, daß ich Ihnen ein Handgeld geben soll? Ich verstehe nicht.«

»Du bist offenbar noch neu hier.«

»Ganz neu.«

Sie lachte, rief den Malteserritter heran und sagte zu diesem: »Tu mir den Gefallen und erkläre diesem fremden Herrn, der heute Abend bei mir zu speisen wünscht, was das Wort Handgeld bedeutet.«

Der Malteserritter sagte mir mit einem sehr liebenswürdigen Lächeln, das Fräulein wünschte, daß ich ihr das Souper vorausbezahlte, damit sie sicher wäre, daß ich nicht vergessen würde, ihr diese Ehre zu erweisen. Ich dankte ihm und fragte das Fräulein, ob ein Louis genug sei. Sie bejahte, ich gab ihr das Goldstück und bat um ihre Adresse. Der Ritter sagte mir mit der größten Höflichkeit, er würde mich nach Schluß des Theaters selber hinführen. Ferner sagte er mir, die Dame sei das ausgelassenste Mädchen von Marseille. Er fragte mich, ob ich die Stadt kenne; und da ich ihm antwortete, ich sei erst an diesem Tage angekommen, wünschte er sich Glück, daß er einer der ersten wäre, die meine Bekanntschaft machten. Wir gingen die Mitte des Amphitheaters, und dort nannte er mir ein Dutzend oder mehr Mädchen, die wir zur Linken und zur Rechten sahen und die sämtlich bereit waren, den ersten besten zum Souper mitzunehmen. Sie haben alle freien Eintritt, der Theaterunternehmer findet seine Rechnung dabei; denn Frauen von gutem Ton kommen nicht in diese Logen, und die Nymphen ziehen viele Leute an. Ich bemerkte unter ihnen fünf oder sechs, die hübscher waren als die, bei der ich mich eingeladen hatte; aber ich blieb für diesen Abend bei meiner Ausgewählten und verschob es auf die nächsten Tage, mich mit den anderen bekannt zu machen.

»Ist Ihre Favorite unter diesen Schönen?« fragte ich den Ritter.

»Nein, ich liebe eine Tänzerin, die ich aushalte, und ich werde Sie mit ihr bekannt machen, denn ich bin glücklicherweise nicht eifersüchtig.«

Nach Schluß der Vorstellung führte er mich an die Tür meiner Schönen, und dort trennten wir uns, indem wir uns versprachen, uns wiederzusehen.

Ich fand die Nymphe im Hauskleide; dieses stand ihr nicht gut, und sie gefiel mir nicht. Sie gab mir ein gutes Abendessen, das sie durch geistreiche tolle Scherze erheiterte; hierdurch erhielt ich eine etwas bessere Meinung von ihr. Als wir gespeist hatten, legte sie sich zu Bett und forderte mich auf, es ebenfalls zu tun.

»Ich schlafe niemals in einem fremden Bett.«

Hierauf bot sie mir das englische Röckchen an, das der Seele Ruhe gibt; aber ich wollte es nicht nehmen, weil es von zu geringer Güte war.

»Ich habe auch feinere, aber sie kosten drei Franken das Stück, und die Händlerin verkauft sie nur dutzendweise.«

»Wenn sie schön sind, will ich das Dutzend nehmen.«

Sie klingelte, und ein reizendes junges Mädchen mit bescheidener Miene trat ein. Sie machte Eindruck auf mich, und ich sagte, als das junge Mädchen hinausgegangen war, um die schützenden Überzüge zu holen: »Du hast da eine hübsche Kammerzofe.«

»Sie ist fünfzehn Jahre alt und weigert sich dummerweise, irgend etwas mitzumachen, weil sie noch ganz unschuldig ist.«

»Gestattest du, daß ich mich davon überzeuge?«

»Du kannst ihr den Vorschlag machen, aber ich bezweifle, daß sie darauf eingeht.«

Das Mädchen kam mit dem Paket herein. Ich setzte mich in Positur und befahl ihr, mir eins anzuprobieren. Sie machte sich an die Arbeit, aber mit schmollender Miene und mit einer Art von Widerstreben, wodurch sie meine Teilnahme erregte. Da das erste nicht paßte, mußte sie ein zweites versuchen, – das ich reichlich bespritzte. Ihre Herrin fing an zu lachen; sie aber warf mir entrüstet über mein Benehmen das ganze Paket ins Gesicht und lief zornig hinaus. Da mir die weitere Lust vergangen war, so steckte ich das Paket in meine Tasche, gab der Dame zwei Louis und ging. Das Mädchen, das ich so rücksichtslos behandelt hatte, leuchtete mir an die Tür; ich glaubte die Beschimpfung wieder gut machen zu müssen, gab ihr einen Louis und bat sie um Verzeihung. Das arme Mädchen war darüber ganz verblüfft, küßte mir die Hand und bat mich, ihrer Gnädigen nichts zu sagen.

»Ich verspreche es dir, meine Liebe; aber sage mir, ist es wirklich wahr, daß du noch unberührt bist?«

»Das ist vollkommen wahr, mein Herr.«

»Ei, das ist ja ein wahres Wunder! Aber sage mir, warum hast du mir den Wunsch abgeschlagen, mich davon zu überzeugen?«

»Weil mich das empört.«

»Du wirst dich aber doch wohl dazu entschließen müssen, denn sonst wärest du ja zu nichts zu gebrauchen, so hübsch du auch bist. Willst du mich?«

»Ja, aber nicht in diesem scheußlichen Hause.«

»Aber wo denn sonst?«

»Lassen Sie sich morgen zu meiner Mutter führen, ich werde dort sein. Ihr Lohndiener weiß, wo sie wohnt.«

Als ich auf der Straße war, fragte ich den Lakaien, ob er das Mädchen kenne.

»Ja; und ich halte sie für anständig.«

»Sie werden mich morgen früh zu ihrer Mutter bringen.«

Am anderen Morgen führte er mich ans Ende der Stadt in ein armseliges Haus. Ich fand im Erdgeschoß eine alte Frau mit armen Kindern, welche ein hartes schwarzes Brot aßen.

»Was wollen Sie?« fragte sie mich.

»Ist Ihre Tochter hier?«

»Nein. Und wenn sie auch hier wäre? Halten Sie mich vielleicht für ihre Kupplerin?«

Inzwischen kam die Tochter an. Die wütende Mutter warf einen in ihrer Nähe stehenden Topf nach ihr. Glücklicherweise konnte das Mädchen dem Wurf ausweichen, aber den Klauen der alten Frau wäre sie nicht entgangen, wenn ich nicht zwischen sie getreten wäre. Die Mutter heult, die Kinder brüllen, und das arme Mädchen weint. Infolge dieses Spektakels tritt mein Lohndiener ein.

»Spitzbübin!« schreit die Mutter; »du entehrst mich! Hinaus aus meinem Hause! Ich bin nicht mehr deine Mutter.«

Ich war in großer Verlegenheit. Mein Diener bat sie, doch nicht so laut zu schreien, daß alle Nachbarn es hören könnten; aber das wütende Weib antwortete auf seine Ermahnungen nur mit den gröbsten Schimpfworten. Ich zog einen Sechsfrankentaler aus der Tasche und gab ihr den; sie warf ihn mir an den Kopf. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mit dem Mädchen hinauszugehen. Sie hatte das arme Kind bei den Haaren gepackt, aber mein Diener hatte sie aus ihren Händen befreit.

Kaum war ich auf der Straße, so pfiff der Pöbel, der von dem Lärm herbeigezogen war, mich aus und verfolgte mich. Ohne Zweifel wäre ich in Stücke gerissen worden, wenn ich nicht in eine Kirche geflüchtet wäre, die ich erst eine Viertelstunde darauf durch eine andere Tür verließ. Nur die Flucht rettete mir das Leben; denn ich kannte die Wut der Provenzalen und hütete mich darum, auch nur ein einziges Wort auf die Schimpfreden zu erwidern, die von allen Seiten auf mich herunterhagelten. Ich bin, glaube ich, niemals in größerer Lebensgefahr gewesen als an diesem Tage.

Bevor ich noch in meinem Gasthof angekommen war, holte mein Lohndiener mit dem jungen Mädchen mich ein. Ich sagte zu ihr: »Wie konnten Sie mich in eine so entsetzliche Lage bringen, da Sie doch den wütenden Charakter Ihrer Mutter kannten?«

»Ich hoffte, sie würde vor Ihnen Respekt haben.«

»Nun beruhigen Sie sich, weinen Sie nicht mehr! Aber sagen Sie mir, wie ich Ihnen nützlich sein könnte?«

»Ich liege auf der Straße. Ehe ich in das abscheuliche Haus zurückkehre, wo ich gestern war, stürze ich mich ganz gewiß lieber ins Meer!«

»Kennen Sie,« fragte ich meinen Lohndiener, »irgendein anständiges Haus, wo ich das Mädchen unterbringen kann?«

Er antwortete nur, er kenne einen ehrenwerten Mann, der möblierte Zimmer vermiete.

»Gehen Sie voraus, ich folge Ihnen.«

Ich fand in dem Hause einen Greis, der mir Zimmer in allen Stockwerken zeigte.

»Ich brauche nur einen kleinen Winkel,« sagte das junge Mädchen. Der alte Mann führte uns nun auf den Dachboden, öffnete eine Kammer und sagte: »Dieses Kabinett kostet monatlich sechs Franken; aber die Miete muß im voraus bezahlt werden, und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß meine Haustür stets um zehn Uhr geschlossen wird, und daß niemand die Nacht bei Ihnen zubringen darf.«

Die Kammer enthielt ein Bett mit groben Laken, zwei Stühle, ein Tischchen und eine Kommode. Ich fragte ihn, wieviel er täglich für die Verpflegung des Mädchens verlange. Er forderte zwanzig Sous und außerdem zwei Sous für die Magd, die ihr das Essen bringen und die Kammer reinhalten würde.

»Das genügt mir,« sagte das junge Mädchen, zugleich bezahlte sie die Miete für den Monat und die Kost für den Tag. Ich verabschiedete mich von ihr, indem ich ihr sagte, ich würde wiederkommen.

Während wir die Treppe hinuntergingen, fragte ich den alten Mann nach einem Zimmer für mich. Er zeigte mir ein sehr sauberes Zimmer, das einen Louis kostete; ich bezahlte es für einen Monat im voraus. Er gab mir einen Hausschlüssel, um nach meinem Belieben ein- und ausgehen zu können, und sagte: »Wenn Sie essen wollen, mein Herr, werde ich Sie ganz nach Ihrem Wunsch bedienen.«

Nachdem ich dieses gute Werk vollbracht hatte, speiste ich allein zu Mittag; hierauf ging ich in ein Café, wo ich den liebenswürdigen Malteserritter am Spieltisch traf. Sobald er mich sah, hörte er auf, steckte eine Hand voll Gold, das er gewonnen hatte, in die Tasche und begrüßte mich mit jener ausgesuchten Höflichkeit, die den Franzosen angeboren zu sein scheint. Auf seine Frage, ob ich mit meiner Schönen, bei der ich soupiert hätte, zufrieden gewesen wäre, erzählte ich ihm alles Vorgefallene. Er lachte darüber und schlug mir vor, mich zu seiner Tänzerin zu führen. Wir fanden diese unter dem Kamm ihres Friseurs, und sie empfing mich scherzend wie einen guten Bekannten. Sie interessierte mich jedoch nicht; um aber dem liebenswürdigen Malteserritter einen Gefallen zu tun, tat ich, als finde ich sie sehr hübsch.

Als der Friseur fortgegangen war, zog sie sich ohne alle Umstände an, da sie am Abend auftreten sollte. Der Ritter half ihr das Hemd wechseln; sie zog es sich ohne alle Ziererei an, doch bat sie mich vorher um Entschuldigung.

Da ich ihr daraufhin ein Kompliment machen mußte, fiel mir nichts Besseres ein, als ihr zu sagen, sie habe mich durchaus nicht beleidigt, wohl aber mich aufgeregt.

»Das glaube ich nicht!« sagte sie.

»Ganz gewiß, es ist wahr!« versetzte ich.

Sie trat an mich heran, um sich zu überzeugen, und als sie sah, wie ich sie belogen hatte, sagte sie mit einer halb schmollenden Miene:

»Sie sind ein Taugenichts!«

Es gibt in ganz Frankreich keine Stadt, wo die Kurtisanen so ausschweifend sind wie in Marseille; sie setzen nicht nur ihren Stolz darein, niemals etwas abzuschlagen, sondern sie sind die ersten, alles anzubieten.

Die Tänzerin zeigte mir eine Repetieruhr, die sie in einer Lotterie, zu zwölf Franken das Los, ausspielen wollte. Sie hatte noch zehn Lose; ich nahm ihr diese ab, und meine fünf Louis machten ihr solche Freude, daß sie mir um den Hals fiel und zum Malteserritter sagte, sie würde ihm untreu werden, sobald ich Lust hätte.

»Das freut mich außerordentlich,« sagte der Ritter. Er bat mich, bei ihr mit ihm zu soupieren, und ich nahm die Einladung an; das einzige Vergnügen jedoch, das ich mir verschaffte, bestand darin, zuzusehen, wie der Ritter seine Pflicht bei ihr erfüllte. Er stand jedoch weit hinter Dolci zurück.

Nachdem ich ihnen gute Nacht gewünscht hatte, verließ ich sie und begab mich nach dem Hause, wo ich das arme Mädchen untergebracht hatte. Die Magd führte mich in mein Zimmer, und ich fragte sie, ob ich nach dem Boden gehen könnte. Sie nahm das Licht, und ich folgte ihr. Rosalie, so hieß das junge Mädchen, erkannte meine Stimme und machte mir auf. Ich sagte der Magd, sie möchte in meinem Zimmer auf mich warten, setzte mich auf das Bett und fragte das schöne Kind: »Bist du zufrieden, meine Liebe?«

»Ich fühle mich glücklich.«

»Ich hoffe doch, du wirst so gefällig sein und mir an deiner Seite Platz machen.«

»Sie haben zu befehlen, aber ich muß Ihnen gestehen. Sie werden mich nicht so finden, wie ich Ihnen gesagt habe; denn ich habe mich bereits hingegeben, allerdings nur ein einziges Mal.«

»Du hast mir also eine Lüge gesagt?«

»Verzeihen Sie mir! Ich konnte nicht ahnen, daß Sie mich lieben würden.«

»Ich verzeihe dir gern, besonders da ich darauf gar keinen Wert lege.«

Sanft wie ein Lamm ließ sie mich alle ihre Schönheiten betrachten, die ich mit Händen und Mund verschlang. Der Gedanke, daß ich diese Schätze besitzen sollte, versetzte mein ganzes Wesen in Glut; aber ihre gehorsame Miene betrübte mich, und ich fragte sie: »Warum, reizende Rosalie, kommst du nicht meinen Wünschen entgegen?«

»Ich wage es nicht, weil ich fürchte, Sie könnten mich in Verdacht haben, daß ich mich verstelle.«

Falschheit und studierte Koketterie können wohl eine solche Antwort geben; was aber eine noch so wohl überlegte Berechnung nicht hervorbringen kann, das ist der Ton von Aufrichtigkeit und schüchterner Wahrhaftigkeit, womit das herrliche Mädchen diese Worte aussprach. Ungeduldig nach ihrem Besitz warf ich meine Kleider ab; zu meiner höchsten Überraschung aber fand ich in ihr eine vollkommene Jungfrau.

»Warum,« fragte ich sie, »hast du gesagt, du habest einen Liebhaber gehabt? Eine solche Lüge hat noch niemals ein junges Mädchen gesagt.«

»Ich habe wirklich nicht gelogen; aber es ist mir lieb, daß es Ihnen so vorkommt.«

»Erzähle mir dies.«

»Gern, denn ich wünsche mich Ihres Vertrauens würdig zu machen; die Sache verhält sich folgendermaßen: Vor zwei Monaten liebte meine Mutter mich noch, trotz ihrem aufbrausenden und trotzigen Wesen. Ich arbeitete als Näherin und verdiente täglich zwanzig bis dreißig Sous. Ich gab alles meiner Mutter. Ich hatte nie einen Liebhaber gehabt und dachte überhaupt nicht an Liebe, denn ich mußte lachen, wenn man mich wegen meiner Einsamkeit pries. Von Kindheit an war ich daran gewöhnt worden, den jungen Leuten, denen ich auf der Straße begegnete, niemals ins Gesicht zu sehen und ihnen nicht zu antworten, wenn sie irgendwelche fade Redensarten an mich richteten.

Es ist nun zwei Monate her, da kam ein recht hübscher junger Mensch, ein kleiner Kaufmann aus Genua, zu meiner Mutter, um von ihr sehr feine baumwollene Strümpfe waschen zu lassen, die von dem Seewasser ein wenig verdorben waren. Als er mich sah, lobte er meine Schönheit, doch tat er dies auf die anständigste Art von der Welt. Er gefiel mir; ohne Zweifel hatte er dies bemerkt, denn er kam jeden Abend wieder. Meine Mutter war stets zugegen; er plauderte und sah mich an, aber niemals nahm er auch nur meine Hand, um sie zu küssen. Meine Mutter sah mit großem Vergnügen, daß der junge Mann mich liebte, und schalt mich oft aus, ich wäre nicht höflich genug gegen ihn. Nach einiger Zeit mußte er mit dem kleinen Schiff, das sein Eigentum war, nach Genua fahren, um eine Warenladung dorthin zu bringen. Er hatte uns versichert, er würde im nächsten Frühjahr wiederkommen und uns dann seine Absichten kundgeben. Er hoffe, ich werde stets tugendhaft sein und vor allen Dingen mit keinem Liebhaber verkehren. Dies war vielsagend. Meine Mutter sah in ihm nunmehr den Mann, dem ich einstmals angehören würde, und ließ mich bis Mitternacht mit ihm an der Haustür plaudern. Wenn er fortging, schloß ich die Tür und legte mich neben meine Mutter, die ich stets bereits eingeschlafen fand, ins Bett. Vier oder fünf Tage vor seiner Abreise nahm er meinen Arm und lud mich ein, ihn etwa fünfzig Schritte von unserem Hause in ein Weinhaus zu begleiten und bei dem griechischen Wirt, der die ganze Nacht offen hielt, ein Glas Muskateller zu trinken. Wir blieben nur eine halbe Stunde beieinander, und bei dieser Gelegenheit gab er mir die ersten Küsse. Nach Hause kommend, fand ich meine Mutter wach; ich erzählte ihr alles, so unschuldig fand ich die ganze Sache.

Aufgeregt von der Erinnerung an die Erlebnisse der vorigen Nacht, erklärte ich mich am nächsten Tage bereit, abermals mit ihm zu gehen. Die Liebe machte weitere Fortschritte. Die Liebkosungen, die wir einander erwiesen, waren nicht mehr unschuldig; denn wir wußten wohl, daß wir weiter gegangen waren, als die Pflicht uns erlaubte. Gleichwohl verziehen wir uns, denn des Wesentlichen hatten wir uns enthalten.

In der übernächsten Nacht sollte mein Geliebter abfahren; er verabschiedete sich von meiner Mutter, und sobald diese im Bett lag, zögerte ich nicht länger, ihm den Genuß zu bewilligen, den ich ebenso sehr wünschte wie er. Wir gingen zum Griechen, aßen und tranken, und unsere erhitzten Sinne ließen die Liebe triumphieren: wir vergaßen unsere Pflicht und glaubten Wunder was Herrliches zu tun. Nach unserer Niederlage schliefen wir ein; aber als wir erwachten, da erkannten wir im hellen Licht des Tages den Fehltritt, den wir begangen hatten. Mehr traurig als froh trennten wir uns, und meine Mutter empfing mich ungefähr ebenso, wie Sie heute morgen es mit angesehen haben. Ich versicherte ihr, eine Heirat würde die Schande meines Verbrechens auslöschen; aber als sie dies Geständnis hörte, ergriff sie einen Stock und würde mich totgeschlagen haben, wenn ich nicht, mehr aus Instinkt als aus Berechnung, entflohen wäre.

Da war ich nun auf der Straße. Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte; so trat ich denn in eine Kirche ein und kniete dort, wie betäubt, im Gebet bis zum Mittag. Denken Sie sich meine Lage: ich hatte Hunger und wußte nicht, wo ich schlafen sollte; ich hatte keine anderen Kleider als die, die ich auf dem Leibe trug, und besaß keinen Heller, um mir ein Stück Brot zu kaufen. Eine Frau sprach mich auf der Straße an. Ich kannte sie und wußte, daß sie sich ihren Lebensunterhalt damit verdiente, Familien, welche Dienstboten brauchten, solche zu besorgen. Ich fragte sie sofort, ob sie mir einen Dienst verschaffen könnte.

Sie antwortete: «Man hat heute ein Mädchen von mir verlangt, aber es ist bei einer Dame von schlechtem Lebenswandel, und wenn Sie diesen Platz annehmen, wird es Ihnen, hübsch wie Sie sind, schwer fallen, anständig zu bleiben.»

«Ich werde mich gegen die Ansteckung zu wehren wissen,»rief ich; «ich bin in einer Lage, alles annehmen zu müssen.»

Sie führte mich zu dem Fräulein, das mich mit Vergnügen annahm und hocherfreut war, als ich auf ihre Frage antwortete, ich hätte noch niemals etwas mit einem Mann zu tun gehabt. Es hat mir seitdem oft leid getan, diese Lüge zu ihr gesagt zu haben, denn in den acht Tagen, die ich bei dieser liederlichen Dame verbrachte, hatte ich die bittersten Beschimpfungen zu erdulden, die jemals einem anständigen Mädchen widerfahren sind. Kaum hatten die Männer, die sie besuchten, mich bemerkt und von ihr erfahren, daß ich noch Jungfer sei, so wollten sie ihre tierische Lust an mir befriedigen und boten mir Gold, aber unter der Bedingung, daß ich mich vorher untersuchen ließ. Da ich mich weigerte, so verhöhnte man mich. Aber das war noch nicht alles. Fünf- oder sechsmal täglich sah ich mich genötigt, bei den rohen Genüssen zugegen zu sein, die die Kunden sich mit meiner Herrin verschafften, und nachts, wenn ich ihnen die Treppe hinunterleuchten mußte, überschütteten sie mich mit Schmähungen, weil ich mich weigerte, ihnen für elende zwölf Sous einen ekelhaften Dienst zu leisten. Es war mir nicht mehr möglich, dieses Leben noch länger zu führen, und als Sie gestern kamen, ging ich schon mit dem Gedanken um, mich ins Wasser zu stürzen. Sie behandelten mich so überaus schmachvoll, daß ich in meinem Entschluß noch bestärkt wurde; beim Fortgehen aber benahmen Sie sich so höflich und großmütig, daß ich augenblicklich Liebe zu Ihnen faßte, denn ich hielt Sie für den Mann, den die Vorsehung dazu ausersehen hätte, mich von dem Sturz in den Abgrund zu bewahren. Ich glaubte, Ihre Erscheinung würde vielleicht meine Mutter beruhigen und Sie könnten sie überreden, mich wieder bei sich aufzunehmen, bis mein Liebhaber käme und mich heimführte. Sie haben mir diese Täuschung benommen; ich bin, wie ich sehe, in ihren Augen ganz und gar verloren. Nehmen Sie mich zu Ihrer Magd; ich werde treu nur Sie allein lieben, werde mich Ihnen ganz und gar unterwerfen, und Sie sollen niemals über mich zu klagen haben.«

Ich weiß nicht, war es Tugend, war es Schwachheit – genug, diese Erzählung des interessanten Opfers einer Sinnenverirrung und der übergroßen Strenge einer Mutter riß mich zu Tränen hin; als sie mich gerührt sah, flossen auch ihre Tränen stromweise; dies war kein Wunder, denn gewiß bedurfte ihr junges armes Herz einer Erleichterung.

«Ich glaube, meine arme Rosalie, du hast nur ein Hemd.«

»Ach das ist leider nur wahr.«

»Sei ruhig, meine Liebe, morgen wirst du alles haben, was du brauchst, und morgen Abend wirst du im zweiten Stock mit mir speisen. Ich werde für dich sorgen.«

»Sie haben also Mitleid mit mir?«

»Ich glaube, mein liebes Kind, es ist mehr Liebe als Mitleid.«

»Das gebe Gott!«

Über dieses »Das gebe Gott«, das ihr aus der innersten Seele kam, mußte ich laut lachen.

Die Magd, die seit zwei Stunden auf mich wartete, legte ihr mürrisches Gesicht in freundliche Falten, als sie den Sechs-Frankentaler sah, den ich ihr zur Entschädigung in die Hand drückte. Ich sagte zu ihr: »Sage deinem Herrn, ich werde morgen Abend mit Rosalie Fastenspeisen essen, und sage ihm, daß ich gut zu essen liebe.«

Heftig verliebt in das junge Mädchen ging ich in meinen Gasthof zurück; es war für mich eine Befriedigung, auch einmal eine wahre Geschichte aus einem schönen Munde gehört zu haben. Sie war offenbar in ihren Gefühlen so tugendhaft, daß ihr kleiner Fehltritt ihr in meinen Augen nur um so höheren Glanz verlieh. Ich faßte den Entschluß, sie niemals zu verlassen, und dieser Entschluß war aufrichtig, denn ich war in sie verliebt.

Am anderen Morgen trank ich meine Schokolade und ging dann mit dem Lohndiener aus; ich ließ mich in mehrere Kaufläden führen, wo ich alles bekommen konnte, was sie nötig hatte. Was ich aussuchte, war ohne Luxus, aber auch nicht armselig. Rosalie war erst fünfzehn Jahre alt, aber nach ihrem schlanken Wuchs, ihrem wohlgeformten Busen, den vollen, von den Grazien gerundeten Armen hätte man ihr vier Lustren geben können. Ich hatte ihre Formen so gut im Kopfe, daß die von mir gekauften Sachen ihr so gut paßten, wie wenn ihr Maß genommen worden wäre. Ich verwandte den ganzen Vormittag hierauf, und der Diener brachte ihr in einem kleinen Koffer zwei Kleider, Hauben, Unterröcke, Schnupftücher, Handschuhe, Mützen, ein Paar Pantoffeln, einen Fächer, einen Arbeitsbeutel und ein Mäntelchen. Beglückt von dem Gedanken, dem reizenden Mädchen eine Überraschung bereitet zu haben, konnte ich die Stunde des Abendessens kaum erwarten, um mich an ihrer Zufriedenheit zu weiden.

Der Malteserritter besuchte mich und lud sich ohne Umstände zum Mittagessen ein; ich nahm ihn mit Vergnügen bei mir auf. Nach der Mahlzeit überredete er mich, mit ihm ins Theater zu gehen, weil das Abonnement aufgehoben wäre und deshalb die Logen die beste Gesellschaft enthielten. Es würden keine Dirnen im Amphitheater sein, denn diese würden nur gegen Bezahlung Eintritt haben. Er stellte mich einer Dame vor, in deren Hause die gute Gesellschaft verkehrte; sie lud mich ein, sie zu besuchen. Ich entschuldigte mich mit meiner sehr nahe bevorstehenden Abreise. Nichtsdestoweniger war diese Dame eine ausgezeichnete Bekanntschaft, die mir bei meinem zweiten Besuch in Marseille sehr nützlich wurde. Es war eine Madame Audibert.

Ich wartete das Ende der Vorstellung nicht ab, sondern begab mich schon vorher an den Ort, wohin mich die Liebe rief. Es wartete meiner eine höchst angenehme Überraschung! Ich glaubte Rosalie nicht wieder zu erkennen, als ich sie vor mir sah. Ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, hier ihr Bildnis zu zeichnen, wie es trotz den seither verflossenen Jahren mir im Gedächtnis geblieben ist:

Rosalie war eine pikante Brünette von mehr als mittlerer Größe. Ihr Gesicht bildete ein schönes Oval von den vollkommensten Verhältnissen. Zwei große, schwarze, schön geschnittene und hoch gewölbte Augen strahlten ein Feuer aus, das durch eine entzückende Sanftmut gemildert wurde. Schön geschwungene Augenbrauen, überreiches ebenfalls schwarzes Haar und schwarze Augen ließen die glänzende Weiße ihrer rosig angehauchten Haut noch mehr hervorstehen. Ein Grübchen auf ihrem kleinen Kinn bildete mit zwei anderen Grübchen, die das leiseste Lächeln auf ihre Wangen zauberte, ein Dreieck. Ihr kleiner Mund war mit zwei Reihen Zähnen vom schönsten Schmelz geziert; ihre Lippen vom herrlichsten Rot umspielte ein unerklärlicher Zug. Ihre Unterlippe stand ein wenig vor, wie wenn sie Küsse aufsaugen wollte. Von ihren Armen, von ihrem Busen, von ihrem tadellosen Wuchs sprach ich schon; bemerken aber muß ich noch, daß sie eine göttliche Hand hatte und den kleinsten Fuß, der sich denken läßt. Von ihren übrigen Vollkommenheiten will ich nur sagen, daß sie den bereits geschilderten entsprachen.

Um Rosalien in der ganzen Vollendung ihrer Schönheit zu sehen, mußte man sie lachen sehen; bis zu diesem Augenblick aber war sie nur traurig oder ärgerlich gewesen, und diese Stimmungen sind im allgemeinen den Frauen nicht günstig, sondern nehmen ihnen viel von ihrem Reiz. Nun aber war ihre Traurigkeit verschwunden und hatte dem Ausdruck der Dankbarkeit und der Freude Platz gemacht. Ihr schönes Gesicht fesselte die Aufmerksamkeit, weil es von sprechender Lebendigkeit war und Lust machte, zu hören, was sie sagte. Ich betrachtete sie aufmerksam und war stolz auf die Umwandlung, die mein Werk war; aber ich bemerkte, daß ich meine Überraschung verbergen mußte, damit sie nicht glaubte, daß ich unvorteilhaft von ihr dächte. Ich beeilte mich daher, ihr meine Gedanken auszusprechen, indem ich ihr versicherte, daß ich mich unsterblich lächerlich machen würde, wenn ich sie so, wie Gott sie geschaffen hätte, als Magd in meinen Dienst nehmen wollte.

»Du wirst meine Geliebte sein, teure Rosalie!« rief ich; »meine Diener werden dir die gleiche Achtung bezeigen, wie wenn du meine Frau wärest.«

Rosalie schien durch diese Worte ein neues Leben zu empfangen; sie sprach mir das innige Gefühl aus, das meine Wohltaten in ihr erregten. In ihrem überströmenden Gefühl drückte sie sich unbeholfen aus, aber gerade dieses erfüllte mich mit Freude, denn ich konnte nicht verkennen, daß sie unverstellt sprach: keine Kunst entstellte ihren Geist durch falsches Blendwerk.

Da sie in ihrer Dachstube keinen Spiegel besaß, hatte sie sich beim Ankleiden ohne einen solchen behelfen müssen, und ich sah, daß sie sich in dem großen Wandspiegel, der mein Zimmer schmückte, nicht zu betrachten wagte. Ich kannte die Schwäche aller Frauen – eine Schwäche, die die Männer ihnen sehr mit Unrecht zum Vorwurf machen, – und ermutigte sie daher, sich im Spiegel zu besehen. Sie konnte ein Lächeln der Befriedigung nicht unterdrücken und rief: »Ich komme mir vor, wie wenn ich maskiert wäre, denn noch niemals habe ich mich in solchem Putz gesehen.« Sie lobte die geschmackvolle Einfachheit ihres Kleides, und ärgerte sich, als sie daran dachte, daß ihre Mutter dieses alles sehr schlimm finden würde.

»Du mußt deine Mutter vergessen, liebes Herz! Du siehst vollkommen wie eine vornehme Dame aus, und ich werde ganz stolz sein, wenn man mich in Genua fragen wird, ob du meine Tochter seist.«

»In Genua?«

»Ja, in Genua. Du erbleichst?«

»Vor Überraschung; denn ich werde vielleicht dort einen Mann sehen, den ich noch nicht vergessen habe.«

»Willst du hier bleiben?«

»Nein, nein! Lieben Sie mich und seien Sie überzeugt, daß ich Sie allem vorziehe, und zwar aus Liebe und nicht aus Eigennutz.«

»Du wirst gerührt, lieber Engel. Komm her und laß deine Tränen von meinen Küssen trocknen!«

Erstickt von den verschiedenen Gefühlen, von denen ihr Herz voll war, warf sie sich in meine Arme und weinte lange. Ich suchte sie nicht zu trösten, denn sie hatte keinen Kummer. Indem sie weinte, folgte sie jenem Bedürfnis, das zärtlichen Herzen so natürlich ist und das die Frauen häufiger und lebhafter empfinden als die Männer. Sie weinte noch, als wir uns zu Tisch setzten. Wir hatten ein köstliches Abendessen, dem ich für sie und mich alle Ehre antat; denn sie aß nichts. Ich fragte sie infolgedessen, ob sie den Fehler habe, nicht lecker zu sein.

Sie antwortete mir: »Kein Mensch hat einen besseren Appetit als ich, und ich habe einen ausgezeichneten Magen. Sie werden dies sehen, wenn mein Herz und meine Seele sich ein bißchen an die Freude gewöhnt haben, die mir jetzt Beklemmungen macht.«

»Aber du könntest doch mindestens trinken! Dieser Wein ist ausgezeichnet. Wenn du den griechischen Muskateller vorziehst, werde ich welchen holen lassen; er wird dich an deinen Liebhaber erinnern.«

»Wenn Sie einige Rücksicht auf mich nehmen wollen, so bitte ich Sie, seien Sie so gütig und ersparen Sie mir die größte Kränkung, die Sie mir antun können.«

»Ich verspreche dir, daß dir niemals eine Kränkung von meiner Seite widerfahren soll. Es war ein schlechter Scherz: ich bitte dich dafür um Verzeihung. Es soll nicht wieder vorkommen.«

»Wenn ich Sie sehe, fühle ich Verzweiflung, daß ich Sie nicht vor ihm gekannt habe.«

»Dies Gefühl genügt mir, liebe Rosalie; es ist erhaben, weil du es nur in deiner unschuldigen Liebe geschöpft hast. Du bist schön und keusch, denn du hast nur der Liebe nachgegeben, und du hattest ja die Aussicht, die Frau jenes Mannes zu werden. Wenn ich daran denke, daß du mein bist, so erfüllt es mich mit Verzweiflung, nicht sicher zu sein, daß du mich liebst; denn ein feindlicher Genius will mir einreden, daß du mich nur deshalb duldest, weil ich das Glück gehabt habe, dir zu helfen.«

»Das ist ein sehr schlechter Genius, lieber Freund! Wenn ich Ihnen auf der Straße begegnet wäre, so hätte ich mich freilich ganz gewiß nicht wahnsinnig in Sie verliebt, aber sicherlich würden Sie mir gefallen haben. Ich fühle, daß ich Sie liebe, und zwar nicht um Ihrer Wohltaten willen; denn wenn ich reich wäre und Sie arm, so fühle ich, daß ich alles für Sie tun würde. Aber das wünsche ich durchaus nicht; denn es ist mir lieber, in Ihrer Schuld zu sein, als wenn Sie mein Schuldner wären. Dies sind meine aufrichtigen Gefühle. Erraten Sie das übrige!«

Es war Mitternacht, und wir plauderten noch immer in diesem Ton, als mein alter Wirt hereinkam und mich fragte, ob ich zufrieden sei.

»Ich bin Ihnen Dank schuldig; ich bin sehr zufrieden. Aber wer hat denn dieses köstliche Abendessen zubereitet?«

»Meine Tochter. Sie versteht sich darauf.«

»Sagen Sie ihr, ich habe es ausgezeichnet gefunden.«

»Freilich, mein Herr, aber es ist teuer.«

»Nicht teuer, guter Freund! Sie werden mit mir zufrieden sein, wie ich es mit Ihnen bin. Sorgen Sie dafür, daß ich morgen Abend ebenso gut bedient werde; denn ich hoffe, morgen wird das Fräulein sich besser fühlen und mir dann helfen, den kulinarischen Erzeugnissen Ihrer Tochter Ehre anzutun.«

»Sie wird guten Appetit im Bett haben. Vor sechzig Jahren ist es mir ebenso ergangen. Sie lachen, Fräulein?«

»Ich lache, weil ich denke, daß diese Erinnerungen Ihnen Vergnügen machen müssen.«

»Sie täuschen sich nicht; darum verzeihe ich auch jungen Leuten die kleinen Sünden, die sie aus Liebe begehen.«

»Sie sind ein weiser und guter alter Herr,« sagte ich zu ihm; »man muß für die süßeste aller Schwächen Mitgefühl haben.«

»Wenn der alte Mann weise ist,« sagte Rosalie, als der Wirt fortgegangen war »ist meine Mutter töricht.«

»Wünschest du, daß ich dich morgen ins Theater führe?«

»Ich bitte, nein! Wenn Sie es verlangen, gehorche ich Ihnen, aber es würde mir unangenehm sein. Hier in Marseille weder Theater noch Spazierengehen! Himmel, was würde man sagen! Nein, in Marseille nichts; aber sonst überall alles, was Sie wollen, und von Herzen gern.«

»Gut, meine Liebe, es soll nach deinem Willen geschehen. Aber hier ist dein Zimmer; du sollst nicht mehr in der Dachkammer wohnen, und in drei Tagen reisen wir ab.«

»So bald schon?«

»Ja, du wirst mir morgen sagen, was du für deine Reise haben möchtest, denn ich wünsche, daß es dir an nichts fehlt, und ich könnte vielleicht irgend etwas vergessen; das würde mir unangenehm sein.«

»Ich brauche noch einen gefütterten Mantel, Halbstiefelchen, eine Nachtmütze und ein Gebetbuch, um in die Kirche gehen zu können.«

»Du kannst also lesen?«

»Freilich, sogar auch ganz leidlich schreiben.«

»Das freut mich außerordentlich. Indem du von mir alles verlangst, was du nur wünschen kannst, liebe Freundin, gibst du mir einen wirklichen Beweis von Liebe: denn wo das Vertrauen mangelt, da ist keine echte Liebe. Ich werde nichts vergessen; aber du hast einen so kleinen Fuß, daß es besser ist, wenn du dir die Halbstiefelchen selber besorgst.«

Unsere Unterhaltung war so angenehm; es machte mir so viel Vergnügen, ihren Geist zu beobachten, daß wir erst gegen fünf Uhr morgens zu Bett gingen. Wir verbrachten sieben köstliche Stunden in Amors und Morpheus‘ Armen, und als wir gegen Mittag aufstanden, waren wir innig miteinander vertraut. Sie duzte mich und sprach nicht mehr von Dankbarkeit, sondern von Liebe; sie hatte sich schon ganz in ihren gegenwärtigen Zustand hineingefunden und lachte über ihr vergangenes Elend.

Alle Augenblicke küßte sie mich, nannte mich ihr Kind, ihr Glück; und da im Leben nichts wirklich ist als die Gegenwart, so genoß ich des Augenblicks, in ihren Liebkosungen schwelgend, und wies jeden Gedanken an die entsetzliche Zukunft von mir, die keine andere sichere Aussicht bietet als auf den Tod, ultima linea rerum.

Die zweite Nacht, die ich mit dem schönen Mädchen verbrachte, war noch viel süßer als die erste; denn da sie mit gutem Appetit gegessen und herzhaft, wenn auch mit Maß, getrunken hatte, so war sie viel empfänglicher für Verfeinerungen des Genusses und ergab sich mit größerem Feuer allen Wollüsten, die die Liebe eingibt und ausführt.

Ich schenkte ihr eine schöne Uhr und ein goldenes Webeschiffchen, um sich zu ihrer Unterhaltung Schnur darauf zu bereiten.

»Ich wünschte ein solches,« sagte sie zu mir, »aber ich würde niemals gewagt haben, dich darum zu bitten.«

Ich antwortete ihr: eine solche Furcht, mir durch eine Bitte um Sachen, die sie gerne haben möchte, zu mißfallen, lasse mich doch an ihrer Liebe zweifeln. Da stürzte sie sich in meine Arme und versprach mir unter den zärtlichsten Küssen, in Zukunft würde sie nicht mehr die geringste Zurückhaltung zeigen.

Es machte mir bereits Vergnügen, das junge Mädchen zu erziehen, und ich fühlte, daß sie vollkommen werden würde, wenn durch die Erziehung ihr Geist sich entwickelte. Am vierten Tage sagte ich ihr, sie möchte sich bereit halten, in meinen Wagen zu steigen, sobald ich sie abholte. Ich hatte weder zu Costa noch zu Leduc ein Wort von ihr gesagt, aber Rosalie wußte, daß ich zwei Bediente hatte; ich hatte ihr erzählt, daß ich mir auf der Reise oft das Vergnügen machte, sie schwatzen zu lassen, um über ihre plumpen Dummheiten zu lachen.

»Du, meine Liebe,« hatte ich zu ihr gesagt, »benimm dich sehr zurückhaltend gegen sie; laß ihnen niemals etwas durchgehen, vor allem nicht die geringste Vertraulichkeit! Befiehl ihnen als Herrin, aber ohne Hochmut, und du wirst Gehorsam und Achtung finden. Sollten sie sich jemals dir gegenüber vergessen, sei es worin es sei, so verlange ich, daß du mir dies ohne Erbarmen sofort mitteilst.«

Ich fuhr von dem Gasthof zu den »Dreizehn Kantonen« mit vier Postpferden ab; Leduc und Costa saßen auf dem Kutschbock, und der Lohndiener, den ich freigebig beschenkt hatte, führte uns vor Rosalies Haus. Ich stieg aus dem Wagen und dankte dem nachsichtigen Greis, der sein Bedauern aussprach, eine so liebenswürdige Mieterin abreisen zu sehen. Dann ließ ich sie einsteigen, setzte mich neben sie, und befahl den Postillonen, nach Toulouse zu fahren, denn ich hatte Lust, vor meiner Rückkehr nach Italien diesen schönen Seehafen zu besichtigen. Um fünf Uhr kamen wir an.

Beim Nachtessen benahm meine Rosalie sich mit der ganzen Würde einer Hausfrau, die an den Ton der guten Gesellschaft gewöhnt ist. Ich sah, daß Leduc in seiner Eigenschaft als Kammerdiener dem Costa ihre besondere Bedienung zuweisen wollte; aber ich brachte ihn davon ab, indem ich, ohne ihn anzusehen, zu meiner Freundin sagte, er werde die Ehre haben, sie zu bedienen, denn er frisiere wie der beste Pariser Friseur. Diese Schmeichelei versüßte ihm die bittere Pille; er fügte sich mit guter Miene, indem er mit einer tiefen Verbeugung sagte, er hoffe das Glück zu haben, Madame zufriedenzustellen.

Am anderen Morgen gingen wir aus, um den Hafen zu besehen. Der Kommandant, dessen Bekanntschaft wir durch einen glücklichen Zufall machten, erwies uns die Ehre, uns als Führer und Cicerone zu bedienen. Er bot Rosalien seinen Arm und behandelte sie mit großer Achtung; sie verdiente diese durch ihre gute Haltung und durch die vernünftigen Fragen, die sie stellte. Beim Mittagessen, an welchem auf meine Einladung auch der Kommandant teilnahm, sprach Rosalie wenig, aber stets treffend; sie ging mit großer Anmut auf die höflichen Komplimente unseres Gastes ein, der ein ebenso liebenswürdiger wie gebildeter Offizier war.

Am Nachmittag zeigte er uns das Arsenal; da er sich zu revanchieren wünschte, konnte ich seine Einladung zum Abendessen nicht ablehnen. Es war keine Rede davon, Rosalie vorzustellen, denn der Kommandant beeilte sich, uns seine Frau, seine Tochter und seinen Sohn vorzustellen. Ich sah mit großem Vergnügen, daß meine Freundin sich gegen Damen noch besser benahm als gegen Herren. Sie hatte ein natürliches Gefühl für das Schickliche. Die Damen erwiesen ihr tausend Freundlichkeiten, die sie mit edlem und gefühlvollem Anstand entgegennahm; ihr ganzes Wesen trug den Ausdruck jener Bescheidenheit und anziehenden Sanftmut, die das Kennzeichen einer guten Erziehung sind.

Ich wurde für den folgenden Tag zum Mittagessen eingeladen, da ich jedoch mit dem Gesehenen zufrieden war, so verabschiedete ich mich, um am nächsten Tage zu reisen.

Als ich ihr im Gasthof gesagt hatte, ich sei vollkommen mit ihr zufrieden, fiel sie mir voller Freude um den Hals und rief: »Ich hatte fortwährend Angst, man möchte mich fragen, wer ich eigentlich sei.«

»Fürchte nichts, liebe Freundin; in Frankreich wird man in guter Gesellschaft niemals so dumme Fragen an dich richten.«

»Aber wenn man mich nun doch gefragt hätte, wie hätte ich antworten sollen?«

»Ausweichend.«

»Was heißt das?«

»Eine ausweichende Antwort dient dazu, sich aus der Verlegenheit zu ziehen, ohne die Neugier der Indiskreten zu befriedigen.«

»Aber wie macht man denn das?«

»Du würdest zum Beispiel sagen: bitte fragen Sie den Herrn danach.«

»Ich verstehe jetzt. Aber benehme ich mich nicht unhöflich, wenn ich einer Frage ausweiche?«

»Allerdings, aber immerhin weniger unhöflich als diejenigen, die sich eine solche unangebrachte Frage gestatten.«

»Was würdest du antworten, wenn man an dich selber eine solche Frage richtete?«

»Dies käme auf den Grad der Achtung an, die ich der die Frage stellenden Person entgegenbrächte. Wenn ich die Wahrheit nicht sagen wollte, so weiß ich, daß es mir an einer Ausrede nicht fehlen würde. Übrigens bin ich dir dankbar, liebes Herz, daß du mit deinen Fragen bei mir Belehrung suchst. Frage mich nur immer; du wirst mich stets bereit finden, dir zu antworten, denn ich wünsche zu deiner Bildung beizutragen. Ich liebe dich und wünsche, daß du glänzest. Nun aber wollen wir zu Bett gehen, denn wir müssen morgen in aller Frühe nach Antibes abreisen, und die Liebe soll dich für das Vergnügen belohnen, das du mir heute bereitet hast.«

In Antibes mietete ich eine Feluke zur Überfahrt nach Genua, und da ich die Absicht hatte, auf demselben Wege aus Italien zurückzureisen, so brachte ich meinen Wagen in einer Remise unter, wofür ich monatlich eine Kleinigkeit bezahlte. Bei Tagesanbruch fuhren wir mit gutem Winde ab; als aber später das Meer unruhig wurde, hatte Rosalie eine Todesangst, und ich ließ daher die Feluke in den Hafen von Villefranche hineinrudern. Um ein gutes Nachtlager zu haben, nahm ich dort einen Wagen nach Nizza. Des schlechten Wetters wegen mußten wir drei Tage hier bleiben, und ich hielt mich für verpflichtet, dem Kommandanten, einem alten Offizier namens Peterson, meine Aufwartung zu machen.

Er empfing mich sehr freundlich; nachdem wir die üblichen höflichen Redensarten ausgetauscht hatten, fragte er mich: »Kennen Sie einen Russen, der sich Karl Iwanoff nennen läßt?«

»Ich habe in Grenoble Gelegenheit gehabt, ihn einmal zu sehen.«

»Man sagt, er sei aus Sibirien entflohen und sei der jüngere Sohn des Herzogs Biron von Kurland.«

»Das hat man mir auch gesagt; aber ich habe keinen Beweis dafür gesehen.«

»Er befindet sich in Genua, wo ein Bankier, wie man sagt, Auftrag hat, ihm zwanzigtausend Taler zu geben. Trotzdem hat er hier keinen Menschen gefunden, der ihm auch nur einen Sou hätte geben wollen; um die Stadt von seiner listigen Anwesenheit zu befreien, habe ich ihn schließlich auf meine Kosten nach Genua geschickt.«

Es war mir sehr angenehm, daß er vor meiner Ankunft abgereist war.

Ein früherer Offizier Ramini, der im selben Gasthof mit mir wohnte, fragte mich, ob ich ein Paket besorgen wolle, das der spanische Konsul Herr de Saint-Pierre nach Genua an den Marchese Grimaldi zu schicken habe. Dies war jener Herr, den ich kürzlich in Avignon gesehen hatte; ich übernahm daher den Auftrag mit Freuden.

»Haben Sie,« fuhr hierauf der Offizier fort, »in Avignon eine Madame Stuard gekannt, die hier in Nizza etwa vierzehn Tage mit ihrem angeblichen Gatten gewohnt hat? Die armen Leutchen hatten keinen Heller; und die Frau, eine vollendete Schönheit, bezauberte alle Welt durch ihre Reize, gönnte aber niemandem ein Wort oder einen Blick.«

»Ich habe sie gesehen und auch persönlich gekannt; aber sie ist nicht mehr dort. Ich selber habe ihr das Geld gegeben, um ihre Reise fortsetzen zu können. Aber wie haben sie Nizza ohne Geld verlassen können?«

»Das weiß kein Mensch. Sie ist in einem Wagen abgereist, und der Wirt ist bezahlt worden. Marchese Grimaldi hat mir gesagt, sie habe hundert Louis zurückgewiesen, die er ihr habe geben wollen, und einem Venetianer, den er kenne, sei es nicht besser ergangen als ihm. Vielleicht sind Sie dieser Venetianer?«

»Ja, ich bin’s. Und trotzdem habe ich ihr Geld gegeben.«

Am Abend suchte Herr Peterson mich auf; Rosalie bezauberte ihn durch ihre Liebenswürdigkeit. Ich verfehlte nicht, ihr auch zu diesem neuen Erfolge Glück zu wünschen.

Nizza ist der Sitz der Langenweile, und die Mücken sind dort eine fürchterliche Plage für die Fremden, denn die Insekten ziehen diese den Einheimischen vor. Indessen unterhielt ich mich ganz gut dank einer kleinen Pharaobank, die im Kaffeehaus gehalten wurde und an welcher Rosalie, die ich zum Spielen genötigt hatte, etwa zwanzig Piemonteser Pistolen gewann. Sie steckte ihren kleinen Schatz in eine Börse und sagte mir, dieser Besitz mache sie sehr glücklich, denn sie habe gern etwas Geld besitzen wollen. Ich schalt sie aus, daß sie mir dies nicht gesagt, und machte ihr Vorwürfe darüber, daß sie ihr Versprechen nicht gehalten hätte.

»Ich brauchte das Geld nicht,« antwortete sie mir; »ich fühle, daß ich es wünschte, ohne mir dessen bewußt zu sein.«

Unser Friede war bald geschlossen.

So schloß das junge Mädchen sich immer enger an mich an, und ich dachte, daß sie mir bis an das Ende meines Lebens angehören würde, daß ich zufrieden mit ihr leben und nicht mehr das Bedürfnis empfinden würde, von einer Schönen zur anderen zu eilen. Mein Schicksal hatte es anders mit mir beschlossen, und gegen das Schicksal läßt sich nichts machen.

Als das Wetter wieder schön geworden war, schifften wir uns mit Einbruch der Nacht ein und kamen am nächsten Tage in aller Frühe in Genua an, das ich niemals zuvor gesehen hatte. Ich stieg im Gasthof »San Martino« ab und nahm dort anstandshalber zwei Zimmer, aber zwei aneinanderstoßende. Am nächsten Tage schickte ich das Paket an Herrn von Grimaldi; und etwas später gab ich eine Karte in seinem Palazzo ab.

Ich ließ mich von einem Lohndiener zu einem Leinengeschäft führen und kaufte Leinwand, um Rosalie zu beschäftigen, welche Wäsche nötig hatte. Dies machte ihr das größte Vergnügen.

Wir saßen noch bei Tisch, als man mir den Marchese Grimaldi meldete; er umarmte mich und dankte mir, daß ich mich mit dem Paket bemüht hätte. Hierauf fragte er mich nach Neuigkeiten von Frau Stuard. Als ich ihm die Geschichte erzählt hatte, lachte er und sagte mir, er wüßte nicht recht, was er an meiner Stelle getan haben würde.

Da er meine Rosalie mit großer Aufmerksamkeit betrachtete, sagte ich ihm, sie sei ein junges Mädchen, das ebenso interessant durch seine Sittsamkeit wie durch seine Schönheit sei. »Ich möchte ihr eine Kammerfrau besorgen, die das Wäschenähen verstände, die auf landesübliche Art gekleidet mit ihr ausgehen könnte, und die vor allen Dingen italienisch spräche, damit sie es von ihr lernen kann; denn ich wünsche sie in Florenz, Rom und Neapel vorstellen zu können.«

»Warum,« antwortete mir der Marchese, »wollen Sie Genua des Vergnügens berauben, sie zu feiern? Ich erbiete mich, sie unter jedem beliebigen von Ihnen gewünschten Namen vorzustellen, wenn das Fräulein damit einverstanden ist.«

»Sie hat ihre Gründe, hier das Inkognito zu bewahren.«

»Das genügt. Gedenken Sie sich hier längere Zeit aufzuhalten?«

»Höchstens einen Monat, und unser Vergnügen wird sich darauf beschränken, uns die Stadt und ihre Umgebung anzusehen und das Theater zu besuchen. Hiermit werden wir noch die Freuden der Tafel verbinden, denn ich hoffe den Genuß zu haben, alle Tage Champignons zu essen, die hier besser sind als auf der ganzen Welt.«

»Das ist ein entzückender Plan; ich selber könnte Ihnen keinen besseren vorschlagen. Ich werde mich bemühen, mein gnädiges Fräulein, ein passendes Mädchen für Sie zu finden.«

»Sie, mein Herr? Womit soll ich soviel Güte verdienen?«

»Sie flößen mir eine so große Teilnahme ein, gnädiges Fräulein, da ich in Ihnen eine Marseillerin zu entdecken glaube.«

Rosalie errötete; sie wußte nicht, daß sie mit dem R schnarrte und daß man daran ihre Heimat erraten konnte. Ich beseitigte ihre Verlegenheit, indem ich ihr dies sagte.

Ich fragte den Marchese, wie ich mir das Journal des Savants, den Mercure de France und alle anderen derartigen Zeitschriften verschaffen könne. Er versprach, mir einen Mann zu schicken, der alle meine literarischen Wünsche befriedigen würde. Er fügte hinzu, wenn ich ihm gestatten wolle, mir etwas von seiner ausgezeichneten Schokolade zu schenken, so werde er zum Frühstück zu uns kommen. Ich antwortete ihm, Gast und Geschenk seien uns gleich angenehm.

Nachdem der Marchese fortgegangen war, bat Rosalie mich, sie zu einer Modistin zu führen. »Ich brauche,« sagte sie, »Bänder und allerlei Kleinigkeiten; aber ich will sie von meinem eigenen Gelde bezahlen, und ich will darum handeln, ohne daß du dich hineinmischest.«

»Mache es ganz wie du willst, meine Liebe! Nachher wollen wir ins Theater gehen.«

Die Modistin, zu der wir gingen, war eine Französin. Rosalie war reizend. Sie tat wichtig und spielte die Kennerin; sie ließ sich Hüte von der neuesten Mode vorlegen, feilschte um den Preis und gab fünf oder sechs Louis auf durchaus vornehme Weise aus. Beim Hinausgehen sagte ich zu ihr, man habe mich für ihren Lakaien gehalten, und ich wolle mich dafür rächen. Mit diesen Worten ließ ich sie bei einem Juwelier eintreten und kaufte ihr schöne Schnallen von Straß, schöne Ohrbommeln und ein schönes Halsband, ohne daß sie ein Wort dazu sagen durfte; nachdem ich bezahlt hatte, was man von mir verlangt hatte, verließen wir den Laden.

»Lieber Freund,« sagte sie zu mir, »was du gekauft hast, ist schön, aber du wirfst dein Geld weg, denn wenn du gehandelt hättest, würdest du mindestens vier Louis gespart haben.«

»Das kann wohl sein, liebes Herz; aber feilschen kann ich nicht.«

Ich führte sie ins Theater; da sie aber die Sprache nicht verstand, langweilte sie sich so sehr, daß sie nach dem ersten Akt mich bat, ich möchte sie doch nach Hause bringen; diesen Wunsch erfüllte ich ihr gerne. Ich fand im Gasthof ein Kistchen mit vierundzwanzig Pfund Schokolade, die Herr von Grimaldi geschickt hatte. Costa, der seine Geschicklichkeit, die Schokolade auf spanische Art zuzubereiten, gerühmt hatte, erhielt den Auftrag, am nächsten Morgen drei Tassen für uns zurecht zu machen.

Um neun Uhr kam der Marchese mit einem Händler, dem ich ausgezeichnete chinesische Baumwollstoffe abkaufte. Ich gab sie Rosalien, um sich zwei Mazzera machen zu lassen, eine Art Kapuzmantel, den die Frauen in Genua auf ihren Spaziergängen in der Stadt tragen, wie sie in Venedig den Cendal und in Madrid die Mantilla tragen.

Ich dankte Herrn von Grimaldi vielmals für seine schöne Schokolade die wir ausgezeichnet fanden. Costa war ganz stolz über das Lob, das der Marchese ihm aussprach. Nach dem Frühstück meldete Leduc mir eine Frau, deren Name mir unbekannt war. Der Marchese sagte mir jedoch: »Es ist die Mutter der Kammerjungfer, die ich für das gnädige Fräulein besorgt habe.«

Ich ließ sie eintreten und sah eine gutgekleidete Frau mit einem Fräulein von zwanzig bis vierundzwanzig Jahren, die mir sofort sehr hübsch vorkam. Die Mutter sprach dem Marchese ihren Dank aus und stellte ihre Tochter Rosalien vor, indem sie ihre guten Eigenschaften im einzelnen schilderte und die Versicherung gab, ihre Tochter werde sie gut bedienen und sie könne in allen Ehren mit ihr ausgehen.

»Meine Tochter spricht französisch, und Sie werden in ihr ein anständiges, treues und dienstwilliges Mädchen finden.«

Hierauf sagte sie ihr, wieviel Lohn sie monatlich bei einer Dame gehabt hätte, bei der sie früher in Diensten gewesen wäre, und bat sie schließlich, ihre Tochter nicht mit den Bedienten essen zu lassen. Das Mädchen hieß Veronika. Rosalie bewilligte alle ihre Wünsche und sagte ihr, es würde sie freuen, wenn sie sähe, daß sie sich Achtung zu verschaffen wüßte; dies gelänge am besten dadurch, daß man sich achtungswert machte. Veronika küßte ihr die Hand, die Mutter entfernte sich, und Rosalie führte sie in ihr Zimmer, um sie unter ihrer Leitung die Näharbeit beginnen zu lassen.

Ich sprach dem Herrn Marchese meinen besonders lebhaften Dank aus; denn es schien mir offenbar, daß er eine Kammerjungfer dieser Art viel mehr für mich als für meine Freundin ausgesucht hatte. Ich sagte ihm, ich würde nicht verfehlen, ihm meine Aufwartung zu machen, und er antwortete mir, er würde mich stets mit dem größten Vergnügen sehen, und ich würde ihn am leichtesten in seinem Kasino in Sampierdarena finden, wo er oft die Nacht zubrächte.

Sechstes Kapitel


Die Komödie. – Der Russe. – Petri. – Rosalie im Kloster.

Als der Marchese fort und Rosalie mit Veronika beschäftigt war, begann ich Voltaires Schottin zu übersetzen, um sie von den Schauspielern, die damals in Genua waren und mir ziemlich gut zu sein schienen, aufführen zu lassen.

Beim Mittagessen schien Rosalie mir traurig, und ich fragte sie:

»Was hast du denn, liebe Freundin? Du weißt, ich liebe es nicht, traurige Gesichter zu sehen.«

»Ich habe Kummer, lieber Freund, weil Veronika hübscher ist als ich.«

»Haha! Ich errate, und es macht mir Spaß. Aber tröste dich; Veronika ist in meinen Augen nicht mit dir zu vergleichen. Du bist meine einzige Schönheit; aber um dich zu beruhigen, werde ich Herrn Grimaldi bitten, sie von ihrer Mutter abholen zu lassen und dir eine andere recht häßliche Kammerjungfer zu besorgen.«

»O nein! bitte tue das nicht; er würde glauben, ich sei eifersüchtig, und das würde mich untröstlich machen.«

»Dann, mein liebes Kind, werde wieder guter Laune, wenn du mich nicht betrüben willst.«

»Nun denn, mein zärtlicher Freund, da du mir versicherst, daß ich um ihretwillen nicht deine Liebe verlieren werde, so will ich wieder heiter werden; denn ich werde ganz glücklich sein. Aber was hat sich denn nur der alte Herr dabei gedacht, daß er mir ein solches Mädchen besorgt! Hat er mir vielleicht einen Streich spielen wollen?«

»Das bezweifle ich. Ich bin im Gegenteil überzeugt, er hat dir beweisen wollen, daß du den Vergleich mit keinem anderen Mädchen zu scheuen hast. Bist du übrigens mit ihr zufrieden?«

»Sie arbeitet sehr gut und ist sehr ehrerbietig. Sie spricht keine vier Worte, ohne mich Signora zu nennen, und erklärt mir sofort immer alles auf französisch, was sie mir auf italienisch sagt. Ich hoffe, in einem Monat werde ich gut genug sprechen, so daß wir sie nicht mitzunehmen brauchen, wenn wir nach Florenz gehen. Ich habe Leduc befohlen, die Kammer zu räumen, die ich für sie bestimmt habe, und ich werde ihr von unserem Tisch etwas zu essen schicken. Übrigens werde ich sie gut behandeln; aber ich flehe dich an: mache mich nicht unglücklich!«

»Das würde mir wohl schwer fallen, liebe Rosalie; denn ich sehe nicht, wie ich mit ihr in Berührung kommen sollte.«

»Du wirst mir also meine Furcht verzeihen?«

»Von Herzen gern, und um so lieber, da sie für deine Liebe bürgt.«

»Ich danke dir, aber bitte, sage nichts davon.«

Ich nahm mir vor, diese Veronika, vor der ich bereits Furcht hatte, niemals anzusehen; denn ich liebte Rosalien sehr, und ich fühlte, daß ich alles hätte opfern mögen, um ihr den geringsten Verdruß zu ersparen.

Nach dem Mittagessen ging ich wieder an meine Übersetzung, denn diese Arbeit machte mir Vergnügen. Ich blieb den Tag über zu Hause; den ganzen nächsten Vormittag aber verbrachte ich bei Herrn von Grimaldi. Ich ging zum Bankier Belloni, bei dem ich alle Goldmünzen, die ich besaß, in Lilienzechinen umwechselte. Als ich nach der Erledigung dieses Geschäftes meinen Namen nannte, bezeigte der Geschäftsführer mir seine Ehrerbietung. Ich hatte bei diesem Bankier ein Guthaben von vierzehntausend Römischen Talern; außerdem hatte ich für zwanzigtausend Taler Wechsel auf Lepri.

Da meine Rosalie nicht ins Theater gehen wollte, kaufte ich ihr ein Stück schönen Calencars, damit sie abends was zu tun hätte. Für mich war das Theater ein Bedürfnis, das ich niemals zu befriedigen verabsäumte, so oft ich dies tun konnte, ohne süßere Genüsse zu beeinträchtigen. Ich ging daher allein hin. Als ich nach Hause kam, fand ich meine Geliebte mit dem Marchese beisammen. Ich freute mich darüber, und nachdem ich den liebenswürdigen Senator umarmt hatte, machte ich Rosalien ein Kompliment, daß sie ihn bis zu meiner Ankunft unterhalten hätte; zugleich aber warf ich ihr freundlich vor, sie hätte die Arbeit beiseite legen müssen.

»Frage ihn, lieber Freund, ob er mich nicht gezwungen hat, weiterzuarbeiten; er wollte sonst gehen, und um ihn zurückzuhalten, mußte ich doch seinen Willen erfüllen.«

Sie stand auf und legte die Arbeit fort; im Laufe einer interessanten Unterhaltung wußte sie den Marchese zu bewegen, daß er zum Abendessen blieb; sie kam dadurch meinen eigenen Absichten entgegen. Er aß wenig, da er nicht die Gewohnheit hatte, zu Abend zu speisen; aber ich sah, daß er von meinem Juwel entzückt war, und dies machte mir viel Vergnügen, denn ich glaubte von einem alten Herrn von sechzig Jahren nichts zu befürchten zu haben. Es war mir sehr angenehm, daß Rosalie auf diese Weise zu einer Dame der guten Gesellschaft erzogen wurde; ich wünschte, daß sie auch ein bißchen kokett würde, denn in der Gesellschaft findet eine Frau keinen Beifall, wenn sie nicht ein wenig gefallsüchtig ist.

Obwohl Rosalie auf diesem Gebiete ganz neu, ja sogar völlig unwissend war, so gab sie mir doch Gelegenheit, die natürliche Gabe der Frauen zu bewundern, die durch die Kunst entwickelt und verfälscht wird, die sich aber bei jeder Frau mehr oder weniger findet, mag sie das Zepter oder den Kochlöffel führen; sie sprach mit Herrn von Grimaldi in jenem Stil, der den Denker erraten läßt, daß die Sprechende die Neigung durch Hoffnung nähren will. Da unser Gast nicht aß, sagte sie ihm auf eine reizende Art, sie hoffe, daß er uns die Ehre erweisen würde, eines anderen Tages bei uns zu Mittag zu essen, denn sie sei neugierig, ob er guten Appetit habe.

Als wir allein waren, nahm ich sie auf den Schoß, bedeckte sie mit Küssen und fragte, wo sie gelernt habe, sich so gut mit Angehörigen der guten Gesellschaft zu unterhalten.

»Das ist ganz leicht! Du sprichst zu meiner Seele, und ich lese in deinen Augen, was ich sagen und was ich tun soll.«

Hätte sie Rhetorik studiert, sie hätte nicht schmeichelhafter und eleganter antworten können.

Ich hatte inzwischen die Übersetzung der Schottin beendigt. Ich ließ sie von Costa abschreiben und brachte sie dem Schauspieldirektor Rossi, der sich erbot, das Stück sofort aufführen zu lassen, sobald er hörte, daß ich es ihm schenken wollte. Ich sagte ihm die Namen der Schauspieler, die ich ausgesucht hatte, und lud ihn ein, mit diesen bei mir in meinem Gasthof zu speisen, wo ich ihnen das Stück vorlesen und die Rollen austeilen wollte.

Wie man sich denken kann, wurde meine Einladung angenommen; meine Rosalie war entzückt, mit den drei Schauspielerinnen und den Schauspielern zu speisen, die in dem Stück auftreten sollten, und besonders machte es ihr Spaß, sich jeden Augenblick Frau Casanova nennen zu hören. Veronika erklärte ihr alles, was sie nicht verstand.

Als nach dem Essen meine Künstler im Kreise Platz genommen hatten, baten sie mich, ihnen zu sagen, welche Rolle ich jedem einzelnen bestimmt hatte; aber diesen Wunsch erfüllte ich ihnen nicht; ich sagte ihnen: »Vor allen Dingen müssen Sie aufmerksam der Vorlesung des Stückes zuhören, ohne sich um die Rolle zu bekümmern, die Sie zu lernen haben werden. Sobald Sie das Ganze kennen, werde ich Ihren Wunsch befriedigen.«

Ich wußte, daß faule oder gleichgültige Schauspieler sich für gewöhnlich nur um ihre eigene Rolle bekümmern und in den Geist des Ganzen nicht einzudringen suchen. Daher kommt es, daß oftmals ein Stück, das in den Einzelheiten gut gelernt ist, im Ganzen doch schlecht wiedergegeben wird.

Sie fügten sich ziemlich gutwillig meinem Wunsche, was die hohen Herrschaften von der Comédie Française jedenfalls nicht getan haben würden. Im Augenblick als ich die Vorlesung beginnen wollte, erschien der Herr Marchese von Grimaldi mit dem Bankier Belloni, der mir einen Besuch machen wollte. Es war mir sehr angenehm, daß sie bei dieser Leseprobe, die nur fünf Viertelstunden dauerte, anwesend waren. Nachdem ich die Schauspieler um ihr Urteil gefragt und aus den Lobsprüchen, die sie dem dramatischen Inhalt zollten, ersehen hatte, daß sie das Stück richtig verstanden hatten, befahl ich Costa, die Rollen auszuteilen; dies geschah. Nun aber waren der erste Schauspieler und die erste Schauspielerin unzufrieden; sie, weil ich ihr die Rolle der Lady Alton gegeben hatte; er, weil ich ihm die Rolle des Murray nicht gegeben hatte. Sie mußten sich jedoch meinem Willen fügen, übrigens erfreute ich alle Künstler, indem ich sie alle einlud, am übernächsten Tag bei mir zu Mittag zu speisen, nachdem wir die erste Probe mit den Rollen in der Hand abgehalten hätten.

Der Bankier Belloni lud mich für den nächsten Tag nebst meiner Dame zum Essen ein. Sie lehnte dies mit einer sehr höflichen Entschuldigung ab, und Herr von Grimaldi erklärte sich mit Vergnügen bereit, ihr statt meiner Gesellschaft zu leisten.

Zu meiner großen Überraschung sah ich bei Belloni den Betrüger Iwanoff, der, anstatt mich als Unbekannten zu behandeln, wie er es hätte tun sollen, auf mich zutrat, um mich zu umarmen. Ich wich zurück und machte ihm eine Verbeugung, die man vielleicht einem Gefühl der Ehrfurcht zuschreiben konnte, obgleich meine kalte und wenig zeremoniöse Miene einem guten Beobachter das Gegenteil verraten mußte. Er war gut gekleidet, sprach viel, obgleich in einem traurigen Ton, und machte ziemlich gute Bemerkungen über politische Angelegenheiten. Als im Laufe des Gesprächs die Rede auf den russischen Hof der Elisabeth Petrowna kam, sagte er kein Wort; aber er seufzte, wandte sich ab und tat, wie wenn er seine Tränen trockne. Beim Nachtisch fragte er mich, ob ich etwas Neues von Frau Morin gehört habe; wie wenn er mir die näheren Umstände ins Gedächtnis zurückrufen wollte, fügte er hinzu, wir hätten miteinander bei ihr gespeist. Ich antwortete ihm: »Meines Wissens befindet sie sich gut.« Sein Lakai, der ihn bei Tisch bediente, trug eine gelbe Livree mit roten Aufschlägen. Nach dem Essen fand er Gelegenheit, mir zu sagen, er habe sehr notwendig mit mir zu sprechen.

»Und ich, mein Herr, habe sehr notwendig alles zu vermeiden, was die Vermutung rechtfertigen würde, daß ich in irgendeiner Weise mit Ihnen im Einverständnis bin.«

»Sie können mir mit einem einzigen Wort hunderttausend Taler verschaffen, und ich werde Ihnen die Hälfte abgeben.«

Ich drehte ihm den Rücken und sah ihn in Genua nicht wieder.

In meinem Gasthof fand ich Herrn von Grimaldi damit beschäftigt, meiner Rosalie italienische Stunde zu geben.

«Ihre Freundin,« sagte er zu mir, »hat mich mit einem köstlichen Mahl bewirtet; die reizende Dame muß Sie glücklich machen.«

Der Marchese wußte sich als Ehrenmann zu beherrschen, aber er war in das junge Mädchen verliebt. Ich glaubte jedoch keinen Anlaß zu Befürchtungen zu haben. Bevor er fortging, lud sie ihn ein, am nächsten Tage zur Probe der Schottin zu kommen.

Als die Schauspieler kamen, sah ich bei ihnen einen jungen Mann, den ich nicht kannte; auf meine Erkundigung, wer er sei, antwortete Rossi mir, es sei der Souffleur.

»Keinen Souffleur, meine Herrschaften! Schicken Sie ihn fort.«

»Wir können ihn nicht entbehren.«

»Sie werden ihn entbehren! Ich selber werde seine Stelle versehen.«

Der Souffleur wurde fortgeschickt, aber die drei Schauspielerinnen erhoben darüber ein großes Geschrei. Sie sagten: »Selbst wenn wir unsere Rollen so gut auswendig wüßten wie das Vaterunser, werden wir ganz gewiß stecken bleiben, wenn der Souffleur nicht in seinem Loch ist.«

»Sehr wohl, meine Gnädige,« sagte ich zu der Künstlerin, die die Lindane spielen sollte, »ich werde selber Ihr Loch ausfüllen, aber ich werde Ihre Unterhosen sehen.«

»Das wäre wohl schwierig,« sagte der erste Schauspieler; »sie trägt keine.«

»Um so besser.«

»Davon wissen Sie gar nichts, mein Herr!« sagte sie zu ihrem Kollegen.

Dieser Wortwechsel brachte uns in fröhliche Stimmung, und Thalias Jünger versprachen mir schließlich, sie würden sich ohne den Souffleur behelfen. Ich war mit ihrer Vorlesung der Rollen sehr zufrieden, sie verlangten nur drei Tage von mir, um ihre Rollen auswendig zu lernen. Es trat jedoch ein Zwischenfall ein.

Am festgesetzten Tage kamen sie ohne die Schauspielerin, die die Lindane spielen sollte, und ohne den Schauspieler, der die Rolle des Murray übernommen hatte. Sie waren unpäßlich; indessen bürgte Rossi mir dafür, daß sie zur rechten Zeit auftreten würden. Ich nahm die Rolle Murrays und forderte Rosalie auf, die Lindane zu lesen.

»Ich lese nicht gut genug italienisch,« sagte sie leise zu mir, »und möchte nicht, daß die Schauspieler mich auslachen; aber Veronika wird es sehr gut machen.«

»Frage sie, ob sie die Rolle lesen will.«

Auf ihre Frage antwortete Veronika ihr, sie würde die Rolle auswendig hersagen.

»Um so besser!« rief ich. Ich lachte innerlich, indem ich mich an Solothurn erinnerte; denn ich sah voraus, daß ich durch diesen Zufall genötigt sein würde, an dieses junge Mädchen, mit dem ich in den vierzehn Tagen, die sie bei uns war, kein Wort gesprochen hatte, Schmeicheleien zu richten.

Ich hatte noch nicht einmal ordentlich ihr Gesicht angesehen, so sehr befürchtete ich, Rosaliens zärtliche Liebe zu beunruhigen; denn diese liebte ich mit jedem Tage mehr, da ich mit jedem Tage neue köstliche Eigenschaften an ihr entdeckte.

Es kam, wie ich befürchtet hatte. Als ich an die Stelle kam, wo ich Veronikas Hand ergreifen und ihr sagen mußte: Si, bella Lindana, debbo adorarvi, da klatschten alle Anwesenden Beifall, weil ich diese Worte in dem Ton aussprach, den die Rolle forderte; als ich jedoch nach Rosallen hinschielte, sah ich, wie sie unruhig wurde, und es tat mir leid, mich nicht mehr in acht genommen zu haben.

Veronikas Spiel setzte mich in Erstaunen; denn in dem Augenblick, wo ich ihr sagte, daß ich sie anbetete, errötete sie bis in das Weiße der Augen. Unmöglich konnte sie die Rolle der Verliebten besser spielen.

Wir setzten den Tag der Generalprobe fest, die im Theater stattfinden sollte, und die Schauspieler kündigten, zur Erregung der Neugier, die erste Vorstellung bereits acht Tage vorher in folgenden Worten an: »Wir werden die Schottin des Herrn von Voltaire, von einer unbekannten Feder übersetzt, aufführen und werden sie ohne Souffleur spielen.«

Es wäre ein vergebliches Unterfangen, wollte ich die Mühe schildern, die es mir machte, nach der Probe meine Rosalie zu beruhigen. Sie war untröstlich; ihre Tränen flössen stromweise, und sie sagte mir die rührendsten Worte, um mir, wie sie glaubte, Vorwürfe zu machen.

»Du bist in Veronika verliebt,« rief sie, »und hast dieses Stück nur übersetzt, um Gelegenheit zu erhalten, ihr deine Liebe zu erklären.«

Schließlich gelang es mir, ihr begreiflich zu machen, daß sie unrecht hatte, und ich hatte das Glück, sie durch die lebhaftesten und zärtlichsten Liebkosungen zu beruhigen. Am anderen Morgen bat sie mich wegen ihrer Schwachheit um Verzeihung, indem sie mir das Versprechen gab, mit Veronika in meiner Gegenwart und bei jeder Gelegenheit sich zu unterhalten; sie trieb den Heldenmut sogar noch weiter: sie war vor mir aufgestanden und schickte mir eine Tasse Kaffee durch Veronika, die darüber ebenso erstaunt war wie ich.

Rosalie hatte eine natürliche Anlage von Seelengröße, die sie der edelsten Entschließungen fähig machte; aber sie ließ sich, wie alle Frauen, von ihrem Gefühl, von ihren ersten Eindrücken leiten. Von jenem Augenblick an gab das entzückende Wesen mir kein einziges Zeichen von Eifersucht mehr; sie verdoppelte ihre Güte gegen ihre Kammerjungfer, die sehr geistvoll, gebildet und weltgewandt war, und in die ich mich verliebt haben würde, wäre mein Herz frei gewesen.

Am Tage der Vorstellung führte ich Rosalie in eine Loge; auf ihren besonderen Wunsch mußte Veronika sie begleiten. Herr von Grimaldi wich keinen Augenblick von ihrer Seite.

Unser Stück wurde bis in den Himmel erhoben. Das sehr große Theater war überfüllt von der besten Gesellschaft der Stadt. Die Künstler spielten ohne Souffleur und übertrafen sich selber; sie fanden lebhaften Beifall. Das Stück wurde vor gefüllten Häusern fünfmal nacheinander gespielt. Rossi bat mich, vielleicht in der Hoffnung, daß ich ihm noch ein Stück geben würde, um die Erlaubnis, meiner Dame einen prachtvollen Luchspelz anzubieten, der ihr viel Vergnügen machte.

Ich hätte alles darum gegeben, um meiner entzückenden Freundin den kleinsten Kummer zu sparen; und trotzdem brachte ich durch ein unüberlegtes Wort ihre Seele in Verwirrung. Ich würde mir dies nicht verziehen haben, wenn mich nicht die Vorsehung dadurch zum Werkzeug ihres Glücks gemacht hätte.

Eines Tages sagte sie zu mir: »Ich habe einigen Anlaß, mich für schwanger zu halten, mein lieber Freund, und der Gedanke entzückt mich aufs höchste, daß ich vielleicht das Glück haben werde, dir ein herziges Pfand meiner Liebe zu schenken.«

»Wenn es zu der und der Zeit kommt, so ist es von mir, und ich versichere dir, daß es mir teuer sein wird.«

»Und wenn es zwei oder drei Wochen früher käme, würdest du dessen nicht sicher sein?«

»Sicher, nein; aber ich würde es darum doch ebensosehr lieben: es wäre von dir, und ich würde es als mein Kind anerkennen.«

»Es kann nur von dir sein, dessen bin ich ganz gewiß. O mein Gott! Wie bin ich unglücklich! Nein, es ist nicht möglich, lieber Freund, daß ich von Petri empfangen habe! Er hat mich nur ein einziges Mal erkannt und noch dazu in sehr unvollkommener Weise, während wir doch, wie du weißt, so zärtlich miteinander gelebt haben!«

Sie weinte heiße Tränen.

»Beruhige dich doch, liebes Herz, ich beschwöre dich! Ja, du hast recht: es ist unmöglich! Du weißt, ich bete dich an, und ich zweifle wirklich nicht daran, daß du von mir schwanger bist und nur von mir allein. Ja, wenn ich das Glück habe, daß du mir ein Püppchen schenkst, das so hübsch ist wie du selber, sowird es natürlich von mir sein. Beruhige dich!«

»Ach wie könnte ich mich beruhigen, da ich jetzt die Gewißheit habe, daß du daran hast zweifeln können!«

Wir sprachen nicht weiter davon; aber ich sah sie oft traurig und nachdenklich trotz meiner zuvorkommenden Zärtlichkeit, trotz meinen beständigen Liebkosungen und jenen tausend Kleinigkeiten, die mehr als alle Worte die wahre Liebe kundtun. Wie oft habe ich mir bittere Vorwürfe gemacht, daß ich ihr meine dumme Mutmaßung mitgeteilt hatte!

Ein paar Tage später gab sie mir einen versiegelten Brief mit den Worten: »Diesen Brief hat der Lohndiener mir gegeben; er hat dazu einen Augenblick abgepaßt, wo er nicht von dir gesehen werden konnte. Ich fühle mich dadurch beleidigt, lieber Freund, und überlasse es dir, mich zu rächen.«

Ich ließ den Bedienten rufen.

»Von wem hast du diesen Brief erhalten?«

»Von einem jungen Mann, den ich nicht kenne, mein Herr. Er gab mir einen Taler und bat mich, ihm einen Gefallen zu tun und diesen Brief der gnädigen Frau zu übergeben, ohne daß Sie es sähen; er versprach mir noch zwei Taler, wenn ich ihm die Antwort nach den banchi brächte. Ich glaubte keinen Fehler zu begehen, denn es stand der gnädigen Frau ja stets frei, es Ihnen zu sagen.«

»Das ist richtig. Trotzdem entlasse ich Sie, weil Madame, die mir, wie Sie sehen, den Brief unentsiegelt übergeben hat, sich durch Ihr Verhalten beleidigt fühlt.«

Ich rief Leduc, um ihm seinen Lohn auszuzahlen, und die Sache war erledigt. Ich öffnete den Brief; er war von Petri. Rosalie ging hinaus, denn sie wollte den Inhalt nicht kennen lernen. Der Brief lautete folgendermaßen:

»Ich habe Sie, meine teure Rosalie, in dem Augenblick gesehen, als Sie aus einem Tragstuhl stiegen, um ins Theater zu gehen; Ihr Kavalier war der Herr Marchese Grimaldi, mein Pate. Ich habe Sie nicht hintergangen; denn ich beabsichtigte stets, im nächsten Frühjahr nach Marseille zu reisen und Sie meinem Versprechen gemäß zu heiraten. Ich liebe Sie immer noch, und wenn Sie noch meine gute Rosalie sind, so bin ich bereit, Sie hier im Kreise aller meiner Verwandten zu heiraten. Wenn Sie einen Fehltritt begangen haben, so verspreche ich Ihnen, niemals ein Wort zu Ihnen darüber zu sagen, denn ich fühle, daß ich leider schuld daran bin. Ich flehe Sie an, sagen Sie mir, ob es Ihnen recht ist, daß ich Herrn von Grimaldi meine Absichten mitteile; ich hoffe, er wird die Güte haben, Ihnen für mich zu bürgen. Ich bin bereit, ohne alle Umstände Sie aus den Händen des Herrn zu empfangen, mit dem Sie zusammenleben – falls Sie nicht etwa mit ihm verheiratet sind. Wenn Sie frei sind, so bedenken Sie, daß Sie Ihre Ehre wiedererlangen, sobald Ihr Verführer Ihr Gatte wird.«

Dieser Brief kommt von einem Ehrenmann, der Rosalien verdient, sagte ich zu mir; ich aber wäre kein Ehrenmann, wenn ich sie ihm verweigerte, es wäre denn, daß ich sie auf der Stelle heiratete. Aber hierüber muß Rosalie entscheiden.

Ich rief sie, gab ihr den Brief und bat sie, diesen aufmerksam zu lesen. Sie gehorchte, gab mir dann den Brief zurück und fragte mich, ob ich ihr riete, Petris Antrag anzunehmen.

»Wenn du ihn annimmst, liebe Rosalie, wird es für mich ein tödlicher Schlag sein; aber wenn ich dich nicht abtreten will, so erfordert meine Ehre, daß ich dich heirate, und dazu bin ich vollkommen bereit.«

Bei diesen Worten warf das anbetungswürdige Mädchen sich in meine Arme und sagte mit dem Ton echter Liebe: »Ich liebe nur dich und kann nur dich lieben, mein zärtlicher Freund; aber es ist nicht wahr, daß deine Ehre von dir verlangt, mich zu heiraten. Unser Bund ist ein Herzensbund, er ist gegenseitig, und dies genügt zu meinem Glück.«

»Teure Rosalie, ich bete dich an, aber ich bitte dich zu glauben, daß du kein besserer Richter meiner Ehre sein kannst als ich selber. Wenn Petri ein wohlhabender Mann ist, der dich glücklich machen kann, so muß ich dir unbedingt raten, entweder seine Hand anzunehmen oder mich zu heiraten.«

»Keins von beiden! Uns drängt ja nichts. Wenn du mich liebst, bin ich glücklich; denn ich liebe nur dich. Ich werde auf diesen Brief nicht antworten, und ich will von Petri nichts mehr hören.«

»Verlaß dich darauf, daß ich niemals von ihm sprechen werde; aber ich sehe voraus, daß der Marchese sich in die Sache einmischen wird.«

»Daran zweifle auch ich nicht; aber verlaß dich darauf, er wird mir nicht zum zweitenmal davon sprechen.«

Nach diesem Übereinkommen, das ehrlicher gemeint war als jemals ein zwischen Potentaten vereinbartes, beschloß ich Genua zu verlassen, sobald ich gewisse Briefe erhalten hätte, die ich für Florenz und Rom erwartete. Unterdessen lebte ich mit meiner teuren Rosalie im süßen Frieden glücklicher Liebe; sie war nicht die Spur mehr eifersüchtig, und Herr von Grimaldi war der einzige Zeuge unseres Glückes.

Als ich fünf oder sechs Tage darauf den Marchese in seinem Kasino in Sampierdarena besuchte, empfing er mich mit den Worten, er sei sehr erfreut, mich zu sehen, denn er habe mit mir über eine Angelegenheit zu sprechen, die mich ganz besonders interessieren müsse. Ich erriet, was für eine Angelegenheit dies wäre, und da ich wußte, was ich ihm zu antworten hatte, so bat ich ihn, sich näher erklären zu wollen. Er sagte mir folgendes:

»Ein braver hiesiger Kaufmann kam vor zwei Tagen zu mir und stellte mir seinen Neffen namens Petri vor. Er sagte mir, der junge Mensch sei mein Pate, ein Umstand, dessen ich mich leicht erinnerte, und erbat meine Protektion für ihn. Ich antwortete ihm, in meiner Eigenschaft als Pate sei ich ihm meine Protektion schuldig; er könne also auf diese zählen, soweit es mir möglich sei, ihm nützen zu können. Mein Pate blieb nun mit mir allein und sagte mir, er habe vor Ihnen Ihre Geliebte in Marseille kennen gelernt; er habe ihr versprochen, sie im nächsten Frühjahr zu heiraten, habe sie dann mit mir wiedergesehen, sei ihr gefolgt und habe erfahren, daß sie mit Ihnen zusammenlebt. Man habe ihm gesagt, es sei Ihre Frau; er habe dieses nicht geglaubt, sondern ihr einen Brief geschrieben, der in Ihre Hände gefallen ist. Er teilte ihr in diesem Brief mit, daß er bereit sei, sie zu heiraten; aber er habe keine Antwort erhalten.

Der junge Mann konnte sich nicht entschließen, eine Hoffnung aufzugeben, die ihn glücklich machte; daher beschloß er, sich meiner Vermittlung zu bedienen, um zu erfahren, ob Rosalie seinen Antrag annehme. Er hoffte, indem er mir seine günstige finanzielle Lage bekannt gab, ich würde Ihnen dafür bürgen, daß er in den Verhältnissen lebt, um eine Frau glücklich machen zu können. Ich habe ihm geantwortet, daß ich die Ehre habe, Sie zu kennen, und daß ich mit Ihnen selber darüber sprechen würde; das Ergebnis unserer Unterhaltung würde ich ihm mitteilen.

Ich beschloß, bevor ich mit Ihnen darüber spräche, mich nach den Verhältnissen des jungen Mannes zu erkundigen, und ich habe die Gewißheit erlangt, daß er bereits ein beträchtliches Kapital besitzt. Sein Lebenswandel und sein Ruf sind ausgezeichnet, und er erfreut sich am hiesigen Platze eines soliden Kredits. Außerdem ist er der einzige Erbe seines Oheims, der für einen sehr wohlhabenden Mann gilt. Sagen Sie mir, mein lieber Herr Casanova, was ich ihm antworten soll.«

»Antworten Sie ihm, daß Rosalie ihm danke und ihn bitte, sie zu vergessen. Wie Sie wissen, reisen wir in drei oder vier Tagen ab. Rosalie liebt mich ebenso innig wie ich sie, und ich selber bin bereit, sie zu heiraten, sobald sie es wünscht.«

»Die Antwort ist bestimmt, aber ich glaube, einem Menschen wie Ihnen muß die Freiheit viel teurer sein als der Besitz einer Frau, mag sie auch noch so schön sein, an die man durch unlösbare Bande gefesselt ist. Erlauben Sie mir, daß ich selber darüber mit Rosalie spreche?«

»Sie bedürfen meiner Erlaubnis nicht. Sprechen Sie mit ihr; aber wohlverstanden, es darf nicht in meinem Auftrage geschehen; denn ich bete sie an und will ihr natürlich keinen Anlaß geben, sich einzubilden, daß jemals ein Wunsch, mich von ihr zu trennen, in mir hat aufsteigen können.«

»Wenn es Ihnen nicht lieb ist, daß ich mich in diese Angelegenheit mische, so sagen Sie es mir frei heraus.«

»Im Gegenteil; es freut mich, wenn Sie bestätigen können, daß ich nicht der Tyrann einer Frau bin, die ich abgöttisch verehre.«

»Ich werde heute abend mit ihr darüber sprechen.«

Um dem Marchese Zeit zu lassen, mit meiner Rosalie ganz ungestört zu sprechen, kam ich erst zur Zeit des Abendessens nach Hause. Der edle Genuese speiste mit uns, und die Unterhaltung drehte sich um tausend gleichgültige Dinge. Als er fort war, erstattete meine Freundin mir Bericht über ihre Unterhaltung. Er hatte ihr ungefähr dasselbe gesagt wie mir, und ihre Antworten hatten genau den meinigen entsprochen; nur hatte sie ihn außerdem noch gebeten, er möchte nicht mehr von seinem Paten mit ihr sprechen; dies hatte der Marchese ihr zugesagt.

Wir glaubten, die Sache sei damit abgetan, und beschäftigten uns mit den Vorbereitungen für unsere Reise. Aber drei oder vier Tage später, als wir bereits bestimmt annahmen, er dächte nicht mehr daran, lud der Marchese uns ein, in Sampierdarena, wo meine Rosalie noch nie gewesen war, bei ihm zu speisen.

»Ich wünsche, Madame, daß Sie vor der Abreise aus meinem schönen Vaterlande meinen herrlichen Garten sehen,« sagte Herr von Grimaldi zu ihr; »dieses wird für mich eine angenehme Erinnerung mehr sein.«

Am nächsten Tage gegen Mittag fuhren wir hin. Wir fanden bei ihm einen alten Herrn und eine alte Dame, denen er uns vorstellte. Er nannte meinen Namen und bezeichnete das Fräulein als eine Angehörige von mir.

Wir machten einen Spaziergang im Garten, und das alte Ehepaar nahm Rosalie in die Mitte und überhäufte sie mit Höflichkeiten und Komplimenten. Heiter und glücklich antwortete sie ihnen italienisch und entzückte sie ebensosehr durch ihren Geist wie durch ihre Anmut, womit sie allerlei Sprachschnitzer machte.

Man meldete uns, daß das Mittagessen bereit sei; wir begaben uns in den Speisesaal, und ich sah zu meinem großen Erstaunen sechs Gedecke. Ich bedurfte keines allzu großen Scharfsinns, um zu erraten, was für einen Streich der Marchese mir spielte; aber es war zu spät. Wir setzten uns zu Tisch, und im selben Augenblick trat ein junger Mann herein.

»Sie haben ein wenig auf sich warten lassen,« sagte der Marchese zu ihm. Ohne die pflichtgemäße Entschuldigung des jungen Mannes abzuwarten, stellte er ihn mir hierauf schnell als seinen Paten, Herrn Petri, Neffen der beiden anderen Gäste vor; er ließ ihn zu seiner Linken Platz nehmen, während Rosalie zu seiner Rechten saß. Ich saß ihr gegenüber, und als ich sie totenbleich werden sah, stieg mir das Blut heiß ins Gesicht; ich kochte vor Zorn. Das Vorgehen dieses Miniatur-Autokraten erschien mir bitter; diese Überraschung war für meine Rosalie und für mich ein blutiger Schimpf, den ich mit dem Blute des Frechen, der ihn mir angetan hatte, abwaschen mußte. Ich war in Versuchung, ihn bei Tisch zu erdolchen; aber trotz meiner Aufregung begriff ich, daß ich mich beherrschen und meine Wut hinunterschlucken mußte. Was konnte ich tun? Rosalie unter den Arm nehmen und mit ihr hinausgehen? Ich dachte daran; aber ich sah voraus, daß ein solcher Schritt für sie wie für mich unangenehme Folgen haben konnte, und hatte daher nicht den Mut dazu.

Niemals habe ich bei Tisch eine so entsetzliche Stunde verbracht, wie bei diesem bösen Diner. Rosalie und ich aßen keinen Bissen, und der Marchese, der alle Gäste bediente, war so vorsichtig, scheinbar nicht zu bemerken, daß die Teller unberührt fortgenommen wurden. Während der ganzen Mahlzeit sprach er nur mit Petri und dessen Oheim, indem er ihnen Gelegenheit gab, mit ihren Geschäften zu prahlen. Beim Nachtisch sagte der Marchese dem jungen Mann, er könne seinen Geschäften nachgehen; dieser küßte ihm die Hand und entfernte sich nach einer Verbeugung, die niemand von den Anwesenden erwiderte.

Petri war ein junger Mann von ungefähr vierundzwanzig Jahren, von mittlerer Größe und mit gewöhnlichem, aber freundlichem und ehrlichem Gesicht; er war sehr ehrerbietig; was er sagte, war nicht übermäßig geistreich – denn um Geist zeigen zu können, muß man frei sein – aber er gab sehr vernünftige Antworten. Alles in allem fand ich ihn Rosaliens nicht unwürdig, aber mir schauderte bei dem Gedanken, daß ich sie verlieren mußte, wenn ich einwilligte, daß sie seine Frau würde. Als er fort war, machte der Marchese dem Oheim Vorwürfe, daß er ihm den jungen Mann, dem er in seinem Geschäft sehr hätte nützen können, niemals vorgestellt hätte. »Aber, was nicht geschehen ist,« fügte er in bedeutungsvollem Ton hinzu, »kann noch geschehen, denn ich wünsche zu seinem Glück beizutragen.« Diese Bemerkung war ohne Zweifel für den Onkel und die Tante das Stichwort; denn nun begannen sie ihren Neffen auf hundertfältige Art zu loben; schließlich sagten sie, da sie keine Kinder hätten, so wären sie entzückt, daß ihr künftiger Erbe Petri das Glück hätte, der hohen Protektion Seiner Exzellenz für würdig erachtet zu werden: »Wir sehnen uns danach, das junge Mädchen aus Marseille zu sehen, das er heiraten will; wir werden sie wie eine inniggeliebte Tochter in unsere Arme schließen.«

Rosalie flüsterte mir leise zu, sie könne es nicht mehr aushalten, und bat mich, sie nach Hause zu bringen. Ich stand auf; wir grüßten die Gesellschaft mit kalter Würde und entfernten uns. Der Marchese war offenbar aus der Fassung gebracht. Er begleitete uns bis an die Tür, und da er nicht wußte, was er sagen sollte, so stammelte er einige Komplimente und sagte schließlich Rosalien, er würde nicht die Ehre haben, sie am Abend zu sehen, doch würde er nicht verfehlen, ihr am nächsten Tage seine Aufwartung zu machen. Kaum waren wir fort und miteinander allein, so erleichterte sich unsere Brust; wir atmeten leichter und plauderten, um den schrecklichen Alp zu verscheuchen, der auf unseren Seelen lastete.

Rosalie war wie ich der Meinung, daß der Marchese uns einen abscheulichen Streich gespielt hätte. Sie sagte mir, ich müßte ihm ein Briefchen schreiben und ihn bitten, er möchte sich nicht mehr die Mühe machen, uns zu besuchen.

»Ich werde,« antwortete ich ihr, »eine Gelegenheit finden, uns zu rächen; aber ich glaube nicht, daß ich gut daran täte, ihm zu schreiben. Beschleunigen wir unsere Abreise und empfangen wir ihn morgen mit einer Zurückhaltung und kalten Höflichkeit, die er als Mißtrauen und Entrüstung verstehen muß. Vor allen Dingen dürfen wir überhaupt nicht antworten, wenn er etwas in bezug auf seinen Paten sagt.«

»Wenn Petri mich liebt, so bedaure ich ihn; denn ich halte ihn für einen anständigen Menschen, und ich kann es ihm nicht übelnehmen, daß er an diesem Mittagessen teilgenommen hat; denn vielleicht hat er nicht gewußt, daß dieses mich beleidigen mußte. Aber bei dem bloßen Gedanken daran schaudere ich, mein Freund! Ich glaubte, sterben zu müssen, als unsere Blicke sich begegneten! Während der ganzen Mahlzeit hat er unmöglich meine Augen sehen können; denn ich hielt sie fast immer beinahe geschlossen, übrigens konnte er mich überhaupt wohl kaum sehen. Hat er mich angeblickt, während er sprach?«

»Nein, er hat nur mich angesehen. Übrigens beklage auch ich ihn, denn er sieht aus wie ein anständiger Junge.«

»Das Unglück ist nun einmal geschehen, und ich hoffe, ich werde guten Appetit zum Abendessen haben. Hast du darauf geachtet, was die Tante sagte? Ganz gewiß war sie mit im Komplott. Sie glaubte mich zu verführen, indem sie sagte, sie wolle mich wie eine eigene Tochter behandeln. Übrigens ist auch sie allem Anschein nach eine sehr gute Frau.«

Wir speisten zu Abend, und eine glückliche Nacht machte uns geneigt, den uns vom Marchese angetanen Schimpf zu vergessen. Als wir erwachten, scherzten wir darüber.

Am Abend besuchte der Marchese uns. Mit verwirrter und verlegener Miene trat er auf mich zu und sagte, er fühle, wie sehr er unrecht getan habe, mich auf solche Weise zu verraten; er bitte mich deshalb um Verzeihung, und wenn es möglich sei, sein Versehen wieder gutzumachen, so sei er bereit, mir jede gewünschte Genugtuung zu geben.

Rosalie ließ mir keine Zeit, ihn, zu antworten, sondern sagte: »Wenn Sie fühlen, daß Sie uns beschimpft haben, so halten wir uns für genügend gerächt und sind demgemäß zufriedengestellt. Aber von jetzt an, mein Herr, werden wir vor Ihnen auf der Hut sein, obgleich dies ziemlich überflüssig ist, denn unsere Abreise steht unmittelbar bevor.«

Nachdem sie ihm diese stolze Antwort gegeben hatte, machte sie ihm eine tiefe Verbeugung und ging in ihr Zimmer. Als Herr von Grimaldi mit mir allein war, hielt er folgende Ansprache an mich:

»Ich empfinde eine unendliche Teilnahme für das Glück Ihrer Geliebten. Da ich nun aus Erfahrung weiß, daß sie unmöglich lange Zeit in ihrem jetzigen ungewissen und zweifelhaften Zustande glücklich sein kann, da ich im Gegenteil überzeugt bin, daß sie als Gattin mit einem so liebenswürdigen und wohlerzogenen jungen Mann, wie mein Pate es ist, unfehlbar glücklich werden muß, so habe ich mich entschlossen, Sie beide mit ihm bekannt zu machen; denn selbst Rosalie kannte ihn nur sehr unvollkommen. Um diesen Zweck zu erreichen, habe ich mich eines unlauteren Mittels bedient, das gebe ich zu; aber ich bin überzeugt, Sie werden um der guten Absicht willen mir dies verzeihen. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Reise und wünsche, daß Sie recht lange mit dem reizenden Mädchen glücklich sein mögen. Ich bitte Sie, mir Nachrichten von Ihnen zu geben und auf meine Freundschaft zu rechnen. Mein Einfluß steht Ihnen zur Verfügung, und ich werde bei jeder Gelegenheit für Sie tun, was in meinen Kräften steht. Bevor wir uns trennen, muß ich Ihnen nur noch eins anvertrauen, damit Sie sich einen richtigen Begriff von dem ausgezeichneten Charakter des Herrn Petri machen können, der, wie er sagt, nur durch Rosalie glücklich werden kann. Er hat mir die Mitteilung, die Sie vernehmen werden, erst dann gemacht, als er sah, daß ich mich durchaus weigerte, einen Brief zu bestellen, den er an Rosalien geschrieben hatte, als er daran verzweifelte, ein anderes Mittel zu finden, um sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Nachdem er mir versichert hatte, daß Rosalie ihn geliebt habe und daher keine Abneigung gegen ihn haben könne, fügte er hinzu: wenn sie sich nur deshalb nicht entschließen könnte, ihm ihre Hand zu reichen, weil sie vielleicht fürchtete, schwanger zu sein, so wäre er bereit, die Hochzeit bis nach ihrer Niederkunft aufzuschieben, vorausgesetzt, daß sie, in Genua an einem nur ihm bekannten Ort sich aufhalten wollte, wo kein Mensch sie sehen würde. Er ist bereit, ihren ganzen Unterhalt zu bestreiten. Für diesen Vorschlag führt er einen sehr vernünftigen Grund an, indem er sagte: ›Eine vorzeitige Entbindung nach der Hochzeit würde ihrer und meiner Ehre Abbruch tun und dazu auch der Neigung meiner Verwandten für unsere Kinder; ich will aber, daß Rosalie vollkommen glücklich ist, wenn sie meine Frau wird.‹«

Bei diesen Worten trat Rosalie ein, die, ohne Zweifel neugierig wie alle Frauen, an der Tür gehorcht hatte, und sprach zu meiner größten Bestürzung folgende Worte: »Wenn Herr Petri Ihnen nicht gesagt hat, daß ich möglicherweise von ihm schwanger sein könnte, so ist das sehr anständig von ihm; aber ich sage es Ihnen hiermit selber. Der Fall ist allerdings kaum anzunehmen, liegt aber doch im Bereich der Möglichkeit. Sagen Sie ihm, mein Herr, ich werde bis nach meiner Niederkunft in Genua bleiben, wenn ich schwanger bin – was ich nicht weiß – oder bis ich die Gewißheit erlangt habe, daß ich es nicht bin. Sagen Sie ihm, ich werde alsdann zu meinem Freunde reisen, wo immer er sein mag. Wenn ich niederkomme, werde ich aus dem Zeitpunkte die Wahrheit erkennen. Kann ich nicht daran zweifeln, daß das Kind Herrn Petri gehört, so werde ich bereit sein, ihn zu heiraten; wenn er sich aber selber überzeugen kann, daß das Kind nicht von ihm sein kann, so wird er hoffentlich so vernünftig sein, nicht mehr an mich zu denken. Wollen Sie ihm bitte ferner sagen, wegen der Kosten meines Unterhaltes und wegen der Wahl eines Zufluchtsortes für mich möge er sich keine Mühe geben.«

Ich war wie versteinert, denn ich sah, welche Frucht jetzt meine verhängnisvolle Unbesonnenheit trug, und dieser Gedanke zerriß mir das Herz. Der Marchese fragte mich, ob ich ihm Vollmacht gäbe, diesen Auftrag zu übernehmen, und ich antwortete ihm, ich könnte keinen anderen Willen haben als den meiner Freundin und bäte ihn daher, ihrer Entscheidung zu folgen. Er entfernte sich sehr zufrieden, denn er sah nunmehr, daß die Angelegenheit, die ihm so sehr am Herzen lag, nach seinem Wunsche gehen würde, sobald er in aller Gemächlichkeit auf Rosalie Einfluß üben könnte. Die Abwesenden haben immer unrecht.

»Du willst mich also verlassen, Rosalie?« fragte ich sie, als wir allein waren.

»Ja, mein teurer Freund, aber es wird nicht für lange sein.«

»Ich sehe voraus, wir werden uns niemals wiedersehen.«

»Warum nicht, liebes Herz, wenn ich auf deine Beständigkeit zählen kann? Höre mich an, mein Freund: meine und deine Ehre gebieten mir, wenn ich schwanger bin, Herrn Petri die Gewißheit zu geben, daß ich es nicht von ihm bin, und zugleich dir die Gewißheit zu geben, daß ich ein Kind von dir trage.«

»Ich werde niemals daran zweifeln, liebe Rosalie.«

»Du hast einmal daran gezweifelt, lieber Freund, und das genügt. Unsere Trennung wird mir bittere Tränen kosten, aber sie ist notwendig für mein Gewissen und für mein künftiges Glück. Ich hoffe, du wirst mir schreiben, und nach meiner Niederkunft mußt du mir angeben, auf welche Weise ich wieder zu dir kommen kann. Wenn ich nicht schwanger bin, kann unsere Wiedervereinigung spätestens in ein paar Monaten stattfinden.«

»So schmerzlich mir dein Entschluß auch ist, ich muß mich ihm unterwerfen; denn ich habe mir vorgenommen, dir niemals zu widersprechen. Ich glaube, du mußt dich nun in ein Kloster zurückziehen, und da sehe ich nur den Marchese, der dir einen solchen Zufluchtsort verschaffen und dich dort wie ein Vater beschützen könnte. Soll ich mit ihm darüber sprechen? Für deine Bedürfnisse werde ich dir eine genügende Summe zurücklassen.«

»Die Summe wird nicht groß sein. Herrn von Grimaldi gebietet schon seine Ehre, ein Asyl für mich ausfindig zu machen; ich glaube nicht, daß du nötig hast, mit ihm darüber zu sprechen.«

Sie dachte vollkommen richtig, und ich konnte nicht umhin, den natürlichen Takt dieses erstaunlichen jungen Mädchens zu bewundern.

Am nächsten Tage erfuhr ich, daß der angebliche Iwanoff entflohen war. Eine Viertelstunde vor Ankunft der Sbirren, die ihn auf Verlangen eines Bankiers ins Gefängnis führen sollten, hatte er sich zu Fuß davongemacht. Der Bankier hatte entdeckt, daß ein ihm vorgelegter Kreditbrief falsch war; da er aber alle seine Sachen zurückgelassen hatte, so kam der Geschäftsmann mit einem geringen Geldverlust davon.

Am folgenden Tage berichtete der Marchese Rosalien, sein Pate habe gegen den Plan nichts einzuwenden gehabt. Er hoffe, sie werde sich entschließen, nach ihrer Niederkunft seine Frau zu werden, selbst wenn das Kind nicht von ihm sei.

»Dieses zu hoffen, steht bei ihm,« sagte Rosalie lächelnd.

»Er hofft ferner. Sie werden ihm gestatten, zuweilen die Ehre zu haben, daß er Ihnen seine Aufwartung machen darf. Ich habe mit der Oberin des Klosters ** gesprochen, die eine weitläufige Verwandte von mir ist. Sie werden zwei Zimmer erhalten, und eine sehr anständige Frau wird Ihnen Gesellschaft leisten. Sie bedienen und nötigenfalls bei der Entbindung helfen. Ich habe den monatlichen Preis Ihres Kostgeldes vereinbart. Jeden Morgen werde ich Ihnen einen vertrauten Mann schicken, der sich mit Ihrer Dienerin ins Benehmen setzen und mir Ihre Aufträge bringen wird. Auch werde ich Ihnen zuweilen einen Besuch am Sprechgitter machen, wenn Sie mir dies gestatten.«

Ich mußte dem Marchese meinen Dank aussprechen – eine traurige Notwendigkeit, die jedoch durch die Schicklichkeit geboten war. Ich sagte: »Ihnen, Herr Marchese, vertraue ich meine Rosalie an, und ich bin überzeugt, ich gebe sie in zuverlässige Hände. Ich werde abreisen, sobald sie sich allein ins Kloster begeben hat; ich bitte Sie, ihr einen Brief für die Oberin mitzugeben.«

»Ich werde diesen sofort schreiben,« sagte er.

Da Rosalie ihm schon vorher gesagt hatte, sie wolle selber alle Kosten ihres Unterhalts bestreiten, gab er ihr die von ihm getroffene schriftliche Vereinbarung.

Rosalie sagte zu ihm: »Ich bin entschlossen, mich schon morgen einzusperren, und ich werde mich sehr freuen, wenn ich Sie den Tag darauf einen Augenblick sehen kann.«

»Ich werde kommen,« antwortete der Marchese, »und Sie können versichert sein, daß ich nichts außer acht lassen werde, was Ihnen Ihre Einsamkeit angenehm machen kann.«

Wir verbrachten die traurigste Nacht. Kaum unterbrach die Liebe unsere endlosen Klagen und gegenseitigen Tröstungen. Wir schworen uns, stets nur einander zu gehören, und unsere Schwüre waren aufrichtig, wie es stets die Schwüre zweier Herzen sind, die sich leidenschaftlich lieben; aber diese Schwüre müssen vom Schicksal bestätigt werden, das kein Sterblicher kennen kann.

Mit geröteten, tränenschweren Augen war Rosalie den ganzen Vormittag damit beschäftigt, ihre Sachen zu packen. Veronika, die ihr dabei half, weinte ebenfalls; ich sah sie nicht an, weil ich böse auf mich selber war, daß ich sie hübsch fand. Rosalie wollte durchaus nur zweihundert Zechinen annehmen; sie sagte mir, wenn sie Geld brauchte, würde es mir nicht an Mitteln fehlen, ihr welches zu schicken. Nachdem sie Veronika gebeten hatte, mich während der zwei oder drei Tage, die ich noch in Genua zubringen sollte, aufmerksam zu bedienen, machte sie mir eine stumme Verbeugung und ging. Costa brachte sie bis an den Tragestuhl. Zwei Stunden darauf holte ein Bedienter des Marchese ihre Sachen ab, und ich blieb traurig und niedergeschlagen allein, bis der Herr Marchese kam und sich bei mir zum Abendessen einlud. Er riet mir, ich möchte Veronika einladen, uns Gesellschaft zu leisten. »Sie ist ein verdienstvolles Mädchen,« sagte er mir, »das Sie noch nicht kennen; es wird Ihnen aber sehr angenehm sein, sie besser kennen zu lernen.« Obgleich ich ein bißchen überrascht war, so dachte ich doch nicht weiter über die hinterlistigen Absichten des schlauen Genuesen nach, sondern ging zu Veronika und bat sie, uns dieses Vergnügen zu machen. Sie nahm meine Einladung höflich an, indem sie mir sagte, sie fühle den ganzen Wert der Ehre, die ich ihr erweise.

Ich hätte der dümmste Tölpel sein müssen, wenn ich nicht klar erkannt hätte, daß der schlaue Marchese seinen fein ausgesonnenen Plan glücklich durchgesetzt und mich wie einen richtigen Anfänger an der Nase geführt hatte. Obgleich ich mit gutem Grunde hoffen durfte, meine Rosalie wiederzuerhalten, konnte ich nicht daran zweifeln, daß der Marchese alle Hilfsmittel seiner Klugheit aufbieten würde, um sie zu verführen, und ich hatte allen Anlaß zu der Befürchtung, daß ihm dies gelingen würde. Ich befand mich jedoch in der Notwendigkeit, meine Gefühle zu verbergen und ihn gewähren zu lassen.

Herr von Grimaldi war etwa sechzig Jahre alt; er war Epikureer in der vollsten Bedeutung des Wortes, großer Spieler, reich, beredt, ein bedeutender Politiker, hochgeachtet in seinem Vaterlande; er besaß eine große Menschenkenntnis und kannte ganz besonders das Herz der Frauen. Er hatte viel in Venedig gelebt, um dort seiner Freiheit und der Freuden des Lebens zu genießen. Er war niemals verheiratet gewesen; denn er sagte, er kenne die Frauen zu gut: sie wollen entweder Sklavinnen oder Tyranninnen sein; er aber wolle niemanden tyrannisieren, sich aber auch von keinem Menschen etwas befehlen lassen. Er machte es möglich, nach dem von ihm geliebten Venedig zurückkehren zu dürfen, obgleich Genua demjenigen Patrizier, der einmal die Dogenwürde bekleidet hat, den Boden des Vaterlandes zu verlassen verbietet. Obgleich er mich mit freundschaftlicher Zuvorkommenheit überhäufte, wußte er eine überlegene Miene zu bewahren, welche großen Eindruck auf mich machte. Ohne Zweifel war er sich dieser Überlegenheit bewußt; denn nur diese konnte ihm den kecken Gedanken eingeben, mich mit Petri an seiner Tafel zusammenzubringen. Ich fühlte, daß er mich angeführt hatte, und hielt mich für verpflichtet, ihn zu nötigen, daß er mich achtete; deshalb benahm ich mich so, wie ich es tat. Ein Gefühl der Dankbarkeit veranlaßte ihn, mir den Weg zu der Eroberung Veronikas zu ebnen, die er für sehr geeignet hielt, mich über Rosaliens Verlust zu trösten.

Bei Tisch nahm ich fast gar nicht an der Unterhaltung teil, aber der Marchese gab Veronika Gelegenheit, ihre Ansichten zu äußern, und sie glänzte. Ich konnte leicht sehen, daß sie mehr Geist und Kenntnisse besaß als Rosalie; aber in meiner damaligen Stimmung war dies gerade das Mittel, mir zu mißfallen. Herr von Grimaldi sah mit Bedauern meine Traurigkeit und zwang mich gewissermaßen, mich an der Unterhaltung zu beteiligen. Als er mir freundschaftlich meine Schweigsamkeit vorwarf, sagte Veronika mit einem anmutigen Lächeln, ich hätte Grund zu schweigen, nachdem sie meine ihr gemachte Liebeserklärung so übel aufgenommen hätte. Sehr erstaunt sagte ich zu ihr, ich könnte mich nicht erinnern, sie geliebt, und noch weniger, ihr dies gesagt zu haben; aber ich mußte lachen, als sie mit einem schlauen Lächeln mir sagte, an jenem Tage habe sie Lindane geheißen. Ich antwortete ihr: »Das konnte mir nur beim Komödiespielen passieren; denn ein Mann, der eine Liebeserklärung in Worten macht, ist ein Dummkopf. Ein geistvoller Mann gibt seine Liebe durch Handlungen kund.«

»Das ist freilich wahr; indessen wurde die gnädige Frau bald beunruhigt.«

»Durchaus nicht, Veronika; sie hatte Sie gern.«

»Das weiß ich; trotzdem aber habe ich sie eifersüchtig gesehen.«

»Wenn sie das war, so hatte sie sehr unrecht.«

Dieses Gespräch war für mich sehr wenig erheiternd, um so mehr aber für den Marchese. Er sagte mir beim Abschied, er würde am nächsten Tage Rosalien seine Aufwartung machen, und wenn er am nächsten Abend bei mir essen dürfte, würde er mir Nachrichten von ihr bringen. Natürlich antwortete ich ihm, er sei willkommen.

Veronika begleitete mich in mein Zimmer und bat mich, ich möchte mir von meinem Bedienten aufwarten lassen; denn da die gnädige Frau nicht mehr da wäre, könnte man sich eine ungünstige Meinung von ihr bilden.

»Sie haben recht, Fräulein; haben Sie die Güte, mir Leduc zu schicken.«

Am nächsten Tage erhielt ich einen Brief aus Genf. Er war von meinem wollüstigen Freund Syndikus, der mir schrieb, er habe in meinem Auftrage Herrn von Voltaire die Übersetzung der »Schottin« und den sehr höflichen Brief überreicht, worin ich ihn um Verzeihung bat, daß ich mir die Freiheit genommen hätte, seine schöne französische Prosa ins Italienische zu travestieren. Voltaire sagte mir klar und deutlich, er habe meine Übersetzung schlecht gefunden. Es war eine Unhöflichkeit von Voltaire, auf meinen Brief nicht zu antworten, indem er mir den an meiner Übersetzung getadelten Fehler jedenfalls nicht nachweisen konnte; meine Eitelkeit wurde hierdurch so tief verletzt, daß ich ein Todfeind des großen Mannes wurde. Ich habe ihn infolgedessen in allen späteren von mir veröffentlichten Werken sehr scharf kritisiert; ich glaubte mich dadurch zu rächen. Die Leidenschaft verblendete mich; heute fühle ich, daß diese schwachen Stiche nur mir selber schaden können, wenn meine Schriften überhaupt jemals an ihre Adresse gelangen. Die Nachwelt wird mich den Zoilussen zurechnen, die ihre eigene Ohnmacht gegen den großen Geist entfesselte, dem die Zivilisation und das Glück der Menschheit Riesenfortschritte verdankt, und dem die Freude, die Freiheit und die Vernunft Altäre errichten sollten. Der einzige Vorwurf, den man dem Manne machen kann, sind seine Ausfälle gegen die Religion. Wäre er ein weiser Philosoph gewesen, so hätte er über dieses Thema niemals gesprochen; denn selbst angenommen, alles, was er gesagt hat, wäre wahr gewesen, so mußte er doch wissen, daß die Religion für die Moral der Völker notwendig ist und daß das Glück der Nationen von der Moral der Völker abhängt.

Siebentes Kapitel


Ich verliebe mich in Veronika. – Ihre Schwester. – List gegen List. – Mein Sieg. – Gegenseitige Enttäuschung.

Ich habe niemals gern allein gegessen, und dies hat mich stets davon abgehalten, Einsiedler zu werden, obgleich ich einmal eine ziemlich flüchtige Anwandlung hatte, Mönch zu werden: ein Beruf, wie jeder andere und vielleicht der beste von allen wenn man, ohne auf gewisse Freuden des Lebens zu verzichten, sich einem frommen Müßiggang hingeben kann. Diese Anlage veranlaßte mich also, zwei Gedecke zu bestellen; übrigens hatte Veronika, nachdem sie mit mir und dem Marchese gespeist hatte, ein Recht auf diese Auszeichnung, die sie außerdem wegen ihrer Schönheit und ihres Geistes verdiente.

Da ich nur Costa hinter meinem Stuhl stehen sah, fragte ich ihn, wo Leduc sei. Er antwortete mir, dieser sei krank. »Dann treten Sie hinter den Stuhl des Fräuleins,« sagte ich. Er gehorchte, aber mit einem Lächeln. Wo mischt der Stolz sich nicht ein! Obgleich es keinen lächerlicheren gibt als den Bedientenstolz, versteigt sich dieser oft bis zu einem wahren Hochmut.

An diesem Tage kam Veronika mir hübscher vor. Ihr je nach den Umständen freies oder zurückhaltendes Wesen zeigte mir, daß sie keine Anfängerin mehr war und daß sie in einer gewählten Gesellschaft leicht die Rolle einer Prinzessin hätte spielen können. Aber so seltsam ist das menschliche Herz: ich sah mit aufrichtiger Betrübnis, daß sie mir gefiel, und nur der Gedanke tröstete mich, daß ihre Mutter sie im Laufe des Tages abholen sollte. Ich liebte Rosalien, und mein Herz blutete noch; unsere Trennung war noch zu frisch.

Die Mutter kam, als wir noch bei Tische saßen. Sie war erstaunt über die Ehre, die ich ihrer Tochter erwies, und dankte mir auf das lebhafteste dafür.

»Sie brauchen mir nicht dafür zu danken, Madame, denn die Ehre ist ganz auf meiner Seite, da Ihre Tochter schön, geistreich und tugendhaft ist!«

»Danke dem Herrn, meine Tochter, für die schönen Geschenke, die er dir macht: denn du bist häßlich, dumm und leichtsinnig!« sagte die Mutter; »aber wie hast du die Dreistigkeit haben können, dich mit einem schmutzigen Hemde an den Tisch des gnädigen Herrn zu setzen?«

»Ich würde über diesen Vorwurf erröten, liebe Mutter, wenn ich nicht wüßte, daß Sie sich täuschten; denn es ist noch keine zwei Stunden her, daß ich ein reines Hemd angezogen habe.«

»Madame,« sagte ich zu der Mutter, »auf der Haut Ihrer Tochter kann ein Hemd nicht leicht weiß aussehen.«

Dieses Kompliment brachte die Mutter zum Lachen und schmeichelte der Tochter. Als nun die Mutter ihr sagte, sie sei gekommen, um sie nach Hause zu holen, bemerkte Veronika mit feinem Lächeln:

»Mama, es ist durchaus nicht gewiß, daß Sie dem gnädigen Herrn ein großes Vergnügen erweisen, indem Sie mich vierundzwanzig Stunden vor seiner Abreise mitnehmen.«

»Im Gegenteil,« bemerkte ich mechanisch, »mir würde dieses sehr unangenehm sein.«

»Wenn dies so ist, mein Herr,« versetzte die Mutter, »kann sie bleiben; aber der Anstand verlangt, daß ich Ihnen ihre jüngere Schwester schicke, die bei ihr schlafen wird.«

»Sie werden mir damit einen Gefallen erweisen, Madame.«

Hierauf ließ ich sie allein.

Diese Veronika setzte mich in Verlegenheit; denn ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich in sie verliebt war; und wie ich mich nun einmal kannte, mußte ich einen berechneten Widerstand fürchten. Die Mutter kam in mein Zimmer, wo ich an meinem Schreibtische arbeitete, wünschte mir glückliche Reise und wiederholte mir, sie würde mir ihre Tochter Annina schicken. Diese kam denn auch wirklich gegen Abend, von einer Magd begleitet. Nachdem sie ihren Mezzaro abgenommen und mir sehr bescheiden die Hand geküßt hatte, lief sie fröhlich auf ihre Schwester zu und umarmte diese.

Da ich neugierig war, das Gesicht des jungen Mädchens zu sehen, so verlangte ich Kerzen; mit Erstaunen erblickte ich eine Blondine, wie ich niemals eine gesehen hatte. Ihre Haare, ihre Augenbrauen und ihre langen Wimpern waren von blaßgoldener Farbe und beinahe weißer als ihre außerordentlich weiße Haut. Sie war im höchsten Grade kurzsichtig, aber ihre großen, wohlgeschnittenen Augen waren von einem hellen Himmelblau und von einer geradezu wunderbaren Schönheit. Sie hatte den niedlichsten Mund, der sich denken läßt; aber ihre Zähne, obgleich sehr regelmäßig, waren von einem weniger weißen Schmelz als ihre Haut. Ohne diesen Fehler hätte Anmna für eine vollendete Schönheit gelten können.

Wegen der Zartheit ihrer Augen verursachte ein allzu glänzendes Licht ihr Schmerzen. Wie sie nun so vor mir stand, schien sie mit Vergnügen zu sehen, daß ich sie genau betrachtete. Meine Blicke verschlangen mit gierigem Wohlgefallen ihre zwei kleinen, erst aufkeimenden Halbkugeln, deren Weiße mich erraten ließ, daß der übrige Teil ihres Körpers entzückend sein müßte. Veronika war in dieser Hinsicht nicht so großmütig: man sah wohl, daß ihr Busen prachtvoll sein mußte, aber ein eifersüchtiger Schleier verbarg ihn sorgfältig vor allen Blicken. Sie ließ ihre Schwester neben sich sitzen und gab ihr Näharbeit; als ich aber sah, daß ihre hübschen Händchen die Leinwand vier Zoll von ihren Augen entfernt halten mußten,sagte ich ihr, sie müßte wenigstens nachts ihre Augen schonen, und gehorsam legte sie sofort die Arbeit weg.

Wie gewöhnlich kam der Marchese, und Annina, die er noch niemals gesehen hatte, erschien auch ihm wie mir als ein wunderbares Miniaturbild. Auf sein Alter und auf seinen hohen Rang bauend, wagte der wollüstige Greis seine Hand auf den hübschen Busen des jungen Mädchens zu legen, das zu ehrerbietig war, um sich einen Widerspruch gegen den gnädigen Herrn zu erlauben, und ihn, ohne die geringste üble Laune zu verraten, gewähren ließ. In ihrem Wesen lag ebensoviel Unschuld wie Koketterie.

Eine Frau, die nur wenig zeigt und dadurch einem Manne Neugier einzuflößen weiß, hat bereits drei Viertel ihres Weges zurückgelegt, um ihn verliebt zu machen; denn ist die Liebe überhaupt etwas anderes als eine Neugier? Ich glaube es nicht, und der Beweis dafür ist, daß die Liebe erlischt, sobald die Neugier befriedigt ist. Jedenfalls ist ganz sicherlich die Neugier der Liebe die stärkste Neugier, die es gibt, und Annina hatte mich bereits neugierig gemacht.

Herr von Grimaldi sagte zu Veronika: Rosalie bitte sie, bis zu meiner Abreise bei mir zu bleiben; sie vernahm diese Bitte mit ebenso großem Erstaunen wie ich. Ich sagte zum Marchese: »Wollen Sie ihr bitte sagen, daß Fräulein Veronika ihren Wünschen zuvorgekommen ist und daß sie gerade aus diesem Grunde ihre Schwester Annina hat kommen lassen.«

»Zwei, mein lieber Freund,« sagte der feine Genuese, »sind immer besser als eine.«

Wir ließen hierauf die beiden Schwestern miteinander allein und gingen in mein Zimmer, wo er mir sagte: »Ihre Rosalie ist zufrieden, und Sie müssen sich glücklich schätzen, daß Sie ihr Glück begründet haben; denn ich bin überzeugt, sie wird glücklich werden. Es tut mir leid, daß alle Regeln der Schicklichkeit Ihnen verbieten, sie heute Abend noch zu sehen.«

»Sie sind in sie verliebt, Herr Marquis!«

»Ich gestehe es, aber ich bin alt – leider!«

»Das tut nichts, sie wird Sie zärtlich lieben, und wenn Petri ihr Mann wird, so bin ich sicher, daß sie für ihn nur eine passive Freundschaft empfinden kann. Bitte, schreiben Sie mir nach Florenz, wie sie den Petri aufnimmt.«

»Bleiben Sie doch noch drei Tage hier, so werden Sie es erfahren. Unterdessen werden die beiden Schönheiten hier Ihnen die Stunden sehr schnell verstreichen lassen.«

»Gerade weil ich voraussehe, daß sie diesen Zweck leicht erreichen könnten, will ich morgen abreisen. Veronika erschreckt mich.«

»Ich glaubte, Sie wären nicht der Mann, sich von einer hübschen Frau erschrecken zu lassen.«

»Ich fürchte, sie hat irgendeine unangenehme Absicht mit mir vor, denn ich glaube, sie ist geneigt, sich mit Grundsätzen zu brüsten. Lieben kann ich nur Rosalie.«

»Da fällt mir ein: ich habe hier einen Brief für Sie.«

Ich zog mich in eine Fensternische zurück und las dort jenen Brief, dessen Schriftzüge mir beim ersten Anblick schon heftiges Herzklopfen verursachten. Er lautete folgendermaßen:

»Mein lieber Freund, ich sehe, daß du mich den Händen eines zärtlichen Vaters anvertraut hast, der es mir bis zu dem Augenblick, wo ich nicht im geringsten mehr Zweifel über meinen Zustand haben werde, an nichts wird fehlen lassen. Und diese neue Wohltat verdanke ich deinem ausgezeichneten Herzen. Ich werde dir bestimmt an die Adresse schreiben, die du mir gibst. Wenn Veronika dir gefällt, mein lieber Freund, so fühle ich, daß ich unrecht haben würde, wenn ich in diesem Augenblick eifersüchtig auf sie wäre. Wenn du dich um sie bewirbst, so wird sie dir, glaube ich, nicht widerstehen können, und ich werde glücklich sein, wenn ich vernehme, daß sie dazu beiträgt, dir die Traurigkeit zu verscheuchen, die mich tief zu Boden drückt. Ich bitte dich, schreibe mir vor deiner Abreise noch einige Zeilen.«

Ich trat auf den Marchese zu, reichte ihm den Brief und bat ihn, Kenntnis davon zu nehmen. Er war durch ihre Worte tief gerührt und rief: »Ja, das herrliche Mädchen wird in mir einen zärtlichen Vater und treu ergebenen Freund finden, und wenn sie glaubt, meinen Paten heiraten zu müssen, und von ihm nicht so gut behandelt wird, wie sie es verdient, so wird er sie nicht lange besitzen. Sie wird sogar nach meinem Tode Gegenstand meiner Sorge sein, wenn ich mich so ausdrücken darf; denn vor meinem Tode wird sie einen Teil meines Vermögens erhalten haben. Aber hören Sie, was sie Ihnen über Veronika sagt? Ich halte sie nicht für eine Vestalin, obwohl ich andererseits ihr auch nicht das Geringste nachsagen kann.«

Ich hatte vier Gedecke befohlen; Annina setzte sich daher mit uns zu Tisch, ohne sich nötigen zu lassen. Als Leduc hereinkam, sagte ich zu ihm: wenn er krank wäre, könnte er sich zu Bette legen.

»Ich befinde mich sehr wohl,« sagte er.

»Das freut mich; aber gehe jetzt hinaus; ihr werdet bei Tisch bedienen, sobald ich in Livorno bin.«

Ich bemerkte, daß Veronika über diese Ausschließung sehr erfreut war, und beschloß augenblicklich, eine Festung zu belagern, die mich immer mehr und mehr interessierte. Ich beschäftigte mich daher während der ganzen Mahlzeit sehr viel mit ihr und richtete sehr bedeutsame Bemerkungen an sie, während der Marchese mit Annina scherzte. An den liebenswürdigen Kavalier mich wendend, fragte ich ihn, ob er glaubte, daß ich für den nächsten Tag eine Feluke zur Fahrt nach Lerici finden könnte.

»Gewiß, zu welcher Stunde Sie wollen und mit so viel Ruderern, wie Sie wünschen; aber ich hoffe, Sie werden Ihre Abreise um drei bis vier Tage hinausschieben.«

»Nein,« antwortete ich mit einem Seitenblick auf Veronika; »dieser Aufschub könnte mir teuer zu stehen kommen.«

Die geriebene Schelmin beantwortete meinen Blick mit einem Lächeln, das mir zeigte, daß mein Gedanke verstanden worden war. Als wir von Tisch aufgestanden waren, nahm ich mit Annina ein kleines Examen vor, während der Marchese sich mit Veronika unterhielt. Nach einer Viertelstunde trat er zu uns heran und sagte zu mir: »Man hat mich aufgefordert, Sie zu bitten, daß Sie noch einige Tage hier bleiben oder doch zum mindesten morgen noch hier zu Nacht speisen möchten.«

»Sehr freundlich. Wir werden also morgen beim Nachtessen von einigen Tagen sprechen.«

Der Marchese rief: »Viktoria!« und Veronika war augenscheinlich sehr erfreut über meine Gefälligkeit. Als unser Gast fortgegangen war, fragte ich meine Haushälterin, ob ich Costa zu Bett schicken könnte.

»Da ich meine Schwester bei mir habe, wird man keinen beleidigenden Verdacht hegen können.«

»Sie willigen also ein, meine Liebe. Dies macht mir viel Vergnügen; ich werde Ihnen also meinen Kopf anvertrauen.«

Sie frisierte mich für die Nacht, antwortete jedoch kein Wort auf alle galanten Bemerkungen, die ich an sie richtete. Als ich gerade im Begriff war, mich ins Bett zu legen, wünschte sie mir gute Nacht. Ich wollte sie umarmen, um auf diese Weise ihre Komplimente zu erwidern, aber sie stieß mich zurück und entfernte sich von mir. Dies überraschte mich sehr. Als sie hinausgehen wollte, sagte ich zu ihr in ernstem, aber höflichem Ton: »Bitte, bleiben Sie; ich muß mit Ihnen sprechen; setzen Sie sich neben mich! – Warum haben Sie mir ein Vergnügen abgeschlagen, das schließlich doch nur ein einfacher Beweis von Freundschaft ist?«

»Weil zwei Menschen, wie wir es nun einmal sind, unmöglich bei der einfachen Freundschaft stehen bleiben und weil wir ein Liebespaar nicht sein können.«

»Warum sollen wir nicht ein Liebespaar sein können? Wir sind doch frei!«

»Weil ich mich von gewissen Vorurteilen nicht freimachen kann, die für Sie nicht vorhanden sind.«

»Ich hatte geglaubt, Ihr Geist sei über Vorurteile erhaben.«

»Es gibt ein Vorurteil, über das eine Frau sich nicht hinwegsetzen darf. Die Überlegenheit, die Sie andeuten wollen, ist eine klägliche Überlegenheit, welche stets sich selbst betrügt. Was sollte aus mir werden, mein Herr, wenn ich mich den Gefühlen überließe, die Sie mir einflößen?«

»Ich war auf eine solche Bemerkung gefaßt, meine liebe Veronika. Die Gefühle, die ich Ihnen einflöße, sind nicht die der Liebe. Nein! Denn wenn sie es wären, so wären sie den meinigen gleich, und die Liebe würde Sie veranlassen, die hemmenden Fesseln der Vorurteile zu zerbrechen.«

»Ich gestehe, daß Sie mir noch nicht den Kopf verdreht haben; aber ich weiß, daß unglücklicherweise Ihre Abreise mir meine Ruhe rauben wird.«

»Wenn dies wahr ist, Veronika, so ist es nicht meine Schuld. Aber sagen Sie mir, was ich tun könnte, um Sie während meines kurzen Aufenthaltes hier glücklich zu machen?«

»Nichts! Denn Sie sind meiner und ich bin Ihrer nicht sicher.«

»Ich verstehe, was Sie sagen wollen; aber ich muß Ihnen sagen, daß ich entschlossen bin, mich niemals zu verheiraten, bevor ich nicht der Freund meiner Frau geworden bin.«

»Das heißt: erst wenn Sie nicht mehr ihr Liebhaber sind?«

»Ganz recht.«

»Sie wollen da enden, wo ich beginnen will. Ich wünsche Ihnen Glück dazu; aber Sie spielen ein gewagtes Spiel.«

»Nun gut, ich will entweder alles verlieren oder alles gewinnen.«

»Das kommt darauf an. Aber lassen wir einmal die Gefühle beiseite – mir scheint, schöne Veronika, wir könnten ein wenig mit der Liebe tändeln und uns glückliche Augenblicke verschaffen, ohne uns von Vorurteilen stören zu lassen.«

»Das mag sein; aber bei diesem Spiel kann man sich die Finger verbrennen, und davor habe ich solche Angst, daß ich nicht einmal daran denken mag; denn der Gedanke könnte mich verführen. O nein, nein! Lassen Sie mich, bitte! Sehen Sie, da kommt meine Schwester; es macht ihr angst, mich in Ihren Armen zu sehen.«

»Nun, ich sehe, ich habe unrecht. Rosalie hat sich getäuscht.«

»Wie? Was hat sie denn nur von mir gedacht?«

»Sie hat gedacht. Sie würden gut sein; das hat sie mir geschrieben.«

»Sie ist recht glücklich, wenn sie es nicht zu bereuen gehabt hat, daß sie allzugut war.«

»Gute Nacht, Veronika.«

Es ärgerte mich, daß ich diesen Angriff gemacht hatte; denn in derartigen Fällen ist Mangel an Erfolg stets verdrießlich. Ich nahm mir vor, sie bei ihren Grundsätzen zu lassen, mochten diese aufrichtig oder erheuchelt sein; als ich sie aber beim Erwachen mit freundlicher und liebenswürdiger Miene an mein Bett herantreten sah, änderte ich plötzlich meine Ansicht: ich hatte meinen Verdruß verschlafen und war verliebt. Ich glaubte, sie hätte ihr Benehmen bereut, und hoffte sie beim zweiten Angriff mehr entgegenkommend zu finden. Hiernach richtete ich mein Benehmen ein und scherzte beim Frühstück mit ihr und ihrer Schwester. Beim Mittagessen benahm ich mich ebenso, und die Heiterkeit, in der Herr von Grimaldi uns am Abend fand, ließ ihn ohne Zweifel glauben, daß wir bereits auf vertrautem Fuß miteinander ständen, und er wünschte uns dazu Glück. Als ich sah, daß Veronika sich benahm, wie wenn der Marchese richtig erraten hätte, glaubte ich die Gewißheit zu haben, daß ich sie nach dem Abendessen besitzen würde. In dem Rausch, in welchen mich diese Gewißheit versetzte, versprach ich ihnen beim Souper, ich würde noch vier Tage bleiben.

»Bravo! Bravo!« rief der Marchese, »solchen Gebrauch müssen Sie immer von Ihrem Recht machen, Veronika! Sie sind eine Frau, die über die, die Sie lieben, eine unumschränkte Herrschaft üben muß.«

Mich dünkte, sie müßte irgend etwas sagen, um die Gewißheit, die der Marchese aussprach, ein wenig einzuschränken. Aber keineswegs! Sie schien sich an ihrem Triumph zu weiden und wurde dadurch noch schöner. Sie brüstete sich wie ein Pfau; ich aber, durch das in Aussicht stehende Glück unterjocht, sah sie mit der bescheidenen Miene eines Besiegten an, der auf seine Kette stolz ist. Ich war so einfältig, ihr Benehmen für ein Vorzeichen meines unmittelbar bevorstehenden Sieges zu halten. Infolgedessen vermied ich es, mich mit Herrn von Grimaldi in ein besonderes Gespräch einzulassen, denn da hätte ich mich genötigt sehen können, ihn über seine Täuschung aufzuklären, wenn er Fragen an mich gerichtet hätte. Beim Abschied sagte er uns, er müsse am nächsten Tage abwesend sein und könne daher erst am übernächsten Tage das Vergnügen haben, uns wieder zu sehen.

»Sehen Sie,« sagte sie zu mir, sobald wir allein waren, »wie leicht ich glauben lasse, was man wünscht? Lieber mag man glauben, daß ich gut sei, wie Sie es nennen, als daß man mich für lächerlich hält; denn mit diesem liebenswürdigen Beiwort schmückt man ja ein anständiges Mädchen, das Grundsätze hat, nicht wahr?«

»Nein, nein, entzückende Veronika, nein! Vor allen Dingen fürchten Sie nicht, daß ich Sie mit einem solchen Beiwort benennen könnte! Aber ich würde sagen, daß Sie mich hassen, wenn Sie mir eine Höllennacht bereiteten, indem Sie sich wie gestern meiner lebhaften Zärtlichkeit entzögen; denn Sie haben mich während des Essens ganz und gar in Flammen gesetzt.«

»O! Ich bitte, mein Herr, mäßigen Sie sich, um Gotteswillen! Morgen werde ich Sie nicht in Flammen setzen. O! das ist aber zu arg …«

Ich hatte sie erzürnt, indem ich mit kecker Hand vorgedrungen war, so weit ich wollte, und mich ihres Heiligtums bemächtigt hatte. Sie stieß mich zurück und lief hinaus. Drei oder vier Minuten darauf kam ihre Schwester, um mich auszukleiden. Ich sagte ihr freundlich, sie möchte zu Bett gehen, da ich noch ein paar Stunden zu schreiben hätte; da ich aber das unschuldige Kind nicht kränken wollte, so öffnete ich meine Kassette und schenkte ihr eine Uhr. Sie nahm diese bescheiden und sagte: »Die ist für meine Schwester, nicht wahr, mein Herr?«

»Nein, reizende Annina, ich schenke sie dir.« Sie machte einen Freudensprung, und ich konnte sie nicht verhindern, mir die Hand zu küssen.

Ich setzte mich hin und schrieb an Rosalie einen vier Seiten langen Brief; aber ich war in höchster Erregung und sehr unzufrieden mit mir und allen Menschen. Als mein Brief fertig war, zerriß ich ihn, ohne ihn noch einmal durchzulesen. Dann aber machte ich eine gewaltsame Anstrengung, um mich zu beruhigen, und schrieb einen zweiten, vernünftigeren Brief, worin ich von Veronika kein Wort sagte und meiner schönen Einsiedlerin anzeigte, daß ich am nächsten Tage abreisen würde.

Erst sehr spät legte ich mich in schlechtester Laune zu Bett. Ich hatte das Gefühl, Veronika beschimpft zu haben, einerlei, ob sie mich liebte oder nicht; denn ich war in sie verliebt und war ein Ehrenmann.

Ich schlief schlecht; als ich aufwachte, war es Mittag. Ich klingelte, aber ich sah nur Costa und Annina erscheinen. Veronikas Abwesenheit ließ mich die Beleidigung, die ich ihr angetan, tief empfinden. Als Costa hinausgegangen war, fragte ich Annina, wie es ihrer Schwester gehe; sie antwortete mir, sie sei bei der Arbeit. Ich schrieb ihr ein Briefchen und bat sie um Verzeihung, indem ich ihr versicherte, ich würde ihr in Zukunft nicht den geringsten Verdruß mehr bereiten. Zum Schluß bat ich sie, sie möchte alles vergessen und wie gewöhnlich mit mir verkehren. Als ich meinen Kaffee trank, kam sie mit einer gekränkten Miene herein, die mich sehr schmerzlich berührte. Ich sagte zu ihr: »Vergessen Sie alles, ich bitte Sie darum, liebes Fräulein! Damit wird alles zu Ende sein. Machen Sie mir nur meine Locken in Ordnung, denn ich will einen Spaziergang außerhalb der Stadt machen und werde erst zum Mittagessen nach Hause kommen. Ohne Zweifel werde ich dann einen guten Appetit haben, und da Sie nichts mehr zu fürchten haben, so brauchen Sie mir auch nicht mehr Annina zu schicken.«

Nachdem ich mich in aller Eile allein angekleidet hatte, verließ ich die Stadt auf dem ersten besten Wege und marschierte zwei Stunden geradeaus, nur um mich zu ermüden und dadurch das Gleichgewicht zwischen Seele und Körper wiederherzustellen. Ich habe stets die Erfahrung gemacht, daß starke körperliche Bewegung und frische Luft die besten Mittel sind, die aufgeregte Seele wieder in ihren gewöhnlichen Zustand zu versetzen.

Ich hatte mehr als drei Wegstunden gemacht, als Hunger und Müdigkeit mich zwangen, in eine schlechte Dorfschenke einzukehren; ich ließ mir einen Eierkuchen machen und aß diesen gierig mit Schwarzbrot und Wein, den ich köstlich fand, obwohl er nicht wenig sauer war.

Da ich zu ermüdet war, um zu Fuß nach Genua zurückzukehren, so verlangte ich einen Wagen; aber es war unmöglich, einen zu finden. Der Wirt gab mir einen schlechten Gaul nebst einem Mann, der ihm das Pferd zurückbringen sollte. Die Nacht brach herein, und wir hatten mehr als sechs Miglien zu machen. Obendrein begleitete mich ein feiner Regen vom Abmarsch bis zur Ankunft, und so war ich, als ich um acht Uhr nach Hause kam, bis auf die Haut durchnäßt, vor Frost erstarrt, totmüde und von einem harten Sattel zerschunden, den meine Atlashosen nicht hatten weicher machen können. Costa half mir, mich vom Kopf bis zu den Füßen umzuziehen, und als er hinausging, um das Essen aufzutragen, sah ich Annina erscheinen.

»Wo ist Ihre Schwester?«

»Sie hat starkes Kopfweh und liegt zu Bett. Diesen Brief hat sie mich beauftragt, Ihnen zu geben.«

Der Brief lautete:

»Wegen starker Kopfschmerzen, an denen ich oftmals leide, habe ich mich genötigt gesehen, um drei Uhr zu Bett zu gehen. Ich befinde mich bereits viel besser und bin sicher, Sie morgen bedienen zu können. Ich teile Ihnen dies mit, weil ich nicht möchte, daß Sie glauben, ich sei ärgerlich oder verstelle mich. Ich glaube Ihnen, daß Sie aufrichtig bereuen, mich gedemütigt zu haben, und bitte Sie meinerseits, mir zu verzeihen oder mich zu beklagen, wenn meine Denkweise mich verhindert, mich Ihren Anschauungen anzubequemen.«

»Meine liebe Annina, fragen Sie Ihre Schwester, ob sie wünscht, daß wir das Abendessen an ihrem Bett einnehmen.«

Sie kam bald wieder zurück und sagte mir, Veronika danke mir und bitte mich, sie schlafen zu lassen.

Ich speiste mit Annina und bemerkte mit Vergnügen, daß sie nur Wasser trank, aber mehr als ich aß. Die Leidenschaft, die ich für ihre Schwester empfand, hielt mich ab, an sie zu denken, aber ich fühlte, daß Annina mir gefallen haben würde, wenn ich nur gewußt hätte, ob sie anders dächte als ihre ältere Schwester. Als wir beim Nachtisch waren, kam ich auf den Einfall, das junge Mädchen betrunken zu machen, damit sie über ihre Schwester schwatzte, und ich schenkte ihr ein Glas Muskat Lunel ein.

»Ich trinke nur Wasser, mein Herr.«

»Hassen Sie den Wein?«

»Nein, aber da ich nicht daran gewöhnt bin, fürchte ich, er wird mir zu Kopf steigen.«

»Sie gehen ja gleich zu Bett, liebes Kind, und werden dann um so besser schlafen.«

Sie trank ein Glas und fand es ausgezeichnet; hierauf trank sie ein zweites und dann ein drittes. Ihr Köpfchen war bereits in Verwirrung. Ich brachte das Gespräch auf ihre Schwester, und sie erzählte mir in der größten Unschuld alles mögliche Gute von ihr.

»Du hast also Veronika sehr lieb?« fragte ich sie.

»O ja! Ich liebe sie von ganzem Herzen; aber sie kann mich nicht leiden, denn sie entzieht sich allen meinen Liebkosungen.«

»Ohne Zweifel geschieht dies, weil sie befürchtet, du möchtest dann aufhören, sie zu lieben. Aber was meinst du? Hat sie wohl recht, daß sie mich leiden läßt?«

»Nein; aber wenn Sie sie lieben, müssen Sie ihr verzeihen.«

Annina hatte recht, ja nur zu sehr recht. Ich gab ihr ein viertes Glas Muskatwein zu trinken; aber einen Augenblick darauf sagte sie mir, sie könnte nichts mehr sehen. Wir standen daher vom Tisch auf. Annina begann mir ein bißchen zu sehr zu gefallen; aber ich nahm mir vor, nichts gegen sie zu unternehmen; denn ich fürchtete, sie zu gefällig zu finden. Ein bißchen Widerstand schärft den Appetit, und allzuleicht erlangte Gunst verliert viel von ihrem Reiz. Annina war erst vierzehn Jahre alt; sanft und unerfahren, wie sie war, hatte sie keine Ahnung von ihren Rechten. Sie würde gefürchtet haben, einen Verstoß gegen die Höflichkeit zu begehen, wenn sie sich meinen Liebkosungen widersetzt hätte; dies aber kann nur einem reichen und wollüstigen Muselmann gefallen.

Ich bat sie, mir die Haare zurecht zu machen. Ich hatte die Absicht, sie gleich nachher zu Bett zu schicken, aber als sie fertig war, bat ich sie, mir einen Topf geruchloser Pomade zu geben.

»Was wollen Sie damit machen?«

»Ich brauche sie, um mir die wunden Stellen einzureiben, die mir auf dem sechs Miglien langen Ritt der verfluchte Gaul gemacht hat.«

»Ist denn das gut dagegen?«

»Ja, sehr. Die weiche Pomade lindert das Brennen, und morgen werde ich geheilt sein; aber Sie müssen mir Costa kommen lassen,, denn ich kann mir die Pomade nicht selber einreiben.«

»Kann ich denn das nicht machen?«

»Ganz leicht; aber ich müßte befürchten, Ihre Gefälligkeit zu mißbrauchen.«

»Ich errate, warum. Wie werde ich aber die Aufschürfungen sehen, da ich so kurzsichtig bin?«

»Wenn Sie mir diesen Dienst erweisen wollen, werde ich eine geeignete Stellung einnehmen, um Ihnen die Sache zu erleichtern. Sehen Sie, so! Setzen Sie den Armleuchter auf diesen Tisch!«

»Da steht er. Aber lassen Sie sich nicht morgen von Costa einreiben, denn er würde erraten, daß ich oder meine Schwester es heute Abend bei Ihnen getan haben.«

»Sie werden also morgen wieder so freundlich sein?«

»Ich oder meine Schwester; denn sie wird in aller Frühe aufstehen.«

»Ihre Schwester? Nein, meine Liebe, die würde Angst haben, mir zuviel Vergnügen zu machen, wenn sie mir so nahe käme.«

»Und ich habe bloß Angst, Ihnen weh zu tun. Mache ich es so gut? Mein Gott! In welchem Zustande ist Ihre arme Haut!«

»Meine liebe Annina, Sie sind noch nicht fertig.«

»Ich bin so kurzsichtig. Drehen Sie sich herum.«

»Gern.«

Die kleine Närrin konnte sich des Lachens nicht enthalten, als sie erblickte, was der Zufall ihr darbot und was sie wegen ihrer schwachen Augen ganz zweifellos zum ersten Male sah. Als sie bei der Fortsetzung ihrer Tätigkeit daran rühren mußte, bemerkte ich bald, daß ihr das Vergnügen machte; denn sie berührte scheinbar zufällig auch Stellen, wo sie nichts zu tun hatte. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ergriff ihre Hand und nötigte sie, ihre Beschäftigung zu unterbrechen, indem ich ihr eine süßere gab. Als sie fertig war, lachte ich laut auf, als ich sie mit der erstauntesten Miene und immer noch den Pomadentopf in der linken Hand haltend, die Frage an mich richten hörte: »Hab‘ ich’s gut gemacht?«

»O, vortrefflich, reizende Annina. Du bist ein Engel, und ich bin überzeugt, daß du weißt, was für ein Vergnügen du mir gemacht hast. Kannst du nicht eine Stunde mit mir verbringen?«

»Warten Sie!«

Sie ging hinaus, indem sie die Tür nur anlehnte; überzeugt, daß sie zurückkommen würde, wartete ich; schließlich aber wurde ich des Wartens müde, öffnete die Tür ein wenig und sah durch die Spalte, wie sie sich auszog und sich neben ihre Schwester ins Bett legte. Ich ging wieder ins Zimmer und legte mich ins Bett, ohne alle Hoffnung aufzugeben. Ich hatte mich auch nicht getäuscht; denn fünf Minuten später sah ich sie im Hemd auf den Fußspitzen hereinkommen.

»Komm in meine Arme, mein Liebling, denn es ist sehr kalt.«

»Da bin ich. Meine Schwester schläft und ahnt nichts; und wenn sie auch aufwachen sollte – das Bett ist breit; sie wird es nicht merken, daß ich sie verlassen habe.«

»Du bist göttlich! Ich liebe dich von ganzem Herzen!«

»Um so besser! Ich gebe mich Ihnen hin; Sie können mit mir machen, was Sie wollen – aber unter der Bedingung, daß Sie nicht mehr an meine Schwester denken.«

»Diese Bedingung erfülle ich gern, liebes Herz! Ich verspreche es dir.«

Ich fand Annina völlig unberührt; hieran zweifelte ich nicht, obgleich ich am anderen Morgen keine Blutspuren auf dem Altar fand. Mir ist ähnliches oft widerfahren, und ich weiß aus Erfahrung, daß man weder aus dem Vorhandensein noch aus dem Fehlen des Blutes etwas schließen kann. Im allgemeinen kann ein Mädchen nur überführt werden, einen Liebhaber gehabt zu haben, wenn sie befruchtet worden ist.

Ich verbrachte zwei Stunden mit diesem reizenden Püppchen; sie war so niedlich, so zart und hübsch am ganzen Leibe, daß ich keinen besseren Ausdruck finden kann, um sie zu schildern. Ihr Zartgefühl und ihre Aufmerksamkeit nahmen der Lust nichts von ihrem pikanten Reiz, denn sie war wollüstig.

Als ich erwachte, kam sie mit Veronika zu mir herein. Ich sah mit Vergnügen, daß die Jüngere auf ihrem Gesicht den strahlenden Ausdruck des Glückes trug, während die Altere eine wohlwollende Miene machte, in der sich der Wunsch malte, angenehm zu erscheinen.

Ich fragte sie nach ihrem Befinden, und sie antwortete mir, Fasten und Schlaf hätten sie vollständig wiederhergestellt. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, daß dies die besten Heilmittel gegen Kopfschmerzen sind. Annina hatte mich vollkommen von der Neugier geheilt, die die andere mir eingeflößt hatte; ich fühlte dies und wünschte mir Glück dazu.

Beim Abendessen brachte meine Heiterkeit Herrn von Grimaldi zum Glauben, ich hätte von Veronika alles erlangt; ich glaubte, ihm seinen Irrtum nicht nehmen zu müssen. Ich versprach ihm, am anderen Mittag bei ihm zu speisen, und hielt Wort. Nach dem Essen übergab ich ihm einen langen Brief für Rosalie, die ich nur noch als Frau Petri wieder zu sehen hoffte, obgleich ich mich wohl hütete, ihr dies zu sagen.

Am Abend speiste ich mit den beiden Schwestern und spielte in zwangloser Weise und ohne einer von ihnen den Vorzug zu geben, den Liebenswürdigen. Als Veronika mir meine Locken wickelte, und dabei mit mir allein war, sagte sie mir, seitdem ich vernünftig geworden sei, liebe sie mich viel mehr als früher.

»Meine anscheinende Vernünftigkeit,« antwortete ich ihr, »beruht nur darauf, daß ich die Hoffnung aufgegeben habe, Sie zu erobern. Ich habe mich damit abgefunden.«

»So war also Ihre Liebe recht gering?«

»Sie war erst im Aufkeimen begriffen; aber es wäre nur bei Ihnen gestanden, schöne Veronika, sie riesengroß werden zu lassen.«

Sie biß sich auf die Lippen und schwieg; dann wünschte sie mir gute Nacht und ging hinaus. Ich legte mich zu Bett und wartete auf Anninas Besuch. Aber vergeblich.

Als ich am Morgen klingelte, sah ich das reizende Mädchen ein bißchen traurig bei mir eintreten, und als ich sie nach dem Grunde fragte, antwortete sie: »Meine Schwester ist krank und hat die ganze Nacht hindurch geschrieben.«

Nun wußte ich also, warum ich vergeblich gewartet hatte.

»Und wissen Sie auch, was Veronika geschrieben hat, meine liebe Annina?«

»O nein! Über so etwas spricht sie mit mir nicht! Aber hier ist ein Brief für Sie.«

Ich las den sehr langen Brief; er war sehr gut geschrieben, aber da er allzu deutlich den Stempel der Berechnung trug, so erregte er nur meine Heiterkeit. Nach einigen Umschweifen sagte sie mir, sie habe sich meinen Wünschen nicht hingegeben, weil sie mich von ganzem Herzen liebe und gefürchtet habe, sie werde mich verlieren, wenn sie meiner Laune willfahre.

»Ich bin ganz und gar die Ihre, wenn Sie damit einverstanden sind, daß ich Rosaliens Platz einnehme. Ich will von hier mit Ihnen abreisen, aber Sie müssen mir ein Schriftstück geben, das Herr von Grimaldi zu unterzeichnen hat. Sie müssen sich darin verpflichten, mich vor Ablauf eines Jahres zu heiraten, und mir eine Mitgift von fünfzigtausend Franken aussetzen; wenn Sie alsdann nichts mehr von mir wissen wollen, ist die Summe mein, und ich kann tun, was ich will.«

Ferner schrieb sie, wenn sie während des Probejahres Mutter würde, sollte bei der Trennung das Kind ihr verbleiben. Unter diesen Bedingungen war sie bereit, meine Geliebte zu werden, und versprach mir, in jeder gewünschten Weise mir zuvorzukommen und gefällig zu sein.

Dieser sehr geschickt entworfene, aber dumm ausgeführte Plan zeigte mir, daß es Veronika an jener Klugheit fehlte, die man notwendig haben muß, wenn man Leute anführen will. Ich erkannte sofort, daß Herr von Grimaldi mit diesem Komplott nichts zu tun hätte und daß er darüber lachen würde, wenn ich es ihm mitteilen würde.

Bald nachher kam Annina wieder herein und brachte mir meine Schokolade; sie sagte mir, ihre Schwester hoffe, daß ich ihr antworten würde.

»Gewiß, meine Liebe, ich werde ihr antworten, sobald ich aufgestanden bin.«

Ich trank meine Schokolade, zog dann meinen Schlafrock an und ging zu ihr. Ich fand sie in ihrem Bett sitzend in einem nachlässigen, aber sehr eleganten Schlafgewand, das mich hätte verführen können, wenn ihr Brief nicht meine gute Meinung von ihr völlig zerstört hätte. Ich setzte mich auf ihr Bett, gab ihr ihren Brief zurück und sagte: »Wozu brauchen wir uns zu schreiben, da wir uns doch sprechen können?«

»Man ist beim Schreiben oft unbefangener als beim Sprechen.«

»In der Politik und in Handelsgeschäften ist das richtig; aber in der Liebe, schöne Veronika, ist das anders. Der kleine Gott gibt unbeschränkte Vollmacht. Kein Schriftstück, keine anderen Bürgen als das Gefühl! Geben Sie sich mit dem Herzen hin, wie Rosalie es getan hat, und machen Sie diese Nacht damit den Anfang, ohne daß ich irgendwelche Verpflichtungen eingehe. Indem Sie sich der Liebe anvertrauen, schlagen Sie sie in die Fesseln. Ein solcher Vorschlag wird unsere Liebesfreuden, wird uns selber ehren, und wenn Ihnen etwas daran liegt, will ich dies von Herrn von Grimaldi verbürgen lassen. Ihr Plan aber schadet Ihrer Ehre oder er läßt zum mindesten an Ihrer Klugheit zweifeln, denn nur ein Narr könnte auf ihn eingehen. Unmöglich können Sie einen Mann lieben, dem Sie einen solchen Vorschlag zu machen wagen, und ich bin überzeugt, Herr von Grimaldi würde damit nichts zu tun haben wollen, sondern würde darüber entrüstet sein.«

Diese Rede brachte Veronika keineswegs aus der Fassung; denn sie sagte mir, sie liebe mich nicht genug, um sich mir bedingungslos hinzugeben. Ich antwortete ihr, ich sei von ihren Reizen nicht genug bezaubert, um diese zu dem von ihr ausgesetzten Preise in meinen Besitz zu bringen. Damit ging ich hinaus.

Ich rief Costa und befahl ihm, dem Kapitän der Feluke zu sagen, daß ich am nächsten Tage abreisen wolle. Fest hierzu entschlossen, ging ich aus, um mich vom Marchese zu verabschieden. Er erzählte mir, er habe soeben Petri Rosalien vorgestellt, und diese habe ihn ziemlich gut aufgenommen. Ich sprach ihm meine Befriedigung darüber aus und bat ihn, für ihr Glück zu sorgen; aber diese Bitte war überflüssig.

Es ist einer der sonderbarsten Umstände meines Lebens, der mir am meisten aufgefallen ist, daß in einem und demselben Jahre die beiden Frauen, die ich am aufrichtigsten liebte und deren Gatte zu werden völlig in meiner Absicht stand, mir von zwei Greisen entrissen wurden, deren Liebe ich zwar nicht hervorgerufen, deren Neigung ich aber unabsichtlich beschützt hatte. Glücklicherweise machten diese beiden Herren meine beiden Geliebten glücklich, und ohne es zu wollen, leisteten sie selber mir den größten Dienst, denn sie befreiten mich von einer Last, die ich notwendigerweise schließlich sehr unbequem gefunden haben würde. Beide hatten ohne Zweifel bemerkt, daß mein Vermögen trotz seinem anscheinenden Glanz auf keiner sehr festen Grundlage beruhte, wie mein Leser später nur zu sehr merken wird. Ich will mich glücklich schätzen, wenn meine Irrtümer oder vielmehr meine Torheiten meinen Lesern zur Warnung dienen.

Den ganzen Tag freute ich mich darüber, wie sorgfältig Veronika und Annina meine Koffer packten, denn ich hatte nicht gewollt, daß meine Bedienten dies machten. Veronika war weder fröhlich noch traurig; sie sah aus, wie wenn sie ihren Entschluß gefaßt hätte, und sprach mit mir, wie wenn niemals ein Zwiespalt zwischen uns geherrscht hätte. Mir war dies sehr angenehm, denn da ich mir nichts mehr aus ihr machte, wäre ich in Verlegenheit gekommen, wenn sie sich nicht gleichgültig gezeigt hätte.

Wir speisten wie gewöhnlich zu Abend und sprachen ohne alle Anspielungen nur von alltäglichen Dingen; aber in dem Augenblick, wo ich zu Bett ging, drückte Annina mir die Hand und gab mir dadurch zu verstehen, daß ich ihren Besuch erwarten könnte. Ich bewunderte die natürliche Klugheit des jungen Mädchens, das so leicht und so früh lieben lernt. Diese Annina, die kaum aus den Kinderschuhen heraus war, wußte durch ihr Gefühl und durch Instinkt mehr von Liebe als ein Jüngling von zwanzig Jahren. Ich beschloß, ihr fünfzig Zechinen zu schenken, aber ohne daß Veronika etwas davon merkte; denn ich hatte nicht die Absicht, gegen diese ebenso freigebig zu sein. Ich nahm eine Rolle Dukaten und gab ihr diese, sobald sie hereingekommen war. Sie legte sich an meine Seite, und nachdem wir der Liebe einen kurzen Augenblick geschenkt hatten, sagte sie zu mir: »Veronika schläft. Ich habe Ihre ganze Unterhaltung mit meiner Schwester angehört und habe wohl begriffen, daß Sie sie lieben.«

»Wenn ich sie liebte, teure Annina, hätte ich ihr meinen Vorschlag nicht in so derber Weise gemacht.«

»Das glaube ich gern; aber was hätten Sie getan, wenn sie ihn angenommen hätte? Hätten Sie sich dann zu ihr ins Bett gelegt?«

»Ich war vollkommen gewiß, meine Liebe, daß ihr Stolz sie verhindern würde, mich zu empfangen.«

In diesem Augenblick unseres Gespräches wurden wir durch das plötzliche Erscheinen Veronikas überrascht, die mit einer Kerze in der Hand und nur mit ihrem Hemde bekleidet ihre Schwester durch ein lautes Gelächter ermutigte. Ich lachte ebenfalls, hielt aber dabei die Kleine fest, denn ich fürchtete, sie möchte mir entwischen. Veronika war entzückend in ihrem Nachtkleid, und da sie lachte, konnte ich ihr nicht böse sein; trotzdem sagte ich zu ihr: »Sie sind gekommen, um uns in unseren Genüssen zu stören und Ihrer Schwester Kummer zu bereiten, die Sie in Zukunft vielleicht verachten werden.«

»Ganz im Gegenteil! Ich werde sie immer lieben.«

»Vom Gefühl besiegt, hat sie sich mir ergeben, ohne Bedingungen zu stellen.«

»Sie ist klüger gewesen als ich.«

»Im Ernst?«

»Im vollsten Ernst.«

»Sie erstaunen und entzücken mich. Küssen Sie sie doch.«

Aus diese Einladung hin setzte Veronika ihre Kerze auf den Tisch und bedeckte Anninas schönen Körper mit Küssen. Diese Szene erfüllte mich mit innigem Glück und ich rief: »Schöne Veronika, Sie sind ja ganz eiskalt! Kommen Sie zu uns ins Bett.«

Ich machte ihr Platz, und wir lagen alle drei unter einer Decke. Mich entzückte dieses erhabene Gemälde, das des Pinsels eines Albani oder vielmehr eines Aretino würdig war, und ich rief: »Meine liebenswürdigen Freundinnen, ihr spielt mir den köstlichsten Streich! Aber war dieser vorausberechnet? Und Sie, Veronika, waren Sie heute morgen falsch oder sind Sie es jetzt?«

»Nichts war berechnet! Ich war heute morgen aufrichtig und bin es jetzt ebenfalls in diesem Zustande, worin Sie mich sehen. Ich erkenne an, daß ich heute Morgen ebenso lächerlich war wie der Plan, den ich ausgeheckt hatte, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen; denn ich bereue ihn und bin dafür bestraft worden. Heute Abend finde ich mich klug und vernünftig, weil ich dem Gefühl nachgebe, das Sie mir beim ersten Augenblick eingeflößt haben und gegen welches ich zu lange ankämpfte.«

»Sie sprechen da eine Sprache, die mich entzückt.«

»Nun, so verzeihes Sie mir denn, und machen Sie meine Strafe vollständig, indem Sie mir beweisen, daß Sie mir nicht böse sind«.

»Wie soll ich das machen?«

»Sagen Sie mir, daß Sie nicht mehr ärgerlich sind, und fahren Sie fort, meiner Schwester Beweise Ihrer Liebe zu geben.«

»Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht böse bin, sondern daß ich Sie im Gegenteil liebe. Aber in Ihrer Gegenwart?«

»Gewiß – wenn Sie mich nicht überflüssig finden.«

Die Szene war ebenso anziehend wie komisch, und da ich mich durch alle Reize der Wollust angestachelt fühlte, konnte ich keine passive Rolle spielen.

»Was sagst du dazu, liebes Herz?« fragte ich meine schöne Blonde; »soll eine über jedes Lob erhabene Heldin wie deine Schwester einfache Zuschauerin unserer süßen Kämpfe bleiben? Fühlst du dich nicht großmütig genug, zu erlauben, daß ich sie zur Mitwirkenden in diesem schönen Drama mache?«

»Nein, mein lieber Freund, ich muß gestehen, für diese Nacht fühle ich mich zu solcher Großmut nicht imstande; aber wenn du in der nächsten Nacht so hochherzig sein willst, dies Stück zu wiederholen, so werden wir die Rollen wechseln; Veronika wird meinen Platz einnehmen und ich den ihrigen.«

»Dies wäre vortrefflich,« sagte Veronika mit etwas schmollender Miene, »wenn der gnädige Herr nicht beschlossen hätte, morgen früh abzureisen.«

»Ich werde bleiben, reizende Veronika, und wäre es auch nur, um Ihnen zu beweisen, daß ich Sie anbetungswürdig finde.«

»Und um sich zu vergewissern, daß ich Sie liebe!«

Ich konnte nicht verlangen, daß sie sich noch deutlicher ausdrückte, und hätte sie gern auf der Stelle von meiner Dankbarkeit überzeugt; aber dies wäre auf Anninas Kosten geschehen, und ich würde sehr zur Unzeit die Stileinheit des Stückes gestört haben, dessen Verfasserin sie war und dessen Erfolg von Rechts wegen nur ihr allein zukam. Sooft ich mich an dieses angenehme Erlebnis erinnert habe, fühlte ich mein Herz vor Wollust höher schlagen und noch jetzt, da die grausame Hand der Zeit mir die Brandmale des Alters aufgedrückt hat, denke ich nicht ohne Wollust daran.

Infolge des Machtspruches ihrer jungen Schwester zur passiven Rolle verteilt, wandte Veronika sich nach der Seite; ihr schönes Haupt auf die rechte Hand stützend und einen vollendet schönen Busen entblößend, der die Sinne des kältesten Mannes hätte erregen können, forderte sie mich auf, meine Heldentaten mit Annina zu beginnen. Gern gehorchte ich ihr, denn ich stand in Flammen und war sicher, sie zu befriedigen, solange sie ihre Augen auf die meinigen geheftet halten würde. Die sehr kurzsichtige Annina konnte im Feuer des Gefechts die Richtung meiner Blicke nicht erkennen, und indem ich ihr geschickt die Bewegungen meiner rechten Hand verbarg, verschaffte ich Veronika ein weniger lebhaftes, aber ebenso wirkliches Vergnügen wie ihr selber. So oft eine etwas heftige Bewegung die Decke verschob, machte Veronika sich die Mühe, sie wieder zurecht zu legen, und bot mir dabei, scheinbar zufällig, immer wieder ein neues Bild. Bald belebte ihr eigenes Auge sich an der Wollust, die sie mir durch den Anblick ihrer Reize verschaffte. Außer sich vor Wollust, ohne selber befriedigt zu sein, entfaltete sie in dem Augenblick, wo Annina zum viertenmal ihr Leben verhauchte, vor meinen Blicken alle Schätze, mit denen die Natur sie verschwenderisch geschmückt hatte. Sie konnte annehmen, daß das von mir aufgeführte Stück im Grunde nur eine Probe für das mit ihr aufzuführende sei, und ihre Phantasie mußte die Reize eines solchen Gedankens noch erhöhen. Ich dachte wie sie, aber das Schicksal hatte es anders beschlossen.

Ich war mitten im siebenten Akt, der immer langsamer geht als die früheren und für die Heldin um so süßer ist, als Costa heftig an meine Tür pochte und mir meldete, daß die Feluke segelfertig sei. Ärgerlich über diese Störung stand ich zornig auf und befahl ihm, dem Schiffer seinen Tagelohn zu zahlen und ihm zu sagen, er solle sich für den nächsten Tag bereit halten. Hierauf ging ich wieder zu Bett; indessen war ich nicht imstande, die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. Meine beiden Schönen waren entzückt über mein Worthalten; aber wir hatten Ruhe nötig, wenngleich das Stück nicht mit dieser Unterbrechung endigen durfte. Um den Zwischenakt auszunützen, schlug ich eine Abwaschung vor, über welche Annina lachte, die aber Veronika für unbedingt nötig hielt. Es war ein köstlicher Extragang. Die beiden Schwestern bedienten sich gegenseitig in verschiedenen Stellungen, die im höchsten Grade wollüstig waren, und ich fand meine Rolle als Zuschauer beneidenswert.

Als unter jenem köstlichen Gelächter, das das Kitzeln hervorruft, die Abspülungen beendigt waren, kehrten wir nach dem Schauplatz zurück, wo der letzte Akt sich abspielen sollte. Ich war ungeduldig, zur Tat zu schreiten, und war überzeugt, mit Ehren aus dem Streit hervorzugehen, wenn meine Partnerin mich ordentlich unterstützte, denn ein bloßer Dialog war bei der achten Wiederholung nicht mehr durchführbar; aber Annina war zu jung, und die Arbeiten einer ganzen Nacht hatten sie zu sehr ermüdet; sie vergaß ihre Rolle und wich der Gewalt des Gottes Morpheus, wie sie der Gewalt Amors gewichen war. Veronika lachte laut auf, als sie ihre Schwester eingeschlafen sah, und ich mußte ebenfalls lachen, als ich sie wie tot daliegen sah.

Es galt sie wieder ins Leben zu rufen; aber die Liebe hat wohl die Kraft, aus einem gewöhnlichen Schlaf zu erwecken; hier aber schien eine Katastrophe eingetreten zu sein. Wie schade, sagten Veronikas Augen zu mir; leider aber sprach sie nur mit den Augen, während ich erwartete, daß ihr Mund diese Worte spräche. Wir hatten beide unrecht: sie, daß sie nicht sprach; ich, daß ich auf ihr Sprechen wartete. Der Augenblick, als Zwischenspiel eine Versöhnung einzuschieben, war im höchsten Grade günstig; wir versäumten diesen Augenblick, und Amor strafte uns dafür, übrigens hielt ich mich auch deshalb zurück, weil ich mich für die nächste Nacht schonen wollte. Veronika legte sich in ihr Bett, um Ruhe zu suchen; ich aber blieb bis Mittag neben meiner schönen Schläferin liegen, die ich beim Erwachen mit einem neuen Angriff begrüßte, der, wie ich glaube, weder von ihr noch von mir zu Ende geführt wurde.

Der Tag verging mit munteren Gesprächen über unsere eigenen Erlebnisse; wir hatten beschlossen, nur eine einzige Mahlzeit zu halten, und setzten uns daher erst mit Anbruch der Nacht zu Tisch. Dann aber verbrachten wir zwei volle Stunden damit, die köstlichen Speisen zu genießen und die Macht des Gottes Bacchus herauszufordern. Als wir Annina einschlafen sahen, standen wir vom Tisch auf; wir betrachteten es jedoch keineswegs als ein Unglück, sie bei den Freuden, deren wir zu genießen gedachten, nicht als Zuschauerin zu haben. Ich war der Meinung, die blendenden Reize der Nymphe, mit der ich mich zu beschäftigen hatte, würden mich genügend beschäftigen, um des Anblicks von Anninas Schönheiten nicht zu bedürfen. Wir legten uns ins Bett, umschlangen uns mit unseren Armen, preßten Leib an Leib und hefteten Lippe an Lippe; sonst aber machten wir keine Bewegung. Veronika bemerkte den Grund, der mich zur Untätigkeit zwang; sie sagte kein Wort, Höflichkeit hielt sie davon ab, sich zu beklagen. Sie verhehlte ihren Verdruß und unterbrach ihre Liebkosungen keinen Augenblick; ich war wütend, das Gefühl meiner Ohnmacht, das ich nicht begreifen konnte, machte mich ganz verwirrt. So etwas war bei mir früher nur infolge völliger Erschöpfung eingetreten oder nach einer starken Aufregung, die meine natürlichen Kräfte gelähmt hatte, wie es mir zum Beispiel bei Genovefa ergangen war, als ich den »Circulus Maximus« verlassen hatte und vom Blitz getroffen zu sein glaubte. Mögen meine Leser sich meine Lage vorstellen: ich war in der Blüte meiner Jahre, gesund und kräftig, hielt in den Armen ein in jeder Hinsicht schönes Weib, das ich heiß begehrt hatte! Sie war hingebend, liebevoll und zärtlich, ich aber sah mich gezwungen, sie unbefriedigt zu lassen und ihr damit den größten Schimpf zuzufügen, den man in einem solchen Falle einer Frau antun kann! Der Leser wird sich meine Verzweiflung daher wohl vorstellen können.

Als endlich nichts mehr übrig blieb, als die Maske abzunehmen und frei heraus zu sprechen, beklagte ich mich zuerst über mein Unglück.

»Sie haben sich gestern zu sehr abgemattet,« sagte sie zu mir, »und sind beim Abendessen nicht mäßig gewesen. Quälen Sie sich nicht, lieber Freund; ich bin überzeugt, daß Sie mich lieben. Zwingen Sie sich nicht mehr, der Natur Gewalt antun zu wollen; denn Sie werden dadurch nur erreichen, daß Sie sich noch mehr schwächen. Nach meiner Meinung ist ein sanfter Schlaf das beste Mittel, um Ihnen Ihre Manneskraft zurückzugeben. Ich habe keinen Schlaf nötig, aber tun Sie sich keinen Zwang an. Schlafen Sie ein, nachher wollen wir an Liebe denken.«

Nach diesen ebenso vernünftigen wie bescheidenen Worten drehte Veronika mir den Rücken zu; ich folgte ihrem Beispiel; aber vergebens rief ich den Schlaf herbei, der mir die Kräfte wiedergeben sollte: die Natur, die mir die Kraft versagte, ihr entzückendstes und schönstes Geschöpf glücklich zu machen, gönnte mir nicht einmal den Schlaf. Liebesglut und Verdruß verzehrten mich und machten mir die Ruhe unmöglich; meine Sinne waren von Begierde entflammt und schienen sich verschworen zu haben, die Harmonie, die zu ihrer Befriedigung notwendig war, nicht wiederherzustellen. Die Natur bestrafte mich dafür, daß ich an ihrer Macht gezweifelt und infolgedessen Reizmittel angewandt hatte, die nur bei Schwäche angebracht sind: wäre ich nüchtern gewesen, so hätte ich Wunder verrichtet; aber ich war von geistigen Getränken überfüllt, und darum bedurfte die Natur ihrer ganzen Macht, um der Wirkung derselben zu widerstehen. Durch meine Begierde nach dem Genuß hatte ich das Vergnügen zerstört. Die Natur ist weise wie ein Schöpfer: sie bestraft die Unwissenheit und anmaßende Eitelkeit der Sterblichen.

Es liegt in der Natur des Menschen, unter allen Umständen persönliche Befriedigung zu suchen: bald tut er dies, indem er sich gegen die Vernunft und für die Sinne erklärt, bald aber, indem er es umgekehrt macht. Man zollt sich Lobsprüche oder macht sich Vorwürfe, je nachdem das Selbstbewußtsein sich mit dem Für und Wider abzufinden weiß. In meiner entsetzlichen Schlaflosigkeit schweifte mein Geist umher; indem meine Sinne und meine Vernunft in Widerstreit lagen, fand ich eine gewisse Befriedigung darin, mich zu überreden, daß ich gegen mich selber ein Unrecht begangen hätte. Noch jetzt ist es der einzige Genuß, den ich habe, mich selber zu unterhalten und festzustellen, ob ich bei dieser oder jener Gelegenheit recht oder unrecht habe. Ich erkenne an, daß mir während meines ganzen Lebens niemals ein Unglück zugestoßen ist als durch meine eigene Schuld; die Glücksfälle dagegen, die mir während meiner langen abenteuerlichen Laufbahn beschieden waren, schreibe ich natürlichen günstigen Kombinationen zu. Dies mag vielleicht demütigend erscheinen; aber wenn der Mensch nun doch einmal so ist, warum soll man sich dadurch gedemütigt fühlen oder warum soll man darauf stolz sein? Ich glaube, ich würde verrückt werden, wenn ich in meinen Selbstgesprächen mir sagen müßte, daß ich ohne meine Schuld unglücklich wäre; denn dann wüßte ich nicht, welcher Ursache ich mein Unglück zuschreiben sollte, und damit würde ich mich in die Reihe der nur instinktmäßig handelnden Wesen stellen. Ich weiß, daß ich kein Tier bin. Ein Tier ist mein dummer Nachbar, der mit Vorliebe behauptet, die Tiere seien vernünftiger als wir. Ich erwiderte ihm: »Wenn Ihnen etwas daran liegt, will ich Ihnen zugeben, daß die Tiere vernünftiger sind als Sie; hierauf aber beschränken sich meine Zugeständnisse und ohne Zweifel die eines jeden vernünftigen Menschen.«

Mit dieser Antwort habe ich mir einen Feind gemacht, obwohl er die Hälfte meiner Behauptung als richtig anerkennt.

Veronika, glücklicher als ich, schlief drei Stunden lang; sie war jedoch unangenehm überrascht, als ich ihr sagte, daß ich kein Auge hätte schließen können, und als sie mich ebenso unvermögend fand wie zuvor. Sie wurde verdrießlich, als ich mich ein bißchen zu sehr anstrengte, um sie zu überzeugen, daß mein Unglück nicht am schlechten Willen läge. Sie wurde mißtrauisch gegen sich selber, und der Gedanke, daß sie an meiner Ohnmacht schuld sein könnte, kränkte sie so sehr, daß sie durch alle möglichen Mittel, die die Leidenschaft nur eingeben kann und die ich für unfehlbar hielt, den Zauberbann zu brechen suchte; aber alle ihre Anstrengungen waren ebenso vergeblich wie die meinigen. Meine Verzweiflung kam der ihrigen gleich, als ich sie entmutigt, erniedrigt, ermüdet und vor Beschämung weinend ihr Unterfangen aufgeben sah. Ohne ein Wort zu sagen, verließ sie mein Bett, und ich blieb die zwei oder drei Stunden, die uns noch von der Morgenröte trennten, allein liegen.

Bei Tagesanbruch kam Costa und meldete mir, das Meer sei sehr stürmisch und der Wind ungünstig, so daß die Feluke leicht untergehen könnte.

»Wir werden abfahren, sobald das Wetter es erlaubt,« antwertete ich ihm; »zünde mir Feuer an!« Ich stand auf und schrieb die traurige Geschichte dieser Nacht nieder. Diese Beschäftigung erfrischte meine Sinne; ich fühlte den Schlummer mir nahen, legte mich wieder zu Bett und schlief acht Stunden hintereinander. Als ich aufwachte, fand ich mich ruhig und kräftig, aber ich war nicht froh gestimmt. Die beiden Schwestern freuten sich, mich wohl zu sehen; ich glaubte jedoch in Veronikas Zügen einen gewissen, wenig angenehmen Ausdruck von Verachtung zu sehen. Ich konnte mich aber hierüber nicht beklagen und versuchte auch nicht, ihr Gefühl in Achtung zu verwandeln, obgleich sie, wäre sie liebevoll gewesen, mich jetzt imstande gefunden hätte, mein unbeabsichtigtes Verschulden von der Nacht wieder gutzumachen. Bevor wir uns zu Tisch setzten, schenkte ich ihr hundert Zechinen; diese heiterten sie ein wenig auf. Eine gleiche Summe schenkte ich meiner lieben Annina, die eine solche Gabe nicht erwartete; denn sie glaubte durch das erste Geschenk und noch mehr durch das Vergnügen, das ich ihr verschafft hatte, hinlänglich belohnt zu sein.

Um Mitternacht kam der Schiffer und meldete mir, das Wetter sei günstig. Ich nahm Abschied; Veronika vergoß Tränen, aber ich wußte, was ich davon zu halten hatte. Annina umarmte mich mit voller Zärtlichkeit. Beide waren ihrer Rolle getreu. Ich fuhr zu Schiff nach Lerici, wo ich am nächsten Morgen ankam, und von dort mit der Post nach Livorno. Doch bevor ich von dieser Stadt spreche, glaube ich meinen Lesern einen Gefallen zu tun, indem ich hier eine kleine lehrreiche Begebenheit erzähle, die des Ernstes meiner Geschichte würdig ist.