Drittes Kapitel


Ich finde Rosalie glücklich. – Signora Isolabella. – Der Koch. – Biribi. – Irena. – Passano im Gefängnis. – Meine Nichte erweist sich als eine alte Bekannte Rosaliens.

In Genua, wo alle Welt ihn kannte, nannte Pogomas sich Passano. Der Mensch wußte nichts Eiligeres zu tun, als mir seine Frau und seine Tochter vorzustellen; aber ich fand in ihnen zwei so unappetitliche Geschöpfe, zwei so schmutzige und schamlose Vetteln, daß ich mich so schnell wie möglich unter einem nichtigen Vorwande freimachte. Hierauf speiste ich mit meiner neuen Nichte köstlich zu Mittag.

Sofort nach Tische eilte ich zum guten Marchese Grimaldi, denn ich wollte gerne wissen, wo Rosalie wohnte. Ich fand den Marchese nicht zu Hause, und man erwartete seine Rückkehr erst für Ende April; aber einer seiner Lakaien führte mich zu Rosalie, die sechs Monate nach meiner Abreise Petris Frau geworden war.

Das Herz klopfte mir, als ich die Wohnung dieser reizenden Frau betrat, die mir so süße Erinnerungen hinterlassen hatte. Vor allem anderen suchte ich Herrn Petri in seiner Schreibstube auf; er empfing mich mit einer Freude, die mir bewies, daß er glücklich war. Er beeilte sich, mich zu seiner Frau zu führen, die bei meinem Anblick einen Freudenschrei ausstieß und mich mit überströmender Herzensfreude umarmte.

Da Petri Geschäfte zu erledigen hatte, so bat er mich, ihn zu entschuldigen, und forderte seine Frau auf, es mir in ihrem Hause heimisch zu machen.

Rosalie brachte mir ein reizendes kleines Mädchen von sechs Monaten und sagte mir, sie sei glücklich. Sie liebe ihren Gatten, der ihr innig zugetan sei. Er sei ein ausgezeichneter Geschäftsmann, sehr ordentlich und fleißig. Da Herr von Grimaldi ihn mit seinem Einfluß beschützte, so blühe sein Geschäft und er befinde sich in sehr erfreulichen Vermögensumständen.

Sie hatte sich in der Ehe und in ihrer gesicherten Lage herrlich entwickelt, und ich fand in ihr eine Schönheit in der vollsten Bedeutung des Wortes.

»Mein lieber Freund«, sagte sie zu mir, »ich bin dir unendlich dankbar, daß du mir gleich die ersten Augenblicke nach deiner Rückkehr gewidmet hast, und ich hoffe, dich morgen zum Mittagessen bei mir zu sehen. Dir verdanke ich mein Glück, und diese Erinnerung ist noch süßer, als es die seligen Augenblicke waren, die ich mit dir verbracht habe. Umarmen wir uns, aber laß uns dabei bleiben; ich habe gegenüber einem Manne, der meiner vollen Achtung würdig ist, die Verpflichtung, eine anständige Frau zu bleiben; laß uns nicht den Frieden stören, den ich dir verdanke! Von morgen an wollen wir uns auch nicht mehr duzen.«

Ich drückte ihr zum Zeichen meiner Zustimmung zärtlich die Hand; als ich aber sprechen wollte, rief sie: »Da fällt mir etwas ein! Ich werde dir, hoffe ich, eine angenehme Überraschung bereiten!«

Damit ging sie hinaus. Wenige Augenblicke später kam sie wieder und stellte mir Veronika vor, die sie zu ihrer Kammerzofe gemacht hatte. Ich weidete mich an der Überraschung des jungen Mädchens, das ich mit Vergnügen wiedersah. Ich umarmte sie und erkundigte mich nach Annina. Sie sagte mir, es gehe dieser gut, sie arbeite bei ihrer Mutter. Ich sagte: »Ich wünsche, daß sie während der kurzen Zeit, die ich hier bleiben werde, meine Nichte bedient.«

Als Rosalie dies hörte, lachte sie laut auf und rief: »Schon wieder eine Nichte, lieber Freund? Wie zahlreich doch deine Verwandtschaft ist! Aber als deine Nichte wird sie doch, hoffe ich, morgen ebenfalls bei uns speisen.«

»Recht gern, meine liebe Freundin; sie wird es um so lieber tun, da sie Marseillerin ist.«

»Marseillerin? Aber dann wäre es wohl möglich, daß sie mich kennt! Übrigens macht das nichts, denn du hast lauter verschwiegene Nichten. Wie heißt sie?«

»Crosin.«

»Dieser Name ist mir unbekannt.«

»Das glaube ich wohl. Sie ist die Tochter einer Base, die ich in Marseille hatte.«

»Erzähle das anderen, lieber Freund! Aber das macht nichts: Du führst ein fröhliches Leben und tust recht daran, denn du machst die Frauen glücklich, die dich beglücken. Vielleicht ist das die wahre Weisheit; jedenfalls wünsche ich dir Glück dazu. Ich werde deine Nichte mit Freuden sehen; aber wenn sie mich kennen sollte, so unterrichte sie vorher als guter Lehrer.«

Von Frau Petri begab ich mich zu Signora Isolabella. Ich gab bei ihr den Brief des Marchese Triulzi ab. Nachdem ich kaum eine Minute gewartet hatte, kam sie in den Salon, begrüßte mich und sagte mir, sie habe mich mit Vergnügen erwartet. Triulzi hatte sie von meiner bevorstehenden Ankunft in Kenntnis gesetzt. Sie stellte mir den Marchese Augustino Grimaldi della Pietra vor, der während der langen Abwesenheit ihres in Lissabon lebenden Gatten ihr erster Cicisbeo war.

Frau Isolabella hatte eine sehr schöne Wohnung; dies macht immer einen günstigen Eindruck. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit feinen und regelmäßigen Zügen und einen angenehmen Witz. Der Klang ihrer Stimme war sehr sanft, ihr Wuchs war schlank und regelmäßig, aber sie war zu mager. Sie war ungefähr dreißig Jahre alt. Von ihrer Haut will ich nichts sagen, denn sie war so ungeschickt mit Rot und Weiß bestrichen, daß diese Schichten von häßlicher Farbe das erste waren, was an ihr auffiel. Hierdurch stieß sie mich ab, trotz ihren ausdrucksvollen und lebhaften schönen Augen. Nachdem wir eine Stunde in angenehmer Unterhaltung verbracht und uns gegenseitig studiert hatten, lud sie mich beim Abschied für den nächsten Tag zum Abendessen ein.

Ich begab mich nach meiner Wohnung zurück und sprach meiner Nichte meine Anerkennung wegen der Wahl ihres Zimmers aus. Dieses war von dem meinigen nur durch eine Kammer getrennt, die ich sofort für ihre Kammerjungfer bestimmte. Ich sagte ihr, daß diese am nächsten Tage eintreten werde. Diese Aufmerksamkeit gefiel ihr sehr und brachte mich ein gutes Stück vorwärts. Hierauf sagte ich ihr, sie werde am nächsten Tage mit mir bei einem angesehenen Geschäftsmann als meine Nichte zu Mittag speisen; diese Neuigkeit machte sie ganz glücklich.

Meine junge Marseillerin, die Croce verrückt gemacht hatte, war hübsch wie ein Engel; aber ihr edler Anstand und ihr sanfter Charakter übertrafen noch bei weitem die anderen Reize, mit denen die Natur sie reichlich ausgestattet hatte. Ich war bereits heftig in sie verliebt und bedauerte sehr, daß ich mich nicht gleich am ersten

Tage ihrer bemächtigt hatte. Hätte ich sie beim Wort genommen, so wäre ich ein ruhiger Liebhaber geworden und hätte, wie ich glaube, keine lange Zeit gebraucht, um ihren ersten Verführer bei ihr in Vergessenheit zu bringen. Ich hatte wenig zu Mittag gegessen und war daher sehr hungrig, als wir zu Tisch gingen. Da meine Nichte stets einen entzückenden Appetit hatte, so gedachten wir dem ausgezeichneten Abendessen, das wir vorzufinden erwarteten, alle Ehre anzutun. Aber es kam ganz anders: die Speisen waren abscheulich. Ich befahl Clairmont, die Wirtin zu rufen. Sie kam und sagte mir, sie könne nichts dabei tun, denn mein Koch habe alles zurechtgemacht.

»Mein Koch?«

»Ja, mein Herr, der Koch, den Ihr Sekretär, Herr Passano, für Ihren Dienst angenommen hat. Hätte er mir den Auftrag gegeben, so würde ich Ihnen einen ausgezeichneten Koch besorgt haben, der viel weniger gekostet hätte als dieser.«

»Besorgen Sie ihn mir zu morgen.«

»Gern; aber vorher befreien Sie sich bitte von dem, den Sie jetzt haben, und befreien Sie auch mich von ihm, denn er hat sich mit seiner Frau und seinen Kindern bei mir einquartiert. Befehlen Sie Passano, ihn fortzuschicken.«

»Ich werde es besorgen, unterdessen mieten Sie mir Ihren Koch; ich werde übermorgen einen Versuch mit ihm machen.«

Ich begleitete meine Nichte in ihr Zimmer und bat sie, sie möchte zu Bett gehen, ohne auf mich zu achten. Während sie sich auszog, las ich die Zeitung. Als ich damit fertig war, trat ich an ihr Bett heran, wünschte ihr gute Nacht und sagte: »Sie könnten mir wohl die Unannehmlichkeit ersparen, allein schlafen zu müssen.«

Ohne mir zu antworten, schlug sie die Augen nieder. Ich gab ihr einen Kuß und ging hinaus.

Am nächsten Morgen trat meine schöne Nichte in mein Zimmer, als Clairmont mir gerade die Füße wusch. Sie bat mich, ihr Kaffee geben zu lassen, weil die Schokolade sie zu sehr erhitze. Ich befahl meinem Kammerdiener Kaffee zu holen. Sobald er hinausgegangen war, kniete sie nieder und wollte mir die Füße abtrocknen.

»Das werde ich unter keinen Umständen zugeben, mein liebes Fräulein.«

»Warum denn nicht? Es ist doch nur ein Freundschaftsbeweis.«

»Ich verstehe. Aber Sie können solche Freundschaftsbeweise nur einem Geliebten geben, ohne sich zu erniedrigen.«

Bescheiden stand sie auf und setzte sich auf einen Stuhl, ohne ein Wort zu sagen.

Da Clairmont zurückgekommen war, so zog ich mich vollends an.

Unterdessen hatte die Wirtin uns unser Frühstück gebracht; sie fragte meine Nichte, ob sie nicht eine schöne Mantilla von Pekingseide nach Genueser Mode kaufen wolle. Ich ersparte ihr die Verlegenheit, indem ich der Wirtin sofort sagte, sie möge die Modistin hereinkommen lassen. Einen Augenblick später trat diese ein; inzwischen hatte ich aber bereits meiner jungen Schutzbefohlenen zwanzig Genueser Zechinen gegeben, und sie gebeten, sich des Geldes für ihre kleinen Ausgaben zu bedienen. Sie nahm die Goldstücke, indem sie mir auf das anmutigste dankte und mich ihren köstlichen Lippen einen zärtlichen Kuß rauben ließ.

Nachdem ich das Mäntelchen gekauft und die Modistin wieder fortgeschickt hatte, kam Passano; er erlaubte sich, mir wegen des Kochs Vorstellungen zu machen. Er sagte: »Ich habe ihn in Ihrem Auftrag für die ganze Zeit Ihres Aufenthaltes in Genua angenommen; er erhält täglich vier Franken, außerdem Kost und Wohnung.

»Wo ist mein Brief?«

»Hier steht es: ›Besorgen sie mir einen guten Koch, den ich während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes in Genua behalten werde.‹«

»Haben Sie die Klausel bemerkt: einen guten Koch? Dieser aber ist ein abscheulicher Stümper, und für die Beurteilung seiner Güte dürfte ich doch wohl allein nur maßgebend sein.«

»Sie irren sich: der Mensch wird Ihnen beweisen, daß er gut ist. Er wird einen Prozeß gegen Sie anstrengen, und diesen werden Sie verlieren.«

»Sie haben also einen Vertrag in aller Form mit ihm abgeschlossen?«

»Ja, dazu war ich von Ihnen ermächtigt.«

»Lassen Sie ihn heraufkommen, ich will ihn einmal sehen.«

Während Passano den Küchenmann holte, befahl ich Clairmont, einen Advokaten zu rufen. Der Koch kam; ich las den Vertrag. Dieser war so abgefaßt, daß ich nach der Strenge der Buchstaben vor Gericht unrecht bekommen mußte. Trotzdem änderte ich aber meinen Entschluß nicht.

»Mein Herr,« sagte der Koch zu mir, »ich bin ein geschickter Mann in meinem Fach, und ich werde viertausend Genuesen finden, die mir dies bezeugen.«

»Das würde nicht für deren guten Geschmack sprechen; das Abendessen, das Sie gestern für mich gemacht haben, beweist auf alle Fälle, daß Sie nur ein Sudelkoch sind.«

Da nichts so leicht verletzlich ist als die Eitelkeit eines Kochkünstlers, so war ich auf eine lebhafte Antwort gefaßt. In diesem Augenblick trat aber der Advokat ein, und da er den Schluß unseres Gespräches gehört hatte, so sagte er zu mir, der Mann würde viele Leute finden, die ihm bezeugen würden, daß er ein sehr guter Koch sei. Ich aber würde keinen Menschen finden, der behaupten würde, daß er schlecht sei.

»Das mag sein, Herr Advokat; ich bleibe jedoch bei meiner Meinung, und da ich seine Kocherei abscheulich finde, so verlange ich, daß er geht, denn ich will einen anderen annehmen. Ich brauche doch nur diesen Mann zu bezahlen, wie wenn er mich bedient hätte.«

»Das genügt mir nicht«, rief der Koch laut; »ich werde Sie verklagen, um eine angemessene Entschädigung wegen Ehrverletzung zu erhalten.«

Bei diesen Worten stieg mir der Senf in die Nase, wie man zu sagen pflegt. Ich hätte ihn vielleicht zur Tür hinausgeworfen. Aber in demselben Augenblick trat Don Augustino Grimaldi ein. Als der hohe Herr unseren Streit erfuhr, lachte er, zuckte die Achseln und sagte: »Mein lieber Herr, gehen Sie nicht vor Gericht, denn Sie würden die Kosten bezahlen müssen, da alle Beweise gegen Sie sind. Der Mann hat recht, wenn er auch vielleicht nicht berechtigt ist, sich für einen ausgezeichneten Koch zu halten. Unrecht hat nur derjenige, der ihn angenommen hat, ohne mit ihm auszumachen, daß er eine Probemahlzeit liefern müsse. Es ist entweder eine Dummheit oder eine Gaunerei.«

Passano fiel ihm ins Wort und sagte grob, er sei weder ein Dummkopf noch ein Gauner.

»Aber Sie sind der Vetter des Kochs«, sagte die Wirtin zu ihm.

Dieses Wort kam gerade zur rechten Zeit; es enthüllte mir das Geheimnis; ich schickte den Advokaten fort, nachdem ich ihn bezahlt hatte, und befahl dem Koch, sich zu entfernen. Hierauf sagte ich zu meinem sogenannten Sekretär: »Passano, bin ich Ihnen Geld schuldig?«

»Im Gegenteil; Sie haben mir den Monat vorausbezahlt, und ich bin verpflichtet, Ihnen noch zehn Tage zu dienen.«

»Die zehn Tage schenke ich Ihnen; ich entlasse Sie auf der Stelle, es sei denn, daß Ihr Vetter noch heute mein Haus verläßt und Ihnen den dummen Vertrag gibt, den Sie in meinem Namen unterschrieben haben. Gehen Sie!«

»Sie haben den gordischen Knoten zerhauen!« sagte Herr von Grimaldi zu mir. Hierauf bat er mich, ihm doch die Dame vorzustellen, die er bei mir sehe. Ich tat dies, indem ich ihm sagte, sie sei meine Nichte.

»Sie werden der Signora Isolabella ein großes Vergnügen machen, indem Sie sie ihr vorstellen.«

»Da Herr Marchese Triulzi sie in seinem Briefe nicht genannt hat, so werde ich mir diese Freiheit nicht herausnehmen.«

Der Marchese brachte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand, und von meiner Nichte war nicht mehr die Rede. Wenige Augenblicke später entfernte er sich. Kaum war er fort, da trat Annina mit ihrer Mutter ein. Das junge Mädchen hatte sich während meiner Abwesenheit auf eine ganz unglaubliche Art entwickelt. Die Sommersprossen waren verschwunden, und ihre Haut leuchtete wie eine Rose; ihre Zähne waren vom schönsten Schmelz, und ihr Busen, den sie bescheiden mit einem Flor verhüllte, hatte eine vollkommene Rundung erlangt. Ich stellte sie ihrer Herrin vor, deren Überraschung mir viel Spaß machte.

Aus Anninas Augen leuchtete das Vergnügen, daß sie darüber empfand, wieder bei mir zu sein. Sie ging in das Zimmer ihrer Herrin, um dieser beim Ankleiden zu helfen. Ich gab der Mutter ein paar Zechinen und schickte sie fort, um mich anzuziehen.

Als ich gegen Mittag mit meiner Nichte fortgehen wollte, um uns zu Rosalie zu begeben, trat meine Wirtin mit meinem neuen Koch ein. Ich gab ihm an, welche Speisen ich am nächsten Tage zu erhalten wünschte, und die Wirtin gab mir den Vertrag, den Passano mit seinem Vetter abgeschlossen hatte. Dieser burleske Sieg versetzte mich in fröhliche Laune.

Wir fanden bei Petri eine glänzende Gesellschaft. Aber man stelle sich meine angenehme Überraschung vor, als ich sah, wie Rosalie und meine Nichte plötzlich einander um den Hals fielen, sich bei ihren Namen nannten und sich wie zwei gute Freundinnen küßten. Nach diesem ersten Zärtlichkeitsausbruch gingen meine beiden Freundinnen, wie ich mir gedacht hatte, in ein anderes Zimmer; als sie nach einer Viertelstunde wieder herauskamen, strahlten ihre Gesichter vor Zufriedenheit. Plötzlich aber änderte sich die Szene: als Petri in diesem Augenblick eintrat, stellte Rosalie ihm meine Nichte unter ihrem wahren Namen vor, und er begrüßte sie auf das herzlichste. Er stand in Geschäftsverbindung mit ihrem Vater und hatte von diesem gerade eben einen Brief erhalten, den er aus der Tasche zog und ihr zu lesen gab. Meine Nichte verschlang die Zeilen mit Tränen in den Augen und küßte dann voll Ehrerbietung die Unterschrift. Dieser Ausbruch kindlicher Liebe ließ mich die Gedanken erraten, die in diesem Augenblick auf das Herz des jungen Mädchens einstürmten, und rührte mich so tief, daß ich Tränen vergoß. Dann aber zog ich Rosalie beiseite und bat sie, ihrem Mann zu sagen, daß ich ihn aus wichtigen Gründen ersuchen müsse, seinem Geschäftsfreunde nichts von diesem Zusammentreffen zu schreiben.

Das Mittagessen war ebenso glänzend wie gut, und Rosalie spielte die Wirtin mit der ihr eigenen Gewandtheit und Anmut. Doch galten die Huldigungen der Gäste nicht ihr allein, denn meine angebliche Nichte erhielt den größeren Teil davon. Dies war natürlich; ihr Vater, ein reicher Handelsherr in Marseille, war in den kaufmännischen Kreisen Genuas sehr vorteilhaft bekannt, außerdem aber gewannen ihr auch ihr Geist und ihre Schönheit die allgemeine Aufmerksamkeit, und ein sehr liebenswürdiger junger Mann, der in der Gesellschaft war, verliebte sich ernstlich in sie. Dieser junge Mann war eine sehr gute Partie; er war der Gatte, den der Himmel meiner reizenden Schutzbefohlenen bestimmt hatte. Welche Wonne empfand ich darüber, daß ich mich gleichsam als Glücksstifter ansehen durfte, den das Schicksal diesem reizenden Mädchen zugeführt hatte, um sie vom Abgrund der Schande zurückzureißen, in welchen Armut und Verzweiflung sie zu stürzen drohten! Ich gestehe, in meiner langen, abenteuerlichen Laufbahn kam niemals eine Wollust dem süßen Gefühl gleich, das ich empfand, wenn ich etwas Gutes tun konnte; allerdings darf ich nicht behaupten, daß ich das Gute stets nur um seiner selbst willen und ohne jede gewinn- und genußsüchtige Nebenabsicht getan habe.

Als wir fröhlich und zufrieden vom Tisch aufgestanden waren, wurde der Vorschlag gemacht, Karten zu spielen; Rosalie wußte jedoch, daß ich Gesellschaftsspiele nicht liebte, und erklärte daher, wir müßten ein Trente et Quarente machen. Mit diesem Vorschlag waren alle Anwesenden gern einverstanden. Das Spiel beschäftigte uns bis zum Abendessen, ohne daß große Gewinne oder Verluste vorkamen. Um Mitternacht trennten wir uns alle im besten Einvernehmen.

Als ich in meiner Wohnung mit meiner Nichte allein war, fragte ich sie, woher sie Rosalie kenne.

»Ich kannte sie in unserem Hause. Sie kam mit ihrer Mutter und brachte die Wäsche; ich habe sie immer gern gehabt.«

»Ihr seid ungefähr von gleichem Alter.«

»Sie ist zwei Jahre älter als ich; ich habe sie sofort wiedererkannt.«

»Was hat sie Ihnen gesagt?«

»Daß Sie sie von Marseille mitgenommen haben und daß sie Ihnen ihr Glück verdankt.«

»Hat sie Ihnen sonst nichts anvertraut?«

»Nein, aber es gibt Dinge, die man nicht auszusprechen braucht.«

»Da haben Sie recht; und Sie, was haben Sie zu ihr gesagt?«

»Nichts, als was sie sich ohnehin denken konnte. Ich habe ihr gestanden, daß Sie nicht mein Oheim sind, und wenn sie glaubt, daß Sie mein Liebhaber sind, so bin ich darob nicht böse. Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Freude mir die heutige Gesellschaft gemacht hat. Sie sind dazu geboren, Menschen glücklich zu machen.«

»Aber Croce?«

»Ach, ich bitte Sie, sprechen Sie nicht mehr von ihm.«

Dieses Gespräch hatte mich in Feuer und Flammen gesetzt. Sie rief Annina, und ich ging zu Bett.

Wie ich’s erwartet hatte, kam Annina zu mir, sobald sie ihre Herrin zu Bett gebracht hatte. Sie sagte: »Wenn es wahr ist, daß Madame nur Ihre Nichte ist, so darf ich mir wohl mit der Hoffnung schmeicheln, daß Sie mich noch lieben?«

»Ganz gewiß, meine liebe Annina. Ich liebe dich immer. Zieh dich aus und komm in mein Bett: wir wollen ein wenig plaudern.«

Annina ließ nicht auf sich warten; die Zeit hatte sie gereift, und in zwei Stunden voll süßer Wollust erschöpfte ich mit ihr die Gluten, die eine andere Liebe in allen meinen Sinnen entfacht hatte.

Am nächsten Morgen kam Passano zu mir und sagte, er habe durch Zahlung von sechs Zechinen die Sache mit dem Koch in Ordnung gebracht. Ich gab ihm das Geld, indem ich ihm empfahl, in Zukunft nicht so vorschnell zu sein.

Hierauf ging ich zu Rosalie, der ich ein großes Vergnügen machte, indem ich mich bei ihr zum Frühstück einlud. Nachdem wir gegessen hatten, bat ich sie, am nächsten Tage mit ihrem Mann und vier Personen ihrer Wahl bei mir zu speisen.

»Von Ihnen wird die Entscheidung abhängen,« sagte ich »ob ich den Koch in meine Dienste nehme; er liefert morgen sein Probestück.«

Sie sagte zu und sprach hierauf den Wunsch aus, die Geschichte meiner Liebschaft mit ihrer schönen Landsmännin kennen zu lernen.

»Ach, reizende Freundin, werden Sie mir Glauben schenken, wenn ich Ihnen sage, daß ich noch beim A-B-C stehe?«

»Wenn Sie es mir sagen, glaube ich es, obgleich es mir unglaublich scheint.«

»Trotzdem ist es vollkommen wahr; allerdings kenne ich sie erst seit sehr kurzer Zeit; außerdem will ich, wie Sie wissen, Liebesglück stets nur dem Gefühl verdanken. Liebe aus Gefälligkeit würde mich töten.«

»Das begreife ich. Aber was hat sie Ihnen über mich gesagt?«

Ich berichtete ihr nun Wort für Wort unser Gespräch vom vorigen Abend; sie freute sich sehr darüber und sagte: »Da Sie mit Ihrer neuen Nichte noch auf dem Fuße einer zartfühlenden Freundschaft stehen, so möchte ich Sie fragen, ob es Ihnen unlieb wäre, wenn der junge Mann, der gestern so aufmerksam gegen sie war, morgen als Gast zu Ihnen käme?«

»Es interessiert mich sehr, zu erfahren, wer er ist.«

»Er heißt N. und ist der einzige Sohn eines reichen Kaufmanns.«

»Bringen Sie ihn unter allen Umständen mit!«

In meiner Wohnung fand ich meine Nichte in ihrem Bett. Ich sagte ihr, daß ihre Landsmännin am nächsten Tage bei uns speisen würde, und beruhigte sie durch die Versicherung, Herr Petri werde nicht an ihren Vater schreiben, daß sie in Genua sei. Hierüber war sie sehr erfreut, denn die Befürchtung, daß ihr Vater ihren Aufenthalt erfahren könnte, hatte sie sehr gequält.

Da ich zum Essen eingeladen war, sagte ich ihr, sie könne entweder bei Rosalie zu Abend speisen oder auch zu Hause bleiben, wenn sie dies lieber wolle.

»Ich danke Ihnen, lieber Oheim, für Ihre großen Aufmerksamkeiten, die mich beschämen. Ich werde zu Rosalie gehen.«

»Gut. Sind Sie mit Annina zufrieden?«

»Da fällt mir etwas ein, lieber Oheim: sie sagte mir, sie habe die Nacht mit Ihnen verbracht und Sie seien ihr Liebhaber und gleichzeitig der ihrer Schwester gewesen.«

»Das gebe ich zu; aber sie ist eine dumme Plaudertasche.«

»Sie müssen ihr verzeihen. Sie hat mir gesagt, sie habe in das Opfer nur eingewilligt, nachdem Sie ihr versichert haben, daß ich wirklich Ihre Nichte sei. Übrigens fühle ich, daß sie mir die Sache nur aus Eitelkeit anvertraut hat und zugleich in der Hoffnung, sich dadurch bei mir in eine Art von Achtung zu setzen, denn sie hat es für selbstverständlich gehalten, daß ich ein junges Mädchen, das Sie lieben, achten werde.«

»Viel lieber wäre es mir, Sie hätten das Recht, eifersüchtig auf sie zu sein! Aber das schwöre ich Ihnen: wenn Annina nicht ganz taktvoll und diensteifrig gegen Sie ist, so werde ich sie ohne die geringste Rücksicht auf meine Beziehungen zu ihr vor die Tür setzen; denn sie ist nur ein Notbehelf, dessen ich mich bediene, weil ich mich Ihnen gegenüber in einer so eigentümlichen Lage befinde. Sie, mein Fräulein, können mich nicht lieben, und ich habe nicht das Recht, mich hierüber zu beklagen; aber Sie sind keine Frau, die sich dazu herbeilassen könnte, die erniedrigende Rolle meiner gefälligen Beischläferin zu spielen.«

Es war mir durchaus nicht unlieb, daß meine Nichte um das Verhältnis zwischen mir und Annina wußte; aber die Art, wie sie diese Tatsache aufnahm, ärgerte mich ziemlich. Es schien mir klar zu sein, daß sie keinen Gefallen an mir fand, und daß es ihr ganz angenehm war, wenn ihre Kammerzofe sie vor der Gefahr beschützte, der sie bei unseren täglichen, stundenlangen Zusammenkünften ausgesetzt war, denn sie mußte sich der Macht ihrer Reize wohl bewußt sein.

Wir speisten selbzweit und erhielten von der Geschicklichkeit meines neuen Kochs einen guten Vorbegriff. Herr Petri hatte mir versprochen, mir einen tadellosen Lakaien zu besorgen. Dieser stellte sich vor, als wir mit dem Essen so ziemlich fertig waren, und ich machte meiner Nichte ein Geschenk, indem ich den jungen Mann zu ihrer besonderen Bedienung annahm.

Wir machten eine Spazierfahrt, und ich brachte meine Nichte zu Rosalie, bei der sie blieb. Ich selber fuhr zu Signora Isolabella, bei der ich eine zahlreiche und glänzende Gesellschaft fand: der vornehmste Adel Genuas war in ihren Sälen versammelt.

Zu jener Zeit schwärmten die Damen der großen Gesellschaft für das Biribi, ein wahres Gaunerspiel; die Herren, die ihnen gefallen wollten, mußten es ihnen natürlich nachtun. Dieses Spiel war in Genua streng verboten und darum natürlich um so mehr beliebt. Das Verbot konnte sich jedoch nicht auf Privatgesellschaften erstrecken, denn die Vorgänge im Innern vornehmer Häuser unterstehen nicht der Macht der Regierung. Um es kurz zu machen: ich fand bei der Signora Isolabella ein Biribispiel in vollem Gange. Die Spieler, die die Bank hielten, gingen von Haus zu Haus, wenn man sie bestellte; die Liebhaber des Spieles erhielten Bescheid und fanden sich pünktlich ein.

Obgleich ich gegen dieses Spiel eine Abneigung habe, wollte ich mich doch nicht ausschließen und beteiligte mich daher wie die anderen.

Im Spielsaal befand sich ein Bildnis der Dame des Hauses im Kostüm einer Harlequine; eine Laune des Zufalls wollte es, daß auf dem Tableau des Biribi ein ähnliches Bild war. Aus einem sehr natürlichen Antrieb von Galanterie wählte ich dieses Feld und spielte auf keinem anderen. Ich setzte jedesmal eine Zechine; das Tableau hatte sechsunddreißig Felder und man bezahlte dem Gewinner den zweiunddreißigfachen Einsatz, was für den Bankhalter einen ungeheuren Vorteil bedeutete. Jeder Spieler zog drei Nummern hintereinander. Das Biribi wurde von drei Personen gehalten: der eine ging mit dem Sack rum, der zweite zahlte aus, und der dritte überwachte das Tableau und strich sorgsam alle verlorenen Sätze ein, sobald bekannt war, welches Feld gewonnen hatte. Die Bank war ungefähr zweitausend Zechinen stark. Der Tisch, ein schöner Teppich und vier silberne Leuchter gehörten den Spielhaltern.

Ich saß zur Linken der Signora Isolabella, bei der das Spiel begann, und da wir fünfzehn oder sechzehn Spieler waren, hatte ich etwa fünfzig Zechinen verloren, als ich an die Reihe kam; denn meine Harlequine war nicht ein einziges Mal herausgekommen. Jeder bedauerte mich oder tat wenigstens so; denn beim Spiel erstickt für gewöhnlich der Egoismus jedes andere Gefühl.

Als ich an die Reihe kam, zog ich meine Harlequine und erhielt zweiunddreißig Zechinen. Ich lasse diese auf derselben Figur stehen, gewinne und erhalte tausend Zechinen. Von diesen lasse ich fünfzig stehen, und die Harlequine kommt zum dritten Male heraus. Da das ganze Geld der Bank nicht ausreicht, so gehören mir Tisch, Teppich, Spieltableau, Leuchter und Biribi, und ich bemächtige mich meines Eigentums. Alle Welt beglückwünscht mich. Die ausgebeutelten Gauner werden ausgelacht, ausgepfiffen und hinausgeworfen.

Als dann aber der erste Rausch der Begeisterung sich gelegt hatte, sah ich die Damen betrübte Gesichter machen; denn da das Spiel zu Ende war, so wußten sie nicht, was sie anfangen sollten. Um sie zu trösten und wieder aufzuheitern, erklärte ich ihnen, ich würde die Bank übernehmen, aber bei gleichem Spiel, und würde daher für die gewinnenden Figuren den sechsunddreißigfachen Einsatz auszahlen statt des zweiunddreißigfachen. Man fand mich reizend, und ich amüsierte die ganze Gesellschaft bis zum Abendessen, ohne etwas zu verlieren oder zu gewinnen. Als das Spiel zu Ende war, bat ich die Dame des Hauses, die ganze Spieleinrichtung freundlichst annehmen zu wollen; dies war ein sehr hübsches Geschenk.

Das Abendessen war sehr angenehm; mein Abenteuer bildete den hauptsächlichen Gegenstand der Unterhaltung. Beim Abschied bat ich Signora Isolabella und ihren Marchese, bei mir zu speisen; sie nahmen die Einladung sehr eifrig an. Hierauf holte ich meine Nichte ab, die mir sagte, sie habe einen köstlichen Abend verbracht.

»Ein sehr liebenswürdiger junger Mann, den meine Freundin morgen zum Essen mitbringen wird, war außerordentlich zuvorkommend gegen mich.«

»Ist das nicht derselbe, der sich gestern bei der Tafel fortwährend mit Ihnen beschäftigte?«

»Ja, der ist es. Unter anderen schönen Dingen hat er mir auch gesagt, er wolle nach Marseille reisen, um meinen Vater kennen zu lernen und bei ihm um meine Hand anzuhalten, wenn ich damit einverstanden sei. Ich habe ihm nichts darauf geantwortet, aber ich habe bei mir selber gedacht: wenn der arme junge Mann sich diese Mühe macht, wird er angeführt sein.«

»Warum denn?«

»Weil er mich nicht sehen wird. Ein Kloster wird mein Asyl werden. Mein Vater ist voll von Güte und Zärtlichkeit: er wird mir vergeben, das weiß ich. Aber es ist meine Pflicht, mich selber zu bestrafen.«

»Das ist ein sehr trauriger Gedanke, meine liebenswürdige Nichte. Ich hoffe. Sie werden ihn aufgeben. Sie haben alles, was nötig ist, um einen Mann zu beglücken, der Sie zu beglücken würdig ist und der dank seinem Vermögen so unabhängig ist, wie ein Mensch es nur sein kann. Je mehr ich über Sie nachdenke, desto mehr bin ich überzeugt, daß ich recht habe.«

Wir sprachen nicht länger über diesen Gegenstand, denn sie war der Ruhe bedürftig. Annina kam herein, um sie auszukleiden, und ich bemerkte mit Vergnügen, wie gütig meine Nichte sie behandelte; ebensowenig entging mir jedoch, mit welcher Gleichgültigkeit die Zofe ihre Herrin bediente. Als sie daher zu mir kam und sich in mein Bett legte, machte ich ihr freundliche Vorstellungen darüber, und ersuchte sie, ihren Pflichten besser nachzukommen. Anstatt mir durch Liebkosungen zu antworten, wie sie hätte tun sollen, begann Annina zu weinen.

»Mein liebes Kind, deine Tränen langweilen mich; ich lasse dich nur kommen, um fröhlich mit dir zu sein, und wenn du mich traurig machen willst, schicke ich dich fort.«

Trotzig und empfindlich, wie alle dummen Mädchen bei solchen Anlässen es sind, stand die Kleine auf und ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen.

In verdrießlicher Stimmung schlief ich ein.

Am nächsten Morgen sagte ich ihr im Tone des Herrn, sie habe mir einen häßlichen Streich gespielt, und wenn das noch einmal vorkäme, würde ich sie entlassen. Anstatt den Versuch zu machen, mich durch Liebkosungen zu beschwichtigen, fing die kleine Rebellin herzbrechend zu weinen an. Hierüber ärgerlich, schob ich sie zur Tür hinaus; dann begann ich das am vorigen Abend gewonnene Geld zu zählen.

Ich dachte schon nicht mehr an Annina, als meine Nichte mit freundlichem Gesicht bei mir eintrat und mich sanft und gefühlvoll fragte, warum ich die arme Annina gekränkt habe.

»Meine liebe Nichte, sagen Sie ihr, sie soll vernünftig sein und Sie gut bedienen; sonst würde ich sie zu ihrer Mutter zurückschicken!«

Ohne mir zu antworten, nahm sie lachend eine Hand voll Silbermünzen und lief hinaus. Ich hatte keine Zeit, lange über dieses eigentümliche Benehmen nachzudenken, denn unmittelbar darauf trat Annina ein, ließ meine Taler in ihrer Schürze klimpern, küßte mich und versprach mir, sie wolle mich in ihrem ganzen Leben nicht wieder ärgern.

So war der Charakter meiner neuen Nichte. Sie wußte, daß ich sie anbetete; sie liebte mich, wollte mich aber nicht zum Liebhaber haben und machte sich doch den Einfluß zunutze, den meine Leidenschaft ihr verlieh. Im Kodex der weiblichen Koketterie sind Fälle dieser Art sehr bekannt.

Passano kam zu mir, ohne daß ich ihn hatte rufen lassen, und beglückwünschte mich zu meinem Siege vom Tage vorher.

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Ich komme aus dem Kaffeehaus, wo alle Welt davon spricht. Es ist ein wunderbarer Sieg, denn die Biribanti sind abgebrühte Gauner. Das Abenteuer wird Aufsehen machen, denn man behauptet, Sie hätten unmöglich die Bank dieser Gauner sprengen können, ohne mit dem Mann, der den Sack hielt, im Einverständnis zu sein.«

»Mein Lieber, Sie langweilen mich. Da, geben Sie dieses Goldstück Ihrer Frau und gehen Sie!«

Das Goldstück, das ich ihm gab, war hundert Genueser Lire wert; die Regierung hatte diese Münze als ein bequemes Zahlungsmittel für den inneren Verkehr schlagen lassen; es gab in gleicher Prägung auch Stücke zu fünfzig und fünfundzwanzig Lire.

Ich war noch immer damit beschäftigt, mein Gold und mein Silber zu zählen, als Clairmont mir ein Briefchen brachte. Es war eine zärtliche Einladung von Irena, die den Wunsch aussprach, ich möchte mit ihr frühstücken. Ich wußte nicht, daß sie in Genua war, und diese Neuigkeit machte mir viel Vergnügen. Ich schloß mein Geld ein, kleidete mich in aller Eile an und begab mich zu ihr. Ich fand sie in einer schön eingerichteten Wohnung, und ihr alter Vater, Graf Rinaldi, umarmte mich unter Freudentränen.

Nach den ersten üblichen Komplimenten sprach der alte Herr mir seinen Glückwunsch zu meinem Gewinn aus.

»Dreitausend Zechinen«, rief er aus, »sind ein schönes Stück Geld!«

»Ganz gewiß.«

»Das Spaßhafte dabei ist, daß der Mann, der den Sack hielt, ein Angestellter der beiden anderen war.«

»Was finden Sie denn dabei spaßhaft?«

»Daß er, ohne etwas zu riskieren, die Hälfte der Summe gewonnen hat; denn ohne diese Bedingung würde er sich wahrscheinlich nicht mit Ihnen eingelassen haben.«

»Sie glauben also, daß wir unter einer Decke steckten?«

»Das glaubt ein jeder, und es kann auch gar nicht anders sein. Der Kerl ist ein Spitzbube, der sein Glück gemacht hat, indem er andere Spitzbuben betrog. Alle Falschspieler von Genua zollen ihm Beifall und singen Ihr Lob!«

»Sie feiern mich als einen noch größeren Spitzbuben?«

»Diesen Namen gibt man Ihnen nicht – oh nein! Man bewundert Ihren großartigen Geist; man lobt Sie, beneidet Sie!«

»Vielen Dank für ein solches Lob.«

»Ich habe die Geschichte von einem Herrn, der beim Kampf zugegen war. Er sagt, das zweite und dritte Mal haben Sie dank der Beihilfe des Mannes, der den Sack hielt, die Kugel am Gefühl erkannt.«

»Und Sie sind überzeugt, daß dies die Wahrheit ist?«

»Fest überzeugt. Kein Ehrenmann hätte es an Ihrer Stelle anders gemacht. Doch rate ich Ihnen, sich bei der Zusammenkunft, die Sie mit Ihrem Manne haben werden, wohl in acht zu nehmen; denn Sie werden Spione auf Ihren Fersen haben. Wenn Sie wollen, stehe ich Ihnen zu Diensten.«

Es gelang mir, mich selber zu beherrschen und nicht der Entrüstung nachzugeben, die eine solche Sprache in mir erregte. Ich bewahrte meine Kaltblütigkeit, nahm aber mit verächtlicher Miene, ohne ein Wort zu sagen, meinen Hut und ging. Irena wollte mir, wie einst in Mailand, den Ausgang verlegen; ich stieß sie jedoch hart zurück und verließ das Zimmer mit dem festen Entschluß, mich niemals wieder mit diesem elenden alten Grafen einzulassen.

Die Verleumdung verletzte mich tief, obgleich ich recht gut wußte, daß sie mir nach der Denkweise oder, wenn man will, nach der Moral der Spieler viel Ehre machte. Nach dem, was Passano und Rinaldi mir gesagt hatten, konnte ich nicht daran zweifeln, daß die Geschichte allgemein bekannt war. Daß man daran glaubte, wunderte mich durchaus nicht. Ich hatte aber vollkommen ehrlich gehandelt, und ich konnte daher nicht zugeben, für einen Gauner gehalten zu werden, da ich mir doch meiner Ehrenhaftigkeit bewußt war.

Ich hatte das Bedürfnis, mein Herz auszuschütten, und ging daher nach der Strada Balbi, um dem Marchese Grimaldi einen Besuch zu machen und mit ihm über die Angelegenheit zu sprechen. Der hohe Herr war nicht zu Hause; er war zu einer Sitzung in den Regierungspalast gegangen. Ich ließ mich dorthin führen, und sobald er von meiner Anwesenheit erfuhr, kam er in eine Art von Wartesaal, worin ich mich befand, und begrüßte mich auf das freundlichste. Als ich ihm erzählt hatte, was für eine Geschichte über mich im Umlauf wäre, sagte er: »Mein lieber Chevalier, Sie müssen darüber lachen und dürfen sich nicht einmal die Mühe machen, zu widersprechen.«

»Sie raten mir also, zuzugestehen, daß ich ein Gauner bin?«

»Nein; denn nur Dummköpfe werden Sie dafür halten. Verachten Sie diese, es sei denn, daß jemand es Ihnen ins Gesicht sagt.«

»Ich möchte wohl den Patrizier kennen, der die Geschichte erzählt hat, und der dabei gewesen zu sein behauptet.«

»Ich kenne ihn nicht. Er hat unrecht getan, es zu erzählen; aber Sie würden ebenfalls unrecht haben, wenn Sie versuchten, seinen Namen zu erfahren; denn ich bin fest überzeugt, er hat durchaus nicht die Absicht gehabt, Sie zu beleidigen. Er glaubte eben gar nichts Böses von Ihnen zu sagen.«

»Ich bewundere solche Auffassung, aber sie verwirrt mich, denn ich begreife durchaus nicht, worauf sich eine solche Ansicht gründet. Nehmen wir, bitte, einmal an, die Sache wäre so, wie man sie erzählt, und sagen Sie mir, ob Sie glauben, daß sie mir Ehre machen würde?«

»Weder Ehre noch Schande. So sind nun einmal unsere Sitten; so denkt man hier allgemein über die Glücksspiele. Man wird lachen, man wird Sie rühmen, ja man wird Sie sogar lieben; denn ein jeder wird sagen, er hätte es an Ihrer Stelle ebenso gemacht.«

»Sie auch?«

»Ja. Wäre ich gewiß gewesen, daß in der Kugel sich die Harlequine befand, so hätte ich gerade so, wie Sie es getan haben, die Bank gesprengt. Ich will Ihnen aufrichtig sagen: ich weiß nicht, ob Sie durch Glück oder durch Geschicklichkeit gewonnen haben; aber wenn ich ein Urteil fällen sollte, das auf Wahrscheinlichkeit gegründet wäre, so würde ich sagen, daß Sie die Kugel gekannt haben. Geben Sie zu, daß ich richtig denke!«

»Ich gebe es zu, aber Ihre Anschauung ist trotzdem eine für mich entehrende Annahme; Sie werden daher Ihrerseits zugeben, daß alle diejenigen, die die Vermutung hegen, ich hätte durch Geschicklichkeit oder durch ein Einverständnis mit einem Spitzbuben gewonnen, mich beleidigen.«

»Das kommt auf die Auffassung an. Ich gebe zu, daß sie Sie beleidigen, wenn Sie sich beleidigt fühlen; dies können sie jedoch nicht vermuten, und wenn sie keine Ahnung haben, daß solche Annahme Sie verletzt, und wenn sie durchaus nicht die Absicht haben, Sie zu verletzen, so kann keine Beleidigung vorliegen, übrigens verspreche ich Ihnen, daß Sie keinen Menschen finden werden, der so unvorsichtig wäre, Ihnen zu sagen, Sie hätten einen betrügerischen Gewinn gemacht. Aber sagen Sie mir, ob es möglich ist, irgendeinen Menschen zu verhindern, so zu denken?«

»Gut. Mag man es denken, man hüte sich aber, es mir zu sagen!«

Ich ging nach Hause. Ich war ärgerlich auf Grimaldi, auf Rinaldi, auf die ganze Welt und besonders auf mich selber: ich ärgerte mich, daß ich mich ärgerte, denn schließlich hätte ich einfach über die ganze Geschichte lachen können, da ich wußte, daß ich unschuldig war, und daß bei der Sittenverderbnis, die jedes Urteil beeinflußte, diese Geschichte, einerlei, ob sie wahr oder falsch war, meine Ehre nicht berühren konnte. Im Gegenteil, dieses Abenteuer brachte mich in den Ruf eines geistreichen Mannes in einem Sinne, der in Genua noch mehr als an jedem anderen Ort den unangenehmen Begriff veredelt, den die Jansenisten mit dem Worte Gauner verbinden. Schließlich überraschte ich mich selber bei dem Gedanken, daß ich mir gar kein Gewissen daraus gemacht hätte, die Biribibank zu sprengen, wenn der Mann mit dem Sack mir vorher einen derartigen Vorschlag gemacht hätte – wäre es auch nur gewesen, um eine liebenswürdige Gesellschaft lachen zu machen. Vielleicht ärgerte es mich bei der ganzen Geschichte am meisten, daß man mir eine Heldentat zuschrieb, deren Verdienst ich nicht beanspruchen konnte.

Da es bald Zeit zum Mittagessen war, bemühte ich mich, meine schlechte Laune zu überwinden; denn ich hatte die Verpflichtung, für die Erheiterung der liebenswürdigen Gesellschaft zu sorgen, die ich bei mir sehen sollte. Meine Nichte erschien nur mit ihren Reizen geschmückt; denn sie hatte weder Perlen noch Brillanten, da ihr unglückseliger Croce alles verkauft hatte. Aber sie war elegant angezogen und sehr gut frisiert, und ihr prachtvolles Haar war kostbarer als ein Rubinschmuck.

Einige Augenblicke später kam Rosalie; sie war reich geschmückt und noch sehr schön. In ihrer Begleitung kamen ihr Mann und dessen Oheim nebst seiner Frau, sowie zwei Freunde, von denen der eine der Anbeter meiner schönen Marseillerin war.

Signora Isolabella und ihr unzertrennlicher Schatten, Marchese Grimaldi, kamen spät, wie es in der vornehmen Gesellschaft üblich ist.

Gerade als wir uns zu Tische setzen wollten, meldete Clairmont mir, ein Mann möchte mit mir sprechen.

»Lassen Sie ihn hereinkommen.«

Kaum war er eingetreten, so rief Herr von Grimaldi: »Das ist ja der Mann mit dem Sack!«

»Was wollen Sie von mir?« sagte ich kurz.

»Mein Herr, ich möchte Sie um eine Unterstützung bitten. Ich bin Familienvater; man glaubt, ich …«

Ich ließ ihn nicht ausreden, sondern sagte: »Ich habe niemals einem Unglücklichen eine Unterstützung verweigert. Clairmont, geben Sie dem Mann zehn Zechinen. – Gehen Sie!«

Dieser Vorfall war mir erwünscht; er trug dazu bei, mir meine gute Laune wiederzugeben.

Wir setzten uns zu Tisch, und in demselben Augenblick übergab man mir einen Brief. Da ich Passanos Handschrift erkannte, so steckte ich ihn uneröffnet in die Tasche.

Mein Mittagsmahl war glänzend und lecker. Mein Koch verdiente sich damit die Rittersporen. Signora Isolabella nahm zwar durch ihren hohen Rang und ihren glänzenden Schmuck den ersten Platz ein; sonst aber wurde sie durch meine beiden Nichten in den Schatten gestellt. Der junge Genueser bemühte sich auf das aufmerksamste um seine schöne Marseillerin; ich sah deutlich, daß sie nicht unempfindlich dagegen war, und erblickte darin ein gutes Zeichen. Ich wünschte aufrichtig, daß sie sich in irgend jemanden verlieben möchte; ich liebte sie sehr, und darum schmerzte mich ihr Gedanke, sich in einem Kloster begraben zu wollen. Sie konnte nur wieder glücklich werden, wenn sie den Unseligen vergaß, der sie an den Rand der Schande gebracht hatte.

Als beim Essen meine Gäste einen Augenblick miteinander beschäftigt waren, wurde ich neugierig den Brief zu lesen, den Passano mir geschrieben hatte. Ich las folgendes:

»Ich bin auf die Bank gegangen, um das Goldstück zu wechseln, das Sie mir gaben. Man hat es gewogen und festgestellt, daß zehn Karat am richtigen Gewicht fehlen. Man hat von mir verlangt, daß ich angeben solle, von wem ich die Münze erhalten habe; natürlich habe ich mich geweigert, diesem Verlangen zu entsprechen. Ich habe mich also ins Gefängnis bringen lassen, und wenn Sie nicht ein Mittel finden, mich daraus zu befreien, so wird man einen Kriminalprozeß gegen mich anstrengen; Sie begreifen jedoch, daß ich mich nicht hängen lassen darf.«

Ich gab den Brief dem Marchese Grimaldi; als wir vom Tische aufgestanden waren, nahm er mich beiseite und sagte zu mir: »Das ist eine sehr üble Geschichte, denn sie muß den Menschen, der das Goldstück beschnitten hat, geraden Weges zum Galgen führen.«

»Nun, so wird man eben die Biribi-Halter hängen. Es wird nicht eben Schade um sie sein.«

»Dann wäre aber Signora Isolabella bloßgestellt, denn das Biribi ist streng verboten. Ich werde mit den Staatsinquisitoren sprechen; lassen Sie mich nur machen. Schreiben Sie Passano, er solle auch weiterhin schweigen, und versichern Sie ihm, daß Sie für alles aufkommen. Das Münzgesetz wird gerade in bezug auf diese Goldstücke strenge gehandhabt, weil die Regierung wünscht, daß diese Goldstücke in Ansehen bleiben; darum will sie die Münzenbeschneider durch ein strenges Beispiel erschrecken.«

Nachdem ich Passano geschrieben hatte, ließ ich eine Wage kommen. Wir wogen alle Goldstücke, die ich im Biribi gewonnen hatte, und fanden, daß sie ohne Ausnahme beschnitten waren. Herr von Grimaldi übernahm es, sie zerschneiden zu lassen und an einen Goldschmied zu verkaufen.

Als wir in den Saal zurückkehrten, fanden wir alle meine Gäste schon beim Kartenspielen. Herr von Grimaldi schlug mir eine Partie Quinze zu zweien vor. Dies ist ein unangenehmes Spiel, das mir stets mißfallen hat; ich war jedoch der Gastgeber und nahm daher aus Höflichkeit die Aufforderung an. In vier Stunden verlor ich fünfhundert Zechinen.

Am nächsten Tage kam Grimaldi zu mir und sagte mir, Passano sei aus dem Gefängnis entlassen worden und man habe ihm den Wert des Goldstücks vergütet. Zugleich übergab er mir dreizehnhundert Zechinen, die er aus dem Verkauf meines Goldes gelöst hätte. Wir kamen überein, daß ich am nächsten Tage Signora Isolabella besuchen solle, und daß er mir dann Revanche im Quinze geben wolle.

Ich war nach meiner Gewohnheit pünktlich zur Stelle und verlor dreitausend Zechinen; von diesen bezahlte ich ihm am nächsten Tage tausend, für die anderen zweitausend gab ich ihm Wechsel mit meinem Akzept. Als die Wechsel fällig waren, befand ich mich in England in mißlichen Vermögensumständen und mußte sie daher protestieren lassen. Als ich fünf Jahre später in Barcelona war, wurde Herr von Grimaldi durch einen Halunken angestiftet, mich in Schuldhaft nehmen zu lassen, obgleich er an meiner Ehrenhaftigkeit nicht zweifelte und überzeugt war, daß ich ihn nur aus Mangel an Mitteln nicht bezahlte. Er trieb sogar das Zartgefühl so weit, daß er mir einen sehr höflichen Brief schrieb, worin er mir den Namen meines Feindes mitteilte und mir versicherte, daß er niemals das Geringste unternehmen würde, um mich zur Zahlung zu zwingen. Dieser Feind war Passano, der damals sich in Barcelona aufhielt, ohne daß ich es wußte. Ich werde später darauf zu sprechen kommen; doch kann ich mir nicht versagen, schon hier eine traurige Beobachtung mitzuteilen – daß nämlich alle, die ich zur Beihilfe an dem tollen Betruge gegen Madame d’Urfé heranzog, mich verraten haben, mit Ausnahme einer jungen Venetianerin, die der Leser im nächsten Kapitel kennen lernen wird.

Trotz meinen Verlusten lebte ich gut, und es fehlte mir nicht an Geld; denn schließlich hatte ich nur verloren, was ich im Biribi gewonnen hatte. Rosalie kam oftmals, entweder allein oder mit ihrem Gatten, zu mir zum Mittagessen, und ich speiste regelmäßig bei ihr zu Abend mit meiner Nichte, deren Liebschaft Fortschritte machte. Ich sagte ihr dieses, indem ich ihr Glück wünschte, aber sie behauptete stets, ein Kloster werde bald ihr Zufluchtsort sein; ihr Entschluß in dieser Hinsicht stehe unerschütterlich fest. Die Frauen begehen oft aus Starrsinn die widersinnigsten Handlungen; es kann wohl sein, daß sie sich selber einer Täuschung hingeben und ihre Irrtümer in gutem Glauben begehen. Wenn dann aber der Schleier zerreißt, sieht ihr Auge nur noch die Tiefe des Abgrundes, in den sie sich gestürzt haben, weil sie nicht auf die Ratschläge der Vernunft hörten.

Unterdessen hatte meine Nichte eine freundschaftliche Zuneigung zu mir gefaßt, und seitdem ich Annina hatte, war ihr Vertrauen so erstarkt, daß sie sich oftmals morgens auf den Rand meines Bettes setzte, während die Kleine noch in meinen Armen lag. Ihre Gegenwart fachte meine Glut zu neuer Flamme an, und ich löschte diese mit der Blonden, während meine Blicke die Braune verschlangen. Dieser schienen unsere Liebkosungen Genuß zu bereiten, und ich las in ihren Augen, daß ihre Sinne ein süßes Martyrium erlitten. Da Annina sehr kurzsichtig war, so merkte sie nichts von meinen Zerstreuungen, und meine Nichte ließ sich zu leichten Liebkosungen herbei, da sie wußte, daß sie dadurch meinen Genuß vermehrte. Wenn sie mich für erschöpft hielt, bat sie Annina aufzustehen und sie mit mir allein zu lassen, da sie mir etwas zu sagen habe. Dann lachte und scherzte sie mit mir; obwohl sie ganz leicht gekleidet war, bildete sie sich ein, daß ihre Reize keine Macht über mich ausüben könnten, oder wenigstens nicht bis zu dem Grade, um mich für sie gefährlich zu machen. Sie täuschte sich; aber ich dachte natürlich nicht daran, ihr ihren Irrtum zu benehmen, weil ich befürchtete, dadurch ihr Vertrauen zu verlieren, übrigens bereitete ich durch diese Handlungsweise nur meinen Sieg vor, denn die Fortschritte, die ich in ihrer Freundschaft machte, gaben mir die Gewißheit, daß sie sich schließlich mir doch ergeben würde, wenn auch nicht während unseres Aufenthaltes in Genua, so doch auf der Reise, wo wir beständig in der größten Ungezwungenheit beisammen sein und in jenem süßen Müßiggange leben würden, dessen natürliche Folge die Selbstvergessenheit ist. Dann wird man müde, sich anzustrengen, zu denken, zu plaudern und sogar zu lachen. Die Bewegung der Reise, die ungewohnte Ernährung und die körperliche Nähe erhitzen das Blut; man läßt sich gehen und tut irgend etwas, gewissermaßen nur, um sich zu versichern, daß man noch am Leben ist, und weil man nicht so viel Tatkraft hat, Widerstand zu leisten. Wenn dann später die Überlegung hinzutritt, ist man gewöhnlich ganz froh, daß es so gekommen ist.

Aber die Geschichte meiner Reise von Genua nach Marseille stand im großen Buche des Schicksals geschrieben, das ich nicht kennen konnte, da ich es niemals gelesen hatte. Ich wußte nur, daß ich abreisen mußte; denn Frau von Urfé erwartete mich in Marseille. An diese Reise knüpften sich entscheidende Kombinationen, von denen das Schicksal des allerhübschesten Geschöpfes abhängen sollte, einer Venetianerin, die mich nicht kannte, und von deren Existenz ich keine Ahnung hatte; trotzdem war ich vom Schicksal dazu bestimmt, das Werkzeug ihres Glückes zu sein. Das Geschick hatte mich augenscheinlich nur deshalb so lange in Genua zurückgehalten, um auf sie zu warten.

Da ich meine Abreise auf den zweiten Ostertag festgesetzt hatte, so hatte ich noch sechs Tage vor mir. Ich rechnete mit dem Bankier ab, an den Greppi mich gewiesen hatte, und nahm einen Kreditbrief auf Marseille, obgleich es mir dort an Mitteln nicht fehlen konnte, weil ja meine Großschatzmeisterin, Frau von Urfé, da war. Ich verabschiedete mich bei Signora Isolabella und ihren Freunden, um meine ganze Zeit Rosalien und ihrer Familie widmen zu können.

Viertes Kapitel


Mein Bruder, der Abbate, und seine schändliche Handlungsweise. – Ich bemächtige mich seiner Geliebten. – Abreise von Genua. – Der Fürst von Monaco. – Sieg über meine Nichte. – Ankunft in Antibes.

Am Mittwoch vor Ostern war ich gerade eben aufgestanden, als Clairmont mir meldete, ein fremder Priester, der seinen Namen nicht nennen wolle, wünsche mich zu sprechen. Ich ging in meiner Nachtmütze hinaus. Kaum sah mich der Abbate, so fiel der Bursche mir um den Hals und küßte mich, daß mir beinahe die Luft ausging. Diese Zärtlichkeit war mir unangenehm, und da ich ihn wegen der im Zimmer herrschenden Dunkelheit nicht sofort erkannte, nahm ich ihn am Arm und führte ihn an ein Fenster. Nun erkannte ich den jüngsten meiner Brüder, einen verkommenen Menschen, der mir stets zuwider gewesen war. Ich hatte ihn seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, und er interessierte mich so wenig, daß ich mich nicht einmal in meinem Briefwechsel mit den Herren Bragadino, Dandolo und Barbaro nach ihm erkundigte.

Nachdem er mit seinen dummen Umarmungen fertig war, fragte ich ihn kalt, welches Abenteuer ihn in dem kläglichen Zustande, worin ich ihn sähe, in schmutzstarrende Lumpen gehüllt, nach Genua geführt hätte. Der Bursche hatte weiter keine Vorzüge als seine neunundzwanzig Jahre, die frischesten Farben und prachtvolles Haar. Er war ein Nachgeborener, denn er war wie Mohammed drei Monate nach dem Tode seines Vaters zur Welt gekommen.

»Wenn ich, lieber Bruder, dir meine ganze Leidensgeschichte erzählen soll, so wird dies lange dauern. Sei also so freundlich, in dein Zimmer zu gehen, laß uns dort Platz nehmen, und ich werde dir wahrheitsgetreu und ganz genau alles erzählen.«

»Vor allen Dingen beantworte alle meine Fragen: seit wann bist du hier?«

»Seit gestern Abend.«

»Wer hat dir gesagt, daß ich hier bin?«

»Graf B. hat es mir in Mailand gesagt.«

»Wer hat dir gesagt, daß der Graf mich kennt?«

»Der Zufall. Ich war vor einem Monat bei Herrn von Bragadino und sah auf dessen Schreibtisch einen offenen Brief, den der Graf an dich gerichtet hatte.«

»Hast du ihm gesagt, daß du mein Bruder bist?«

»Ich habe dies zugeben müssen, als er mir sagte, daß ich dir ähnlich sähe.«

»Er hat dir die Unwahrheit gesagt, denn du bist ja nur ein plumpes Vieh.«

»Ohne Zweifel hat er anders von mir gedacht als du, denn er hat mich zu Tisch eingeladen.«

»In diesen Lumpen? Da hast du mir wirklich Ehre gemacht!«

»Er hat mir vier Zechinen gegeben, mit deren Hilfe ich hierher gelangt bin. Ohne diese Beihilfe hätte ich niemals die Reise machen können.«

»Er hat eine große Dummheit begangen. So bist du also nun ein Bettler, denn du hast ja um Almosen gebeten! Warum hast du Venedig verlassen? Was willst du von mir? Ich weiß nicht, was ich mit dir anfangen soll.«

»Oh, ich bitte dich, bringe mich nicht zur Verzweiflung! Ich bin imstande, mir das Leben zu nehmen.«

»Nur zu! Das wäre das beste, was du tun könntest. Aber du bist ja zu feige. Warum, frage ich dich, hast du Venedig verlassen, wo du von Messelesen und Predigen leben konntest, ohne zu betteln, wie so viele ehrenwerte Priester leben, die besser sind als du?«

»Das ist eben der Hauptpunkt meiner Geschichte. Laß uns hineingehen!«

»Oh nein! Warte hier auf mich! Wir wollen irgendwohin gehen, wo du mir erzählen kannst, was du willst, vorausgesetzt, daß ich Geduld habe, dich anzuhören. Unterdessen hüte dich wohl, meinen Leuten zu sagen, daß du mein Bruder bist; denn ich schäme mich, daß du zu mir gehörst. Also vorwärts, führe mich in deinen Gasthof!«

»Ich möchte dich darauf aufmerksam machen, daß ich in meinem Gasthof nicht allein bin und daß ich unter vier Augen mit dir sprechen muß.«

»Wer ist denn bei dir?«

»Ich werde es dir sagen. Laß uns in ein Kaffeehaus gehen.«

»Erst will ich wissen, ob du nicht etwa mit einer Diebesbande zusammen bist. Du seufzest?«

»Ja, es ist für mich ein peinliches Geständnis – ich bin mit einer Frau zusammen.«

»Mit einer Frau? Du, ein Priester?«

»Verzeih mir! Von Liebe verblendet, von meinen Sinnen und von ihrer Schönheit verführt, habe ich auch sie verführt, indem ich ihr versprach, ich würde sie in Genf heiraten. Ganz sicherlich werde ich niemals wagen, nach Venedig zurückzukehren, denn ich habe sie aus ihrem Elternhause entführt.«

»Was würdest du in Genf anfangen? Man würde dich nur drei Tage dulden und dann sofort ausweisen. Gehen wir in deinen Gasthof; erst will ich das Mädchen sehen, das du betrogen hast. Nachher kannst du unter vier Augen mit mir sprechen.«

Ich begab mich nach dem Ort, den er mir bezeichnet hatte, und er mußte mir wohl oder übel folgen. Als wir in seinem Gasthof angekommen waren, lief er schnell vor mir her in den dritten Stock hinauf, wo ich in einem elenden Kämmerlein ein sehr junges Mädchen bemerkte. Sie war hochgewachsen, eine pikante schwarze Schönheit, von stolzer Miene und durchaus nicht verlegen. Sobald sie mich sah, rief sie, ohne mich zu grüßen: »Sind Sie der Bruder dieses Lügners, dieses Ungeheuers, das mich betrogen hat?«

»Ja, mein schönes Fräulein, ich habe die eigentümliche Ehre.«

»Eine schöne Ehre in der Tat! Nun, tun Sie doch ein gutes Werk und schicken Sie mich nach Venedig zurück; denn ich will nicht mehr bei diesem Spitzbuben bleiben, den ich unglücklicherweise in meiner Dummheit erhört habe, weil er mir mit seinen Märchen den Kopf verdrehte. Er behauptete, er würde Sie in Mailand finden; dort würden Sie ihm das nötige Geld geben, daß wir mit der Post nach Genf fahren könnten; denn dort behauptete er, könnten die Priester sich verheiraten, indem sie zum reformierten Glauben überträten. Er hat mir geschworen, Sie erwarteten ihn in Mailand. Sie waren jedoch nicht da. Er hat auf irgend eine Weise etwas Geld aufgetrieben und hat mich mit Ach und Krach hierhergebracht. Ich segne den Himmel, daß er Sie endlich gefunden hat; denn sonst wäre ich morgen zu Fuß fortgegangen und hätte mir unterwegs mein Brot erbettelt. Ich habe nichts mehr; denn der Unglückselige hat in Verona und Bergamo alle meine Sachen verkauft. Ich weiß nicht, wie ich in all diesem Elend meine Vernunft habe bewahren können. Wenn man ihn so sprechen hörte, war die Welt draußen vor Venedig ein Paradies. Aber ach, ich habe schon recht gut gemerkt, daß man es nirgends besser hat als zu Hause. Verflucht sei der Augenblick, wo ich diesen abscheulichen Menschen kennen gelernt habe. Er wollte seine Gattenrechte geltend machen, sobald wir in Padua angekommen waren, und ich bin sehr glücklich, daß ich ihm nichts bewilligt habe. Ich wollte erst einmal diese Genfer Heirat sehen, die er mir versprochen hat; sehen Sie, da ist das schriftliche Versprechen, das er mir gab. Sie können damit machen, was Sie wollen; aber wenn Sie ein gutes Herz haben, so schicken Sie mich nach Venedig; sonst werde ich gezwungen sein, zu Fuß dorthin zu gehen.«

Ich hörte stehend diesen langen Herzenserguß an, ohne sie zu unterbrechen. Ich war so erstaunt, daß ich sie noch lange hätte fortreden lassen. Ihre Rede war infolge der Entrüstung, die sie erfüllte, zusammenhanglos, empfing jedoch einen hohen Grad von Beredsamkeit durch die Lebhaftigkeit ihres Mienenspiels und das Feuer ihrer Blicke.

Mein Bruder saß auf einem Stuhl und hielt den Kopf zwischen beiden Händen. Dadurch, daß er, ohne ein Wort zu sagen, diese lange Litanei wohlverdienter Beleidigungen anhören mußte, bekam der Auftritt etwas ungeheuer Komisches. Trotzdem ging das Traurige des Falles mir sehr zu Herzen. Ich begriff sofort, daß ich für das junge Mädchen sorgen mußte, und daß es meine Pflicht war, unverzüglich ein so unpassendes Band zu lösen. Ich war überzeugt, daß ich leicht eine Gelegenheit finden würde, um sie auf schickliche Art in ihre Heimat zurückzusenden, die sie vielleicht niemals verlassen hätte, wenn sie nicht, durch die betrügerischen Versprechungen ihres Verführers betört, ein so hohes Vertrauen in mich gesetzt hätte.

Der offene venetianische Charakter des jungen Mädchens machte auf mich noch höheren Eindruck als ihre Schönheit. Ihr Freimut, ihre edle Entrüstung, ihre freiwillige Umkehr vom bösen Wege, ihr Mut, kurz, ihr ganzes Wesen hatte mir eine Art von Achtung eingeflößt, die mir zurief, ich dürfe sie nicht verlassen. Ich konnte nicht an der Wahrheit ihrer Erzählung zweifeln, da mein Bruder durch sein Schweigen zugestand, daß er der wahre Schuldige war.

Nachdem ich sie ziemlich lange schweigend angesehen hatte, war mein Entschluß gefaßt, und ich sagte zu ihr:

»Ich verspreche Ihnen, mein Fräulein, Sie in Begleitung einer anständigen Frau mit der gewöhnlichen Post nach Venedig zurückzuschicken. Aber Ihre Rückkehr dorthin wird Sie unglücklich machen, wenn Sie etwa die Folgen Ihrer Liebe in Ihrem Schoß tragen sollten.«

»Was für Folgen? Habe ich Ihnen nicht gesagt, er sollte mich in Genf heiraten?«

»Schon recht; aber trotzdem.«

»Ich verstehe Sie, mein Herr; aber in dieser Hinsicht bin ich sehr ruhig, denn glücklicherweise habe ich nicht den kleinsten Wunsch des schlechten Menschen erfüllt.«

»Erinnere dich,« sagte der Abbate weinerlich zu ihr, »daß du mir geschworen hast, du wollest stets mein sein. Du hast diesen Eid vor einem Kruzifix ausgesprochen.«

Er war bei diesen Worten aufgestanden und mit flehender Gebärde an das junge Mädchen herangetreten; sie aber blieb ganz kalt und gab ihm eine schallende Ohrfeige, sobald er sich ihr auf Armlänge genähert hatte. Ich dachte, es würde zu einem kleinen Kampfe kommen, den ich nicht verhindert haben würde; aber es geschah nichts. Der Abbate ging demütig und sanft ans Fenster, erhob seine Augen zum Himmel und weinte.

»Sie sind ein kleiner Teufel, mein liebes Fräulein,« sagte ich zu ihr; »denn dieser arme Kerl ist nur darum unglücklich, weil Sie ihn verliebt gemacht haben.«

»Wenn er in mich verliebt geworden ist, so habe ich keine Schuld daran, denn ich würde niemals an ihn gedacht haben, während er alles aufgeboten hat, um mir den Kopf zu verdrehen. Ich werde ihm nur verzeihen, wenn ich ihn nicht mehr sehe. Die Ohrfeige ist nicht die erste, die ich ihm gegeben habe: ich mußte schon in Padua meine Zuflucht dazu nehmen.«

»Das ist richtig,« sagte der Dummkopf, »aber du bist exkommuniziert; denn ich bin Priester.«

»Ich lache über die Exkommunikation eines solchen Banditen wie du bist, und wenn du noch ein Wort sagst, bekommst du noch viel mehr Ohrfeigen.«

»Beruhigen Sie sich, mein Kind,« sagte ich zu ihr; »ich sehe, Sie haben guten Grund, aufgebracht zu sein; aber Sie brauchen ihn nicht mehr zu ohrfeigen. Nehmen Sie Ihre Sachen und folgen Sie mir.«

»Wohin bringst du sie?« rief der dumme Mensch.

»Zu mir. Du aber schweige! Da hast du zwanzig Zechinen; kaufe dir Kleider und Wäsche und bleibe zu Hause. Morgen werde ich hierher kommen und mit dir sprechen. Schenke die Lumpen, die du trägst, den Armen und danke dem Himmel dafür, daß du mich gefunden hast. – Sie, mein Fräulein, werde ich in einer Sänfte nach meiner Wohnung bringen lassen, denn man darf Sie in Genua nicht in meiner Gesellschaft sehen, zumal da man weiß, daß Sie mit einem Priester angekommen sind. Dieses Ärgernis muß in aller Stille beigelegt werden. Ich werde Sie meiner Wirtin in Obhut geben; nehmen Sie sich aber in acht und vertrauen Sie ihr kein Wort von dieser häßlichen Geschichte an. Ich werde Sie anständig kleiden lassen, und es soll Ihnen an nichts fehlen.«

»Oh! Möge der Himmel Sie belohnen!«

Mein Bruder war durch die zwanzig Zechinen wie versteinert und ließ uns gehen, ohne den geringsten Widerstand zu leisten. Ich ließ meine junge Venetianerin in einer Sänfte nach meiner Wohnung bringen, empfahl sie meiner Wirtin und bat diese, sie unverzüglich sehr sauber kleiden zu lassen. Ich konnte es kaum erwarten, zu sehen, was aus dem jungen Mädchen werden würde, dessen Vorzüge in den Lumpen nicht zur Geltung kamen. Ich sagte zu Annina, daß ein an mich empfohlenes Mädchen mit ihr zusammen essen und schlafen würde. Hierauf begann ich mich sorgfältig anzuziehen, da ich schöne und zahlreiche Gesellschaft empfangen sollte.

Obgleich ich gegen meine Nichte keine Verpflichtungen hatte, lag mir doch viel an ihrer Achtung; ich glaubte ihr daher die ganze Geschichte erzählen zu müssen, damit sie nicht ungünstig von mir denken möchte. Dankbar für mein Vertrauen hörte sie mich aufmerksam an und sagte dann zu mir, sie wünsche sehr, das junge Mädchen zu sehen, ja sogar den Abbate, den sie, wenngleich schuldig, doch auch sehr bedauernswert fand. Ich hatte ihr für diese Gesellschaft ein herrliches Kleid machen lassen, worin sie zum Entzücken schön aussah. Ich fühlte mich glücklich, so oft ich etwas tun konnte, was ihr gefiel; denn ich bewunderte sie wegen ihres Benehmens mir gegenüber und wegen der Art und Weise, wie sie ihren Bewerber behandelte, der bereits ganz wahnsinnig in sie verliebt war. Sie traf ihn alle Tage entweder bei mir oder bei Rosalie. Der junge Herr war gut erzogen, aber er war Kaufmann, und so schrieb er ihr denn in kaufmännischem Stil: da sie nach Alter und Vermögensumständen zusammenpaßten, so könnte ihn nichts daran verhindern, nach Marseille zu gehen und dort um ihre Hand und ihr Herz zu werben, wenn nicht etwa eine Abneigung von ihrer Seite ein Hindernis bildete. Zum Schluß bat er sie um eine offene Erklärung. Als meine Nichte mir diesen Brief zeigte und mich um meinen Rat fragte, antwortete ich ihr: »Meinen Glückwunsch! An Ihrer Stelle würde ich eine solche Partie nicht verachten, vorausgesetzt natürlich, daß der Herr Ihnen gefällt.«

»An ihm ist nichts, was mir nicht gefiele, und Rosalie ist derselben Meinung wie Sie.«

»So sagen Sie ihm doch mündlich. Sie erwarten ihn in Marseille und er könne auf Ihre Einwilligung rechnen.«

»Gut! Da Sie dieser Meinung sind, so werde ich es ihm morgen sagen.«

Als wir von Tisch aufstanden, trieb mich ein neugieriger Wünsch, in das Zimmer meiner Nichte zu gehen, wo Annina und Marcolina speisten. So hieß meine Venetianerin. Ihr Anblick überraschte mich; denn an jedem anderen Ort würde ich sie nicht wieder erkannt haben, und zwar nicht so sehr deshalb, weil sie durch ein sehr hübsches Kleid verändert aussah, als wegen des Ausdruckes von Zufriedenheit, der auf ihrem Gesicht lag und eine ganz andere Person aus ihr gemacht hatte. An Stelle des Zornes – der immer häßlich macht – war die liebenswürdigste Fröhlichkeit getreten; eine Sanftmut, die von ihrer Zufriedenheit herrührte, gab ihrem schönen Gesicht einen Ausdruck verführerischer Liebe. Es erschien mir unmöglich, daß dieses entzückende Geschöpf dasselbe Mädchen sein sollte, das meinen Bruder, einen Priester, also einen Mann, der nach dem Volksglauben geheiligt war, so derbe behandelt hatte. Die beiden neuen Freundinnen aßen zusammen und lachten darüber, daß sie sich nicht verstanden. Marcolina sprach nur die hübsche venetianische Mundart und Annina nur die genuesische, die von der Weichheit und der reizvollen Anmut der ersteren so weit entfernt ist wie das Böhmische vom Plattdeutschen.

Ich redete Marcolina in ihrer Mundart an, die auch die meiner Kindheit ist und die ich daher niemals vergessen habe. Sie antwortete mir: »Mir kommt es vor, wie wenn ich plötzlich von der Hölle ins Paradies versetzt wäre.«

»Darum sehen Sie jetzt auch wie ein Engel aus!«

»Und heute Morgen nannten Sie mich einen Teufel! Aber die da ist ein weißer Engel,« setzte sie hinzu, auf Annina deutend, »wie man in Venedig keinen kennt!«

»Darum ist sie auch mein lieber Schatz.«

Meine Nichte trat ein, und da sie mich in so guter Laune zwischen den beiden jungen Mädchen sitzen sah, setzte sie sich neben mich, um sich meine neue Erwerbung genau anzusehen. Sie sagte mir auf französisch, sie finde sie tadellos schön; nachdem sie dasselbe auf italienisch zu ihr gesagt hatte, gab sie ihr einen Kuß. Marcolina fragte sie nach ihrer venetianischen Art ohne alle Umstände, wer sie sei.

»Ich bin die Nichte des Herrn, der mich jetzt zu meinem Vater nach Marseille begleitet.«

»Dann wären Sie ja auch meine Nichte, wenn ich seine Schwägerin wäre. Wie glücklich wäre ich, eine so hübsche Nichte zu haben!«

Dieser hübschen Antwort folgte eine Flut von Küssen, die mit einer Glut gegeben und empfangen wurden, welche man recht eigentlich venetianisch nennen könnte, wenn man nicht befürchten müßte, dadurch die feurigen Provencalinnen zu beleidigen.

Ich machte mit meiner Nichte eine ziemlich lange Segelfahrt aufs Meer hinaus, und wir genossen zusammen einen jener köstlichen Abende, wie man sie, glaube ich, nur im Golf von Genua hat, wenn über den mondbeschienenen klaren Silberspiegel der See der Zephir die Düfte von den Orangen-, Zitronen- und Granatäpfelbäumen, von Aloe und Jasmin hinträgt. Wir blieben vernünftig, aber unsere Sinne waren zu wollüstigen Erregungen gestimmt, als wir in unsere Wohnung zurückkehrten. Da ich gegen meine schöne Begleiterin noch nichts zu unternehmen wagte, zugleich aber auch einer Ablenkung bedurfte, so fragte ich Annina, wo die Venetianerin sei. Sie antwortete mir, sie sei schon früh zu Bett gegangen. Leise trat ich in ihr Zimmer; doch hatte ich keine andere Absicht, als sie schlafend zu sehen. Der Kerzenschein erweckte sie; sie sah mich, war aber ob meiner Erscheinung nicht erschrocken. Ich setzte mich neben sie, sagte ihr allerlei Artigkeiten und schickte mich an, sie zu umarmen; da sie sich jedoch wehrte, so ließ ich sofort von ihr ab, und wir plauderten.

Nachdem Annina ihre Herrin zu Bett gebracht hatte, trat sie bei uns ein und überraschte uns bei unserer Unterhaltung. Ich sagte zu ihr: »Geh zu Bett, Liebste; ich komme auch gleich.«

Sie war ganz stolz darauf, daß die Venetianerin wußte, daß sie meine Odaliske war, gab mir einen Kuß und ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen.

Ich brachte nun das Gespräch zunächst auf meinen Bruder, dann auf mich selber, sagte ihr, daß sie mir gleich beim ersten Anblick die lebhafteste Teilnahme eingeflößt habe, und daß ich bereit sei, alles Mögliche für sie zu tun, sei es, daß sie darauf bestehe, nach Venedig zurückzukehren, sei es, daß sie lieber mit mir nach Frankreich reisen wolle.

»Werden Sie mich dort heiraten?«

»Nein, ich bin schon verheiratet.«

»Ich weiß, daß dies nicht wahr ist; aber es kommt wenig darauf an. Schicken Sie mich nach Venedig zurück, und zwar so bald wie möglich, wenn ich bitten darf: ich will keines Menschen Konkubine sein.«

»Ich bewundere Ihre Gefühle, meine Liebe; ich finde Sie zum Entzücken!«

Während ich sie lobte, wurde ich dringlich; doch wandte ich keine Gewalt an, sondern nur jene lebhaften und süßen Liebkosungen, gegen die ein Weib sich viel schwerer verteidigen kann als gegen einen gewaltsamen Angriff. Marcolina lachte; als sie aber sah, daß ich nicht abließ, obgleich sie mir alle Wege versperrte, schlüpfte sie plötzlich unten aus dem Bett, lief in das Zimmer meiner Nichte und schloß sich dort ein. Ihr geschickter Streich machte nur Spaß, denn sie hatte ihn ebenso anmutig wie gewandt ausgeführt; ich ging zu Bett, und Annina hatte sich nicht über die kurze Erregung zu beklagen, in die mich die von ihr wegen ihrer Flucht höchlich belobte Marcolina versetzt hatte.

Am anderen Morgen stand ich frühzeitig auf und ging in das Zimmer meiner Nichte, um einen Augenblick über die Gesellschaft zu lachen, die ich ihr ohne Absicht verschafft hatte. Sie boten mir sogar einen noch scherzhafteren Anblick, als ich erwartet hatte. Als sie mich eintreten sah, sagte meine Nichte zu mir: »Lieber Oheim, wollen Sie wohl glauben, daß diese Spitzbübin von Venetianerin mich genotzüchtigt hat?«

Marcolina verstand sie; aber weit entfernt, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, begann sie ihr nun Zeichen von Zärtlichkeit zu geben, die von der anderen gerne angenommen wurden; an den Bewegungen der leichten Bettdecke, unter der sie lagen, konnte ich ohne Mühe er raten, von welcher Art diese Zärtlichkeiten waren.

»Hören Sie,« sagte ich zu meiner Nichte, »das ist aber ein starker Angriff auf die Rücksichten, die Ihr Oheim bis jetzt auf Ihre Vorurteile genommen hat.«

»Ach, diese Scherze unter zwei jungen Mädchen können einen Mann, der eben aus Anninas Armen kommt, doch wohl nicht in Versuchung führen.«

»Sie irren sich und irren sich vielleicht mit Absicht; die Versuchung ist für mich außerordentlich groß.«

Mit diesen Worten riß ich die Bettdecke herunter. Marcolina schrie laut auf, rührte sich aber nicht; die andere bat mich in gefühlvollem Tone, sie wieder zuzudecken. Aber das Gemälde, das ich vor meinen Augen hatte, war zu entzückend, als daß ich es hätte verschleiern mögen.

Annina trat ein und breitete, den Befehlen ihrer Herrin gehorsam, die Bettdecke wieder über meine beiden Bacchantinnen und beraubte mich dadurch des schönen Anblicks. Ärgerlich hierüber packte ich Annina, warf sie auf das Bett und gab den beiden Freundinnen ein Schauspiel, das ihnen so interessant erschien, daß sie mit ihrem Spiel aufhörten, um dem meinigen zuzusehen. Als ich fertig war, rief Annina freudestrahlend, ich hätte recht gehabt, mich auf diese Weise für ihre Zimperlichkeit zu rächen. Zufrieden mit meiner Heldentat ging ich hinaus, um zu frühstücken; hierauf kleidete ich mich an und suchte meinen Bruder auf.

»Wie befindet sich Marcolina?« fragte er mich, sobald er mich erblickte.

»Gut; beunruhige dich ihretwegen nicht; sie hat gute Kleider, gutes Essen und gute Wohnung. Sie ist glücklich.«

»Wohnt sie bei dir?«

»Ja, sie schläft mit der Kammerzofe meiner Nichte zusammen.«

»Ich wußte nicht, daß ich eine Nichte habe.«

»Es gibt viele Dinge, die du nicht weißt. In drei oder vier Tagen wird Marcolina abreisen, um nach Venedig zurückzukehren.«

»Ich hoffe, lieber Bruder, ich werde heute bei dir speisen.«

»Nein, unter keinen Umständen, mein lieber Bruder! Ich verbiete dir, dich bei mir sehen zu lassen, denn deine Anwesenheit würde Marcolina verdrießen, und du darfst sie daher nicht wiedersehen.«

»Oh! Ich werde sie wiedersehen; denn ich werde nach Venedig gehen, und müßte ich mich dort aufhängen lassen!«

»Was hätte das für einen Zweck? Sie kann dich ja nicht ausstehen.«

»Sie liebt mich!«

»Sie haßt dich.«

»Weil sie mich liebt. Sie wird sofort sanft wie ein Lamm werden, wenn sie mich so gut angezogen sieht. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich leide!«

»Ich kann es mir vorstellen, aber ich habe durchaus kein Mitleid mit deinem Leiden; denn du bist ein Frevler gegen Gott, ein Dummkopf und außerdem ein elender Barbar, denn du hast dich nicht gefürchtet, ein reizendes junges Mädchen, das glücklich zu sein verdient, der Schande und dem Elend auszusetzen, um eine erbärmliche Laune zu befriedigen, die deinem Gelübde und deinem Priesterstande widerspricht. Sage mir, Schurke, was hättest du gemacht, wenn ich dir den Rücken zugedreht hätte, anstatt dir zu Hilfe zu kommen?«

»Dann hätte ich mit ihr an den Türen gebettelt.«

»Sie hätte dich geprügelt und hätte sich vielleicht an die Behörden gewandt, um dich los zu werden.«

»Aber was wirst du mit mir machen, wenn ich sie allein nach Venedig zurückreisen lasse?«

»Ich werde dich mit mir nach Frankreich nehmen und versuchen, dich in den Dienst irgendeines Bischofs zu bringen.«

»In den Dienst? Ich bin nicht dazu geboren, einem anderen zu dienen als Gott allein.«

»Aufgeblasener Dummkopf! Marcolina hatte ganz recht, als sie gestern sagte, du sprächest gerade so, als wenn du predigtest. Wer ist dein Gott? Welchen Dienst leistest du ihm? Dummkopf oder Heuchler! Dienst du ihm, indem du ein anständiges Mädchen verführst und dem Elternhause abspenstig machst? Dienst du ihm, indem du deinen Stand entweihst, deine Religion verrätst, die du nicht einmal kennst? Unglücklicher Dummkopf, der du dir einbildest, du könntest ohne Talent, ohne alle theologischen Kenntnisse ein Diener des protestantischen Kultus werden? Du, der du nicht einmal richtig italienisch sprichst? Hüte dich, jemals meine Wohnung zu betreten; denn du würdest mich zwingen, dich aus Genua ausweisen zu lassen.«

»Gut! Dann bringe mich nach Paris; dort werde ich zu meinem Bruder Francesco gehen, der nicht so hartherzig ist wie du.«

»Schön! Du wirst nach Paris gehen, und in vier oder fünf Tagen reisen wir ab. Bleibe hier, iß und trink, geh aber nicht aus. Ich werde dir Bescheid geben. Ich reise mit meiner Nichte, meinem Sekretär und meinem Kammerdiener. Wir gehen auf dem Seewege.«

»Ich werde aber seekrank.«

»Das wird für dich eine Magenreinigung sein.«

Ich ging nach Hause und teilte Marcolina meine Unterhaltung mit dem Abbate mit.

»Ich verabscheue ihn,« sagte sie, »aber ich verzeihe ihm, da ich ihm das Glück verdanke, Sie kennen gelernt zu haben.«

»Nun, meine reizende Landsmännin, so verzeihe ich ihm ebenfalls; denn ohne ihn hätte ich Sie vielleicht niemals kennen gelernt; aber ich liebe Sie, und ich fühle, daß ich an dieser Liebe sterben werde, wenn Sie nicht einwilligen, sie zu befriedigen.«

»Niemals! Ich fühle, daß ich mich wahnsinnig in Sie verlieben würde, und wenn Sie mich dann verließen, würde ich unglücklich sein.«

»Ich werde Sie niemals verlassen.«

»Wenn Sie mir dies schwören wollen, können Sie mich mit nach Frankreich nehmen. Dort werde ich ganz und gar die Ihrige sein. Hier in Genua leben Sie nur mit Annina weiter! Übrigens bin ich in Ihre Nichte verliebt.«

Das Scherzhafte an der Sache war, daß meine Nichte sich ebenso in sie verliebt hatte, und zwar so sehr, daß sie mich gebeten hatte, sie immer mit uns essen zu lassen und zu gestatten, daß sie alle Nächte bei ihr schlafe. Da ich bei ihren wollüstigen Tollheiten anwesend sein konnte, so hatte ich nichts dagegen einzuwenden, und wir aßen schon an demselben Tage zusammen. Wir hatten dies nicht zu bereuen, denn sie erzählte uns eine Menge Geschichten, über die wir uns halb tot lachten, und wir blieben daher so lange bei Tisch sitzen, bis wir zu Rosalien gehen mußten, wo wir sicher waren, den Anbeter meiner Nichte zu finden.

Am nächsten Tage, Gründonnerstag, begleitete Rosalie uns, um die Prozessionen zu sehen. Ich führte an meinen Armen Rosalie und Marcolina, die sich dicht in ihren Mezzaro gehüllt hatten, meine Nichte aber ging am Arm ihres Anbeters. Als ich am nächsten Tage mit derselben Gesellschaft ausging, um die Prozession zu sehen, die man in Genua die Caracce nennt, machte Marcolina mich auf meinen Bruder aufmerksam, der nur von weitem um uns herumstrich, im übrigen aber so tat, als wenn er uns nicht sähe. Er hatte sich äußerst sorgfältig frisieren lassen, und der Geck schien davon überzeugt zu sein, daß er an diesem Tage Marcolina gefallen und daß sie bereuen würde, ihn verschmäht zu haben. Aber der arme Teufel mußte Folterqualen ausstehen, denn meine Venetianerin, die an den Cendal gewöhnt war, wußte den Mezzaro so gut und besser zu handhaben als eine Genueserin; so wurde er gesehen und gefoppt, konnte aber niemals sicher sein, daß seine Grausame ihn gesehen hatte. Außerdem brachte die Schelmin ihn noch dadurch zur Verzweiflung, daß sie sich ganz innig an meinen Arm anschmiegte. Er mußte daher glauben, daß wir bereits auf dem allervertrautesten Fuße ständen.

Meine Nichte und Marcolina glaubten, die besten Freundinnen von der Welt zu sein, und konnten es gar nicht vertragen, wenn ich zu ihnen sagte, daß nur ihre Liebesscherze die Ursache ihrer gegenseitigen Zuneigung seien. Um mir zu beweisen, daß ich mich irrte, versprachen sie mir, ihre Ergötzlichkeiten sollten mit unserer Abreise von Genua aufhören; ich sollte mit ihnen in der Feluke zusammenschlafen, die uns nach Antibes bringen würde, wo wir mindestens eine Nacht bleiben müßten; wir würden uns jedoch nicht entkleiden. Ich forderte sie auf, ihr Wort zu halten, und setzte unsere Abreise auf den nächsten Donnerstag fest. Nachdem ich befohlen hatte, die Feluke segelfertig zu machen, sagte ich meinem Bruder Bescheid, daß er sich am Hafen einzufinden hätte.

Es war ein sehr schmerzlicher Augenblick, als ich meine kleine Annina ihrer Mutter übergab. Sie weinte so bitterlich, daß wir alle Tränen vergossen. Meine Nichte schenkte ihr ein schönes Kleid, und ich gab ihr dreißig Zechinen, indem ich ihr zugleich versprach, auf meiner Rückreise aus England wieder nach Genua zu kommen. Passano erhielt Bescheid, daß er sich mit dem Abbate auf der Feluke einzufinden habe; ich hatte in diese guten Mundvorrat für drei Tage bringen lassen. Der junge Kaufmann versprach meiner Nichte, in vierzehn Tagen nach Marseille zu kommen. Bei seiner Ankunft würde die Heirat bereits zwischen ihren Vätern abgeschlossen sein. Diese bevorstehende Heirat machte mir die allergrößte Freude, denn sie gab mir die Gewißheit, daß ihr Vater sie mit offenen Armen aufnehmen würde. Unsere Freunde verließen uns erst, als wir die Feluke bestiegen.

Das Schiffchen hatte zwölf Ruderer und war sehr bequem eingerichtet. Es war mit zwei Steinböllern bewaffnet und hatte vierundzwanzig Gewehre an Bord, damit wir uns für alle Fälle gegen einen Korsaren verteidigen könnten. Clairmont hatte meinen Reisewagen und meine Koffer so geschickt benutzt, daß fünf darüber ausgebreitete Matratzen ein sehr bequemes Bett bildeten, so daß wir uns niederlegen und uns sogar in aller Bequemlichkeit ausziehen konnten; wir hatten gute Kopfkissen und einen reichlichen Vorrat von Decken. Ein großes Zeltdach von Sarsche bedeckte die ganze Barke, und zwei Laternen hingen an dem Pfosten, der das Zelt stützte. Als es Abend war, zündete Clairmont die Laternen an und trug unsere Mahlzeit auf. Da ich meinem Bruder gesagt hatte, daß ich ihn bei der ersten Dummheit ins Meer werfen würde, so erlaubte ich ihm und Passano, mit uns zu speisen.

Zwischen meinen Nymphen auf den Matratzen sitzend, bediente ich freundlich meine Gäste, zunächst meine Nichte, dann die Venetianerin, hierauf meinen Bruder und endlich Passano. Ich hatte verboten, beim Essen Wasser zu trinken, und da die Speisen sehr lecker waren, so leerten wir ein jeder eine Flasche ausgezeichneten Burgunders. Als wir gespeist hatten, ruhten unsere Ruderer sich aus, obgleich der Wind sehr schwach war. Ich ließ die Laternen auslöschen, und meine beiden Freundinnen schliefen an meinen Seiten ein.

Als mich die Morgenröte weckte, fand ich die beiden Engel schlafend in derselben Stellung, worin ich sie am Abend gesehen hatte. Leider konnte ich sie nicht mit meinen Küssen bedecken, denn die eine galt für meine Nichte, und die andere war eine Waise; es wäre unmenschlich gewesen, sie in Gegenwart meines unglücklichen Bruders, der sie anbetete, aber niemals auch nur die geringste Gunst von ihr erlangt hatte, als meine Geliebte zu behandeln. Von Kummer und Seekrankheit gequält lag er da; er würde die geringste Liebesbezeigung sofort erspäht haben. Ich wollte ein Ärgernis vermeiden und besaß daher die Kraft, mich mit dieser Augenweide zu begnügen, bis sie wie zwei Rosen erwachten.

Als ich mich an der Betrachtung dieser beiden entzückenden Wesen gesättigt hatte, stand ich auf, um das Meer zu begrüßen. Ich sah, daß wir erst Finale gegenüber waren, und schalt den Schiffer tüchtig aus.

Er behauptete, hinter Savona habe der Wind aufgehört, und alle Schiffsknechte bestätigten dies.

»So hättet ihr rudern müssen; aber ihr wolltet natürlich lieber faulenzen.«

»Wir fürchteten, Sie aufzuwecken. Sie werden morgen in Antibes sein.«

Nachdem wir, um uns die Zeit zu vertreiben, gut gegessen hatten, bekamen wir Lust, in San Remo an Land zu gehen. Darüber freute sich die ganze Mannschaft. Wir landeten, und nachdem ich befohlen hatte, daß alle an Bord bleiben sollten, führte ich meine beiden Nymphen in den Gasthof, wo ich Kaffee bestellte. Ein Herr redete uns an und lud uns ein, wir möchten uns in seinem Hause ausruhen, wo wir uns mit dem Biribispiel unterhalten könnten.

»Ich glaubte, dies Spiel sei in den genuesischen Staaten verboten?«

Er antwortete nicht.

Überzeugt, daß es die von mir ausgebeutelten Gauner waren, nahm ich die Einladung an. Meine Nichte hatte fünfzig Louis in ihrer Börse. Ich gab Marcolina fünfzehn. Bald waren wir in einem Saale, worin sich zahlreiche Gesellschaft befand. Man öffnete den Kreis, wir nahmen Platz, und ich erblickte die Gauner von Genua. Sobald sie mich sahen, wurden sie bleich und zitterten. Ich muß erwähnen, daß der Mann, der den Sack hielt, nicht mehr der arme Teufel war, der mir, ohne es zu wollen, so gute Dienste geleistet hatte.

»Ich spiele die Harlequine«, sagte ich zu ihnen.

»Die ist nicht mehr da.«

»Wie stark ist die Bank?«

»Sie sehen sie. Hier wird nur klein gespielt. Die zweihundert Louis, die hier liegen, sind hinreichend. Man kann so wenig setzen, wie man will, und der höchste Einsatz beträgt einen Louis.«

»Gut; aber meine Louis sind vollwichtig.«

»Ich glaube, die unsrigen sind es auch.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Nein.«

»Dann werden wir nicht spielen«, sagte ich zum Wirt.

»Sie haben recht. Man soll eine Wage bringen.«

Der Bankhalter sagte nun, er würde nach der Beendigung des Spiels für jeden Louis, den man von ihm gewonnen hätte, vier Silbertaler zu sechs Lire geben. Damit war diese Frage erledigt. In einem Augenblick war das ganze Tableau mit Einsätzen bedeckt.

Wir setzten alle je einen Louis. Ich verlor zwanzig und meine Nichte ebensoviel; Marcolina aber, die in ihrem ganzen Leben keine zwei Zechinen besessen hatte, gewann hundertundvierzig Louis. Sie spielte auf die Figur eines Abbate, der in zwanzig Ziehungen fünfmal herauskam. Man gab ihr einen Sack voll Sechsfrankentaler, und wir kehrten zu unserer Feluke zurück.

Da wir Gegenwind hatten, mußten wir die ganze Nacht rudern. Das Meer war sehr bewegt, und ich beschloß daher um acht Uhr morgens, in Mentone Halt zu machen. Meine beiden schönen Freundinnen waren seekrank, desgleichen Passano und mein Bruder. Ich dagegen befand mich ausgezeichnet. Nachdem ich meine beiden Kranken in einen Gasthof geführt hatte, erlaubte ich auch Passano und dem Abbate an Land zu gehen, um sich zu erholen. Da der Wirt mir sagte, daß der Fürst und die Fürstin von Monaco in Mentone seien, so beschloß ich, ihnen einen Besuch zu machen. Vor dreizehn Jahren hatte ich ihn in Paris oft unterhalten und ihm die Langeweile vertrieben, indem ich mit ihm und seiner Geliebten Coraline zu Abend speiste. Der Fürst war es, der mich zu der abscheulichen Herzogin von Rufec geführt hatte. Damals war er noch nicht verheiratet. Nun fand ich ihn in seinem Fürstentum wieder, wo er mit seiner Gattin lebte, von der er bereits zwei Söhne hatte. Die Fürstin war eine geborene Marchesa Brignole, eine reiche Erbin, außerdem schön und besonders sehr liebenswürdig. Dies alles wußte ich vom Hörensagen. Ich war daher sehr neugierig, sie zu sehen.

Ich begab mich zum Fürsten; man meldete mich, ließ mich ziemlich lange warten und führte mich endlich hinein. Ich redete ihn als Hoheit an, was ich in Paris niemals getan hatte; denn dort gab ihm kein Mensch seinen Titel. Er empfing mich höflich, aber mit jener Kälte, die einem genügend zu verstehen gibt, daß man nicht gern gesehen wird.

Er sagte zu mir: »Ich kann mir denken, Sie haben hier wegen des schlechten Wetters Halt gemacht?«

»Jawohl, mein Fürst, und wenn Eure Hoheit es mir gestatten, werde ich den ganzen Tag in Ihrer köstlichen Stadt verweilen« – (die durchaus nicht köstlich ist).

»Ganz nach Ihrem Belieben. Da es der Fürstin wie auch mir hier besser gefällt als in Monaco, so bevorzugen wir den Aufenthalt in Mentone.«

»Ich möchte den Wunsch aussprechen, daß Eure Hoheit mich der Fürstin vorzustellen geruhen.«

Es stand ein Page in der Nähe, und ohne meinen Namen zu nennen, befahl er diesem, mich seiner Gemahlin vorzustellen.

Der Page öffnete die Tür eines schönen Saales, sagte: »Da ist die Fürstin!« und ließ mich allein. Sie saß an ihrem Piano und sang eine Romanze. Als die Fürstin mich sah, stand sie auf und ging mir entgegen. Ich hätte mich selber vorstellen müssen, was unter derartigen Umständen immer unangenehm ist. Ohne Zweifel empfand die Fürstin dies, denn sie hatte ein sehr feines Schicklichkeitsgefühl. Sie tat daher, wie wenn sie der Vorstellung nicht bedürfte, und richtete an mich mit wohlwollender Liebenswürdigkeit die Phrasen, die im Katechismus des guten Tones unter dem Abschnitt Vorstellung stehen. Ich brachte sie nicht in die Verlegenheit, stecken zu bleiben, sondern erzählte ihr ungezwungen, aber im Tone eines großen Herrn, eine Menge angenehmer und scherzhafter Geschichten, ohne jedoch etwas von meinen beiden schönen Begleiterinnen zu sagen.

Die Prinzessin war schön, liebenswürdig und hochbegabt. Ihre Mutter, die den Fürsten kannte und wohl wußte, daß ein solcher Mann sie nicht glücklich machen konnte, widersetzte sich dieser Verbindung; die junge Marchesa war aber wie verzaubert, und die Mutter mußte nachgeben, als die Tochter zu ihr sagte: »O Monaco, o Monaco – entweder bekomme ich den Monaco oder ich werde Nonne.«

Während wir die nichtigen Phrasen einer inhaltlosen Unterhaltung wechselten, kam der Fürst hinein. Er verfolgte eine von ihren Kammerzofen, die lachend vor ihm davonlief. Die Fürstin tat, wie wenn sie nichts sähe, und sprach ruhig ihren Satz zu Ende. Der Auftritt, mißfiel mir, und ich verabschiedete mich daher von der Fürstin, die mir gute Reise wünschte. Der Fürst, dem ich beim Hinausgehen begegnete, lud mich ein, ihn zu besuchen, so oft ich durch Mentone käme.

»Ich werde nicht verfehlen«, antwortete ich, und damit drückte ich mich, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich ging in den Gasthof zurück und bestellte ein gutes Mittagessen für drei.

Im Fürstentum Monaco lag eine französische Besatzung; für die Einräumung dieses Rechtes erhielt der Fürst ein Jahrgeld von hunderttausend Franken, und diese Besatzung verlieh ihm ein Relief, dessen er sehr stark bedurfte.

Ein junger Offizier, geschniegelt und gebügelt und auf zwanzig Schritte nach Moschus duftend, ging an unserm Zimmer vorbei, dessen Tür offen stand. Er blieb stehen und fragte uns mit einer unverschämten Höflichkeit, die eine abschlägige Antwort für unmöglich zu halten schien: ob wir ihm wohl erlauben wollten, seine gute Laune mit der unsrigen zu vereinigen. Ich antwortete ihm mit sehr kühler Höflichkeit, er würde uns eine große Ehre erweisen – eine herkömmliche Redensart, die weder ja noch nein besagt; aber ein Franzos, der einmal den ersten Schritt getan hat, läßt sich nicht leicht aus der Fassung bringen und weicht niemals zurück, einerlei ob es sich um eine Heldentat oder eine Dummheit handelt.

Nachdem er seine ganze Anmut vor meinen beiden Schönen entfaltet und tausend nichtssagende Redensarten an sie gerichtet hatte, ohne ihnen jemals Zeit zum Antworten zu lassen, wandte er sich zu mir und sagte: er wisse, daß ich mit dem Fürsten gesprochen habe, und sei erstaunt, daß dieser mich nicht nebst meinen schönen Damen zum Mittagessen eingeladen habe. Ich glaubte ihm antworten zu müssen, daß ich dem Fürsten von meinem schönen Schatze nichts gesagt hätte.

Kaum hatte ich diese Worte hervorgebracht, so sprang der liebenswürdige Hasenfuß voller Begeisterung auf und rief: »Ja, zum Donnerwetter, dann wundere ich mich nicht mehr. Ich eile zu Seiner Hoheit, um ihm Meldung davon zu machen, und werde bald die Ehre haben, mit Ihnen im Schloß zu speisen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er davon.

Wir lachten über das Ungestüm des Brausekopfs, da wir fest überzeugt waren, daß wir weder mit ihm noch mit dem Fürsten speisen würden. Aber es dauerte keine Viertelstunde, da sahen wir ihn freudestrahlend zurückkehren! Mit triumphierender Miene lud er uns im Auftrag des Fürsten ein, im Schloß zu speisen.

Ich antwortete ihm: »Ich bitte Sie, Seiner Hoheit in unserem Namen zu danken und uns zugleich zu entschuldigen. Da das Wetter schön geworden ist, so will ich unter allen Umständen abreisen, sobald wir in aller Eile einen Bissen gegessen haben.«

Unser junger Franzose bot seine ganze Redekunst auf, um uns zur Annahme der Einladung zu bewegen. Da ich jedoch unerbittlich blieb, so verließ er mich mit betrübtem Gesicht, um dem Fürsten unsere Antwort zu überbringen.

Ich glaubte ihn nun los zu sein, aber ich hatte es mit einem zähen Willen zu tun: kurze Zeit darauf kam er wieder, wandte sich mit hochbefriedigter Miene zu meinen beiden Damen, wie wenn er mich überhaupt für nichts mehr rechnete, und sagte zu ihnen: »Ich habe dem Fürsten eine so wahrheitsgetreue Beschreibung von Ihren Vollkommenheiten gemacht, daß Seine Hoheit beschlossen hat, hier mit Ihnen zu speisen. Ich habe bereits befohlen, zwei Gedecke mehr aufzulegen, denn ich werde die Ehre haben, daran teilzunehmen. In einer Viertelstunde, meine Damen, wird der Fürst hier sein.«

»Vortrefflich!« rief ich ohne Zögern; »aber um den Fürsten angemessen zu bewirten, muß ich schnell einmal auf meine Feluke gehen, um eine ausgezeichnete Pastete zu holen, die der Fürst, wie ich weiß, besonders gern ißt. Kommen Sie, meine jungen Damen!«

»Sie können sie hierlassen, mein Herr; ich werde ihnen gute Gesellschaft leisten.«

»Daran zweifle ich nicht im geringsten; aber die Damen haben ebenfalls etwas zu holen.«

»Sie erlauben mir doch, mitzukommen?«

»Oh, sehr gern!«

Beim Hinausgehen war ich den anderen um etwa vier Schritte voraus; ich fragte den Wirt unbemerkt, wieviel ich ihm schuldig sei. »Nichts, mein Herr; soeben erhalte ich den Befehl, Sie aufs beste zu bedienen, aber keine Bezahlung zu nehmen.«

»Das ist ja prächtig!«

Während dieses kurzen Gespräches waren meine Damen mit dem jungen Windbeutel vorausgegangen; ich beeilte mich, sie einzuholen, und reichte meiner Nichte den Arm. Sie lachte von ganzem Herzen darüber, daß der Offizier Marcolinen Komplimente machte, von denen sie kein Wort verstand; der Dummkopf konnte dies aber nicht bemerken, weil er wie eine Windmühle klapperte, ohne jemals auf eine Antwort zu warten.

»Wir werden bei Tisch viel zu lachen haben,« sagte meine Nichte, zu mir; »aber was wollen wir denn in der Feluke?«

»Abreisen! Still!«

»Abreisen?«

»Augenblicklich.«

»Der Streich ist Goldes wert!«

Wir besteigen die Feluke; der Offizier ist entzückt von meinem Reisewagen und fängt an, ihn sich anzusehen. Während er damit beschäftigt ist, sage ich meiner Nichte, sie solle ihn unterhalten, und befehle sodann mit leiser Stimme dem Schiffer, augenblicklich abzufahren.

»Augenblicklich?«

»Jawohl, noch in dieser Minute.«

»Aber der Herr Abbate und Ihr Sekretär sind spazieren gegangen, und von meinen Ruderknechten sind ebenfalls zwei am Lande.«

»Das macht nichts; sie werden auf dem Landwege nach Antibes gehen und uns dort finden; es sind ja nur zehn Wegstunden, und sie haben Geld. Ich will abreisen und zwar sofort. Machen Sie schnell, ich habe es eilig!«

»Das genügt.«

Er löst die Kette, die die Feluke festhält, und diese entfernt sich vom Ufer. Der Offizier bemerkt es und fragt mich ganz verblüfft, was das zu bedeuten habe.

»Das bedeutet, daß ich nach Antibes fahre, wohin ich Sie mit dem größten Vergnügen gratis mitnehme.«

»Das ist ein Scherz von der allerschönsten Sorte! Denn Sie scherzen doch nur!«

»Nein, allen Ernstes, Ihre Gesellschaft wird uns sehr angenehm sein.«

»Donnerwetter! Setzen Sie mich doch an Land; denn – ich bitte um Verzeihung, meine schönen Damen – ich habe keine Zeit, nach Antibes zu fahren. Ein anderes Mal gern!«

»Setze den Herrn an Land!« sage ich zum Schiffer; »unsere Gesellschaft scheint dem Herrn nicht zu gefallen.«

»Aber im Gegenteil! Ihre Damen sind reizend; aber Sie begreifen doch, der Fürst würde mir mit Recht zürnen, denn er würde glauben, ich wäre mit Ihnen im Einverständnis, um ihm diesen Streich zu spielen, der ihm, wie Sie zugeben werden, nicht gleichgültig sein kann.«

»Ich spiele niemals Streiche, die einem gleichgültig sein können.«

»Aber was wird der Fürst dazu sagen?«

»Er mag sagen, was ihm gefällt, gerade wie ich tue, was mir gefällt.«

»Nun, ich persönlich bin jedenfalls vollkommen gerechtfertigt. Leben Sie wohl, meine Damen! Leben Sie wohl, mein Herr!«

»Leben Sie wohl, mein Herr; Sie können dem Fürsten meinen Dank sagen, daß er meine Zeche im Gasthof hat bezahlen lassen.«

Marcolina verstand kein Wort von dem, was vorging, und konnte daher nicht lachen. Sie war ganz verdutzt, da sie nicht wußte, was sie davon halten sollte; meine Nichte aber wollte sich halbtot lachen, denn nichts war komischer als die Art und Weise, wie der arme Offizier die Sache aufgefaßt hatte.

Clairmont setzte uns ein Essen vor, wie wir es nur wünschen konnten, und niemals ist eine Mahlzeit fröhlicher gewesen, denn wir hatten unaufhörlich über den Vorfall und alle Einzelheiten desselben zu lachen, nicht zum wenigsten auch über das Erstaunen, in das Passano und mein dummer Bruder geraten mußten, wenn sie am Hafen ankamen und uns nicht mehr fanden, übrigens war ich sicher, daß ich sie schon am nächsten Tage in Antibes wiedersehen würde; wir selber kamen dort am Abend um sechs Uhr an.

Die See hatte uns an diesem Tage müde, aber nicht krank gemacht; die herbe Seeluft hatte unseren Appetit gestärkt; wir taten daher dem Abendessen alle Ehre an und brachten reichliche Trankopfer. Marcolina, deren Magen durch die Bewegung der Wellen etwas geschwächt war, verspürte bald die Wirkungen des Burgunders. Die Augen wurden ihr schwer, und sie legte sich schlafen. Meine Nichte wollte ihrem Beispiel folgen, aber ich erinnerte sie voller Zärtlichkeit daran, daß wir endlich in Antibes seien, und daß ich mich der Hoffnung hingebe, sie werde ihr Wort nicht brechen. Sie reichte mir wortlos die Hand, indem sie mit zärtlicher und bescheidener Miene die Augen niederschlug.

Freudetrunken über eine Gefälligkeit, die der Liebe so ähnlich sah, legte ich mich an die Seite des entzückenden Mädchens und rief: »Endlich also ist der Augenblick meines Glückes da!«

»Und des meinigen, geliebter Freund!«

»Wie? Des deinigen? Hast du mich nicht beständig zurückgestoßen?«

»Niemals! Ich liebte dich vom ersten Augenblick an und litt unter deiner Gleichgültigkeit.«

»Aber wolltest du nicht die erste Nacht nach unserer Abreise von Mailand lieber allein sein, als sie mit mir verbringen?«

»Konnte ich anders handeln, ohne mich der Gefahr auszusetzen, in deinen Augen für eine Person zu gelten, die keiner wahren Liebe fähig, sondern nur eine Sklavin ihrer Sinne wäre? Außerdem hättest du glauben können, ich gäbe mich dir zum Dank für deine Wohltaten hin. Dieses Gefühl der Dankbarkeit wäre zwar edel gewesen, aber es hätte die sanfte Hingebung der Liebe unmöglich gemacht. Du hättest mir sagen müssen, daß du mich liebtest, und hättest mich davon überzeugen müssen durch jene eifrige Dienstwilligkeit, die uns Frauen stets besiegt, wenn das Herz nur ein bißchen dabei beteiligt ist. Dadurch würdest du mich ermutigt haben, auch meinerseits dich zu überzeugen, daß ich dich liebte, und das hätte dir die Qual erspart, zu glauben, daß nur du allein verliebt seist. Ich meinerseits hätte nicht die Kränkung erlitten, mir einbilden zu müssen, daß du in meinen Armen nur Gefälligkeit zu finden glauben würdest. Ich weiß nicht, ob du mich am nächsten Morgen weniger würdest geliebt haben; aber ich weiß, du würdest mich nicht verachtet haben.«

Meine Nichte hatte recht, und ich gab ihr das gern zu, indem ich mich zugleich zu rechtfertigen versuchte; denn sie sollte nicht den geringsten Zweifel darüber hegen, daß ich ihre Hingebung nicht als eine Vergeltung für meine Wohltaten betrachtete. Sie sollte fühlen, daß nach meiner Überzeugung sie wie ich nur vom Gefühl getrieben wurde.

Wir verbrachten eine Nacht, die der Leser leichter ahnen und sich vorstellen, als ich sie beschreiben kann; wir fühlten uns beide gleich sehr beglückt durch unsere Genüsse und durch gegenseitige Seligkeit. Am Morgen sagte sie zu mir: ohne Zweifel sei es zu ihrem Besten, daß wir nicht mit diesem Ende begonnen hätten; denn sie fühle, daß sie sich niemals würde entschlossen haben, sich mit dem Genuesen zu verloben, obgleich er allem Anschein nach vom Schicksal dazu bestimmt sei, sie glücklich zu machen.

Marcolina kam am Morgen zu uns, überschüttete uns mit tausend Liebkosungen und versprach uns, während der ganzen Reise allein zu schlafen.

»Du bist also nicht eifersüchtig auf sie?« fragte ich sie.

»Ich liebe ihr Glück wie mein eigenes, weil ich sie selber liebe, und weil ich weiß, daß sie dich glücklich macht.«

Das Mädchen entwickelte sich von Tag zu Tag und wurde immer entzückender.

Passano kam mit dem Abbate in dem Augenblick an, wo wir uns zu Tisch setzen wollten, und da meine Nichte zwei Gedecke mehr aufzulegen befahl, so erklärte ich mich damit einverstanden, daß sie mit uns speisten. Mein Bruder bot einen höchst kläglichen und zugleich lächerlichen Anblick. Da er nicht zu Fuß gehen konnte, hatte er ein Pferd genommen, welches vielleicht das erste war, das er in seinem ganzen Leben bestiegen hatte.

»Ich habe eine zarte Haut,« sagte er; »es ist daher nicht zu verwundern, daß ich ganz zerschunden bin. Aber Gottes Wille geschehe. Ich glaube nicht, daß man ärgere Schmerzen erdulden kann, als ich sie während dieses entsetzlichen Rittes aushalten mußte. Mein Körper hat Schmerzen gelitten, noch mehr aber meine Seele!«

Während er so sprach, warf er Marcolinen die kläglichsten Blicke zu; wir aber hielten uns die Seiten, um nicht laut herauszuplatzen. Meine Nichte konnte es schließlich nicht mehr aushalten und sagte zu ihm: »Wie leid Sie mir tun, lieber Onkel!«

Er wurde rot, nannte sie liebe Nichte und fing an, ihr auf französisch ein herzlich dummes Kompliment zu machen. Ich sagte ihm, er solle schweigen und sich der französischen Sprache, die so leicht zu Mißverständnissen Anlaß gibt, nicht eher bedienen, als bis er sie verstehe und sie so spreche, daß man ihm nicht ins Gesicht lachen müsse. Übrigens sprach der Dichter Pogomas nicht besser als er.

Da wir neugierig waren, was sich in Mentone nach unserer Abfahrt zugetragen hätte, so erzählte Passano uns folgendes:

»Als wir von unserem Spaziergang zurückkamen, fanden wir zu unserer großen Überraschung die Feluke nicht mehr. Da ich wußte, daß Sie im Gasthof das Mittagessen bestellt hatten, so begaben wir uns dorthin; der Wirt konnte mir aber auch nichts weiter sagen, als daß er den Fürsten und einen jungen Offizier erwartete, die mit Ihnen speisen würden. Gerade in dem Augenblick, als ich ihm sagte, er würde vergeblich auf Sie warten, kam der Fürst und sagte voller Zorn zu ihm: da Sie abgereist seien, so könne er die Bezahlung von Ihnen eintreiben. ›Gnädiger Herr,‹ sagte der Wirt, ›der Herr, der abgereist ist, wollte bezahlen; ich habe mich jedoch nach Ihrem Befehl gerichtet und die Bezahlung zurückgewiesen, die ich daher von Eurer Hoheit erwarte.‹ Hierauf warf der Fürst ihm verdrießlich einen Louis zu und fragte uns, wer wir seien. Ich antwortete ihm: wir gehörten zu Ihrer Gesellschaft, und Sie hätten auch auf uns nicht gewartet, wodurch wir in große Verlegenheit geraten wären. ›Sie werden sich schon herausziehen,‹ sagte er zu mir; dann fing er an zu lachen und sagte, der Spaß sei sehr drollig. Endlich fragte er mich, wer die beiden jungen Damen wären, die Sie bei sich hätten. ›Die eine,‹ sagte ich zu ihm, ›ist seine Nichte; die andere kenne ich nicht.‹ Da nahm aber der Abbate das Wort und sagte, die andere sei seine Cuisine. Der Fürst erriet, daß er Cousine sagen wollte, und brach in ein lautes Gelächter aus, in das der junge Offizier aus vollem Halse einstimmte. ›Sie können ihn von mir grüßen,‹ sagte der Fürst, indem er sich zum Gehen wandte, ›und ihm sagen, ich würde ihn schon einmal irgendwie finden, und ich würde den bösen Streich nicht vergessen, den er mir gespielt hätte.‹

»Als er fort war, lachte der Wirt, da er ein anständiger Mann war, und ließ uns und den beiden Ruderknechten ein gutes Essen vorsetzen, indem er sagte: mit dem Louis des angeführten Fürsten sei alles bezahlt. Nachdem wir gut gegessen hatten, mieteten wir uns zwei Pferde. In Nizza übernachteten wir. Heute früh reisten wir weiter. Wir waren überzeugt, daß wir Sie hier wiederfinden würden.«

Marcolina sagte kurz angebunden zum Abbate: wenn er sich in Marseille oder sonstwo einfallen lasse, sie seine Cousine zu nennen, so würde er es mit ihr zu tun bekommen; denn sie wollte weder für seine Cuisine noch für seine Cousine gelten. Ich riet ihm ebenfalls allen Ernstes, in Zukunft nicht mehr französisch zu sprechen, da die Gesellschaft, in der er sich befände, sich seiner Sprachfehler schämen müßte.

Als ich Postpferde nach Fréjus bestellte, sah ich einen Mann erscheinen, der behauptete, er hätte von mir zehn Louis für die Aufbewahrung eines Wagens zu bekommen, den ich vor fast drei Jahren bei ihm eingestellt hätte. Dies war gewesen, als ich Rosalie von Marseille entführte. Ich mußte lachen, denn der Wagen war keine fünf Louis wert. Darum sagte ich zu dem Mann: »Mein guter Freund, ich schenke Euch das Möbel.«

»Ich will von Ihnen nichts geschenkt haben, sondern verlange zehn Louis, die Sie mir schuldig sind.«

»Die zehn Louis bekommt Ihr nicht. Geht zum Kuckuck!«

»Das wollen wir sehen!«

Er ging. Ich lasse die Pferde holen und will abfahren.

Einige Augenblicke darauf überbringt ein Gerichtsbote mir auf Antrag meines Gläubigers eine Vorladung, vor dem Kommandanten zu erscheinen. Ich gehe mit ihm und finde einen einarmigen Herrn, der mich höflich ersucht, die vom Kläger verlangten zehn Louis zu zahlen und meinen Wagen an mich zu nehmen. Ich antwortete ihm: in meinem Vertrage sei bestimmt, daß ich monatlich sechs Franken zu bezahlen habe; es sei jedoch kein Termin für die Rückgabe vorgeschrieben und ich wolle meinen Wagen nicht auslösen.

»Aber, mein Herr, wenn Sie nun den Wagen überhaupt nicht auslösen?«

»Dann mag er in seinem Testament die Forderung seinen Erben hinterlassen.«

»Ich glaube aber doch, er könnte Sie zwingen, entweder Ihren Wagen zu nehmen, oder Ihre Einwilligung zu geben, daß er diesen versteigert.«

»Da haben Sie recht, mein Herr; diese Mühe will ich ihm ja aber gerade auf die vornehmste Art von der Welt ersparen, indem ich ihm den Wagen schenke.«

»Dann ist die Sache erledigt. Guter Freund, der Wagen gehört Euch.«

»Aber, Herr Kommandant, ich bitte um Verzeihung,« sagte der Kläger, »die Sache ist nicht erledigt; denn der Wagen ist keine zehn Louis wert, und ich verlange diesen Überschuß.«

»Ihr habt unrecht, mein Freund. Ihnen, mein Herr, wünsche ich gute Reise und bitte Sie, verzeihen Sie der Unwissenheit dieser armen Leute, die das Recht nach ihren beschränkten Begriffen gebeugt sehen möchten.«

Da ich mit allen diesen Scherereien viel Zeit verloren hatte, beschloß ich meine Abreise bis zum nächsten Tage zu verschieben. Mir fiel ein, daß ich für Passano und den Abbate einen Wagen brauchte, und da mir der dem Besitzer des Schuppens überlassene für meine Zwecke zu genügen schien, so ließ ich ihn durch meinen Sekretär kaufen, der ihn für vier Louis bekam. Der Wagen befand sich in einem schäbigen Zustande und mußte erst ausgebessert werden, um wenigstens bis Marseille zusammenzuhalten. Infolgedessen mußten wir noch bis zum nächsten Nachmittag in Antibes bleiben; aber diese Zeit war für das Vergnügen nicht verloren.

Fünftes Kapitel


Meine Ankunft in Marseille. – Frau von Urfé. – Meine Nichte wird von Frau Audibert freundlich aufgenommen. – Ich schaffe mir meinen Bruder und Passano vom Halse. – Regeneration. – Abreise der Frau von Urfé. – Marcolina bleibt mir treu.

Meine Nichte, die meine Geliebte geworden war, wuchs mir jeden Tag mehr ans Herz, und ich dachte nicht ohne Grauen daran, daß Marseille das Grab unseres Glückes sein würde, ich meine: meiner Liebe. Da ich nun einmal nach Marseille mußte, so schob ich wenigstens den Augenblick der Ankunft so weit wie möglich hinaus, indem ich nur ganz kleine Tagereisen machte. Obgleich wir von Antibes nach Fréjus nicht einmal drei Stunden brauchten, fuhr ich doch nicht weiter. Nachdem ich Passano und meinem Bruder gesagt hatte, sie möchten sich’s für die Nacht nach ihrem Belieben bequem machen, bestellte ich für mich und meine beiden schönen Nymphen ein leckeres Abendessen und die besten Weine. Wir erhielten eine schlemmerhafte Mahlzeit, die wir bis Mitternacht zu verlängern wußten; hierauf legten wir uns zu Bett, und in den nächsten zwölf Stunden wurde der süßeste Schlummer nur durch die süßesten Wonnen der Liebe unterbrochen. Ebenso machte ich es in Luc, Brignoles und Aubagne, wo ich die sechste und letzte Nacht des Glückes verbrachte.

Sofort nach unserer Ankunft in Marseille führte ich meine schöne Nichte zu Frau Audibert, während ich Passano und meinen Bruder in den Gasthof zu den »Dreizehn Kantonen« schickte. Ich befahl ihnen, das strengste Stillschweigen über meine Angelegenheiten zu beobachten, da ich nicht wollte, daß Frau von Urfé, die seit drei Wochen auf mich wartete, meine Ankunft von anderer Seite erführe als durch mich selber.

Bei Frau Audibert hatte meine Nichte Croce kennen gelernt. Die Dame war ränkesüchtig und sehr klug; sie liebte meine Freundin schon seit ihrer Kindheit und hatte einigen Einfluß auf deren Familie; durch ihren Einfluß hoffte daher meine Nichte von ihrem Vater wieder zu Gnaden angenommen zu werden. Wir hatten vereinbart, daß ich meine Marseillerin und meine Venetianerin im Wagen lassen und allein zu Frau Audibert gehen sollte, die ich gelegentlich meiner letzten Durchreise kennen gelernt hatte. Ich sollte mit der Dame verabreden, auf welche Weise meine Nichte so lange untergebracht werden könnte, bis sie die nötigen Schritte zur Durchführung unseres Planes getan hätte.

Frau Audibert hatte mich aus dem Wagen steigen sehen. Obwohl sie mich nicht erkannte, war sie doch neugierig, wer so mit der Post bei ihr vorführe; darum ging sie mir entgegen und empfing mich auf der Türschwelle. Nachdem ich mich ihr zu erkennen gegeben hatte, erklärte sie sich auf das freundlichste bereit, mir eine geheime Unterredung zu gewähren, und führte mich in ein Kabinett, wo wir allem Anschein nach ungestört sein mußten.

Ich verlor keine Zeit mit langen Vorreden, sondern erzählte ihr geschwind die ganze Geschichte: wie das Unglück Croce gezwungen hätte, Fräulein Crosin in Stich zu lassen, wie ich das Glück gehabt hätte, ihr nützlich sein zu können, und wie endlich ein günstiger Zufall es gefügt hätte, daß sie unterwegs einen reichen und vornehmen Mann gefunden, der sich in sie verliebt hätte und vor Ablauf von vierzehn Tagen nach Marseille kommen würde, um bei ihrem Vater um ihre Hand anzuhalten. Zum Schluß wünschte ich mir Glück, daß es mir vergönnt sei, ihren Händen ein so liebenswürdiges Geschöpf anzuvertrauen, dessen Ritter ich gewesen sei.

»Wo ist sie denn?« rief Frau Audibert.

»Sie sitzt in meinem Wagen, dessen Vorhänge ich heruntergelassen habe.«

»Holen Sie sie geschwind und überlassen Sie es mir, die ganze Geschichte in Ordnung zu bringen. Kein Mensch wird erfahren, daß sie bei mir ist, und ich bin glücklich, sie umarmen zu können.«

Froher als ein König, wie das Sprichwort sagt, war ich mit einem Sprunge am Wagen. Nachdem ich ihr hübsches Gesicht mit der Kapuze ihres Mantels verhüllt hatte, führte ich meine Nichte ihrer Freundin in die Arme. Es war für mich eine köstliche Szene! Zärtliche Umarmungen, Küsse hin und her, Tränen des Glückes und der Reue. Ich aber vergoß Tränen der Rührung, der Befriedigung und des Bedauerns.

Da Clairmont unterdessen das Gepäck meiner Nichte ins Haus gebracht hatte, so entfernte ich mich, indem ich ihr versprach, sie jeden Tag zu besuchen.

Ich hatte noch eine andere, nicht weniger wichtige Angelegenheit zu erledigen: nämlich meine Venetianerin unterzubringen. Ich befahl den Postillonen, mich zu dem braven alten Manne zu führen, in dessen Hause ich so glückliche Stunden mit meiner Rosalie verlebt hatte. Marcolina weinte über die Trennung von ihrer Freundin.

Ich ging zu dem guten Alten hinein und machte in aller Eile mit ihm einen Vertrag, wonach meine neue Eroberung wie eine Prinzessin wohnen, speisen und bedient werden sollte. Er zeigte mir die Zimmer, die er für sie frei hatte: sie waren einer kleinen Marquise würdig. Zugleich sagte er mir, er werde sie von seinen eigenen Nichten bedienen lassen, und außer mir werde kein Mensch zu ihr kommen.

Nachdem dies alles nach meinem Wunsche abgemacht war, ließ ich meine schöne Venetianerin heraufkommen und übergab ihr die Wohnung. Auch händigte ich ihr ihr Geld ein, das ich in Gold umgewechselt und auf einen Betrag von tausend venetianischen Silberdukaten erhöht hatte.

»Du wirst das Geld nicht brauchen,« sagte ich zu ihr, »aber hebe es dir sorgsam auf, denn in Venedig werden tausend Dukaten dir eine gewisse Bedeutung verleihen. Weine nicht, mein Engel! Ich lasse dir mein Herz, und morgen Abend werde ich mit dir speisen.«

Nachdem der Alte mir einen Haustürschlüssel gegeben hatte, fuhr ich nach dem Gasthof zu den »Dreizehn Kantonen«. Dort wurde ich bereits erwartet, und meine Zimmer stießen unmittelbar an diejenigen der Frau Urfé.

Sobald ich mich eingerichtet hatte, überbrachte Bourgnole mir die Komplimente ihrer Herrin und sagte mir, diese sei allein und erwarte voll Ungeduld den Augenblick, wo ich sie besuchen könnte.

Ich werde meinen Lesern nicht die einzelnen Umstände dieser Zusammenkunft beschreiben, denn sie würden weiter nichts erfahren als die geistige Verwirrung dieser armen Frau, die bis zum Wahnsinn sich in die falscheste aller Doktrinen verrannt hatte; leider hüllte ich meinerseits sie in ein Gewebe von Lügen, die nicht einmal das Verdienst der Wahrscheinlichkeit hatten. Ich war in mein Wüstlingsleben versunken und liebte ein Dasein, wie ich es führte; darum machte ich mir den Wahnsinn der Frau zunutze, die sich doch nur bemüht hätte, sich von einem anderen betrügen zu lassen, wenn ich sie nicht betrogen hätte; denn im Grunde betrog sie doch nur ihr eigener Geist, da für sie ihr Irrtum gleichbedeutend war mit ihrem Leben. Ich gab mir selber den Vorzug, weil jeder Mensch bei der Wahl zwischen einem Unbekannten und sich selber doch nur sich selber vorzieht; außerdem aber auch, weil ich wußte, daß ich keinem Menschen unrecht tat, wenn ich mir die Verrücktheit dieser sehr reichen Dame zunutze machte, und schließlich, weil für mich der Vorteil außerordentlich groß war.

Kaum erblickte sie mich, so fragte sie: »Wo ist Querilint?« Sie zitterte vor Freude, als ich ihr antwortete: »Er befindet sich mit uns unter einem Dache.«

»So wird er mich in mir selber verjüngen! Mein Genius versichert es mir jede Nacht. Fragen Sie Paralis, ob die Geschenke, die ich für ihn vorbereitet habe, würdig sind, von Semiramis einem Haupte der Rosenkreuzer dargebracht zu werden?«

Da ich nicht wußte, worin diese Geschenke bestanden, und da ich von ihr nicht verlangen konnte, sie mir zu zeigen, so antwortete ich ihr: bevor wir Paralis mit diesen Fragen beschäftigten, müßten die Geschenke in den Planetenstunden geweiht werden, die dem von uns vorzunehmenden Kultus angemessen wären, Querilint selber dürfe sie nicht sehen, bevor sie geweiht seien. Infolgedessen ließ sie mich in das Nebenzimmer eintreten, wo sie aus einem Schrank sieben Pakete hervorholte, die in Gestalt von Opfergaben an die Planeten für den Rosenkreuzer bestimmt waren.

Jedes Paket enthielt sieben Pfund des Metalls, das dem betreffenden Planeten geweiht war, und sieben Edelsteine, die ebenfalls dem Planeten entsprachen, und die je sieben Karat wogen: es waren Diamanten, Rubinen, Smaragde, Saphire, Chrysolithe, Topase und Opale.

Ich war fest entschlossen, es so einzurichten, daß der Genuese von allen diesen Sachen nichts in die Hände bekäme: darum sagte ich der Schwärmerin, wir müßten uns in bezug auf die Methode ganz und gar nach Paralis richten und die Weihung damit beginnen, daß jedes Paket in ein eigens dafür angelegtes Kästchen gelegt würde. Es könne täglich nur eines geweiht werden, und es müsse mit der Sonne angefangen werden.

Da wir einen Freitag hatten, so mußten wir bis zum Sonntag warten, denn das ist der Tag, der der Sonne geweiht ist. Am Samstag ließ ich den Kasten anfertigen, der die sieben Kästchen enthielt.

Um diese Weihungen vorzunehmen, verbrachte ich jeden Tag drei Stunden unter vier Augen mit Frau von Urfé. Der Kultus war daher erst am nächsten Samstag beendigt. Während dieser Woche ließ ich Passano und meinen Bruder mit Frau von Urfé und mir speisen. Mein Bruder verstand kein Wort von allem, was die gute Schwärmerin uns sagte; darum tat er den Mund nicht auf, so daß er für einen Stummen des Serails hätte gelten können. Frau von Urfé fand ihn blöd, bildete sich aber ein, wir wollten die Seele eines Sylphen in seinen Leib versetzen, um dadurch ein Geschöpf zu zeugen, dessen Natur zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen stehen würde. Als sie mir diese schöne Entdeckung ihrer Phantasie anvertraut hatte, sagte sie mir, sie würde mit der Operation einverstanden sein, aber unter der Bedingung, daß er nachher wie ein vernunftbegabtes Wesen aussähe.

Es machte mir Spaß, zu sehen, wie mein Bruder darüber in Verzweiflung war, daß Frau von Urfé ihn für einen Idioten hielt, und daß er ihr doppelt idiotisch erschien, wenn er ausnahmsweise einmal etwas sagte, um ihr dadurch zu beweisen, daß er kein Idiot sei. Ich mußte innerlich darüber lachen; denn wenn ich ihn ausdrücklich gebeten hätte, diese Rolle zu spielen, so würde er sie schlecht gespielt haben. Indessen kam der Bursche dabei nicht zu kurz; denn die gute Marquise machte sich einen Spaß daraus, ihn mit dem ganzen bescheidenen Luxus zu kleiden, den ein Abbé aus einer der erlauchtesten Familien Frankreichs hätte entfalten können.

Am unangenehmsten war das Zusammenspeisen mit Frau von Urfé dem Dichter Passano, der oft auf die erhabensten Fragen antworten mußte und zuweilen, wenn er keinen Ausweg aus dem Labyrinth wußte, beträchtlichen Unsinn redete.

Da er sich nicht zu betrinken wagte, so gähnte er zuweilen und beobachtete nicht immer jenen höflichen Anstand, auf den man in Frankreich mehr Wert legt als in anderen Ländern. Frau von Urfé sagte mir, dem Orden müsse irgendein großes Unglück drohen, da der große Mann so zerstreut sei.

Nachdem ich die Kiste zu Frau von Urfé hatte bringen lassen, traf ich mit ihr gemeinsam alle Vorbereitungen, um die Beschwörung der Planeten vorzunehmen. Ich ließ mir von meinem Orakel befehlen, sieben Nächte hintereinander auf dem Lande zuzubringen, mich jeden Umgangs mit einem sterblichen Weibe zu enthalten und jede Nacht zu der Stunde, die dem Monde geweiht ist, auf freiem Felde diesem Planeten einen Kultus darzubringen, um dadurch die Fähigkeit zu erlangen, selber ihre Regeneration vorzunehmen, falls Querilint aus göttlichen Gründen nicht imstande sein sollte, die Operation in eigener Person zu vollziehen.

Infolge dieses Befehles konnte Frau von Urfé es nicht nur nicht übelnehmen, daß ich außer dem Hause schlief, sondern sie war mir sogar dankbar dafür, daß ich mir soviel Mühe gab, um ihrem Unternehmen einen glücklichen Ausgang zu sichern.

Am Samstag, dem Tage nach meiner Ankunft in Marseille, ging ich zu Frau Audibert, wo ich zu meiner Freude sah, daß meine Nichte sehr befriedigt war von der Teilnahme, womit ihre Freundin sich ihrer Angelegenheit angenommen hatte. Sie hatte mit ihrem Vater gesprochen, und diesem gesagt, seine Tochter sei in ihrem Hause und hege den sehnlichsten Wunsch, seine Verzeihung zu erlangen, um in den Schoß ihrer Familie zurückzukehren und binnen kurzem die Gattin eines reichen Genuesen zu werden, der sie zur Ehre seines Hauses nur aus den Händen ihres Vaters empfangen wolle. Der wackere Mann war ganz glücklich, seine geliebte Tochter wiederzufinden und das verirrte Schaf zur Herde zurückzuführen; er hatte ihr geantwortet, er werde sie am übernächsten Tage selber abholen und zu einer seiner Schwestern bringen, die in Saint Louis, zwei kleine Stunden von Marseille, ein eigenes Haus bewohne. Wenn sie sich dort ruhig verhalte, könne sie die Ankunft ihres künftigen Gemahls abwarten, ohne irgendwelchen Anlaß zu Gerede zu geben. Meine Nichte war überrascht, daß ihr Vater noch keine Briefe von dem jungen Mann erhalten hatte, und ich glaubte an ihr ein Zeichen von jener gewissen Ängstlichkeit zu bemerken, die aus dem Zweifel erwächst. Ich bestärkte sie in ihren Hoffnungen und versprach ihr, Marseille nicht früher zu verlassen, als bis ich an ihrer Hochzeit teilgenommen hätte.

Von ihr ging ich zu Marcolina. Es verlangte mich, das schöne Kind an mein Herz zu pressen. Sie empfing mich in einer Art von Freudentaumel. Sie sagte mir, sie würde sich ganz glücklich fühlen, wenn sie sich nur verständlich machen und wenn sie selber verstehen könnte, was ihre Aufwärterin zu ihr sagte. Ich sah wohl ein, daß diese Lage eine Qual war, besonders für ein Weib; aber ich sah für den Augenblick keine Abhilfe, denn ich hätte ihr eine italienisch sprechende Magd besorgen müssen, und deren Gegenwart wäre sehr lästig gewesen. Sie weinte Freudentränen, als ich ihr Grüße von meiner Nichte bestellte und ihr sagte, daß diese am nächsten Tage schon in den Armen ihres Vaters liegen werde. Daß sie nicht meine Nichte war, wußte sie schon, seitdem sie sie in meinen Armen gefunden hatte.

Das lecker und fein zusammengestellte Abendessen, das der gute Alte uns besorgt hatte, bewies sein gutes Gedächtnis und rief auch mir die Erinnerung an Rosalie zurück. Marcolina hörte die Erzählung mit großem Vergnügen und sagte mir zum Schluß, ich scheine nur darum die Welt zu bereisen, um unglückliche junge Mädchen glücklich zu machen, vorausgesetzt, daß ich sie hübsch fände.

»Ich möchte es selber fast glauben«, antwortete ich ihr; »jedenfalls ist es wahr, daß ich mehrere glücklich gemacht habe, und daß ich mir nicht vorzuwerfen habe, auch nur eine einzige unglücklich gemacht zu haben.«

»Gott wird dich dafür belohnen, mein lieber Freund.«

»Vielleicht lohnt sich dies bei mir nicht der Mühe.«

Wenn Marcolina mich durch ihre Schönheit, ihren natürlichen Geist und ihre Liebenswürdigkeit entzückte, so gefiel sie mir nicht weniger wegen ihres ausgezeichneten Appetits; denn wie der Leser weiß, war der Appetit eines Weibes immer eine meiner Schwächen. Übrigens ist in der Provence und besonders in Marseille das Essen ganz ausgezeichnet, abgesehen vom Geflügel, das nichts taugt; allerdings muß man einen Geschmack für Knoblauch haben, denn dieses Gewürz wird an alles getan. Wenn man gerecht sein will, so muß man wirklich sagen, daß es, mit Maß angewandt, ein Reizmittel sondergleichen ist.

Marcolina war reizend im Bett. Seit acht Jahren hatte ich nicht mehr so recht mit vollem Behagen die venetianischen Ausgelassenheiten genossen, und das Mädchen war ein Meisterwerk, vor welchem Prariteles auf die Knie gefallen wäre. Ich lachte über meinen tölpelhaften Bruder, mußte ihm aber zugleich verzeihen, daß er sich in sie verliebt hatte. Da ich sie nirgends hinführen konnte, aber doch den Wunsch hatte, daß sie sich amüsierte, so bat ich meinen gefälligen Alten, sie jeden Tag mit seiner Nichte in die Komödie gehen zu lassen und jeden Abend eine Mahlzeit für mich bereit zu halten. Ich kaufte ihr eine glänzende Ausrüstung an Kleidern, damit sie elegant auftreten könnte, und sie belohnte mich für diese Aufmerksamkeit mit verdoppelter Zärtlichkeit.

Als ich ihr am nächsten Tage meinen zweiten Besuch machte, kam sie gerade aus dem Theater, als ich bei ihr eintraf; sie sagte mir, die Vorstellung habe sie sehr interessiert, obgleich sie kein Wort von dem Gesprochenen verstanden habe. Am Tage darauf überraschte sie mich sehr durch die Mitteilung, daß mein Bruder sich zu ihr in die Loge gesetzt und so viele unverschämte Bemerkungen gemacht habe, daß sie ihn würde geohrfeigt haben, wenn sie sich nicht erinnert hätte, daß sie nicht in Venedig sei.

»Ich glaube,« fügte sie hinzu, »der Bursche ist mir nachgegangen, und ich fürchte, von ihm beunruhigt zu werden.«

»Sei nur ruhig; ich verspreche dir, für Ordnung zu sorgen.«

Als ich in meinen Gasthof zurückgekehrt war, ging ich sofort in das Zimmer des Abbate und sah vor Passanos Bett einen Mann, der Charpie und chirurgische Instrumente zusammenpackte.

»Was heißt das? Sind Sie krank?«

»Ich habe mir eine häßliche Krankheit geholt, die mich lehren wird, in Zukunft vernünftig zu sein.«

»Mit sechzig Jahren ist das ein bißchen spät.«

»Besser mit sechzig Jahren als noch später.«

»Sie sind ein alter Narr! Sie stinken ja nach Quecksilber.«

»Ich werde mein Zimmer nicht verlassen.«

»Das wird einen sehr schlechten Eindruck auf die Marquise machen, die Sie für den allergrößten Adepten hält, und in deren Augen Sie daher über alle Schwächen erhaben sein müssen.«

»Ich pfeife auf die Marquise! Lassen Sie mich in Ruhe!«

In solchem Tone zu mir zu sprechen, hatte der Kerl sich bis dahin niemals erlaubt. Ich glaubte meine Wut verbergen zu müssen und trat zu meinem Bruder heran, der in einer Ecke saß.

»Was wolltest du gestern im Theater von Marcolina?«

»Ich habe sie an ihre Pflicht erinnert und ihr gesagt, daß ich nicht der Mann sei, den gefälligen Liebhaber zu spielen.«

»Du hast sie beschimpft und auch mich, du elender Dummkopf, der du alles dem reizenden Mädchen verdankst, denn ohne sie hätte ich dich nicht einmal angesehen. Und nach alledem wagst du es noch, auf sie einzudringen und beleidigende Bemerkungen zu machen?«

»Ich habe mich ihretwegen zugrunde gerichtet, und ich kann nicht mehr nach Venedig zurückkehren. Ohne sie kann ich nicht leben, und du nimmst sie mir weg, raubst sie mir! Welches Recht hast du, dich ihrer zu bemächtigen?«

»Das Recht der Liebe, Vieh, das Recht des Glückes und das Recht des Stärkeren. Woher kommt es, daß sie sich bei mir glücklich fühlt und daß sie von mir gar nicht wieder würde wegwollen?«

»Weil du sie durch dein glänzendes Auftreten geblendet hast.«

»Und weil sie bei dir nur Elend und Hunger fand.«

»Ja, und später wirst du sie verlassen, wie du es mit so vielen anderen gemacht hast; ich aber würde sie geheiratet haben.«

»Geheiratet, du Renegat! Du bist doch Priester! Ich persönlich denke gar nicht daran, sie fortzuschicken; sollte ich aber doch jemals mich von ihr trennen, so wird sie reich sein.«

»Nun, tu was du willst, aber ich habe sicherlich das Recht, überall wo ich sie finde, mit ihr zu sprechen.«

»Ich hatte es dir verboten, und verlaß dich darauf, du hast zum letzten Male mit ihr gesprochen! Du wirst sehen, daß ich Wort halte.«

Mit diesen Worten ging ich hinaus, stieg in einen Fiaker und fuhr zu einem Advokaten, um ihn zu fragen, ob ich einen fremden Abbé, der mir Geld schuldig sei, verhaften lassen könne, obwohl ich keine Beweisstücke besäße, aus denen mein Anspruch hervorginge.

»Wenn er ein Fremder ist, so können Sie es tun; jedoch müssen Sie Kaution stellen. Sie lassen ihm verbieten, den Gasthof zu verlassen, worin er sich befindet, und Sie können ihn zwingen, Sie zu bezahlen, es wäre denn, daß er nachweise, Ihnen nichts schuldig zu sein. Haben Sie viel von ihm zu fordern?«

»Zwölf Louis.«

»Gehen Sie mit mir zur Behörde. Sie hinterlegen zwölf Louis und sind dann im selben Augenblicke berechtigt, ihn bewachen zu lassen. Wo wohnt er?«

»In demselben Gasthof wie ich; da ich ihn nicht dort verhaften lassen will, so werde ich ihn nach Sainte-Baume schicken. Dort werde ich ihn bewachen lassen. Hier haben Sie einstweilen die zwölf Louis für die Kaution; besorgen Sie sich jetzt den Verhaftbefehl; zur Mittagstunde werden Sie mich wiedersehen.«

»Nennen Sie mir seinen Namen und den Ihrigen.«

Schnell fahre ich nach den Dreizehn Kantonen zurück, wo ich dem Abbate begegne. Er ist geschniegelt und gebügelt, und will gerade eben ausgehen.

»Komm mit,« sage ich zu ihm; »ich werde dich zu Marcolina führen; du kannst dich in meiner Gegenwart mit ihr auseinandersetzen.«

»Mit Vergnügen.«

Er steigt zu mir in den Fiaker, und ich befehle dem Kutscher, uns nach dem Gasthof von Sainte-Baume zu fahren. Als wir dort angekommen waren, befahl ich ihm, mich zu erwarten; ich wolle Marcolina holen und werde bald mit ihr zurückkommen.

Ich stieg wieder in den Fiaker und ließ mich zum Advokaten fahren. Er hatte bereits den Haftbefehl und übergab ihn einem Polizeigefreiten, der sofort nach Sainte-Baume eilte, um den Befehl auszuführen. Ich kehrte nach den Dreizehn Kantonen zurück, ließ seine Sachen in einen Koffer packen und brachte sie ihm nach seinem neuen Aufenthalt. Ich fand ihn dort in einem Zimmer nebst einem Wachtposten, der ihn nicht aus dem Auge ließ. Er sprach auf den sehr erstaunten Wirt ein, der von dem ganzen Theater nichts verstand. Zunächst erzählte ich nun mein Märchen dem Wirt; ich übergab ihm den Koffer und sagte ihm, er brauche in bezug auf die Verzehrung des Abbés nichts zu befürchten, denn er werde gut bezahlt werden. Das war alles, was er zu wissen wünschte, und mehr verlangte er nicht.

Hierauf trat ich bei meinem Bruder ein und teilte ihm mit, er solle sich bereit halten, am nächsten Morgen Marseille zu verlassen; die Reise bis nach Paris würde ich bezahlen. Wenn ihm das nicht passe, so könne er tun, was er wolle; dann aber würde ich ihn unerbittlich seinem Schicksal überlassen und binnen drei Tagen würde er aus Marseille ausgewiesen sein.

Der Feigling brach in Tränen aus und sagte mir, er werde nach Paris gehen.

»Du wirst also morgen früh nach Lyon abreisen; zuvor aber wirst du mir eine Anweisung auf zwölf Louis unterzeichnen, die bei Sicht zahlbar ist.«

»Warum?«

»Weil ich es will. Wenn du es tust, so verspreche ich dir, dir vor deiner Abreise zwölf Louis zu geben und in deiner Gegenwart deinen Wechsel zu zerreißen.«

»Ich bin gezwungen, alles zu tun, was du willst.«

»Das ist das beste, was du tun kannst.«

Als er mir den Schuldschein unterschrieben hatte, bestellte ich für ihn einen Platz in der Schnellpost; am nächsten Tage erschien ich kurz vor der Abfahrt mit meinem Advotaten vor der Behörde, ließ den Haftbefehl aufheben und mir meine zwölf Louis zurückzahlen. Diese übergab ich meinem Bruder, als er bereits im Postwagen saß. Zugleich gab ich ihm einen Empfehlungsbrief an Herrn Bono, den ich darauf aufmerksam machte, daß er ihm kein Geld geben dürfe, und daß er ihn mit derselben Post weiterschicken solle. Hierauf zerriß ich seinen Schuldschein und wünschte ihm gute Reise.

Auf diese Weise schaffte ich mir den Dummkopf vom Halse. Einen Monat darauf sah ich ihn in Paris wieder. Ich werde später erzählen, wie ich ihn nach Venedig zurückschickte.

Am Tage der Verhaftung meines Bruders speiste ich unter vier Augen mit Frau von Urfé; vor dem Essen ging ich zu Passano, um die Ursachen seiner üblen Laune zu erfahren.

»Übler Laune bin ich deshalb, weil ich überzeugt bin, Sie werden sich einer Summe von zwanzig- oder dreißigtausend Talern in Diamanten und Gold bemächtigen, die die Marquise für mich bestimmt hatte.«

»Das kann wohl sein; aber ob ich mich dieser Summe bemächtigen werde oder nicht, das können Sie nicht wissen. Aber so viel kann ich Ihnen sagen: ich werde unter allen Umständen zu verhindern wissen, daß die Marquise Ihnen das Gold oder die Diamanten gibt. Wenn Sie glauben, Ansprüche darauf erheben zu können, so beschweren Sie sich doch bei der Marquise; ich werde Sie nicht daran verhindern.«

»Ich soll mir also gefallen lassen, bei Ihren Betrügereien als Helfershelfer zu dienen, ohne daß es mir irgend welchen Nutzen bringt! Das sollen Sie nicht behaupten können! Ich verlange tausend Louis.«

»Suchen Sie einen, der sie Ihnen gibt!«

Damit drehte ich ihm den Rücken zu und ging zur Marquise; ich sagte ihr, das Essen sei angerichtet; wir würden jedoch allein speisen, weil zwingende Gründe mich genötigt hätten, den Abbate fortzuschicken.

»Er war ein Dummkopf. Aber Querilint?«

»Nach Tisch wird Paralis uns alles sagen, was diesen betrifft. Ich hege starken Verdacht, den wir aufklären müssen.«

»Ich auch. Der Mann kommt mir verändert vor. Wo ist er?«

»Er liegt zu Bett und hat eine Krankheit, die ich Ihnen nicht zu nennen wage.«

»Der Fall ist recht sonderbar. Es ist ein Werk der Schwarzen, wie es vielleicht niemals früher vorgekommen ist.«

»Soviel ich weiß, niemals; aber lassen Sie uns speisen; wir werden heute nach der Weihung des Zinns viel zu arbeiten haben.«

»Um so besser. Wir müssen Dromasis einen Sühnekult weihen; denn denken Sie sich, wie entsetzlich: in vier Tagen sollte er mich regenerieren, und so würde er die Handlung in diesem abscheulichen Zustande vorgenommen haben!«

»Lassen Sie uns essen, sage ich Ihnen!«

»Ich fürchte, die Stunde des Jupiter wird uns überraschen.«

»Fürchten Sie nichts; ich sorge für alles.«

Nachdem wir den Jupiterkult abgehalten hatten, verschob ich den Kultus des Dromasis auf einen andern Tag, um eine Menge kabbalistische Berechnungen anzustellen, die die Marquise in Buchstaben übertrug. Das Orakel sagte: sieben Salamander hätten den wahren Querilint nach der Milchstraße gebracht; der Querilint, der im Nebenzimmer im Bett läge, wäre der schwarze Saint-Germain, den eine Gnomide in jenen ekelhaften Zustand versetzt hätte, um ihn zum Mörder der Semiramis zu machen, die vor der Entbindung an derselben Krankheit gestorben sein würde. Das Orakel sagte ferner: Semiramis solle dem Paraliseo Galtinardo – das war ich – die ganze Sorge überlassen, den schwarzen Saint-Germain beiseite zu schaffen. Am glücklichen Erfolg der Regeneration dürfe sie nicht zweifeln, denn in der siebenten Nacht eines Mondkultus werde mir von dem wahren Querilint selber das Verbum von der Milchstraße her geschickt werden. Das letzte Orakel zeigte uns an, daß ich zwei Tage nach der Beendigung der Mondkulte Semiramis inokulieren müsse, nachdem eine reizende Undine uns im Bade gereinigt hätte. Nachdem ich mich auf diese Weise verpflichtet hatte, meine gute Semiramis zu regenerieren, traf ich meine Vorsichtsmaßregeln, um keine traurige Figur zu spielen. Die Marquise war schön, aber alt, und es konnte mir zustoßen, daß ich nicht imstande war, das Werk zu vollenden. Ich war achtunddreißig Jahre alt und begann zu bemerken, daß ein solches Unglück nicht ausgeschlossen war. Die schöne Undine, die ich vom Monde erhalten sollte, war meine Marcolina, die während des Badens durch den Anblick ihrer schönen Formen und durch ihre Berührungen mir die nötige Zeugungskraft verschaffen sollte. Ich kannte bereits ihre Macht und konnte daher nicht an dem Erfolge zweifeln. Der Leser wird sehen, wie ich es anfing, um sie vom Himmel herunterkommen zu lassen.

Ein Briefchen von Frau Audibert lud mich ein, bei ihr vorzusprechen. Ich ging zu ihr, bevor ich Marcolina besuchte. Sobald sie mich erblickte, kam sie mir freudestrahlend entgegen und sagte mir, der Vater meiner Nichte habe von dem Vater des Genuesen einen Brief erhalten. Er erbitte für den einzigen Sohn die Hand seiner Tochter, die jener bei Herrn und Frau Petri kennen gelernt und die ihm durch ihren Oheim vorgestellt worden sei, nämlich den Herrn Chevalier de Seingalt, der sie nach Marseille zurückbegleitet habe.

»Der wackere Mann«, sagte Frau Audibert, »glaubt Ihnen zum größten Dank verpflichtet zu sein; er betet seine Tochter an und weiß, daß Sie wie ein Vater auf das zärtlichste für sie gesorgt haben. Seine Tochter hat von Ihnen die interessanteste Schilderung entworfen, und er wünscht sehr lebhaft, daß ihm die Ehre zuteil werde, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sagen Sie mir, wann Sie bei mir zu Abend speisen können; der alte Herr wird da sein, seine Tochter jedoch nicht.«

»Ich bin über ihre Worte hocherfreut; denn der Gatte meiner teuren Nichte wird seine Frau nur um so höher achten, wenn er hier findet, daß ich der Freund ihres Vaters bin. Am Abendessen kann ich jedoch nicht teilnehmen. Bestimmen Sie selber einen Tag, ich werde um sechs Uhr kommen und bis acht bleiben; auf diese Weise wird unsere Bekanntschaft vor der Ankunft des künftigen Schwiegersohnes gemacht sein.«

Da Frau Audibert die Wahl des Tages mir überließ, so setzte ich die Zusammenkunft auf den übernächsten Tag fest; hierauf ging ich zu meiner schönen Venetianerin. Ich erzählte ihr alle diese Neuigkeiten und sagte ihr, auf welche Weise ich mir in den nächsten Tagen den Abbate vom Halse schaffen wollte.

Zwei Tage darauf gab mir die Marquise im Augenblick, wo wir zu Tisch gehen wollten, einen Brief Passanos, der in schlechtem Französisch geschrieben, trotzdem aber leicht verständlich war. Er hatte acht Seiten vollgeschmiert, um ihr zu sagen, daß ich sie betrüge. Um sie von dieser Wahrheit zu überzeugen, teilte er ihr die ganze Geschichte mit, ohne einen einzigen Umstand auszulassen, der zu meinen Ungunsten sprach. Außerdem schrieb er ihr, ich sei in Marseille mit zwei Mädchen angekommen; er wisse zwar nicht, wo ich diese versteckt halte, aber sicherlich bringe ich mit ihnen alle Nächte zu.

Nachdem ich den Brief mit der größten Ruhe gelesen hatte, fragte ich sie, ob sie die Geduld besessen habe, den Brief von A bis Z zu lesen. Sie antwortete mir, sie habe ihn überflogen, aber nichts davon verstanden, denn dieser Schwarze schreibe ja gotisch; übrigens liege ihr nichts daran, ihn zu verstehen, denn er könne ihr nur Lügen geschrieben haben, um sie in einem Augenblick zu verlocken, wo sie es am allernötigsten habe, sich zu keinem Irrtum verleiten zu lassen. Diese Weisheit gefiel mir außerordentlich, denn die Marquise durfte durchaus keinen Verdacht auf die Undine haben, deren Anblick und Berührungen für mich unerläßlich waren, um das große Werk zu vollbringen, das mir bevorstand.

Nachdem wir gespeist hatten, veranlaßte ich alle Kult- und Orakelsprüche, deren ich bedurfte, um mein armes Opfer in ihrem Glauben zu bestärken. Hierauf ging ich zu einem Bankier und nahm eine Anweisung von hundert Louis auf Lyon an die Ordre des Herrn Bono. Ich schickte ihm diese Anweisung mit dem Auftrag, den Betrag an Passano auszuzahlen, wenn dieser einen eigenhändig von mir geschriebenen Brief vorzeigen würde; dies müßte jedoch an dem Tage geschehen, der in dem Briefe vermerkt sei, und nicht später.

Nachdem ich dies erledigt hatte, schrieb ich den Brief, den Passano überbringen sollte. Er lautete folgendermaßen: »Herr Bono, zahlen Sie bei Sicht an Herrn Passano, aber nur an ihn selber, nicht an seine Ordre, die Summe von hundert Louisd’or, wenn diese Anweisung Ihnen im Laufe des dreißigsten April 1763 vorgezeigt wird; nach diesem Tage wird mein Auftrag hinfällig.«

Mit diesem Briefe in der Hand ging ich in das Zimmer des Verräters, dem eine Stunde vorher die eine Leistenseite aufgeschnitten worden war.

»Sie sind ein niederträchtiger Verräter,« sagte ich zu ihm; »aber Frau von Urfé, die Ihren ekelhaften Zustand kennt, hat Ihren Brief nicht lesen wollen. Ich aber habe ihn gelesen und biete Ihnen nun folgende Belohnung: Sie haben zu wählen; auf Gerede lasse ich mich nicht ein, denn ich habe es eilig. Entweder entschließen Sie sich, unverzüglich sich ins Hospital bringen zu lassen, denn wir wollen Pestkranke von Ihrer Sorte hier nicht haben; oder fahren Sie in einer Stunde nach Lyon ab und reisen Sie, ohne sich unterwegs aufzuhalten, denn ich bewillige Ihnen nur sechzig Stunden, die übrigens mehr als genug sind, um vierzig Poststationen zurückzulegen. Im Augenblick, wo Sie in Lyon ankommen, bringen Sie diesen Brief Herrn Bono; er wird Ihnen hundert Louis übergeben, die ich Ihnen schenke. Hierauf können Sie machen, was Sie wollen; denn Sie sind nicht mehr in meinem Dienste. Ich schenke Ihnen den Wagen, den Sie für mich in Antibes gekauft haben, und gebe Ihnen fünfundzwanzig Louis für Ihre Reise. Das ist alles. Wählen Sie. Ich mache Sie jedoch auf eines aufmerksam: wenn Sie sich für das Krankenhaus entscheiden, werde ich Ihnen nur ein Monatsgehalt auszahlen; denn mit diesem Augenblick entlasse ich Sie aus meinen Diensten.«

Nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, sagte er, er wolle nach Lyon gehen, obgleich ihm dies sein Leben kosten könne, denn er sei sehr krank.

Ich sagte zu ihm: »Du mußt die Strafe für deine Verräterei erleiden, und wenn du stirbst, so wird dies ein Vorteil für deine Familie sein, denn sie wird erben, was ich dir schenke, allerdings nicht, was ich dir geschenkt haben würde, wenn du ein treuer Diener gewesen wärst.«

Das »Du« schien Eindruck auf ihn zu machen, denn sonst hatte ich ihn immer »Sie« genannt. Ich verließ ihn und suchte Clairmont auf, dem ich befahl, Passanos Koffer zu packen. Dann sagte ich dem Wirt, daß der Mann abreisen werde, und bat ihn, sofort Postpferde holen zu lassen.

Hierauf übergab ich Clairmont meinen Brief an Bono nebst fünfundzwanzig Louis und befahl ihm, beides dem Passano einzuhändigen, sobald er im Wagen säße und zur Abfahrt bereit wäre.

So war denn diese große Angelegenheit erledigt und mit Hilfe des starken Hebels Gold, das ich nötigenfalls zu verschwenden wußte, zum guten Ende geführt worden, und ich konnte meiner Liebe nachgehen. Ich mußte Marcolina, in die ich mich mit jedem Tag mehr verliebte, für ihre Rolle abrichten. Sie wiederholte mir unaufhörlich: um sich vollständig glücklich zu fühlen, brauche sie weiter nichts als einige Kenntnisse der französischen Sprache und einen Schimmer von Hoffnung, daß ich sie vielleicht mit mir nach England nähme.

Ich hatte ihr niemals Hoffnung gemacht, daß meine Liebe so weit gehen werde; trotzdem empfand ich eine tiefe Traurigkeit, wenn ich daran dachte, daß ich ein Wesen verlassen mußte, das so ganz und gar von Wollust durchdrungen war, das von der Natur dazu bestimmt zu sein schien, selber alle Wonnen des Lebens zu genießen und sie einem Manne von meiner Sinnesart tausendmal süßer zu machen. Sie war hocherfreut, daß ich mich meiner beiden abscheulichen Begleiter entledigt hatte, und beschwor mich, ich möchte doch manchmal mit ihr ms Theater gehen; »denn,« sagte sie mir, »alle Leute erkundigen sich, wer ich sei, und die Nichte meines Alten zankt fortwährend mit mir darüber, daß ich ihr nicht erlauben will, zu antworten.«

Ich versprach ihr, im Laufe der nächsten Woche ihr dieses Vergnügen zu bereiten, und fügte hinzu: für den Augenblick sei ich ganz und gar von einer Angelegenheit in Anspruch genommen. Diese lasse mir gar keine Ruhe, und um sie nach Wunsch durchzuführen, würde ich ihrer Beihilfe bedürfen.

»Ich werde tun, was du willst, mein lieber Freund.«

»Gut, so höre: ich werde dir einen sehr eleganten leichten Jockeyanzug machen lassen. In dieser Verkleidung wirst du zu einer Stunde, die ich dir angeben werde, vor die Marquise treten, mit der ich zusammenwohne, und du wirst ihr einen Brief übergeben. Wirst du den Mut haben, dies zu tun?«

»Ganz gewiß! Wirst du dabei sein?«

»Ja. Sie wird mit dir sprechen, aber du darfst nicht antworten, da du für stumm gelten sollst. In dem Briefe wird stehen, daß du stumm bist, und zugleich, daß du dich erbietest, sie in dem Bade zu bedienen, das ich mit ihr zusammen nehmen muß. Sie wird dein Anerbieten annehmen, und sobald sie es dir befiehlt, wirst du sie völlig entkleiden. Wenn du mit ihr fertig bist, entkleidest du dich ebenfalls; hierauf reibst du die Marquise von den Fußspitzen bis zum Gürtel, aber nicht höher. Während du sie recht zart reibst, werde ich mich entkleiden und hierauf die Marquise eng umschlingen. Du wirst uns dabei zusehen, indem du dich so stellst, daß ich alle Teile deines hübschen Leibes gut sehen kann.

»Dies ist aber noch nicht alles, meine entzückende Freundin: wenn ich mich von ihr getrennt habe, wirst du mit deinen zarten Händen die Körperteile waschen, die der Liebe dienen; hierauf wirst du sie mit einem feinem Battisttuch abtrocknen, das zu diesem Zweck bereit liegen wird. Dann verrichtest du an mir denselben Dienst, indem du versuchst, mich wieder zu beleben. Ich werde dann die Marquise abermals umarmen. Zum Schluß wirst du dieselben Abwaschungen vornehmen, und wenn du damit fertig bist, wirst du die Marquise küssen. Hierauf wirst du auch mich umarmen und mit deinen venetianischen Küssen das Werkzeug bedecken, womit ich das Opfer vollbracht habe. Wenn ich wieder ins Leben zurückgekehrt bin, werde ich die Marquise zum dritten Male umarmen, und während dieser letzte Kampf stattfindet, wirst du uns so lebhaft wie möglich liebkosen, bis der Akt vollständig ist. Endlich wirst du uns zum dritten Male abwaschen. Hierauf kleidest du dich an, nimmst, was sie dir geben wird, und kehrst in diese Wohnung zurück, wo ich eine Stunde später wieder bei dir sein werde.«

»Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde ganz genau alles tun, was du mir befiehlst; aber du begreifst, welche Überwindung mir das kosten wird.«

»Nicht mehr als mir: denn ich würde bei dieser alten Frau unvermögend sein, wenn du mir nicht die nötige Glut mitteiltest.«

»Ist sie sehr alt?«

»Fast siebzig Jahre.«

»Oh, mein armer Freund, wie bedaure ich dich! Aber nach dieser harten Fron wirst du doch zum Abendessen hierher kommen und hier schlafen?«

»Ganz gewiß.«

»Nun, dann geht es doch wenigstens.«

Am verabredeten Tage traf ich bei Frau Audibert den Vater meiner seligen Nichte. Ich erzählte ihm in einer sehr freundschaftlichen Unterhaltung alles, was seine Tochter betraf, außer den näheren Umständen unseres Liebesverhältnisses, denn solche Dinge erzählt man natürlich keinem Vater. Der brave Mann wußte nicht, wie er mir seinen Dank bezeigen sollte; er umarmte mich mehrere Male, nannte mich seinen Wohltäter und sagte, ich hätte für seine Tochter mehr getan, als er selber hätte tun können. Hierin hatte er in gewisser Hinsicht recht. Er sagte mir: »Ich habe von meinem Geschäftsfreund einen zweiten Brief erhalten. Zugleich schreibt mir auch der Sohn auf die zärtlichste und ehrfurchtsvollste Weise. Er verlangt von mir keine Mitgift, und das ist zu unserer Zeit gewiß etwas Seltenes; aber ich werde ihr hundertfünfzigtausend Franken mitgeben und werde außerdem die Hochzeit rüsten, denn diese Heirat ist sehr ehrenvoll und ist besonders nach dem Davonlaufen meines armen, wilden Mädchens als ein großes Glück anzusehen. Ganz Marseille kennt den Vater meines künftigen Schwiegersohnes, und morgen werde ich meiner Frau alles sagen; ich bin überzeugt, daß sie im Interesse eines glücklichen Ausganges volle Verzeihung gewähren wird.«

Ich mußte ihm versprechen, zur Hochzeit zu kommen. Er lud dazu auch Frau Audibert ein, die mich als großen Spieler kannte und daher erstaunt war, daß ich nicht zu ihren Abenden kam, da bei ihr stets eine große Partie stattfand. Aber ich war damals in Marseille, um zu schaffen, nicht um zu zerstören. Jedes zu seiner Zeit!

Ich ließ Marcolinen eine bis zur Hüfte reichende Jacke von grünem Samt machen, dazu Kniehosen von demselben Stoff mit Strumpfbändern von silberner Tresse, grünseidene Strümpfe und Schuhe aus Maroquinleder von der gleichen Farbe. Ein spanisches Haarnetz aus grüner Seide mit silberner Troddel nahm ihre schönen schwarzen Haare auf. In dieser Kleidung sah das junge Mädchen mit seinem schlanken anmutigen Wuchs, mit seinen runden, zur Liebe geschaffenen Formen so wundervoll aus, daß ihr alle Leute nachgelaufen sein würden, wenn sie sich in den Straßen von Marseille hätte sehen lassen; denn trotz der Männerkleidung konnte es keinem Menschen entgehen, daß sie ein Mädchen war. Ich führte sie in ihrer gewöhnlichen Kleidung in meine Wohnung, um ihr zu zeigen, wo sie sich nach verrichteter Sache verstecken sollte.

Nachdem am Samstag alle Kultushandlungen zu Ende gebracht waren, setzte das Orakel den nächsten Dienstag für die Regeneration meiner Semiramis fest, und zwar sollte sie in den Stunden der Sonne, der Venus und des Merkur stattfinden, die in dem planetarischen System der Magier, wie in der Phantasie der ptolemäischen Lehre aufeinanderfolgen. Die Stunden entsprachen an jenem Tage der neunten, zehnten und elften Morgenstunde; denn da es ein Dienstag war, so mußte die erste Stunde dem Mars gehören. Da die Stunden zu Anfang des Monats Mai fünfundsechzig Minuten lang sind, so wird mein Leser, wenn er von Magie auch nur eine Ahnung hat, wissen, daß ich die große Operation an Frau von Urfé von zweieinhalb bis fünfzehn Minuten vor sechs Uhr vollziehen mußte. Ich hatte mir Zeit genommen, weil ich voraussah, daß ich derselben bedürfen würde.

Am Montag hatte ich mit Einbruch der Nacht in der Stunde, die dem Monde geweiht ist, Frau von Urfé an das Meeresufer geführt. Clairmont trug die fünfzig Pfund schwere Kiste mit den Opfergaben.

Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß wir von keinem Menschen gesehen würden, sagte ich zu Frau von Urfé, der Augenblick sei da. Ich befahl Clairmont, die Kiste zu unseren Füßen niederzustellen und dann nach unserem Wagen zurückzukehren, um uns dort zu erwarten. Nachdem wir allein geblieben waren, richteten wir ein feierliches Gebet an Selenis. Dann warfen wir die Kiste ins Meer, zur großen Befriedigung der Marquise, aber zu meiner eigenen noch größeren, wie der Leser begreifen wird: denn die ins Meer geworfene Kiste enthielt nur fünfzig Pfund Blei. Die echte Kiste, die, worin der Schatz war, befand sich, vor jedem Blick verborgen, in meinem Zimmer.

Ich begleitete die Marquise nach den Dreizehn Kantonen zurück und ließ sie dort allein, nachdem ich ihr gesagt hatte, ich würde erst dann wieder in den Gasthof kommen, nachdem ich an demselben Ort und zu derselben Stunde ruhig meine sieben Kulte gefeiert und eine Beschwörung an den Mond vorgenommen hätte.

Ich log nicht: denn ich ging zu Marcolina. Während sie sich als Jockey kleidete, schrieb ich mit einem Alaunkristall in verschlungenen großen Buchstaben auf weißes Papier folgende Worte: Ich bin stumm, aber nicht taub; ich komme aus dem Rhône, um Euch zu baden. Die Stunde des Oromasis hat begonnen.

»Dieses Briefchen«, sagte ich zu Marcolina, »wirst du der Marquise übergeben, sobald du dich ihren Blicken zeigst.«

Nach dem Abendessen gingen wir zu Fuß aus und kamen in unseren Gasthof, ohne von einem Menschen gesehen worden zu sein. Ich versteckte Marcolina in einem großen Schrank; hierauf zog ich meinen Schlafrock an und ging zur Marquise, um ihr anzukündigen, daß Selenis die Regeneration auf den nächsten Tag vor drei Uhr angesetzt habe; um fünfeinhalb Uhr müsse sie beendet sein, damit wir nicht in die Stunde des Mondes hineingerieten, die auf die des Merkur folgte. Diese dürfe nicht in die Regeneration hineingemischt werden, weil diese dadurch zunichte gemacht oder jedenfalls beeinträchtigt würde.

»Sie werden, gnädige Frau, veranlassen, daß vor dem Mittagessen die Badewanne hier neben Ihrem Bett bereit steht, und Sie müssen sich vergewissern, daß Brongnole nicht vor der Nacht Ihr Zimmer betritt.«

»Ich werde ihr Erlaubnis geben, einen Spaziergang zu machen. Aber Selenis hatte uns doch eine Undine versprochen?«

»Richtig! Ich habe aber noch keine gesehen.«

»Befragen Sie doch das Orakel!«

»Gern!«

Sie stellte selber die Frage, indem sie zugleich abermals zum Geiste Paralis betete, die Operation möchte nicht aufgeschoben werden, wenn auch die Undine nicht erschiene; denn sie sei bereit, allein zu baden.

»Die Befehle des Oromasis sind unwandelbar,« antwortete das Orakel, »und ihr habt gefehlt, indem ihr dem Zweifel Raum gegeben habt.«

Sofort stand die Marquise auf und verrichtete einen Sühnekultus. Hierauf befragte sie wieder das Orakel und erhielt die Antwort: Oromasis ist befriedigt.

Ich konnte mit der alten Frau kein Mitleid haben, denn sie war mir zu lächerlich. Sie umarmte mich und sagte zu mir mit ganz besonderer Feierlichkeit: »Morgen, mein lieber Galtinardo, werden Sie mein Gatte und mein Vater sein! Fordern Sie die Gelehrten auf, dieses Rätsel zu erklären!«

Nachdem ich in mein Zimmer zurückgekehrt war und meine Tür sorgfältig verschlossen hatte, beeilte ich mich, die Undine aus ihrem Gefängnis zu erlösen. Sie entkleidete sich und legte sich zu Bett, und da sie wohl begriff, daß ich meine Kräfte schonen müsse, so drehte sie mir den Rücken zu, und wir verbrachten in weiser Enthaltsamkeit die Nacht, ohne uns auch nur einen Kuß zu geben; denn ein einziger Funke hätte eine ganze Feuersbrunst hervorrufen können.

Am andern Morgen ließ ich sie frühstücken, bevor ich Clairmont hineinrief, und schloß sie dann wieder in ihr Versteck ein. Hierauf hörte ich ihr noch einmal ihre Lektion ab und ermahnte sie zu Pünktlichkeit, Ruhe, Heiterkeit und Schweigen.

»Du wirst mit mir zufrieden, sein, mein liebes Herz; sei ruhig!«

Nachdem ich das Mittagessen auf Punkt zwölf Uhr bestellt hatte, trat ich bei Semiramis ein. Sie war nicht in ihrem Zimmer, aber die Badewanne stand an ihrem Platz, und das Bett war hergerichtet wie ein Altar der Cypris.

Einige Minuten darauf kam die Marquise aus einem Nebenzimmer: ihr Gesicht war bemalt wie ein Miniaturbild und strahlte vor Freude. Sie trug ein prachtvolles Spitzenröckchen; ein Mäntelchen von Blonden bedeckte ihren Busen, der vierzig Jahre früher einer der schönsten von ganz Frankreich gewesen war. Ein altes, aber sehr reiches Kleid, ein Paar Ohrringe mit herrlichen Smaragden und ein Halsband von sieben Aquamarinen vom schönsten Wasser mit dem herrlichsten Smaragd, den man sich denken kann, umgeben von zwanzig Brillanten von je anderthalb Karat, vervollständigten ihren Schmuck. An der Hand trug sie den Karfunkel, den ich bereits kannte und den sie auf eine Million schätzte, während er in Wirklichkeit nur eine glänzend gelungene Nachahmung war.

Als ich Semiramis so zum Opfer geschmückt sah, glaubte ich ihr meine Ehrfurcht bezeigen zu müssen. Ich ging ihr daher entgegen und beugte das Knie, um ihr die Hand zu küssen; sie ließ dies jedoch nicht zu, sondern öffnete ihre Arme und küßte mich.

Nachdem sie ihrer Kammerfrau Brougnole gesagt hatte, sie gäbe ihr Urlaub bis sechs Uhr, unterhielten wir uns von unseren Mysterien, bis das Essen aufgetragen wurde. Nur Clairmont durfte uns bei Tisch sehen, und Semiramis aß an diesem Tage nur Fisch. Um halb zwei Uhr sagte ich zu Clairmont, ich sei für niemanden zu Hause, da ich allein arbeiten wolle; zugleich gab ich ihm einen Louis und sagte ihm, er könne sich bis zum Abend amüsieren.

Die Marquise begann unruhig zu werden, und auch ich stellte mich, wie wenn ich etwas besorgt würde. Ich sah nach meinen Uhren, berechnete die Minuten der planetarischen Stunden und sagte von Zeit zu Zeit: »Wir sind noch in der Stunde des Mars; die Stunde der Sonne hat noch nicht begonnen.«

Endlich schlug es halb drei auf der Stutzuhr, und zwei Minuten später sahen wir die schöne Undine eintreten. Lächelnden Gesichtes ging sie mit langsamen Schritten auf Semiramis zu, ließ sich vor ihr auf ein Knie nieder und reichte ihr das Papier. Da sie sah, daß ich nicht aufstand, blieb auch die Marquise sitzen; aber sie hob mit freundlicher Anmut die Wassernixe auf und nahm ihr das Blatt ab, das sie zu ihrer großen Überraschung völlig weiß fand.

Schnell reichte ich ihr eine Feder, damit sie sich an das Orakel wenden könnte. Sie stellte die Frage, was dieser Bote zu bedeuten habe. Ich nahm ihr die Feder ab und baute die Zahlenpyramide ihrer Frage. Sie zog die Antwort heraus und fand folgende Worte: »Was im Wasser geschrieben ist, kann nur im Wasser gelesen werden.«

»Ich verstehe«, rief sie aus. Sie ging zur Badewanne, tauchte das Blatt hinein und las in Schriftzügen, die noch weißer waren als das Papier, folgende Worte: Ich bin stumm, aber nicht taub; ich komme aus dem Rhône, um Euch zu baden. Die Stunde des Oromasis hat begonnen.

»So bade mich also, göttlicher Genius!« rief Semiramis, indem sie das Blatt Papier auf den Tisch legte und sich auf das Bett setzte. Meiner Weisung getreu entkleidete Marcolina die Marquise und setzte deren Füße in die Badewanne; dann warf sie, gewandt wie ein Sylphide, im Handumdrehen ihren hübschen Anzug ab und stand bis zu den Knien im Badewasser. Welchen Gegensatz bildeten diese beiden Leiber! Aber der Anblick des einen gab mir das Leben, das ich an dem anderen erlöschen sollte.

Das entzückende Geschöpf unverwandt betrachtend, entkleidete ich mich. Als ich aber nur noch das Hemd auszuziehen hatte, sagte ich zu ihr: »Oh, reizender Genius, trocknet Semiramis die Füße ab und seid der göttliche Zeuge meiner Vereinigung mit ihr, die ich zum Ruhme des unsterblichen Oromasis, des Königs der Salamander, vollziehe!«

Kaum hatte ich diese Bitte ausgesprochen, so beeilte sich die Undine, die stumm, aber nicht taub war, meinen Wunsch zu erfüllen, und ich vollzog meine erste Vereinigung mit Semiramis, indem ich die Schönheiten Marcolinas bewunderte, die ich nie zuvor so deutlich gesehen hatte.

Semiramis war schön gewesen, aber sie war damals wie ich jetzt bin, und ohne die Undine wäre die Operation mißlungen. Da jedoch die Semiramis zärtlich und sehr sauber war, und nichts von jenem Ekelhaften an sich hatte, das oft dem Alter anhaftet, so mißfiel sie mir nicht, und die Operation wurde vollständig vollzogen. Als die Milch über den Altar ausgegossen war, sagte ich zu ihr: »Jetzt müssen wir die Stunde der Venus abwarten.«

Die Undine vollzieht die Waschungen, umarmt die Braut und erweist mir mit verliebter Glut denselben Dienst.

Semiramis war entzückt von ihrem Glück; ganz hingerissen von den Reizen der Undine forderte sie mich auf, sie zu bewundern, und ich fand, daß kein sterbliches Weib ihr gleiche. Von diesen wollüstigen Vorstellungen erregt, fühlt Semiramis ihre Zärtlichkeit wieder erwachen. Die Stunde der Venus beginnt, und von der Undine ermutigt, unternehme ich den zweiten Sturm, der der heftigste sein mußte, denn die Stunde dauerte fünfundsechzig Minuten.

Ich betrat den Kampfplatz und arbeitete eine halbe Stunde, von Schweiß triefend und Semiramis ermüdend, ohne doch fertig werden zu können. Ich schämte mich indessen, sie zu betrügen. Sanft sich in ihr Schicksal ergebend, trocknete das Opfer mir die Stirn ab; die Undine aber, die mich erschöpft sah, belebte durch ihre aufreizenden Liebkosungen, was die Berührung mit dem alten Körper ertötet hatte. Gegen das Ende der Stunde überwältigte mich die Anstrengung; ich konnte es nicht mehr aushalten und entschloß mich daher, so zu tun, wie wenn ich am Ziel wäre; so erheuchelte ich denn alle jene Zuckungen, zu denen sonst wirkliche Wollust zwingt. Ich ging als schaumbedeckter Sieger mit allen Zeichen meiner Kraft aus dem Kampf hervor und ließ Semiramis keinen Zweifel an meinem Triumph. Die Undine selber wurde davon getäuscht, als sie die zweite Abspülung an mir vornahm. Doch schon hatte die dritte Stunde begonnen, und es galt, Merkur zu befriedigen. Ein Viertel von dieser Stunde blieben wir im Bade. Die Undine entzückte Semiramis durch Liebkosungen, um die der Herzog von Orleans, der Regent von Frankreich, sie beneidet haben würde. Die gute Marquise glaubte, bei den Flußgöttinnen sei dies so Sitte, und ließ gerne alles geschehen, was die Undine an ihr vornahm. Von Dankbarkeit erfüllt, bat Semiramis sie, auch mich mit ihren Schätzen zu beglücken, und nun entfaltete Marcolina den ganzen Reichtum der venetianischen Schule. Sie war eine vollendete Lesbierin. Bald war es ihr gelungen, mich wieder zum kräftigsten Leben zu erwecken, und Semiramis forderte mich auf, dem Merkur zu opfern. Ich ging ans Werk; leider aber drohte ich nur noch mit dem Blitz, hatte jedoch nicht mehr die Kraft, ihn zu schleudern. Ich sah, wie schmerzlich der mitfühlenden Undine der Anblick meiner vergeblichen Anstrengung war; auch bemerkte ich, daß Semiramis die Anstrengungen, die ich ihr verursachte, nicht mehr aushalten konnte und das Ende des Kampfes herbeisehnte. So faßte ich denn den unvermeidlichen Entschluß, sie abermals zu betrügen: ich verfiel in Zuckungen, die mit einer vollständigen Unbeweglichkeit endigten, wie sie wohl die natürliche Folge einer Leistung war, die nach der Meinung der Semiramis, wie sie mir später sagte, weit über die Kräfte eines gewöhnlichen Sterblichen ging.

Nachdem ich mich gestellt hatte, wie wenn ich wieder zur Besinnung käme, warf ich mich in die Badewanne, in der ich aber nur so lange blieb, um die nötige Abspülung vorzunehmen; hierauf kleidete ich mich an. Marcolina reinigte die Marquise und half ihr dann beim Anziehen. Ich überraschte Semiramis auf einer neidischen Bewunderung der reizenden Undine, die sich zum Schluß mit der ganzen anmutigen Gewandtheit und Schnelligkeit eines jungen Mädchens ankleidete. Einer glücklichen Eingebung ihres Genius folgend, nahm Semiramis ihr prachtvolles Halsband ab und hängte es der schönen Badedienerin um den Hals, die ihr einen venetianischen Kuß gab, verschwand und sich in den Schrank versteckte.

Semiramis fragte das Orakel, ob die Operation vollständig gelungen sei. Erschreckt durch diese Frage ließ ich ihr antworten, das Verbum der Sonne sei in ihrer Seele, und sie werde zu Anfang des Monats Februar mit ihrem anderen Ich niederkommen, das dem Geschlecht des Erzeugers angehören werde; damit jedoch die Einflüsse der feindlichen Geister nicht dem Erfolg schaden könnten, wäre es unbedingt notwendig, daß sie hundertundsieben Stunden ununterbrochen ruhig in ihrem Bett bliebe.

Außer sich vor Glück, fand die gute Marquise, die ich entsetzlich ermüdet hatte, diesen Befehl, daß sie sich ausruhen solle, von göttlicher Weisheit und von bester Vorbedeutung. Ich umarmte sie und sagte ihr, ich würde auf dem Lande übernachten, um den Rest der Kräuter abzuholen, die bei den von mir dem Monde dargebrachten Kulten übrig geblieben wären; aber ich versprach ihr, am nächsten Tage mit ihr zu Mittag zu speisen.

Ich schloß mich mit Marcolina in meinem Zimmer ein, und wir waren in fröhlicher Stimmung beisammen, bis die Nacht anbrach; denn bei Tage konnte sie in ihrem schönen Undinenkleide nicht mehr ausgehen. Ich zog meinen prachtvollen Hochzeitsanzug aus, und als wir endlich ausgehen konnten, ohne die Blicke der Neugierigen fürchten zu müssen, brachte ein Fiaker uns beide nebst der von mir so wohl verdienten Kiste mit den Opfergaben für die Planeten zu Marcolina.

Wir waren halbtot vor Hunger, aber das leckere Abendessen, das uns erwartete, gab uns die Sicherheit, daß wir am Leben bleiben würden. Kaum waren wir in ihrem Zimmer, so warf Marcolina schnell ihren schönen, grünen Anzug beiseite und zog ihre Mädchenkleider wieder an. »Ich fühle, lieber Freund,« sagte sie zu mir, »daß ich nicht dazu geschaffen bin, Hosen zu tragen. Da sieh das schöne Halsband, das deine Närrin mir gegeben hat!«

»Ich werde es verkaufen, schöne Undine, und dir den Erlös geben.«

»Ist es denn viel wert?«

»Mindestens tausend Zechinen. Wenn du nach Venedig zurückkehrst, wirst du mindestens fünftausend Dukaten Kurant besitzen; du kannst dir einen Gatten aussuchen, mit dem du als wohlhabende Bürgersfrau leben wirst.«

»Behalte alles, mein Freund, und nimm mich mit dir; ich brauche nichts. Ich werde dir gewiß nicht zur Last fallen; ich werde alles tun, was du willst, und werde dich lieben wie meine eigene Seele. Ich verspreche dir, niemals eifersüchtig zu sein und dich zu pflegen wie mein Kind.«

»Davon wollen wir später sprechen, schöne Marcolina; jetzt aber, da wir gut gespeist haben, laß uns zu Bett gehen, denn ich habe dich niemals meiner Huldigungen so würdig gefunden wie in diesem Augenblick.«

»Aber du mußt doch ermüdet sein.«

»Ermüdet – ja; aber nicht erschöpft; denn ich habe meinen Lebenssaft nur ein einziges Mal vergießen können; dafür danke ich der Liebe.«

»Ich glaubte, du hättest zweimal auf diesem alten Altar geopfert. Die arme Frau! Sie ist sehr liebenswürdig für ihr Alter, und ich glaube gern, daß sie vor fünfzig Jahren vielleicht die erste Schönheit Frankreichs war. Aber ach! Welch ein Wahnsinn, noch an Liebe zu denken, wenn man alt ist!«

»Du befeuertest mich, aber sie kühlte mich noch stärker ab.«

»Bedarfst du immer des Reizmittels eines jungen Mädchens, um zärtlich mit ihr zu sein?«

»Nein; denn die anderen Male kam es nicht darauf an, ihr einen Jungen zu machen.«

»Hast du dich etwa verpflichtet, sie zu schwängern? Oh, wie lächerlich! Vielleicht bildet sie sich sogar ein, empfangen zu haben?«

»Ohne allen Zweifel; diese Hoffnung macht sie glücklich.«

»Sonderbare Schwärmerei! Aber warum hast du dich verpflichtet, die Leistung dreimal zu wiederholen?«

»Ich wollte eine Herkulesarbeit vollbringen, und ich glaubte, meine Kraft würde ausreichen, wenn ich dich sähe. Ich habe mich sehr getäuscht!«

»Ich beklage dich, daß du soviel gelitten hast.«

»Du wirst mich verjüngen.«

Ich weiß nicht, ob die Vergleichung mit der Alten besonders stark auf mich wirkte, aber ich verbrachte in der Tat mit meiner schönen Venetianerin eine der köstlichsten Nächte, die ich nur mit den Liebesnächten vergleichen kann, die ich in Parma mit Henriette und auf Murano mit meiner unvergleichlichen Nonne verlebt hatte. Wir blieben vierzehn Stunden im Bett, und von diesen wurden wenigstens vier darauf verwandt, den Schimpf wieder gut zu machen, den ich der Liebe angetan hatte.

Nachdem ich Toilette gemacht und meine Schokolade getrunken hatte, sagte ich Marcollinen, sie möchte sich elegant kleiden und mich zum Theater erwarten. Ich hätte ihr kaum ein größeres Vergnügen machen können.

Frau von Urfé fand ich in ihrem Bett liegen, mit gesuchter Eleganz gekleidet und wie eine jung vermählte Frau frisiert. Auf ihren Zügen lag ein Ausdruck von Befriedigung, wie ich ihn niemals an ihr gesehen hatte.

»Ich weiß, mein vielgeliebter Galtinardo, daß ich Ihnen mein ganzes Glück verdanke«, sagte sie zu mir, indem sie mich umarmte.

»Ich bin glücklich, göttliche Semiramis, daß ich dazu beigetragen habe; doch war ich nur das Werkzeug, dessen die Geister sich bedient haben.«

Die Marquise begann nun in der vernünftigsten Weise mit mir zu sprechen; leider aber war ihr ganzes Gedankengebäude auf die verrückteste aller Torheiten gegründet.

Sie sagte zu mir: »Heiraten Sie mich; Sie bleiben Vormund meines Kindes, das zugleich Ihr Sohn ist. Auf diese Weise erhalten Sie mir mein ganzes Vermögen und werden außerdem Besitzer des Erbteils, das mir von meinem Bruder, Herrn von Pontcarré, zufallen muß. Er ist alt und kann nicht mehr lange leben. Im nächsten Februar soll ich als Mann wiedergeboren werden und in was für Hände werde ich da fallen, wenn Sie nicht für mich sorgen! Man wird mich für ein uneheliches Kind erklären und ich werde dadurch achtzigtausend Franken Rente verlieren, die Sie mir erhalten können. Vergessen Sie das ja nicht, mein lieber Galtinardo! Ich muß Ihnen sagen, daß ich mich in meiner Seele schon als Mann fühle. Ich bin in die Undine verliebt, das muß ich Ihnen gestehen, und ich möchte wissen, ob ich in vierzehn oder fünfzehn Jahren bei ihr werde schlafen können. Wenn Oromasis es will, kann er es so fügen, und ich werde dann glücklich sein. Oh, was für ein reizendes Geschöpf! Haben Sie jemals ein so schönes Weib gesehen? Wie schade, daß sie stumm ist! Sie muß einen Wassermann zum Liebhaber haben. Aber alle Wassermänner sind stumm, denn im Wasser kann man nicht sprechen. Ich bin erstaunt, daß sie nicht taub ist. Ich begreife nicht, daß Sie keine Lust verspürt haben, sie anzurühren. Ihre Haut ist unglaublich weich; Samt und Atlas sind nichts im Vergleich damit! Ihr Atem ist so lieblich. Die Undinen haben eine mimische Sprache, die man lernen kann. Wie sehr würde es mich freuen, wenn ich mich mit diesem Wesen unterhalten könnte! – – Mein lieber Galtinardo, ich bitte Sie, das Orakel zu befragen, wo ich niederkommen soll. Wenn Sie mich nicht heiraten können, so scheint es mir nötig zu sein, daß ich all mein Hab und Gut verkaufe und daß ich für mein ganzes zweites Leben sichergestellt werde; denn in meinen ersten Kinderjahren werde ich natürlich nichts wissen, und es wird Geld erforderlich sein, damit ich eine Erziehung erhalte. Man könnte alles verkaufen und eine große Summe in Renten anlegen und diese sicheren Händen übergeben, um damit allen meinen Bedürfnissen zu genügen, ohne das Kapital anzurühren.«

»Das Orakel, Semiramis, muß unser einziger Führer sein, übrigens werden Sie mein Sohn sein, und wenn Sie als Mann wiedergeboren werden, werde ich niemals dulden, daß man Sie als Bastard erklärt.«

Diese Zusicherung beruhigte die erhabene Närrin.

Ohne Zweifel wird mehr als ein Leser der Meinung sein, ich hätte als ehrenhafter Mann der Frau ihren Irrtum benehmen sollen. Aber es tut mir leid, ihnen sagen zu müssen: die Sache war unmöglich. Ja, ich gestehe, selbst wenn ich es gekonnt hätte, würde ich es nicht gewollt haben, denn indem sie wieder vernünftig geworden wäre, hätte ich sie unglücklich gemacht. Wie ihr Geist nun einmal angelegt war, bedurfte sie fortwährender eitler Hoffnungen.

Ich wollte mit Marcolina ins Theater gehen, und da ich ihr gesagt hatte, daß sie sich aufs beste herausputzen solle, so legte auch ich einen meiner schönsten Anzüge an, damit meine Erscheinung zu der ihrigen passe.

Der Zufall führte in unsere Loge die beiden Schwestern Rangoni, die Töchter des römischen Konsuls. Da ich sie von meinem ersten Aufenthalt in Marseille bereits kannte, so stellte ich ihnen die Venetianerin als meine Nichte vor, die nur italienisch spreche. Da die beiden jungen Damen die Sprache Tassos sprachen, war Marcolina hoch entzückt. Die jüngere Rangoni, an Schönheit ihrer älteren Schwester weit überlegen, wurde wenige Jahre später Fürstin Gonzaga Solferino. Der Fürst, der sie heiratete, war ein wissenschaftlich gebildeter Mann, man kann sogar sagen, ein genialer Mann. Obwohl er der Familie Gonzaga angehörte, war er doch arm; denn er war der Sohn des ebenfalls sehr armen Fürsten Leopold und einer Medini, Schwester jenes Medini, der im Jahre 1787 in London im Gefängnis starb.

Babet Rangoni war zwar nur die Tochter eines Marseiller Kaufmanns, des römischen Konsuls, aber sie verdiente, Fürstin zu werden, denn sie hatte das Auftreten und die Manieren einer solchen. Sie glänzt mit ihrem Namen Rangoni unter den Fürsten, die im alten Almanach mitverzeichnet stehen. Ihr sehr eitler Gatte ist entzückt, daß die Leser dieser Almanache seine Gemahlin für eine Angehörige des erlauchten Hauses Medini halten. Dies ist eine unschuldige Eitelkeit, die der Welt weder nutzt noch schadet. Dieselben Almanache machen aus Medini den Namen Medici, was ebenso unschuldig ist. Diese Lügen haben ihren Ursprung in dem dummen Stolz des Adels, der sich allen Ernstes einbildet, von einer höheren Natur als die übrigen Menschen zu sein, weil er im Besitz von Namen und Würden ist, die nur zu oft durch niedrige Handlungen erworben wurden. Man muß ihm das hingehen lassen, weil die Dinge dieser Welt doch nur den Wert haben, den man ihnen beimißt, und weil man doch den stolzesten Adel sofort seines Glanzes entkleiden kann, wenn man ihn so sieht, wie er ist.

Dieser Fürst Gonzaga Solferino, den ich vor achtzehn Jahren in Venedig sah, lebte von einem leidlich hinreichenden Jahrgeld, das ihm die Kaiserin Maria Theresia ausgesetzt hatte. Ich hoffe, daß der verstorbene Kaiser Joseph ihm diese Pension nicht genommen hat; denn er verdiente sie wegen seines Geistes und wegen seiner literarischen Kenntnisse.

Während der Vorstellung plauderte Marcolina fortwährend mit der reizenden jungen Babet Rangoni, die mich dringend einlud, sie in ihrem Hause einzuführen; ich hatte jedoch meine Gründe, dies nicht zu tun.

Ich dachte über ein Mittel nach, wie ich Frau von Urfé nach Lyon schicken könnte; denn ich wußte nicht mehr, was ich in Marseille mit ihr anfangen sollte, und sie brachte mich nur in Verlegenheit. Da gab sie mir am dritten Tage nach der Regeneration eine Frage, die ich an Paralis richten sollte. Sie wollte wissen, wo sie geboren werden, das heißt sterben sollte. Ich ließ das Orakel antworten, sie müsse den Undinen zweier Flüsse gleichzeitig einen Kultus darbringen und je nach dem Ausfall dieser feierlichen Handlung werde die Frage entschieden werden. Außerdem müsse ich dem Saturn einen dreimaligen Sühnedienst widmen, weil ich den falschen Querilint zu hart behandelt habe. An diesen Sühnediensten brauche Semiramis nicht teilzunehmen, dagegen müsse sie bei dem Kultus der Wassergottheiten zugegen sein.

Während ich tat, wie wenn ich darüber nachdächte, wo zwei Flüsse so nahe beieinander wären, daß wir die Vorschriften des Orakels leicht ausführen könnten, sagte Semiramis aus eigenem Antriebe zu mir, Lyon liege am Rhône und an der Saône, und es sei daher nichts leichter, als den Kultus in dieser Stadt abzuhalten. Wie man sich denken kann, stimmte ich ihr sofort zu. Hierauf befragte ich Paralis, ob noch Vorbereitungen auszuführen seien. Er antwortete, vierzehn Tage vor der Vornahme des Kultus müsse eine Flasche Meerwasser in jeden der beiden Flüsse gegossen werden. Diese Zeremonie konnte Semiramis selber in der ersten Stunde vornehmen, wo der Mond bei Tage schien.

»Ich muß also«, sagte die Marquise zu mir, »die Flaschen hier mit Meerwasser füllen; denn alle andern Häfen Frankreichs sind weiter von Lyon entfernt. Ich muß unverzüglich abreisen, sobald ich das Bett verlassen kann. Ich werde Sie in Lyon erwarten; denn da Sie hier dem Saturn den Sühnedienst darbringen müssen, so können Sie nicht mit mir reisen.«

Ich gab die Richtigkeit dieser Anschauung zu, indem ich zugleich mein Bedauern aussprach, sie allein reisen lassen zu müssen. Am nächsten Tage brachte ich ihr zwei sorgfältig versiegelte Flaschen mit Meerwasser; ich befahl ihr, diese am fünfzehnten Mai in die Flüsse auszugießen, und versprach ihr, daß ich vor Ablauf der beiden darauffolgenden Wochen bei ihr sein werde. Ihre Abreise setzten wir auf den übernächsten Tag fest, das war der elfte Mai. Ich zeichnete schriftlich die Mondstunden auf und gab ihr ihren Reiseplan.

Sobald die Marquise abgereist war, verließ ich die Dreizehn Kantone und zog zu Marcolina. Ich gab ihr vierhundertundsechzig Louis in Gold, so daß sie mit dem in Biribi gewonnenen hundertundvierzig Louis jetzt sechshundert besaß. Mit dieser Summe von vierzehntausendvierhundert Franken konnte sie der Zukunft ruhig entgegensehen.

Am Tage der Abreise der Frau von Urfé kam der Bräutigam des Fräuleins Crosin in Marseille an; Rosalie hatte ihm einen Brief für mich mitgegeben, den er mir am selben Tage überbrachte. Sie bat mich, um unserer beider Ehre willen, ich möchte selber den Überbringer dem Vater der Braut vorstellen. Rosalie hatte recht; da aber die Verlobte nicht meine Nichte war, so war die Sache doch nicht so ganz einfach. Ich empfing meinen künftigen Stellvertreter sehr freundlich, sagte ihm aber, ich wolle ihn zunächst der Frau Audibert vorstellen und dann mit ihm zu seinem zukünftigen Schwiegervater gehen.

Der junge Genuese war in den Dreizehn Kantonen abgestiegen, weil er glaubte, daß ich dort wohnte. Er war entzückt, sich der Erfüllung seiner sehnlichsten Wünsche nahe zu sehen, und seine Freude wurde erhöht durch den Empfang, den Frau Audibert ihm bereitete.

Nachdem wir alle drei in meinen Wagen gestiegen waren, begaben wir uns zu dem zukünftigen Schwiegervater, der seinen Eidam mit Freuden aufnahm und ihn dann sofort seiner Frau vorstellte, die er bereits zu seinen Gunsten gestimmt hatte.

Ich war angenehm überrascht, als der wackere Kaufmann, der ein vernünftiger Mann und von Frau Audibert bereits vorbereitet war, mich seiner lieben Frau als seinen lieben Vetter vorstellte, den Herrn Chevalier de Seingalt, der sich ihrer Tochter auf der Reise so freundlich angenommen habe. Die tugendhafte Frau und gute Mutter war ebenso vernünftig wie ihr Gemahl: sie streckte mir ihre Hand entgegen, und damit waren wir über alle Verlegenheiten hinweg.

Mein neuer Vetter schickte sofort einen Boten zu seiner Schwester und ließ ihr mitteilen, er werde am nächsten Tage mit seiner Frau, seinem zukünftigen Schwiegersohn, Frau Audibert und einem Vetter, den sie noch nicht kenne, bei ihr speisen. Als der Bote fortgegangen war, lud er uns ein, und Frau Audibert übernahm es, uns hinauszufahren. Sie sagte ihm, ich habe noch eine zweite Nichte bei mir, die seine Tochter sehr lieb habe; sie werde sich daher sehr freuen, sie wiederzusehen. Der gute Papa war entzückt, seiner Tochter eine Freude machen zu können, indem er die Gesellschaft um einen angenehmen Gast vermehrte. Der glückliche Einfall der Frau Audibert machte mir viel Vergnügen; ich fühlte mich zu größtem Dank verpflichtet, daß sie meiner teuren Marcolina eine solche Freude bereitete, und sprach ihr daher aus vollem Herzen meine ganze Dankbarkeit aus.

Ich ging mit dem jungen Genuesen ins Theater. Hierüber freute sich Marcolina, die die Franzosen nicht liebte, weil sie sich nicht mit ihnen verständigen konnte. Er nahm in unserer Wohnung an einem ausgezeichneten Abendessen teil, in dessen Verlauf ich meiner Venetianerin von dem Vergnügen Mitteilung machte, das ihrer am nächsten Tage wartete. Ich glaubte, sie würde vor Freude den Verstand verlieren.

Am nächsten Tage erschienen wir bei Frau Audibert so pünktlich wie Achill an einem Schlachttage. Da die Dame sehr gut italienisch sprach, fand sie meine Marcolina entzückend und machte mir liebenswürdige Vorwürfe, daß ich sie nicht schon früher mit ihr bekannt gemacht hätte. Um elf Uhr kamen wir in Saint-Louis an, und dort wurde ich Zeuge einer reizenden Szene. Meine frühere Nichte hatte eine würdevolle Miene, die ihr entzückend zu Gesicht stand. Sie empfing ihren künftigen Gatten auf das anmutigste; hierauf dankte sie mir mit dem angenehmsten Lächeln dafür, daß ich die Güte gehabt hätte, ihn ihrem Vater vorzustellen. Von der Würde sprang sie dann plötzlich zur Fröhlichkeit über und gab ihrer Freundin hundert Küsse, die sie mit Zinsen zurückerhielt.

Das Mittagessen war ausgezeichnet und wurde von froher Heiterkeit belebt. Ich allein überließ mich einer süßen Melancholie; doch mußte ich bei mir selber lachen, wenn man mich fragte, warum ich traurig sei. Man hielt mich wohl für traurig, weil ich nicht so gesprächig war wie gewöhnlich. In Wirklichkeit war ich durchaus nicht traurig; ich empfand im Gegenteil diesen Augenblick als einen der schönsten meines Lebens. Mein Geist war sozusagen vollständig von jener Ruhe durchdrungen, die das Gefühl einer guten Handlung verleiht. Ich sah in mir den Verfasser einer Komödie, deren Ausgang so außerordentlich glücklich war. Ich sah mit Freuden, daß ich, wenn eins gegen das andere abgewogen wurde, auf dieser Welt mehr Gutes als Böses anrichtete, und das ein günstiges Geschick mich, obgleich ich nicht als König geboren war, in die Lage versetzte, Menschen glücklich zu machen. Unter den Tischgästen war niemand, der mir nicht dankbar war, und wenigstens vier von ihnen, der Vater, die Mutter und die beiden Brautleute, verdankten mir ihr ganzes Glück. Diese Erwägung verbreitete in mir ein Gefühl friedlichen Glückes, dessen ich nur schweigend genießen konnte.

Fräulein Crosin kehrte mit ihren Eltern und ihrem Bräutigam, den der Vater in sein Haus eingeladen hatte, nach Marseille zurück. Ich fuhr mit Frau Audibert, die mir das Versprechen abnahm, mit meiner entzückenden Marcolina bei ihr zu Abend zu speisen.

Man hatte bestimmt, daß die Hochzeit stattfinden solle, sobald von dem Vater des Bräutigams die Antwort auf einen Brief eintreffe, den der Vater der Braut nach Genua geschrieben hatte. Selbstverständlich waren wir alle zur Hochzeit eingeladen. Marcolina war entzückt über alle diese Feste und verdoppelte die liebevolle Zärtlichkeit, mit der sie mich beglückte.

Beim Abendessen im Hause det Frau Audibert fanden wir einen reichen jungen Weinhändler, einen geistvollen Jüngling von unabhängigem Vermögen. Er saß neben Marcolina, die von witzigen Bemerkungen sprudelte, und der junge Herr, der ganz leidlich italienisch und sogar venetianisch sprach, weil er ein Jahr in Venedig zugebracht hatte, war offenbar sehr empfänglich für die Reize meiner neuen Nichte.

Ich bin, meinem Charakter entsprechend, stets sehr eifersüchtig auf meine Geliebten gewesenn, wenn ich aber voraussehen konnte, daß sie durch einen Nebenbuhler eine vorteilhafte Lebensstellung erhalten würden, machte meine Eifersucht einem edleren Gefühle Platz. An jenem Tage begnügte ich mich damit, mich bei Frau Audibert nach dem jungen Mann zu erkundigen, und ich vernahm mit großer Befriedigung, daß er in ausgezeichnetem Rufe stand, ein Vermögen von hunderttausend Talern nebst einem großen Geschäft besaß und vollkommen unabhängig war.

Am nächsten Tage besuchte er uns in unserer Loge im Theater, und ich war sehr erfreut über den liebenswürdigen Empfang, den Marcolina ihm bereitete. Um ihn noch näher kennen zu lernen, lud ich ihn ein, mit uns zu Abend zu speisen. Er nahm die Einladung an, und ein Benehmen wie sein Geist gefielen mir sehr. Er war gegen Marcolina zärtlich, aber ehrerbietig.

Als er fortging, sagte ich zu ihm, ich hoffe, es sei nicht das letzte Mal gewesen, daß er uns diese Ehre erwiesen habe, und als ich mit Marcolina allein war, wünschte ich ihr Glück zu ihrer Eroberung, indem ich ihr ein Los in Aussicht stellte, das dem des Fräulein Crosin nicht unähnlich sein werde. Anstatt mir jedoch zu danken, wurde das reizende Mädchen wütend. »Wenn du mich los sein willst,« rief sie, »so schicke mich nach Venedig, aber sprich mir nicht davon, mich verheiraten zu wollen!«

»Beruhige dich, mein Engel. Dich los sein wollen! Was ist das für eine Sprache? Hast du irgendwelchen Grund zur Annahme gehabt, daß du mir lästig seiest? Ich sehe da einen schönen, gut erzogenen, reichen jungen Mann; ich sehe, daß er dich liebt und daß er dir nicht mißfällt; und da ich dich sehr lieb habe, da ich dich glücklich und gegen alle Wechselfälle geschützt zu sehen wünsche, da ich endlich in diesem liebenswürdigen Franzosen alles zu finden glaube, was eine ehrbare Frau glücklich machen kann, so stelle ich dir alle diese Vorteile vor Augen. Du aber wirst grob gegen mich, anstatt mir dankbar zu sein! Weine nicht, meine reizende Freundin; du machst mich traurig.«

»Ich weine, weil du dir hast einbilden können, daß ich ihn liebe.«

»Das hätte wohl sein können, meine Liebe, und dies hätte mich, wenn es in allen Ehren geschah, nicht beleidigen können; aber sei ruhig, ich werde mir derlei Sachen nicht mehr vorstellen. Laß uns zu Bett gehen.«

Marcolina weinte nicht mehr, sondern lachte und überschüttete mich mit Küssen. Vom Weinhändler sprachen wir nicht mehr. Am nächsten Tage kam er in unsere Loge, um uns Gesellschaft zu leisten; aber das Bild hatte sich verändert: Marcolina war höflich, aber zurückhaltend, und ich wagte es nicht, ihn, wie am Tage vorher, zum Abendessen einzuladen. Als wir wieder zu Hause waren, dankte sie mir dafür, daß ich ihn nicht eingeladen hätte, uns zu begleiten; sie sagte, sie hätte davor Furcht gehabt.

Diese Andeutung genügte, und für die Zukunft richtete ich mich danach.

Am nächsten Tage machte Frau Audibert uns einen Besuch, um uns im Auftrage des Weinhändlers zum Abendessen einzuladen. Bevor ich eine Antwort gab, sah ich meine Venetianerin an, die meine Gedanken erriet und schnell erklärte, sie werde stets glücklich sein, mit Frau Audibert zusammen zu sein. Die Dame holte uns am Abend ab und fuhr mit uns zu dem Freier, der uns eine prachtvolle Mahlzeit gab, zu der er außer uns niemand eingeladen hatte. Wir sahen ein ausgezeichnet eingerichtetes Haus, dem nur eine Frau als Herrin und Wirtin fehlte. Der Hausherr behandelte beide Damen mit gleicher Aufmerksamkeit, und Marcolina benahm sich zum Entzücken. Ihr lustiges und doch anständiges Benehmen, ihre lebhafte und dabei stets maßvolle Unterhaltung – dies alles erweckte in mir die Überzeugung, daß sie den wackeren Weinhändler vollends entflammt hatte.

Am nächsten Tage erhielt ich ein Briefchen von Frau Audibert, die mich bat, einen Augenblick bei ihr vorzusprechen. Ich ging zu ihr, und sie bat mich im Auftrag des jungen Kaufmanns um Marcolinas Hand.

»Der Antrag, den Sie mir machen,« antwortete ich ihr, »ist mir sehr angenehm, und ich bin gern bereit, dem Mädchen dreißig tausend Franken mitzugeben, wenn diese durch gute Bürgschaft sichergestellt werden; aber ich kann es nicht übernehmen, mit ihr darüber zu sprechen. Ich werde das reizende Mädchen Ihnen zuschicken, gnädige Frau, und wenn Sie sie bestimmen können, einen Antrag anzunehmen, der sie ehrt und nach meiner Meinung sehr vorteilhaft für sie ist, so können Sie auf mich zählen. Ich werde mein Wort halten, aber Sie dürfen nicht in meinem Namen mit ihr sprechen, denn das könnte alles verderben.«

»Ich werde sie abholen, und wenn es Ihnen recht ist, so wird sie bei mir zu Mittag essen, und Sie holen sie dann abends zum Theater ab.«

Am nächsten Tage erschien sie pünktlich zur verabredeten Stunde, und Marcolina, der ich Bescheid gesagt hatte, ging mit ihr zum Essen. Gegen fünf Uhr holte ich sie ab, und da ich sie in der heitersten Laune fand, so wußte ich nicht, was ich davon denken sollte. Die Damen waren allein, und da Frau Audibert mich nicht beiseite rief, so bezwang ich meine Neugier und ging, ohne etwas erfahren zu haben, mit Marcolina fort, als es Zeit zum Theater wurde.

Unterwegs sang Marcolina unaufhörlich das Lob der Dame, aber von dem Antrag, den diese ihr doch ohne Zweifel gemacht haben mußte, sagte sie kein Wort. Etwa in der Mitte der Vorstellung glaubte ich jedoch des Rätsels Lösung gefunden zu haben; denn ich sah den jungen Mann im Parkett, und er erschien nicht in unserer Loge, obgleich in dieser zwei Plätze frei waren.

Wir kehrten in unsere Wohnung zurück, ohne über den Kaufmann oder Frau Audibert auch nur eine Silbe gesprochen zu haben; da ich jedoch der Tatsache sicher war, so fühlte ich mich zur Dankbarkeit gestimmt, und Marcolina war hochbeglückt, mich zärtlicher denn je zu finden. In der höchsten Wonne unserer Liebeskämpfe erzählte Marcolina mir endlich alles, was zwischen ihr und der Dame vorgefallen war. »Sie sagte mir alles mögliche Schöne und Vernünftige, ich aber beschränkte mich darauf, ihr zu antworten, ich würde mich nur verheiraten, wenn du es mir beföhlest. Indessen danke ich dir von ganzem Herzen für die zehntausend Taler, die du mir zu schenken bereit wärest. Du hast die Entscheidung mir zugeschoben, und ich habe dir den Ball zurückgeworfen. Wenn du deine Gründe hast, mich nicht mit nach England zu nehmen, so werde ich nach Venedig gehen, sobald du es willst; verheiraten aber werde ich mich nicht. Allem Anschein nach werde ich den jungen Herrn nicht mehr sehen, der übrigens sehr liebenswürdig ist und den ich, glaube ich, lieben könnte, wenn ich dich nicht kennte.«

Der junge Mann ließ sich nicht mehr sehen, und ich schätzte ihn darum hoch; denn ein Mann, der seinen eigenen Wert kennt, muß sich mit einer Tatsache abzufinden wissen.

Bald darauf fand die Hochzeit meiner Nichte statt. Marcolina nahm mit mir daran teil; sie trug keine Diamanten; sonst aber war sie mit allem Luxus geschmückt, der ihre Schönheit ins rechte Licht setzen und meinem Selbstgefühl schmeicheln konnte.

Vierzehntes Kapitel


Fortsetzung des Vorhergehenden, aber noch seltsamer.

Am anderen Morgen gegen acht Uhr meldete Jarbe mir die Charpillon und sagte mir, sie habe ihre Sänftenträger fortgeschickt.

»Sag‘ ihr, ich will sie nicht empfangen.«

Aber in dem Augenblick, wo ich diese Worte sprach, trat sie ein, und Jarbe ging hinaus.

»Ich bitte Sie,« sagte ich so ruhig, wie es mir nur möglich war, »mir die beiden Wechsel zurückzugeben, die ich Ihnen gestern Abend anvertraut habe.«

»Ich habe sie nicht bei mir, aber warum soll ich sie Ihnen denn zurückgeben?«

Bei dieser Antwort lief mir die Galle über; meine Wut durchbrach den Damm meiner Zurückhaltung und ergoß sich in einer Flut von Schimpfworten. Meine Natur bedurfte dieses Ausbruches, um ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Er endete mit einem unfreiwilligen Tränenerguß, dessen meine Vernunft sich schämte. Die niederträchtige Verführerin blieb ruhig wie die Unschuld; sie benutzte einen Augenblick, wo ich, von Schluchzen erstickt, kein Wort hervorbringen konnte, und sagte mir, sie sei nur so grausam gewesen, weil sie ihrer Mutter geschworen habe, sich keinem Manne in ihrem eigenen Hause hinzugeben. Nun sei sie zu mir gekommen, um mich von ihrer Zärtlichkeit zu überzeugen, indem sie sich rückhaltlos hingebe, und um mich niemals wieder zu verlassen, wenn ich sie behalten wolle.

Wenn ein Leser sich einbildet, bei dieser Erklärung habe mein ganzer Zorn sich verflüchtigt, und ich habe mich nun unverzüglich in den Besitz eines so heiß begehrten Gutes gesetzt, so kennt er die Natur der Leidenschaft nicht so gut, wie das unwürdige Geschöpf, dessen Spielball ich war, sie kannte. Er weiß nicht, daß die Liebe schnell in schwarzen Zorn übergehen kann, daß aber der umgekehrte Übergang sich langsam und schwer vollzieht. Und wenn es sich nur um Zorn allein handelt, so kann dieser durch Sanftmut, Tränen, Unterwürfigkeit und sogar durch bloße Schwäche besänftigt werden; aber wenn zum Zorn noch Entrüstung kommt, und wenn in dieses doppelte Gefühl sich noch der Schmerz einer bitteren Enttäuschung mischt, dann wird der Mann unfähig, plötzlich zur Zärtlichkeit und Wollust überzugehen. Es ist ein wütender Haß, dessen Dauer genau der Reizbarkeit des Temperamentes entspricht; er weicht erst, wenn er von selber aufgehört hat. Bei mir ist einfacher Zorn immer nur von kurzer Dauer gewesen; aber wenn Entrüstung hinzugekommen ist, dann hat meine stolze Vernunft mich stets unbeugsam gemacht, bis ich meinen Zorn vergessen und dadurch wieder meinen natürlichen Zustand erlangt hatte.

Wenn nun die Charpillon in einem solchen Augenblick sich mir zur Verfügung stellte, so wußte sie wohl, daß mein Zorn oder mein verletzter Stolz mich abhalten würde, sie beim Wort zu nehmen, und diese Wissenschaft, die bei dir, lieber Leser, vielleicht eine Tochter der Philosophie ist, war in der Seele einer liederlichen Kokette eine Tochter der Natur. Der Instinkt belehrt die Frauen besser, als Wissenschaft und Erfahrung einen Mann belehren können.

Gegen Abend verließ das junge Scheusal mich. Sie tat, wie wenn sie gekränkt, traurig, niedergeschlagen wäre, und sagte nur: »Ich hoffe, Sie werden wieder zu mir kommen, sobald Sie zur Besinnung gelangt sind.« Sie hatte acht Stunden bei mir verbracht und mich während dieser ganzen Zeit nur einige Male unterbrochen, um Beschuldigungen abzustreiten, die zwar wahr waren, die sie aber nicht zugeben durfte. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen, um nicht genötigt zu sein, ihr etwas anzubieten und mit ihr zu essen.

Als sie fort war, trank ich eine Tasse Fleischbrühe; hierauf legte ich mich wieder zu Bett und hatte einen sehr ruhigen Schlaf. Beim Erwachen fühlte ich mich völlig wiederhergestellt. Indem ich nun über den Auftritt vom vorigen Tage nachdachte, glaubte ich, daß die Charpillon ihr Benehmen bereue, aber ich fühlte mich vollkommen gleichgültig gegen alles, was sie betraf.

Ich bekenne hier in aller Demut die Veränderung, die in London in meinem achtunddreißigsten Jahre die Liebe an mir bewirkte. Es war der Schluß des ersten Aktes meines Lebens. Der zweite Akt schloß mit meiner Abreise aus Venedig im Jahre 1783, und der dritte Akt wird offenbar hier in Dux schließen, wo ich mich damit unterhalte, diese Erinnerungen niederzuschreiben. Dann wird meine Komödie in drei Akten beendigt sein, und wenn man sie auspfeift, was ja wohl der Fall sein kann, so hoffe ich, dieses Pfeifen nicht zu hören, und dies ist eine Befriedigung, die noch mancher andere Autor sich gleich mir vorbehalten sollte. Aber ich habe dem Leser noch nicht die letzte Szene dieses ersten Aktes vorgeführt, und ich halte diese für die interessanteste.

Auf einem Spaziergang, den ich im Green-Park machte, wurde ich von Goudar angesprochen. Ich sah ihn mit Vergnügen, denn ich brauchte diesen in allen Lebenslagen erfahrenen Menschen. Er sagte zu mir: »Ich komme eben von der Charpillon; man ist dort in sehr fröhlicher Stimmung. Vergebens habe ich das Gespräch auf Sie zu bringen gesucht; ich konnte kein Wort aus den Weibern herausbringen.«

»Ich verachte sie und alles, was nah oder fern mit ihr zusammenhängt.«

Er lobte mich und forderte mich auf, bei dieser Meinung zu bleiben. Ich nahm ihn mit mir zum Essen, und wir gingen dann zur Kupplerin Walsh, wo wir die berühmte Kurtisane Kitty Fisher sahen, die dort auf den Herzog von *** wartete, um mit ihm auf den Ball zu gehen. Die Phryne war prachtvoll geschmückt, und es ist keine Übertreibung, wenn ich die Diamanten, die sie in diesem Augenblick auf dem Leibe trug, auf fünfhunderttausend Franken schätze; Goudar sagte mir, ich könnte die Gelegenheit benutzen und mich, bevor der Herzog käme, für zehn Guineen mit ihr amüsieren. Ich wollte jedoch nicht, denn sie war zwar reizend, aber sie sprach nur englisch. Da ich nun gewöhnt war, mit allen Sinnen zugleich zu genießen, so konnte ich mich nicht entschließen, mich der Liebe hinzugeben, ohne auch mein Ohr zu befriedigen. Als das Mädchen fort war, sagte die Walsh uns, Kitty habe eines Tages eine Banknote von tausend Guineen auf einem Butterbrot verzehrt. Es sei ein Geschenk gewesen, das der Ritter Atkins, der Bruder der schönen Lady Pitt, ihr gemacht habe. Ich weiß nicht, ob die Bank ihr für dieses Geschenk ihren Dank aussprechen ließ.

Ich verbrachte eine Stunde mit einer schönen Irländerin, namens Kennedy, die etwas Französisch radebrechte. Vom Champagner belebt, machte sie tausend tolle Sachen; aber das Bild der Charpillon verfolgte mich, mir selber unbewußt, und ich fand den Genuß abgeschmackt. Traurig und unzufrieden ging ich nach Hause. Die Vernunft sagte mir, daß ich mich besiegen und das hinterlistige Weib aus meinen Gedanken verjagen müßte; aber ein anderes Gefühl, das ich für Ehrgefühl hielt, sagte mir, ich dürfe ihr nicht den Triumph lassen, mir umsonst die beiden Wechsel abgenommen zu haben. Ich entschloß mich daher, mir die Papiere mit Güte oder mit Gewalt zurückzuverschaffen. Sicherlich würde ich ein Mittel dazu finden.

Herr von Malingan, bei dem ich die unglückselige Bekanntschaft des höllischen Geschöpfes gemacht hatte, lud mich zum Essen ein. Er hatte mich schon mehrere Male eingeladen, und ich glaubte, nicht immer ablehnen zu können. Doch nahm ich erst an, nachdem ich mir die Namen der Eingeladenen hatte sagen lassen; da keine Bekannte von mir dabei war, so hatte ich nichts einzuwenden.

Ich fand bei ihm zwei junge Lütticherinnen, von denen die eine mich auf den ersten Blick interessierte; sie machte mich mit ihrem Mann bekannt, den Malingan mir nicht vorgestellt hatte, sowie mit einem anderen jungen Mann, der der anderen Dame den Hof zu machen schien.

Da die Gesellschaft nach meinem Geschmack war, so hoffte ich schon einen schönen Tag zu verleben, als mein böser Geist die Charpillon zu uns führte. Sie trat mit lachendem Gesicht ein und sagte sofort zu Malingan: »Ich würde mich nicht bei Ihnen zum Essen eingeladen haben, wenn ich gewußt hatte, daß Sie so zahlreiche Gesellschaft haben; sollte ich Ihnen etwa lästig sein, so werde ich sofort gehen.«

Alle Welt begrüßte sie auf das freundlichste; nur ich stand Folterqualen aus. Um das Ärgernis voll zu machen, gab man ihr den Platz zu meiner Linken. Wäre sie gekommen, bevor wir bei Tisch saßen, so hätte ich leicht einen Vorwand gefunden, um mich zu entfernen; da ich aber bereits begonnen hatte, meine Suppe zu essen, so hätte ich mich lächerlich gemacht, wenn ich gegangen wäre. So beschloß ich denn, sie nicht anzusehen und meine ganze Aufmerksamkeit nur meiner Dame zur Rechten zu widmen. Als wir von Tisch aufgestanden waren, gab Malingan mir sein Ehrenwort, daß er die Charpillon nicht eingeladen habe; sein Schwur überzeugte mich jedoch nicht, obgleich ich aus Höflichkeit so tat, wie wenn ich ihm glaubte.

Die beiden Lütticherinnen und ihre Kavaliere sollten in drei oder vier Tagen nach Ostende segeln. Indem wir von ihrer Abreise sprachen, sagte die eine Dame, die mich interessiert hatte, sie bedaure, England verlassen zu müssen, ohne Richmond gesehen zu haben. Ich bat sie, mir die Ehre zu bewilligen, es ihr am nächsten Tage zeigen zu dürfen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, lud ich ihren Gemahl und so nach und nach die ganze Gesellschaft ein, außer der Charpillon, die ich nicht ansah.

Als die Einladung angenommen war, sagte ich: »Zwei Wagen zu vier Sitzen werden um acht Uhr bereit sein; wir sind ja gerade acht.«

»Wir sind neun, denn ich werde mitfahren!« rief die Charpillon, indem sie mich mit der frechsten Miene ansah; »ich hoffe, mein Herr, Sie werden mich nicht fortschicken.«

»Nein; denn das wäre unhöflich. Ich werde vorausreiten.«

»Oh! Das ist durchaus nicht nötig; denn ich werde Fräulein Emilie auf meinen Schoß nehmen.«

Emilie war Malingans Tochter. Da alle Welt den Vorschlag reizend fand, so hatte ich nicht den Mut, mich dagegen zu sträuben. Einige Augenblicke darauf mußte ich mal hinausgehen; als ich zurückkam, fand ich das freche Geschöpf auf dem Treppenabsatz. Sie redete mich an und sagte: ich hätte ihr einen blutigen Schimpf angetan. Ich wäre ihr dafür eine Genugtuung schuldig, oder sie würde sich auf eine Weise rächen, die mir sehr schmerzlich sein sollte.

»Geben Sie mir zuerst meine Wechsel zurück!« antwortete ich.

»Sie werden sie morgen bekommen, aber denken Sie daran, Ihre Beleidigung wieder gut zu machen.«

Ich verließ die Gesellschaft gegen Abend, nachdem wir verabredet hatten, daß wir am anderen Morgen bei mir frühstücken wollten.

Um acht Uhr waren die beiden Wagen bereit. Malingan, seine Frau, seine Tochter und die beiden Herren stiegen in den ersten Wagen, und ich mußte mich mit den beiden Lütticherinnen und der Charpillon, die sich mit diesen innig befreundet zu haben schien, in den zweiten setzen. Dies ärgerte mich, und ich war während der ganzen fünf Viertelstunden dauernden Fahrt verdrießlich. Ich bestellte zunächst ein gutes Mittagessen; hierauf besichtigten wir das Schloß und den Park. Das Wetter war herrlich, obgleich wir schon tief im Herbst waren.

Während des Spazierganges machte die Charpillon sich an mich heran und sagte mir, sie wolle mir meine Wechsel an demselben Orte wiedergeben, wo sie sie von mir erhalten habe. Da wir von der übrigen Gesellschaft ziemlich weit entfernt waren, überhäufte ich sie mit Beleidigungen. Ich warf ihr ihre Hinterlist vor, ihre tiefe Verderbtheit in einem Alter, wo man noch einige natürliche Unschuld bei ihr hätte voraussetzen dürfen. Ich gab ihr den Namen, den sie verdiente, und zählte ihr die Herren auf, mit denen sie sich prostituiert hatte. Zum Schluß drohte ich ihr mit meiner Rache, wenn sie mich aufs äußerste treiben sollte. Sie blieb aber eiskalt und ließ in vollkommener Ruhe das Gewitter über sich ergehen, das auf sie herniederstürzte. Nur als die Gesellschaft uns so nahe kam, um uns hören zu können, bat sie mich, leiser zu sprechen. Man hörte mich aber doch, und das war mir angenehm.

Endlich gingen wir zum Essen. Das gemeine Geschöpf setzte sich neben mich; sie machte und sagte tausend Ausgelassenheiten, die den Glauben erwecken sollten, daß wir auf dem vertrautesten Fuß miteinander stünden, oder daß sie zum mindesten verliebt in mich sei und sich wenig daraus mache, ob man sie für unglücklich halte, weil ihr Entgegenkommen mich offenbar sehr kalt ließ. Ich ärgerte mich darüber sehr; denn die Gesellschaft mußte mich für einen Dummkopf halten oder glauben, daß sie sich ganz offen über mich lustig machte.

Nach dem Essen gingen wir wieder in den Garten. Die Charpillon wollte durchaus den Sieg davontragen und hängte sich an meinen Arm. Sie führte mich nach einigen Umwegen zum Labyrinth und stellte dort einen neuen Versuch an, welche Macht ihre Reize hätten. Sie zog mich auf das Gras nieder und griff mich mit den liebevollsten Worten, mit den zärtlichsten und leidenschaftlichsten Liebkosungen an. Indem sie meinen Augen den interessantesten Teil ihrer Reize darbot, gelang es ihr, mich zu verführen; doch kann ich nicht genau sagen, ob Liebe oder Rachbegier mich bestimmte, ihren Wünschen nachzugeben; vielleicht wurde ich, mir selber unbewußt, von beiden Gefühlen getrieben.

Übrigens erschien sie in diesem Augenblick so hingebend! Ihr glühendes, feuchtes Auge, ihre entflammten Wangen, ihre wollüstigen Küsse, ihr wogender Busen, ihr fliegender Atem – dies alles mußte in mir den Glauben erwecken, daß sie ebensosehr der Niederlage bedurfte wie ich des Triumphes. Ganz gewiß konnte ich nicht an Widerstand denken, geschweige denn an einen im voraus berechneten Widerstand.

So wurde ich denn sanft und zärtlich; ich tat ihr Abbitte, indem ich meine Wut und das von mir begangene Unrecht auf das Übermaß meiner Liebe schob. Ihre glühenden Küsse erwiderten die meinigen und besiegelten die Versöhnung, und ich glaubte mich durch ihre Blicke und das sanfte Anschmiegen ihres Leibes von ihr aufgefordert, mich der süßesten Gunst zu bemächtigen – – aber in dem Augenblick, wo meine Hand die Pforte des Heiligtums öffnete, schleuderte eine Bewegung mich weit vom Ziel zurück.

»Wie? Willst du mich schon wieder betrügen?«

»Nein, aber für jetzt ist es genug, mein lieber Freund. Ich verspreche dir, die Nacht bei dir und ohne jeden Rückhalt in deinen Armen zu verbringen.«

Meine aufgeregten Sinne hatten mich der Vernunft beraubt, und ich war meiner selber nicht mehr mächtig. Ich sah nur das treulose Weib, das sich schon so oft über meine dumme Leichtgläubigkeit lustig gemacht hatte. Ich wollte den Augenblick benutzen und mich befriedigen oder mich rächen. So hielt ich sie denn mit meinem linken Arm unbeweglich unter mir fest, zog aus meiner Tasche ein kleines Messer, das ich mit meinen Zähnen öffnete, setzte ihr die Spitze an den Hals und bedrohte sie mit dem Tode, wenn sie mir den geringsten Widerstand leisten würde.

»Machen Sie nur, was Sie wollen,« sagte sie im ruhigsten Ton zu mir; »ich bitte Sie nur um mein Leben. Aber wenn Sie sich befriedigt haben, werde ich nicht von hier fortgehen; man kann mich mit Gewalt in den Wagen tragen, aber nichts wird mich abhalten, den Grund meines Benehmens zu sagen.«

Diese Drohung war überflüssig; denn ich hatte schon meine Vernunft wiedererlangt, und ich fand mich selber kläglich, daß ich mich so weit erniedrigen konnte, und zwar wegen eines Geschöpfes, das ich im höchsten Grade verachtete, obgleich sie dank den rasenden Begierden, die sie mir einzuflößen wußte, eine fast zauberhafte Herrschaft über mich ausübte. Ich stand auf, ohne ein einziges Wort zu sagen, nahm meinen Hut und Stock und verließ schnell einen Ort, wo die zügelloseste Leidenschaft mich an den Rand des Abgrundes gebracht hatte.

Der Leser wird es nicht glauben, und doch ist es die volle Wahrheit: die Schamlose kam mir sofort nach und hängte sich mit ganz natürlicher Miene an meinen Arm, wie wenn zwischen uns nichts vorgefallen wäre. Unmöglich kann ein Mädchen von siebzehn Jahren in so niederträchtigem Benehmen so gewandt sein, ohne vorher in hundert ähnlichen Kämpfen ihre Kräfte erprobt zu haben. Ist einmal das Gefühl der Scham überwunden, so sieht sie sogar einen Ruhm in dem, was sie eigentlich mit Schande bedecken müßte.

Als wir zur Gesellschaft zurückkamen, fragte man mich, ob mir unwohl geworden sei, aber auf ihren Zügen bemerkte niemand auch nur die geringste Veränderung.

Wir fuhren nach London zurück; ich schützte ein heftiges Kopfweh vor, grüßte die Gesellschaft und ging nach Hause.

Dieses Abenteuer hatte einen schrecklichen Eindruck auf meinen Geist gemacht. Ich erkannte klar und deutlich, daß ich ein verlorener Mann war, wenn ich nicht jede Gelegenheit floh, mit dem Mädchen zusammenzukommen. Ihr haftete in meinen Augen etwas Wunderbares an, dem ich nicht widerstehen konnte. Ich faßte also den Beschluß, sie nicht wiederzusehen; zugleich aber schämte ich mich meiner Schwäche, daß ich ihr meine beiden Wechsel anvertraut und mich selbst von ihr hatte betrügen lassen, und schrieb daher der Mutter ein Briefchen, worin ich ihr riet, die Tochter zur Rückgabe zu veranlassen; sonst würde ich gegen sie Schritte tun, die ihr sehr unangenehm sein würden.

Am Nachmittag erhielt ich folgende Antwort:

»Ich bin sehr überrascht, mein Herr, daß Sie sich an mich wenden, um die beiden Wechsel von sechstausend Franken zurückzuerhalten, die Sie meiner Tochter anvertraut haben. Sie sagt mir soeben, sie werde sie Ihnen persönlich übergeben, wenn Sie vernünftiger geworden seien und sie zu achten gelernt haben.«

Dieser unverschämte Brief trieb mir das Blut in den Kopf, und ich vergaß meinen Entschluß vom Morgen. Ich steckte zwei Pistolen in die Tasche und ging nach dem Hause des unwürdigen Frauenzimmers, um es mit Stockschlägen zur Herausgabe meiner Wechsel zu zwingen.

Meine Pistolen hatte ich nur mitgenommen, um die beiden Gauner, die jeden Abend bei ihr aßen, in Schach zu halten. Wütend kam ich vor dem Hause an, aber ich ging an ihrer Tür vorüber, als ich einen jungen Friseur bei ihr eintreten sah, einen ziemlich schönen, jungen Menschen, der ihr jeden Samstag Abend die Haare wickelte.

Ich wollte nicht, daß bei der von mir geplanten Szene ein Fremder anwesend sei, und ging daher bis an die Straßenecke, wo ich stehen blieb, um das Herauskommen des Friseurs abzuwarten. Als ich etwa eine halbe Stunde gewartet hatte, sah ich die beiden Zuhälter des Hauses, Rostaing und Caumon, herauskommen. Dies war mir sehr angenehm. Ich wartete und wartete; es schlug elf Uhr, und der schöne Friseur kam immer noch nicht. Kurz vor Mitternacht sah ich, wie die Tür sich öffnete und wie eine Magd mit einem Licht in der Hand herauskam, um etwas zu suchen, was aus einem Fenster gefallen zu sein schien. Geräuschlos gehe ich an das Haus, trete ein, öffne die Tür zum Wohnzimmer, die sich unmittelbar neben der Haustüre befindet, und sehe die Charpillon und den Friseur auf dem Kanapee liegen und, wie Shakespeare sagt, das Tier mit den zwei Rücken machen.

Bei meinem Anblick stößt die Spitzbübin höchst erschrocken einen Schrei aus und wirft den Burschen aus dem Sattel. Er bringt schnell seine Kleider in Ordnung, während ich meinen Stock, so schnell ich kann, auf ihn niedersausen lasse, bis der Lärm Mägde, Tanten und Mutter herbeigelockt hat, und er die Verwirrung benützt, um sich aus dem Staube zu machen.

Während dieses Spektakels hockte die Charpillon zitternd und halbnackt hinter dem Kanapee; sie wagte kaum zu atmen, weil der Hagelschauer jeden Augenblick über sie so gut niedergehen konnte wie über ihren Liebsten. Unterdessen gingen die drei alten Weiber wie Furien auf mich los; aber ihre Schimpfereien erregten meinen Zorn nur noch heftiger, und ich zertrümmerte Spiegel, Porzellan, Möbel. Als sie fortwährend weiterschrien, drohte ich ihnen, ich würde ihnen den Schädel einschlagen, wenn sie nicht endlich still wären. Infolge dieser Drohungen wurde es endlich ruhig. Völlig erschöpft warf ich mich auf das verhängnisvolle Kanapee und befahl der Mutter, mir die Wechsel zurückzugeben. In diesem Augenblick erschien die Nachtwache auf der Bildfläche.

Diese Nachtwache besteht nur aus einem einzigen Mann, der die ganze Nacht hindurch, in der einen Hand eine Laterne, in der anderen einen langen Stock, sein Viertel durchwandert. Auf diesem einzigen Mann ruht der Friede des Viertels und die Ruhe der großen Stadt. Diese Wächter trifft man überall, und niemand wagt sich gegen sie aufzulehnen. Ich drückte ihm drei oder vier Kronen in die Hand und sagte: Go away – gehen Sie! Damit schob ich ihn zur Tür hinaus. Ich setzte mich wieder auf das Kanapee und verlangte abermals meine Wechsel von der Mutter. Sie sagte mir: »Ach, ich hab‘ sie nicht; meine Tochter hat sie in Verwahrung.«

»Lassen Sie sie rufen!«

Hierauf sagten die beiden Mägde, die Charpillon sei, wahrend ich das Porzellan zertrümmert habe, aus der Straßentür gelaufen, und sie wüßten nicht, wohin sie gegangen sei. Als sie dies hörten, fingen Mutter und Tante zu schreien und zu weinen an: »Meine arme Tochter! Um Mitternacht allein in den Straßen von London! Meine liebe Nichte, das arme Kind, und in dem Zustand! Sie ist ja verloren! Verflucht sei der Augenblick, wo Sie nach England gekommen sind, um uns alle unglücklich zu machen!«

Da meine Wut sich hatte austoben können, so hatte sie Zeit gehabt, sich zu beruhigen. Mit der Ruhe kam auch die Überlegung, und ich schauderte bei der Vorstellung, daß das geängstigte junge Mädchen zu dieser Stunde allein durch die Straßen der Riesenstadt irrte. »Geht,« sagte ich zu den beiden Mädchen, »und sucht sie bei den Nachbarn; ihr werdet sie ganz gewiß finden. Wenn ihr mir meldet, daß sie in Sicherheit ist, soll jede von euch eine Guinee bekommen.«

Als die drei Gorgonen sahen, daß mir daran gelegen war, die Charpillon wieder aufzufinden, fingen sie von neuem an zu jammern, zu schimpfen, mir Vorwürfe zu machen; ich saß stumm und unbeweglich da, wie wenn ich ihnen zugeben wollte, daß sie recht hatten und daß das ganze Unrecht auf meiner Seite wäre. Ungeduldig wartete ich auf die Rückkehr der Mädchen. Nach ein Uhr kamen sie endlich, ganz außer Atem und mit verzweifelten Gebärden. Sie sagten: »Wir haben sie überall gesucht, aber vergeblich, wir haben sie nirgends finden können.« Ich gab ihnen zwei Guineen, wie wenn sie sie wirklich gebracht hatten. Unbeweglich blieb ich sitzen; mich erschreckte der Gedanke, welche entsetzlichen Folgen für das junge Mädchen die fürchterliche Angst haben konnte, in die meine Wut sie versetzt haben mußte. Wie schwach und dumm ist der Mensch, wenn er verliebt ist!

In meiner Aufregung über dies schreckliche Ereignis war ich so einfältig, diesen Spitzbübinnen meine Reue auszudrücken. Ich beschwor sie, sie sofort nach Tagesanbruch überall suchen zu lassen und mir ihre Heimkehr sofort mitzuteilen; ich wolle mich ihr zu Füßen stürzen, sie um Verzeihung bitten und sie dann niemals wiedersehen. Außerdem versprach ich ihnen, alles von mir Zerschlagene zu bezahlen, die Wechsel mit meinem Namen zu quittieren und ihnen zu überlassen. Nachdem ich zur ewigen Schande meiner Vernunft diese Torheiten begangen und diesen Kupplerinnen, denen die Ehre und meine Person zum Gespött waren, Abbitte geleistet hatte, entfernte ich mich, indem ich der Magd, die mir die Wiederauffindung ihrer jungen Herrin melden würde, zwei Guineen versprach.

Vor der Haustür fand ich den Wachtmann, der auf mich wartete, um mich nach Hause zu bringen. Es war zwei Uhr. Ich warf mich auf mein Bett, und ein sechsstündiger Schlummer bewahrte mich wahrscheinlich vor dem Verlust meiner Vernunft, obwohl mein Schlaf von bösen Träumen beunruhigt wurde.

Um acht Uhr morgens hörte ich an die Haustür klopfen. Ich eilte an mein Fenster und bemerkte eine von den Mägden meiner Feindinnen. Mit heftigem Herzklopfen rief ich meinen Leuten zu, man solle sie eintreten lassen, und ich atmete erleichtert auf, als ich vernahm, daß Miß Charpillon soeben in einer Sänfte nach Hause gekommen sei; sie befinde sich jedoch in einem kläglichen Zustande, und man habe sie sofort zu Bett gebracht. »Ich bin schnell hergelaufen, um Ihnen dies zu sagen,« sagte das abgefeimte Weib zu mir, »nicht wegen Ihrer zwei Guineen, sondern weil ich Sie so unglücklich gesehen habe.«

Sofort ging ich auf den Leim, als ich diesen Ausdruck von Teilnahme hörte. Ich gab ihr die zwei Guineen, ließ sie neben meinem Bett Platz nehmen und bat sie, mir alle Umstände der Rückkehr ihres Fräuleins ganz genau zu erzählen. Ich dachte gar nicht daran, daß das Mädchen von seiner Herrin abgerichtet sein könnte. Ich befand mich eben in einer Periode von Dummheit und Selbsttäuschung.

Die Spitzbübin begann damit, daß sie mir sagte, ihre junge Herrin liebe mich und habe mich nur betrogen, weil ihre Mutter es verlangt habe.

»Das weiß ich, aber wo hat sie diese Nacht verbracht?«

»Bei einer Modistin, deren Laden sie offen fand, und die sie kennt, weil sie verschiedenes bei ihr gekauft hat. Sie hat sich mit heftigem Fieber zu Bett gelegt, und ich fürchte, die Sache wird böse Folgen haben, denn sie befindet sich in ihrer kritischen Periode.«

»Das ist nicht wahr; denn ich habe sie mit ihrem Friseur auf frischer Tat ertappt.«

»Oh! Das beweist nichts! Der arme junge Mann nimmt das nicht so genau.«

»Aber sie ist in ihn verliebt.«

»Das glaube ich nicht, obgleich sie oft ganze Stunden mit ihm verbringt.«

»Und du sagst, sie liebt mich!«

»Aber dem steht doch nichts im Wege! Was sie mit ihm treibt, ist bloß eine flüchtige Laune.«

»Sage ihr, ich will den ganzen Tag an ihrem Bette sitzen, und bringe mir die Antwort!«

»Ich werde das andere Mädchen schicken, wenn es Ihnen recht ist.«

»Nein; die spricht ja nur englisch.«

Sie ging. Als sie um drei Uhr noch nicht wiedergekommen war, konnte ich es vor Ungeduld nicht länger aushalten und entschloß mich, zur Charpillon zu gehen und nach ihrem Befinden zu fragen. Ich klopfte; eine von den Tanten erschien und bat mich, lieber nicht einzutreten; denn die beiden Freunde seien wütend auf mich, und ihre Nichte liege im Fieberdelirium; sie schreie unaufhörlich: ›Da ist Seingalt, mein Henker! Er will mich töten! Rettet mich!‹ »Um Gottes willen, mein Herr, gehen Sie.«

Verzweifelt ging ich nach Hause. Daß man mich belogen hätte, fiel mir nicht ein. Meine Traurigkeit war so groß, daß ich den ganzen Tag nichts essen konnte; denn ich war nicht imstande, etwas hinunterzubringen. Die ganze Nacht tat ich kein Auge zu; ich hatte Fieber. Vergeblich trank ich mehrere starke Liköre, in der Hoffnung, mich zu betäuben und dann einschlafen zu können.

Am nächsten Morgen um neun Uhr stand ich wieder vor der Tür der Charpillon; wie am Tage vorher wurde nur ein schmaler Spalt geöffnet. Dieselbe alte Tante verbot mir einzutreten und sagte mir, die Kranke habe zwei Rückfälle gehabt; sie liege im Delirium und rufe fortwährend entsetzt meinen Namen; der Arzt habe erklärt, wenn es sich verschlimmere, habe sie keine vierundzwanzig Stunden mehr zu leben. »Infolge des Schrecks hat die Menstruation gestockt; sie ist in einem schrecklichen Zustande.«

»Verdammter Friseur!«

»Jugendschwäche! Sie hätten tun sollen, wie wenn Sie nichts sähen.«

»Bei allen Göttern! Halten Sie das wirklich für möglich, alte Hexe? Lassen Sie es ihr an nichts fehlen. Da!«

Mit diesen Worten gab ich ihr eine Banknote von zehn Guineen und rannte wie ein Wahnsinniger davon. Unterwegs begegnete ich Goudar, der über mein Aussehen erschrak. Ich bat ihn nachzusehen, wie die Charpillon sich befinde, und dann den ganzen Tag bei mir zu verbringen. Eine Stunde darauf kam er wieder zu mir und sagte mir, er habe das ganze Haus in Verzweiflung gefunden, und das Mädchen liege in den letzten Zügen.

»Haben Sie sie gesehen?«

»Nein; man hat mir gesagt, sie sei nicht sichtbar.«

»Glauben Sie, daß es wahr ist?«

»Ich weiß nicht, was ich davon denken soll; aber die eine Magd, die mir sonst gewöhnlich die Wahrheit sagte, hat mir versichert, die Charpillon sei wahnsinnig geworden, weil ihre Menstruation unterbrochen worden sei; sie habe beständig Fieber und Krämpfe. Das alles ist wohl glaublich; denn dies sind die gewöhnlichen Folgen eines großen Schrecks, wenn eine Frau ihre kritische Periode hat. Sie hat mir gesagt, Sie seien an dem ganzen Unglück schuld.«

Ich erzählte ihm nun die ganze Geschichte. Er konnte weiter nichts tun als mich bedauern; als er aber hörte, daß ich seit achtundvierzig Stunden nicht mehr hätte essen noch schlafen können, da sagte er mir sehr richtig, dieser Kummer könne mir das Leben oder den Verstand kosten. Das wußte ich; aber ich sah kein Mittel dagegen. Goudar verbrachte den ganzen Tag bei mir, und das war gut für mich. Da ich nicht essen konnte, so trank ich sehr viel, und da ich nicht schlafen konnte, so ging ich mit großen Schritten in meinem Zimmer auf und ab und sprach mit mir selber, wie ein Mensch, der einen Sparren im Kopfe hat.

Als ich am dritten Tage immer noch nichts Bestimmtes über das Befinden der Charpillon hatte erfahren können, ging ich morgens um sieben Uhr nach ihrem Hause. Nachdem ich eine Viertelstunde auf der Straße gewartet hatte, wurde die Tür wiederum nur ein bißchen geöffnet; die Mutter erschien und sagte mir mit strömenden Tränen, ihre Tochter liege im Todeskampfe, und sie könne mir nicht erlauben, das Haus zu betreten.

Im selben Augenblick kam ein magerer, kleiner alter Mann mit blassem Gesicht heraus und sagte ihr auf Schweizerdeutsch, sie müsse sich in Gottes Willen schicken. Ich fragte die niederträchtige Kupplerin, ob das der Arzt sei.

»Von einem Arzt ist hier nicht mehr die Rede,« sagte die Heuchlerin, indem sie noch heftiger weinte; »es ist ein Diener des Heiligen Evangeliums, und ein zweiter ist noch oben. Mein armes Mädchen! Spätestens in einer Stunde wird sie nicht mehr sein!«

Ich hatte in diesem Augenblick ein Gefühl, wie wenn eine eisige Hand mein Herz zusammenpreßte. Ich ging, indem ich zu der weinenden Frau sagte: »Ich bin allerdings die letzte Ursache dieses Todes; aber Sie, Unglückselige, haben sie getötet.«

Ich fühlte meine Beine unter mir wanken und ging nach Hause mit dem festen Entschluß, mir auf die sicherste Art das Leben zu nehmen.

Um diesen Plan mit der größten Kaltblütigkeit auszuführen, befahl ich, alle Besuche abzuweisen; sobald ich in meinem Zimmer war, legte ich Uhren, Ringe, Tabaksdosen, Börse und Brieftasche in meine Kassette, die ich in mein Schreibpult verschloß. Hierauf schrieb ich einen Brief an den venetianischen Gesandten und teilte ihm mit, daß nach meinem Tode alle meine Habe Herrn von Bragadino gehören solle. Ich versiegelte den Brief und legte ihn in dasselbe Schreibpult, worin ich meine Kassette, meine Diamanten und meine Schmucksachen hatte. Den Schlüssel nebst einigen Guineen in Silbergeld steckte ich in die Tasche. Dann nahm ich meine guten Pistolen und verließ mein Haus in der festen Absicht, mich beim Tower in der Themse zu ertränken.

Ich hatte diesen Entschluß nicht im Zorn oder aus Liebe gefaßt, sondern bei kältester Überlegung. Ich ging zu einem Kaufmann und kaufte soviele Bleikugeln, wie meine Taschen tragen konnten, und wie ich glaubte, bis zum Tower schleppen zu können; denn ich mußte dorthin zu Fuß gehen. Unterwegs bestärkten alle meine Gedanken mich immer mehr bei meinem Plan; denn ich sagte mir: wenn ich weiter lebte, würde ich jeden Tag tausendmal alle Qualen der Hölle erdulden, indem ich das Bild der Charpillon vor mir sähe, die mir mit Recht ihren Tod vorwerfen würde. Ich freute mich sogar, daß ich keiner Selbstüberwindung bedurfte, einen Entschluß auszuführen, der mir aus der strengsten Vernunft hervorgegangen zu sein schien. Außerdem fühlte ich einen geheimen Stolz, daß ich den Mut hätte, mich selber für das Verbrechen zu bestrafen, dessen ich mich schuldig glaubte.

Ich ging mit langsamen Schritten wegen des ungeheuren Gewichtes, das ich in meinen Taschen trug und das mir die Sicherheit gab, daß ich sofort untersinken und sterben würde, bevor man mich an die Oberfläche bringen könnte.

Mitten auf der Westminster-Brücke führte mein guter Geist mir den Chevalier Edgar in den Weg. Das war ein liebenswürdiger, weiser, junger Engländer, der sein Leben genoß, indem er seinen Leidenschaften folgte. Ich hatte ihn bei Lord Pembroke kennen gelernt, und er hatte einige Male bei mir gespeist. Wir gefielen einander; er wußte angenehm zu plaudern, und wir hatten in fröhlichen Unterhaltungen angenehme Augenblicke verbracht. Ich wollte ihm ausweichen; aber er hatte mich bereits gesehen und nahm freundschaftlich meinen Arm.

»Wo wollen Sie hin? Kommen Sie mit mir, das heißt, wenn Sie nicht irgend jemand aus dem Gefängnis befreien wollten. Kommen Sie, wir werden einen Spaß haben!«

»Ich kann nicht, mein Lieber! Lassen Sie mich, bitte.«

»Ich erkenne Sie ja gar nicht wieder mit Ihrer düsteren Miene. Was haben Sie denn?«

»Ich? Nichts.«

»Sie haben nichts? Sie wissen nur nicht, wie Sie aussehen. Ich bin überzeugt, Sie haben irgend etwas Böses vor.«

»Sie irren sich.«

»Leugnen hat keinen Zweck.«

»Ich sage Ihnen ja: ich habe nichts. Leben Sie wohl, ein anderes Mal werde ich mit Ihnen gehen.«

»Ei, mein lieber Seingalt, Sie sehen ja ganz düster aus. Die Farbe steht Ihnen nicht. Ich gehe nicht von Ihrer Seite. Lassen Sie mich mitkommen!«

Gleichzeitig fiel sein Blick auf meine Hosentasche, und er bemerkte den Kolben der einen Pistole. Ohne weitere Umstände griff er nach der andern Tasche, fühlte die Pistole und sagte: »Natürlich wollen Sie sich schlagen! Da will ich dabei sein. Ich werde mich dem Kampf nicht widersetzen, aber ich verlasse Sie nicht.«

Ich zwang mich zu lächeln und versicherte ihm, daß ich mich nicht schlagen wollte; ohne mir etwas dabei zu denken, sagte ich ihm: »Ich mache nur einen Spaziergang, um mich zu zerstreuen.«

»Sehr schön,« rief Edgar; »in diesem Fall, hoffe ich, wird meine Gesellschaft Ihnen ebenso angenehm sein wie mir die Ihrige. Ich gehe nicht von Ihnen. Nach dem Spaziergang werden wir in der Kanone zu Mittag essen. Ich werde einem jungen Mädchen, das dort mit mir speisen sollte, Bescheid sagen lassen, daß sie eine reizende junge Französin mitbringen soll, und wir machen eine Partie zu Vieren.«

»Mein lieber Freund, entbinden Sie mich von der Teilnahme! Ich bin traurig und muß allein sein, um meinen Verdruß los zu werden.«

»Das können Sie morgen tun, wenn Sie es dann noch nötig haben; aber ich bin überzeugt, binnen drei Stunden ist Ihre schwarze Laune verflogen. Wenn nicht, so werde ich mich eben mit Ihnen zusammen langweilen. Wo gedachten Sie denn am anderen Ufer zu speisen?«

»Nirgends. Ich brauche nicht zu essen, denn ich habe keinen Appetit. Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen; ich kann nur trinken.«

»Das alles ist unnatürlich; aber die Sache wird mir schon klar: Ihnen ist wegen irgend eines Ärgers die Galle übergelaufen; Sie könnten darüber verrückt werden, ja sogar sterben, wie es einem meiner Brüder passiert ist. Da muß ich aufpassen!«

Da Edgar hartnäckig blieb und da seine scherzhaften Bemerkungen sehr richtig waren, so sagte ich zu mir selber: »Auf einen Tag mehr kommt es schließlich auch nicht an. Ich kann meine Absicht ausführen, wenn ich wieder allein bin. Ich wage dabei weiter nichts, als daß ich ein paar Stunden länger lebe.«

Ich bin überzeugt, daß Menschen, die sich infolge eines großen Kummers das Leben genommen haben, damit nur dem Verlust ihrer Vernunft zuvorgekommen sind, wie es andererseits unbestritten ist, daß diejenigen, die wahnsinnig werden, diesem Unglück nur dadurch ausweichen können, daß sie sich den Tod geben. Erst in dem Augenblick beschloß ich mich zu töten, als der Wahnsinn meine Vernunft zerstört haben würde, wenn ich noch einen Tag länger gezögert hätte, diesen Entschluß zu fassen. Aber man muß noch einen Zusatz machen: Der Mensch darf sich niemals töten, denn es ist möglich, daß die Ursache seines Kummers aufhört, bevor der Wahnsinn eintritt. Das will sagen, daß diejenigen glücklich sind, die eine so starke Seele haben, um niemals zu verzweifeln. Meine Seele hatte in diesem Augenblick nicht Kraft genug; ich hatte alle Hoffnung verloren, und daß ich mich töten wollte, war vernünftig, was auch der Leser davon denken mag. Nur einem Zufall verdankte ich Leben und neue Hoffnung.

Als Edgar hörte, daß ich nur zu meinem Vergnügen nach der anderen Stadtseite gehen wollte, sagte er nur, wir könnten ebenso gut umkehren. Ich ließ mich überreden. Aber eine halbe Stunde darauf konnte ich mich wegen des Bleis, womit meine Taschen angefüllt waren, nicht weiterschleppen und bat ihn daher, er möchte mich irgendwohin führen, wo ich auf ihn warten könnte, denn ich könnte vor Schwäche nicht mehr gehen. Ich gab ihm mein Wort, ich würde ihn in der Kanone erwarten.

Sobald ich allein war, leerte ich meine Taschen und legte die Kugeln in einen Schrank. Als ich mich hierauf ein wenig ausruhte, überlegte ich mir, daß möglicherweise der liebenswürdige junge Mann meinen Selbstmord verhindert habe; denn durch die Verzögerung war die Ausführung bereits ungewiß geworden.

Indem ich diese Betrachtungen anstellte, gab ich mich keinen Hoffnungen hin, sondern ich sah eben nur voraus, daß vielleicht Edgar vom Schicksal dazu bestimmt sein könnte, mich von einem Angriff auf mein Leben zurückzuhalten. Es fragte sich nur noch, ob er mir damit etwas Gutes oder Böses tat. Ich zog den Schluß, daß wir bei allen entscheidenden Handlungen nur bis zu einem bestimmten Grade unsere eigenen Herren sind. Indem ich in dieser Schenke saß, glaubte ich, von einer höheren Macht gezwungen zu sein, auf die Rückkehr des jungen Engländers zu warten.

Bald kam Edgar. Er freute sich, mich vorzufinden, und sagte: »Ich habe auf Ihr Versprechen gerechnet.«

»Sie konnten doch nicht annehmen, daß ich mein Ehrenwort brechen würde.«

»Es beruhigt mich, Sie so sprechen zu hören; die düstere Laune wird verfliegen.«

Die vernünftige, scherzhafte und immer herzlich wohlwollende Unterhaltung des jungen Mannes tat mir wohl; ich begann bereits tiefe Wirkung zu spüren, als die beiden jungen Mädchen ankamen, von denen die eine eine Französin war. Fröhlichkeit strahlte von ihren reizenden Gesichtern; sie waren zum Vergnügen geschaffen, und die Natur hatte sie reichlich mit allem begabt, was in den kältesten Männern Begierden entzündet. Ich ließ ihnen volle Gerechtigkeit widerfahren, empfing sie aber doch nicht so, wie sie es gewöhnt waren. Offenbar sahen sie in mir einen sauertöpfischen Hypochonder; obwohl ich mich todkrank fühlte, ärgerte dies doch gewissermaßen meine Eitelkeit, und ich zwang mich, den Gefühlvollen zu spielen. Ich gab ihnen einige Küsse, aber diese waren ohne Seele, ohne Feuer; hierauf bat ich Edgar, seiner Landsmännin zu sagen, wenn ich nicht dreiviertel tot wäre, würde ich ihr beweisen, daß ich sie reizend fände. Sie beklagten mich. Ein Mensch, der dreimal vierundzwanzig Stunden lang nicht gegessen und nicht geschlafen hat, ist wenig empfänglich für die Reizungen der Liebe; aber Worte würden auf die beiden Priesterinnen keinen großen Eindruck gemacht haben, wenn Edgar ihnen nicht meinen Namen genannt hätte. Ich hatte einen Ruf, und sobald sie hörten, wer ich sei, sah ich sie von Ehrfurcht durchdrungen. Alle drei hofften, Bacchus und Comus würden Amor zu Hilfe kommen; ich ließ sie reden, aber ich wußte wohl, daß ihre Hoffnungen eitel sein würden.

Wir hatten ein Essen nach englischer Art, das heißt ohne das Wesentlichste: die Suppe. Ich nahm daher nur einige Austern mit einem köstlichen Graves zu mir; aber ich fühlte mich wohl, denn es machte mir Vergnügen, wie geschickt Edgar die beiden Nymphen beschäftigte.

Als die Freude auf ihrem Höhepunkt war, schlug der junge Tollkopf den Engländerinnen vor, den Hornpipe im Kostüm unserer Mutter Eva zu tanzen. Sie erklärten sich bereit unter der Bedingung, daß wir im Kostüm unseres Vaters Adam aufträten, und daß man blinde Musikanten kommen ließe. Ich erklärte, ich würde mich, um ihnen einen Gefallen zu tun, ebenfalls auskleiden; man dürfe jedoch bei meinem Schwächezustand nicht von mir erwarten, daß ich die Versucherin, die Schlange, nachahmen würde. Man erließ mir die Mühe des Auskleidens, unter der Bedingung, daß ich wie die anderen mich ausziehen solle, sobald ich den Stachel der Wollust verspüre. Dies versprach ich. Man holte die Blinden und schloß die Türen. Während die Instrumente gestimmt wurden, hatten die drei Toilette gemacht, und die Orgie begann.

Dies war einer jener Augenblicke, die mich viele Wahrheiten gelehrt haben. Bei dieser Gelegenheit erkannte ich, daß die Freuden der Liebe eine Wirkung und nicht eine Ursache der Fröhlichkeit sind. Ich hatte vor meinen Augen drei herrliche Menschenleiber von wundervoller Frische und regelmäßiger Schönheit; ihre Bewegungen, ihre anmutigen Gebärden, dazu die Musik – alles war entzückend, verführerisch; und trotzdem regte sich in mir nichts. Der Tänzer behielt die Miene des Eroberers auch während des Tanzes, und ich wunderte mich, daß ich selber niemals ein gleiches versucht hatte. Nach dem Tanze feierte er die beiden Schönen, indem er von der einen zur anderen ging, bis die natürliche Wirkung ihn zur Ruhe zwang.

Die Französin kam zu mir, um sich zu überzeugen, ob ich nicht irgendein Lebenszeichen gäbe; sie fühlte jedoch meine Nichtigkeit und erklärte mich für invalide.

Als die Orgie zu Ende war, bat ich Edgar, der Französin vier Guineen zu geben und die Zeche zu bezahlen; denn ich hatte nur wenig Geld bei mir. Hätte ich am Morgen ahnen können, daß ich, anstatt mich zu ertränken, einer so hübschen Partie beiwohnen würde?

Da ich bei dem jungen Engländer diese Schuld gemacht hatte, so verschob ich meinen Selbstmord auf den nächsten Tag. Als die Nymphen fortgegangen waren, wollte ich mich von Edgar verabschieden. Aber das war mir unmöglich; er sagte mir, ich sähe schon viel besser aus als am Morgen; daß ich die Austern, die ich gegessen, nicht wieder von mir gegeben habe, sei ein Beweis, daß ich nur nötig habe, mich etwas zu zerstreuen, um mich am nächsten Tage wieder ganz wohl befinden und herzhaft essen zu können. Ich solle daher mit ihm die Nacht in Ranelagh verbringen. Aus Müdigkeit und auch aus Gleichgültigkeit gab ich nach. Ich stieg mit Edgar in einen Fiaker, um den Grundsatz der Stoiker zu befolgen, den man mir in meiner kindlichen Jugend eingeprägt hatte: Sequere deum – folge Gott!

Mit heruntergekrempten Hüten traten wir in die schöne Rotunde ein. Es waren viele Leute anwesend, und wir gingen unter ihnen, die Hände auf den Rücken gekreuzt, auf und ab, wie es bei den Engländern Mode ist oder wenigstens damals war.

Es wurde ein Menuett getanzt. Eine Dame, die mir den Rücken zudrehte, tanzte sehr gut, und ich blieb daher stehen, um abzuwarten, daß sie sich umdrehte. Ich wollte gern ihr Gesicht sehen, weil ihr Kleid und ihr Hut genau denen glichen, die ich ein paar Tage vorher der Charpillon geschenkt hatte. Sie glich dieser auch an Wuchs und Haltung; da ich aber die Unglückliche für tot oder sterbend hielt, so flößte diese Ähnlichkeit mir keinen Verdacht ein. Plötzlich drehte die Tänzerin sich um, hob das Gesicht, und ich sah – die Charpillon in eigener Person!

Edgar sagte mir später, er habe in diesem Augenblick geglaubt, ich würde Krämpfe bekommen, so fühlbar hätte ich gezittert.

Ich war indessen von der Krankheit des Mädchens so fest überzeugt, daß ich meinen Augen nicht traute. Der Zweifel trug dazu bei, mich wieder zur Besinnung zu bringen. Es ist nicht möglich, sagte ich zu mir, daß es die Charpillon ist. Eine andere kann ihr ähnlich sehen, oder meine geschwächten Sinne können mich getäuscht haben.

Die Tänzerin war ganz und gar mit ihrem Tänzer beschäftigt und sah sich nicht nach den Zuschauern um; aber ich konnte warten. In diesem Augenblick erhob sie die Arme, um die Verbeugung am Schluß des Menuetts zu machen. Unwillkürlich trat ich auf sie zu, wie wenn ich sie zum nächsten Tanz hätte auffordern wollen. Sie sah mich an und lief fort.

Ich beherrschte mich. Aber als ich nun Gewißheit hatte, erneuerte sich mein Zittern, und ich mußte mich schnell hinsetzen. In einem Augenblick überströmte ein kalter Schweiß mein Gesicht und meinen ganzen Körper. Als Edgar diese Krisis sah, riet ei mir, Tee zu trinken; ich bat ihn jedoch, mich einige Augenblicke mir selber zu überlassen und sich auf eigene Hand zu amüsieren.

Die Revolution, die in mir vorging, ließ mich böse Folgen befürchten, denn ich zitterte an allen Gliedern, und das Herz klopfte mir so stark, daß ich mich nicht hätte aufrecht halten können, wenn ich hätte aufstehen wollen. Da die Krisis mich nicht hatte töten können, so gab sie mir neues Leben. Welch wunderbare Veränderung! Ich fühlte allmählich alle meine Sinne sich beruhigen, und konnte mit Vergnügen den Glanz der vielen Kerzen auf mich wirken lassen. Anfangs allerdings rief dieses Licht, das meine Netzhaut traf, eine Art Schamgefühl in mir hervor; aber dieses war nur ein Zeichen, daß ich geheilt war, und darum war es mir angenehm. Ich machte nach und nach, sozusagen, alle Zwischengefühle von der Verzweiflung bis zur Begeisterung durch. Ich empfand ein solches Erstaunen über meine neue Lage, daß ich, als Edgar nicht wiederkam, schon zu glauben begann, ich würde ihn überhaupt nicht wiedersehen. Dieser Jüngling, sagte ich bei mir selber, ist mein Genius, mein Schutzengel, mein guter Geist, der Edgars irdische Formen angenommen hat, um mich wieder zur Vernunft zu bringen. Und ich würde bei diesem Gedanken steif und fest geblieben sein, hätte ich ihn nicht nach einiger Zeit wiedererscheinen sehen.

Der Zufall hätte wohl Edgar eines jener verführerischen Geschöpfe zuführen können, die uns für einen Augenblick, für eine Nacht alles vergessen lassen. Er hätte Ranelagh verlassen können, ohne soviel Zeit zu haben, um mir Bescheid zu sagen; dann wäre ich allein nach London zurückgefahren und wäre überzeugt gewesen, nur seine menschliche Form gesehen zu haben. Würde ich mich von meinem Irrtum überzeugt haben, wenn ich ihn einige Tage später wieder gesehen hätte? Das ist wohl möglich, aber fest behaupten kann ich das nicht. In mir war stets ein Keim von Aberglauben, eine Neigung zum Spiritismus. Ich bin weit entfernt, mich dessen zu rühmen; aber diese Erinnerungen sind meine Beichte, und der Leser hat ein Recht darauf, daß ich mich ganz und gar enthülle und nichts vor ihm verberge.

Edgar kam endlich wieder, Er war sehr lustig, aber auch unruhig um mich. Darum war er sehr überrascht, als ich lebhaft allerlei scherzhafte Bemerkungen über das Treiben in diesem schönen Kuppelsaal machte.

»Mein lieber Freund,« rief er, »du lachst ja! Du bist also nicht mehr traurig?«

»Nein, mein guter Genius! Aber hungrig bin ich, und ich möchte dich um eine große Gefälligkeit bitten, wenn du nicht etwa morgen eine dringende Abhaltung hast.«

»Ich bin bis übermorgen frei und stehe dir vollkommen zur Verfügung.«

»Ich verdanke dir das Leben – das Leben, verstehst du wohl? Aber damit dieses Geschenk vollständig sei, mußt du mit mir diese Nacht und den ganzen nächsten Tag verbringen.«

»Ich stehe dir zu Diensten.«

»Laß uns nach meiner Wohnung fahren!«

»Gern.«

Ich sagte ihm unterwegs nichts. Als ich nach Hause kam, fand ich weiter nichts Neues als einen Brief von Goudar. Ich steckte diesen in die Tasche, da ich alle Geschäfte auf den nächsten Tag verschieben wollte.

Es war ein Uhr in der Nacht. Man setzte uns ein gutes Abendessen vor, und ich aß oder vielmehr: ich verschlang die Speisen. Edgar wünschte mir Glück zu meinem Appetit. Dann gingen wir zu Bett, und ich schlief fest und ruhig bis zum Mittag. Als ich aufgestanden war, ging ich in Edgars Zimmer, um mit ihm zu frühstücken. Ich erzählte ihm meine Geschichte, deren Ende mein Tod gewesen wäre, wenn ich ihm nicht zufällig auf der Westminster- Brücke begegnet wäre, und wenn nicht sein kluger Blick an meinen verstörten Zügen meinen Seelenzustand erraten hätte. Dann führte ich ihn in mein Zimmer und zeigte ihm mein Schreibpult, meine Kassette und mein Testament. Hierauf öffnete ich Goudars Brief; er enthielt nur die Worte: »Ich bin sicher, daß das betreffende Mädchen durchaus nicht im Sterbcn liegt, sondern mit Lord Grosvenor nach Ranelagh gegangen ist.«

Edgar, der trotz seinem ausgelassenen Lebenswandel sehr vernünftige Gedanken hatte, war wütend über das Benehmen der Charpillon. Überzeugt, mir das Leben gerettet zu haben, umarmte er mich und sagte, er werde den Tag, wo er mich verhindert habe, mir wegen eines so unwürdigen Geschöpfes den Tod zu geben, stets als den schönsten seines Lebens betrachten. Er konnte den niederträchtigen Charakter der Charpillon und ihrer unwürdigen Mutter kaum begreifen. Er sagte mir, ich hätte das Recht, die Mutter verhaften zu lassen, obgleich die Tochter mir die Wechsel nicht wiedergegeben hätte; denn in ihrem Brief an mich gestehe die Mutter die Schuld zu und erkenne an, daß die Tochter meine Wechsel nur in Verwahrung habe.

Ohne ihm etwas von meinen Absichten zu sagen, beschloß ich augenblicklich, sie verhaften zu lassen. Bevor wir uns am Abend trennten, schworen wir uns ewige Freundschaft, und gewiß hatte er von meiner Seite Anspruch darauf. Man wird bald sehen, wie schlecht es dem liebenswürdigen Engländer erging, weil er mir so gut gedient hatte.

Stolz wie ein Mensch, der einen großen Sieg errungen hat, ging ich am nächsten Morgen zu dem Sachwalter, der mich in der Angelegenheit mit dem Grafen Schwerin vertreten hatte. Nachdem er meinen Bericht gehört hatte, sagte er mir, mein Recht sei unbestreitbar und ich könne die drei Schwestern, das heißt die Mutter und die beiden Tanten des schurkischen Frauenzimmers verhaften lassen. Unverzüglich ging ich zu dem Richter, der mich schwören ließ und mir sodann den Wahrspruch einhändigte. Derselbe Gerichtsbote, der den Grafen Schwerin verhaftet hatte, übernahm auch diese Sache; aber er kannte die Weibsbilder nicht, und es war notwendig, daß er sie genau kannte; er war sicher, daß er in ihr Haus gelangen und sie überraschen würde; aber er durfte natürlich nur die verhaften, die in dem Haftbefehl bezeichnet waren, und es war möglich, daß mehrere andere Frauen sich im Hause befanden.

Ich konnte den heiklen Auftrag, ihm die gesuchten Personen zu bezeichnen, keinem Menschen anvertrauen; denn Goudar würde ihn nicht übernommen haben. Ich entschloß mich daher, den Gerichtsboten zu einer Stunde, wo die drei Megären bestimmt im Wohnzimmer beisammen sein würden, in das Haus zu führen.

Ich bestellte ihn auf acht Uhr nach der Denmark-Street, an deren Ecke ich meinen Fiaker zu seiner Verfügung halten ließ, und sagte ihm, er solle in das Haus eintreten, sobald man ihm die Tür geöffnet haben werde. In demselben Augenblick würde auch ich eintreten, und er könnte dann in aller Sicherheit die drei Frauen festnehmen, die ich ihm bezeichnen würde. Die Gerichtsbeamten sind in England sehr pünktlich; alles verlief daher, wie ich es angeordnet hatte. Der Gerichtsdiener betrat mit einem Unterbeamten das Wohnzimmer, und ich folgte ihm auf dem Fuße. Ich bezeichnete ihm die Mutter und die beiden Schwestern und entfernte mich dann eiligst, denn der Anblick der Charpillon machte mich schaudern, obwohl ich nur einen flüchtigen Blick auf sie warf. Sie saß schwarz gekleidet am Kamin und drehte mir den Rücken zu. Ich glaubte geheilt zu sein und fühlte auch, daß ich es wirklich war; aber die tiefe Wunde, die die Treulose mir geschlagen hatte, war kaum vernarbt, und ich weiß nicht, wie es hätte kommen können, wenn in diesem Augenblick die Circe die Geistesgegenwart besessen hätte, mir um den Hals zu fallen und für ihre Mutter und ihre Tanten um Gnade zu bitten.

Sobald ich sah, daß der Stab die drei Weiber berührte, entfernte ich mich schnell. Ich kostete die ganze Wonne der Rache – eine ungeheuere Lust, die den, der die Rache übt, glücklich macht. Leider aber sind die Rachedürstigen nur glücklich, solange sie auf die Rache warten oder sie wünschen. Wirklich glücklich ist nur der Gefühllose, der nicht hassen kann und darum niemals den Wunsch nach Rache verspürt. Der gereizte Eifer, womit ich die drei Kupplerinnen und Betrügerinnen verhaften ließ, und mein Erschrecken beim Anblick der Hinterlistigen, die mich bis zum Selbstmord getrieben hatte, waren ein Beweis, daß ich noch nicht frei war. Um ganz frei zu werden, mußte ich sie fliehen und vergessen.

Am nächsten Morgen kam Goudar sehr vergnügt zu mir und sagte mir, er wünsche mir Glück zu dem Mut, den ich am Abend vorher bewiesen habe; denn dieser bürge dafür, daß ich entweder von meiner Leidenschaft geheilt oder daß ich verliebter sei denn je. »Ich komme eben von der Charpillon und fand im Hause nur die Großmutter, die bitterlich weinte, und einen Advokaten, von dem sie ohne Zweifel sich Rat holen wollte.«

»Sie wissen also schon von der Geschichte?«

»Ja; ich kam eine Minute, nachdem Sie fort waren, und ich blieb solange, bis die drei alten Vetteln sich entschlossen hatten, dem Konstabler zu folgen. Anfangs leisteten sie Widerstand; sie behaupteten, er müsse ihnen bis zum Morgen Aufschub geben; gleich nach Tagesanbruch würden sie Leute finden, die für sie Bürgschaft leisten würden. Unterdessen waren auch die beiden Klopffechter gekommen; sie mischten sich in die Sache ein und zogen sogar blank, um dem Gerichtsboten zu verhindern, daß er die Weiber mit Gewalt fortführte; aber der Mann, der die Konstabler mitgebracht hatte, entwaffnete sie alle beide, führte hierauf die drei Gefangenen fort und nahm auch die Degen mit. Die Charpillon wollte sie begleiten, hielt es aber dann für besser, sich sofort auf den Weg zu machen, um sie möglichst bald wieder in Freiheit setzen zu können.«

Zum Schluß sagte Goudar mir, er werde sie als Freund des Hauses im Gefängnis besuchen, und wenn ich zu einem Vergleich bereit sei, wolle er gern vermitteln. Ich dankte ihm und sagte, ich würde mich mit den elenden drei Weibern nur einigen, wenn sie mir meine sechstausend Franken zahlten, und sie müßten sich noch sehr glücklich schätzen, daß ich nicht auch noch Zinsen verlangte, um mich wenigstens zum Teil für die mir abgegaunerten Summen schadlos zu halten.

Vierzehn Tage vergingen, ohne daß ich etwas von der Geschichte hörte. Die Charpillon ging jeden Tag zum Essen zu den Gefangenen, die auf ihre Kosten lebten. Dies mußte ihr viel Geld kosten, denn sie hatten zwei Zimmer, und ihr Wirt, ein wahrer Charon, erlaubte ihnen nicht, sich das Essen von draußen kommen zu lassen. Goudar sagte mir, die Charpillon habe ihrer Mutter erklärt, sie würde sich niemals dazu entschließen, mich um ihre Freilassung zu bitten, selbst wenn sie sicher wäre, daß sie alles erreichen würde, wenn sie zu mir ginge. Ich war in ihren Augen das abscheulichste Ungeheuer. Wenn ich ihr auch nicht zugeben kann, daß sie ein geringeres Ungeheuer war als ich, so muß ich allerdings eingestehen, daß sie bei dieser Gelegenheit mehr Charakter zeigte als ich. Aber wir befanden uns in einer völlig entgegengesetzten Lage: Ich hatte mich nur in der Erregung der Leidenschaft gegen sie so benommen, wie ich es tat, sie hatte nur aus Eigennutz so gehandelt und vielleicht auch aus Launenhaftigkeit. Vergebens hatte ich während dieser vierzehn Tage Edgar gesucht. Da sah ich ihn zu meiner großen Freude eines Morgens mit lachendem Gesicht bei mir eintreten und mich freundschaftlich begrüßen.

»Wo hast du denn während dieser ganzen Zeit gesteckt? Ich habe dich überall gesucht.«

»Die Liebe, Freund, hat mich während dieser zwei Wochen in ihren unzugänglichen Gefängnissen verborgen gehalten. Ich bringe dir Geld.«

»Mir? Von wem denn?«

»Von den Damen Ansperger. Gib mir eine Quittung und die erforderliche Abstandserklärung; denn ich muß dich selber in die Arme der armen Charpillon führen, die seit vierzehn Tagen fortwährend weint.«

»Ich begreife ihre Tränen und bewundere sie, daß sie gerade den, der mir die unschätzbarsten Dienste geleistet und mich aus ihren Banden befreit hat, zu ihrem Beschützer gewählt hat. Weiß sie, daß ich dir mein Leben verdanke?«

»Sie weiß nichts weiter, als daß wir zusammen in Ranelagh waren, als du sie tanzen sahst, und daß du sie für tot oder sterbend gehalten hattest; ich habe ihr aber alles erzählt, seitdem ich ihre Bekanntschaft machte.«

»Ohne Zweifel hat sie dich gebeten, dich bei mir zu ihren Gunsten zu verwenden?«

»Durchaus nicht. Sie hat nur gesagt, du seiest ein undankbares Scheusal, denn sie habe dich geliebt und dir wirkliche Beweise ihrer Zärtlichkeit gegeben; jetzt aber verabscheut sie dich.«

»Gott sei Dank! Das unwürdige Geschöpf! Aber es ist eigentümlich, daß sie dich zu gewinnen gewußt hat, um ihre Rache an mir auszuüben. Sie betrügt dich, mein lieber Freund, und dich trifft ihre Strafe.«

»Das ist nicht unmöglich; aber jedenfalls ist es eine sehr süße Strafe.«

»Ich wünsche dir alles Glück; aber nimm dich in acht! Die Spitzbübin ist eine gewohnheitsmäßige Betrügerin.«

Edgar zählte mir zweihundertfünfzig Guineen auf, und ich gab ihm dafür Quittung und Abstandserklärung, womit er sich zufrieden entfernte.

Mußte ich nun nicht glauben, daß endlich alles zwischen uns zu Ende sei? Meine Hoffnung war vergeblich.

In jenen Tagen vermählte sich der Erbprinz von Braunschweig, der jetzige regierende Herzog, mit der Schwester des Königs von England. Der Gemeinderat erklärte ihn zum englischen Bürger mit allen Rechten eines solchen, und die Londoner Goldschmiedszunft ernannte ihn zu ihrem Mitglied und ließ ihm durch den Lordmayor und die Aldermen die Ernennungsurkunde in einem prachtvollen goldenen Kasten überreichen. Der Prinz war der erste Edelmann Europas und verschmähte trotzdem nicht, den Glanz seines vierzehn Jahrhunderte alten Hauses durch diese neue Würde zu erhöhen.

Bei dieser Gelegenheit verschaffte Lady Harrington der Cornelis einen Verdienst von zweihundert Guineen; sie vermietete ihr Haus 41g am Soho-Square an einen Koch, der gegen ein Eintrittsgeld von drei Guineen tausend Personen Ball und Abendessen gab. Die Neuvermählten und das ganze königliche Haus mit Ausnahme des Königs und der Königin waren anwesend. Auch ich war für meine drei Guineen unter den Gästen, mußte aber mit noch sechshundert anderen stehen; denn an den Tischen war nur für vierhundert Personen Platz, und es gab sogar Damen, die nicht sitzen konnten.

Ich sah an diesem Abend Lady Grafton neben dem Herzog von Cumberland sitzen. Sie trug ihr Haar ohne Puder und bis zur Mitte der Stirn ins Gesicht gekämmt. Die anderen Damen sprachen sich entrüstet dagegen aus, denn diese Frisur machte häßlich. Sie wußten gar nicht, was sie alles gegen die Neuerung sagen sollten, und in weniger als sechs Monaten wurde die Frisur á la Grafton in ganz England allgemein angenommen, drang über das Meer und verbreitere sich in ganz Europa, wo sie ungerechterweise einen anderen Namen erhielt. Diese Mode dauert noch heute und ist die einzige, die sich eines Alters von dreißig Jahren rühmen kann, obgleich sie bei der Entstehung ausgezischt wurde.

Bei diesem Abendessen, für das der Gastgeber dreitausend Guineen oder fünfundsiebzigtausend Franken erhalten hatte, fand man alles, was der verwöhnteste Geschmack nur wünschen konnte. Da ich jedoch nicht tanzte und in keine von den Schönen verliebt war, die das Fest zierten, so entfernte ich mich um ein Uhr. Es war ein Sonntag, und an diesem Tage brauchte in England kein Mensch, mit Ausnahme der Verbrecher, eine Verhaftung zu befürchten. Trotzdem widerfuhr mir folgendes:

Ich fuhr in meinem prachtvollen Galakleide nach Hause; mein Neger Jarbe und ein anderer Bedienter standen hinten auf meinem Wagen. Kaum waren wir in meine Straße eingefahren, so hörte ich eine Stimme, die mir zurief: »Gute Nacht, Seingalt!« Als ich meinen Kopf zum Schlage hinausbeugte, um zu antworten, sah ich meinen Wagen von Leuten umringt, die mit Pistolen bewaffnet waren, und einer von ihnen rief mir zu: »Im Namen des Königs!«

Meine Bedienten fragten sie, was sie von mir wollten. Sie antworteten: »Ihn ins Newgate-Gefängnis bringen; denn der Sonntag schützt nicht die Verbrecher.«

»Und was ist denn mein Verbrechen?«

»Das werden Sie im Gefängnis erfahren.«

»Mein Herr hat das Recht, dies zu wissen, bevor er ins Gefängnis geht!« rief Jarbe.

»Aber der Richter schläft.«

Jarbe bestand auf seinem Verlangen, und die Vorübergehenden, die von dem Vorgang in Kenntnis gesetzt wurden, riefen einstimmig, ich hätte recht.

Schließlich fügte der Anführer sich und sagte mir, er würde mich nach seinem Hause in der City bringen.

»Gut,« sagte ich, »fahren wir in die City, damit die Sache mal ein Ende nimmt.«

Wir hielten vor einem Hause, und man führte mich in ein großes Zimmer zu ebener Erde, worin sich nur Bänke und einige Tische befanden. Meine Bedienten schickten den Wagen fort und kamen herein, um mir Gesellschaft zu leisten. Die sechs Sbirren, die mir nicht von der Seite weichen durften, ließen mir sagen, ich solle ihnen etwas zu essen und zu trinken geben lassen. Ich befahl Jarbe, ihren Wunsch zu erfüllen und freundlich und höflich gegen sie zu sein.

Da ich kein Verbrechen begangen hatte, so war ich sehr ruhig; ich konnte nur infolge einer Verleumdung verhaftet worden sein, und da ich wußte, daß in London die Rechtspflege gut und schnell ist, so konnte mein Unglück nur vorübergehend sein. Ich machte mir nur den Vorwurf, nicht den guten Grundsatz befolgt zu haben, daß man bei Nacht niemals antworten soll; denn sonst würde ich diese Unannehmlichkeit vermieden haben. Da ich aber den Fehler einmal begangen hatte, so blieb mir nichts weiter übrig, als mich in Geduld zu fassen. Ich stellte einige scherzhafte Betrachtungen an über meinen plötzlichen Übergang aus einer glänzenden Festversammlung zu der niederträchtigen Gesellschaft, in der ich mich, wie ein Fürst gekleidet, in diesem Augenblick befand.

Endlich wurde es Tag, und der Besitzer der Schenke, worin ich mich befand, erkundigte sich, wer der Verbrecher sei, der bei ihm die Nacht zugebracht habe. Ich mußte unwillkürlich lachen, als er bei meinem Anblick auf die Sbirren schimpfte, die ihn nicht geweckt hätten, um mir ein Zimmer zu geben; denn ihm entging dadurch mindestens eine Guinee, die er mir dafür würde abgenommen haben. Endlich meldete man mir, daß der Richter seine Sitzung halte, und daß es Zeit sei, mich vor ihn zu führen.

Man ließ eine Sänfte kommen, denn der Pöbel würde mich mit Kot beworfen haben, wenn ich in meinem Galakleide es gewagt hätte, zu Fuß die Straßen zu betreten.

Im Gerichtssaal bemerkte ich etwa sechzig Personen, die alle erstaunt auf den Barbaren sahen, der es wagte, mit einem so unverschämten Luxus sich in einer Gerichtssitzung zu zeigen.

Am Ende des Saales bemerkte ich auf einem erhöhten Lehnstuhl einen Mann, der mein Richter zu sein schien. Er war es in der Tat, und er war blind. Eine breite Binde bedeckte seine Augen; denn da er nichts sah, so konnte ihm nichts daran liegen, die Augen offen zu haben. Ein Herr, der neben mir stand und erriet, daß ich ein Fremder war, sagte mir auf Französisch: »Seien Sie nur ruhig, Herr Fielding ist ein gerechter und vernünftiger Richter.«

Ich dankte dem wohlwollenden Unbekannten und freute mich, einen liebenswürdigen und geistvollen Mann vor mir zu sehen, den Verfasser mehrerer ausgezeichneter Werke, auf die England stolz ist.

Als ich an der Reihe war, sagte der Schreiber, der an seiner Seite saß, ihm meinen Namen, wie mir schien.

»Signor Casanova,« sagt Herr Fielding in sehr gutem Italienisch zu mir, »haben Sie die Güte näher zu treten; ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Hocherfreut, daß er mich in meiner Muttersprache angeredet, drängte ich mich durch die Menge, trat an die Schranke vor und rief: »Eccomi, signore.«

Er fuhr dann fort und sagte mir, immer auf Italienisch: »Herr von Casanova aus Venedig, Sie sind zu lebenslänglicher Haft in den Gefängnissen des Königs von Großbritannien verurteilt.«

»Mein Herr, ich bin neugierig, zu erfahren, wegen welchen Verbrechens ich verurteilt bin. Würden Sie wohl die Güte haben, es mir zu nennen?«

»Ihre Neugier ist berechtigt und sehr natürlich; denn bei uns in England hält die Justiz sich nicht für berechtigt, irgendeinen Menschen zu verdammen, ohne ihm den Grund seiner Verurteilung mitzuteilen. Sie sind angeklagt – und die Anklage wird durch zwei Zeugen unterstützt –, daß Sie ein hübsches Mädchen entstellen wollten. Dieses junge Mädchen verlangt nun von der Justiz Schutz gegen solche Verunstaltung, und die Justiz findet kein besseres Mittel, als Sie in vitam aeternam im Gefängnis zu halten. Schicken Sie sich also an, ins Gefängnis zu gehen.«

»Mein Herr, die Anklage ist durchaus verleumderisch; das beschwöre ich. Es kann wohl sein, daß das Mädchen, wenn es sein eigenes Verhalten prüft, Anlaß zu der Befürchtung hat, daß ich Lust zu einer solchen Handlungsweise haben könnte, aber ich kann Ihnen versichern, daß ich eine solche Lust bis jetzt noch nicht gehabt habe, und ich glaube, dafür bürgen zu können, daß solche Lust mir niemals kommen wird.«

»Sie hat zwei Zeugen.«

»Diese sind falsch. Aber, hochwürdigster Richter, dürfte ich es wagen. Sie um den Namen meiner Anklägerin zu bitten?«

»Es ist Miß Charpillon.«

»Ich kenne sie; aber ich habe ihr stets nur Beweise meiner Zärtlichkeit gegeben.«

»Es ist also nicht wahr, daß Sie sie entstellen wollten?«

»Nein, ganz gewiß nicht.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen Glück. Sie können in Ihrem Hause zu Mittag speisen, aber Sie müssen zwei Bürgen stellen; zwei Hausbesitzer müssen uns dafür bürgen, daß Sie niemals ein solches Verbrechen begehen werden.«

»Wer wird es wagen, das Versprechen zu geben, daß ich eine gewisse Tat nicht begehen werde?«

»Zwei angesehene Engländer, deren Achtung Sie gewonnen haben und die wissen, daß Sie kein Schurke sind. Lassen Sie sie holen! Wenn sie ankommen, bevor ich zu Tisch gehe, werde ich Sie sofort in Freiheit setzen lassen.«

Die Sbirren führten mich wieder an den Ort, wo ich die Nacht verbracht hatte. Schnell schrieb ich meinem Bedienten die Namen aller Hausbesitzer auf, die mir einfielen. Ich beauftragte sie, ihnen den Grund zu sagen, warum ich mich genötigt sähe, sie zu belästigen. Ich empfahl ihnen Eile. Sie sollten vor Mittag wiederkommen; aber London ist ja so groß. Sie kamen nicht, und der Richter ging zum Essen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß er am Nachmittag wieder Sitzung hielte. Aber auf einmal kam der Anführer der Sbirren mit einem Dolmetscher zu mir und sagte mir, er wolle mich nach Newgate bringen. Das ist das Londoner Gefängnis, in das man nur die elendesten und verruchtesten Verbrecher bringt.

Ich ließ ihm sagen, ich erwarte Bürgen und er könne mich gegen Abend nach dem Gefängnis schaffen, falls diese nicht kommen sollten. Er war jedoch schwerhörig und ließ mir sagen, sobald meine Bürgen da wären, würde man mich aus dem Gefängnis holen. Es müßte mir also gleichgültig sein. Der Dolmetscher sagte mir leise, der Mensch sei sicherlich von meinen Gegnern bezahlt, um mir Verdruß zu bereiten; aber es stehe nur bei mir, an diesem Ort zu bleiben, denn ich brauche ihm nur Geld zu geben.

»Und wieviel muß ich ihm geben?«

Der Dolmetscher sprach mit dem Mann und sagte mir, zehn Guineen würden ihn dazu bestimmen, mich bis zum Abend bei sich zu behalten.

»Sagen Sie ihm, ich sei neugierig, das Gefängnis zu sehen.«

Man ließ einen Fiaker kommen, und wir fuhren hin.

Als ich diesen Ort der Verzweiflung betrat, eine wahre Hölle, die der Phantasie eines Dante würdig ist, feierte eine Menge Unglücklicher, von denen einige im Laufe dieser Woche gehenkt werden sollten, meine Ankunft mit Spottreden auf meinen glänzenden Anzug. Als sie sahen, daß ich nicht mit ihnen sprach, wurden sie ärgerlich und fingen an zu schimpfen. Der, Kerkermeister beschwichtigte sie, indem er ihnen sagte, ich sei ein Fremder und könne kein Wort Englisch; hierauf führte er mich in ein Zimmer, sagte mir, was es kostete, und teilte mir die Gefängnisregeln mit, wie wenn es gewiß gewesen wäre, daß ich für längere Zeit bei ihm bleiben würde. Aber schon eine halbe Stunde darauf kam derselbe Kerl, der mich um die zehn Guineen hatte prellen wollen, und sagte mir, meine Bürgen warteten beim Richter, und mein Wagen stände vor der Tür.

Ich dankte dem lieben Gott von ganzem Herzen, ging hinaus und stand bald darauf wieder vor dem Manne mit den verbundenen Augen. Ich sah meinen Schneider Pégu und meinen Weinhändler Maisonneuve, die mir sagten, sie schätzten sich glücklich, mir diesen geringen Dienst erweisen zu können. Einige Schritte davon bemerkte ich die elende Charpillon und den niederträchtigen Rostaing mit einem Anwalt und Goudar. Der Anblick regte mich nicht weiter auf und ich begnügte mich damit, ihnen einen Blick tiefer Verachtung zuzuwerfen.

Als meine beiden Bürgen erfahren hatten, für welchen Betrag sie gutsagen sollten, unterzeichneten sie mit Vergnügen; hierauf sagte der Richter in liebenswürdigstem Tone zu mir: »Signor de Casanova, unterschreiben Sie für die doppelte Bürgschaftssumme! Sodann erkläre ich Sie vollkommen frei!«

Ich trat an den Tisch des Schreibers, fragte nach der Höhe der Sicherstellung und erfuhr, daß diese vierzig Guineen betrug, daß also jeder der Bürgen für zwanzig einzustehen hatte. Indem ich unterschrieb, sagte ich zu Goudar: »Die Schönheit der Charpillon wäre vielleicht auf zehntausend Guineen bewertet worden, wenn der Richter sie hätte sehen können.«

Als ich hierauf die Namen der beiden Zeugen zu erfahren verlangte, nannte man mir Rostaing und Bottarelli. Ich warf einen verächtlichen Blick auf Rostaing, der bleich wie der Tod dastand, sah aber aus einem Gefühl des Mitleids die Charpillon nicht an und sagte laut: »Die Zeugen sind der Anklage würdig!«

Hierauf grüßte ich den Richter ehrfurchtsvoll, obgleich er mich nicht sehen konnte, und fragte den Protokollführer, ob ich etwas für die Kosten zu bezahlen hätte. Seine verneinende Antwort rief einen Wortwechsel zwischen ihm und dem Anwalt der Schönen hervor, die zu ihrem tödlichen Ärger sich nicht entfernen durfte, bevor sie die Kosten meiner Verhaftung bezahlt hatte.

Als ich eben gehen wollte, sah ich fünf oder sechs angesehene Engländer erscheinen, die für mich bürgen wollten und die nun ihr tiefes Bedauern aussprachen, daß sie zu spät gekommen seien. Sie baten mich um Verzeihung für die englischen Gesetze, die nur zu oft für Ausländer sehr lästig seien.

Nachdem ich einen der langweiligsten Tage meines Lebens verbracht hatte, sah ich mich endlich wieder in meinem Heim. Ich war glücklich, mich zu Bett legen zu können, und mußte doch über mein Mißgeschick lachen.

Fünfzehntes Kapitel


Bottarelli – Ich erhalte durch Herrn de Saa einen Brief von Pauline. – Der rächende Papagei. – Pocchini. – Der Venetianer Guerra. – Ich finde Sarah wieder und beschließe, sie zu heiraten und ihr nach der Schweiz zu folgen. – Die Hannoveranerinnen.

So war also der erste Akt der Komödie meines Lebens beendigt; der zweite begann am nächsten Morgen. Als ich gerade eben mein Bett verließ, hörte ich Lärm an meiner Tür; ich sah zum Fenster hinaus und erblickte Pocchini, den niederträchtigen Halunken, der mich in Stuttgart auf so gemeine Weise bestohlen hatte, wie der Leser sich vielleicht noch erinnern wird. Er verlangte Einlaß und wollte nicht so lange warten, bis man ihn mir gemeldet hätte. Sein Anblick empörte mich; ich rief ihm zu, ich könne ihn nicht empfangen, und schloß mein Fenster.

Einige Augenblicke darauf sah ich Goudar eintreten. Er brachte mir die »St. James Chronicle,« worin in aller Kürze die Geschichte meiner Verhaftung und Wiederentlassung gegen eine Sicherheit von achtzig Guineen erzählt war. Mein Name und der der Schönen waren nicht genannt; dagegen lobte der Zeitungsschreiber die Herren Rostaing und Bottarelli, die er mit ihren vollen Namen anfühlte. Ich bekam Lust, diesen Bottarelli kennen zu lernen, und bat Goudar, mich zu ihm zu führen. Martinelli, der inzwischen ebenfalls gekommen war, schloß sich uns an.

In einem armseligen Zimmer des dritten Stockwerkes eines armseligen Hauses bot sich ein Bild des tiefsten Elends meinen Augen: ich erblickte ein Weib und vier zerlumpte Kinder; an einem armseligen Tisch, der an Philemon und Baucis erinnerte, saß, in einen schlechten Schlafrock gehüllt, ein armer Mann und schrieb. Es war Bottarelli. Bei unserem Anblick stand er auf. Ich hatte Mitleid mit ihm und fragte ihn ganz ruhig: »Mein Herr, kennen Sie mich?«

»Nein, mein Herr.«

»Ich bin jener Casanova, den Sie ins Gefängnis Newgate werfen wollten, indem Sie eine Verleumdung durch ein falsches Zeugnis unterstützten.«

»Mein Herr, es tut mit leid; aber um Gottes willen, sehen Sie meine Familie: ich konnte ihr kein Brot geben. Gerne stehe ich Ihnen ein anderes Mal umsonst zu Diensten.«

»Aber fürchten Sie denn nicht den Galgen?«

»Nein; denn ein falscher Zeuge wird nicht zum Galgen verurteilt. Außerdem ist nichts schwieriger, als in London ein falsches Zeugnis nachzuweisen.«

»Man hat mir gesagt, Sie seien Dichter.«

»Ja, ich habe die Dido verlängert und den Demetrius abgekürzt.«

»Das sind allerdings schöne Ruhmestitel.«

Der Gauner flößte mir mehr Verachtung als Haß ein. Ich drehte ihm den Rücken zu und gab aus Mitleid seiner Frau eine Guinee; sie schenkte mir dafür ein elendes Machwerk ihres Mannes: Das enthüllte Geheimnis der Freimaurer. Dieser Bottarelli war in seiner Vaterstadt Pisa Mönch gewesen; er hatte von dort eine Nonne entführt und diese in London geheiratet.

Einige Tage darauf bereitete Herr de Saa mir eine große Überraschung, indem er mir persönlich einen Brief von meiner schönen Portugiesin überbrachte. Sie bestätigte mir das Unglück meines armen Clairmont und schrieb mir, sie sei bereits mit dem Grafen Al…. vermählt. Es war für mich eine eigentümliche Überraschung, als Herr de Saa mir versicherte, er habe sofort nach Paulinens Ankunft in London gewußt, wer sie sei. Das ist die Marotte aller Diplomaten; man soll glauben, daß ihnen nichts entgehe und daß es für sie kein Geheimnis gebe. Saa war allerdings nicht nur ein tadelloser Ehrenmann, sondern auch ein tüchtiger Diplomat, und man konnte ihm daher diese Schwäche, die gewissermaßen zu seinem Beruf gehörte, wohl hingehen lassen; die meisten aber, für die diese Entschuldigung nicht gilt, machen sich nur lächerlich.

Herr de Saa war von der Charpillon ziemlich ebenso schlecht behandelt worden wie ich, und wir hätten uns gegenseitig trösten können; aber wir sprachen nicht von dem Frauenzimmer.

Als ich einige Tage darauf müßig durch die Stadt streifte, kam ich an einen Ort, den man den Papageienmarkt nannte. Ich unterhielt mich damit, diese interessanten Tierchen anzusehen, und bemerkte ein ganz junges in einem schönen Käfig. Auf meine Frage, welche Sprache er spreche, antwortete man mir, er sei noch ganz jung und spreche keine. Ich kaufte ihn für zehn Guineen. Ich hatte den Einfall, ihm einen boshaften Witz beizubringen, ließ seinen Käfig neben mein Bett stellen und sprach ihm hundertmal am Tage die Worte vor: La Charpillon est plus putain que sa mère – Die Charpillon ist eine noch größere Hure als ihre Mutter.

Ich hatte hierbei gewiß keine andere Absicht als mich innerlich daran zu ergötzen. Nach vierzehn Tagen wiederholte das Tierchen diesen Satz mit einer burlesken Genauigkeit, indem es zum Schluß jedesmal ein lautes Gelächter erschallen ließ; dieses hatte ich ihm nicht beigebracht, aber es wirkte so komisch, daß ich selber darüber lachen mußte.

Goudar hörte meinen Papagei eines Tages voll Entzücken und sagte mir, wenn ich das Tierchen auf die Börse schickte, könnte ich es gewiss für fünfzig Guineen verkaufen. Wir begrüßte diesen Gedanken als eine Rache an dem gemeinen Geschöpf, das mir so übel mitgespielt hatte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, auf welche Weise ich mich gegen das Gesetz schützen könnte, das in Bezug auf diesen Punkt in England sehr streng ist, beauftragte ich Jarbe mit dem Verkauf; denn da er aus Westindien stammte, so paßte die Ware vortrefflich zu ihm.

Da mein Papagei französisch sprach, zog er in den ersten zwei oder drei Tagen nicht viele Zuhörer an; sobald aber einer, der die Heldin kannte, die Aufmerksamkeit auf den Lobspruch des indiskreten Geflügels gelenkt hatte, wurde der Kreis von Neugierigen immer größer, und man begann nach dem Preise zu fragen: Fünfzig Guineen schienen ein bißchen viel zu sein, und mein Neger wünschte, dass ich den Papagei billiger verkaufen möchte. Davon wollte ich aber nichts wissen, denn ich hatte meinen Rächer liebgewonnen.

Nach sieben oder acht Tagen erzählte Goudar mir zu meiner größten Belustigung, welche Wirkung mein Papagei in der Familie der Charpillon hervorgebracht hatte. Da der Verkäufer mein Neger war, so konnte man nicht daran zweifeln, dass der Vogel mir gehörte und dass ich sein Sprachlehrer gewesen war. Goudar sagte mir, die Charpillon finde die Rache sehr geistreich, aber die Mutter und die Tanten seien wütend. Sie hätten bereits mehrere Advokaten befragt; aber alle hätten erklärt, es gebe kein Gesetz, auf Grund dessen man eine Verleumdung bestrafen könne, die von einem Papagei ausgestoßen werde; wohl aber könnte sie mich den Spaß teuer bezahlen lassen, wenn sie beweisen könnte, daß der Papagei mein Schüler wäre. Goudar riet mir daher, mich nicht zu rühmen, daß der Vogel seinen Witz von mir habe; denn zwei Zeugen seien genügend, um mich zugrunde zu richten.

Die Leichtigkeit, womit man in London falsche Zeugen findet, ist entsetzlich und eine Schande für die englische Nation. Ich habe mit meinen eigenen Augen etwas Unglaubliches gesehen: an einem Fenster hing ein Zettel, der in großen Buchstaben nur das Wort Zeuge trug. Dies wollte besagen, daß man in dem Hause für Geld einen falschen Zeugen bekommen konnte.

Die St. James Chronicle brachte einen Artikel, worin gesagt wurde: die von dem Papagei auf der Börse beschimpften Damen müßten sehr arm und freundlos sein, sonst hätten sie den hübschen Frechling kaufen lassen und das Publikum würde fast nichts erfahren haben. Zum Schluß hieß es: »Derjenige, der den Papagei abgerichtet hatte, wollte ohne Zweifel eine Rache ausüben; er hat dabei sehr guten Geschmack bewiesen: er verdient, Engländer zu sein.«

Als ich eines Tages meinen Freund Edgar traf, fragte ich ihn, warum er den kleinen Beleidiger nicht gekauft habe. Er antwortete: »Weil er allen denen Spaß macht, die den Gegenstand der Beleidigung kennen.«

Jarbe fand endlich einen Käufer, der die fünfzig Guineen zahlte, und Goudar berichtete mir, Lord Grosvenor habe das Geld gegeben, um der Charpillon, die ihm zuweilen zum Zeitvertreib diente, einen Gefallen zu tun.

Mit diesem Eulenspiegelstreich endeten meine Beziehungen zu dem Mädchen, das ich seitdem mit vollkommener Gleichgültigkeit sah; ihr Anblick erweckte in mir nicht mehr die geringste Erinnerung an die Leiden, die sie mir zugefügt hatte.

Als ich eines Tages in den St.-James-Park eintrat, sah ich zwei Mädchen, die in einem Zimmer zu ebener Erde Milch tranken. Sie riefen mich; da ich sie aber nicht kannte, so ging ich weiter. Ein junger Offizier, mit dem ich zuweilen verkehrte, sagte mir, sie seien Italienerinnen. Hierdurch bekam ich Lust, sie mir näher anzusehen, und kehrte wieder um. Als ich das verdammte Zimmer betrat, sah ich den Halunken Pocchini, mit einer Uniform bekleidet. Er sagte mir, er habe die Ehre, mir seine Töchter vorzustellen.

»Ich erinnere mich,« sagte ich kalt, »meiner Tabaksdose und meiner beiden Uhren, die zwei andere Töchter von Ihnen mir in Stuttgart gestohlen haben.«

»Sie lügen!« rief der Unverschämte.

Ohne ihm zu antworten, nahm ich dem einen von den Mädchen ihr Milchglas weg und goß ihm den Rest ins Gesicht. Hierauf ging ich hinaus.

Ich hatte meinen Degen nicht bei mir. Der erwähnte junge Offizier, der nach mir in das Zimmer eingetreten war, folgte mir und sagte, ich dürfte mich nicht entfernen, ohne seinem von mir entehrten Freund Genugtuung zu geben.

»Sagen Sie ihm, er solle herauskommen, und kommen Sie mit ihm nach dem Green-Park; ich verspreche Ihnen, ihm in Ihrer Gegenwart Stockschläge zu geben. Sollten Sie sich aber für ihn schlagen wollen, so gewähren Sie mir die Zeit, um meinen Degen zu holen. Aber kennen Sie denn diesen Menschen, den Sie Ihren Freund nennen?«

»Nein, aber er ist Offizier, und ich habe ihn hierhergebracht.«

»Schön. Um Ihnen Genugtuung zu leisten, will ich mich auf Leben und Tod schlagen, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Ihr Freund ein Dieb ist. Kommen Sie nur, ich erwarte Sie.«

Nach einer Viertelstunde verließen alle vier das Haus, doch folgten mir nur Pocchini und der Engländer. Da überall Leute waren, führte ich sie bis zum Hyde-Park. Als ich dort stehen blieb, begann Pocchini mir etwas zu sagen. Anstatt ihm zu antworten, erhob ich meinen Stock und rief: »Kanaille, zieh deinen Degen, oder ich bläue dich durch!«

»Niemals werde ich meinen Degen gegen einen Menschen ziehen, der sich nicht mit der gleichen Waffe verteidigen kann.«

Ein Stockhieb war meine Antwort. Anstatt sich zu rächen, erhob der Feigling ein lautes Geschrei und nannte mich einen Provocateur. Der Engländer lachte laut auf, bat mich, ihn zu entschuldigen, nahm meinen Arm und sagte: »Kommen Sie, mein Herr, ich sehe, Sie kannten den Menschen.«

Der Feigling entfernte sich brummend nach der anderen Richtung.

Unterwegs teilte ich dem Offizier die Gründe mit, warum ich ihn als einen Halunken behandelt hatte. Er sagte: »Ich gebe Ihnen zu, daß Sie vollkommen recht getan haben; unglücklicherweise bin ich in eins von seinen Mädchen verliebt.«

Mitten im St.-James-Park bemerkten wir sie, und ich mußte unwillkürlich laut auflachen, als ich Goudar in der Mitte der beiden Fräuleins sah.

»Woher kennen Sie denn diese Schönen?« fragte ich ihn.

»Ihr Vater, der Kapitän, hat mir Schmucksachen verkauft und hat sie mir bei dieser Gelegenheit vorgestellt.«

»Wo haben Sie ihn denn gelassen?« fragte die eine mich.

»Im Hyde-Park, nachdem ich ihm Stockprügel gegeben habe.«

»Da haben Sie sehr recht getan.«

Der junge Engländer war entrüstet, eine solche Äußerung der Billigung aus ihrem Munde zu vernehmen; er zog mich beiseite, gab mir die Hand, schwor mir, ich würde ihn niemals wieder mit diesen Weibern zusammen sehen, und ging.

Eine Laune Goudars, der ich leider nachzugeben schwach genug war, veranlaßte mich, mit den unglücklichen Geschöpfen in einer Schenke vor London zu Mittag zu speisen. Der Wüstling Goudar machte sie gehörig betrunken und veranlaßte sie, in ihrem Zustande tausend Greuel von ihrem angeblichen Vater zu erzählen. Der Halunke wohnte nicht mit ihnen zusammen, aber er machte ihnen nächtliche Besuche und nahm ihnen alles Geld ab, das sie verdienten. Er war ihr Zuführer und veranlaßte sie, ihre Besucher zu bestehlen und die Sache als einen Liebesscherz darzustellen, wenn der Diebstahl entdeckt wurde. Sie gaben ihm die Gegenstände, deren sie sich auf diese Weise bemächtigten, und er sagte ihnen niemals, was er damit machte. Als ich diese nicht ganz freiwillige Beichte hörte, mußte ich lachen, denn ich erinnerte mich, daß Goudar mir gesagt hatte, Kapitän Pocchini habe ihm Schmucksachen verkauft.

Nach diesem schlechten Mittagsmahl ging ich nach Hause, indem ich es Goudar überließ, die Frauenzimmer nach der Stadt zurückzubringen. Am andern Morgen kam er zu mir und erzählte mir: »Als die beiden Mädchen gestern ihre Wohnung betraten, wurden sie verhaftet und sofort ins Gefängnis geführt. Ich komme soeben von Pocchini, aber der Hauswirt hat mit gesagt, er sei seit gestern nicht nach Hause gekommen.«

Der ehrenwerte und gewissenhafte Goudar schloß mit der Bemerkung, es würde ihm leid tun, wenn er den unglücklichen Menschen nicht wiedersähe, denn er wäre ihm zehn Guineen für eine Uhr schuldig, die die Mädchen vielleicht gestohlen hätten und die den doppelten Wert besäße.

Vier Tage darauf sagte er mir, der Gauner habe London mit einer englischen Magd verlassen. »Diese hat er an einem Ort gefunden, wo stets mehrere Hundert versammelt sind, die sich dem ersten Besten vermieten. Der Geschäftsführer verbürgt sich für ihre Ehrlichkeit. Das Mädchen, das er gemietet hat, ist schön, wie mir der Geschäftsführer gesagt hat, und Pocchini ist mit ihr auf der Themse zu Schiff gegangen. Ich bewundere diese Spekulation, aber ich bedauere sehr, daß er abgereist ist, ohne daß ich ihm die Uhr habe bezahlen können, denn ich zittere, weil ich jeden Augenblick dem Herrn begegnen kann, dem sie wahrscheinlich gestohlen worden ist.«

Ich habe niemals erfahren können, was aus den Mädchen geworden ist; Pocchini aber werden wir in einigen Jahren wiederfinden.

Ich führte ein ruhiges und regelmäßiges Leben, woran ich wohl hätte Geschmack finden können, wenn nicht Umstände eingetreten wären, die ohne Zweifel mir vom Schicksal bestimmt waren, gegen das ein Philosoph und Christ niemals murren darf. Jeden Tag besuchte ich entweder meine Tochter in ihrer Pension oder ich verbrachte einige Stunden im Britischen Museum mit dem Doktor Matti. Bei diesem traf ich eines Tages einen anglikanischen Geistlichen, den ich fragte, wieviel verschiedene Sekten es in England gebe.

»Dies, mein Herr,« antwortete mir der Gelehrte in ziemlich gutem Italienisch, »kann kein Mensch genau wissen; denn jeden Sonntag sieht man einige entstehen und vergehen. Es genügt, daß ein gläubiger Mensch oder auch ein Gauner, dem es um Geld oder Ruhm zu tun ist, sich auf einem Platz aufstellt und eine Ansprache an das Publikum hält; sofort umringen ihn einige Neugierige. Er legt irgendeine Bibelstelle auf seine Art aus, und wenn er einigen von den Maulaffen gefällt, laden sie ihn ein, am nächsten Sonntag zu predigen; oft wird als Versammlungsort irgendein Wirtshaus bestimmt. Pünktlich erscheint er und vertritt mit kräftigem Eifer seine Lehre. Man spricht von ihm; er stellt Thesen auf; seine Anhänger vermehren sich, je mehr seine Beredsamkeit wächst; sie legen sich einen Namen bei, und so ist eine Sekte entstanden, die im Anfang der Regierung unbekannt bleibt und dieser erst bekannt wird, wenn sie politischen Einfluß auszuüben beginnt. Auf diese Art sind so ziemlich alle Sekten entstanden, die in so reicher Zahl aus dem Boden unseres Vaterlandes hervorschießen.«

Um jene Zeit war in London der edle Venetianer Steffano Guerra, der mit Erlaubnis der Staatsinquisitoren reiste; er war ein großes Original und kam von seiner Reise dümmer, als er ausgezogen war, in unsere Heimat zurück. Er verlor in London einen Prozeß gegen einen englischen Maler, der auf seine Bestellung das Miniaturporträt einer der schönsten Londoner Damen angefertigt hatte. Guerra hatte sich schriftlich verpflichtet, dem Maler fünfundzwanzig Guineen zu bezahlen. Als das Porträt fertig war, fand Guerra es nicht nach seinem Geschmack, wollte es nicht abnehmen und weigerte sich, die Summe zu bezahlen. Nach Landesbrauch ließ der Engländer ihn zunächst verhaften; der Venetianer ließ jedoch Sicherheit bestellen und brachte den Handel vor den Richter, der ihn verurteilte, die fünfundzwanzig Guineen zu bezahlen. Er legte Berufung ein, verlor abermals und sah sich schließlich zur Zahlung gezwungen. Guerra sagte, er habe ein Porträt bestellt; ein Bild ohne Ähnlichkeit sei kein Porträt; folglich dürfe er nicht zur Zahlung verurteilt werden. Der Maler behauptete, sein Bild sei ein Porträt, denn er habe es nach dem Modell gemacht, das von der Herzogin selbst ihm geliefert worden sei. Der Richter sagte in seinem Urteilsspruch: der Maler müsse von seiner Arbeit leben; da Guerra den Maler habe arbeiten lassen, so müsse er ihm auch seinen Lebensunterhalt geben, denn der Maler schwöre, daß er sein ganzes Talent aufgeboten habe, um die Ähnlichkeit herauszubringen. Ganz England fand diesen Spruch gerecht. Auch ich; aber ich gestehe, daß viele sehr vernünftige Leute ihn für barbarisch ansehen könnten. Zu diesen gehörte auch Guerra, und auch er hatte recht; denn das Porträt, gut oder schlecht, und der Prozeß kosteten ihm mehr als hundert Guineen.

Malingans Tochter starb an den Pocken. Zur selben Zeit erhielt ihr Vater in Bath eine Ohrfeige von einem Lord, der das Pikettspiel liebte, aber nicht die Spieler liebte, die das Glück verbessern. Ich gab dem Unglücklichen das nötige Geld, um seine Tochter zu begraben und die Insel verlassen zu können. Er starb gleich nach seiner Ankunft in Lüttich, und seine Witwe schrieb mir, es habe ihm noch auf dem Totenbette Kummer gemacht, daß er seine Schulden nicht habe bezahlen können.

Herr von F. kam aus Bern als Geschäftsträger seines Kantons. Ich suchte ihn auf, wurde aber nicht vorgelassen. Ich dachte mir, er möchte wohl gewisse Vertraulichkeiten erfahren haben, die ich mir in Bern mit der niedlichen Sarah erlaubt hatte, und wollte mich nicht in die Lage setzen, diese in London zu erneuern. Da der Mann eigentlich ein bißchen verrückt war, so nahm ich sein Benehmen weiter nicht übel und hatte es schon längst vergessen, als eine Laune mich eines Abends in das Marylebone-Theater führte. Als Eintrittsgeld bezahlte man in diesem Theater, wo man an kleinen Tischen sitzen mußte, nur ein Schilling; aber man mußte irgend etwas verzehren, wäre es auch nur ein Krug Bier gewesen.

Zufällig setzte ich mich neben ein junges Mädchen, das ich anfangs gar nicht ansah. Als ich aber nach einigen Minuten mich zu ihr wandte, bemerkte ich ein entzückendes Profil, das mir nicht fremd vorkam; dies schrieb ich jedoch dem Umstand zu, daß die Schönheit dem Menschen, dem ihr göttliches Wesen sich in die Seele eingegraben hat, niemals fremd erscheinen kann. Je länger ich dieses köstliche Profil betrachtete, desto mehr war ich überzeugt, daß ich das schöne Mädchen doch zum ersten Male sehe, obgleich ich auf ihren Lippen ein unbeschreiblich feines Lächeln bemerkte. Als einer ihrer Handschuhe zu Boden fiel, beeilte ich mich, ihn aufzuheben und ihr zu überreichen. Sie dankte mir in sehr gutem Französisch und in sehr gewählten Ausdrücken.

»Madame ist also nicht Engländerin?« sagte ich in ehrerbietigstem Tone zu ihr.

»Nein, mein Herr, ich bin Schweizerin, und Sie kennen mich.«

Ich drehte mich um und sah zu meiner Rechten Frau von F., neben dieser ihre ältere Tochter und weiterhin ihren Gemahl. Ich stand auf, machte der Dame, die ich sehr hoch schätzte, meine Verbeugung und grüßte auch ihren Mann, der mir nur durch ein kaltes Kopfnicken antwortete. Ich fragte die Dame, was wohl ihr Mann gegen mich haben könne, um mich auf solche Weise zu behandeln; sie antwortete mir, Passano habe ihm böse Dinge über mich geschrieben.

Da ich in diesem Augenblick kein Gespräch mit ihm führen konnte, um ihn aufzuklären, so bot ich meine ganze Beredsamkeit auf, um mich vor seiner Tochter zu rechtfertigen, die in den drei Jahren eine so vollendete Schönheit geworden war, daß es mir unmöglich gewesen wäre, sie wiederzuerkennen. Sie wußte es, und ihr Erröten, als ich mit ihr sprach, zeigte mir, daß sie sich noch dessen erinnerte, was in Gegenwart meiner Haushälterin zwischen uns vorgefallen war. Ich wollte gern sofort wissen, ob sie dies zugeben würde, oder ob sie das Recht zu haben glaubte, alles abzuleugnen und das Vergangene auf Rechnung ihrer Unschuld zu setzen. Hätte Sarah dies beabsichtigt, so würde ich sie verachtet haben; denn geistvoll, wie sie war, konnte sie unmöglich ihren Geist dazu benutzen wollen, um ihr Temperament zu besiegen. Sie war, als ich sie in Bern kennen lernte, noch eine Knospe; jetzt sah ich sie als Blume wieder, die um so verführerischer war, da sie sich eben erst entfaltet hatte.

»Reizende Sarah,« sagte ich zu ihr, »Sie haben mich so geblendet, daß ich dem Drange nicht widerstehen kann, zwei Fragen an Sie zu richten, deren Beantwortung für meine Herzensruhe notwendig ist. Sagen Sie mir, ob Sie sich unserer Schäkereien von Bern erinnern?«

»Ja.«

»Sagen Sie mir geschwind, ob Sie böse sind, daß ich mich in diesem Augenblick mit außerordentlichem Vergnügen derselben erinnere?«

»Nein.«

Welcher Verliebter hätte es wohl gewagt, möglicherweise ihr Zartgefühl zu verletzen und die dritte Frage zu stellen. Ich war gewiß, daß Sarah mich glücklich machen würde; ich schmeichelte mir sogar mit der Hoffnung, daß sie selber den Augenblick des Glückes herbeisehnte. So überließ ich mich denn der ganzen Glut meiner Wünsche und beschloß, sie zu überzeugen, daß ich ihre Liebe verdiente.

Da der Kellner in unserer Nähe herumlungerte, bat ich Frau von F. um Erlaubnis, ihr grüne Austern anbieten zu dürfen. Nachdem sie sich anstandshalber ein wenig gesträubt hatte, willigte sie ein, und ich machte mir ihre Erlaubnis zunutze, um alle leckeren Sachen kommen zu lassen, die auf der Speisekarte standen, unter anderm auch einen jungen Hasen, in London eine große Delikatesse, die für gewöhnlich nur auf die Tafel vornehmer Herren kommt, die ihre eigene Jagd besitzen und ein solches Wild nicht gerne hergeben. Champagner und westindische Liköre flossen in Strömen; es gab Lerchen, Krammetsvögel, Trüffeln, eingemachte Früchte. Es war nichts gespart worden, und ich war nicht erstaunt, als der Kellner mir die Rechnung brachte, und ich sah, daß wir für zehn Guineen verzehrt hatten; aber sehr erstaunt war ich, als ich Herrn von F., der ohne ein Wort zu sagen, wie ein Türke gegessen und wie ein Schweizer getrunken hatte, mit einem Eifer, wie wenn er die Sparsamkeit erfunden hätte, schimpfen hörte, es sei zu teuer.

Ich bat ihn freundlich, sich zu mäßigen, und bezahlte. Um ihm zu zeigen, daß ich seine Meinung nicht teilte, gab ich eine halbe Guinee Trinkgeld dem Kellner, der nur zu wünschen schien, daß er öfters ein solches unverhofftes Glück hätte. Mein ehrenwerter Schweizer, der vor einer Stunde blaß und ernst gewesen war, strahlte in rötlichem Glänze und war höchst liebenswürdig geworden. Sarah warf einen Blick auf ihn und drückte mir die Hand. Ich triumphierte.

Nach der Vorstellung fragte Herr von F. mich, ob ich ihm wohl erlauben wollte, mir seinen Besuch zu machen. Ohne ihm ein Wort zu erwidern, umarmte ich ihn. Es regnete in Strömen, und sein Bedienter kam und sagte ihm, es sei kein Fiaker da, man müsse daher warten. Ich war ein wenig überrascht, daß ein Mann seines Ranges mit seiner ganzen Familie an einen solchen Ort kam, ohne sich seines Wagens zu bedienen. Sofort bat ich ihn, den meinigen zu benutzen, indem ich zugleich meinem Neger befahl, mir einen Tragstuhl zu holen.

»Ich nehme mit Vergnügen an,« sagt Herr von F. zu mir, »aber unter der Bedingung, daß ich die Sänfte benütze.«

Ich mußte nachgeben und fuhr daher in meinem Wagen mit der Mutter und ihren beiden Töchtern.

Unterwegs sagte Frau von F. mir die größten Freundlichkeiten, indem sie zugleich, allerdings in milden Ausdrücken, die Unhöflichkeiten ihres Gatten mißbilligte, über die ich mich zu beklagen hatte. Ich sagte ihr, ich würde mich dafür rächen, indem ich in Zukunft ihr recht fleißig den Hof machen würde. Sie durchbohrte mir das Herz, als sie mir antwortete, ihre Abreise stehe nahe bevor. »Wir wollten übermorgen abreisen und müssen schon morgen unsere Wohnung räumen, da die neuen Mieter übermorgen einziehen wollen. Ein Geschäft, das mein Mann nicht hat zu Ende bringen können, nötigt uns, noch etwa acht Tage hier zu bleiben; wir werden uns also morgen in der doppelten Verlegenheit befinden, aus unserer Wohnung ausziehen und irgendwo eine neue Wohnung finden zu müssen.«

»Sie haben also noch keine Wohnung?«

»Nein; aber mein Mann glaubt morgen früh ganz bestimmt eine zu bekommen.«

»Wahrscheinlich eine möblierte; denn da Sie abreisen wollen, werden Sie wohl Ihre Möbel verkauft haben.«

»Jawohl, denn wir müssen sie auf unsere Kosten dem Käufer bringen lassen.«

Als ich hörte, daß Herr von F. einer Wohnung sicher sei, glaubte ich die meinige nicht anbieten zu dürfen; ich befürchtete nämlich, die Dame könnte glauben, daß ich sie nur darum anböte, weil ich sicher wäre, sie würde nicht angenommen werden.

Als wir vor ihrem Hause angekommen waren, stiegen wir aus, und die Mutter bat mich, hereinzukommen. Sie wohnte mit ihrem Mann im zweiten Stockwerk, und die beiden Mädchen hatten das dritte für sich. In der Wohnung stand alles drunter und drüber, und da Frau von F. mit der Wirtin zu sprechen hatte, bat sie mich zu ihren Töchtern zu gehen.

Es war kalt, und wir fanden ein Zimmer ohne Feuer. Die Schwester ging in das Nebenzimmer, und so blieb ich mit Sarah allein. Ohne jede besondere Absicht schloß ich sie in meine Arme; als ich aber an der Glut ihrer Küsse merkte, daß sie meine Wünsche erwiderte, sank ich mit ihr auf das Kanapee, worauf wir saßen, und ohne auch nur einen Augenblick über dieses erste Geschenk, das uns die Liebe machte, nachdenken zu können, kosteten wir die höchste Wollust, indem wir ineinander verschmolzen. Aber dieses Glück dauerte kaum einen Augenblick; schnell wie der Blitz war es vorbei; denn kaum war das Werk vollzogen, so hörten wir jemanden die Treppe hinaufkommen. Es war der Vater. Indessen – es war vollbracht.

Hätte Herr F. Augen im Kopf gehabt, so würde er ganz gewiß entdeckt haben, was wir getan hatten; denn mein Gesicht mußte eine Verwirrung verraten, deren Art man sich leicht denken kann.

Nachdem ich eine Flut von Komplimenten über mich hatte ergehen lassen müssen, die in diesem Augenblick langweiliger waren denn je, schüttelte ich ihm die Hand und verschwand wie ein Schatten. Als ich in meiner Wohnung ankam, befand ich mich in einer solchen Aufregung, daß ich den Beschluß faßte, England zu verlassen und Sarah in ihre Heimat zu folgen. Die ganze Nacht hindurch überlegte ich reiflich alle Anordnungen, die ich für diese Reise zu treffen hatte. Ich beschloß, der Familie für die Zeit, die wir noch in London bleiben würden, meine Wohnung anzubieten, und mein Anerbieten nötigenfalls so dringlich zu machen, daß sie es nicht ablehnen könnten.

In aller Frühe eilte ich zu Herrn von F., dem ich auf seiner Schwelle begegnete. Er sagte zu mir: »Ich will versuchen, ein paar Zimmer zu finden, worin wir etwa eine Woche hausen können.«

»Die Zimmer sind gefunden; meine Wohnung ist groß, und ich verlange, daß Sie mir den Vorzug geben. Gehen wir ins Haus!«

»Meine ganze Familie liegt noch zu Bett.«

»Kommen Sie nur herein.«

Wir gingen ins Haus. Frau von F. machte wortreiche Entschuldigungen. Als ihr Gemahl ihr sagte, ich wolle ihm eine Wohnung vermieten, lachte ich und rief, ich verlangte, daß er eine Wohnung annähme, die ihm freundschaftlich angeboten würde. Nachdem er viele Umstände gemacht hatte, nahm er endlich an, und wir vereinbarten, daß die ganze Familie schon am Abend einziehen solle.

Ich ging nach Hause, um die notwendigen Anordnungen zu treffen. Während ich damit beschäftigt war, meldete man mir zwei junge Damen. Da ich sie nicht empfangen wollte, ging ich selber an die Tür, um mich zu entschuldigen. Zu meiner angenehmsten Überraschung aber sah ich Sarah und ihre Schwester. Sofort ließ ich sie eintreten. Sarah sagte mir mit bescheidenen Worten, ihre Hauswirtin wolle nicht erlauben, daß die Möbel fortgeschafft würden, bevor sie vierzig Guineen erhalten hätte, die ihr Vater ihr schuldig wäre. Sie weigerte sich, obgleich ein Geschäftsmann aus der City ihr versichert hätte, daß der Betrag im Laufe der Woche bezahlt werden würde. Ihr Vater schicke mir nun eine Anweisung, die auf den Inhaber lautete, und lasse mich bitten, ob ich ihm diesen Dienst erweisen könne.

Ich nahm die Anweisung und gab ihr eine Banknote von fünfzig Pfund Sterling, indem ich ihr sagte, sie könne mir den Rest herausgeben. Sie dankte mir ohne allen Überschwang und ging. Ich war entzückt, daß sie solches Vertrauen zu mir gehabt hatte.

Das augenblickliche Bedürfnis, sich vierzig Guineen zu verschaffen, schien mir noch kein Beweis zu sein, daß Herr von F. sich in Bedrängnis befände. Ich sah in meiner damaligen Stimmung alles in dem schönsten Licht und wünschte mir Glück, daß ich ihm hatte nützlich sein können, indem ich ihm dadurch bewies, daß er unrecht getan hatte, mich so geringschätzig zu behandeln.

Ich nahm nur ein leichtes Mittagessen zu mir, um desto angenehmer mit meinem helvetischen Engel zu Abend speisen zu können, und brachte den Nachmittag damit zu, mehrere Briefe zu schreiben. Gegen Abend kam der Bediente des Herrn von F. mit drei großen Koffern und vielen Schachteln und sagte mir, die Familie werde bald kommen; vergebens wartete ich jedoch bis neun Uhr. Unruhig über diese Verzögerung, begab ich mich zu Herrn von F. und fand dort alle in der größten Bestürzung. Der Anblick von zwei ziemlich übel aussehenden Männern, die sich im Zimmer befanden, ließ mich erraten, was wohl vorgegangen sein mochte. Mit lachendem Gesicht rief ich aus: »Ich wette, irgendein ungebärdiger Gläubiger bereitet Ihnen diese Verlegenheit!«

»Das ist wahr,« sagte der Vater; »aber ich bin sicher, in fünf oder sechs Tagen meine Schuld begleichen zu können; aus diesem Grunde habe ich meine Abreise aufgeschoben.«

»Man hat Sie also verhaftet, nachdem Sie mir Ihren Koffer geschickt hatten?«

»Einen Augenblick nachher.«

»Was haben Sie seitdem getan?«

»Ich habe um Bürgen schicken lassen.«

»Und warum haben Sie nicht zu mir geschickt?«

»Ich bin Ihnen dankbar, mein großmütiger Freund; aber Sie sind Ausländer, und man nimmt nur Hausbesitzer als Bürgen an.«

»Sie hätten mir auf alle Fälle immerhin Bescheid geben sollen; denn ich habe Ihnen ein ausgezeichnetes Abendessen zurecht machen lassen, und ich sterbe vor Hunger.«

Da die Schuld meine Mittel übersteigen konnte, so wollte ich mich nicht zu weit vorwagen. Ich nahm Sarah beiseite und erfuhr von ihr, daß dieser ganze Wirrwarr um eine Schuld von hundertundfünfzig Pfund Sterling stattfand. Infolgedessen ließ ich den Inhaber des Haftbefehls fragen, ob wir nach unserem Belieben zum Essen gehen könnten, wenn dieser Betrag bezahlt wäre.

»Selbstverständlich!« ließ er mir antworten; zugleich zeigte er mir den Wechsel.

Ich nahm drei Banknoten von fünfzig Pfund aus meiner Brieftasche, gab sie dem Gerichtsvollzieher, nahm dafür den Wechsel und sagte zu dem betrübten armen Herrn von F.: »Sie können den Betrag an mich bezahlen, bevor Sie England verlassen.«

Hierauf umarmte ich die ganze Familie, die vor Freuden weinte, und rief: »Nun zu Tisch und weg mit den Sorgen des Lebens!«

Wir fuhren zu mir und speisten heiter und vergnügt. Nur die brave Mutter konnte ihre Traurigkeit nicht überwinden.

Nach dem Abendessen führte ich sie alle in die Zimmer, die ich für sie hatte zurecht machen lassen und von denen sie entzückt waren; ich wünschte ihnen wohl zu ruhen und sagte ihnen, ich würde sie bis zu ihrer Abreise aufs beste bewirten und hoffte, sie nach der Schweiz begleiten zu können.

Nach dem Erwachen warf ich einen Blick auf meinen körperlichen und seelischen Zustand und fand mich glücklich. Meine Empfindungen waren derart, daß es mir unmöglich gewesen wäre, sie zu beherrschen; aber daran dachte ich auch gar nicht. Eine starke Empfindsamkeit, die ich als reinen Ausfluß meiner Seele erkannte, machte mich damals, wie noch jetzt, sehr nachsichtig gegen eine Sinnlichkeit, deren Opfer ich oft gewesen bin. Ich liebte Sarah und war so sicher, ihr Herz zu besitzen, daß ich alle Begierden weit von mir wies. Begierden entstehen aus den Bedürfnissen und sind lästig, weil sie unzertrennlich vom Zweifel sind, und Zweifel ist eine Folter für den Geist. Sarah war mein; sie hatte sich in reiner Hingebung mir geschenkt, als kein Schatten von Eigennutz die Quelle ihrer Leidenschaft verdächtig machen konnte.

Ich ging zu dem Vater hinauf, den ich damit beschäftigt fand, seine Koffer zu öffnen. Da ich die Mutter traurig sah, so fragte ich sie, ob sie sich wohl befinde. Sie antwortete mir, ihre Gesundheit sei ausgezeichnet, aber sie habe große Furcht vor dem Meere, und der Gedanke, daß sie binnen kurzem sich einschiffen solle, mache sie unglücklich. Der Vater bat mich, ihn zu entschuldigen, daß er nicht zum Frühstück bleiben könne; er müsse wegen einiger Geschäfte ausgehen. Nachdem die beiden jungen Damen heruntergekommen waren, frühstückten wir, und ich fragte die Mutter, warum sie ihre Koffer auspackte, da wir doch so bald schon abreisen sollten. Sie antwortete mir lächelnd, ein einziger Koffer würde bald genügen, um alle Sachen der ganzen Familie aufzunehmen; denn sie wäre entschlossen, alles überflüssige zu verkaufen. Da ich prachtvolle Kleider, sehr schöne Wäsche und kostbare Spitzen sah, so konnte ich mich nicht enthalten, ihr zu sagen, es würde sehr schade sein, um einen jämmerlichen Preis Gegenstände zu veräußern, die sie sehr teuer wieder ersetzen müßten.

»Sie haben vollkommen recht; aber obgleich alle diese Sachen sehr schön sind, so ist doch die Befriedigung, seine Schulden zu bezahlen, noch viel schöner.«

»Sie dürfen nichts verkaufen!« rief ich lebhaft; »denn da ich mich entschlossen habe, mit Ihnen nach der Schweiz zu reisen, so werde ich Ihre Schulden bezahlen, und Sie werden mir das Geld zurückgeben, sobald Sie dazu imstande sind.«

Zu diesen Worten machten alle drei sehr erstaunte Gesichter. »Ich glaubte nicht,« sagte die Mutter, »daß Sie im Ernst gesprochen hätten.«

»In vollem Ernst, Madame, und dies ist der Gegenstand meiner Wünsche.«

Zugleich ergriff ich Sarahs Hand und bedeckte sie mit Küssen.

Sarah errötete und sagte nichts; die Mutter sah uns mit gütigem Blick an, aber nach einem kurzen Schweigen richtete sie an mich eine lange Rede voller Aufrichtigkeit und Vernunft. Sie schilderte mir ausführlich die Lage ihrer Familie und die Geringfügigkeit der Mittel ihres Gatten, den sie damit entschuldigte, daß er in London hätte Schulden machen müssen, um auf eine bescheidene und doch anständige Weise dort leben zu können; sie tadelte jedoch, daß er seine ganze Familie mitgenommen hätte. »Er hätte allein hier leben können und würde dann nur einen Bedienten gebraucht haben; für die ganze Familie aber waren die zweitausend Taler, die die Berner Regierung ihm jährlich gab, durchaus ungenügend. Mein alter Vater hat durch seinen Einfluß die Regierung bewogen, die Schulden zu bezahlen, die mein Mann hier gemacht hat; zugleich aber hat sie beschlossen, hier keinen Geschäftsträger mehr zu halten, um auf diese Weise die Extraausgaben wieder zu decken; ein gewöhnlicher Bankier, der den Titel Agent erhält, wird genügen, um die Zinsen der Kapitalien einzuziehen, die die Republik in England besitzt. Ich schätze Sarah glücklich, daß es ihr gelungen ist, Ihnen zu gefallen, doch bin ich nicht sicher, daß mein Mann seine Einwilligung zu dieser Heirat geben wird.«

Beim Wort Heirat, das mir selber ganz unerwartet kam, sah ich Sarah erröten. Dies gefiel mir, aber ich sah voraus, daß es Schwierigkeiten geben würde.

Herr von F. kam zurück und sagte seiner Frau, im Laufe des Nachmittage würden zwei Trödler kommen, um die Sachen zu kaufen. Als ich ihm jedoch meinen Plan mitteilte, sie nach der Schweiz zu begleiten, überzeugte ich ihn mit ziemlich leichter Mühe, daß es besser wäre, alle seine Sachen zu behalten und von mir zweihundert Guineen als Darlehen anzunehmen, für die er mir Zinsen zahlen würde, bis er sie zurückgeben könnte. Wir schlossen sofort einen Vertrag in aller Form. Von der Heirat sprachen wir nicht, da seine Frau mir gesagt hatte, sie würde unter vier Augen mit ihm reden.

Am dritten Tage kam er allein zu mir, um mit mir über die Angelegenheit zu sprechen. »Meine Gemahlin,« sagte er, »hat mir Mitteilung von Ihren für mich ehrenvollen Absichten gemacht; ich kann Ihnen jedoch meine Sarah nicht geben, denn vor meiner Abreise von Bern habe ich sie Herrn von W. versprochen, und Familieninteressen verbieten es mir, mein Wort zurückzunehmen. Außerdem würde mein alter Vater niemals seine Einwilligung geben, da nach seinen strengen Ansichten bei einer solchen Verbindung der Religionsunterschied keine Sicherheit für das Glück seiner Lieblingsenkelin geben würde.«

Im Grunde war diese Erklärung mir nicht unangenehm, denn trotz meiner Liebe zu Sarah erschreckte mich das Wort Heirat. Ich antwortete ihm, Zeit und Umstände könnten sich ändern, inzwischen würde es mir genügen, wenn er mir seine ganze Freundschaft schenkte und es mir allein überließe, alle Vorbereitungen für die bevorstehende Reise zu treffen. Er versprach mir alles und versicherte mir, er sei entzückt, daß seine Tochter verstanden habe, meine Neigung zu gewinnen.

Nach dieser Auseinandersetzung gab ich Sarah in Gegenwart ihrer Eltern alle Beweise von Zärtlichkeit, die der Anstand mir erlaubte, und alles sprach dafür, daß das junge Mädchen mich innig liebte.

Am fünften Tage ging ich in ihr Zimmer, und da ich sie noch im Bett fand, bemächtigte sich meiner die ganze Glut der Wollust; denn seit jenem Augenblick, da ich mich so schnell ihres Einverständnisses versichert hatte, war ich nicht mehr mit ihr allein zusammen gewesen. Ich stürzte mich auf sie und bedeckte sie mit Küssen; sie zeigte sich zärtlich, aber zurückhaltend. Meine Glut stieg, ich wollte sie löschen; aber vergeblich: sie setzte mir einen sanften Widerstand entgegen und verhinderte mich, ans Ziel zu gelangen, obgleich sie meine Liebkosungen erwiderte.

»Warum, göttliche Sarah, widersetzen Sie sich den Ausbrüchen meiner Zärtlichkeit?«

»Ich bitte Sie, mein süßer Freund, verlangen Sie von mir nichts weiter, als was ich Ihnen bewillige.«

»Sie lieben mich also nicht mehr?«

»Undankbarer! Ich bete Sie an.«

»Aber warum denn jetzt diese Weigerung, nachdem Sie sich doch ganz und gar mir schon hingegeben haben?«

»Ich habe mich Ihnen hingegeben, und ich bin glücklich, daß ich es tat; ich habe Sie ebenso glücklich gesehen wie mich, und dies, mein lieber Freund, muß uns genügen.«

»Es ist unmöglich, daß diese Veränderung nicht irgendeinen Grund hat. Wenn Sie mich lieben, teure Sarah, muß dieser Verzicht Ihnen schwer werden.«

»Ich gestehe es, zärtlicher Freund; aber ich muß mich mit dieser schmerzlichen Entsagung abfinden. Nicht eine Schwäche zwingt mich, meine Leidenschaft zu bekämpfen, sondern nur die Pflicht, die ich gegen mich selber habe. Ich habe gegen Sie Verpflichtungen, und ich würde mich in meinen eigenen Augen erniedrigen, wenn ich mit meiner Person dafür einstehen wollte. Als ich mich Ihnen hingab, und Sie sich mir hingaben, da herrschte vollige Gleichheit zwischen uns; wir standen nicht im Verhältnis von Gläubiger und Schuldner zueinander. Durch die Verpflichtungen, die ich eingegangen bin, ist mein Herz jetzt in Knechtschaft geraten, und es sträubt sich gegen Opfer, die es der Liebe so gern darbrachte.«

»Was für eine seltsame Metaphysik, meine liebe Sarah! Eine solche Philosophie täuscht Sie und ist ihre Feindin so gut wie die meinige. Sie überlassen sich Sophismen, die Sie betrügen und mir das Herz zerreißen. Erkennen Sie doch ein bißchen mein Zartgefühl an und beruhigen Sie sich; denn, mein Engel, Sie schulden mir nichts!«

»Geben Sie zu, daß Sie für meinen Vater nichts getan haben würden, wenn Sie mich nicht liebten.«

»Das werde ich ganz gewiß nicht zugeben, denn die Achtung, die Ihre würdige Mutter mir eingeflößt hat, hätte mich mit Leichtigkeit veranlaßt, für Ihre Eltern zu tun, was ich getan habe, und vielleicht noch mehr. Es ist sogar möglich, daß ich überhaupt gar nicht an Sie gedacht habe, indem ich Ihrem Vater diesen kleinen Dienst erwies.«

»Das kann wohl sein, denn Sie sind überhaupt hilfsbereit; aber ich kann mich nicht enthalten, das Gegenteil zu glauben. Verzeihen Sie mir, lieber Freund; aber ich kann mich nicht entschließen, auf Kosten meines Herzens derartige Schulden zu bezahlen.«

»Mir scheint, das Gefühl müßte im Gegenteil Ihre Liebe noch heißer machen.«

»Sie kann nicht heißer sein, als sie gewesen ist.«

»Ich bin recht unglücklich; so soll ich also für das, was ich getan habe, die grausamste Strafe erleiden? Sie fühlen doch, liebe Sarah, daß Sie mich bestrafen?«

»Ach, vielleicht bestrafe ich mich selber! Aber ersparen Sie mir diesen grausamen Vorwurf und erhalten Sie mir unvermindert Ihre Zärtlichkeit. Wir wollen uns auch in Zukunft lieben!«

Dieses Gespräch ist nicht der hundertste Teil von der Unterhaltung, die wir bis zum Mittagessen miteinander führten. Schließlich kam die Mutter; als sie mich am Fußende des Bettes sitzen sah, fragte sie mich lachend, warum ich ihre Tochter nicht aufstehen lasse. Ich antwortete ihr mit heiterem und vollkommen ruhigem Gesicht: eine für uns sehr interessante Unterhaltung habe uns wirklich nicht bemerken lassen, daß es schon so spät sei.

Ich verließ sie, um mich anzukleiden. Indem ich über die erstaunliche Veränderung nachdachte, die sich in dem reizenden Geschöpf vollzogen hatte, glaubte ich darauf rechnen zu dürfen, daß ihr Entschluß nicht von langer Dauer sein werde. Ein solcher Glaube war für mich eine Notwendigkeit, denn sonst hätte ich nicht die Kraft gehabt, auf ihre Laune einzugehen, die mir eigentlich ziemlich romanhaft erschien.

Wir speisten sehr fröhlich zu Mittag, und Sarah und ich bekundeten ganz offen vor ihren Eltern in allen Bemerkungen unsere gegenseitige Liebe und eine innige Zuneigung. Am Abend führte ich sie in die italienische Oper; hierauf verzehrten wir ein ausgezeichnetes Abendessen und gingen dann in vollkommener Eintracht zu Bett.

Den ganzen nächsten Morgen verbrachte ich in der City, um mit den Bankiers abzurechnen, bei denen ich noch Geld ausstehen hatte. Ich nahm Wechsel auf Genf, denn meine Abreise war beschlossene Sache; ich glaubte nur noch fünf oder sechs Tage in London bleiben zu müssen und nahm herzlichen Abschied von dem braven Herrn Bosanquet. Am Nachmittag besorgte ich einen Wagen für Frau von F., die ihre Abschiedsbesuche machen wollte; ich selber fuhr in der gleichen Absicht nach der Pension meiner Tochter hinaus. Die liebe Kleine zerfloß in Tränen; sie sagte mir, sie verliere alles, und bat mich, sie nicht zu vergessen. Ich war tief gerührt. Auf Sophiens Bitten entschloß ich mich, vor meiner Abreise ihrer Mutter noch einen Besuch zu machen.

Beim Abendessen sprachen wir von unserer Reise. Ich sollte für alles sorgen, und Herr von F. gab mir zu, daß wir statt über Ostende besser über Dünkirchen reisen würden. Er hatte nur noch einige unbedeutende Geschäfte zu erledigen und sagte mir, er könne nach Bezahlung seiner Schulden und der Reisekosten darauf rechnen, mit etwa fünfzig Guineen in Bern anzukommen. Er wollte zwei Drittel von allen Reisekosten bezahlen; ich hatte mich damit einverstanden erklären müssen, obgleich ich fest entschlossen war, ihm niemals Rechnung abzulegen. Ich hoffte, daß es mir in Bern auf irgend eine Weise gelingen würde, Sarah zur Frau zu erhalten.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück, als ihr Vater ausgegangen war, ergriff ich in Gegenwart ihrer Mutter ihre Hand und fragte sie im Ton der innigsten Liebe, ob ich sicher sein könnte, daß sie mir ihr Herz schenken würde, wenn es mir in Bern gelänge, die Einwilligung ihres Vaters zu erhalten. Ihre Mama war so gütig, mir zu versprechen, daß ich auf ihre Einwilligung bestimmt rechnen könne, sobald ich die ihres Gatten erhalten habe.

Bevor Sarah antworten konnte, stand die Mutter auf und sagte uns auf das freundlichste: »Ihre Auseinandersetzungen könnten vielleicht lange dauern; ich will Sie daher bis zum Mittag allein lassen.« Sie ging hinaus und nahm ihre ältere Tochter mit, um Besuche zu machen.

Als wir allein waren, sagte Sarah mir im zärtlichsten Tone: »Ich kann nicht begreifen, daß Sie an meiner Zustimmung zu unserer Verbindung zweifeln, die doch mein innigster Wunsch ist. Ich habe Ihnen meine Liebe bewiesen, lieber Freund, und ich bin überzeugt, ich werde vollkommen glücklich sein, wenn ich Ihre Frau werde. Sie können sich darauf verlassen, daß ich keinen anderen Willen haben werde als den Ihrigen, und wohin ich auch Ihnen folgen muß, in der Schweiz ist nichts, was ich mit Bedauern zu verlassen brauchte.«

Diese sanften Worte rührten mir Herz und Seele; ich drückte die liebende Sarah an meine Brust und sah, daß sie mein Entzücken teilte; aber sie beschwor mich, mich zu mäßigen, als sie sah, daß ich mich anschickte, ihr meine Liebe ohne Rückhalt zu beweisen. Sie umklammerte mich mit ihren Armen und flehte mich an, nichts von ihr zu verlangen; denn sie sei entschlossen, mir nichts mehr zu bewilligen, bevor sie mir in rechtmäßiger Ehe angehören würde.

»Wie? Sie wollen mich zur Verzweiflung bringen? Haben Sie auch bedacht, Sarah, daß Ihr Widerstand mir das Leben kosten kann? Ist es möglich, daß Sie mich lieben und doch nicht das traurige Vorurteil verabscheuen, das Sie unserer gegenseitigen Liebe entgegensetzen? Ich kann doch weder an Ihrer Liebe zu mir noch an Ihrer Neigung zu den Freuden der Wollust zweifeln!«

»Ja, mein lieber zärtlicher Freund, ich bete Sie an und würde mich gern mit Ihnen allen Wonnen hingeben; aber Sie müssen mich schonen und Rücksicht auf mein Zartgefühl nehmen.«

Als sie aber Tränen in meinen Augen sah, ging ihr dies so zu Herzen, daß sie ohnmächtig wurde. Ich fing sie in meinen Armen auf und legte sie sanft auf ein Bett, das dicht daneben stand. Sie verlor nicht vollständig die Besinnung, aber ihre Blässe beunruhigte mich. Ich hielt ihr Riechsalz unter die Nase und rieb ihre Schläfen mit Savoyer Tropfen, die ich bei mir trug. Bald schlug sie die Augen wieder auf, reichte mir ihren Mund zum Kuß und schien glücklich zu sein über die Ruhe meiner Sinne, die ihr durch meinen zärtlichen Kuß bestätigt wurde. Der Gedanke, mir ihre Lage zunutze zu machen, würde mich mit Abscheu erfüllt haben.

Sie richtete sich auf und sagte: »Jetzt haben Sie mich von der Aufrichtigkeit Ihrer Gefühle überzeugt.«

»Hättest du glauben können, göttliche Freundin, daß ich so niedrig sein könnte, deine Ohnmacht zu mißbrauchen? Wäre es für mich ein Genuß, wenn du ihn nicht teiltest?«

»Ich glaube es nicht; aber ich würde mich Ihnen nicht widersetzt haben. Doch ist es wohl möglich, daß ich Sie dann nicht mehr geliebt haben würde.«

»Sarah, Sie üben, ohne es zu wissen, einen Zauber über mich aus, der mich zugrunde richtet!«

Nach diesen Worten setzte ich mich traurig an das Kopfende ihres Bettes und überließ mich den trübsten Gedanken. Sarah erriet vielleicht, was in mir vorging, und suchte mich nicht davon abzulenken.

Ihre Mutter kam nach Hause und fragte sie, warum sie zu Bett liege; aber in ihrer Frage lag kein Verdacht, der übrigens durch meine Stellung neben dem Bett und meine traurige Miene vollkommen widerlegt worden wäre. Sarah sagte ihr die Wahrheit.

Gleich darauf kam Herr von F. nach Hause, und wir aßen zu Mittag; aber es war eine stille Mahlzeit. Was mir widerfahren war und was ich von diesem Mädchen mit reinem Herzen und glühender Leidenschaft hatte hören müssen, hatte mich in eine ganz niedergeschlagene Stimmung versetzt. Ich sah klar und deutlich, daß ich nichts mehr zu hoffen hatte, und da ich mein Temperament kannte, so fühlte ich, daß ich an mich selber denken mußte. Erst vor sechs Wochen hatte Gott mir geholfen, mich aus den Fesseln einer Charpillon zu befreien, deren niederträchtigen Charakter ich kannte, und nun sah ich mich in Gefahr, in leidenschaftlicher Liebe zu einem Engel zu entbrennen, dessen Tugenden ich nicht verkennen konnte. Die Gefahr war tausendmal größer; – da ich nun einmal keine Aussicht hatte, sie als Ehegattin zu erhalten, so mußte ich fürchten, meine Vernunft oder gar mein Leben zu verlieren. Daran wäre sie schuld gewesen, und ich hätte nicht einmal den traurigen Trost gehabt, mich über sie beklagen zu können.

Dies sind etwa die Betrachtungen, die ich während Sarahs Ohnmacht angestellt hatte; diese Gedanken mußten erst ausreifen.

In der City fand ein Verkauf kostbarer Gegenstände in Gestalt einer Lotterie statt. Sarah hatte die Anzeige gelesen, und ich lud sie nebst ihrer Schwester und Mutter ein, mit mir hinzufahren. Es kostete mir keine Mühe, ihre Zustimmung zu erlangen. Wir fanden dort viele vornehme Personen, unter anderen die Gräfin Harrington, Lady Emilie Stanhope und ihre Tochter. Die Mutter hatte damals eine eigentümliche Geschichte auf dem Halse: sie ließ durch Polizeikommissäre in ihrem Hause Nachforschungen anstellen, um den Dieb von sechstausend Pfund Sterling zu entdecken, die man ihrem Manne gestohlen hatte, während in London kein Mensch daran zweifelte, daß sie selber diese Summe auf die Seite gebracht hatte.

Frau von F. spielte nicht, aber sie hatte nichts dagegen, daß ihre Töchter einige Lose von mir annahmen. Sie waren glücklich, denn sie erhielten für zehn oder zwölf Guineen Gegenstände im Werte von mehr als sechzig.

Da ich mich mit jedem Tage mehr in Sarah verliebte, aber überzeugt war, daß ich nur noch sehr unbedeutende Gunstbezeigungen von ihr erlangen würde, so glaubte ich eine Erklärung nicht mehr hinausschieben zu dürfen. Ich sagte ihnen nach dem Abendessen, während wir noch bei Tische saßen: da ich nicht sicher wäre, daß die entzückende Sarah mein Weib werden könnte, so hätte ich mich entschlossen, meine Reise nach Bern noch aufzuschieben. Der Vater billigte meinen Entschluß und sagte mir, ich könnte mit seiner Tochter einen Briefwechsel unterhalten. Sarah wußte sich zu beherrschen und schien mit dieser Anordnung einverstanden zu sein; aber es war leicht zu sehen, daß sie sich Gewalt antat.

Ich verbrachte eine grausame Nacht. Zum ersten Male in meinem Leben sah ich mich geliebt und doch unglücklich wegen einer Laune seltsamster Art. Ich erwog noch einmal die Gründe, die Sarah mir angeführt hatte, und da ich sie nicht triftig finden konnte, so zog ich den Schluß, daß meine Liebkosungen ihr nicht gefallen hätten.

Während der letzten drei Tage befand ich mich mehrere Male mit ihr unter vier Augen; aber ich mäßigte stets die Erregung, in die ihre Gegenwart mich versetzte; sie ihrerseits erwies mir tausend anständige Liebkosungen, die ich als bedeutsame Gunstbeweise hätte ansehen können, wenn ich nicht eben den höchsten Gunstbeweis schon erhalten hätte. Ich machte dadurch eine Erfahrung, die ich noch nicht kannte und die ich nicht für möglich gehalten hätte, weil ich bis jetzt stets das Gegenteil erfahren hatte: nämlich daß Enthaltsamkeit, die im allgemeinen eine Liebe nur noch mehr anstachelt, zuweilen auch die entgegengesetzte Wirkung hervorbringt. Sarah würde mir mit der Zeit noch völlig gleichgültig geworden sein; denn ich hätte sie niemals meiner Freundschaft unwert finden können. Ein ganz anderer Charakter dagegen, eine Charpillon, die mich betrog und mich wütend machte, eine kokette Freudendirne, die immer Hoffnungen zu erregen weiß und niemals sich finden läßt, – eine solche bringt einen Mann durch Erregung zur Verzweiflung und flößt ihm schließlich durch die Enttäuschung Verachtung und oft Haß ein.

Die Familie reiste nach Ostende ab, und ich begleitete sie bis zur Themsemündung. Ich gab Sarah einen Brief für Frau von W., dies war die gelehrte Hedwig, die sie nicht kannte. Zwei Jahre später wurde Sarah ihre Schwägerin, indem sie einen Bruder des Herrn von W. heiratete, mit dem sie glücklich wurde.

Wenn ich heute mich nach meinen alten Bekannten erkundige, höre ich die Nachrichten aufmerksam, ja sogar mit Vergnügen an; aber die Teilnahme, die sie in mir erregen, ist geringer als mein Interesse an einer weltgeschichtlichen Begebenheit, an einer Anekdote, die vor fünf oder sechs Jahrhunderten vorgefallen ist und bis dahin allen Gelehrten unbekannt war. Wir empfinden für unsere Zeitgenossen, ja sogar für gewisse Teilnehmer an den tollen Streichen unserer Vergangenheit eine Art von Verachtung oder zum mindesten eine Gleichgültigkeit, die vielleicht der Verachtung entspringt, die wir ingewissen Augenblicken vor uns selber haben.

Vor vier Jahren schrieb ich nach Hamburg an Madame G. Mein Brief begann mit den Worten: »Nach einem neunundzwanzigjährigen Schweigen –« Sie würdigte mich keiner Antwort und ich nahm ihr dies nicht übel. Ich denke, wir Menschen machen uns gar nichts auseinander, und das ist vollkommen natürlich.

Wenn der Leser erfährt, wer diese Frau G. ist, so wird er lachen, und mit Recht. Vor zwei Jahren war ich schon unterwegs nach Hamburg. Was wollte ich dort? Mein guter Genius führte mich nach Dux zurück.

Nach der Abreise meiner Gäste empfand ich eine Leere und ein Gefühl von Traurigkeit. Ich ging in die Oper im Covent-Garden und fand dort Goudar, der mich fragte, ob ich in das Konzert der Sartori gehen wolle. Ich würde dort eine junge Engländerin sehen, die ein wahres Juwel wäre und italienisch spräche.

Da ich eben erst Sarah verloren hatte, fühlte ich mich nicht in der Stimmung, so bald eine neue Bekanntschaft zu machen; aber ich war neugierig, dies Wunder zu sehen. Ich folgte meiner Laune und fand nur Langeweile. Darüber freute ich mich. Und doch war die junge Engländerin hübsch. Ein junger Livländer, der sich Baron von Stenau nennen ließ und ein sehr angenehmes Gesicht hatte, schien sehr verliebt in sie zu sein. Als sie nach dem Abendessen uns Eintrittskarten für ein neues Konzert anbot, nahm ich eine für mich und eine für Goudar und gab ihr zwei Guineen; der livländische Baron nahm aber gleich fünfzig und gab ihr für den Betrag eine Fünfzig-Pfund-Note. Ich sah daran, daß er sie im Sturm erobern wollte, und dies gefiel mir. Ich hielt ihn für reich, ohne mir jedoch Mühe zu geben, mich davon zu überzeugen. Er kam mir freundlich entgegen, und wir wurden Freunde. Bald werde ich erzählen, welche Folgen diese verhängnisvolle Bekanntschaft hatte.

Als ich eines Tages mit Goudar im Hyde-Park spazieren ging, verließ er mich, um mit zwei jungen Damen zu sprechen, die mir in ihren großen Hüten hübsch zu sein schienen. Wenige Augenblicke darauf kam er wieder zu mir und sagte: »Eine Dame aus Hannover, Witwe und Mutter von fünf Töchtern, ist vor zwei Monaten mit ihrer ganzen Nachkommenschaft nach London gekommen. Sie wohnt in einem Hause hier in der Nähe. Sie bemüht sich bei der Regierung um Ersatz für den Schaden, den sie durch den Durchmarsch der Armee des Herzogs von Cumberland erlitten hat. Die Mutter soll angeblich krank sein; sie liegt immer zu Bett und läßt sich von keinem Menschen sehen. Sie schickt ihre beiden ältesten Töchter aus, um die erwartete Entschädigung zu erbitten; dies sind die beiden jungen Mädchen, die Sie eben gesehen haben. Sie können nichts erreichen. Die älteste ist zweiundzwanzig Jahre alt, und ihre jüngste Schwester ist vierzehn, sie sind alle fünf hübsch, sprechen gleich gut englisch, französisch und deutsch und empfangen sehr liebenswürdig jeden Besucher, sind aber dabei immer alle zusammen. Ich habe sie aus Neugier besucht und bin von ihnen gut aufgenommen worden; da ich ihnen aber nichts gegeben habe, so wage ich es nicht, allein wieder zu ihnen zu gehen. Wenn Sie neugierig auf sie sind, können wir hingehen.«

»Wie sollte man nicht neugierig sein, wenn man eine solche Geschichte hört! Wir wollen hingehen; aber wenn die, die mir gefällt, nicht gefällig ist, bekommt sie nichts.«

»Sie werden nichts geben, denn sie lassen sich nicht einmal die Hand berühren.«

»Es sind wohl Charpillons?«

»Es scheint so. Aber Sie werden keine Männer bei ihnen sehen.«

Wir gingen hin und betraten einen großen Saal, wo ich drei hübsche Mädchen und einen Mann von üblem Aussehen erblickte. Ich machte ihnen die üblichen Komplimente; sie antworteten darauf nur durch eine höfliche Verbeugung, aber mit sehr traurigen Gesichtern.

Goudar hatte unterdessen mit dem Mann gesprochen; er trat auf mich zu und sagte achselzuckend: »Wir sind in einem schlechten Augenblick gekommen. Der Mann ist ein Gerichtsbeamter; er will die Mutter ins Gefängnis führen, wenn sie nicht dem Wirt zwanzig Guineen bezahlt, die sie für Miete schuldet; sie haben aber keinen Heller. Sobald die Mutter im Gefängnis ist, wird der Hauseigentümer natürlich die Mädchen auf die Straße setzen.«

»Sie können ja bei ihrer Mutter wohnen; das wird ihnen nichts kosten.«

»Sie irren sich. Sie können ins Gefängnis gehen und dort für ihr Geld essen; weiter aber auch nichts, denn wohnen dürfen im Gefängnis nur die Gefangenen.«

Ich fragte eine von ihnen, wo ihre Schwestern seien.

»Sie sind ausgegangen und wollen versuchen, Geld aufzutreiben; denn der Wirt will sich mit einer Bürgschaft nicht begnügen. Er verlangt bares Geld, und wir haben nichts mehr zu verkaufen.«

»Das ist sehr traurig, mein Fräulein. Und was sagt denn Ihre Mutter dazu?«

»Sie weint. Krank und bettlägerig, wie sie ist, will man sie ins Gefängnis bringen! Um sie zu trösten, hat der Hauswirt ihr sagen lassen, er werde sie tragen lassen.«

»Das ist barbarisch. Aber ich finde Sie hübsch, mein Fräulein, und ich könnte Sie aus der Verlegenheit befreien, wenn Sie gut sein wollten.«

»Ich ahne nicht, von welcher Güte Sie sprechen wollen.«

»Ihre Mama wird Ihnen sagen können, worum es sich handelt. Fragen Sie sie um Rat!«

»Mein Herr, Sie kennen uns nicht; wir sind anständige Mädchen und sind von Stande!«

Mit diesen Worten drehte das Persönchen mir den Rücken zu und fing wieder an zu weinen. Die beiden anderen, die ebenso hübsch waren wie sie, standen dabei und sagten kein Wort. Goudar sagte mir auf italienisch: wenn wir die Betrübten nicht auf eine tatkräftige Weise trösten wollten, spielten wir eine sehr traurige Figur. Ich war unmenschlich genug, hinauszugehen, ohne etwas zu erwidern.

Sechzehntes Kapitel


Die Hannoveranerinnen.

Auf der Schwelle trafen wir die beiden älteren, die mit traurigem Gesicht nach Hause kamen. Ich war überrascht von ihrer Schönheit und noch mehr, als eine von ihnen mich mit den Worten begrüßte: »Ah! Der Herr Chevalier de Seingalt.«

»Er selber, mein Fräulein, und sehr betrübt über ihr Unglück.«

»Würden Sie, mein Herr, mir die Ehre erweisen, mit mir einen Augenblick wieder hineinzugehen?«

»Ein dringendes Geschäft verhindert mich daran.«

»Ich bitte Sie nur um eine Viertelstunde.«

Ich konnte ihr diese Bitte nicht abschlagen, und sie verwandte die Viertelstunde darauf, mir zu erzählen, wie ihre Familie im Hannoverschen vom Unglück getroffen worden sei. Sie seien nach London gereist, um eine Entschädigung zu erlangen. Alle ihre Schritte seien erfolglos gewesen; ihre Mutter habe Schulden machen müssen, um nur leben zu können; ihrer Krankheit wegen könne sie selber nichts unternehmen. Der barbarische Hauswirt drohe ihrer Mutter mit dem Gefängnis und werde sie selber auf die Straße setzen; alle ihre Bekannten seien so hartherzig gewesen, ihr jede Unterstützung zu verweigern. »Wir haben nichts zu verkaufen, mein Herr, und unsere ganzen Mittel bestehen in zwei Schillingen, um uns Brot zu kaufen, die einzige Nahrung, die wir uns erlauben können.«

»Was sind denn das für Bekannte von Ihnen, mein Fräulein, die den traurigen Mut haben können, Sie in einem solchen Elend in Stich zu lassen?«

Sie nannte mir mehrere Personen, darunter auch Lord Baltimore, den neapolitanischen Gesandten Marchese Caraccioli und Lord Pembroke.

»Das ist unglaublich,« sagte ich, »denn diese drei letztgenannten Herren kenne ich als edel, reich und freigebig. Da muß eine gerechte Ursache vorhanden sein; denn Sie sind alle schön, und Schönheit ist für diese Herren ein Wechsel auf Sicht.«

»Ja, mein Herr, es ist ein Grund vorhanden. Diese edlen und reichen Herren lassen uns in Stich und verachten uns. Unsere Lage erregt nicht ihr Mitleid, weil wir nicht bereit sind, Wünsche zu befriedigen, die gegen unsere Pflicht verstoßen.«

»Das heißt also: sie finden Sie liebenswürdig und wünschen, daß Sie die Begierden befriedigen, die Sie ihnen einflößen; wenn nun Sie kein Mitleid mit ihnen haben, so wollen sie auch kein Mitleid mit Ihnen haben. Ist es so?«

»Ganz genau so.«

»Ich finde, sie haben recht.«

»Recht?«

»Ganz gewiß, und ich denke ganz genau wie sie. Wir lassen Sie bei ihrer Pflicht und behalten unser Geld, um uns Genüsse zu verschaffen, die Sie uns verweigern. Ihr Unglück ist in diesem Augenblick, daß Sie hübsch sind; denn wenn Sie häßlich wären, würden Sie leicht zwanzig Guineen finden. Ich selber würde sie Ihnen geben; denn dann würde man dies Geschenk meiner Wohltätigkeit zuschreiben; da Sie aber schön und dazu geschaffen sind, glühende Begierden zu erregen, so würde man meine Handlung nur der Hoffnung zuschreiben, eine Belohnung dafür zu erhalten, und würde sich mit Recht über mich lustig machen; denn man würde wissen, daß ich gefoppt würde.«

So mußte ich mit diesem Mädchen sprechen, das von einer wahrhaft hinreißenden Beredsamkeit war. Als ich sah, daß sie nichts zu antworten wußte, fragte ich sie, woher sie mich kenne.

»Ich habe Sie in Richmond mit der Charpillon gesehen.«

»Sie hat mir zweitausend Guineen gekostet, ohne daß ich etwas von ihr erlangt habe, aber diese Lehre ist nicht umsonst gewesen: denn ich habe mir vorgenommen, Liebesgunst niemals zu bezahlen, bevor ich mich ihrer versichert habe.«

In diesem Augenblick wurde sie von ihrer Mutter gerufen. Sie bat mich, einen Augenblick zu warten, kam gleich darauf wieder herein und sagte mir, die Kranke bitte mich, einen Augenblick zu ihr zu kommen.

Ich fand in ihrem Bette aufrecht sitzend eine Frau von etwa fünfundvierzig Jahren, deren Züge noch verrieten, daß sie einstmals schön gewesen sei; sie sah traurig, aber durchaus nicht krank aus. Lebhafte, ausdrucksvolle Augen, ein geistreiches, kluges Gesicht mußten mir den Rat geben, auf meiner Hut zu sein: sie hatte, trotz ihren vornehmen Manieren, einen falschen Gesichtsausdruck, wie die Mutter der Charpillon. Das war für mich ein Grund mehr, mich gegen alle Empfindsamkeit abzustumpfen.

»Madame,« begann ich, »was wünschen Sie von mir?«

»Mein Herr, ich habe alles gehört, was Sie zu meinen Töchtern gesagt haben. Geben Sie zu, daß Sie nicht eben wie ein Vater mit ihnen gesprochen haben.«

»Ich gebe es zu, Madame, aber eine väterliche Sprache hätte durchaus nicht zu der Rolle eines Liebhabers gepaßt, der einzigen, die ich bei ihnen spielen will. Wenn ich Töchter hätte, meine Gnädige, so glaube ich, daß ein Prediger zwecklos für sie sein würde; ich habe Ihren jungen Damen gesagt, was ich fühle und was ich ihnen sagen mußte, um die Zwecke zu erreichen, die ich im Auge habe. Ich mache keine Ansprüche auf Tugend und bin Verehrer des schönen Geschlechts. Wenn sie meiner bedürfen, so wissen, nach dieser offenen Erklärung, sie und auch Sie, welcher Weg zu meiner Börse führt. Wenn sie nach ihrer Art tugendhaft sein wollen, so werde ich sie nicht mehr quälen; sie müssen aber auch nicht die Männer quälen. Leben Sie wohl, Madame; Sie können sich darauf verlassen, ich werde nicht mehr mit Ihren Töchtern sprechen.«

»Noch eine Minute, mein Herr. Mein Mann war der Graf von ***; Sie sehen also, meine Töchter haben durch ihre Geburt Anspruch auf Achtung.«

»Ich kann ihnen meine Achtung nicht besser beweisen, als indem ich sie nicht mehr sehe.«

»Erregt denn unsere Lage nicht Ihr Mitleid?«

»Sehr. Ich würde sofort ohne jeden Anspruch auf Vergütung eingreifen, wenn sie mir nichts zu geben hätten, wenn Ihre Mädchen häßlich wären; aber, meine Gnädige, sie sind hübsch, und das ändert die Sachlage.«

»Was für eine Folgerung!«

»In meinen Augen eine sehr triftige, und über ihre Bedeutung kann ich, soweit ich selber in Betracht komme, nur allein urteilen. Sie brauchen zwanzig Guineen, um nicht ins Gefängnis zu gehen; sie stehen zu Ihrer Verfügung, sobald eine von Ihren fünf jungen Gräfinnen eine fröhliche Nacht mit mir verbracht hat.«

»Was für eine Sprache gegenüber einer Frau von meinem Range! Niemals hat man mir etwas Derartiges gesagt.«

»Entschuldigen Sie meine Aufrichtigkeit; aber was heißt Rang, wenn man bettelarm ist? Gestatten Sie mir, mich zu entfernen.«

»Wir befinden uns in der traurigen Lage, heute nur Brot essen zu können.«

»Das ist für Gräfinnen gewiß hart.«

»Sie scheinen sich über diesen Titel lustig zu machen?«

»Ich gebe es zu; aber ich will Sie nicht beleidigen. Wenn es Ihnen übrigens recht ist, will ich hier bleiben und mit Ihren jungen Damen essen; ich werde für alle bezahlen, auch für Sie.«

»Sie sind ein seltsamer Mensch. Meine Töchter werden traurig sein, denn man wird mich ins Gefängnis bringen; Sie werden sich langweilen.«

»Das ist meine Sache.«

»Geben Sie ihnen lieber das Geld, das Sie dafür ausgeben würden.«

»Nein, Madame: ich will für mein Geld wenigstens mit Augen und Ohren genießen. Ich werde Ihre Verhaftung bis morgen aufschieben lassen, und bis dahin wird die Vorsehung sich vielleicht Ihrer annehmen. Lassen Sie mich nur machen.«

Ich beauftragte Goudar, den Wirt zu fragen, was er dafür verlange, wenn er den Büttel auf vierundzwanzig Stunden fortschicke. Der Chevalier meldete mir, der Wirt verlange eine Guinee und Bürgschaft, daß ihm die zwanzig Guineen bezahlt werden müßten, wenn seine Mieterinnen sich innerhalb der vierundzwanzig Stunden entfernten.

Mein Weinhändler wohnte ganz in der Nähe. Ich sagte Goudar, er möchte auf mich warten, und die Sache war in einem Augenblick in Ordnung; ich kam mit einer Erklärung des Wirtes zurück und gab sie dem Büttel, der sich sofort entfernte; hierauf sagte ich den fünf Nymphen, sie könnten noch vierundzwanzig Stunden so lustig sein, wie sie wollten. Nachdem ich Goudar von den getroffenen Maßnahmen in Kenntnis gesetzt hatte, bat ich ihn, uns ein gutes Mittagessen für acht Personen kommen zu lassen. Er ging. Ich trat hierauf bei der Mutter ein und rief die Mädchen, die ganz fröhlich wurden, als sie hörten, daß wir bis zum anderen Tage prassen wollten. Sie waren sehr überrascht, wie schnell ich das alles in Ordnung gebracht hatte. Zur Mutter sagte ich: »Das, meine Gnädige, war alles, was ich für Sie tun konnte. Ihre Töchter sind reizend, ich empfinde für sie alle eine lebhafte Teilnahme; ich habe Ihnen für vierundzwanzig Stunden Ruhe verschafft, ohne etwas dafür zu verlangen. Ich werde mit ihnen zu Mittag und zu Abend essen und die Nacht mit ihnen verbringen, ohne auch nur einen einzigen Kuß von ihnen zu verlangen. Wenn Sie aber morgen noch nicht Ihr System geändert haben, sind Sie in derselben Lage wie heute, und ich werde Sie nicht mehr belästigen.«

»Was verstehen Sie unter dieser Änderung des Systems?«

»Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen; Sie verstehen mich schon!«

»Meine Töchter werden sich niemals mit einem Manne prostituieren.«

»Ich werde sie in ganz London als keusche Susannen preisen und werde meine Guineen anderswo ausgeben.«

»Sie sind recht boshaft.«

»Sehr boshaft, das gebe ich zu; aber nur, wenn man nicht gut ist – was ich so unter gut verstehe.«

Da Goudar zurückgekehrt war, begaben wir uns wieder in das Zimmer, wo die jungen Damen sich aufhielten; denn die Mutter wollte sich vor meinem Freunde nicht sehen lassen. Sie sagte, seitdem sie sich in London aufhalte, sei ich der einzige, den sie in ihrer Lage zu empfangen sich habe entschließen können.

Unser Mittagessen von lauter englischen Gerichten war ziemlich gut; ich sah mit einer wahren Lust, wie die fünf unglücklichen Mädchen alles hinunterschlangen, was ich ihnen auf ihre Teller legte. Man hätte meinen mögen, es seien Wilde, die nach langem Fasten über eine Beute herfallen. Ich hatte einen Korb ausgezeichneten Weines kommen lassen und ließ jede von ihnen eine Flasche trinken; da sie an Wein nicht gewöhnt waren, so wurden sie betrunken. Ihre Mutter hatte alles verschlungen, was ich ihr zugeschickt hatte, und ich hatte ihr die Bissen nicht zugezählt; sie leerte ebenfalls eine Flasche Burgunder, die ihr sehr gut bekam.

Trotz ihrer Trunkenheit waren die jungen Bacchantinnen vor jedem Angriff sicher; ich hielt mein Wort, und Goudar erlaubte sich nicht die geringste Freiheit. Wir speisten fröhlich zu Abend, und nachdem wir noch eine große Bowle Punsch getrunken hatten, entfernte ich mich. Ich war in alle fünf verliebt, und es war mir sehr ungewiß, ob ich am nächsten Tage ebenso standhaft sein würde. Auf dem Heimweg sagte Goudar zu mir: »Sie tun sehr wohl daran, daß Sie zu Bett gehen. Sie behandeln diese zimperlichen Frauenzimmer geradeso, wie sie behandelt werden müssen; aber wenn Sie nicht standhaft bleiben, sind Sie verloren!«

Am nächsten Morgen war ich ungeduldig, das Ergebnis der Beratung zu erfahren, die die Mutter ohne Zweifel mit ihren Töchtern abgehalten hatte. Ich ging daher gegen zehn Uhr zu ihnen. Die beiden ältesten waren schon seit dem frühen Morgen unterwegs, um sich bei den Bekannten zu bemühen, mit denen sie am Tage vorher nicht hatten sprechen können. Die drei jüngsten stürzten auf mich zu wie junge Hunde, die ihren Herrn begrüßen, wenn er nach Hause kommt; aber sie erlaubten mir nicht, sie zu umarmen oder ihnen auch nur die Hand zu küssen. Ich sagte ihnen, das sei nicht recht von ihnen, und klopfte an die Tür der Mutter. Sie bat mich einzutreten und dankte mir für den schönen Tag, den ich ihnen bereitet hätte.

»Soll ich meine Bürgschaft zurückziehen, Frau Gräfin?«

»Das steht in Ihrem Belieben; aber ich glaube nicht, daß Sie dazu imstande sind.«

»Da irren Sie sich. Ich glaube, Sie kennen das menschliche Herz, Frau Gräfin. Aber Sie haben nicht den menschlichen Geist studiert, oder Sie bilden sich ein, mehr Geist zu haben als alle anderen Menschen. Alle Ihre Töchter haben mich gestern entflammt; aber sollte ich an dieser Liebe sterben: ich werde weder für Sie noch für Ihre Mädchen auch nur das Geringste tun, bevor Sie für mich das einzige getan haben, das in Ihrer Macht steht. Und nun überlasse ich Sie Ihren Gedanken und besonders Ihren Tugenden.«

Sie bat mich, zu bleiben; aber ohne auf sie zu hören, ohne die hübschen jungen Hexen auch nur anzusehen, entfernte ich mich und sagte meinem Weinhändler Maisonneuve, er solle seine Bürgschaft zurückziehen. Dann ging ich mit einem Tigerherzen zu Lord Pembroke, den ich seit drei Wochen nicht gesehen hatte. Als ich von den Hannoveranerinnen anfing, lachte er laut auf und sagte, man müsse diese falschen Gotteslämmer zwingen, ihren Beruf aufrichtig zu erfüllen.

»Gestern waren sie hier und sangen mir ihr Klagelied. Aber anstatt ihnen zu helfen, habe ich ihnen ins Gesicht gelacht. Sie hatten nichts zu essen, aber ich habe nicht einmal meiner Hand erlaubt, ihnen eine elende Guinee zu reichen; sie haben mir zu drei oder vier Malen im ganzen etwa ein Dutzend Guineen entlockt, indem sie mir Hoffnungen auf Erkenntlichkeit machten: aber sie haben mich jedesmal angeführt. Es sind Frauenzimmer von der Sorte der Charpillon.«

Ich sagte ihm, was ich am Tage vorher getan hätte, und was ich zu tun gedächte: zwanzig Guineen für die erste und ebensoviel für jede folgende, aber erst nach dem Genuß, – sonst nichts.

»Ich hatte denselben Gedanken, aber ich habe ihn wieder aufgegeben, und ich glaube auch nicht, daß es Ihnen gelingen wird, denn Baltimore hat ihnen zweihundert angeboten, also vierzig für jede, aber das Geschäft ist zu Wasser geworden, weil sie das Geld voraus haben wollten. Sie sind gestern auch bei ihm gewesen, haben ihn aber unerbittlich gefunden; denn sie hatten ihn mehrere Male betrogen.«

»Wir werden sehen, was sie machen werden, wenn die Mutter hinter Schloß und Riegel sitzt; ich wette, wir werden sie billig bekommen.«

Ich ging zum Mittagessen nach Hause. Goudar kam und sagte mir, er komme soeben von ihnen; der Gerichtsvollzieher habe ihnen erklärt, er werde nur bis vier Uhr warten; die beiden ältesten seien mit leeren Händen von ihrem Ausgang zurückgekommen; denn sie hätten lauter verschlossene Herzen gefunden. Da sie kein Stück Brot im Hause gehabt hätten, so hätten sie für ein paar Schillinge eins von ihren Kleidern verkauft. Ich fand das unbegreiflich.

Ich war überzeugt, daß sie sich noch einmal an mich wenden würden, und ich täuschte mich nicht. Als wir beim Nachtisch waren, erschienen sie. Ich ließ sie Platz nehmen, und die älteste bot ihre ganze Beredsamkeit auf, um mich zu bewegen, meine Bürgschaft noch um einen Tag zu verlängern.

»Sie werden mich unbarmherzig finden,« antwortete ich ihr, »es sei denn, Sie gehen auf den Plan ein, den ich Ihnen mitteilen werde, wenn Sie mit mir in ein anderes Zimmer kommen wollen.«

Sie ließ ihre Schwester bei Goudar und folgte mir. Ich ließ sie an meiner Seite auf einem Diwan Platz nehmen, legte zwanzig Guineen vor sie hin und sagte: »Diese gehören Ihnen, aber Sie wissen, um welchen Preis.«

Mein Anerbieten wurde verächtlich zurückgewiesen. Ich dachte, sie wollte vielleicht nur die Entschuldigung eines ernstlichen Angriffs haben und werde sich nur der Form wegen zur Wehr setzen. Ich wurde kühn, aber sie leistete ernstlichen Widerstand und drohte mir, sie werde schreien, wenn ich sie nicht in Ruhe lasse.

Da meine Glut nur berechnet war, machte es mir keine Mühe, mich zu bezähmen. Ich bat sie, mein Haus augenblicklich zu verlassen. Sie tat das und nahm ihre Schwester mit.

Als ich am Abend ins Theater ging, sprach ich bei Maisonneuve vor, um zu hören, was es Neues gäbe. Er sagte mir, der Büttel habe die Mutter ins Gefängnis schaffen lassen, und die jüngste sei mit ihr gegangen; was aus den anderen vier geworden sei, wisse er nicht.

Ich ging sehr traurig nach Hause, denn ich machte mir beinahe einen Vorwurf, kein Mitleid mit ihnen gehabt zu haben; aber im Augenblick, wo ich mich zum Abendessen niedersetzen wollte, standen sie auf einmal vor mir wie vier Magdalenen. Die älteste, die ihre Wortführerin war, sagte mir, ihre Mutter sei im Gefängnis, und sie müßten die Nacht auf der Straße verbringen, wenn ich nicht so menschlich wäre, ihnen ein Zimmer zu gönnen, wäre es auch eins ohne Bett.

»Sie sollen Zimmer, Bett und ein gutes Feuer haben! Aber ich will Sie essen sehen. Nur schnell, setzen Sie sich!«

Da leuchteten ihre Augen freudig auf. Ich ließ alles heraufbringen, was in der Küche fertig war; sie aßen viel, aber sie waren traurig und tranken nur Wasser.

»Ihre Traurigkeit und Ihre Enthaltsamkeit langweilen mich,« sagte ich zu der ältesten; »Sie können mit Ihren Schwestern nach dem zweiten Stock hinaufgehen; Sie werden dort alles finden, um die Nacht bequem zu verbringen; aber morgen früh um sieben Uhr müssen Sie gehen. Lassen Sie sich niemals wieder hier sehen!«

Sie gingen hinauf, ohne ein Wort zu sagen.

Als ich eine Stunde später zu Bett gehen wollte, trat die älteste in mein Zimmer und sagte zu mir, sie habe mit mir unter vier Augen zu sprechen. Ich schickte meinen Neger hinaus und forderte sie auf, sich zu erklären.

»Was werden Sie für uns tun, wenn ich Ihr Lager teile?«

»Ich werde Ihnen zwanzig Guineen geben und werde Sie alle bei mir wohnen und essen lassen, solange Sie gut sind.«

Ohne ein Wort zu sagen, begann sie sich auszuziehen. Sie stellte sich zu meiner Verfügung; aber ich fand nur Unterwürfigkeit, und sie beehrte mich nicht einmal mit einem einzigen Kuß. Angeekelt von einer Gefühllosigkeit, die beleidigend war, weil sie nur berechnet sein konnte, stand ich nach einer Viertelstunde auf, gab ihr eine Banknote von zwanzig Guineen und befahl ihr in schroffem Ton, sich wieder anzukleiden und auf ihr Zimmer zu gehen.

»Morgen früh werden Sie alle mein Haus verlassen, denn ich bin unzufrieden mit Ihnen. Sie haben sich erniedrigt, indem Sie sich prostituierten, anstatt sich der Liebe hinzugeben. Ich schäme mich für Sie!«

Sie gehorchte, ohne ein Wort zu sagen, und ich schlief sehr unzufrieden ein.

Am anderen Morgen um sieben Uhr fühlte ich eine leichte Hand, die mich leise rüttelte; ich schlug die Augen auf und sah zu meiner Überraschung, daß es die zweite war.

»Was wollen Sie?« fragte ich sie kalt und abwehrend.

»Ich wünsche Ihr Mitleid zu erregen und Sie zu veranlassen, daß Sie uns noch einige Tage behalten. Sie können auf meine Dankbarkeit rechnen. Meine Schwester hat mir alles gesagt. Sie sind unzufrieden mit ihr, aber verzeihen Sie ihr; sie hat nicht anders handeln können, denn ihr Herz ist schon gebunden. Sie liebt einen Italiener, der im Schuldgefängnis sitzt.«

»Ich denke mir, Sie sind ebenfalls in irgendeinen verliebt?«

»Nein, ich liebe noch keinen.«

»Und Sie würden mich lieben können?«

Sie schlug ihre Augen nieder und drückte leise meine Hand. Ich zog sie sanft an mich und umarmte sie. Als ich ihre Lippen meine Küsse erwidern fühlte, rief ich: »Sie haben gesiegt!«

»Ich heiße ja auch Victoria.«

»Der Name gefällt mir, und es wird mir Vergnügen machen, ihn zu bestätigen.«

Victoria war zärtlich und gefühlvoll, und ich verbrachte mit ihr zwei köstliche Stunden, die mich reichlich für die unangenehme Viertelstunde entschädigten, die ihre Schwester mir gewidmet hatte.

Nach unserer ersten Liebestat sagte ich zu ihr: »Meine liebe Victoria, ich bin ganz dein; laß deine Mutter hierher bringen, sobald sie frei ist. Hier sind zwanzig Guineen für dich.«

Sie hatte dies nicht erwartet. In ihrer angenehmen Überraschung schlug ihr freudig das Herz; ihre Augen waren feucht von Liebe und Dankbarkeit. Sie konnte nicht sprechen, aber ihr Gesicht strahlte vor Freude.

Ich war glücklich, und ich glaube, an meinem Glück hatte das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben, ebensoviel Anteil wie der gehabte Liebesgenuß. Der tugendhafteste Mensch wie der verderbteste ist ein Gemisch seltsamster Bestandteile!

Ich befahl sofort, in Zukunft regelmäßig für acht Personen zu kochen, und schloß meine Tür vor jedermann mit Ausnahme Goudars. Ich trieb eine tolle Verschwendung, und ich fühlte, daß meine Mittel sich ihrem Ende nahten; aber ich genoß und ich dachte, ich würde in Lissabon neue Mittel finden. Gegen Mittag kam die Mutter in einer Sänfte an; sie legte sich sofort zu Bett; ich machte ihr meinen Besuch und hörte, ohne mich zu wundern, die Lobsprüche an, die sie meinen Tugenden zollte. Ich sollte glauben, sie sei überzeugt, daß ich die vierzig Guineen ihrer Tochter nur aus Großmut gegeben habe, und daß diese nicht etwa der Preis für die Huld ihrer Mädchen seien. Ich ließ sie gern in ihrer heuchlerischen Selbstgefälligkeit.

Am Abend führte ich sie nach Covent-Garden, wo der Kastrat Tenducci mir zu meiner großen Überraschung seine Ehefrau vorstellte, von der er zwei Kinder hatte. Er lachte über die Leute, die behaupteten, er könne als Kastrat keine Nachkommenschaft haben. Die Natur hatte ihn als Mißgeburt geschaffen, damit er Mann bleiben könnte; er war triorchis, und da ihm bei der Operation nur zwei Hoden fortgenommen waren, so genügte ihm der verbleibende, um seine Manneskraft zu bestätigen.

In meinen kleinen Harem zurückgekehrt, hatte ich ein köstliches Abendessen mit den fünf Nymphen, die von einer reizenden Fröhlichkeit waren; hierauf verbrachte ich eine Nacht voller Liebe mit Victoria, die sich Glück wünschte, meine Eroberung gemacht zu haben. Sie erzählte mir, der Liebhaber ihrer Schwester sei ein neapolitanischer Marchese Petina; er werde sie heiraten, sobald er aus dem Gefängnis herauskomme; er erwarte Geld, und ihre Mutter sei entzückt über die Aussicht ihrer Tochter, eine Marchesa zu werden.

»Wieviel ist denn dieser Marchese schuldig?«

»Zwanzig Guineen.«

»Und wegen eines solchen Bettels läßt der neapolitanische Gesandte ihn im Gefängnis? Das ist sehr merkwürdig!«

»Er will ihn nicht empfangen, weil der Marchese Neapel ohne Erlaubnis seines Königs verlassen hat.«

»Sage deiner Schwester: wenn der neapolitanische Gesandte mir die Versicherung gäbe, daß Petinas Angabe in betreff seines Namens richtig sei, so würde ich ihn sofort aus dem Gefängnis erlösen.«

Ich ging aus, um meine Tochter und eine andere Pensionärin, die ich sehr gern hatte, zum Essen einzuladen. Unterwegs sprach ich bei dem sehr liebenswürdigen Marchese Caraccioli vor, dessen Bekanntschaft ich in Turin gemacht hatte. Ich fand bei ihm den berühmten Chevalier d’Eon und brauchte ihn nicht beiseite zu nehmen, um meine Erkundigungen über Petina einzuziehen.

»Der junge Mensch,« antwortete mir der Gesandte, »ist wirklich das, wofür er sich ausgibt. Aber ich werde ihn nicht empfangen und ihm kein Geld geben, bevor er mir nicht durch den Marchese Tanucci schreiben läßt, daß er Erlaubnis hat, auf Reisen zu gehen.«

Mehr wollte ich nicht von ihm wissen; aber ich blieb noch eine Stunde bei ihm und hörte mit großem Vergnügen den Chevalier d’Eon seinen Handel erzählen:

Er hatte die französische Botschaft verlassen, weil das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten in Versailles ihm zehntausend Livres, auf die er Anspruch hatte, nicht auszahlen wollte. Er hatte sich unter den Schutz der englischen Gesetze gestellt und, nachdem er zweitausend Subskribenten zu einer Guinee gefunden hatte, einen großen Quartband in Druck gegeben, worin er alle Briefe, die er seit fünf oder sechs Jahren vom französischen Ministerium empfangen hatte, der Öffentlichkeit übergab.

Zu jener Zeit hatte ein Londoner Bankier zwanzigtausend Pfund in der Englischen Bank hinterlegt und diesen Betrag öffentlich zur Wette ausgeboten, daß der Chevalier d’Eon ein Weib sei. Eine Gesellschaft nahm die Wette an; aber man konnte sie nur zum Austrag bringen, wenn d’Eon sich in Gegenwart von Zeugen untersuchen lassen wollte. Man hatte ihm die Hälfte des Einsatzes angeboten, aber der Chevalier hatte die Wetter ausgelacht. Er sagte, eine solche Untersuchung würde ihn entehren, einerlei, ob er Mann oder Weib wäre. Caraccioli sagte ihm, die Untersuchung könne ihn nur entehren, falls er ein Weib sein sollte. Ich war gerade der entgegengesetzten Ansicht. Nach einem Jahre wurde die Wette für ungültig erklärt; aber drei Jahre darauf wurde er vom König von Frankreich begnadigt und erschien in weiblicher Kleidung und mit dem Ludwigskreuz geschmückt bei Hof.

Ludwig der Fünfzehnte hatte das Geheimnis seines Geschlechts von Anfang an gewußt; aber Kardinal Fleury hatte ihn gelehrt, daß Herrscher undurchdringlich sein müssen, und Ludwig war das sein ganzes Leben lang.

Ich ging nach Hause und gab der Hannoveranerin zwanzig Guineen indem ich ihr sagte, sie solle ihren Marchese holen und ihn zum Essen mitbringen, denn ich wolle ihn gern kennen lernen. Ich glaubte, sie würde vor Freude toll werden.

Im Einverständnis mit Victoria und ohne Zweifel auch mit ihrer Mutter entschloß die dritte sich ebenfalls, die zwanzig Guineen zu verdienen, und dies wurde ihr nicht schwer. Um sie hatte Lord Pembroke sich mit besonderer Vorliebe beworben.

Die fünf Mädchen waren gleichsam fünf leckere Gerichte, die ein Feinschmecker sich nach und nach leistet; meiner guten Natur verdankte ich es, daß das letzte Gericht mir immer am besten mundete. Diese dritte hieß Auguste.

Am nächsten Sonntag sah ich mich in zahlreicher Gesellschaft. Ich hatte meine Tochter und ihre reizende Freundin, die Cornelis mit ihrem Sohn zu Tisch. Sophie wurde von den Hannoveranerinnen mit Küssen überdeckt, und ich selber gab ihrer Freundin, Miß Nancy Stein, hundert Küsse. Sie war erst dreizehn Jahre alt; aber ihre frühen Reize und ihre vollkommene Schönheit regten alle meine Sinne auf. Man schrieb meine Zärtlichkeit einem verwandtschaftlichen Gefühl zu, einer väterlichen Liebe; aber, ach, sie war von sehr fleischlicher Natur. Diese Miß Nancy, die in meinen Augen etwas Göttliches hatte, war die Tochter eines reichen Kaufmanns. Ich sagte ihr, es sei mein sehnlicher Wunsch, ihren Vater kennen zu lernen, und sie antwortete mir, ihr Vater habe bereits das gleiche Bedürfnis empfunden und sich vorgenommen, mich gerade an diesem Sonntag aufzusuchen. Hocherfreut über dieses Zusammentreffen unserer Wünsche befahl ich, ihn einzulassen, sobald er kommen würde.

Der arme Marchese Petina war der einzige von uns, der eine traurige Rolle spielte. Er war ein ziemlich gut gewachsener junger Mann, aber mager, abstoßend häßlich und haarsträubend dumm. Er dankte mir mit den Worten, es sei sehr vernünftig von mir gewesen, daß ich die Gelegenheit benutzt habe, ihm gefällig zu sein; denn er sei überzeugt, es werde der Fall eintreten, daß er mir meine Güte hundertfach vergelten könnte.

Ich hatte meiner Tochter sechs Guineen gegeben, um sich einen Pelz zu kaufen. Sie führte mich in ein Zimmer, um ihn mir zu zeigen, und ihre Mutter folgte ihr und wünschte mir Glück zu dem schönen Harem, den ich mir zugelegt hätte.

Bei Tisch herrschte eine reizende Fröhlichkeit. Ich saß zwischen meiner Tochter und Miß Nancy Stein. Ich fühlte mich glücklich; als wir bei den Austern waren, kam Mister Stein. Er umarmte seine Tochter mit jener ausgesuchten Zärtlichkeit, die, wie ich glaube, gerade den englischen Eltern ganz besonders eigentümlich ist.

Mister Stein hatte bereits gespeist; trotzdem aß er vier Schüsseln mit etwa hundert Austern. In der Zubereitung dieses Gerichtes war mein Koch einzig in seiner Art. Auch meinem Champagner tat mein Gast alle Ehre an.

Wir verbrachten drei Stunden bei Tisch; hierauf gingen wir in den dritten Stock, wo Sophie entzückend Klavier spielte und die Lieder begleitete, die ihre Mutter sang. Der kleine Cornelis glänzte durch sein Flötenspiel. Mister Stein beteuerte mir, er habe sich in seinem Leben noch nicht so gut unterhalten; vielleicht komme das allerdings auch ein bißchen daher, daß in England an Sonn- und Festtagen das Vergnügen eine verbotene Frucht sei. Dieser kleine Hieb bewies mir, daß Stein Geist hatte, obwohl er sehr schlecht französisch sprach. Er entfernte sich um sieben Uhr, nachdem er meiner Tochter, die er nebst ihrer reizenden Nancy nach ihrer Pension zurückbrachte, einen sehr schönen Ring geschenkt hatte.

Marchese Petina sagte mir in tölpelhafter Weise, er wisse nicht, wo er ein Zimmer finden solle. Ich konnte mir natürlich leicht denken, was er wollte. Aber ich sagte ihm, für Geld würde er überall eines finden. Hierauf nahm ich seine Geliebte beiseite und gab ihr eine Guinee für ihn, bat sie aber zugleich, ihm zu sagen, er möchte nur wiederkommen, wenn ich ihn einlüde.

Als alle Fremden fort waren, ging ich mit den fünf Schwestern in das Zimmer ihrer Mutter; diese befand sich vortrefflich: sie aß, trank, schlief gut und viel und tat den ganzen Tag nichts, denn sie las und schrieb nicht einmal. Sie genoß in der vollen Bedeutung des Wortes den Genuß des dolce far niente. Indessen sagte sie mir, sie denke fortwährend an ihre Familie, die nur glücklich sei, wenn sie ihre Gebote befolge.

Ich konnte mich kaum des Lachens erwehren, begnügte mich jedoch damit, ihr zu sagen: »Wenn diese Gebote diejenigen sind, die Ihre reizenden Mädchen befolgen, so finde ich sie weiser als die des Solon.« Zugleich zog ich Auguste auf meinen Schoß und sagte zu ihr: »Frau Gräfin, gestatten Sie mir, Ihre reizende Tochter zu umarmen!«

Statt mir geradezu zu antworten, hielt die Heuchlerin mir eine lange Predigt, um die Berechtigung eines väterlichen Kusses zu beweisen. Unterdessen beglückte Auguste mich insgeheim mit den zärtlichsten Liebkosungen. H6H O Zeiten, o Sitten!

Als ich am andern Morgen an meinem Fenster stand, kam der Marchese Caraccioli vorbei und fragte mich, ob er eintreten dürfe. Selbstverständlich begrüßte ich ihn mit der größten Freude. Nach einigen Augenblicken ließ ich die älteste herunterkommen und sagte dem Gesandten, sie werde den Marchese Petina heiraten, sobald er das erwartete Geld erhalten habe.

Hierauf sagte Caraccioli zu ihr: »Mein Fräulein, Ihr Geliebter ist allerdings der Marchese Petina; aber er ist arm und wird niemals einen Heller erhalten. Wenn er nach Neapel zurückkehrt, wird der König ihn einsperren lassen, und wenn er wieder in Freiheit gesetzt wird, werden seine Gläubiger ihn sofort in das Schuldgefängnis der Vicaria bringen lassen.«

Dieser gutgemeinte Rat blieb ohne Wirkung.

Als der Minister fort war, zog ich Reitkleider an, da ich einen Spazierritt machen wollte. Auguste sagte mir: wenn ich wolle, werde ihre Schwester Hippolyta mich begleiten; denn sie reite wie ein Stallmeister.

»Das ist ja scherzhaft; laß sie doch mal herunterkommen.«

Hippolyta kam und bat mich, ich möge ihr doch dieses Vergnügen bereiten, denn ich werde Ehre mit ihr einlegen.

»Recht gern, aber haben Sie einen Männeranzug oder ein Reitkleid?«

»Nein.«

»Dann müssen wir also die Partie bis morgen verschieben.«

Noch an demselben Tag ließ ich ihr die Herrenkleider anfertigen, deren sie bedurfte, und ich verliebte mich in sie, als Pégu ihr das Maß zu den Hosen nahm. Am nächsten Tage war alles fertig, und unser Spazierritt war wirklich reizend, denn das Mädchen wußte ihr Pferd mit einer überraschenden Anmut und Geschicklichkeit zu lenken.

Nach einem ausgezeichneten Abendessen, wobei es an Wein so wenig fehlte wie an Heiterkeit, begleitete Hippolyta glückstrahlend Auguste in mein Zimmer und half ihr beim Auskleiden. Als sie ihr den Gutnacht- Kuß gab, bat ich sie, mir auch einen zu geben. Sie tat es sofort. Nachdem wir ein wenig gescherzt hatten, machte Auguste aus dem Scherz Ernst, indem sie zu ihr sagte, sie solle sich neben mich legen. Ohne mich zu fragen, ob es mir recht sei, tat sie es sofort; so sicher war sie, meinen eigenen Wünschen zu entsprechen. Die Nacht wurde aufs beste angewandt, und ich hatte mich über Mangel an Anregung nicht zu beklagen. Indessen war Auguste vernünftig und überließ den besten Teil unserer Neuen.

Am nächsten Nachmittag ritten wir wieder aus, immer von Jarbe begleitet, der ebenfalls sehr gut ritt. Hippolyta setzte mich im Richmond- Park durch ihre Geschicklichkeit in die größte Verwunderung; sie lenkte alle Blicke auf sich. Sehr zufrieden kamen wir von unserem Spazierritt nach Hause und setzten uns sofort zum Abendessen nieder; beim Essen bemerkte ich, daß Gabriele, die jüngste, traurig aussah und mit mir schmollte. Ich fragte sie nach dem Grunde, und sie sagte mir mit jenem etwas trotzigen Ausdruck, der einem Kinde so gut steht: »Ich reite doch ebensogut wie meine Schwester.«

»Gut! Übermorgen sollen Sie das Vergnügen haben.«

Sofort wurde sie wieder guter Laune. Ich lobte nun Hippolytas Geschicklichkeit und fragte sie, wo sie denn reiten gelernt habe. Sie lachte laut auf und sagte mir, als ich sie überrascht nach der Ursache ihres Lachens fragte: »Ich lache, weil ich niemals Unterricht gehabt habe; ich habe nur viel Mut und einige natürliche Geschicklichkeit.«

»Und hat deine Schwester reiten gelernt?«

»Nein,« sagte Gabriele, »aber ich werde es ebensogut machen wie sie.«

Dies erschien mir nicht glaublich; denn Hippolyta schwebte sozusagen auf ihrem Pferde und ritt wie ein Stallmeister. In der Hoffnung, daß ihre Schwester ihrem Beispiel folgen würde, sagte ich zu ihnen, ich würde sie alle beide mitnehmen, und als sie das Versprechen hörten, jauchzten sie vor Freude laut auf.

Gabriele war erst fünfzehn Jahre alt; ihre Formen waren üppig, aber noch nicht vollkommen entwickelt; sie versprachen jedoch eine vollkommene Schönheit, sobald sie reif sein würde. Mit einer anmutigen Naivität sagte sie zu ihrer Schwester, sie wolle mit mir in mein Zimmer gehen. Ich nahm dies gerne an, ohne mich darum zu bekümmern, ob vielleicht das ganze Komplott hinter meinem Rücken von ihnen verabredet wäre. Als wir allein waren, sagte sie mir sofort, sie habe noch nie einen Liebhaber gehabt. Sie erlaubte mir mit einer naiven Sanftmut, mich davon zu überzeugen. Gabriele war so schön, daß sie von den fünf Nymphen am leichtesten mich hätte dauernd fesseln können, wenn dies überhaupt möglich gewesen wäre. Ihretwegen bedauerte ich es, daß die Mutter sich wenige Tage später zur Abreise entschloß, die ich etwas überstürzt fand. Am Morgen gab ich ihr die ihr zukommenden zwanzig Guineen und außerdem einen schönen Ring zum Zeichen meiner ganz besonderen Liebe; hierauf verbrachten wir den Tag damit, ihren Anzug für den Spazierritt, den wir am nächsten Tage machen wollten, in Ordnung bringen zu lassen.

Gelehrig den Weisungen ihrer Schwester folgend, ritt Gabriele, wie wenn sie zwei Jahre Unterricht gehabt hätte. Wir ritten im Schritt zur Stadt hinaus; sobald wir aber draußen waren, sprengten wir in sausendem Galopp bis Bame (?), wo wir Halt machten, um zu frühstücken. Wir hatten diesen Ritt in fünfundzwanzig Minuten gemacht, obwohl die Entfernung zehn englische Meilen beträgt. Das wird denen, die die Schnelligkeit der englischen Renner nicht kennen, unglaublich erscheinen; wir waren aber ganz hervorragend gut beritten. Meine beiden Amazonen waren entzückend in ihrem Glückstaumel. Ich betete sie an und war selig, daß ich sie so glücklich machte.

Gerade als wir wieder zu Pferd steigen wollten, kam Pembroke, der nach St. Albans ritt. Er hielt an und bewunderte meine beiden Begleiterinnen, die mit großer Anmut ihre Pferde tanzen ließen. Da er sie nicht sofort erkannte, bat er mich um Erlaubnis, ihnen den Hof machen zu dürfen. Ich lachte bei mir selber. Endlich erkannte er sie und sprach mir seinen Glückwunsch aus, indem er mich zugleich fragte, ob ich Hippolyta liebte. Seine Absicht erratend, antwortete ich ihm, ich liebte nur Gabriele.

»Schön! Erlauben Sie mir, Sie zu besuchen?«

»Daran dürfen Sie doch nicht zweifeln!«

Nach einem freundschaftlichen shake-hands ließen wir unseren Pferden die Zügel schießen, und bald waren wir in London. Gabriele war so müde, daß sie sich sofort zu Bett legte. Sie schlief in einem Zuge bis zum nächsten Morgen, ohne daß ich ihren süßen Schlummer störte. Als sie sich beim Erwachen in meinen Armen fand, begann sie zu philosophieren:

»Wie leicht ist es doch, sich auf dieser Welt glücklich zu machen, wenn man reich ist! Aber wie schmerzlich ist es, das aus Mangel an Geld nicht zu können, wenn man schon das Glück vor sich sieht! Gestern war ich das glücklichste Geschöpf, und warum kann ich es nicht alle Tage meines Lebens sein? Ich wäre gern einverstanden, daß mein Leben nur noch ein paar Jahre dauern sollte, wenn ich das Recht hätte, es nach meinem Belieben auszufüllen.«

Ich stellte ebenfalls Betrachtungen an, aber diese waren recht trauriger Natur. Ich sah meine Mittel auf die Neige gehen und dachte an Lissabon. Wäre mein Vermögen unerschöpflich gewesen, so hätten diese jungen Hannoveranerinnen mich mit Leichtigkeit bis an das Ende meines Lebens in ihren zarten Banden halten können. Es war mir, wie wenn ich sie nicht wie ein Liebhaber, sondern wie ein Vater liebte, und daß ich mit ihnen schlief, erhöhte nur mein zärtliches Gefühl. Gabriele sprach mit ihren Augen zu mir, und ich las in diesen nur Liebe. War es möglich, daß ihre Liebe, losgelöst von allen jenen Vorurteilen, die unsere Erziehung tief in unsere Herzen prägt, keine Tugend war? Ich habe mir dieses nie vorstellen können.

Am nächsten Tage besuchte Pembroke uns und lud sich bei mir zum Essen ein. Auguste bezauberte ihn. Er machte ihr Vorschläge, über die sie nur lachte; denn er stellte immer die Bedingung, erst nachher bezahlen zu wollen, und von solcher Einschränkung wollte sie nichts wissen. Trotzdem gab er ihr beim Fortgehen eine Zehnpfundnote, die sie mit vieler Anmut entgegennahm. Am nächsten Tage schrieb er ihr einen Brief, auf den ich sofort zurückkommen werde.

Gleich nachdem der Lord gegangen war, ließ die Mutter mich bitten, zu ihr zu kommen. Nach einer sentimentalen Vorrede über meine Großmut, meine Tugenden und die Wohltaten, die ich unaufhörlich ihrer ganzen Familie angedeihen lasse, sagte sie mir folgendes: »Ich bin überzeugt, daß Sie für meine Töchter die Liebe eines zärtlichen Vaters hegen, und wünsche daher, daß sie wirklich Ihre Töchter werden, wie sie die meinigen sind. Ich biete Ihnen Herz und Hand an: werden Sie mein Gemahl: Sie werden ihr Vater, ihr Herr und der meinige sein. Was antworten Sie mir?«

Ich mußte mir heftig auf die Lippen beißen, um nicht mit einem Gelächter zu antworten, das trotz aller meiner Anstrengung loszubrechen drohte. Doch gaben mir Erstaunen, Verachtung und Entrüstung über ihre unbegreifliche Frechheit bald meine Kaltblütigkeit wieder. Ich sah klar und deutlich, daß die abgefeimte Heuchlerin sicherlich auf eine schroffe Abweisung gerechnet und daß sie mir diesen lächerlichen Vorschlag nur gemacht hatte, um mir vorzureden, sie glaube wirklich, daß ihre Töchter in meinen Händen Jungfrauen geblieben seien, und daß ich das viele Geld nur aus zärtlicher Liebe zu ihrer Unschuld ausgegeben haben. Ohne jeden Zweifel wußte sie das Gegenteil; aber sie wollte den äußeren Anschein erwecken, wie wenn sie sich durch diesen Schritt rechtfertigte. Sie wußte, daß ich in ihrem Antrag eine Beleidigung erblicken mußte, aber daraus machte sie sich sehr wenig. Um es nicht zu einem offenen Streit kommen zu lassen, sagte ich ihr: ihr Antrag sei natürlich eine große Ehre für mich; da er jedoch von so hoher Wichtigkeit sei, so bitte ich sie, mir gütigst einige Zeit zu lassen, um darüber nachzudenken.

Ich ging in mein Zimmer zurück und fand dort die Geliebte des elenden Marchese Petina. Sie sagte mir, ihr Glück hänge davon ab, daß der neapolitanische Gesandte durch ein Zeugnis bescheinige, daß ihr Liebhaber wirklich der Marchese Petina sei. Diese Bescheinigung brauche er, um sofort zweihundert Guineen zu erhalten; dieses Geld sei dazu bestimmt, um die Reisekosten nach Neapel für ihn und sie zu decken. Sie sei sicher, daß er sie sofort nach seiner Ankunft heiraten werde. »Dort wird er sehr leicht die Verzeihung des Königs erlangen. Nur Sie können mir unter diesen Umständen behilflich sein; ich empfehle mich daher Ihrer Güte.«

Ich versprach ihr, alles aufzubieten, was in meinen Kräften stehe. Wirklich begab ich mich sofort zum Gesandten, der durchaus keine Schwierigkeit machte, die Identität des Marchese zu bestätigen. Damit sah die sonst so kalte Schönheit ihre sehnlichsten Wünsche erfüllt, und sie war vor Dankbarkeit ganz gerührt; ich bekam jedoch keine Lust, eine Betätigung derselben von ihr zu verlangen.

Siebzehntes Kapitel


Auguste wird durch einen förmlichen Vertrag Geliebte des Lord Pembroke. – Der Sohn des Königs von Korsika. – Herr du Claude oder der Jesuit Lavalette. – Abreise der Hannoveranerinnen. – Meine Bilanz. – Der Baron von Stenau. – Die Engländerin und das Denkzeichen, das sie mir läßt. – Daturi. – Meine Flucht aus London. – Der Graf von Saint-Germain. – Wesel.

Lord Pembroke war in Auguste so verliebt, daß er ihr schriftlich folgendes Anerbieten machte: monatlich fünfzig Guineen auf drei Jahre, dazu Wohnung, Unterhalt, Dienerschaft, Wagen und Pferde in St. Albans, ohne die Geschenke zu rechnen, die sie von seiner zärtlichen Dankbarkeit erwarten dürfte, wenn sie die Liebe teilte, die sie ihm eingeflößt hätte.

Auguste übersetzte mir Mylords Brief und fragte mich um Rat. Ich antwortete ihr: »Ich kann Ihnen keinen Rat geben; Sie dürfen nur Ihrem Herzen und Ihrem eigenen Vorteil folgen.« Sie ging zu ihrer Mutter, die aber keinen Entschluß fassen wollte, ohne meinen Rat zu hören, da ich, wie sie sagte, der weiseste und tugendhafteste aller Menschen sei. Ich bezweifle sehr, daß mein Leser die Ansicht dieser Mutter teilt; aber ich bin ihm darum nicht böse, denn ich dachte und denke genau so wie mein Leser. Endlich wurde beschlossen, daß Auguste den Antrag annehmen sollte, sobald ein ehrbarer Kaufmann von der Londoner Börse die Bürgschaft für Lord Pembroke übernommen hätte; denn mit ihrer Schönheit, ihrem guten Charakter, ihrem ausgezeichneten Benehmen wäre es unmöglich, daß sie nicht bald Lady Pembroke würde. Nach der Meinung der Mutter konnte es nicht anders sein, denn wenn sie daran hätte zweifeln können, würde sie niemals ihre Einwilligung gegeben haben, da ihre Tochter als Gräfin nicht die Geliebte irgendeines Menschen werden könnte, und wäre er noch so vornehm.

Diesem Entschluß entsprechend schrieb Auguste an Mylord, der binnen drei Tagen die Angelegenheit in Ordnung brachte. Der Kaufmann unterzeichnete den Vertrag als Bürge, und ich selber hatte die ungeheure Ehre, das Schriftstück als Zeuge und Freund der Mutter zu unterschreiben; ich führte den Kaufmann zu ihr, und sie unterschrieb vor seinen Augen die Abredung ihrer Tochter, die er als Zeuge beglaubigte. Den Lord Pembroke wollte sie nicht sehen, aber sie umarmte ihre Tochter, mit der sie noch ein Gespräch hatte, das ich nicht hörte.

An demselben Tage, als Auguste mein Haus verließ, hatte ich ein eigentümliches Erlebnis, das ich berichten will:

Am Tage, nachdem ich der Braut des Marchese Petina die Bescheinigung des neapolitanischen Gesandten gegeben hatte, war ich mit meiner lieben Gabriele und mit ihrer Schwester Hippolyta spazieren geritten. Als ich nach Hause kam, hatte ich vor meiner Tür einen Herrn gefunden, der sich Sir Frederick nennen ließ; er war angeblich der Sohn des Königs von Korsika, Theodor Freiherrn von Neuhof, der, wie alle Welt weiß, in London gestorben war. Herr Frederick bat mich um eine geheime Unterredung; als wir allein waren, sagte er mir, er wisse, daß ich den Marchese Petina kenne, und da er im Begriff stehe, ihm einen Wechsel von zweihundert Guineen diskontieren zu lassen, so brauche er eine Auskunft, ob der Marchese in seiner Heimat in den Verhältnissen sei, um den Wechsel bei Verfall einzulösen. »Es ist für mich wichtig, dies zu wissen; denn die Geldgeber verlangen, daß ich den Wechsel giriere.«

»Mein Herr, ich kenne den Marchese seit einiger Zeit, weiß aber nicht, ob er Vermögen hat; ich weiß nur vom neapolitanischen Gesandten, daß er ohne jeden Zweifel wirklich der Marchese Petina ist.«

»Würden Sie, falls die Personen, mit denen ich in Unterhandlung stehe, von dem Geschäft zurücktreten sollten, selber geneigt sein, den Wechsel zu diskontieren? Sie würden ihn billig bekommen.«

»Ich mache keine Geschäfte, und es liegt mir durchaus nichts an Gewinnen dieser Art. Leben Sie wohl, Sir Frederick!«

Am nächsten Tage sagte Goudar mir, ein Herr du Claude wünsche mich zu sprechen.

»Was ist das für ein Herr du Claude?«

»Es ist der berühmte Jesuit Lavalette, der den berühmten Bankerott machte, durch den die Gesellschaft Jesu in Frankreich zugrunde gerichtet wurde. Er hat sich unter einem angenommenen Namen nach London zurückgezogen; er muß viel Geld besitzen, und ich würde Ihnen raten, ihn anzuhören.«

»Ein Jesuit und Bankerotteur, – das sind schlechte Empfehlungen!«

»Das macht nichts, ich habe ihn in einem guten Hause kennen gelernt, und er hat sich an mich gewandt, da er weiß, daß ich Sie kenne. Was sagen Sie dabei, wenn Sie ihn anhören?«

»Eigentlich nichts, aber …; nun gut, Sie können mich zu ihm führen; auf diese Weise wird es für mich leichter sein, einer engeren Verbindung auszuweichen, als wenn er zu mir käme.«

Goudar ging zu Lavalette, um sich mit ihm zu besprechen, und führte mich am Nachmittag zu ihm. Übrigens war es mir ganz angenehm, einmal das Gesicht dieses Mannes zu sehen, dessen Gaunerei ein so kunstreich ersonnenes Werk der Hölle vernichtet hatte. Er empfing mich sehr herzlich. Nachdem Goudar uns allein gelassen hatte, zeigte er mir einen Wechsel von Petina und sagte: »Der junge Mann wünscht, daß ich ihm das Papier diskontiere; er hat mir gesagt, ich könne von Ihnen Auskunft über seine Mittel erhalten.«

Ich antwortete dem hochwürdigen Vater Lavalette du Claude dasselbe, was ich dem Sohn des Königs von Korsika gesagt hatte, und entfernte mich, sehr ärgerlich auf diesen traurigen Bettel-Marchese, der mir solche dummen Belästigungen verursachte. Da ich sah, daß er ein Intrigant war, beschloß ich, der Sache ein Ende zu machen und ihm durch seine Hannoveranerin sagen zu lassen, daß er so etwas unterlassen solle; ich fand jedoch an diesem Tage keine Gelegenheit dazu.

Nachdem ich am nächsten Tage einen Spazierritt mit meinen beiden Nymphen gemacht hatte, speiste ich mit ihnen und Lord Pembroke, der sich bei mir einlud; vergeblich erwartete ich Petinas Geliebte, die gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht nach Hause kam. Um neun Uhr erhielt ich von ihr einen Brief, dem ein deutsch geschriebener Brief für ihre Mutter beilag. Sie schrieb mir: sie sei überzeugt, daß sie niemals die Einwilligung ihrer Mutter erhalten werde, und sei daher mit ihrem Liebhaber abgereist, der eine genügende Summe Geldes aufgetrieben habe, um die Reisekosten bis Neapel zu bestreiten; dort werde er sie sofort nach seiner Ankunft heiraten. Sie bat mich, ihre Mutter zu trösten und mit der Versicherung zu beschwichtigen, daß sie nicht mit einem Abenteurer abgereist sei, sondern mit einem adligen Kavalier ihresgleichen. Ein mitleidiges und verächtliches Lächeln kräuselte meine Lippen und machte die drei jungen Schwestern neugierig. Ich zeigte ihnen den Brief der älteren und forderte sie auf, mich zu ihrer Mutter zu begleiten.

»Wir wollen lieber bis morgen warten,« sagte Victoria, »denn dieser schreckliche Brief würde ihr den Schlaf rauben.«

Ich gab ihr recht, und wir aßen ziemlich traurig zu Abend. Ich hielt das unglückliche Mädchen für verloren und machte mir den Vorwurf, die unfreiwillige Ursache zu sein: denn wenn ich den Marchese nicht aus dem Gefängnis ausgelöst hätte, wäre das Unglück nicht geschehen. Marchese Caraccioli hatte recht gehabt, als er mir sagte, ich hätte ein dummes gutes Werk getan. Ich tröstete mich in den Armen meiner lieben Gabriele.

Am Morgen hatte ich viel zu leiden, als ich die Verzweiflung der Mutter beschwichtigen mußte. Sie verfluchte die Tochter und den Verführer und machte mir Vorwürfe, daß ich ihn aus dem Gefängnis befreit hätte. Sie erging sich in den rührendsten und zugleich sonderbarsten Reden.

Man muß niemals einem trauernden Menschen beweisen wollen, daß er unrecht hat; denn er kann dadurch ärgerlich werden und großen Schaden davon haben; läßt man ihn dagegen sich von selber beruhigen, so sieht er sein Unrecht ein und fühlt sich dem Freunde verpflichtet, der ihn ohne Widerspruch hat ausreden und sich dadurch erleichtern lassen.

Nach diesem traurigen Ereignis verbrachte ich noch zwei sehr glückliche Wochen mit meiner Gabriele, die von Victoria und Hippolyta als meine Frau angesehen wurde. Wir machten uns gegenseitig auf jede mögliche Weise glücklich. Ich beglückte sie besonders durch meine Treue, denn ich behandelte ihre Schwestern, wie wenn sie meine eigenen gewesen wären und wie wenn ich die Gunst, die ich von ihnen erhalten hatte, völlig vergessen hätte. Niemals nahm ich mir Freiheiten mit ihnen heraus, die meiner Geliebten hätten mißfallen können; denn ich wußte, daß Freundschaft zwischen Frauen selten so weit geht, einander eine Nebenbuhlerschaft in der Liebe zu verzeihen. Übrigens hatte ich sie reichlich mit Kleidern und Wäsche ausgestattet; sie wohnten und aßen gut, ich ließ sie ins Theater gehen und machte Landpartien mit ihnen. Sie beteten mich an, wie wenn ich ein Gott gewesen wäre, und schienen zu glauben, dieses Glück müsse ewig dauern. Leider ging ich aber mit großen Schritten meiner völligen körperlichen und pekuniären Erschöpfung entgegen.

Ich hatte kein Geld mehr und hatte alle meine Diamanten und anderen Edelsteine verkauft. Mir blieben nur noch Tabaksdosen, Uhren, Bonbonnieren – Kleinigkeiten, die ich liebte, und die ich nicht den Mut hatte zu verkaufen, denn ich hätte dafür nicht den fünften Teil von dem gelöst, was sie mir gekostet hatten. Seit einem Monat bezahlte ich weder die Rechnungen meines Kochs noch die meines Weinhändlers, und ich gefiel mir darin, ihre Sicherheit zu teilen. Ganz in meine Liebe zu Gabriele versunken, fand ich mein Glück darin, ihre Zärtlichkeit durch tausend Gefälligkeiten zu belohnen.

In diesem glücklichen Zustande von Gleichgültigkeit befand ich mich, als eines Tages Victoria mir sehr traurig sagte, ihre Mutter habe sich entschlossen, nach Hannover zurückzukehren, da sie jede Hoffnung verloren habe, bei Hofe etwas zu erreichen.

»Und wann gedenkt sie abzureisen?«

»In drei oder vier Tagen.«

»Ohne mir ein Wort zu sagen, wie wenn sie einen Gasthof verließe, nachdem sie mit dem Wirt abgerechnet hat?«

»Oh nein, sie wünscht im Gegenteil mit Ihnen unter vier Augen zu sprechen.«

Ich ging zu ihr. Sie beklagte sich in liebenswürdigstem Tone, daß ich sie niemals besuchte, und sagte dann: »Da Sie meine Hand ausgeschlagen haben, so will ich den Leuten nicht länger Anlaß zu Verleumdung und böser Nachrede geben. Ich danke Ihnen für alles Gute, das Sie meinen Töchtern getan haben, und will mit den dreien, die mir noch bleiben, lieber abreisen; denn sonst fürchte ich sie zu verlieren, wie ich meine beiden ältesten verloren habe. Wenn Sie wollen, können Sie mit uns kommen und, solange Sie Lust haben, ein hübsches Landhaus bewohnen, das ich in der Nähe der Hauptstadt besitze.«

Ich konnte ihr nur antworten und ihr danken, meine Verhältnisse erlaubten mir nicht, ihr Anerbieten anzunehmen.

Drei Tage darauf kam Victoria zu mir, als ich gerade aufstand, und sagte mir, um drei Uhr würden sie abfahren. Hippolyta und Gabriele wollten trotzdem ausreiten, wie wir am Tage vorher verabredet hatten; die guten Mädchen amüsierten sich, während ich mich in untröstlicher Trauer befand, wie immer, wenn ich mich von einer Geliebten trennen mußte.

Als wir nach Hause kamen, legte ich mich sofort zu Bett, ohne Mittag zu essen; ich sah die drei Schwestern erst wieder, nachdem sie alle ihre Reisevorbereitungen getroffen hatten. Einen Augenblick vor ihrer Abfahrt stand ich auf, um nicht die Mutter in meinem Zimmer empfangen zu müssen. Ich betrat das ihrige in dem Augenblick, wo man sie in meinen Wagen tragen wollte, der vor meiner Tür auf sie wartete. Die Unverschämte dachte, ich würde ihr etwas für die Reise geben; als sie jedoch sah, daß ich durchaus nicht geneigt war, diese Hoffnung zu erfüllen, sagte sie mir mit einer Aufrichtigkeit, die ihr ohne Zweifel ganz unwillkürlich entschlüpfte: sie hätte in ihrer Börse hundertundfünfzig Guineen, die ich ihren Töchtern geschenkt hätte. Ihre Töchter standen dabei und zerflossen in Tränen.

Als sie fort waren, ließ ich meine Tür vor jedermann verschließen und verbrachte drei traurige Tage damit, meine Bilanz zu ziehen. In einem Monat hatte ich mit den Hannoveranerinnen alles Geld verschwendet, das ich für meine Edelsteine bekommen hatte; außerdem hatte ich noch mehr als vierhundert Guineen Schulden. Ich beschloß, zur See nach Lissabon zu reisen, und verkaufte mein diamantenbesetztes Ordenskreuz, sechs oder sieben goldene Dosen, nachdem ich die Porträts herausgenommen hatte, alle meine Uhren mit Ausnahme einer einzigen und zwei große Koffer voll von Kleidern. Nachdem ich alle meine Rechnungen bezahlt hatte, fand ich mich im Besitz von achtzig Guineen. Dies war der Rest eines schönen Vermögens, das ich wie ein Narr oder wie ein Weiser verschwendet hatte – oder vielleicht wie ein Narr und ein Weiser.

Ich verließ mein schönes Haus, worin ich so lustig gelebt hatte, und bezog ein Zimmerchen, wofür ich wöchentlich eine Guinee bezahlte. Ich behielt nur meinen Neger, an dessen Treue zu zweifeln ich keinen Anlaß hatte.

Nachdem ich alle meine Maßregeln getroffen hatte, schrieb ich Herrn von Bragadino, er möchte mir sofort nach Empfang meines Briefes zweihundert Zechinen schicken. Ich brauchte nicht zu besorgen, dadurch das Geld, das für mich in Venedig stehen mußte, zu stark in Anspruch zu nehmen; denn ich hatte mir seit fünf Jahren nichts von dort schicken lassen.

Ich beschloß also, von London abzureisen, ohne einen Heller Schulden zu hinterlassen und ohne die Börse irgendeines Menschen in Anspruch zu nehmen. So wartete ich denn ruhig auf die Ankunft des Wechsels aus Venedig, um mich von allen Bekannten zu verabschieden und mich nach Lissabon einzuschiffen, wo ich einmal sehen wollte, was das Glück mit mir vorhätte; aber diese Göttin hatte Böses mit mir im Sinne, und zwar fern von Lusitanien.

Vierzehn Tage nach der Abreise der Hannoveranerinnen, gegen Ende Februar 1764, führte mich mein böser Stern in die Schenke zur Kanone, um dort nach meiner Gewohnheit in einem Zimmer für mich zu speisen. Man hatte den Tisch für mich gedeckt, und ich wollte mich eben niedersetzen, als der Baron Stenau mit der Serviette in der Hand eintrat und mich aufforderte, mein Essen in das Nebenzimmer bringen zu lassen, wo er mit seiner Geliebten allein sitze.

»Ich bin Ihnen dankbar,« antwortete ich ihm; »denn wenn man allein ist, langweilt man sich.«

Ich sah eine Engländerin, die ich schon einmal bei Sartori getroffen hatte, als der Baron so freigebig gegen sie gewesen war. Sie sprach italienisch und war talentvoll und schön; ihre Gegenwart entzückte mich, und wir speisten sehr fröhlich.

Es war nach einer vierzehntägigen Enthaltsamkeit nicht zu verwundern, daß die hübsche Engländerin mir Begierden einflößte. Ich verbarg dies jedoch, denn ihr Geliebter gab den Ton an und schien sie mit Achtung zu behandeln. Ich nahm mir also keine weitere Freiheit heraus, als daß ich ihr sagte, der Baron scheine mir der glücklichste aller Menschen zu sein.

Gegen Ende der Mahlzeit sah sie Würfel auf dem Kaminsims liegen; sie holte diese und sagte: »Wir wollen eine Guinee für Austern und Champagner ausspielen.«

Natürlich konnte man das nicht ausschlagen, der Baron verlor und rief den Kellner, um ihm seine Bestellung zu machen.

Als wir die Austern aßen, sagte sie: »Jetzt wollen wir das Mittagessen ausspielen.«

Wir spielen; sie verliert.

Es ärgerte mich, daß das Glück mich so bevorzugte. Ich wünschte zwei Guineen zu verlieren und schlug dem Baron vor, darum zu würfeln. Er war einverstanden, aber zu meinem großen Bedauern gewann ich. Er verlangt Revanche und verliert abermals.

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen Ihr Geld abnehme, und ich werde Ihnen Revanche bis hundert geben.«

Er dankte mir, bestimmte die Einsätze und war mir in weniger als einer halben Stunde hundert Guineen schuldig.

»Weiter!« rief er.

»Mein lieber Baron, Sie sind im Unglück; Sie könnten zuviel verlieren, es ist besser, wir hören für diesmal auf.«

Ohne mir für meine Höflichkeit Dank zu wissen, fluchte er gegen das Glück; dann stand er auf, nahm seinen Stock und Hut und sagte im Hinausgehen: »Wenn ich wiederkomme, werde ich Sie bezahlen.«

Kaum war er hinaus, so sagte die schöne Engländerin zu mir: »Ich bin überzeugt, Sie haben Halbpart mit mir gespielt.«

»Wenn Sie das erraten haben, werden Sie auch erraten haben, daß ich Sie reizend finde?«

»Ich habe es bemerkt.«

»Und ist es Ihnen unangenehm?«

»Im Gegenteil – vorausgesetzt, daß ich das erste richtig erraten habe.«

»Ich verspreche Ihnen fünfzig Guineen, sobald er mir die hundert bezahlt hat.«

»Gut; aber der Baron darf nichts davon erfahren.«

»Das versteht sich von selbst.«

Kaum war die Vereinbarung geschlossen, so bewies ich ihr die Aufrichtigkeit meiner Neigung. Ich war sehr zufrieden mit ihrer Gefügigkeit und mit diesem Glücksschimmer in einem Augenblick, wo alles für mich so traurig aussah. Wie man sich denken kann, wurde die Sache sehr schnell abgemacht, denn die Tür war nur angelehnt. Ich hatte kaum soviel Zeit, sie zu fragen, wo sie wohne und welche Stunde ihr passe und besonders, ob ich große Rücksicht auf ihren Liebhaber nehmen müsse. Sie antwortete mir, er gebe ihr nicht genug, um beanspruchen zu können, daß sie ihm allein angehöre. Ich steckte ihre Adresse in meine Tasche und versprach ihr, die nächste Nacht mit ihr zu verbringen.

Kurz darauf kam der Baron wieder und sagte zu mir: »Ich war bei einem Kaufmann, um mir diesen Wechsel diskontieren zu lassen; er wollte es aber nicht tun, obwohl der Wechsel von einem guten Lissaboner Hause an meine Ordre auf eins der ersten Häuser von Cadix auf Sicht gezogen ist.«

Er zeigte mir die Unterschriften des Wechsels, und ich sah mit Verwunderung, daß der Betrag auf Millionen lautete. Der Baron sagte mir jedoch lachend, diese Millionen seien portugiesische Reis und der ganze Wechsel mache ungefähr fünfhundert Pfund Sterling aus.

»Wenn die Unterschriften bekannt sind,« sagte ich zu ihm, »so wundere ich mich, daß man Ihnen die Diskontierung verweigert. Warum gehen Sie nicht zu ihrem Bankier?«

»Ich kenne keinen. Ich kam mit tausend Lisbonninen in der Tasche hier an und habe diese ausgegeben. Da ich keinen Kreditbrief habe, so kann ich Ihnen die hundert Guineen nicht zahlen, wenn man mir nicht den Wechsel diskontiert. Falls Sie Bekannte an der Börse haben, könnten Sie mir wohl den Gefallen tun.«

»Wenn die Unterschrift bekannt ist, werde ich es morgen früh machen können.«

»Ich werde also den Wechsel girieren.«

Er schrieb seinen Namen darauf, und ich versprach ihm, bis zum nächsten Mittag ihm entweder das Geld zu bringen oder ihm den Wechsel zurückzugeben. Er gab mir seine Adresse, lud mich zum Mittagessen ein, und wir trennten uns.

Am nächsten Morgen ging ich zu Bosanquet, der mir sagte, Mister Leigh brauche Wechsel auf Cadix. Ich ging zu diesem Herrn, der bei dem Anblick des Wechsels ausrief, das Papier sei besser als Gold. Er berechnete den Diskont und gab mir fünfhundertundzwanzig Guineen, nachdem ich natürlich den Wechsel indossiert hatte.

Ich ging zum Baron, zeigte ihm die Abrechnung und gab ihm das Geld, das ich erhalten hatte.

Er dankte mir und gab mir meine hundert Guineen; hierauf speisten wir und sprachen von seiner Schönen.

»Sind Sie sehr verliebt in sie?« fragte ich ihn.

»Nein, denn ich habe noch andere, und wenn Sie ihnen gefällt, können Sie sich für zehn Guineen mit ihr belustigen.«

Ich fand diese Erklärung anständig; doch dachte ich nicht daran, die Schöne um die ihr versprochene Summe zu betrügen. Ich begab mich vom Baron unmittelbar zu ihr, und sobald sie hörte, daß ihr Liebhaber bezahlt habe, bestellte sie ein köstliches Abendessen und bereitete mir eine so wollüstige Nacht, daß ich meine ganze Traurigkeit vergaß. Als ich ihr am Morgen die fünfzig Guineen gab, sagte sie mir, meine Ehrlichkeit solle mir zunutze kommen; sie werde mir daher, sooft ich wolle, für sechs Guineen ein Abendessen geben. Ich versprach ihr, sie oft zu besuchen.

Am anderen Morgen erhielt ich mit der Stadtpost einen in schlechtem Italienisch geschriebenen Brief mit der Unterschrift: »Ihr gehorsamer Pate Daturi.«

Dieser Pate war wegen Schulden im Gefängnis und bat mich, ihm ein paar Schillinge zu schenken, damit er sich etwas zu essen kaufen könnte. Ich hatte nichts zu tun; die Unterschrift meines Paten machte mich neugierig, und ich ging ins Gefängnis, um diesen Daturi zu sehen, von dessen Vorhandensein ich keine Ahnung hatte. Man zeigte mir einen schönen jungen Menschen von zwanzig Jahren, der mich gar nicht kannte und den ich ebenfalls zum ersten Male zu sehen glaubte. Ich zeigte ihm den Brief; er bat mich wegen der Belästigung um Verzeihung, zog ein Papier aus seiner Tasche und zeigte mir einen Taufschein. Ich sah darauf seinen und meinen Namen, die seiner Eltern, die Gemeinde in Venedig, worin er geboren war, und den Namen der Kirche, worin man ihn getauft hatte. Vergebens suchte ich mich zu besinnen; die Namen waren mir völlig unbekannt.

»Wenn Sie mich gütigst anhören wollen, werde ich Sie auf den richtigen Weg bringen, indem ich Ihnen erzähle, was meine Mutter mir hundertmal gesagt hat.«

»Nur zu; ich höre.«

Seine Erzählung erweckte wirklich mein Gedächtnis. Der junge Mann, den ich als Sohn des Schauspielers Daturi über das Taufbecken gehalten hatte, war vielleicht mein eigener Sohn. Er war mit einer Seiltänzergruppe nach London gekommen, um die edle Rolle des Strohmanns oder Pagliazzo zu spielen. Er hatte sich mit seinen Leuten überworfen; man hatte ihn fortgeschickt, und er war zehn Pfund Sterling schuldig geworden. Wegen dieser Schuld saß er im Gefängnis. Ohne ihm etwas über das Geheimnis seiner Geburt oder vielmehr über meine Beziehungen zu seiner Mutter zu sagen, löste ich ihn sofort aus und sagte ihm, er solle jeden Morgen zu mir kommen; er werde täglich zwei Schillinge zu seinem Lebensunterhalt bekommen.

Acht Tage nach dieser guten Handlung fühlte ich mich von einer abscheulichen Krankheit befallen, von welcher der Gott Merkur mich schon dreimal auf meine eigene Rechnung und Gefahr befreit hatte. Ich hatte drei Nächte bei der fatalen Engländerin zugebracht. Dieser Unfall kam mir besonders ungelegen, weil ich mich in einer so traurigen Lage befand. Mir stand eine lange Seereise bevor, und obwohl Venus den Fluten entstiegen ist, ist doch die Luft ihres Elements nicht eben günstig für die, die unter ihrer Ungnade leiden, wie es in diesem Augenblicke mit mir der Fall war. Ich wußte jedoch, was ich zu tun hatte, und dachte nur daran, mich ohne Zeitverlust in eine energische Behandlung zu geben. Ich wußte, daß ich in sechs Wochen wieder gesund sein könnte, und daß ich bei meiner Ankunft in Lissabon imstande sein würde, mit meiner Person einzustehen.

Ich ging aus, nicht um, wie ich es früher selber getan hatte und wie es noch jetzt alle Dummköpfe tun, der Engländerin Vorwürfe wegen ihrer Hinterlist zu machen, sondern um einen guten Chirurgen aufzusuchen, mit ihm den Preis zu vereinbaren und mich in seine Wohnung einzuschließen.

Zu diesem Zweck packte ich meinen Koffer, wie wenn ich London verlassen wollte. Nur meine getragene Wäsche schickte ich zu meiner Wäscherin, die sechs englische Meilen von London wohnte und die vornehmste Kundschaft der Stadt hatte.

An dem Morgen, wo ich meinen Umzug bewerkstelligen und mich in die Heilanstalt begeben wollte, brachte man mir einen Brief, der mit der Stadtpost gekommen war. Ich öffnete ihn; er war von Leigh und lautete folgendermaßen:

»Der Wechsel, den Sie mir gegeben haben, ist falsch. Zahlen Sie mir sofort die fünfhundertzwanzig Guineen zurück, die ich Ihnen gegeben habe, und wenn derjenige, der Sie betrogen hat, Ihnen den Betrag nicht wiedererstattet, so lassen Sie ihn verhaften. Ich bitte Sie recht sehr, nötigen Sie mich nicht, Sie morgen verhaften zu lassen, und verlieren Sie keine Zeit; denn es geht um Ihr Leben.«

Ich war allein, und das war ein großes Glück für mich. Ich warf mich auf mein Bett und war in einem Augenblicke von einem sehr reichlichen kalten Schweiß überströmt. Ich zitterte wie Espenlaub. Vor meinen Augen erhob sich der Galgen; denn kein Bankier hätte mir in diesem Augenblick fünfhundert Guineen anvertraut, und man würde nicht einen Monat gewartet haben, um mir den hochnotpeinlichen Prozeß zu machen, der mich an den Galgen gebracht haben würde. Hätte ich einen Monat Aufschub bekommen können, so würde ich ganz bestimmt diese Summe aus Venedig erhalten haben; aber in England ist man zu derartigen Geschäften nicht geneigt.

Ein glühendes Fieber war dem Zittern gefolgt. Ich nahm zwei gut geladene Pistolen, untersuchte das Zündkorn und steckte sie in meine Tasche. Nachdem ich meinem Neger befohlen hatte, auf mich zu warten, ging ich zum Baron von Stenau. Ich war entschlossen, ihm eine Kugel durch den Kopf zu schießen, wenn er mir nicht die fünfhundertzwanzig Guineen zurückgäbe, oder ihn zu bewachen, bis ich ihn hätte verhaften lassen können. Ich kam in seine Wohnung und erfuhr, daß er vor vier Tagen nach Lissabon abgereist sei. Dieser Baron von Stenau war Livländer; er wurde vier Monate später in Lissabon gehängt. Ich erfuhr diesen Umstand zwei Monate, nachdem er vorgefallen war, als ich anfangs Oktober desselben Jahres mich in Riga befand. Ich teile es aber schon jetzt hier mit, weil ich es später vielleicht vergessen könnte.

Sobald ich seine Abreise vernahm, sah ich, daß nichts mehr zu machen war, und faßte auf der Stelle meinen Entschluß. Ich besaß nur zehn oder zwölf Guineen, und mit dieser Summe konnte ich nichts anfangen. Ich eilte zu dem venetianischen Juden Treves, an den ich von dem Bankier Grafen Algarotti von Venedig empfohlen war, dessen ich mich aber bis dahin niemals bedient hatte. Ich wandte mich weder an den ehrenwerten Bosanquet noch an Vanhel noch an Salvador, denn diese konnten von meiner Angelegenheit Kenntnis erhalten haben, aber Treves machte mit diesen großen Bankiers keine Geschäfte. Ich begnügte mich mit der Diskontierung eines kleinen Wechsels von hundert venetianischen Zechinen, den ich auf Algarotti zog. Ich schrieb ihm, er möchte sich den Betrag von seinem Verwandten Dandolo bezahlen lassen, der mir seine Empfehlung verschafft hatte.

Sobald ich den Betrag meines Wechsels in der Tasche hatte, ging ich, von einem tödlichen Fieber verzehrt, nach Hause. Leigh hatte mir vierundzwanzig Stunden Frist gegeben, und der ehrliche Engländer war nicht imstande, mir sein Wort zu brechen. Aber meine Natur erlaubte mir nicht, mich darauf zu verlassen. Ich wollte nicht gerne meine Wäsche verlieren und ebensowenig die schönen Anzüge, die ich bei meinem Schneider hatte. Zugleich aber war die höchste Eile nötig, um mich in Sicherheit zu bringen. Ich rief Jarbe in mein Zimmer und fragte ihn, ob er lieber ein Geschenk von zwanzig Guineen und seine sofortige Entlassung haben oder ob er in meinem Dienste bleiben und mir versprechen wolle, in acht Tagen von London abzureisen und mir meine Sachen nach dem Ort zu bringen, von wo ich ihm schreiben würde.

Er antwortete mir: »Ich will in Ihrem Dienste bleiben, Herr, und komme gern überall hin, wo Sie sind. Wann reisen Sie?«

»In einer Stunde; aber es kostet mir das Leben, wenn du ein Wort sagst.«

»Warum nehmen Sie mich nicht mit?«

»Weil ich wünsche, daß du mir die Wäsche und die Anzüge bringst, die noch bei der Wäscherin und bei meinem Schneider sind. Ich werde dir soviel Geld geben, wie du ungefährzu deiner Reise brauchst.«

»Ich will nichts. Sie können mir meine Auslagen bezahlen, sobald ich wieder bei Ihnen bin. Warten Sie!«

Er ging hinaus, kam aber sofort wieder und zeigte mir sechzig Guineen.

»Bitte, nehmen Sie diese, Herr; für den Notfall habe ich soviel Kredit, um noch eine gleiche Summe aufzutreiben.«

»Nein, lieber Freund, ich danke dir; ich habe das Geld nicht nötig. Ich werde deine Treue nicht vergessen.«

Da mein Schneider in unmittelbarer Nähe wohnte, ging ich zu ihm, und als ich sah, daß meine Anzüge noch nicht zugeschnitten waren, sprach ich den Wunsch aus, die Stoffe und goldenen Tressen an ihn zu verkaufen. Er zahlte mir sofort dreißig Guineen, denn er verdiente dabei zehn. Nachdem ich hierauf meine Wohnung für eine Woche gezahlt hatte, sagte ich meinem Neger Lebewohl und reiste mit Daturi ab.

Wir übernachteten in Rochester, da ich nicht soviel Kraft besaß, weiter zu reisen. Ich hatte Zuckungen und war in einer Art von Fieberdelirium. Daturi rettete mir das Leben.

Ich hatte Postpferde bestellt, um weiterzufahren; er aber schickte auf seine eigene Verantwortung die Pferde fort und holte einen Arzt, der mich in Gefahr fand, an einem Schlagfluß zu sterben; er machte mir einen reichlichen Aderlaß, der mich beruhigte. Sechs Stunden darauf fand er, daß ich weiterreisen könnte. Ich kam in aller Frühe in Dover an und konnte mich dort nur eine halbe Stunde aufhalten, weil der Kapitän des Paketbootes, wie er mir sagte, wegen der Ebbe seine Abfahrt nicht länger hinausschieben konnte. Der gute Seebär wußte nicht, daß diese Abreise gerade mein höchster Wunsch war. Ich benützte diese halbe Stunde dazu, an Jarbe zu schreiben, er solle zu mir nach Calais kommen, wo ich auf ihn warten werde. Meine Wirtin, Mistres Mercier, an die ich einen Brief adressiert hatte, schrieb mir, daß sie ihn meinem Diener persönlich übergeben habe. Aber Jarbe kam nicht. In zwei Jahren werden wir den Neger wiederfinden.

Ich kam in Calais erst in sechs Stunden an, da der Wind schwach und beinahe entgegen war. Im goldenen Arm, wo ich meine Postkutsche gelassen hatte, stieg ich ab. Sofort nach meiner Ankunft legte ich mich zu Bett und ließ den besten Arzt rufen.

Die Glut des Fiebers und das Gift, das durch meine Adern strömte, brachte mein Leben in große Gefahr. Am dritten Tage lag ich im Sterben. Ein vierter Aderlaß erschöpfte meine Kräfte und versenkte mich in eine Betäubung, die vierundzwanzig Stunden dauerte. Dieser folgte eine heilsame Krisis, die mir das Leben wieder schenkte; aber erst eine strenge Diät setzte mich vierzehn Tage nach meiner Ankunft auf dem Boden der Rettung in den Stand, weiterreisen zu können.

Ich war schwach; es bereitete mir tiefe Trauer, dem ehrlichen Meister Leigh, wenn auch ohne meine Absicht, einen bedeutenden Verlust verursacht zu haben; ich fühlte mich gedemütigt, daß ich aus London hatte fliehen müssen; Jarbes Untreue empörte mich, und es war mir höchst ärgerlich, die geplante Reise nach Portugal aufgeben zu müssen. Ohne zu wissen, wohin ich fahren wollte, und in einem so jämmerlichen Gesundheitszustand, daß meine Heilung fraglich war, setzte ich mich endlich in eine Postkutsche. Daturi, der mich zu meiner Zufriedenheit bediente, fuhr mit mir.

Da ich nicht nach England zu schreiben wagte, hatte ich Herrn von Bragadino gebeten, mir die Summe, die ich in London empfangen sollte, nach Brüssel zu schicken.

Am Tage nach meiner Abreise von Calais kam ich in Dünkirchen an. Der erste Mensch, den ich beim Aussteigen aus meinem Wagen sah, war der Kaufmann S., der Gemahl jener Therese, deren meine Leser sich vielleicht noch erinnern: sie war die Nichte von der alten Geliebten Tirettas, und ich hatte sie vor sieben Jahren geliebt. Der wackere Herr S. erkannte mich sofort, wunderte sich aber, daß ich so verändert wäre. Ich sagte ihm, ich hätte soeben eine lange Krankheit durchgemacht, und erkundigte mich dann nach seiner Frau.

»Es geht ihr ausgezeichnet,« antwortete er mir, »und ich hoffe, wir werden doch morgen das Vergnügen haben, Sie bei uns zu Tisch zu haben.«

Ich wandte ein, daß ich bei Tagesanbruch weiter reisen müßte; davon wollte er aber nichts wissen, sondern sagte, er wäre in Verzweiflung, wenn ich nicht seine Frau und seine drei Püppchen sähe. Als ich dabei blieb, ich müßte unbedingt mit Tagesanbruch abreisen, sagte er mir, er würde wiederkommen und seine ganze Familie mitbringen. Ich sah, daß nichts dabei zu machen war, und sagte ihm, wir würden alle zusammen zu Abend speisen.

Wie meine Leser sich vielleicht erinnern werden, hatte ich diese Therese so sehr geliebt, daß ich sie heiraten wollte. Diese Erinnerung bereitete mir einen tiefen Kummer, indem ich daran dachte, in welch einer traurigen Gestalt ich vor sie treten mußte.

Eine Viertelstunde später kam der Mann mit seiner Frau und drei kleinen Knaben, von denen der älteste etwa sechs Jahre alt sein mochte. Nachdem die unvermeidlichen Komplimente ausgetauscht waren und Therese mir ermüdende Beileidsbezeigungen wegen meiner schlechten Gesundheit gemacht hatte, schickte sie die beiden jüngeren Knaben fort und behielt nur den ältesten zurück, den einzigen, der mich interessieren konnte. Das Kind war reizend, und da es der Mutter vollkommen ähnlich sah, zweifelte der Mann nicht im geringsten daran, daß er der Vater sei.

Ich lachte innerlich darüber, daß ich so Kinder von mir über ganz Europa zerstreut fand. Therese erzählte mir bei Tisch Neues von Tiretta. Er war in den Dienst der holländisch-ostindischen Kompagnie getreten, hatte sich aber in Batavia in eine Verschwörung eingelassen und war nur dadurch dem Strick entgangen, daß er die Flucht ergriffen hatte. Ich dachte an die Ähnlichkeit zwischen seinem Schicksal und dem meinigen, sprach aber nicht davon. Übrigens kann es einem, wenn man ein Abenteurerleben führt, leicht zustoßen, wegen einer Kleinigkeit gehängt zu werden, wenn man ein wenig unbesonnen ist und sich nicht überlegt, was man tut.

Am nächsten Tage kam ich in Tournay an. Einige schöne Pferde, die von Reitknechten geritten wurden, erregten meine Neugier, und ich fragte die Leute, wem die Tiere gehörten.

»Dem Herrn Grafen von Saint-Germain, dem Adepten, der seit einem Monat hier ist und niemals ausgeht. Alle Durchreisenden wünschen ihn zu sehen, aber er ist unzugänglich.«

Durch diese Antwort bekam ich Lust, ihn zu besuchen. Kaum in dem Gasthof angekommen, schrieb ich ihm, indem ich meinen Wunsch ausdrückte und ihn bat, mir seine Stunde anzugeben. Ich teile hier seine Antwort wörtlich mit; denn ich habe sein Briefchen aufgehoben:

»Meine Beschäftigungen nötigen mich, keinen Menschen zu empfangen. Sie machen jedoch eine Ausnahme. Kommen Sie, wann es Ihnen am besten paßt; man wird Sie in mein Zimmer führen. Sie brauchen weder meinen Namen noch den Ihrigen zu nennen. Ich biete Ihnen nicht die Hälfte meines Mittagsmahles an; denn meine Nahrung ist für keinen Menschen geeignet und für Sie noch weniger als für jeden anderen, wenn Sie noch Ihren früheren Appetit haben.«

Ich ging um neun Uhr zu ihm, und er empfing mich mit einem zwei Zoll langen Bart. Er hatte etwa zwanzig Retorten voller Flüssigkeiten um sich herum. Einige von diesen lagen auf Sandhaufen von natürlicher Wärme. Er sagte mir, er arbeite zu seiner Belustigung an Farben und richte, um dem Grafen von Cobenzl, dem Gesandten der Kaiserin Maria Theresia in Brüssel, einen Gefallen zu tun, eine Hutfabrik ein. Der Graf habe ihm dazu nur 105000 Gulden gegeben und diese Summe genüge nicht, er lege aber das Fehlende aus seiner eigenen Tasche zu.

Dann sprachen wir von Frau von Urfé. »Sie hat sich vergiftet,« sagte er, »indem sie eine zu starke Dosis Universalmedizin nahm, und ihr Testament beweist, daß sie sich für schwanger hielt. Sie hätte es sein können, wenn sie mich zu Rate gezogen hätte. Es ist eine höchst schwierige, aber doch vollkommen sichere Operation, obgleich es der Wissenschaft noch nicht gelungen ist, das Geschlecht des Kindes vorher bestimmen zu können.«

Als er erfuhr, an welcher Krankheit ich litt, bat er mich, drei Tage in Tournay zu bleiben; während dieser Zeit werde er alle Drüsenschwellungen beseitigen; hierauf werde er mir fünfzehn Pillen geben, die ich in fünfzehn Tagen einzunehmen hätte; diese würden mir völlige Genesung bringen und mir alle meine Kräfte wiedergeben. Er zeigte mir seine Urkraft, die er Atoäter nannte. Es war eine weiße Flüssigkeit, die sich in einem sorgfältig verschlossenen Fläschchen befand. Er sagte mir, diese Flüssigkeit sei der Universalgeist der Natur; dies werde dadurch bewiesen, daß dieser Geist sofort aus dem Fläschchen entweiche, wenn man das Wachs nur ganz leicht mit einer Nadel durchsteche. Ich bat ihn, mir das Experiment zu zeigen. Er gab mir ein Fläschchen und eine Nadel. Ich stach ganz leise in das Wachs hinein und das Fläschchen war wirklich im Augenblick vollständig leer.

»Das ist ja herrlich,« sagte ich; »aber wozu ist das gut?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, das ist mein Geheimnis.«

In seinem Ehrgeiz, mich in Verwunderung zu setzen, fragte er mich, ob ich etwas Kleingeld bei mir habe. Ich zog einige Münzen aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Ohne mir zu sagen, was er machen wollte, stand er auf und nahm eine glühende Kohle, die er auf eine Metallplatte legte. Hierauf bat er mich um ein Zwölf-Sousstück, das sich unter den Münzen befand. Er legte ein schwarzes Körnchen auf die Münze und diese auf die Kohle, die er mit einem Blasrohr anblies; in kaum zwei Minuten war das Geldstück glühend.

»Warten Sie bis es sich abgekühlt hat«, sagte der Alchimist. In einer Minute war die Münze kalt, und er sagte: »Nehmen Sie sie mit, denn sie gehört Ihnen.«

Ich nahm das Geldstück; es war von Gold. Ich zweifelte nicht einen Augenblick, daß er meine Münze hatte verschwinden lassen und dafür die andere untergeschoben hatte, die er ohne Zweifel vorher weiß gemacht hatte. Ich mochte ihm keine Vorwürfe machen; damit er aber andererseits überzeugt wäre, daß ich nicht an seinen Schwindel glaubte, sagte ich: »Das ist wundervoll, Graf! Aber um ganz sicher zu sein, daß Sie auch einen sehr Hellsehenden in Erstaunen setzen, müssen Sie ihn ein anderes Mal darauf aufmerksam machen, daß Sie eine solche Umwandlung vornehmen wollen; alsdann kann er aufmerksam die Operation verfolgen und sich das Silberstück genau ansehen, bevor Sie es auf die glühende Kohle legen.«

Hierauf antwortete der Schwindler mir: »Wer an meiner Wissenschaft zweifeln kann, ist nicht würdig, mit mir zu sprechen.«

Dies anmaßende Benehmen war kennzeichnend für ihn; es war mir übrigens nicht neu.

Dies war das letztemal, daß ich den berühmten und gelehrten Betrüger sah; vor sechs oder sieben Jahren ist er in Schleswig gestorben. Sein Geldstück war von reinem Golde. Zwei Monate später trat ich es während meines Berliner Aufenthaltes dem Feldmarschall Keith ab, der sich neugierig danach zeigte.

Am nächsten Morgen reiste ich von Tournay ab. In Brüssel machte ich Halt, um die Antwort auf meinen an Herrn von Bragadino geschriebenen Brief abzuwarten. Ich empfing diese fünf Tage nach meiner Ankunft mit einem Wechsel von zweihundert Dukaten.

Ich gedachte mich in Brüssel längere Zeit aufzuhalten, um mich dort zu kurieren. Daturi sagte mir jedoch, er habe von einem Seiltänzer gehört, sein Vater und seine Mutter seien mit der ganzen Familie in Braunschweig. Er lud mich ein, dorthin zu fahren, indem er mir versicherte, ich werde mit der größten Sorgfalt gepflegt werden.

Es kostete ihm keine große Mühe, mich zu überreden, denn ich war neugierig, die Mutter meines Paten wiederzusehen. Ich reiste am selben Tage ab, aber in Roermond befand ich mich so schlecht, daß ich sechsunddreißig Stunden lang dort bleiben mußte, bis ich nach Wesel weiterfahren konnte. Dort beschloß ich meine Postkutsche zu verkaufen, weil in Norddeutschland die Pferde nicht an die Deichsel gewöhnt sind. Zu meiner großen Überraschung sah ich den General Bekw…. erscheinen.

Nachdem wir die üblichen Komplimente getauscht und der General mir sein Bedauern wegen meiner Krankheit ausgesprochen hatte, sagte er mir, er wünsche meine Kutsche zu kaufen und mir in Tausch dafür einen Wagen zu geben, der zum Reisen in ganz Deutschland sehr bequem sei. Der Handel war im Nu abgeschlossen. Als hierauf der wackere Engländer Näheres über meinen Krankheitszustand erfuhr, redete er mir zu, in Wesel zu bleiben, wo ein sehr geschickter und vorsichtiger junger Arzt von der Leydener Schule mich besser behandeln werde als die Braunschweiger Doktoren.

Niemand ist in seinem Entschlusse leichter zu beeinflussen, als ein Mensch, der krank und unglücklich ist und keinen bestimmten Plan hat, – besonders wenn der Kranke dem Glück nachjagt und mit seinem Grundsatz sequere deum nicht weiß, wo die launenhafte Göttin ihn erwartet. Bekw …., der in Wesel in Garnison stand, ließ sofort den Doktor Pipers holen und blieb bei meinem Krankheitsbericht und sogar bei der Untersuchung zugegen.

Ich will nicht die Empörung meiner Leser erregen, indem ich ihnen den ekelhaften Zustand schildere, worin ich mich befand; es genüge ihnen, zu erfahren, daß noch nach so vielen Jahren der bloße Gedanke daran mich schaudern macht.

Der junge Arzt, der die verkörperte Sanftmut war, lud mich ein, bei ihm zu wohnen. Er versprach mir, seine Mutter und seine Schwestern würden mich so sorgfältig pflegen, wie ich es nur wünschen könnte. Er gab mir die Zusicherung, er würde mich in sechs Wochen gründlich heilen, wenn ich ihm versprechen wollte, seine Vorschriften pünktlich zu befolgen. Der General redete mir zu, den Rat des jungen Äskulap anzunehmen. Ich entschloß mich dazu um so lieber, da ich mich in Braunschweig zu amüsieren wünschte und durchaus keine Lust hätte, mit gelähmten Gliedern dort anzukommen. So fügte ich mich den Wünschen des Generals. Von einer Preisvereinbarung wollte der Doktor nichts wissen. Er sagte mir, ich könnte ihm bei meiner Abreise geben, soviel ich wollte, und er würde damit sehr zufrieden sein. Er entfernte sich, um das für mich bestimmte Zimmer instand setzen zu lassen, und bat mich, eine Stunde später zu kommen. Ich ließ mein Gepäck hinschaffen und begab mich in einer Sänfte zu ihm. Ich schämte mich so sehr, daß ich mein Taschentuch vors Gesicht hielt, um dieses nicht der Mutter und den Schwestern des jungen Doktors zu zeigen. Sie empfingen mich in Gesellschaft einiger anderer junger Mädchen, die ich nicht einmal anzusehen wagte.

Sobald ich in meinem Zimmer war, entkleidete Daturi mich, und ich legte mich zu Bett.

Achtzehntes Kapitel


Mein Heilung. – Daturi wird von Soldaten geprügelt. – Abreise nach Braunschweig. – Redegonda. – Der Erbprinz. – Der Jude. – Mein Aufenthalt in Wolfenbüttel. – Die Bibliothek. – Berlin. – Casalbigi und die Lotterie in Berlin. – Fräulein Bélanger.

Als es Zeit zum Abendessen war, kam der Doktor mit seiner Mutter und einer seiner Schwestern in mein Zimmer. Den wackeren Leuten stand die Menschenliebe auf den Gesichtern geschrieben; alle versicherten mir, sie würden mich auf das beste pflegen.

Nachdem die Damen sich wieder entfernt hatten, teilte der Doktor mir mit, nach welcher Methode er mich zu behandeln gedächte: Ein schweißtreibender Trank und Quecksilberpillen sollten mich von dem Gift befreien, das mich dem Grabe zutrieb; ich müßte jedoch eine strenge Diät innehalten und dürfte gar nicht geistig arbeiten. Ich versprach ihm pünktlichen Gehorsam gegen seine Gesetze, und er sagte mir, zu meiner Zerstreuung werde er selber mir zweimal wöchentlich die Zeitung vorlesen. Zugleich teilte er mir die Neuigkeit mit, daß die berüchtigte Pompadour gestorben sei.

So sah ich mich also zu einer Ruhe verdammt, die nach der Meinung meines Doktors unerläßlich war, wenn die Behandlung gelingen und ich meine Gesundheit wiedererlangen sollte. Es war eine harte Notwendigkeit; aber was ich am meisten fürchtete, waren nicht die Heilmittel und die Enthaltsamkeit, sondern die Langeweile; denn ich glaubte, daß diese mich töten würde. Ohne Zweifel teilte der Doktor meine Befürchtung; denn er bat mich, zu erlauben, daß seine Schwester mit zwei oder drei Freundinnen in meinem Zimmer arbeiten dürfe. Ich antwortete ihm, daß ich seinen Vorschlag mit Freuden annähme, obgleich ich mich schäme, mich so liebenswürdigen Mädchen in meinem kranken Zustande zu zeigen. Die Schwester war mir sehr dankbar für meine Gefälligkeit, wie sie es nannte; denn das von mir bewohnte Zimmer war das einzige, dessen Fenster nach der Straße hinausgingen, und wie ein jeder weiß, sehen junge Mädchen gern nach den Vorübergehenden aus. Unglücklicherweise wurde meine Gefälligkeit verhängnisvoll für Daturi. Der arme junge Mann, der keine weitere Erziehung genossen hatte, als eben ein Seiltänzer sie braucht, mußte sich natürlich langweilen, wenn er den ganzen Tag nur immer mit mir zusammen war. Sobald er daher sah, daß ich gute Gesellschaft hatte, glaubte er, ich könnte wohl die seinige entbehren, und ging nur noch darauf aus, sich zu amüsieren. Am dritten Tage brachte man ihn gegen Abend jämmerlich verprügelt nach Hause. Er war in eine Wachstube gegangen, um mit den Soldaten zu zechen; dabei hatte es Streit gegeben, und er war tüchtig durchgehauen worden. Er sah mitleiderregend aus: er war ganz von Blut überströmt, und ihm fehlten drei Zähne. Weinend erzählte er mir sein Abenteuer und bat mich, ihn zu rächen.

Ich schickte meinen Doktor zu General Bekw …., der sofort zu mir kam und mir sagte, er wisse nicht, was er dabei tun solle; er könne mir weiter keinen Dienst erweisen, als daß er den Kranken ins Lazarett schicke. Da Daturi keine Glieder gebrochen hatte, so war er in ein paar Tagen geheilt; ich schickte ihn mit einem Paß des Generals Salenmon nach Braunschweig. Die verlorenen Zähne schützten ihn vor der Gefahr, unter die Soldaten gesteckt zu werden. Das war immerhin ein Trost.

Die Kur meines jungen Doktors wirkte besser oder jedenfalls schneller, als er selber gedacht hatte; denn nach einem Monat war ich vollkommen wiederhergestellt, aber ich war dabei so mager, daß mein Anblick Schrecken erregte. Der Begriff, den ich den guten Leuten von mir hinterließ, entsprach durchaus nicht der Wirklichkeit. Man hielt mich für den geduldigsten Menschen, und die Schwester und ihre jungen Freundinnen sahen in mir die verkörperte Bescheidenheit; aber diese scheinbaren Tugenden rührten nur von meiner Krankheit her und von meiner niedergeschlagenen Stimmung. Um einen Menschen zu beurteilen, muß man sein Benehmen prüfen, wenn er gesund und frei ist; in Krankheit und Gefangenschaft ist er nicht mehr der gleiche.

Ich schenkte der Schwester ein schönes Kleid und gab dem Doktor zwanzig Louis. Alle beide schienen mir sehr zufrieden zu sein.

Am Tage vor meiner Abreise erhielt ich einen Brief von Frau du Rumain, die von meinem Freunde Baletti erfahren hatte, daß ich Geld brauchte, und mir einen Wechsel von sechshundert Gulden auf Amsterdam schickte. Sie sagte mir, ich möchte ihr den Betrag nach meiner Bequemlichkeit zurückgeben; sie ist jedoch gestorben, bevor ich die Schuld habe begleichen können.

Da ich nach Braunschweig fahren wollte, konnte ich dem Wunsch nicht widerstehen, über Hannover zu reisen, denn wenn ich an Gabriele dachte, liebte ich sie noch. Ich wollte mich nicht aufhalten, denn ich war nicht mehr reich; außerdem zwang meine Gesundheit mich noch, mich zu schonen. Ich wollte nur das reizende Mädchen überraschen, indem ich auf der Durchreise einen Besuch auf dem Gute machte, das ihre Mutter, wie sie mir gesagt hatte, in der Nähe von Stöcken besaß. Ich will nicht leugnen, daß auch die Neugier einen guten Anteil an diesem Plan hatte.

Ich hatte beschlossen, bei Tagesanbruch allein in meiner neuen Kalesche abzureisen: aber es stand in den Sternen geschrieben, daß es anders kommen sollte.

Der englische General lud mich schriftlich zum Abendessen ein, indem er hinzufügte, es würden Landsleute von mir dabei sein. Infolgedessen beschloß ich noch einen Tag zu bleiben; zugleich versprach ich dem Doktor, sehr nüchtern zu sein.

Man wird sich meine Überraschung denken können, als ich beim Eintritt in den Salon des Generals die Parmesanerin Redegonda und ihre abscheuliche Mutter sah. Diese erkannte mich nicht gleich; Redegonda aber nannte sofort meinen Namen und rief: »Mein Gott! Wie sind Sie mager geworden!«

Ich machte ihr ein Kompliment über ihre Schönheit, und sie verdiente es; denn die letzten achtzehn Monate hatten ihre Reize in eigentümlicher Weise entfaltet.

»Ich bin soeben erst einer schweren Krankheit entronnen,« sagte ich zu ihr, »und ich reise mit Tagesanbruch nach Braunschweig ab.«

»Wir auch!« rief sie, indem sie ihre Mutter ansah.

Der General freute sich, daß wir alte Bekannte waren, und machte die Bemerkung, daß wir ja zusammen reisen könnten.

»Das würde wohl schwerlich gehen,« versetzte ich lächelnd, »es müßte denn sein, daß die Frau Mutter ganz andere Grundsätze angenommen hätte, als ich früher an ihr kannte.«

»Ich bin immer noch die gleiche«, sagte die häßliche Mutter ziemlich grob.

Ich antwortete ihr nur durch einen verächtlichen Blick.

Der General hielt an einem kleinen Pharaotisch die Bank. Es waren zwei oder drei andere Damen und mehrere Offiziere anwesend, und man spielte mit kleinen Einsätzen. Er bot mir ein Buch an, das ich unter dem Vorwand ablehnte, ich spielte auf Reisen niemals.

Der General hielt sich jedoch noch nicht für geschlagen und sagte am Ende der Taille zu mir: »Aber, Chevalier, Ihr Grundsatz ist ungesellig! Sie müssen spielen!«

Mit diesen Worten zog der General aus seiner Brieftasche mehrere englische Banknoten und sagte: »Es sind dieselben, die Sie mir vor sechs Monaten in London gegeben haben. Nehmen Sie Revanche; es sind vierhundert Pfund Sterling!«

»Ich habe keine Lust, so viel zu verlieren,« antwortete ich ihm; »aber ich will fünfzig Pfund wagen, um Ihnen einen Gefallen zu tun.«

Zugleich zog ich meine Börse; es befanden sich dann zweihundert holländische Dukaten und der Wechsel, den die Gräfin du Rumain mir geschickt hatte.

Der General zog ab, und nach der dritten Taille hatte ich fünfzig Pfund gewonnen. Ich hörte auf, indem ich mich mit einem bescheidenen Gewinne begnügte, zumal da ich kalte Füße bekommen konnte, ohne gegen die Höflichkeit zu verstoßen.

In demselben Augenblick wurde gemeldet, daß das Essen angerichtet sei, und wir gingen in den Speisesaal.

Redegonda, die sehr gut französisch gelernt hatte, erheiterte alle Anwesenden. Sie war vom Herzog von Braunschweig als zweite Virtuosa engagiert worden und kam von Brüssel. Sie klagte darüber, daß sie die Reise in dem unglückseligen Postkarren machen müsse, in dem man so gräßlich unbequem säße, und sprach die Befürchtung aus, sie würde krank an ihrem Bestimmungsort ankommen.

Hierauf bemerkte der General: »Da ist ja der Chevalier Seingalt, der ganz allein in einem ausgezeichneten Wagen fährt.«

Redegonda lächelte.

»Wieviel Plätze hat Ihr Wagen?« fragte die Mutter mich. Der General nahm für mich das Wort und antwortete: »Nur zwei.«

»Dann ist es also nicht möglich; denn ich werde niemals meine Tochter ohne mich reisen lassen, ganz einerlei mit wem es ist.«

Ein allgemeines Gelächter, in das Redegonda einstimmte, machte die Mutter ein wenig verlegen; aber als gute Tochter sagte Redegonda: »Mama hat immer Angst, daß man mich ermordet!«

Unter tausend leichtfertigen Bemerkungen verging der Abend uns sehr angenehm; die junge Sängerin ließ sich nicht lange bitten, sondern setzte sich ans Klavier und sang uns einige reizende Lieder, für die sie wohlverdienten Beifall erntete.

Als ich gehen wollte, bat der General mich, bei ihm zu frühstücken; der Postkarren fahre erst mittags ab und ich sei diese Höflichkeit meiner schönen Landsmännin schuldig. Redegonda bat mich ebenfalls, indem sie mich an einige Vorfälle in Florenz und Turin erinnerte, obgleich sie mir keine Vorwürfe zu machen hatte. Ich gab nach; da ich aber der Ruhe bedurfte, so ging ich zu Bett.

Am anderen Morgen um neun Uhr verabschiedete ich mich vom Doktor und seiner braven Familie. Dann ging ich zu Fuß zum General, um bei ihm zu frühstücken, nachdem ich Befehl gegeben hatte, daß mein Wagen mich abholen solle, sobald er angespannt sei.

Eine halbe Stunde später kam Redegonda mit ihrer Mutter. Zu meiner großen Überraschung sah ich in ihrer Begleitung den Bruder, den ich in Florenz als Lohndiener gehabt hatte.

Als das Frühstück vorbei war, hielt mein Wagen vor der Tür. Ich machte dem General und der ganzen Gesellschaft, die den Saal verlassen hatte, um mich abfahren zu sehen, meine Reverenz. Redegonda ging mit mir hinunter; sie fragte mich, ob mein Wagen bequem sei, und stieg ein, wie wenn sie ihn versuchen wollte. Sofort nach ihr stieg auch ich ein, ohne mir jedoch das mindeste dabei zu denken. Der Postillon sieht, daß der Wagen besetzt ist, knallt mit der Peitsche und fährt im Galopp ab.

Redegonda lachte aus vollem Halse. Ich wollte dem Postillon zurufen, daß er halten solle; als ich aber das ausgelassene Mädchen in so reizender Heiterkeit sah, ließ ich ihn ruhig weiterfahren. Immerhin war ich entschlossen, ihn sofort umkehren zu lassen, wenn die Schöne mir sagen würde: »Jetzt ist’s genug.«

Diese Worte erwartete ich jedoch vergeblich, und wir waren bereits eine halbe Meile gefahren, als sie zu sprechen begann.

»Ich habe so gelacht! Und ich lache noch, wenn ich daran denke, wie meine Mutter diese Laune auslegen wird; denn ich hatte es mir vorher nicht überlegt, als ich in den Wagen stieg. Außerdem habe ich über den Postillon gelacht, der doch gewiß nicht auf Ihren Befehl mit mir losgefahren ist.«

»Dessen können Sie sicher sein.«

»Meine Mutter wird aber das Gegenteil glauben, und gerade darum finde ich es so komisch.«

»Es ist auch komisch, und ich bin sehr damit zufrieden, übrigens, meine liebe Redegonda, werde ich Sie nun mit mir nach Braunschweig nehmen, denn Sie werden in meinem Wagen viel besser aufgehoben sein als in solch einem scheußlichen Postkarren.«

»Es würde mich ja sehr freuen; aber das hieße doch den Spaß ein bißchen zu weit treiben. Wir werden beim ersten Pferdewechsel Halt machen und auf der Post warten.«

»Das steht in Ihrem Belieben; aber Sie werden mich entschuldigen, wenn ich mich darauf nicht einlasse.«

»Wie? Sie würden den Mut haben, mich ganz allein sitzen zu lassen?«

»Sie wissen, reizende Redegonda, daß ich Sie immer geliebt habe; daher bin ich denn auch bereit, Sie nach Braunschweig zu bringen – das wiederhole ich Ihnen!«

»Wenn Sie mich lieben, werden Sie warten und mich in die Arme meiner Mutter führen, die schon in Verzweiflung sein muß.«

Anstatt traurig zu werden, fing der junge Tollkopf zu lachen an. Als ich sie so lustig sah, beschloß ich, sie mit mir nach Braunschweig zu nehmen.

Auf der Station waren keine Pferde. Ich setzte mich mit dem Postillon ins Einvernehmen, und nachdem wir die Pferde sich hatten ausruhen lassen, fuhren wir wieder ab. Da die Wege entsetzlich waren, kamen wir erst mit Einbruch der Nacht bei der zweiten Station an.

Wir hätten dort übernachten können; ich wollte aber nicht angeführt werden, und da ich wußte, daß der Postkarren vor Mitternacht ankommen und daß dann die Mutter sich ihrer Tochter bemächtigen würde, so befahl ich frische Pferde und ließ Redegonda jammern und bitten, soviel sie wollte. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch und kamen in aller Frühe in Lippstadt an, wo ich trotz der unpassenden Stunde eine Mahlzeit auftragen ließ. Redegonda hatte ebenso, wie ich, Schlaf nötig, aber sie mußte sich fügen, als ich ihr schmeichelnd sagte, wir würden in Minden schlafen. Sie schalt nicht mehr, sondern lächelte; ich sah, daß sie wußte, was ihrer dort wartete. Sobald wir angekommen waren, aßen wir zu Abend und gingen dann wie Mann und Frau zu Bett. Wir waren fünf Stunden zusammen. Sie war vollkommen gut und ließ sich nur der Form wegen ein bißchen bitten.

Nach einer zu kurzen Nacht fuhren wir von Minden weiter bis Hannover, wo wir in einem ausgezeichneten Gasthof ganz vorzüglich aßen. Ich traf dort den Kellner, der in Zürich gewesen war, als ich die Solothurner Damen bei Tisch bedient hatte. Miß Chudleigh hatte in dem hannoverschen Gasthof mit dem Herzog von Kingston gespeist und war dann nach Berlin weitergefahren.

Wir bekamen für die Nacht ein herrliches französisches Bett und erwachten am anderen Morgen erst von dem Rasseln des Postkarrens. Redegonda wollte nicht in meinen Armen überrascht werden; sie klingelte schnell dem Kellner und befahl ihm, er solle die Frau, die mit dem Postkarten angekommen sei und ohne Zweifel zu ihr geführt werden wolle, nicht einlassen. Vergebliche Vorsicht – denn in dem Augenblick, wo der Kellner hinausging, traten Mutter und Sohn ein und ertappten uns in flagrante delitto.

Ich befahl dem Sohn, draußen zu warten, stand im Hemde auf und verschloß meine Tür. Die Mutter erging sich in bitteren Klagen gegen mich und ihre Tochter und drohte mir mit strafrechtlichen Verfolgungen, wenn ich sie ihr nicht herausgäbe.

Schließlich gelang es Redegonda, sie zu beruhigen, indem sie ihr die Geschichte erzählte. Die Mutter glaubte oder tat wenigstens so, als wenn sie glaubte, daß das Ganze ein Zufall sei; aber sie sagte zu ihr: »Ich will gern glauben, daß es sich so verhält; aber du kannst nicht leugnen, Spitzbübin, daß du bei ihm geschlafen hast.«

»Das ist allerdings etwas anderes, aber Sie wissen wohl, liebe Mama, daß man im Schlaf nichts Böses tut.«

Ohne ihr Zeit zur Antwort zu lassen, fiel sie ihr um den Hals, herzte und küßte sie und versprach ihr, im Postwagen mit ihr nach Braunschweig zu fahren.

Nachdem diese Vereinbarung getroffen war, zog ich mich an. Ich gab ihnen ein gutes Frühstück und reiste dann nach Braunschweig ab, wo ich einige Stunden vor ihnen ankam.

Redegonda benahm mir die Lust, den Besuch bei Gabriele zu machen, den ich mir vorgenommen hatte; außerdem hätte in dem Zustande, worin ich mich befand, mein Selbstgefühl viel zu leiden gehabt.

Sobald ich mich in einem guten Gasthaus eingerichtet hatte, ließ ich Daturi meine Ankunft melden. Er kam sofort, elegant gekleidet, und zeigte großen Eifer, mich dem prachtliebenden Signor Nicolini vorzustellen, dem Direktor des Stadt- und Hoftheaters. Dieser Nicolini war ein ausgezeichneter Theaterdirektor; er erfreute sich der vollsten Huld des freigebigen Fürsten, dessen Geliebte seine Tochter Anna war, und lebte in Braunschweig mit einem gewissen Luxus. Ich wurde mit großer Auszeichnung und Herzlichkeit von ihm empfangen. Er wollte mich durchaus bewegen, eine Wohnung in seinem schönen Hause anzunehmen; es gelang mir jedoch, mich dieser lästigen Einladung zu entziehen, ohne ihn durch meine Ablehnung zu kränken. Dagegen nahm ich seine Einladung zur Tafel an, die wegen seines ausgezeichneten Kochs und noch mehr wegen der liebenswürdigen Gesellschaft, die er jeden Tag bei sich versammelte, meiner Aufmerksamkeit sehr würdig war. Die Gaste zeichneten sich nicht durch Titel und Ordensbänder aus und hatten nicht jene servilen und zugleich hochmütigen Hofmanieren, die mir langweilig sind und jedes Vergnügen töten – sondern es waren talentvolle Herren und Damen, deren Vereinigung ein entzückendes Gemälde bot.

Ich war noch nicht ganz genesen, und ich war nicht reich; sonst hätte ich mich länger in Braunschweig aufgehalten; denn dieser Ort hatte viele Reize für mich.

Am dritten Tage nach meiner Ankunft in Braunschweig kam Redegonda zu Nicolini, da sie wußte, daß ich bei ihm zu Mittag speisen würde. Wie es zuging, weiß ich nicht, aber alle Welt wußte, daß sie mit mir von Wesel nach Hannover gereist war, und jeder zog daraus die Schlüsse, die ihm beliebten.

Zwei Tage später kam der preußische Thronfolger von Potsdam an, um seine künftige Gemahlin zu besuchen; sie war die Tochter des regierenden Herzogs, und er heiratete sie im folgenden Jahre.

Der Hof gab prachtvolle Feste, und der Erbprinz, der jetzige regierende Herzog, erwies mir die Ehre, mich dazu einzuladen. Ich hatte Seine Hoheit am Tage nach seiner Aufnahme in die Londoner Bürgerschaft bei dem großen Picknick in Soho-Square kennen gelernt.

Es war zweiundzwanzig Jahre her, daß ich Daturis Mutter geliebt hatte. Ich war neugierig, welche Verwüstungen die Zeit an ihrer Schönheit angerichtet haben möchte, und suchte sie daher auf. Ich mußte jedoch bedauern, daß ich sie genötigt hatte, meinen Besuch anzunehmen; denn sie war sehr häßlich geworden. Sie wußte dies, und eine gewisse Scham malte sich auf ihren entstellten Zügen. Ich habe die Bemerkung gemacht, daß eine Frau mit ausgeprägten Zügen gewöhnlich sehr schnell häßlich wird und dann schrecklich anzusehen ist.

Der Fürst hatte ein kleines, aber sehr gut ausgebildetes Heer von sechstausend Mann Infanterie. Es fand auf einer Ebene dicht bei der Stadt eine Revue über diese Truppen statt. Ich bekam Lust, mir dies Schauspiel anzusehen, und ging daher hin. Es regnete den ganzen Tag. Trotzdem waren viele vornehme Zuschauer da: viele Damen in schönen Toiletten, der ganze Adel und eine Menge Ausländer. Ich sah die ehrenwerte Miß Chudleigh, die mir die Ehre erwies, das Wort an mich zu richten und mich unter anderem fragte, seit wann ich London verlassen hätte. Miß Chudleigh war nur mit einem einfachen Kleide von indischem Musselin bedeckt und trug darunter nur ein Hemd, das offenbar von Batist war; der Regen hatte diese leichte Kleidung an ihren Körper angeklebt, so daß sie schlimmer als nackt aussah. Dies schien sie jedoch nicht verlegen zu machen. Die anderen Damen fanden unter eleganten Zelten Schutz vor der Sintflut.

Die Truppen, die das schlechte Wetter nichts anging, exerzierten und schossen zur Zufriedenheit der Kenner.

Da ich in Braunschweig nichts zu tun hatte, so gedachte ich mich nach Berlin zu begeben, um dort den Sommer angenehmer zu verbringen als in einer kleinen Stadt. Ich brauchte einen Überzieher und kaufte das Tuch dazu bei einem Juden, der sich erbot, mir Wechsel zu diskontieren, wenn ich welche hätte. Ich hatte den Wechsel bei mir, den die Gräfin du Rumain mir geschickt hatte, und da es mir bequem war, Gold dafür einzutauschen, so zog ich ihn aus meiner Brieftasche und gab ihn dem Israeliten. Er zahlte mir den Betrag aus, indem er den bei Wechseln auf die Bank von Amsterdam üblichen Abzug von zwei vom Hundert machte. Da der Wechsel an die Ordre des Chevalier von Seingalt ausgestellt war, girierte ich ihn mit diesem Namen.

Ich dachte schon nicht mehr an die Sache, als am anderen Morgen zu ziemlich früher Stunde derselbe Jude in mein Zimmer trat und mich aufforderte, ihm sein Geld zurückzugeben oder für den Wert meines Wechsels Sicherheit zu bestellen, bis mit der Post die Nachricht käme, ob mein Wechsel angenommen und bezahlt worden wäre.

Beleidigt über die Frechheit dieses Pilatus und sicher, daß mein Wechsel in Ordnung war, sagte ich ihm: »Sie haben nichts zu befürchten. Ich bitte Sie, mich in Ruhe zu lassen; ich werde durchaus keine Sicherheit stellen.«

»Ich verlange unbedingt mein Geld oder Sicherheit,« antwortete der Unverschämte, »sonst werde ich Sie verhaften lassen, denn Sie sind bekannt.«

Das Blut stieg mir in den Kopf; ich ergriff meinen Stock und gab ihm eine Tracht Prügel, die er sicherlich mehr als einen Tag gefühlt hat. Hierauf kleidete ich mich an und speiste bei Nicolini, ohne ein Wort von meinem Erlebnis zu sagen.

Am nächsten Tag machte ich einen Spaziergang vor der Stadt und begegnete dem Prinzen zu Pferde, nur von einem Reitknecht begleitet. Ich machte ihm meine Verbeugung; er ritt an mich heran und sagte: »Sie stehen also im Begriff abzureisen, Herr Chevalier.«

»Ich gedenke in etwa zwei oder drei Tagen abzureisen, gnädiger Herr.«

»Das habe ich heute früh von einem Juden gehört, der sich bei mir beklagt hat, weil Sie ihm Stockschläge gegeben haben. Er forderte eine Sicherstellung für einen Wechsel, gegen dessen Echtheit man ihm Bedenken erregt hat.«

»Gnädiger Herr, ich kann für meine Entrüstung nicht einstehen, wenn ein solcher Kerl zu mir kommt und mich in meinem eigenen Zimmer zu beleidigen wagt; aber ich weiß, daß meine Ehre mir verbietet, meinen Wechsel wieder zu nehmen oder Sicherheit zu bestellen. Der Unverschämte hat mir gedroht, er werde meine Abreise verhindern; aber ich weiß, daß nur ungerechte Willkür dem Verlangen dieses erbärmlichen Menschen nachkommen könnte.«

»Es wäre allerdings ungerecht; aber er hat eben Angst, seine hundert Dukaten zu verlieren.«

»Er wird sie nicht verlieren, gnädiger Herr, denn der Wechsel ist von einer ehrenwerten Person von hohem Range gezogen.«

»Das freut mich. Der Jude sagt, er würde Ihnen den Wechsel nicht diskontiert haben, wenn Sie nicht meinen Namen genannt hätten.«

»Das ist eine freche Fälschung der Wahrheit, gnädiger Herr: der Name Eurer Hoheit ist nicht aus meinem Munde gekommen.«

»Er sagt, Sie haben den Wechsel mit einem Namen giriert, der nicht der Ihrige ist.«

»Auch das ist falsch, gnädiger Herr; denn ich habe Seingalt unterzeichnet, und dieser Name ist mein eigener.«

»Kurz und gut, es handelt sich um einen geprügelten Juden, der angeführt zu sein glaubt. Der Kerl tut mir leid, und ich will es lieber verhindern, daß er nach Mitteln sucht, Sie zum Hierbleiben zu zwingen, bis er erfährt, daß Ihr Wechsel in Amsterdam eingelöst ist. Ich werde ihn noch heute morgen bei ihm einlösen lassen, denn ich bezweifle nicht, daß der Wechsel vollkommen gut ist. Sie können also abreisen, wann es Ihnen beliebt. Leben Sie wohl, Herr von Seingalt, ich wünsche Ihnen eine glückliche Reise.«

Mit diesem Kompliment sprengte der Prinz davon, bevor ich Zeit gehabt hatte, ihm zu antworten.

Ich hätte ihm sagen können: indem er den Wechsel bei dem Juden einlöste, erweckte er den Glauben, daß er mir dadurch eine Gnade erwiese; zum großen Schaden meiner Ehre würde die ganze Stadt das glauben, wie der Jude; ich müßte ihm also dankbar sein, wenn er es nicht täte.

Aber es genügt nicht, ein Fürst zu sein, ein ausgezeichnetes Herz zu haben, freigebig und großmütig zu sein, wie der jetzige Herzog von Braunschweig es ist; man muß auch Takt und die nötigen Kenntnisse haben, um nicht das Zartgefühl eines Menschen zu verletzen, dem man ein unzweideutiges Zeichen von Achtung und Wohlwollen geben will. Dieser Fehler ist allen Prinzen gemein; er rührt von ihrer Erziehung her, die sie selten auf das Niveau des Lebens ihrer Mitmenschen erhebt oder, wenn man will, erniedrigt.

Hätte der Herzog von Braunschweig mich für einen unredlichen Menschen gehalten, so hätte er mich nicht schlechter behandeln können, als dadurch, daß er mir gewissermaßen andeutete, er verzeihe mir und nehme alle Folgen des von mir begangenen Schwindels auf sich. Dieser Gedanke ging mir im Kopf herum und ich sagte bei mir: »Vielleicht glaubt der Prinz dies wirklich. Warum mischt er sich in die Sache ein? Hat er etwa Mitleid mit dem Juden oder mit mir? Wenn mit mir, so fühle ich die Notwendigkeit, ihm eine Lehre zu geben, jedoch ohne ihn zu beschämen.«

Ich war sehr aufgeregt, denn mein Selbstgefühl war tief verletzt. Während ich langsam nach der Stadt zurückging, dachte ich über meine Lage nach, über das Benehmen des Herzogs und besonders über das Ende unseres Gesprächs. Ich fand seine Worte Gute Reise unter diesen Umständen höchst unangebracht; im Munde eines Prinzen, der bereits selber fast unumschränkter Regent war, erschien das Kompliment als ein Befehl zur Abreise, und darüber war ich entrüstet.

Der Gedanke ließ mich nicht los, und ich faßte endlich den Entschluß, den mir mein Selbstgefühl vorschrieb: weder abzureisen noch zu bleiben.

»Wenn ich bliebe,« sagte ich zu mir selber, »würde man das zugunsten des Juden auslegen; wenn ich abreiste, würde der Herzog denken, ich hätte mir sozusagen das Gnadengeschenk zunutze gemacht, das er mir dadurch erwiesen, daß er dem Juden fünfzig Louis bezahlen müßte, wenn mein Wechsel protestiert würde. Ich werde niemandem eine Genugtuung geben, die ich nicht schuldig bin.«

Nachdem ich diese Betrachtungen angestellt hatte, die mir sehr vernünftig zu sein schienen, obgleich mein Kopf damals noch nicht ganz gesund war, packte ich meinen Koffer, bestellte Pferde, aß gut zu Mittag, bezahlte meine Rechnung und fuhr, ohne mich von einem Menschen zu verabschieden, nach Wolfenbüttel. Ich wollte dort acht Tage zubringen, und war sicher, daß ich mich nicht langweilen würde, denn in Wolfenbüttel war die drittgrößte Bibliothek Europas, und ich hatte schon seit langer Zeit große Lust gehabt, sie näher zu untersuchen.

Der gelehrte Bibliothekar sagte mir bei meinem ersten Besuch mit großer Höflichkeit, die um so angenehmer wirkte, da sie ganz anspruchslos war: ein Mann werde den Auftrag erhalten, mir in der Bibliothek alle gewünschten Bücher zu bringen, außerdem aber werde man mir diese auch in meine Wohnung bringen, sogar die Handschriften, die den besonderen Reichtum dieses schönen Instituts bilden.

Ich verbrachte acht Tage in dieser Bibliothek, die ich nur verließ, um zum Essen und zum Schlafen in meinen Gasthof zu gehen. Ich kann diese acht Tage zu den glücklichsten meines Lebens zählen, denn ich war nicht einen Augenblick mit mir selber beschäftigt: ich dachte weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft, und mein Geist, der sich vollständig in die Arbeit versenkt hatte, konnte die Gegenwart nicht bemerken. Ich habe seitdem zuweilen gedacht, daß vielleicht das Leben der Seligen etwas Ähnliches sein könnte; heute sehe ich, daß nur einige ganz unbedeutende Umstände hätten zusammenzuwirken brauchen, damit ich in dieser Welt ein wahrer Weiser statt eines wahren Toren gewesen wäre; denn zur Schande fast meines ganzen Lebens muß ich hier eine Wahrheit kundgeben, die meine Leser kaum glauben werden: die Tugend hat für mich immer viel mehr Reize gehabt als das Laster, und wenn ich einmal schlecht war, so war ich es nur aus Leichtsinn und Übermut; dies werden allerdings viele Leute ohne Zweifel sehr tadelnswert finden. Aber was macht mir das aus! Der Mensch ist über seine innerlichen Gefühle und moralischen Handlungen hienieden nur sich selber und nach seinem Tode nur Gott Rechenschaft schuldig.

Ich brachte von Wolfenbüttel eine große Menge Notizen über die Ilias und die Odyssee mit, die man bei keinem Scholiasten findet und die nicht einmal der große Pope kannte. Man findet einen Teil derselben in meiner Übersetzung der Ilias; der Rest wird hier in Dux bleiben und wahrscheinlich verloren gehen; ich selber werde nichts verbrennen, nicht einmal diese Erinnerungen, obgleich ich oft daran denke. Ich sehe voraus, daß ich niemals den richtigen Augenblick finden werde.

Nach acht Tagen fuhr ich nach Braunschweig zurück, stieg wieder in demselben Gasthof ab und ließ gleich nach meiner Ankunft meinem Paten Daturi Bescheid sagen.

Zu meiner großen Freude vernahm ich, daß niemand auf den Gedanken gekommen war, ich hätte eine Woche fünf Meilen von Braunschweig verbracht. Daturi sagte mir, in der Stadt sei das Gerücht verbreitet, ich hätte vor meiner Abreise den Wechsel von dem Juden wieder zurückgenommen; denn man hätte seitdem nichts wieder davon gehört. Ich war jedoch sicher, daß inzwischen die Antwort von Amsterdam eingetroffen war und daß der Erbprinz ganz genau wußte, daß ich die Zeit meiner Abwesenheit in Wolfenbüttel verbracht hattte.

Daturi sagte mir, man erwarte mich zum Essen bei Nicolini. Darauf hatte ich gerechnet; denn ich hatte von keinem Menschen Abschied genommen. Bei diesem Essen erhielt ich nun eine reiche Genugtuung: wir waren beim Braten, als ein Lakai des Prinzen mit dem von mir geprügelten Juden eintrat. Der arme Mensch kam mit der demütigsten Miene auf mich zu und sagte: »Ich komme auf Befehl, um Sie, mein Herr, sehr um Entschuldigung dafür zu bitten, daß ich die Echtheit Ihres Wechsels auf die Amsterdamer Bank angezweifelt habe. Ich bin dafür bestraft worden, indem ich die Provision verloren habe, die Sie mir bewilligt hatten.«

Ich antwortete ihm: »Ich wünschte, Sie hätten nur diese Strafe erhalten.«

Er machte mir eine tiefe Verbeugung, sagte, ich sei zu gütig, und ging hinaus.

In meinem Gasthof fand ich ein Briefchen von Redegonda, die mir die zärtlichsten Vorwürfe machte, daß ich während meines ganzen Aufenthaltes in Braunschweig sie nicht ein einziges Mal besucht hätte.

»Ich bitte Sie, bei mir in einem kleinen Häuschen zu frühstücken, das ich draußen vor der Stadt bewohne. Meine Mutter wird nicht dabei sein, wohl aber eine junge Dame, die Sie kennen, und die Sie, davon bin ich überzeugt, mit Vergnügen wiedersehen werden.«

Ich liebte Redegonda und hatte sie in Braunschweig nur darum vernachlässigt, weil ich mich nicht in der Laqe befand, ihr ein hübsches Geschenk machen zu können. Ich beschloß daher, ihrer Einladung Folge zu leisten, zumal da ich ein wenig neugierig war, was das für eine junge Dame sein möchte, von der sie sprach.

Pünktlich zur verabredeten Stunde fand ich mich ein. Redegonda war reizend; sie empfing mich in einem hübschen Salon im Erdgeschoß und hatte eine junge Virtuosa bei sich, die ich kurz vor meiner Einkerkerung unter den Bleidächern als Kind gekannt hatte. Ich tat, wie wenn ich sie mit Vergnügen wiedersähe, beschäftigte mich aber hauptsächlich nur mit Redegonda, der ich viele Komplimente über ihre hübsche Wohnung machte. Sie sagte mir, sie habe sie auf sechs Monate gemietet, benutze sie aber nicht zum Übernachten.

Nachdem wir den Kaffee getrunken hatten, wollten wir gerade ausgehen, um einen Spaziergang zu machen, als der Prinz eintrat, der sich mit einem angenehmen Lächeln bei Redegonda entschuldigte, daß er zufällig unsere Unterhaltung gestört habe.

Das Erscheinen des Prinzen klärte mich über die Stellung meiner liebenswürdigen Landsmännin auf, und ich begriff nun, warum sie in ihrem Briefe die Stunde meines Besuches so genau angegeben hatte. Redegonda hatte bereits die Eroberung des liebenswürdigen Fürsten gemacht, der stets galant war, aber im ersten Jahre seiner Ehe mit einer Schwester des Königs von England sich verpflichtet glaubte, auf diesen Abwegen der Liebe sein Inkognito zu wahren.

Wir gingen eine Stunde lang spazieren und unterhielten uns von London und Berlin, aber vom Wechsel und vom Juden wurde kein Wort gesprochen. Er war entzückt von meinem Lobe seiner Wolfenbüttler Bibliothek und lachte herzlich, als ich ihm sagte, ohne die geistige Nahrung würde ich infolge des schlechten Essens in meinem Gasthof um die Hälfte abgemagert sein.

Nachdem er seine Nymphe sehr freundlich gegrüßt hatte, verließ er uns, stieg wieder zu Pferde und sprengte davon.

Ich dachte nicht daran, Redegonda um neue Liebesbezeigungen zu bitten, sondern riet ihr im Gegenteil, dem Prinzen, den ihre Reize gefesselt hatten, treu zu bleiben; sie wollte jedoch nicht zugeben, daß irgendein Verhältnis bestehe, obwohl doch der Augenschein keine Täuschung zuließ. Das gehörte nun einmal zu ihrer Rolle, und ich nahm es ihr daher weiter nicht übel.

Nachdem ich den Rest des Tages in meinem Gasthof verbracht hatte, fuhr ich am anderen Morgen in aller Frühe ab.

In Magdeburg überbrachte ich einem Offizier einen Brief, den General Bekw…. mir für ihn gegeben hatte. Er zeigte mir die ganze Festung und behielt mich drei Tage bei sich. Ich genoß die Freuden der Tafel, der Liebe und des Spiels, aber ich war nüchtern, schonte meine Gesundheit und vermehrte meine Barschaft in bescheidener Weise, da ich mir bescheidene Grenzen gesetzt hatte.

Von Magdeburg fuhr ich geraden Weges nach Berlin, ohne mich in Potsdam aufzuhalten; denn der König war nicht da. Die erbärmlichen Wege auf dem preußischen Sandboden waren schuld, daß ich drei Tage brauchte, um achtzehn deutsche Meilen zurückzulegen. Preußen ist ein Land, wo Gewerbefleiß und Gold Wunder wirken könnten; aber ich bezweifle, daß man jemals ein wohlhabendes Land daraus machen wird.

Ich stieg im Hotel de Paris ab, wo ich alles so fand, wie es für meine Ansprüche und für meine Börse paßte. Die Inhaberin, Madame Rufin, war eine ausgezeichnete Wirtin von echt französischer Liebenswürdigkeit; sie hatte es verstanden, ihren Gasthof in guten Ruf zu bringen. Nachdem ich mich in einem sehr schönen Zimmer eingerichtet hatte, kam sie zu mir und fragte mich, ob ich zufrieden sei. Wir trafen genaue Abmachungen über alles. Sie hielt Table d’hôte, und die Gäste, die auf ihrem Zimmer aßen, zahlten das Doppelte.

»Diese Einrichtung«, sagte ich zu ihr, »mag für Sie bequem sein, mir aber paßt sie augenblicklich nicht. Ich will auf meinem Zimmer essen, aber nicht das Doppelte bezahlen; ich werde bezahlen, wie wenn ich an der Table d’hôte äße, stelle Ihnen jedoch frei, mir nur die Hälfte der Speisen auftragen zu lassen.«

»Ich bin damit einverstanden, aber unter der Bedingung, daß Sie mit mir zu Abend speisen; dies geht obendrein, und Sie werden bei meinem kleinen Souper nur liebenswürdige Freunde finden.«

Ich fand den Vorschlag so eigentümlich, daß ich beinahe laut herausgelacht hätte; da ich ihn aber zugleich sehr vorteilhaft fand, so nahm ich ihn an und dankte ihr so herzlich und freundschaftlich, wie wenn wir uns schon seit langen Jahren gekannt hätten.

Da ich an diesem Tage ruhebedürftig war, aß ich erst am nächsten Abend bei ihr. Frau Rufin hatte einen Mann, der die Küche besorgte, und einen Sohn; beide kamen niemals zum Abendessen. Als ich zum ersten Male daran teilnahm, fand ich einen alten Herrn, der sehr vernünftige Ansichten und ein sehr angenehmes Benehmen hatte; er wohnte in dem Zimmer neben mir und war ein Baron von Treidel. Seine Schwester hatte den Herzog von Kurland, Johann Ernst Birlen oder Biron, geheiratet. Dieser sehr liebenswürdige Baron wurde mein Freund und blieb es während der zwei Monate, die ich in Berlin verbrachte. Ferner fand ich einen Hamburger Kaufmann, Namens Greve, nebst seiner Frau, die er kurz vorher geheiratet hatte. Er war mit ihr nach Berlin gekommen, um ihr die Wunder des kriegerischen Hofstaats zu zeigen. Die junge Frau war ebenso liebenswürdig wie ihr Mann, und ich machte ihr eifrig, aber in allen Ehren, den Hof. Der vierte war ein sehr fröhlicher Herr, namens Noël; er war der einzige Koch Seiner Preußischen Majestät, die sehr große Stücke auf ihn hielt. Dieser Herr Noël kam nur selten zum Abendessen bei seiner Landsmännin und guten Freundin, denn sein Amt fesselte ihn an die Küche des Königs, der nicht wie ein Lukullus lebte: er hatte, wie gesagt, nur diesen einen Koch, und Noël hatte nur einen einzigen Gehilfen oder Küchenjungen.

Herr Noël, der Gesandte der französischen Republik im Haag, ist, wie man mir versichert hat, der Sohn dieses Kochs, der übrigens ein sehr liebenswürdiger Mann war. Beiläufig möchte ich bemerken, daß ich trotz meinem Abscheu vor dem französischen Direktorium es durchaus nicht übel finde, wenn ein verdienstvoller Mann, ohne Rücksicht auf seine Geburt, für die er ja nicht kann, zu Ämtern verwandt wird, die gewöhnlich nur den privilegierten Ständen offen stehen und oft genug von Dummköpfen verwaltet werden.

Ohne den Vater Noël, oder vielmehr ohne die Geschicklichkeit dieses Kochkünstlers, würde der berühmte atheistische Arzt Lamettrie nicht an einer Magenüberladung gestorben sein; denn die Pastete, von der er bei Lord Tyrconel im Übermaß aß, war von Noël zubereitet worden.

Lamettrie speiste oft bei Madame Rufin, und ich bedauerte sehr, daß er so früh gestorben war; denn ich hätte ihn gerne kennen gelernt, da er gelehrt und außerordentlich fröhlich war. Er starb lachend, obgleich man behauptet, daß es keine schmerzhaftere Todesart gebe als die infolge einer Magenüberladung. Voltaire sagte mir, er glaube nicht, daß es einen entschiedeneren Atheisten gegeben habe als Lamettrie, und jedenfalls keinen mit gründlicheren Kenntnissen; ich war davon überzeugt, nachdem ich seine Werke gelesen hatte. Der König von Preußen hielt in eigener Person in der Akademie die Leichenrede auf diesen Arzt und sagte: es sei nicht zu verwundern, daß Lamettrie nur die Materie habe gelten lassen; denn allen Geist, den es gebe, habe er selber besessen. Nur ein König kann sich in einer ernsten Leichenrede einen solchen Witz erlauben. Dies beweist aber zur Genüge, daß der große Mann als Redner kein Wort von dem glaubte, was er sagte. Übrigens war der große Friedrich niemals Atheist – er war Deist; darauf kommt es jedoch weniger an, da der Glaube an einen Gott niemals seine Lebensweise noch seine Handlungen beeinflußt hat. Man behauptet, ein Atheist, der sich mit Gott beschäftige, sei besser als ein Christ, der niemals an ihn denke. Ich möchte diese Frage nicht entscheiden.

Der erste Besuch, den ich in Berlin machte, galt Herrn Casalbigi, dem jüngeren Bruder dessen, mit dem ich mich im Jahre 1757 in Paris zusammengetan hatte, um dort Lotterien einzurichten. Dieser Casalbigi, den ich in Berlin traf, hatte Paris und seine Frau, die sogenannte Generalin La Motte, verlassen, um in Brüssel die Lotterie einzurichten. Dort hatte er zu luxuriös gelebt und im Jahre 1762 Bankerott gemacht, obgleich Graf Cobenzl alles aufgeboten hatte, um ihn zu halten. Er hatte fliehen müssen, war mit einer ziemlich guten Ausstattung nach Berlin gekommen und hatte sich dem König von Preußen vorgestellt. Da er gut zu sprechen wußte, gelang es ihm, den Herrscher zu überreden, die Lotterie in seinem Staate einzuführen, ihm die Leitung anzuvertrauen und ihm den Titel eines Staatsrats zu geben. Er versprach Seiner Majestät einen Jahresgewinn von mindestens zweihundeittausend Talern und verlangte für sich selber nur zehn Prozent von der Einnahme und die Kosten der Verwaltung.

Seit zwei Jahren war die Lotterie eingerichtet. Sie ging gut, denn bis dahin hatte noch keine unglückliche Ziehung stattgefunden. Der König war jedoch immer in Angst, weil er wußte, daß dieser Fall eintreten konnte. Um dieser Angst ein Ende zu machen, sagte er Casalbigi, er wolle die Lotterie nicht mehr auf seine eigene Rechnung führen; er überlasse sie ihm und begnüge sich in Zukunft mit hunderttausend Talern jährlich. Soviel kostete ihm sein italienisches Theater jährlich.

Ich machte bei Casalbigi meinen ersten Besuch gerade an dem Tage, wo der König ihm seinen Entschluß hatte mitteilen lassen. Nachdem wir von unseren früheren Beziehungen und von den Wechselfällen unseres Lebens gesprochen hatten, erzählte er mir von dem Ereignis, das ihm ganz unerwartet kam. Er sagte mir, die nächste Ziehung gehe noch für Rechnung des Königs; er müsse jedoch durch öffentliche Anschläge das Publikum davon in Kenntnis setzen, daß vom nächsten Ziehungstage an der König nichts mehr damit zu tun habe. Er brauche ein Grundkapital von zwei Millionen Talern; denn sonst werde die Lotterie nicht bestehen können, weil natürlich kein Mensch spielen würde, wenn er nicht die sichere Gewißheit hätte, daß er im Falle eines Gewinnes sein Geld erhalten würde. Er versprach mir zehntausend Taler jährlich, wenn es mir gelänge, den König zur Zurücknahme seines Entschlusses zu bewegen. Um mich zu ermutigen, erinnerte er mich daran, daß ich vor sieben Jahren gleich nach meiner Ankunft in Paris das Talent besessen hätte, den ganzen Rat der Militärschule von der Gewißheit des Gewinnes zu überzeugen. »Es ist ein deutliches Zeichen von den Göttern,« rief er, »und es ist kein Aberglaube, wenn ich annehme, daß der Schutzgeist der Lotterie Sie in diesem Augenblick nach Berlin geführt hat.«

Ich lachte über seine Illusionen und bedauerte ihn. Ich bewies ihm die Unmöglichkeit, jemanden zu überzeugen, der auf alle Gründe mit dem Gegengrunde antwortet: »Ich habe Furcht und ich will nicht mehr Furcht haben.«

Er bat mich, zum Essen zu bleiben, und stellte mich seiner Frau vor. Diese Vorstellung bereitete mir eine doppelte Überraschung: die erste, weil ich glaubte, daß die Generalin la Motte noch am Leben sei; die zweite, als ich in der neuen Frau Casalbigi Fräulein Bélanger erkannte. Ich richtete die üblichen Komplimente an sie und erkundigte mich dann nach ihrer Mutter. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und bat mich, nicht von ihrer Familie zu sprechen, denn sie würde mir nur Unglück mitzuteilen haben.

Ich hatte Frau Bélanger in Paris kennen gelernt; sie war die Witwe eines Börsenmaklers, hatte nur eine einzige Tochter und schien wohlhabend zu sein. Als ich nun diese ziemlich hübsche Tochter verheiratet sah und sich über ihr Schicksal beklagen hörte, war ich ein wenig in Verlegenheit; doch war meine Neugier ebenso groß. Nachdem Casalbigi mich instand gesetzt hatte, ein sehr günstiges Urteil über seinen Koch abzugeben, wollte er mir auch die Güte seiner Pferde und die Schönheit seines Wagens zeigen. Er bat mich, seine Gemahlin auf ihrer Spazierfahrt zu begleiten und dann zum Abendessen zu bleiben, denn das Abendessen sei seine beste Mahlzeit.

Als wir im Wagen saßen, fragte ich sie gesprächsweise, welcher glücklichen Fügung sie es verdanke, mit Casalbigi vermählt zu sein.

»Seine Frau lebt noch, ich habe also nicht das Unglück, seine Gattin zu sein, aber in Berlin hält mich jedermann dafür. Vor drei Jahren sah ich mich plötzlich meiner Mutter beraubt und von allen Mitteln entblößt; denn meine Mutter lebte von einer Leibrente. Da ich keine reichen Verwandten hatte, von denen ich Hilfe erwarten konnte, und eine solche Hilfe nicht um den Preis meiner Ehre erkaufen wollte, lebte ich zwei Jahre lang vom Verkauf der Möbel und anderer Sachen, die meiner verstorbenen Mutter gehört hatten. Ich wohnte bei einer guten Frau, die vom Sticken lebte. Ich lernte von ihr sticken und ging nur Sonntags aus, um die Messe zu besuchen. Ich wurde von Traurigkeit verzehrt, doch verlor ich die Hoffnung nicht. Je mehr mein kleines Vermögen zusammenschmolz, desto fester hoffte ich auf die Hilfe der Vorsehung; als ich aber meinen letzten Heller ausgegeben hatte, empfahl ich mich Herrn Brea aus Genua, den ich für unfähig hielt, mich zu täuschen. Ich mußte ihn bitten, mir eine Stellung als gewöhnliches Kammermädchen zu verschaffen, wofür ich die nötigen Fähigkeiten zu besitzen glaubte. Er versprach mir, sich damit zu beschäftigen, und nach fünf oder sechs Tagen machte er mir einen Vorschlag: er zeigte mir einen Brief von Casalbigi, den ich nie gekannt hatte, und der ihn beauftragte, ihm eine anständige junge Dame von guter Geburt und Erziehung und von angenehmem Gesicht nach Berlin zu schicken; er habe die Absicht, sie zu heiraten, sobald seine alte und krante Frau nicht mehr lebe. Da die gewünschte Person wahrscheinlich nicht reich sein werde, bat er Herrn Brea, ihr fünfzig Louis zu geben, um ihre Toilette in Ordnung zu bringen, und weitere fünfzig Louis, um mit einer Zofe nach Berlin zu reisen. Herr Brea hatte ferner Vollmacht, sich im Namen Casalbigis gesetzlich zu verpflichten, daß das Fräulein in Berlin als seine Gemahlin empfangen werden und als solche allen, die in seinem Hause verkehrten, vorgestellt werden sollte; außerdem sollte das Fräulein eine Kammerzofe nach ihrer eigenen Wahl haben, dazu Wagen und Pferde, angemessene Garderobe und monatlich eine gewisse Summe als Nadelgeld, worüber sie nach ihrem Belieben verfügen könnte. Er verpflichtete sich, sie nach einem Jahre freizulassen, wenn seine Gesellschaft ihr nicht gefiele; in diesem Falle würde er ihr hundert Louis geben, und sie könnte alle Ersparnisse und die von ihm geschenkten Sachen behalten. Wenn das Fräulein einverstanden wäre, so lange bei ihm zu bleiben, bis er sie heiraten könnte, würde er ihr zehntausend Taler verschreiben, die als ihr Heiratsgut zu gelten hätten; sollte er aber vorher sterben, so würde sie das Recht haben, sich diese zehntausend Taler von seiner Hinterlassenschaft auszahlen zu lassen.

»Mit allen diesen schönen Versprechungen wußte Brea mich zu überreden, mein Vaterland zu verlassen, um mich hier zu entehren; denn obgleich mir alle Welt die Ehre erweist, die man einer anständigen Frau zugesteht, so weiß man doch wahrscheinlich nur zu gut, was ich tatsächlich bin. Vor sechs Monaten bin ich hier angekommen, und ich war noch nicht einen Augenblick glücklich.«

»Aber hat er denn nicht die Abmachungen gehalten, die zwischen Ihnen und Brea vereinbart wurden?«

»Ich bitte um Verzeihung – eine erschütterte Gesundheit gestattet Casalbigi nicht, darauf zu hoffen, daß er seine Frau überleben werde; wenn er aber vor ihr stirbt, habe ich nichts; denn die zehntausend Taler, die er mir verschrieben hat, sind alsdann kein Heiratsgut. Er ist überschuldet und bei der Verteilung seiner Hinterlassenschaft werden seine anderen Gläubiger mir vorgehen. Außerdem ist er mir unerträglich, gerade weil er mich zu sehr liebt. Sie werden mich wohl verstehen. Er tötet sich bei Kleinem, und gerade das macht mich untröstlich.«

»Auf alle Fälle können Sie in sechs Monaten nach Paris zurückkehren oder sonst tun, was Sie wollen, sobald das Jahr des Vertrages abgelaufen ist. Sie werden hundert Louis erhalten und eine schöne Ausrüstung besitzen.«

»Dann werde ich mich gerade erst recht entehren, einerlei ob ich nach Paris zurückkehre oder ob ich hier bleibe. Ich bin recht unglücklich, soviel ist sicher, und der gute Brea ist schuld daran. Trotzdem kann ich es ihm nicht übel nehmen, denn er wußte ohne Zweifel nicht, daß sein Freund hier nur Schulden hat. Jetzt, da der König seine Garantie zurückziehen will, wird die Lotterie zusammenkrachen, und Casalbigis Bankerott wird die unausbleibliche Folge davon sein.«

In der Erzählung des armen Mädchens war nichts übertrieben, und ich mußte zugeben, daß sie zu beklagen war. Ich riet ihr, sie solle Casalbigis Verschreibung der zehntausend Taler zu verkaufen suchen; denn er könne dagegen nichts einzuwenden haben.

»Ich habe auch daran gedacht,« antwortete sie mir; »aber dafür würde ich einen Freund nötig haben, denn ich sehe voraus, daß ich den Schein nur mit großem Verlust werde verkaufen können.«

Ich versprach ihr, daran zu denken.

Beim Abendessen waren wir zu vieren. Der vierte war ein junger Mann, der bei der Lotterie in Paris, später in Brüssel angestellt gewesen war; er war Casalbigis Glücksstern nach Berlin gefolgt. Er war in die Bélanger verliebt, schien mir jedoch kein glücklicher Liebhaber zu sein.

Beim Nachtisch bat Casalbigi mich um meine Meinung über einen von ihm niedergeschriebenen Plan, den er veröffentlichen wollte, um sich die zwei Millionen zu verschaffen, deren er zur Aufrechterhaltung seines Kredits bedurfte.

Die Dame des Hauses zog sich zurück, damit wir ungestört beraten könnten. Diese Frau, die etwa vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, hatte alles, was nötig war, zu gefallen; sie glänzte zwar nicht durch ihren Geist, aber sie hatte ein weltgewandtes Benehmen, und das ist bei einer Frau mehr wert als Geist. Sie flößte mir durch ihr Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte, nur Gefühle der Achtung und Freundschaft ein, und das war mir lieb.

Casalbigis Plan war kurz, aber klar und deutlich abgefaßt. Er lud alle Kapitalisten von öffentlich bekanntem Vermögen ein, nicht etwa in der Lotteriekasse einen Betrag in barem Gelde einzuzahlen, sondern mit ihren Namen für irgendeine beliebige Summe zu zeichnen, für die sie unzweifelhaft gut sein würden. Sollte der Fall eintreten, daß die Lotterie einen Verlust erlitte, so würde jeder im Verhältnis zur garantierten Summe seinen Anteil beizutragen haben, und in demselben Verhältnis würden die Gewinne unter allen Bürgen verteilt werden.

Ich versprach ihm, meine Bemerkungen zu seinem Plane ihm am nächsten Tage schriftlich mitzuteilen. Der Plan, den ich an die Stelle des seinigen setzte, lautete folgendermaßen:

1. Ein Grundkapital von einer Million müßte genügen.

2. Diese Million müßte in hundert Aktien zu je zehntausend Taler geteilt werden.

3. Jeder Aktionär müßte sich vor einem bestimmten Notar verpflichten, und dieser Notar müßte für die Aktien, das heißt für die Zahlungsfähigkeit des Aktionärs, bürgen.

4. Die Dividende würde stets am dritten Tage nach der Ziehung verteilt werden.

5. Im Falle eines Verlustes müßte der Aktionär den Betrag seiner Aktie ergänzen und zwar wieder vor dem Notar.

6. Ein Kassierer, der von vier Fünfteln der Aktionäre erwählt würde, müßte den Lotteriekassierer kontrollieren, in dessen Händen die baren Geldeinnahmen stets verblieben.

7. Die Gewinne würden am Tage nach der Ziehung ausbezahlt werden.

8. Am Tage vor der Ziehung würde der Kassierer der Lotterie das eingenommene bare Geld dem Kassierer der Aktionäre vorzählen; dieser würde die Kasse mit drei Schlüsseln verschließen. Einen von diesen würde er behalten, den zweiten bekäme der zweite Kassierer und den dritten der Direktor der Lotterie.

9. Einsätze würden nur für Auszug, Ambo und Terno angenommen; Quaterno und Quino würden unterdrückt, weil diese beiden Kombinationen zu große Verluste ermöglichen könnten.

10. Der Einsatz auf die drei Kombinationen: Auszug, Ambo und Terno dürfte nicht weniger als vier Groschen und nicht mehr als einen Taler betragen; die Annahmestelle würde vierundzwanzig Stunden vor der Ziehung geschlossen.

11. Der zehnte Teil der Einnahme würde Casalbigi als Generaldirektor der Lotterie gehören; dafür hätte er aber alle Verwaltungskosten zu übernehmen.

12. Er sollte das Recht haben, zwei Aktien zu besitzen, ohne daß ein Notar für seine Zahlungsfähigkeit bürgte.

Ich sah an Casalbigis Gesicht, daß mein Plan ihm nicht gefiel, und prophezeite ihm, daß er Aktionäre nur zu diesen Bedingungen oder zu noch weniger günstigen finden werde.

Er hatte aus der Lotterie eine Art Biribi gemacht; sein Luxus erregte Anstoß; man wußte, daß er überschuldet war, und der König mußte natürlich befürchten, daß früher oder später irgend eine Gaunerei vorfallen würbe, obwohl er einen Kontrolleur hatte, der rechnen konnte.

Die letzte Ziehung, die unter der Garantie des Königs stattfand, erregte die Heiterkeit der ganzen Stadt: denn die Lotterie verlor zwanzigtausend preußische Taler. Der König schickte den Betrag sofort seinem Geheimrat Casalbigi; er sollte, als er das Resultat der Ziehung vernommen hatte, laut aufgelacht und gesagt haben: »Ich hatte es ja vorausgesehen, und ich danke dem Zufall, daß ich so billig davon gekommen bin.«

Ich glaubte, zum Abendessen zum Direktor gehen zu müssen, um ihn zu trösten. Er war ganz bestürzt; denn er stellte die sehr natürliche, aber auch sehr unangenehme Betrachtung an, daß es infolge dieser unglücklichen Ziehung noch schwieriger sein werde, reiche Leute zu finden, die die Mittel für die Lotterie hergeben könnten. Es war das erste Mal, daß die Lotterie verlor, aber dieser Unfall konnte wirklich nicht ungelegener kommen.

Casalbigi verlor trotzdem nicht den Mut; gleich am nächsten Tage tat er neue Schritte und benachrichtigte das Publikum durch einen gedruckten Anschlag: Die Annahmestellen würden geschlossen bleiben, bis man neue Mittel beschafft habe, um die Spieler sicher zu stellen, die auch in Zukunft ihr Geld riskieren wollten.

Neunzehntes Kapitel


Mylord Keith. – Audienz beim König von Preußen im Park von Sanssouci. – Meine Unterhaltung mit dem Monarchen. – Die Denis. – Die pommerschen Kadetten. – Lambert. – Reise nach Mitau. – Meine ausgezeichnete Aufnahme bei Hofe und meine Reise zum Zwecke von Verwaltungsstudien.

Am fünften Tage nach meiner Ankunft in Berlin stellte ich mich dem Lord Marishal vor, der seit dem Tode seines Bruders Mylord Keith genannt wurde. Ich hatte ihn zum letzten Male in London gesehen, als er von Schottland zurückreiste; man hatte ihm die Familiengüter zurückgegeben, die von der Regierung konfisziert worden waren, als er und sein Bruder dem König James folgten. Er verdankte die Wiedereinsetzung in seinen Besitz dem Einfluß des Großen Friedrich. Mylord Keith lebte damals in Berlin, wo er auf seinen Lorbeeren ausruhte und sich des Friedens erfreute. Er war immer noch ein Liebling des Königs, mischte sich aber wegen seines hohen Alters in keine Hofangelegenheiten mehr ein.

Er sagte mir in der ihm eigenen einfachen Art, er sehe mich mit Vergnügen wieder; hierauf fragte er mich, ob ich die Absicht habe, eine Zeitlang in Berlin zu bleiben. Da er zum Teil die Wechselfälle meines Lebens kannte, so antwortete ich ihm, ich würde mich gern dauernd niederlassen, wenn der König mir eine Anstellung gäbe, die meinen Kenntnissen entspräche. Als ich ihn aber um seine Protektion zur Erlangung einer solchen Stellung bat, antwortete er mir: »Ich würde Ihnen mehr schaden als nützen, wenn ich versuchen wollte, den König vorher zu Ihren Gunsten zu beeinflussen. Seine Majestät tut sich nämlich etwas darauf zugute, ein ganz besonderer Menschenkenner zu sein, und urteilt daher gern nach eigener Überzeugung. So kommt es denn ziemlich oft vor, daß er Verdienste entdeckt, wo kein Mensch solche auch nur vermutet hätte, und umgekehrt. Ich rate Ihnen, dem König zu schreiben, daß Sie nach der Ehre einer Unterredung streben. Wenn Sie mit ihm sprechen, können Sie ihm beiläufig sagen, daß Sie mich kennen, und ich zweifle nicht, daß er mir dann Gelegenheit geben wird, von Ihnen zu sprechen; Sie können sich denken, daß meine Auskunft Ihnen nicht schaden wird.«

»Ich, Mylord, soll an einen König schreiben, zu dem ich nicht die geringsten Beziehungen habe? Ein solcher Schritt ist mir nie in den Sinn gekommen.«

»Das glaube ich wohl, aber wünschen Sie nicht mit ihm zu sprechen?«

»Gewiß.«

»Nun, da haben Sie ja die Beziehungen. Ihr Brief braucht weiter nichts zu enthalten, als daß Sie ihn zu sprechen wünschen.«

»Wird der König mir antworten?«

»Ohne allen Zweifel; denn er antwortet einem jeden. Er wird Ihnen mitteilen, wo und zu welcher Stunde er Sie empfangen will. Folgen Sie meinem Rat! Seine Majestät ist jetzt in Sanssouci. Ich bin neugierig auf das Gespräch, das Sie mit dem Herrscher haben werden, der, wie Sie sehen, keine Furcht hat, daß ihm jemand blauen Dunst vormacht.«

Ich ging nach Hause, setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb dem König einen ganz einfachen und sehr ehrfurchtsvollen Brief, in dem ich fragte, wo und wann ich mich Seiner Majestät vorstellen dürfte.

Am zweiten Tage darauf erhielt ich einen Brief mit der Unterschrift Frédéric; man bestätigte mir den Empfang meines Briefes und teilte mir mit, daß der König sich um vier Uhr im Park von Sanssouci befinden würde.

Wie man sich denken kann, war ich pünktlich zur Stelle. In einen einfachen schwarzen Anzug gekleidet, begab ich mich um drei Uhr nach Sanssouci. Im Schloßhof sah ich keinen Menschen, nicht einmal eine Schildwache; ich ging eine kleine Treppe hinauf, öffnete eine Tür und befand mich in einer Bildergalerie. Der Aufseher kam auf mich zu und erbot sich, mich zu führen. Ich antwortete ihm: »Ich komme nicht, um diese Meisterwerke der Malerei zu bewundern, sondern um den König zu sprechen, der mir geschrieben hat, daß er im Park sein werde.«

»Er ist in diesem Augenblick bei seinem kleinen Konzert, wo er die Flöte spielt. Das tut er jeden Tag nach Tisch. Hat er Ihnen die Stunde bezeichnet?«

»Ja, um vier Uhr; aber er wird es vergessen haben.«

»Der König vergißt niemals etwas; er wird pünktlich sein, und Sie tun gut, wenn Sie ihn im Park erwarten.«

Ich befand mich seit einigen Augenblicken im Park, als ich ihn mit seinem Vorleser und einer hübschen Windhündin erscheinen sah. Sobald er mich bemerkte, ging er auf mich zu, nahm seinen alten Hut ab, nannte meinen Namen und fragte mich in barschem Ton, was ich von ihm wollte. Überrascht von diesem Empfang, konnte ich kein Wort hervorbringen; ich sah ihn nur an, ohne ihm zu antworten.

»Nun, so sprechen Sie doch! Haben Sie mir denn nicht geschrieben?«

»Ja, Sire; aber ich erinnere mich an nichts mehr. Ich konnte wohl glauben, daß die Majestät eines Königs mich nicht blenden würde! Doch in Zukunft soll mir dies nicht wieder begegnen. Mylord Marishal hätte mich warnen sollen.«

»Er kennt Sie also? Wir wollen ein wenig gehen. Worüber wollten Sie mit mir sprechen? Was sagen Sie zu meinem Park?«

Während er mich fragt, worüber ich mit ihm sprechen wolle, befiehlt er mir zugleich, mein Urteil über seinen Park zu sagen! Jedem anderen hätte ich geantwortet, daß ich nichts davon verstände; aber da der König geruhte, mich für einen Kenner zu halten, so hätte es ausgesehen, wie wenn ich ihm unrecht geben wollte, und das verzeiht ein König niemals, selbst wenn er ein Philosoph ist. Auf die Gefahr hin, einen schlechten Geschmack zu zeigen, antwortete ich daher, ich fände den Garten prachtvoll.

»Aber der Park von Versailles ist doch viel schöner.«

»Allerdings Sire, aber hauptsächlich wegen der Wasserkünste.«

»Ganz recht; aber das ist nicht meine Schuld: hier gibt es kein Wasser. Ich habe mehr als dreihunderttausend Taler ausgegeben, um Wasser zu bekommen; aber ohne Erfolg.«

»Dreihunderttausend Taler, Sire! Wenn Eure Majestät die ganze Summe auf einmal ausgegeben hätten, müßte Wasser da sein.«

»Ah, ich sehe, Sie sind Ingenieur, der sich mit Hydraulik befaßt.«

Hätte ich ihm sagen sollen, daß er sich täuscht? Ich fürchtete ihm zu mißfallen und senkte nur den Kopf; das hieß weder ja noch nein. Glücklicherweise dachte der König nicht daran, mit mir über diesen Gegenstand zu sprechen; so blieb mir eine große Verlegenheit erspart, denn ich kannte nicht einmal die ersten Anfangsgründe dieser Wissenschaft.

Während wir gingen, drehte er fortwährend den Kopf nach rechts und nach links; er fragte mich, welche Streitkräfte Venedig im Kriegsfalle zu Wasser und zu Lande habe. Hier befand ich mich, Gott sei Dank, auf sicherem Boden!

»Zwanzig Schlachtschiffe, Sire, und eine große Menge Galeren.«

»Und wieviele Landtruppen?«

»Siebzigtausend Mann, Sire; lauter Untertanen der Republik, auf jedes Dorf nur einen einzigen Mann gerechnet.«

»Das ist nicht wahr. Sie wollen mich wohl zum Lachen bringen, indem Sie mir derartige Fabeln erzählen? Aber Sie sind sicherlich Finanzmann. Sagen Sie nur, was Sie von der Steuer halten?«

Es war die erste Unterredung, die ich mit einem König hatte. Es kam mir vor, wie wenn ich eine Szene in einer italienischen Komödie zu spielen hätte, wo der Schauspieler zu improvisieren hat und, wenn er stecken bleibt, sofort ausgepfiffen wird. Ich legte also mein Gesicht in würdige Falten und antwortete dem stolzen Herrscher, ich könnte über die Theorie der Steuer sprechen.

»Das will ich ja gerade; denn die Praxis geht Sie nichts an.«

»Im Hinblick auf die Wirkungen sind drei Arten von Steuern zu unterscheiden: die eine ist verderblich; die zweite leider notwendig, die dritte stets ausgezeichnet.«

»Gut so. Nur weiter!«

»Die verderbliche Steuer ist die königliche; die notwendige ist die militärische; die ausgezeichnete ist die Steuer, die dem Volk zugute kommt.«

Da ich über das Thema nicht vorher nachgedacht hatte, so warf ich einige Gedanken hin, wie sie mir gerade in den Sinn kamen; dabei mußte ich aber doch vorsichtig sein und mich hüten, Unsinn zu sprechen.

Ich fuhr fort:

»Die königliche Steuer, Sire, ist diejenige, die die Börsen der Untertanen erschöpft, um die Geldkisten des Herrschers zu füllen.«

»Und diese Steuer ist stets verderblich, sagen Sie?«

»Stets, Sire; denn sie schadet dem Geldumlauf, der die Seele des Handels und die Stütze des Staates ist.«

»Aber Sie finden die Steuer notwendig, die zur Unterhaltung der Heere dient?«

»Sie ist leider notwendig. Leider – denn der Krieg ist ein Unglück.«

»Das kann wohl sein; und die Steuer, die dem Volk dient?«

»Diese ist stets ausgezeichnet; denn der König nimmt seinen Untertanen mit der einen Hand und gibt ihnen mit der anderen; dadurch erzieht er sie zu gemeinnützigem Denken. Er begründet die notwendigen gewerblichen Unternehmungen, beschützt Wissenschaften und Künste, die dazu beitragen, das Geld in Umlauf zu bringen; endlich erhöht er das allgemeine Wohlbefinden durch die Verordnungen, die ihm seine Weisheit eingibt, um diese Steuer so zu verwenden, wie sie den Massen am besten nützt.«

»Es liegt etwas Wahres darin. Sie kennen ohne Zweifel Casalbigi?«

»Ich muß ihn wohl kennen, Sire; denn vor sieben Jahren haben wir beide zusammen die Genueser Lotterie in Paris eingeführt.«

»Und zu welcher der drei Arten rechnen Sie diese Steuer? Denn Sie werden mir zugeben, daß die Lotterie eine Steuer ist.«

»Gewiß, und zwar keine von den unbedeutendsten. Es ist eine Steuer von der guten Art, wenn der König die Erträgnisse zu nützlichen Ausgaben verwendet.«

»Aber der König kann daran verlieren.«

»Einmal auf fünfzig.«

»Ist dies das Ergebnis einer sicheren Berechnung?«

»Einer so sicheren, Sire, wie alle nationalökonomischen Berechnungen sind.«

»Diese sind oft fehlerhaft.«

»Niemals, Sire, wenn Gott neutral bleibt.«

»Warum wollen Sie Gott hineinmischen?«

»Nun, dann also das Schicksal oder der Zufall, Sire.«

»Das lasse ich gelten. Übrigens denke ich vielleicht wie Sie über Wahrscheinlichkeitsrechnungen; aber Ihre Genueser Lotterie liebe ich nicht. Sie scheint mir eine richtige Gaunerei zu sein, und ich möchte nichts von ihr wissen, selbst wenn ich die tatsächliche Sicherheit hätte, daß ich niemals verlieren könnte.«

»Eure Majestät denken wie ein Weiser; denn das unwissende Volk kann nur in der Lotterie spielen, wenn es sich von einem blinden und ungerechtfertigten Vertrauen hinreißen läßt.«

Nach diesem etwas zusammenhanglosen Dialog, der dem hohen Geiste des erlauchten Herrschers alle Ehre machte, brachte er das Gespräch noch auf verschiedene Themata, aber er fand mich um die Antworten nicht verlegen. Als wir bei einem Rundtempel mit doppelter Säulenreihe angekommen waren, blieb er vor mir stehen, sah mich vom Kopf bis zu den Füßen an und sagte nach einigen Sekunden:

»Wissen Sie, Sie sind ein sehr schöner Mann.«

»Ist es möglich, Sire, daß Eure Majestät nach einer langen wissenschaftlichen Unterhaltung an mir den geringsten der Vorzüge bemerken können, durch die Ihre Grenadiere sich auszeichnen?«

Der König lächelte fein, aber freundlich und gütig und sagte dann zu mir: »Da Lord Keith Sie kennt, werde ich mit ihm über Sie sprechen.«

Hierauf nahm er seinen Hut ab – mit dieser Höflichkeit geizte er überhaupt gegen keinen Menschen – und grüßte mich. Ich machte ihm eine tiefe Verbeugung und entfernte mich.

Drei oder vier Tage darauf machte Lord Marishal mir die angenehme Mitteilung, daß ich dem König gefallen hätte und daß Seine Majestät daran dächte, mir irgendeine Anstellung zu geben.

Ich war sehr neugierig, für was für eine Stellung der Herrscher mich ausersehen haben könnte, und da ich es durchaus nicht eilig hatte, anderswohin zu gehen, so beschloß ich zu warten. Übrigens gefiel es mir in Berlin nicht schlecht; denn wenn ich nicht bei Casalbigi zu Abend speiste, hatte ich an der Tafel meiner Wirtin die angenehme Gesellschaft des Barons von Treidel; außerdem war der Sommer sehr schön, und ich verbrachte angenehme Stunden im Tiergarten, wo ich mich für gewöhnlich mehr mit meiner Vergangenheit als mit meiner Zukunft beschäftigte, obwohl an der einen nichts mehr zu ändern, die andere aber sehr ungewiß war.

Casalbigi erhielt ohne Mühe die Erlaubnis, die Lotterie für seine eigene Rechnung fortzusetzen oder für Rechnung des ersten besten, der ihm für jede Ziehung sechstausend Taler zahlen wollte. Er erließ die dreiste Ankündigung, daß die Lotterie auf seine eigene Rechnung ginge, machte seine Annahmestellen wieder auf und sah seine Kühnheit vom Glück gekrönt. Obgleich sein Kredit sehr schlecht war, strömten ihm die Spieler in solcher Menge zu, daß er einen Gewinn von fast hunderttausend Talern hatte. Er benutzte diesen, um einen großen Teil seiner Schulden zu bezahlen, und löste die Verschreibung von zehntausend Talern ein, die er seiner Geliebten gegeben hatte. Nach dieser glücklichen Ziehung fand er ohne jede Mühe Bürgen für eine Million Taler, die in tausend Aktien geteilt wurden, und die Lotterie ging zwei oder drei Jahre lang ohne jeden Unfall weiter. Schließlich machte Casalbigi aber doch Bankerott und starb ziemlich arm in Italien. Man konnte ihn mit dem Faß der Danaiden vergleichen: je mehr er verdiente, desto mehr gab er aus. Seine Geliebte wußte die günstigen Umstände zur rechten Zeit zu benützen: sie machte eine vorteilhafte Heirat und kehrte nach Paris zurück, wo sie in angenehmen Verhältnissen lebt.

Zu jener Zeit machte Friedrichs Schwester, die Herzogin von Braunschweig, dem König einen Besuch; sie war von ihrer Tochter begleitet, die im folgenden Jahre den Thronfolger von Preußen heiratete. Aus diesem Anlaß kam der König nach Berlin und ließ auf seiner kleinen Bühne in Charlottenburg eine italienische Oper aufführen. Ich sah an diesem Tage den König von Preußen in einem Rock von Glanzseide, der an allen Nähten mit Gold gestickt war, und in schwarzseidenen Strümpfen. Seine Erscheinung war geradezu komisch; er glich mehr einem Theatergroßpapa als einem Herrscher. Den Hut unterm Arm betrat er den Saal, seine Schwester an der Hand führend. Alle Zuschauer betrachteten ihn mit dem größten Erstaunen, denn nur alte Leute konnten sich erinnern, ihn ohne seinen Uniformrock und seine hohen Stiefel gesehen zu haben.

Ich wußte nicht, daß die berühmte Denis in Berlin war; so war ich denn sehr angenehm überrascht, als ich sie im Ballett auftreten und einen Solotanz zum Entzücken tanzen sah. Ich konnte Anspruch darauf machen, für einen alten Bekannten zu gelten, und bekam daher Lust, ihr gleich am nächsten Tage einen Besuch zu machen.

Ich muß meinen Lesern – vorausgesetzt, daß ich überhaupt jemals Leser habe – ein Geschichtchen aus meiner Jugend erzählen: Als in meinem zwölften Jahre meine Mutter im Begriff stand, nach Dresden abzureisen, wo sie eine Stelle am kurfürstlichen Theater erhalten hatte, ließ sie mich mit meinem guten Doktor Gozzi nach Venedig kommen. Dort sah ich mit Herzklopfen im Theater ein achtjähriges kleines Mädchen ein Menuett mit einer Anmut tanzen, die alle Zuschauer zu stürmischem Beifall hinriß. Diese junge Tänzerin, die Tochter des Schauspielers, der die wichtige Rolle des Pantalon spielte, bezauberte mich dermaßen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, in ihr Ankleidezimmer zu gehen und ihr mein Kompliment zu machen. Ich trug damals die Soutane, und sie war sehr überrascht, als ihr Vater ihr befahl, aufzustehen und mich zu umarmen. Sie tat es jedoch mit großer Anmut, während ich diese unschuldige Gunstbezeigung sehr linkisch empfing. Aber ich war so entzückt, daß ich mich nicht enthalten konnte, von einer Juwelenhändlerin, die gerade da war, einen kleinen Ring zu kaufen, den ich ihr anbot und den sie mit großer Freude annahm. Ich wurde von ihr durch einen Kuß belohnt, den sie mir in der Freude des Herzens und als Zeichen ihrer Dankbarkeit gab.

Das schönste dabei war, daß die Zechine, die der Ring mir gekostet hatte, dem Doktor gehörte. Ich fühlte mich daher, als ich wieder zu ihm in die Loge ging, sehr unbehaglich; denn trotz meiner Liebe zu der kleinen Virtuosa fühlte ich, daß ich eine große Dummheit gemacht hatte – erstens, indem ich über Geld verfügte, das mir nicht gehörte; zweitens, weil ich es wie ein rechter Tor ausgegeben hatte, um bloß einen einfachen Kuß dafür zu erhalten.

Da ich wußte, daß ich am nächsten Morgen Rechenschaft über das mir anvertraute Geld abzulegen hatte, und da ich nicht wußte, wie ich mir eine Zechine verschaffen oder wie ich den Verlust beschönigen sollte, so verbrachte ich eine sehr unruhige Nacht. Am anderen Morgen wurde alles entdeckt, und meine Mutter gab dem Doktor die Zechine. Heute muß ich lachen, indem ich daran denke, wie rot ich damals über meine kindliche Galanterie wurde, die übrigens ein frühes Zeichen der Herrschaft war, die das schöne Geschlecht dereinst über mich ausüben sollte.

Die Händlerin, die mir im Theater den Ring verkauft hatte, kam zu uns, als wir beim Mittagessen saßen, und zeigte ihre Schmucksachen. Als man diese zu teuer fand, fing sie an, mich zu loben, und sagte, ich hätte den Ring nicht teuer gefunden, den ich der kleinen Giovannina geschenkt hätte. Weiter war nichts nötig, um mir meinen Prozeß zu machen. Ich befand mich wie auf glühenden Kohlen, glaubte aber der Sache ein Ende machen zu können, indem ich um Verzeihung bat, alle Schuld auf die Liebe schob und meiner Mutter fest versprach, es solle der letzte Fehltritt sein, den ich aus Liebe begehen werde. Kaum aber sprach ich das Wort Liebe aus, so lachte die ganze Gesellschaft laut auf und machte sich in grausamer Weise über mich lustig. Ich hätte mich am liebsten in die Erde verkrochen und nahm mir innerlich fest vor, es sollte das letzte Mal sein, daß ich mich solchen Unannehmlichkeiten aussetzen würde. Man weiß, wie ich Wort gehalten habe.

Die kleine Pantalons-Tochter war eine Patin meiner Mutter; obgleich ich ihretwegen der Liebe ewigen Haß geschworen hatte, schmachtete ich doch nach ihr. Meine Mutter hatte sie gern, und als sie meinen Kummer sah, gab sie mir die Zechine und fragte mich, ob es mir lieb wäre, wenn sie sie zum Abendessen einlüde. Meine Großmutter war vernünftiger oder strenger: sie erhob Widerspruch, und ich war ihr dafür dankbar.

Am Tage nach diesem komischen Auftritt reiste ich nach Padua zurück, wo ich über Bettina bald meine kleine Tänzerin vergaß. Ich hatte sie seitdem nicht wiedergesehen, bis wir uns dann in Charlottenburg trafen. Es waren siebenundzwanzig Jahre seitdem vergangen. Es drängte mich, sie unter vier Augen wiederzusehen und von ihr zu hören, ob sie sich dieser Geschichte noch erinnerte; denn daß sie mich selber wiedererkennen sollte, hielt ich nicht für wahrscheinlich. Ich erkundigte mich, ob ihr Mann, Denis, bei ihr wäre, und ich erfuhr, daß der König ihn ausgewiesen habe, weil er sie mißhandelte.

Ich ließ mich also gleich am nächsten Tage zu ihr führen und wurde von ihr sehr freundlich und höflich empfangen; sie sagte mir jedoch, sie glaube nicht das Vergnügen gehabt zu haben, mich schon früher zu kennen.

Ich erzählte ihr nun alles mögliche Gute von ihrer Familie, sprach von ihrer Patin, von ihrer Kindheit und von der rührenden Anmut, womit sie Venedig durch ihren Menuettanz entzückt habe, und erregte dadurch ihre lebhafteste Teilnahme. Sie unterbrach mich und rief: »Ich war damals nur sechs Jahre alt.«

»Sie können nicht älter gewesen sein; denn ich selber war erst zehn Jahre alt; trotzdem verliebte ich mich leidenschaftlich in Sie. Ich konnte damals meine Gefühle nicht äußern, aber ich habe niemals den Kuß vergessen, den Sie mir auf Befehl Ihres Vaters zum Lohn für ein kleines Geschenk gaben.«

»Schweigen Sie! Sie gaben mir einen Ring, der mir große Freude machte, und der Kuß, den ich Ihnen darauf gab, war nicht von meinem Vater befohlen worden. Sie waren damals als Abbate gekleidet. Ich habe Sie niemals vergessen. Aber ist es möglich, daß Sie das sind? Das freut mich sehr. Aber da ich Sie nicht wiedererkenne, so ist es unmöglich, daß Sie mich erkennen!«

»Allerdings hätte ich Sie gewiß nicht wiedererkannt, wenn ich nicht Ihren Namen gehört hätte.«

»In zwanzig Jahren, mein lieber Freund, ändert sich das Gesicht.«

»Sagen Sie lieber, meine Freundin: mit sechs Jahren sind die Züge noch nicht ausgebildet.«

»Sie können mir also bezeugen, daß ich erst sechsundzwanzig Jahre alt bin, zum Trotz den boshaften Zungen, die behaupten wollen, daß ich zehn Jahre älter sei.«

»Man muß die bösen Zungen reden lassen, meine liebe Freundin. Sie stehen in der Blüte Ihrer Jahre und sind zur Liebe geschaffen. Ich halte mich für den glücklichsten aller Menschen, Ihnen sagen zu können, daß Sie das erste Weib sind, das mir echte Liebe eingeflößt hat.«

Eine Unterhaltung dieser Art mußte uns bald in eine gerührte Stimmung bringen; aber die Erfahrung hatte uns beide gelehrt, daß es für den Augenblick besser sei, es dabei bewenden zu lassen und zu warten.

Die Denis war noch jung, schön und frisch, sie unterschlug zehn Jahre ihres Alters, obgleich sie sich in bezug auf mich keiner Täuschung hingeben konnte; trotzdem verlangte sie, daß ich ihr recht geben sollte oder wenigstens so täte. Sie würde mich verabscheut haben, wenn ich ihr dummerweise eine Tatsache hätte nachweisen wollen, die sie besser wußte als ich, die sie aber sich selber nicht gestehen wollte, damit niemand das Recht hätte, ihr etwas darüber zu sagen. Ohne Zweifel lag ihr wenig daran, was ich vielleicht darüber dächte; vielleicht bildete sie sich ein, daß ich ihr dankbar dafür sein müßte, da sie durch diese Lüge, die bei einer Frau ihres Berufes sehr unschuldiger Art war, mich selber ermächtigte, mich um zehn Jahre jünger zu machen, damit mein Alter zu dem ihrigen paßte. Daraus machte ich mir allerdings gar nichts. Die Verheimlichung ihres Alters ist für Theaterdamen gewissermaßen eine Pflicht; denn sie wissen, daß trotz allen ihren Talenten das Publikum ihnen niemals verzeiht, daß sie zu früh geboren sind.

Die Aufrichtigkeit, womit sie ihre kleine Schwäche vor mir enthüllt hatte, schien mir ein gutes Vorzeichen. Ich zweifelte nicht, daß ihre Güte meine Liebe dulden würde, und hoffte, daß sie mich nicht lange würde schmachten lassen. Sie zeigte mir ihr Haus, das ich in jeder Beziehung mit gesuchter Eleganz eingerichtet fand. Ich fragte sie, ob sie einen Freund hätte, und sie antwortete mir lächelnd:

»Ganz Berlin glaubt es, aber man täuscht sich gerade über den Hauptpunkt, denn mein Freund ist mir mehr ein Vater als ein Liebhaber.«

»Sie verdienen aber doch einen wirklichen Liebhaber zu haben; es erscheint mir unmöglich, daß Sie eines solchen entbehren können.«

»Ich versichere Ihnen, ich mache mir nichts daraus. Ich leide an Krämpfen, die mich unglücklich machen. Ich wollte nach Teplitz gehen und die Bäder gebrauchen, die ganz ausgezeichnet gegen Nervenkrankheiten sein sollen, aber der König hat mir die Erlaubnis verweigert; ich hoffe diese im nächsten Jahre zu erhalten.«

Ich war entflammt, sie sah es, und ich glaubte zu bemerken, daß sie mir für meine Zurückhaltung Dank wußte. Ich fragte sie: »Könnte es Ihnen unangenehm sein, wenn ich Sie häufig besuchte?«

»Wenn es Ihnen nicht mißfällt, lieber Freund, werde ich mich für Ihre Nichte oder für Ihre Base ausgeben, und dann könnten wir uns sehen.«

»Aber, liebes Herz, wissen Sie auch, daß es wohl wahr sein kann? Ich möchte nicht darauf schwören, daß Sie nicht meine Schwester sind!«

Dieser Scherz brachte unser Gespräch auf die Freundschaft zwischen ihrem Vater und meiner Mutter. Wir erwiesen uns Liebkosungen, die unter nahen Verwandten ganz unverdächtig sind; als wir jedoch fühlten, daß ich zu weit gehen würde, trennten wir uns. Sie begleitete mich bis an die Treppe und fragte, ob ich am nächsten Tage bei ihr zu Mittag essen wollte; natürlich lehnte ich nicht ab.

Ganz erhitzt kam ich in meinen Gasthof zurück; ich dachte über die eigentümlichen Verknüpfungen nach, die aus meinem Leben eine ununterbrochene Kette von Ereignissen machten. Wenn ich alles in allem rechnete, glaubte ich der ewigen Vorsehung dafür dankbar sein zu müssen, denn schließlich mußte ich anerkennen, daß ich unter einem glücklichen Stern geboren war.

Als ich mich am nächsten Tage zu Madame Denis begab, fand ich bereits die ganze Gesellschaft versammelt, die bei ihr speisen sollte. Der erste, der auf mich zukam und mich wie einen alten Bekannten umarmte, war ein junger Tänzer, namens Aubry, den ich in Paris als Opernstatisten und später in Venedig gekannt hatte. Er war dadurch berühmt geworden, daß er gleichzeitig der Liebhaber einer der vornehmsten Damen Venedigs und der Liebling ihres Gatten gewesen war. Man behauptete, diese skandalöse Verbindung sei so innig gewesen, daß Aubry zwischen den beiden Gatten geschlafen habe. Nach Schluß der Opernsaison schickten die Staatsinquisitoren ihn nach Triest. Er stellte mich seiner Frau vor, die ebenfalls Tänzerin war und sich La Santina nannte. Er hatte sie in St. Petersburg geheiratet; sie kamen von dort und wollten den Winter in Paris verbringen. Nach Aubry sah ich einen dicken Herrn auf mich zukommen, der mir die Hand entgegenstreckte und mir sagte: »Wir sind seit fünfundzwanzig Jahren Freunde; aber Sie waren damals so jung, daß Sie mich wohl nicht erkennen können. Wir haben uns in Padua beim Doktor Gozzi kennen gelernt: ich bin Giuseppe da Loglio.«

»Ich erinnere mich: Sie waren damals bei der Kapelle der Kaiserin von Rußland als geschickter Cellist.«

»Ganz recht; jetzt kehre ich in die Heimat zurück, um sie nicht wieder zu verlassen. Ich habe die Ehre, Ihnen meine Frau vorzustellen; sie ist in Petersburg geboren als Tochter des ersten Geigers Madonis, der in ganz Europa berühmt ist. In acht Tagen werde ich in Dresden sein und die große Freude haben, Signora Casanova, Ihre Mutter, zu umarmen.«

Ich war entzückt, mich in Gesellschaft von Leuten zu finden, die mir so gut gefielen; aber ich sah, daß Erinnerungen, die über ein Vierteljahrhundert reichten, meiner reizenden Denis nicht lieb waren. Ich schnitt daher die indiskreten Erinnerungen ab und brachte das Gespräch auf die Petersburger Ereignisse, die die große Katharina auf den Thron gebracht hatten.

Da Loglio sagte uns: »Ich war so ein bißchen in die Verschwörung verwickelt und habe nun den sehr vernünftigen Entschluß gefaßt, meinen Abschied zu erbitten. Zum Glück hatte ich schon seit langer Zeit mit dieser Notwendigkeit gerechnet, und so bin ich jetzt in der Lage, in Italien als unabhängiger Mann von meinem Vermögen bequem leben zu können.«

Die Denis erzählte hierauf: »Vor acht Tagen erst hat man mir einen Piemontesen, namens Audar, vorgestellt, der die Verschwörung zum großen Teil angesponnen und geleitet hat. Er erhielt von der Kaiserin ein Geschenk von hunderttausend Rubeln und den Befehl, Rußland unverzüglich zu verlassen.«

Ich habe seither erfahren, daß dieser Audar sich ein Landgut in Piemont kaufte und sich ein schönes Haus bauen ließ, worin er zwei oder drei Jahre später vom Blitz erschlagen wurde. Wenn ihn eine allmächtige Hand damit traf, so war es gewiß nicht die des Schutzgeistes von Rußland, die den Tod Peters des Dritten hätte rächen wollen; denn wenn dieser unglückselige Monarch am Leben geblieben wäre, würde er die Zivilisation des moskowitischen Reiches um ein Jahrhundert verzögert haben.

Die Kaiserin Katharina, welcher Rußland die größte Dankbarkeit schuldet, belohnte mit großartiger Freigebigkeit alle Ausländer, die ihr beigestanden waren, um sich eines Gatten zu entledigen, der ihr Feind und der Feind seines Sohnes und seines ganzen Volkes war; sie zeigte sich erkenntlich gegen alle Russen, die ihr die Hand reichten, damit sie den Thron besteigen konnte. Alle russischen Großen, die sie im Verdacht hatte, keine Freunde von Revolutionen zu sein, schickte sie als gute Politikerin auf Reisen.

Da Loglio und seine Frau brachten mich auf den Gedanken, nach Rußland zu gehen, falls der König von Preußen mir keine Anstellung nach meinen Wünschen geben sollte. Sie versicherten mir, daß ich dort mein Glück machen würde, und gaben mir gute Empfehlungen.

Nachdem der wirklich liebenswürdige da Loglio Berlin verlassen hatte, wurde ich der Vertraute und zärtliche Freund der Denis. Unsere Vertraulichkeit begann, als sie nach einem Abendessen von Krämpfen ergriffen wurde, die die ganze Nacht dauerten. Ich ging nicht einen Augenblick von ihrer Seite, und als sie am Morgen sich wieder ganz wohl fühlte, vollendete die Dankbarkeit, was die Liebe sechsundzwanzig Jahre vorher begonnen hatte, und unser Liebesverhältnis dauerte bis zu meiner Abreise von Berlin. Wir werden diese reizende Frau sechs Jahre später in Florenz wiederfinden.

Einige Tage nach dem Beginn unseres Liebesverhältnisses war die Denis so freundlich, mit mir nach Potsdam zu fahren und mir dort alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Unsere Vertraulichkeit konnte niemanden verletzen, denn sie galt allgemein für meine Nichte, und der General, der sie unterhielt, war davon überzeugt oder tat wenigstens als kluger Mann, wie wenn er nicht daran zweifelte.

Außer anderen Merkwürdigkeiten sah ich in Potsdam auch den König, der in eigener Person das erste Bataillon seiner Garde-Grenadiere kommandierte, das aus lauter auserwählten Männern besteht, die sich ebensosehr durch ihre Tapferkeit wie durch ihre Schönheit auszeichnen.

Das Zimmer, worin wir in unserem Gasthof wohnten, lag einem Korridor gegenüber, den der König durchschritt, wenn er das Schloß verließ. Da die Fensterläden geschlossen waren, erzählte unsere Wirtin uns, eine sehr hübsche Tänzerin, die Reggiana, die in unserem Zimmer gewohnt habe, sei eines Tages vom König im Zustande der reinen Natur bemerkt worden; diese Erscheinung habe die bescheidenen Blicke Seiner Majestät verletzt, und der König habe die Fensterläden schließen lassen; diese seien seitdem nicht wieder geöffnet worden, obgleich die Tänzerin schon seit vier Jahren nicht mehr da sei.

Der König hatte Furcht gehabt; denn er war von der Barbarina hart behandelt worden. Wir sahen im Schlafzimmer des Königs das Bildnis der Barbarina, das der Cochois, einer Schwester der Schauspielerin, die die Frau des Martin d’Argens wurde, und ein Porträt, das die Kaiserin Maria Theresia als junges Mädchen darstellte. Friedrich hatte sich in sie verliebt, weil er Kaiser zu werden wünschte.

Nachdem man die Schönheit und Eleganz der Schloßeinrichtung bewundert hatte, mußte man sich noch mehr über die Art und Weise wundern, wie der Herr untergebracht war: ein armseliges Zimmer; ein schmales Bett, das hinter einem Schirm stand. Kein Schlafrock, keine Pantoffeln. Der Kammerdiener zeigte uns eine alte Mütze, die der König aufsetzte, wenn er erkältet war. Er stülpte dann seinen Hut darüber; das mußte sehr unbequem sein. Vor einem Kanapee stand ein Tisch, der mit Papieren, Federn, einem Tintengeschirr und halbverbrannten Heften bedeckt war: dies war der Schreibtisch Seiner Preußischen Majestät. Der Kammerdiener sagte uns, diese Hefte seien die Geschichte des letzten Krieges; der Unfall, bei dem die Hälfte angebrannt seien, habe den König so sehr geärgert, daß er das Werk nicht fortgesetzt habe. Wahrscheinlich hat er die Arbeit später wieder aufgenommen; denn dieses Werk, dem man übrigens keinen großen Wert beimißt, wurde gleich nach dem Tode des Herrschers veröffentlicht.

Fünf oder sechs Wochen waren seit meiner eigentümlichen Unterhaltung mit dem König verflossen, als Lord Marishal mir mitteilte, Seine Majestät bewillige mir eine Stelle als Erzieher an einer soeben geschafften Kadettenschule für pommersche Junker. Die Gesamtzahl derselben war auf fünfzehn festgesetzt, und er wollte diesen fünf Erzieher geben. Jeder Gouverneur hätte also drei Kadetten gehabt; er erhielt sechshundert Taler Gehalt und dasselbe Essen wie die Kadetten. Die Gouverneure hatten die Verpflichtung, ihre Schüler überallhin zu begleiten; wenn sie zu Hofe gingen, mußten sie im Tressenrock erscheinen. Ich sollte mich unverzüglich entscheiden; denn die vier anderen waren bereits in ihr Amt eingesetzt, und der König wartete nicht gern. Ich fragte Lord Keith, wo die Anstalt sei, und versprach ihm eine Antwort für den nächsten Tag.

Ich bedurfte einer Kaltblütigkeit, die sonst nicht meine Art ist, um nicht über diesen sonderbaren Vorschlag eines sonst so weisen Mannes laut herauszulachen, aber meine Überraschung war noch viel größer, als ich die Behausung dieser fünfzehn Edelleute aus dem reichen Pommernlande sah: drei oder vier große Säle, fast ohne alle Möbel; mehrere Zimmer mit weißgetünchten Wänden, einem elenden kleinen Bett, einem Tisch und zwei Stühlen aus Fichtenholz. Die jungen Kadetten waren alle etwa zwölf bis dreizehn Jahre alt; sie waren schmutzig, schlecht frisiert und in eine ärmliche Uniform eingeschnürt, in der ihre ländlichen Gesichtszüge besonders hervortraten. Sie saßen in bunter Reihe mit den Gouverneuren, die ich für ihre Bedienten hielt, und die mich ganz verblüfft ansahen, da sie sich gar nicht vorstellen konnten, daß ich der zu ihrem Kollegen ausersehene neue Gouverneur wäre.

Im Augenblick, wo ich diesen armen Tröpfen auf Nimmerwiedersehen Lebewohl sagen wollte, sah einer von den Erziehern zum Fenster hinaus und rief: »Da kommt der König angeritten!«

Ich konnte ihm nicht gut ausweichen; übrigens war es mir auch ganz angenehm, ihn noch einmal zu sehen, besonders an diesem Ort.

Der König trat mit seinem Freunde Quintus Icilius ein, besah sich alles, blickte mich an, sagte mir aber kein Wort. Ich trug das brillantenbesetzte Kreuz meines Ordens um den Hals und hatte einen eleganten Taftanzug an. Aber ich mußte mir auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzulachen, als ich den großen Friedrich wütend werden sah: sein Zorn galt einem Nachttopf, der unter einem Bett hervorsah und noch die Spuren einer gewissen Unreinlichkeit trug.

»Wem gehört dies Bett?« rief der Monarch.

»Mir, Eure Majestät«, sagte ein Kadett, an allen Gliedern zitternd.

»Gut; aber mit Ihm will ich nichts zu tun haben, wo ist sein Gouverneur?«

Der glückliche Gouverneur tritt vor, und der freundliche König nennt ihn einen Lümmel und wäscht ihm gehörig den Kopf. Zum Schluß sagte er ihm, er habe einen Bedienten zu seiner Verfügung und müsse daher auf Sauberkeit achten.

Diese ekelhafte Szene genügte mir; ich schlich mich leise hinaus und begab mich zu Lord Marishal, um ihm für das schöne Glück zu danken, das der Himmel mir durch seine Vermittlung zugedacht hatte. Der gute alte Herr fing an zu lachen, als ich ihm ausführlich den Auftritt erzählte, den ich soeben erlebt hatte. Er sagte mir, ich habe recht, wenn ich eine derartige Anstellung verschmähe. Trotzdem müsse ich mich aber beim König bedanken, bevor ich von Berlin fortgehe. Als ich ihm sagte, es widerstrebe mir, noch einmal vor einen Menschen zu treten, den ich so wenig zugänglich gefunden habe, nahm er es auf sich, Seiner Majestät meine Weigerung und meine Entschuldigung mitzuteilen.

Ich entschloß mich nun nach Rußland zu reisen und traf allen Ernstes meine Vorbereitungen. Baron Treidel bestärkte mich in meinem mutigen Entschluß, indem er sich erbot, mir eine Empfehlung an seine Schwester, die Herzogin von Kurland, mitzugeben. Ich schrieb Herrn von Bragadino, er möchte mir eine Empfehlung an einen Petersburger Bankier besorgen, der mir jeden Monat die Summe auszahlen würde, deren ich zu einem bequemen Lebensunterhalt bedürfte.

Anstandshalber mußte ich mit einem Bedienten reisen. Der Zufall übernahm es, mir einen solchen zu besorgen. Als ich eines Tages bei Frau Rufin war, trat ein junger Lothringer ein; er trug wie Bias seine ganze Habe bei sich, aber unter dem Arm. Er stellte sich mit folgenden Worten vor: »Madame, ich heiße Lambert, bin Lothringer und wünsche bei Ihnen zu wohnen.«

»Sehr gern, mein Herr; aber Sie müssen jeden Tag bezahlen.«

»Das ist unmöglich, Madame, denn ich habe keinen Heller; aber ich werde Geld bekommen, sobald ich meinen Aufenthaltsort mitgeteilt habe.«

»Unter diesen Bedingungen kann ich Sie nicht aufnehmen, mein Herr.«

Als ich ihn mit ganz betrübtem Gesicht auf die Tür zugehen sah, fühlte ich Mitleid mit ihm, rief ihn zurück und sagte: »Bleiben Sie, ich werde heute für Sie bezahlen.«

Ein Glücksschimmer flog über sein Gesicht.

»Was haben Sie denn in Ihrem Bündel?« fragte ich ihn.

»Zwei Hemden, ein paar Dutzend mathematische Bücher und etwas Wäsche.«

Ich nahm ihn mit mir auf mein Zimmer, und da ich ihn ziemlich gebildet fand, fragte ich ihn, durch welchen Zufall er in eine solche Lage gekommen sei.

Er antwortete: »Ich war in Straßburg. Ein Fähnrich der dortigen Garnison gab mir in einem Kaffeehause eine Ohrfeige; am Tage darauf ging ich in sein Zimmer und erdolchte ihn. Nach dieser unglückseligen Tat ging ich nach Hause, packte ein paar Kleidungsstücke und die notwendigsten Bücher zusammen und verließ die Stadt. Da ich immer zu Fuß ging und bescheiden lebte, ist es mir bis heute früh gelungen, mich durchzuschlagen. Morgen werde ich an meine Mutter schreiben, die in Lunéville wohnt, und ich bin gewiß, daß sie mir Geld schicken wird.«

»Und was gedenken Sie zu tun?«

»Ich habe die Absicht, mich um eine Anstellung beim Geniekorps zu bewerben, denn ich glaube mich in diesem Stande nützlich machen zu können; im äußersten Notfall werde ich Soldat.«

»Ich werde Ihnen ein kleines Bedientenzimmer geben lassen und Ihnen ein bißchen Geld geben, um sich Ihr Essen zu kaufen, bis Sie die Hilfe von Ihrer Mutter erhalten haben.«

Er küßte mir dankbar die Hand und sagte: »Der Himmel hat Sie mir in den Weg geführt.« 52g Ich traute dem jungen Mann keinen Betrug zu, obgleich er stotterte; trotzdem schrieb ich aus Neugier an Herrn von Schauenburg, der sich damals in Straßburg befand, und fragte bei ihm an, ob der von dem jungen Menschen mir erzählte Vorfall sich wirklich zugetragen habe.

Am nächsten Tage hatte ich Gelegenheit, mit einem Genieoffizier zu sprechen. Dieser sagte mir, es seien so viele wissenschaftlich gebildete Leute im Regiment, daß keiner mehr angenommen würde, wenn er sich nicht bereit erklärte, als gewöhnlicher Soldat zu dienen. Ich bedauerte den jungen Menschen, daß er gezwungen sein würde, sich dazu zu entschließen. Wir verbrachten zusammen ganze Stunden mit der Lösung mathematischer Aufgaben, und da ich fand, daß er wirklich Kenntnisse hatte, hatte ich den Einfall, ihn mit nur nach Petersburg zu nehmen. Als ich ihm dies vorschlug, antwortete er mir:

»Das wäre ein Glück für mich, und um Ihre Güte anzuerkennen, würde ich gern unterwegs Ihren Bedienten machen.«

Er sprach schlecht französisch; da er aber Lothringer war, so wunderte ich mich nicht darüber. Trotzdem war ich überrascht, daß er kein Wort Latein verstand, und daß er die gröbsten orthographischen Fehler machte, als ich ihm einmal einen Brief diktierte. Als ich darüber lachte, schämte er sich keineswegs, sondern sagte mir, er sei nur zur Schule gegangen, um Geometrie und Mathematik zu lernen, und es sei ihm sehr lieb, daß die langweilige Grammatik mit der Rechenkunst nichts zu tun habe. Er verstand in der Tat nur Mathematik und war in allem übrigen höchst unwissend. Er wußte sich auch nicht zu benehmen und betrug sich wie ein richtiger Bauernjunge.

Nach zehn oder zwölf Tagen erhielt ich von Herrn von Schauenburg die Antwort auf meinen Brief. Er schrieb mir, der Name Lambert sei in Straßburg unbekannt und in dem von mir genannten Regiment sei kein Fähnrich getötet oder verwundet worden.

Als ich Lambert diesen Brief zeigte, um ihm seine Lüge vorzuhalten, sagte er mir, er habe es für notwendig gehalten, sich als einen tapferen Menschen hinzustellen, weil er den Wunsch gehabt habe, in den Heeresdienst einzutreten; da die Lüge nicht darauf berechnet gewesen sei, mich irrezuführen, so müsse ich sie ihm verzeihen. »Die Armut ist eine schlechte Lehrmeisterin, die einen zu den übelsten Sachen treibt; ich bin von Natur nicht lügenhaft; leider habe ich Ihnen aber noch etwas anderes vorgelogen, was von viel größerer Bedeutung ist: ich erwarte nichts von meiner armen Mutter, die im Gegenteil meiner Unterstützung bedürftig wäre. Also verzeihen Sie mir, und verlassen Sie sich darauf, daß ich Ihnen gut und treu dienen werde.«

Ich hatte stets – und nicht ohne Grund – viel Nachsicht gegen kleine Sünden. Lamberts Entschuldigung gefiel mir; ich ermahnte ihn, sich gut aufzuführen, und sagte ihm, wir würden in fünf bis sechs Tagen abreisen.

Der Baron Bodisson aus Venedig, der dem König ein Gemälde des Andrea del Sarto verkaufen wollte, machte mir den Vorschlag, ihn nach Potsdam zu begleiten. Da ich Lust hatte, mich nach Lord Marishals Rat noch einmal dem König zu zeigen, so nahm ich die Einladung an. In Potsdam ging ich zur Wachtparade, bei welcher Friedrich selten fehlte. Sobald er mich sah, kam er auf mich zu und fragte mich leutselig, wann ich nach Petersburg abzureisen gedächte.

»In fünf oder sechs Tagen, Sire, wenn Eure Majestät es erlauben wollen.«

»Gute Reise; aber was erhoffen Sie dort zu Lande?«

»Was ich hier zu Lande erhoffte, Sire: dem Souverän zu gefallen.«

»Haben Sie Empfehlungen an die Kaiserin?«

»Nein, Sire, nur an einen Bankier.«

»Das ist auch viel besser. Wenn Sie auf Ihrer Rückreise wieder hier durchkommen, wird es mich freuen, von Ihnen Neues über Rußland zu hören. Adieu!«

»Adieu, Sire.«

Dies war meine zweite Unterhaltung mit dem großen König, den ich nicht wiedergesehen habe.

Ich verabschiedete mich von allen meinen Bekannten und erhielt vom Baron Treidel einen Brief an den Großkanzler Herrn von Keyserlingk in Mitau mit einer Einlage für seine Schwester, die Herzogin von Kurland. Den letzten Abend verbrachte ich mit meiner guten Denis, die mir meine Postkalesche abkaufte. Ich hatte zweihundert Dukaten in meiner Börse, und diese Summe hätte für die Reise vollkommen genügt, wenn ich nicht die Torheit begangen hätte, bei einer Vergnügungspartie, die ich in Danzig mit jungen Kaufleuten machte, die Hälfte davon zu verspielen. In Königsberg, wo ich an den Gouverneur Feldmarschall von Lehwald empfohlen war, blieb ich nur einen Tag, um die Ehre zu haben, bei dem liebenswürdigen alten Herrn zu speisen. Er gab mir einen Empfehlungsbrief an seinen Freund, den General Wojakoff, Gouverneur von Riga.

Da ich noch Geld genug hatte, um in Mitau als großer Herr ankommen zu können, nahm ich einen viersitzigen Wagen mit sechs Pferden und gelangte in drei Tagen nach Memel. Im Gasthof, wo ich abstieg, fand ich eine florentinische Sängerin, Namens Bregonci, die mich mit Liebenswürdigkeiten überhäufte, weil ich, wie sie sagte, sie geliebt hätte, als ich noch ein Kind gewesen wäre und die Soutane getragen hätte. Ich habe sie sechs Jahre später in Florenz wiedergesehen, wo sie mit der Denis zusammenwohnte.

Am Tage nach meiner Abreise von Memel kam auf offenem Felde ein einzelner Mann, offenbar ein Jude, an meinen Wagen heran und sagte mir, ich sei auf polnischem Gebiete und müsse Durchgangszoll für die Waren bezahlen, die ich bei mir habe.

»Ich bin kein Kaufmann und habe nichts zu bezahlen.«

»Ich habe das Recht, Ihren Wagen zu durchsuchen, und ich werde davon Gebrauch machen.«

»Sie sind verrückt!« rief ich; zugleich befahl ich dem Postillon, Galopp zu fahren.

Der Jude aber packte die vordersten Pferde an den Zügeln und hielt uns an. Dem Postillon fiel es nicht ein, den frechen Kerl mit Peitschenhieben fortzujagen, sondern er wartete mit seinem deutschen Phlegma, bis ich uns freimachen würde. Wütend sprang ich aus dem Wagen, in der einen Hand eine Pistole, in der anderen meinen Stock. Ich streichelte den Juden mit einem halben Dutzend wohlgezielter Hiebe, und bald ergriff er die Flucht. Mein Reisegefährte, mein Bedienter Archimedes, der unterwegs die ganze Zeit schlief, rührte sich nicht von seinem Platze. Als ich ihm Vorwürfe deswegen machte, antwortete er mir, er habe nicht gewollt, daß der Jude sagen könnte, wir seien zu zweien über einen einzelnen hergefallen.

Zwei Tage später kam ich in Mitau an und stieg in dem Gasthofe ab, der dem Schloß gegenüberliegt. Ich hatte nur noch drei Dukaten.

Gleich am nächsten Morgen ging ich zu Herrn von Keyserlingk. Nachdem er den Brief des Barons von Treidel gelesen hatte, stellte er mich seiner Gemahlin vor und ließ mich dann mit ihr allein, um zu Hofe zu gehen und der Herzogin den Brief ihres Bruders zu bringen. Frau von Keyserlingk ließ mir von einer jungen Polin von blendender Schönheit eine Tasse Schokolade reichen. Das Mädchen stand mit gesenkten Wimpern vor mir, wie wenn sie mir Gelegenheit geben wollte, sie in aller Muße zu betrachten. Dabei kam mir eine Laune. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht meinen Launen widerstehen können; aber diese war allerdings unter den obwaltenden Umständen sehr eigentümlich. Wie ich vorhin sagte, hatte ich nur noch drei Dukaten; während ich nun langsam meine Schokolade schlürfte, dabei die schöne Polin betrachtete und einige Worte mit Frau von Keyserlingk wechselte, zog ich geschickt meine drei Dukaten aus der Tasche und legte sie auf die Tasse, als ich diese zurückgab.

Der Kanzler kam zurück und teilte mir mit, die Herzogin könne mich im Augenblick nicht empfangen, aber sie lade mich zum Abendessen und zu dem darauf folgenden Ball ein. Das Abendessen nahm ich an, aber die Einladung zum Ball schlug ich aus, unter dem Vorwande, daß ich nur Sommeranzüge und einen schwarzen Rock bei mir habe. Wir waren im Anfang des Oktobers, und die Kälte machte sich bereits bemerkbar. Der Kanzler kehrte ins Schloß zurück, und ich begab mich nach meinem Gasthof.

Eine halbe Stunde später überbrachte ein Kammerherr mir die Komplimente Ihrer Hoheit und sagte mir: »Der Ball ist ein Maskenball, Sie können im Domino hingehen. Einen solchen können Sie sich leicht bei irgendeinem Juden besorgen. Ursprünglich sollte ein Galaabend stattfinden; aber die Herzogin hat alle Gäste benachrichtigt, daß statt dessen Maskenball sein werde, weil ein Fremder, der daran teilnehmen solle, seine Koffer schon vorausgeschickt habe.«

»Es tut mir leid, daß ich an dieser Abänderung schuld bin.«

»Beunruhigen Sie sich deshalb nicht: der Maskenball ist bei uns viel beliebter, weil er mehr Freiheit gewährt.«

Nachdem er mir die Stunde des Beginns gesagt hatte, entfernte er sich.

Der Leser denkt nun gewiß, daß ich mich in einer großen Verlegenheit befunden habe, und würde mich wohl nicht für aufrichtig halten, wenn ich nicht gestehen wollte, daß ich mich in der Tat nicht wohl fühlte. Aber mein gutes Glück kam mir zu Hilfe.

Da das preußische Geld, das schlechteste in ganz Deutschland, in Rußland keinen Kurs hatte, so kam ein Jude zu mir und fragte mich, ob ich Friedrichsdor hätte; er erbot sich, mir diese ohne Verlust gegen Dukaten einzuwechseln.

»Ich habe nur Dukaten,« antwortete ich ihm, »kann also von Ihren Diensten keinen Gebrauch machen.«

»Ich weiß es, mein, Herr, und Sie geben sie sehr billig.«

Da ich nicht wußte, was er damit sagen wollte, so sah ich ihn erstaunt an. Er fuhr fort, er würde mir gern zweihundert Randdukaten geben, wenn ich die Güte haben wollte, sie ihm in Rubeln auf St. Petersburg diskontieren zu lassen.

Ich war ein wenig überrascht von der Dienstwilligkeit des Mannes, tat aber, wie wenn ich mir seinen Vorschlag überlegte, und sagte ihm dann, ich hätte keine Dukaten nötig, wäre aber bereit, hundert zu nehmen, um ihm einen Gefallen zu tun. Er zählte mir mit dankbarer Miene sofort hundert Dukaten auf, und ich gab ihm dafür eine Anweisung auf den Bankier Demetrio Papanelopulo, für den da Loglio mir einen Brief mitgegeben hatte. Der Jude bedankte sich und ging, indem er mir sagte, er werde mir eine Anzahl schöner Dominos zur Auswahl schicken. Da mir einfiel, daß ich auch seidene Strümpfe brauchte, schickte ich Lambert hinter ihm her, um ihm zu sagen, daß er mir welche mitbringen solle. Als mein Diener zurückkam, erzählte er mir, der Wirt hätte ihn angehalten und ihm gesagt, ich würfe die Dukaten zum Fenster hinaus; der Jude hätte ihm erzählt, daß ich der Jungfer der Frau von Keyserlingk drei Dukaten gegeben hätte.

Das war des Rätsels Lösung. Nichts ist auf dieser Welt leicht oder schwer, sondern es kommt nur darauf an, ob man sich richtig oder falsch benimmt, und ob das Glück uns günstig oder feindselig gesinnt ist. Ohne die Renommisterei mit meinen letzten drei Dukaten hätte ich in Mitau keinen Taler gefunden. Das Mädchen, das an solche Freigebigkeit jedenfalls nicht gewöhnt war, hatte die Geschichte als ein Wunder ausposaunt, und der Jude, der stets auf eine Gelegenheit zum Geldverdienen lauerte, hatte sich beeilt, seine Dukaten dem vornehmen Herrn anzubieten, der sich so wenig daraus machte.

Zur bezeichneten Stunde begab ich mich an den Hof. Herr von Keyserlingk stellte mich sofort der Herzogin vor und diese dem Herzog, dem berühmten Biron oder Birlen, dem früheren Günstling der Kaiserin Anna Iwanowna, der nach dem Tode dieser Herrscherin Regent von Rußland gewesen und hierauf zu zwanzigjähriger Verbannung nach Sibirien verurteilt war. Er war sechs Fuß hoch und man sah ihm noch an, daß er früher ein sehr schöner Mann gewesen war. Aber das Alter, das die schönsten Formen zerstört, hatte auch ihn mit seiner Eisenhand angepackt. Am nächsten Tage hatte ich mit ihm eine lange Besprechung.

Eine Viertelstunde nach meiner Ankunft begann der Ball mit einer Polonaise. Als wohl empfohlener Fremder hatte ich die Ehre, von der Herzogin eingeladen zu werden, diesen Tanz mit ihr zu tanzen. Ich kannte den Tanz nicht, aber er ist so leicht, daß ich mich mit Ehren herauszog; denn er fügt sich jedem Einfall und gestattet trotz seiner Einfachheit eine große Anmut zu entwickeln.

Nach der Polonaise wurden Menuetts getanzt. Eine schon etwas ältliche Dame fragte mich, ob ich den »liebenswürdigen Sieger« tanzen könnte, und ich führte sofort diesen anmutigen Tanz mit ihr aus. Er war früher, zur Zeit der Regentschaft, Mode gewesen, und meine Tänzerin mochte wohl damals darin geglänzt haben. Er war wie ein Wunder für alle jungen Damen, die uns umringten. Nachdem ich mit Fräulein von Manteuffel, der hübschesten von den vier Hofdamen der Herzogin, einen Kontertanz getanzt hatte, ließ ihre Hoheit mir melden, daß das Souper bereit sei. Ich trat auf sie zu, bot ihr meinen Arm und befand mich gleich darauf neben ihr als ein einziger Kavalier an einem Tisch zu zwölf Gedecken. Aber beneide mich nicht, lieber Leser, besonders wenn du jung bist; denn meine elf Tischgenossinnen waren Matronen, die schon längst das Vorrecht verloren hatten, Männern den Kopf zu verdrehen. Die Herzogin war äußerst zuvorkommend gegen mich und schenkte mir gegen Ende des Mahles mit eigener Hand ein Glas Likör ein, den ich für Tokayer hielt und sehr lobte; es war aber nur altes englisches Bier. Doch was tut man nicht für eine Herzogin! Als wir vom Tisch aufstanden, führte ich sie wieder auf den Ball. Der junge Kammerherr, der mir die Einladung überbracht hatte, machte mich mit all den schönen Damen bekannt, aber ich hatte keine Zeit, einer von ihnen besonders den Hof zu machen.

Am nächsten Tage speiste ich bei Herrn von Keyserlingk und schickte Lambert zu einem Juden, um sich anständige Kleider zu kaufen.

Am übernächsten Tage aß ich zu Mittag bei dem Herzog, bei dem ich nur Herren fand. Der alte Fürst ließ mich fortwährend sprechen, und gegen das Ende der Mahlzeit kam die Unterhaltung auf die Reichtümer des Landes, die besonders in edlen und in halbedlen Metallen bestanden. Ich sagte ganz beiläufig, diese Reichtümer hingen nur von der Ausbeutung ab, könnten aber sehr kostbar werden. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, hatte ich über das Thema zu sprechen, wie wenn ich es ganz besonders studiert hätte. Ein alter Kammerherr, dem alle Bergwerke von Kurland und Sämland unterstanden, ließ mich zunächst alles vorbringen, was die Begeisterung mir eingab; hierauf verbreitete er sich selber über das Thema, brachte allerlei Einwendungen vor, billigte aber andererseits auch meine vernünftigen Bemerkungen über die sparsame Einrichtung, von der der Erfolg der Ausbeutung abhängen müsse.

Ich hatte gesprochen, wie wenn ich Kenner in diesen Dingen wäre. Hätte ich daran gedacht, daß ich vielleicht mit einem Kenner zu tun haben würde, so würde ich sicherlich viel weniger gesagt haben; denn ich war ziemlich unwissend auf diesem Gebiete. Aber diese Vorsicht wäre mir zu Schaden gewesen, denn dann würde ich keinen Eindruck gemacht haben. Der Herzog setzte sich in den Kopf, daß ich viel mehr wüßte als ich gesagt hätte. Nach Tisch zog er mich in eine Fensternische und bat mich, ihm vierzehn Tage zu schenken, wenn ich es mit meiner Reise nach St. Petersburg nicht sehr eilig hätte. Ich stellte mich ihm zur Verfügung, und er führte mich in sein Arbeitszimmer. Dort sagte er mir, der Kammerherr, der mit mir gesprochen hätte, würde mir alle Einrichtungen dieser Art zeigen, die in seinen Herzogtümern beständen; ich mochte die Gefälligkeit haben, alle meine Bemerkungen über einen ökonomischen Betrieb aufzuschreiben. Ich erklärte mich mit seinem Vorschlage einverstanden, und meine Abreise wurde auf den nächsten Tag angesetzt.

Entzückt von meiner Dienstwilligkeit ließ der Herzog den Kammerherrn rufen und gab ihm die entsprechenden Aufträge. Wir verabredeten, daß er mich bei Tagesanbruch mit einem sechsspännigen Wagen abholen solle.

Ich ging nach Hause, traf meine Vorbereitungen und befahl Lambert, sich bereit zu halten, um mich mit seinem mathematischen Besteck zu begleiten. Ich setzte ihn von dem Zweck meiner Reise in Kenntnis, und er versprach mir, nach besten Kräften mir zu dienen, obwohl er von Verwaltungswissenschaft und Bergbau keine Ahnung hatte.

Zur verabredeten Stunde fuhren wir ab; ein Bedienter saß auf dem Kutschbock, zwei andere ritten, bis an die Zähne bewaffnet, vor uns her. Alle zwei oder drei Stunden wechselten wir die Pferde; der Kammerherr hatte einen reichlichen Vorrat guter Weine mitgenommen, und wir erfrischten uns, so oft wir Lust bekamen.

Unsere Rundfahrt dauerte vierzehn Tage, und wir besuchten fünf Kupfer- oder Eisenwerke. Ich brauchte nicht Kenner zu sein, um überall etwas aufschreiben zu können; es genügte, wenn ich vernünftige Bemerkungen machte, besonders über die ökonomische Einrichtung, auf die es dem Herzog hauptsächlich ankam. Hier riet ich Reformen an, die mir nützlich zu sein schienen, dort wies ich nach, daß eine Vermehrung der Arbeiterzahl die Erträgnisse verbessern würde. Besonders bei einem Bauwerk, worin man dreißig Strafgefangene arbeiten ließ, ordnete ich die Herstellung eines sehr kurzen Kanals an; dieser stand mit einem stets wasserhaltigen, ziemlich hoch gelegenen, kleinen Fluß in Verbindung, und es brauchte nur eine einfache Schleuse angebracht zu werden, um drei Räder in Bewegung zu setzen und dadurch zwanzig Arbeiter zu sparen. Lambert entwarf unter meiner Anleitung einen sehr sauberen Plan des Werkes, maß die Höhen, zeichnete die Schleuse und die Räder und steckte die ganze Länge des geplanten Kanals ab. Durch andere Kanäle legte ich weite Täler trocken, in denen sich große Mengen Schwefel und Vitriol gewinnen ließen.

Sehr befriedigt von meiner Reise kehrte ich nach Mitau zurück, denn ich hatte mich wirklich nützlich machen können. Auch freute ich mich, in mir ein Talent entdeckt zu haben, von welchem ich bisher keine Ahnung gehabt hatte.

Den nächsten Tag verbrachte ich damit, die von mir aufgezeichneten Beobachtungen ins Reine zu schreiben und die dazu gehörigen Zeichnungen in größeren Maßstab übertragen zu lassen.

Am zweiten Tage überbrachte ich alles dem Herzog, der mir seine große Zufriedenheit aussprach; als ich mich zugleich von ihm verabschiedete, sagte er mir, er werde mich in einem seiner Wagen nach Riga bringen lassen und mir einen Brief an seinen dort in Garnison stehenden Sohn Karl mitgeben.

Zum Schluß bat der gute und weise Greis mich, ihm ohne Umschweif zu sagen, ob ich einen Schmuckgegenstand oder den entsprechenden Wert in barem Gelde zu erhalten wünschte.

»Mein Fürst, von einem Weisen, wie Eure Hoheit es sind, wage ich es, Geld anzunehmen, da dieses mir jetzt nützlicher sein kann als Schmucksachen.«

Sofort übergab er mir eine Anweisung auf vierhundert Albertstaler, die mir der Kassierer in schönen Mitauer Dukaten auszahlte. Der Albertstaler gilt einen halben Dukaten. Nachdem ich der Herzogin die Hand geküßt hatte, speiste ich zum zweiten Male bei Herrn von Keyserlingk.

Am nächsten Tage brachte ein junger Kammerherr mir den Brief des Herzogs, wünschte mir gute Reise und sagte mir, der Hofwagen stehe vor meiner Tür. Sehr zufrieden fuhr ich mit meinem stotternden Lambert ab; am Mittag kam ich in Riga an und schickte sofort dem Prinzen Karl den Brief seines Vaters.

Zweites Kapitel


Vergnügungspartie. – Meine traurige Trennung von Clementina. – Ich reise mit der Geliebten Croces von Mailand «b. – Meine Ankunft in Genua.

Die Alten, deren fruchtbare, glänzende und bewegliche Einbildungskraft Laster und Tugenden zu verkörpern wußte, haben die Unschuld dargestellt, wie sie, immer vertrauensvoll, mit einer Schlange oder einem scharfen Pfeile spielt. Die Alten besaßen eine gründliche Kenntnis vom Herzen des Mannes und des Weibes, und wenn auch die Neueren in dieser Hinsicht ihre Kenntnisse durch die Entdeckung dieser oder jener Fiber vermehrt haben mögen, so bleibt es darum doch wahr, daß die Werke, die jene uns hinterlassen haben, vom Symbol bis zur philosophischen Fachsprache, immer mit Nutzen zu Rate gezogen werden können, wenn jemand gern recht tief in die Wissenschaft des Geschmacks und der Vernunft eindringen möchte.

Nachdem ich Clairmont gesagt hatte, er solle nicht länger auf mich warten, legte ich mich zu Bett und dachte über mein Verhältnis zu dieser wundervollen Clementina nach, die von der Natur dazu geschaffen zu sein schien, um in einem Kreise zu glänzen, dem sie, trotz ihrer vornehmen Geburt, ihrer seltenen Schönheit und ihrem ausgezeichneten Geist, durch den Mangel an Vermögen ferngehalten wurde. Ich lachte darüber, daß sie sich, im Widerspruch mit aller Erfahrung, einem Gefühl hingeben zu können glaubte, wie wenn man dadurch den Hunger eines Menschen befriedigen könnte, daß man ihm die Speisen vorsetzt, die seine Sinne begehren, und ihm zugleich vorschreibt, sie nicht anzurühren. Doch konnte ich nicht umhin, sehr vernünftig zu finden, was sie in der Überzeugung naiver Unschuld ausgesprochen hatte: wenn man seinen Begierden widersteht, kann es einem nicht begegnen, daß man sich gedemütigt fühlt, nachdem man sie befriedigt hat. Daß sie sich vor solcher Demütigung fürchtete, hing mit ihrem Pflichtgefühl zusammen, und sie erwies mir eine Ehre, indem sie annahm, daß ich ihre Grundsätze teile. Wie dem auch sein mag, hier kam mein Selbstgefühl ins Spiel und ich faßte den Entschluß, nichts zu tun, wodurch ich ihr Vertrauen verlieren könnte.

Wie man sich denken kann, erwachte ich an diesem Tag sehr spät. Als ich aber meinem Kammerdiener geklingelt hatte, sah ich Clementina eintreten, die mir mit fröhlichem Gesicht einen guten Morgen wünschte. Sie hielt den Pastor fido in der Hand und sagte mir: »Ich habe soeben den ersten Akt gelesen. Niemals las ich etwas so Süßes, mein lieber Freund. Stehen Sie auf, wir wollen vor dem Mittagessen den zweiten Akt zusammen lesen.«

»Darf ich es wagen, in Ihrer Gegenwart aufzustehen?«

»Warum nicht? Ein Mann braucht nur sehr wenig Rücksichten zu nehmen, um den Anstand zu bewahren.«

»So machen Sie mir also das Vergnügen, mir jenes Hemd dort zu reichen!«

Eifrig breitete sie es aus und streifte es mir dann lachend über den Kopf.

»Bei der nächsten Gelegenheit,« sagte ich zu ihr, »werde ich Ihnen den gleichen Dienst erweisen.«

»Von Ihnen zu mir,« versetzte sie errötend, »ist ein geringerer Abstand als von mir zu Ihnen.«

»Das verstehe ich nicht, meine göttliche Hebe. Sie sprechen wie die Sibylle von Cumä, oder vielmehr, wie wenn Sie in Ihrem Tempel zu Korinth Orakelsprüche von sich gäben.«

»Hatte denn Hebe einen Tempel in Korinth? Davon hat Sardini nichts gesagt.«

»Aber Apollodor sagt es. Dieser Tempel war sogar ein Asyl. Aber ich komme wieder auf unsere Frage und bitte Sie, nicht auszuweichen. Was Sie gesagt haben, ist gegen die Geometrie. Der Abstand von Ihnen zu mir muß unbedingt der gleiche sein wie der von mir zu Ihnen.«

»Es kann wohl sein, daß ich eine Dummheit gesagt habe.«

»Durchaus nicht. Hebe. Gestatten Sie mir, beharrlich zu sein: Sie hatten einen Gedanken; mag er nun richtig oder falsch sein, ich wünsche, daß Sie ihn mir sagen.«

»Nun gut denn: Die beiden Entfernungen sind verschieden, je nach dem Aufsteigen und dem Absteigen, oder, wenn Sie wollen, dem Fallen. Ist denn nicht die Eigenschaft des Fallens allen Körpern eigentümlich, die nicht durch einen andern Körper zurückgehalten werden, der die Kraft besitzt, ihrer Schwerkraft zu widerstehen, ohne daß sie eines Antriebes oder Anstoßes bedürfen?«

»Ohne Zweifel.«

»Ist es nicht ferner wahr, daß ohne Antrieb kein Aufsteigen möglich ist?«

»Das ist vollkommen wahr.«

»Geben Sie mir also zu, daß ich, da ich kleiner bin als Sie, Sie nur durch eine aufsteigende Bewegung erreichen kann, was immer eine schwere Anstrengung erfordert, während Sie, um zu mir zu gelangen, sich nur fallen zu lassen brauchen, was keine Schwierigkeit bietet. Aus demselben Grunde laufen Sie keine Gefahr, indem Sie mir erlauben, Ihnen ein Hemd anzuziehen; ich aber würde mich einer großen Gefahr aussetzen, wenn ich Sie bei mir den gleichen Dienst verrichten ließe. Wenn Sie zu schnell auf mich fielen, könnten Sie mich erdrücken. Sind Sie jetzt überzeugt?«

»Überzeugt ist nicht das richtige Wort, schöne Hebe: ich bin entzückt, außer mir! Niemals, meine schöne Freundin, ist ein Paradoxon geistvoller verteidigt worden. Ich könnte Einwendungen machen, mit Ihnen streiten; aber ich will lieber schweigen, bewundern und anbeten.«

»Ich danke Ihnen, lieber Iolas. Aber keine Gnade! Welche Einwendungen könnten Sie mir machen?«

»Ick könnte Ihnen einwenden, daß es eine Geschicklichkeit von Ihnen war, Ihre Weigerung mit meiner Größe zu begründen, während Sie mir doch das Glück, Ihnen ein Hemd anzuziehen, nicht bewilligen würden, selbst wenn ich ein Zwerg wäre.«

»Sehr gut, mein lieber Iolas; wir können uns nicht betrügen, Ich wäre glücklich, wenn der Himmel mir einen Mann wie Sie zum Gatten bestimmt hätte.«

»Ach, warum bin ich nicht würdig, es zu werden!«

Ich weiß nicht, wohin dieses Gespräch uns noch hätte führen können, wenn nicht die schöne junge Mutter gekommen wäre, um uns zu sagen, daß man uns bei Tische erwarte; sie fügte hinzu, sie sehe mit großer Freude, daß wir uns liebten.

»Wir lieben uns wahnsinnig,« rief Clementina, »aber wir sind vernünftig.«

»Wenn ihr vernünftig seid, liebt ihr euch also nicht wahnsinnig.«

»Das stimmt ganz genau, göttliche Gräfin,« sagte ich; »denn Liebeswahnsinn und Vernünftigkeit passen nicht zueinander; aber trotzdem sind wir vernünftig, und Vernunft des Geistes kann sich recht wohl mit Wahnsinn des Herzens vereinigen.«

Wir speisten fröhlich zu Mittag; hierauf spielten wir, und am Abend lasen wir den Pastor fido zu Ende. Als wir damit fertig waren und über die Schönheiten des reizenden Werkes gesprochen hatten, fragte Clementina mich, ob der dreizehnte Gesang der Äneide schön sei.

»Meine liebe Gräfin, er taugt nichts, und ich habe ihn nur gelobt, um einem Nachkommen des Verfassers zu schmeicheln. Der Verfasser hat jedoch ein Gedicht über die Spitzbübereien der Bauern gemacht, das nicht übel ist. Aber Sie sind müde, und ich verhindere Sie, sich auszukleiden.«

»Glauben Sie das doch nicht!«

Sie kleidete sich augenblicklich mit der größten Ungezwungenheit aus, ohne jedoch meinen gierigen Blicken die mindeste Gunst zu gewähren, und legte sich zu Bett. Ich setzte mich neben sie; sie richtete sich zu einer sitzenden Stellung auf, und ihre Schwester drehte uns den Rücken zu. Der Pastor fido lag auf ihrem Nachttisch. Ich ergriff das Buch, schlug es aufs Geratewohl auf und traf auf die Stelle, wo Myrtill von der Süßigkeit des Kusses spricht, den er von Amaryllis empfing. Ich las die Stelle in dem Tone, der der Lage angemessen war. Da Clementina mir ebenso bewegt und gerührt erschien, wie ich selber es war, so preßte ich meinen Mund auf ihre Lippen. Welch reine Wollust! Da ich fühlte, daß meine Hebe meinen Kuß mit Entzücken einsaugte, und da ich an ihr keine Unruhe wahrnahm, so wollte ich sie an mein Herz drücken; aber sie stieß mich mit engelhafter Milde sanft zurück und bat mich, sie zu schonen.

Ihre Tugend lag in den letzten Zügen. Ich bat sie um Verzeihung, ergriff ihre schöne Hand und hauchte auf diese die ganze Glut aus, die meine Lippen verzehrte.

»Sie zittern!« sagte sie zu mir in jenem Tone, der die Erregung eines liebenden Herzens noch vermehren muß.

»Ja, meine göttliche Gräfin, ich zittere! Und ich kann Ihnen versichern, ich zittere vor Furcht, Ihnen mißfallen zu haben. Leben Sie wohl! Ich gehe, und wünsche mir, ich könnte Sie weniger lieben!«

»Warum? Ein solcher Wunsch kann nur ein Beginn von Haß sein. Machen Sie es wie ich: ich wünsche, die Liebe, die Sie mir eingeflößt haben, möge stets in demselben Verhältnis zunehmen, wie die Kraft, die ich brauche, um ihr zu widerstehen.«

Sehr unzufrieden mit mir selber legte ich mich zu Bett. Ich befand mich in einer solchen Stimmung, daß ich mir nicht klar werden konnte, ob ich zu weit oder nicht weit genug gegangen war. Aber darauf kam es weniger an: das Wesentliche war, daß ich Reue fühlte, und das ist nach meiner Meinung die allerpeinlichste Lage.

Ich sah in Clementina ein Weib, das die höchste Achtung und die vollkommenste Liebe verdiente, und ich wußte weder, wie ich aufhören könnte, sie zu lieben, noch wie ich fortfahren könnte, sie zu lieben, ohne die Belohnung zu erhalten, die ein leidenschaftlich Verliebter von dem Gegenstand seiner Liebe erwartet. Wenn sie mich liebt, sagte ich bei mir selber, kann sie mir diese Belohnung nicht verweigern; ich aber muß mich darum bemühen, ja sogar den Sieg mit Gewalt erringen, um ihre Niederlage zu rechtfertigen. Ein Liebhaber hat die Pflicht, die geliebte Frau zu nötigen, daß sie sich auf Gnade und Ungnade ergibt; dann wird die Liebe ihn niemals schuldig finden können. Gemäß dieser Folgerung, die ich ganz naiv in die Farbe meiner Leidenschaft und meines Interesses kleidete, konnte Clementina mir einen unbedingten Widerstand nur dann entgegensetzen, wenn sie mich nicht liebte, und ich fühlte mich verpflichtet, sie auf die Probe zu stellen. In diesem Gedanken bestärkte mich das Bedürfnis, aus der Aufregung herauszukommen, in die sie mich versetzt hatte; denn ich wußte, daß ich bald genesen würde, wenn ich sie unbeweglich fände. Zugleich aber erschien dieses Mittel mir abscheulich, und der Gedanke, Clementina nicht mehr lieben zu sollen, kam mir ebenso abgeschmackt wie grausam vor.

Nachdem ich eine sehr unruhige Nacht verbracht hatte, stand ich in aller Frühe auf und ging zu ihr, um ihr guten Morgen zu sagen. Sie schlief noch, aber die Gräfin Eleonora war beim Ankleiden. Sie sagte zu mir: »Meine Schwester hat bis drei Uhr morgens gelesen. Jetzt, da sie so viele Bücher hat, wird sie ganz verrückt werden. Wir wollen ihr doch einen Streich spielen! Legen Sie sich auf jene Seite neben sie; wir werden über ihre Überraschung lachen, wenn sie aufwacht.«

«Aber glauben Sie, daß sie die Sache scherzhaft nehmen wird?«

»Sie kann sie doch nur von der lächerlichen Seite auffassen; Sie sind ja angekleidet.«

Die Gelegenheit war zu verführerisch, die Aufforderung zu beruhigend; ich warf meinen Schlafrock ab und streckte mich, meine Nachtmütze auf dem Kopf, ganz leise auf Eleonoras Platz aus und deckte mich bis zum Halse zu. Die Schwester lachte, ich aber fühlte ein sehr heftiges Herzklopfen. Ich war nicht imstande, dem Streich jenen scherzhaften Anstrich zu geben, der allein ihn als unschuldig erscheinen lassen konnte. Ich wünschte, daß es noch recht lange dauern würde, bis sie erwachte, damit ich Zeit hätte, mich zu beruhigen, um ein lustiges Gesicht machen zu können.

Seit fünf Minuten befand ich mich in dieser Lage, als Clementina halb erwachte. Sie drehte sich zu mir um, ohne jedoch die Augen zu öffnen, streckte den Arm aus und gab mir in der Meinung, ihre Schwester zu berühren, einen Gewohnheitskuß; hierauf schien sie in dieser Stellung wieder einzuschlafen. Ich hätte sie sicherlich noch lange so liegen lassen; denn ihr warmer Atem berührte meine Lippen und gab mir einen Vorgeschmack von Ambrosia. Aber Eleonora konnte nicht mehr an sich halten; sie lachte laut heraus, so daß ihre Schwester erwachen mußte. Trotzdem merkte sie, daß sie mich in ihren Armen hielt, erst dann, als sie ihre Schwester vor dem Bett stehen und aus allen Kräften lachen sah.

»Das ist ein hübscher Streich,« sagte Clementina, ohne sich zu rühren, »und ich bewundere euch alle beide.«

Diese friedfertige Aufnahme meines Scherzes versetzte mich in meine natürliche Stimmung; von Selbstvertrauen wieder belebt, hatte ich nunmehr Selbstbeherrschung genug, um meine Rolle gut spielen zu können. »Auf diese Weise,« sagte ich, »habe ich von meiner schönen Hebe einen Kuß bekommen.«

»Ich glaubte ihn meiner Schwester zu geben. Es ist der Kuß, den Amaryllis dem Myrtill gab.«

»Das ist einerlei. Der Kuß hat seine Wirkung geübt, und Iolas ist verjüngt.«

»Meine liebe Eleonora, was du den guten Iolas hast machen lassen, geht zu weit; denn wir lieben uns, und ich träumte von ihm.«

»Es geht nicht zu weit,« sagte die Schwester, »denn dein Iolas ist ja vollkommen bekleidet. Sieh doch nur!«

Mit diesen Worten riß daß ausgelassene junge Mädchen die Decke von mir ab, um sie zu überzeugen; aber die Bewegung ihres Armes war zu stark gewesen, und sie entblößte Clementina, die einen leisen Schrei ausstieß und schnell mir zu verbergen suchte, was meine Blicke im Nu verschlungen hatten. Ich hatte alles gesehen, aber nur so, wie man jene Blitze sieht, die schneller durch die Luft fahren als jener Pfeil, der Helvetien frei machte; ich hatte das Gesimse und den Fries des Altars der Liebe gesehen, auf dem ich zu sterben wünschte.

Clementina deckte sich wieder zu, und Eleonora ging hinaus. Ich aber lag, den Kopf auf die eine Hand gestützt, schweigend und unbeweglich da und betrachtete den Schatz, den ich begehrte und dessen ich mich doch nicht zu bemächtigen wagte.

Endlich brach ich das Schweigen und sagte: »Meine liebe Hebe, Sie sind sicherlich schöner als jene, die an der Tafel der Götter den Nektar einschenkte. Ich habe gesehen, was Hebe bei ihrem Fall sehen ließ, und wäre ich Jupiter gewesen, ich hätte sicherlich anders gehandelt als er.«

»Sardini hat mir gesagt, Jupiter habe meine Schutzherrin fortgeschickt; um sie zu rächen, sollte ich jetzt Jupiter fortschicken.«

»Das gebe ich zu, mein Engel; ich aber bin Iolas, Ihr eigenes Werk. Ich bete Sie an und suche Begierden zu ersticken, die mich foltern.«

»Sie haben diesen schlechten Streich mit Eleonora verabredet.«

»Nein, mein Herz, es bestand nicht die geringste Verabredung. Der Zufall hat alles gefügt, ich bin hereingekommen, um Ihnen guten Morgen zu sagen; denn ich glaubte, Sie seien schon wach. Sie schliefen noch, und Ihre Schwester kleidete sich an. Ich betrachtete Sie, und da kam Eleonora auf den Einfall, ich sollte mich auf ihren Platz legen, damit wir bei Ihrem Erwachen über Ihr Erstaunen lachen könnten. Ich muß ihr dankbar sein für einen Einfall, den ich mir zunutze machen mußte, weil ich Sie liebe. Aber die Schönheiten, die sie mich hatte sehen lassen, übertreffen die Vorstellung, die ich mir von Ihnen machte. Wird meine reizende Hebe mir ihre großmütige Verzeihung versagen?«

»Nein; ich verzeihe, da der Zufall alles so gefügt hat. Aber es ist sonderbar, daß man unwillkürlich auf die Person eines Menschen neugierig wird, den man zärtlich liebt.«

»Diese Neugier ist höchst natürlich, meint göttliche Denkerin. Man könnte sogar die Liebe als eine mächtige Neugier betrachten, wenn es gestattet wäre, die Neugier zum Range einer Leidenschaft zu erheben. Aber Sie sind nicht neugierig auf mich?«

»Nein, denn Sie würden mir vielleicht nicht gefallen, und dieser Gefahr will ich mich nicht aussetzen; denn ich liebe Sie und bin entzückt von den Gefühlen, die bei mir zu Ihren Gunsten sprechen.«

»Ich fühle wohl, daß dies möglich ist, und daß ich mir folglich große Mühe geben muß, um diese Vorteile zu erhalten.«

»Sie sind also mit mir zufrieden?«

»Unaussprechlich! Ich bin ein ziemlich guter Baumeister und finde, daß Sie mit einer göttlichen Regelmäßigkeit gebaut sind.«

»Das freut mich, mein lieber Iolas, aber enthalten Sie sich jede Berührung! Um Ihr Urteil zu fällen, möge es Ihnen genügen, mich gesehen zu haben.«

»Ach! Gerade das Gefühl muß die Irrtümer der Augen berichtigen; denn durch das Gefühl überzeugt man sich von der Glätte und dem elastischen Widerstand. Erlauben Sie mir, diese beiden Lebensquellen zu küssen. Ich ziehe sie den hundert der Kybele vor und bin nicht eifersüchtig auf Attys.«

»Sie täuschen sich, lieber Freund; Sardini sagte mir, die Diana von Ephesus habe diese Brüste gehabt.«

Wie hätte ich nicht lachen sollen, da ich in einem solchen Augenblicke Clementinas Munde solche mythologische Gelehrsamkeit entströmen sah. Kann die Liebe auf eine solche Episode gefaßt sein? Kann sie sie fürchten oder vorhersehen? Nein; sie ist nicht natürlich oder zum mindesten sehr selten. In der Lage, in der ich mich befand, indem meine Hand einen Alabasterbusen drückte, mußte in Clementina die Leidenschaft des Wissens mächtiger sein als die Leidenschaft der Liebe, wenn sie nicht dem Feuer der Begierde unterliegen sollte. Ich fand indessen ihre Gelehrsamkeit durchaus nicht unangenehm, sondern faßte sie vielmehr als ein gutes Vorzeichen auf. Ich sagte ihr, sie habe recht, und aus literarischer Dankbarkeit dachte sie nicht daran, meinem Munde zu wehren, daß er sich eines kaum erblühenden Knöspchens bemächtigte, dessen Purpur die Pole ihrer beiden alabasternen Halbkugeln so wundervoll krönte.

»Du saugst vergeblich, teurer Iolas; es ist unfruchtbarer Boden. Geh zu meiner Schwester! Aber du schluckst ja etwas hinunter?«

»Ja, die Quintessenz meines eigenen Kusses.«

»Es ist wohl möglich, daß auch ein Teilchen von mir selber dabei ist, denn du hast mir eine Wonne bereitet, die ich nie zuvor gefühlt habe.«

»Teure Hebe, du machst mich überglücklich!«

»Das freut mich; aber mir scheint, der Kuß auf den Mund ist bei weitem vorzuziehen.«

»Ganz gewiß; denn bei diesem findet Gegenseitigkeit statt. Die Wonne erhöht sich für jeden um die ganze Summe der Wonne, die er dem andern mitteilt.«

»Lehre und Beispiel! Grausamer Lehrer! Mach ein Ende, lieber Freund; es ist zu süß! Amor sieht uns zu und lacht über unsere Verwegenheit.«

»Warum, liebe Freundin, zögern wir noch, ihm einen Sieg zuzugestehen, der uns nur glücklich machen kann?«

»Dieses Glück ist nicht sicher. Nein, bitte, tun Sie es nicht! Lassen Sie Ihre Arme hier oben! Wenn Küsse uns töten können, wollen wir uns töten! Aber laß uns anderer Waffen nicht bedienen!«

Nach einem langen ebenso süßen wie grausamen Kampf hielt sie zuerst inne. Mich mit flammensprühenden Augen ansehend, bat sie mich, sie allein zu lassen.

Es ist unmöglich, die Aufregung zu beschreiben, in der ich mich befand: ich machte mir Vorwürfe, daß ich mir eines traurigen Vorurteils wegen Zwang auferlegt hatte, und ich weinte vor Wut. Nachdem ich meine Glut durch eine Abwaschung gedämpft hatte, die mir niemals so notwendig gewesen war, kleidete ich mich an und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Ich fand sie mit Schreiben beschäftigt.

»Ich bin froh, daß Sie wieder gekommen sind,« sagte sie zu mir; »ich fühle mich von einer Begeisterung beseelt, die ich nie zuvor empfunden habe. Ich will in Versen den Sieg besingen, den wir errungen haben.«

»Ein trauriger Sieg, den die Liebe verabscheut, weil er ein Schimpf für sie ist, und den die Natur hassen muß.«

»Sie werden poetisch. Lassen Sie uns alle beide schreiben: ich, um den Sieg zu feiern, Sie aber, um ihn zu schelten. Aber, lieber Freund, Sie sehen ja traurig aus!«

»Ich leide; da Sie jedoch die männliche Körperbildung nicht kennen, so können Sie den Grund nicht wissen.«

Clementina antwortete mir nicht; aber ich bemerkte, daß ihr die Sache zu Herzen ging. Ich litt einen dumpfen, aber starken Schmerz an jenem Teil, den ich dem Vorurteil zuliebe gefangen gehalten hatte, während Natur und Liebe verlangt hätten, daß er seine volle Freiheit bekäme. Nur die Ruhe des Schlafes konnte das Gleichgewicht wieder herstellen.

Wir gingen zum Mittagessen hinunter, aber ich rührte fast keine Speise an. Ich war keiner Aufmerksamkeit fähig und hörte daher zerstreut Herrn Vigi seine Übersetzung vorlesen, die er mitgebracht hatte; ich vergaß sogar die Höflichkeit in dem Grade, daß ich ihm nicht einmal ein Kompliment machte. Nachdem ich sodann den Grafen, meinen Freund, ersucht hatte, für mich eine Pharaobank aufzulegen, bat ich um Erlaubnis, zu Bett gehen zu dürfen. Niemand konnte die Natur meines Unwohlseins erraten, nur Clementina konnte sie wohl vermuten.

Ich schlief vier Stunden; hierauf stand ich auf und beschrieb in Danteschen Terzinen die Geschichte der Krankheit, die ich dem traurigen Siege verdankte.

Zur Zeit des Abendessens kam Clementina mit einem Bedienten, brachte mir einen leckeren Imbiß und sagte mir, daß die Bank gewonnen habe. Dies war das erstemal; denn ich hatte immer so abgezogen, daß ich verlieren mußte. Ich aß mit ziemlich gutem Appetit, aber traurig und schweigsam. Als ich fertig war, wünschte Clementina mir gute Nacht und sagte, sie wolle an ihrem Gedicht weiter arbeiten.

Ich war zum Dichten aufgelegt; von meinem Gegenstande ganz erfüllt, vollendete ich mein Gedicht und schrieb es ins Reine, bevor ich zu Bett ging. Am nächsten Morgen kam Clementina in aller Frühe zu mir und gab mir ihre Verse. Ich las diese mit Vergnügen; aber die Freude, die ich ihr durch meine Lobsprüche bereitete, war mindestens ebenso groß wie meine eigene.

Nachdem ich die Schönheit ihrer Gedanken von allen Selten hervorgehoben hatte, kam mein eigenes Gedicht an die Reihe, und ich bemerkte gar bald, welchen tiefen Eindruck die Schilderung meiner Leiden auf sie machte. Schwere Tränen standen in ihren schönen Augen, aber durch diese Tränen hindurch sprühten zärtliche Blitze. Ich hatte das Glück, sie schließlich sagen zu hören: wenn sie diese physischen Wirkungen gekannt hätte, so würde sie sich anders benommen haben.

Nachdem ich eine Tasse Schokolade mit ihr getrunken hatte, bat ich sie, sich unentkleidet neben mich zu legen und mich ebenso zu behandeln wie ich sie am Tage vorher behandelt hätte, damit sie ebenfalls das Martyrium zu erleiden hätte, das ich in meinen Versen besungen hätte. Sie lächelte und ergab sich meinen Bitten, aber unter der Bedingung, daß ich nichts gegen sie unternehme.

Diese Bedingung war grausam; es war aber doch schon ein Anfang vom Sieg, und deshalb mußte ich mich ihrem Willen unterwerfen. Ich hatte keine Ursache, über meine Gefügigkeit zu klagen; denn ich konnte den Despotismus genießen, den sie als Herrin meines ganzen Körpers über mich ausübte, und konnte mich an der Qual freuen, die sie ausstehen mußte, weil ich nicht einen gleichen Despotismus über sie ausübte und weil sie ihren Augen den Anblick der Reichtümer versagen mußte, über die ihre Hände verfügten. Vergebens forderte ich sie auf, sich zu befriedigen, ihren Begierden nichts zu versagen; sie behauptete fortwährend, sie wünsche nichts weiter als was sie bereits tue. »Unmöglich!« sagte ich zu ihr, »kann in diesem Augenblick Ihr Genuß dem meinigen gleichkommen.« Aber ihr scharfer Geist wußte sofort eine Antwort darauf; sie erwiderte: »Dann wäre es doch ungerecht, wenn Sie sich darüber beklagen wollten.«

Die Prüfung war indessen doch zu stark gewesen, um nicht entscheidend zu sein. Sie erhob sich ganz entflammt von meiner Seite, gab mir einen jener Küsse, die alle Zweifel beseitigen, und ging hinaus, indem sie zu mir sagte, sie sei jetzt überzeugt, daß man in der Liebe alles haben müsse oder nichts.

Wir verbrachten den Tag mit Lesen, Essen, Spazierengehen und mit fröhlichen, zweideutigen, ernsten Unterhaltungen; leider konnte ich jedoch nicht bemerken, daß unsere Liebe so große Fortschritte machte, wie die Probe vom Morgen anscheinend mir versprach. Clementina wollte das Gegenteil von jener Umschrift auf der Medaille des Aristipp bedeuten, worin es in bezug auf die Lais hieß: Ich besiege sie, aber sie besiegt mich nicht; sie wollte meine liebende Herrin sein, aber mich nicht ihren liebenden Herrn sein lassen. Ich beklagte mich freundlich darüber, aber damit kam ich nicht weiter.

Zwei oder drei Tage später schlug ich ihr in Gegenwart ihrer Schwester vor, sie solle mich an ihrer Seite schlafen lassen. Dies ist das Auskunftsmittel, das man einer Nonne, einer Witwe oder einem mannbaren Mädchen vorschlägt, die aus Furcht vor den Folgen nichts von der Liebe wissen wollen, und dieses Mittel glückt fast immer, wenn der, der es vorschlägt, geliebt wird. Ich zog aus meiner Tasche ein Päckchen feine englische Überzieher und erklärte ihr deren Anwendung. Sie nahm sie und untersuchte sie genau. Nachdem sie aber sehr darüber gelacht hatte, rief sie, diese Dinger seien abscheulich, ekelhaft, skandalös, und ihre Schwester stimmte ein. Vergebens wollte ich diese Vorwürfe zurückweisen, indem ich auf die Beruhigung aufmerksam machte, die sie verschafften; sie behauptete jedoch, die Überzieher seien nicht sicher, es könne leicht vorkommen, daß sie platzten. Um mich hiervon zu überzeugen, steckte sie den Finger in einen von den Überziehern und stieß so stark, daß er mit einem Knall zerriß. Notgedrungen mußte ich mich also ergeben; ich steckte meine Instrumente wieder ein, und sie sagte mir noch, dieses Mittel flöße ihr Abscheu ein.

Ich wünschte den beiden Mädchen gute Nacht und entfernte mich in ziemlicher Verwirrung. Indem ich über Clementinas eigentümlichen Widerstand nachdachte, gelangte ich zu der Überzeugung, daß sie nur deshalb so standhaft sein könnte, weil ich ihr nicht genug Liebe eingeflößt hätte. Ich beschloß daher, diese Liebe durch ein unfehlbares Mittel zu steigern: ihr nämlich neue Vergnügungen zu verschaffen, ohne dabei auf die Geldausgabe zu sehen. Ich wußte nichts Besseres zu tun, als mit der ganzen Familie nach Mailand zu fahren und ihnen bei meinem Pastetenbäcker ein prachtvolles Bankett zu geben. Ich überlegte mir folgendes: Ich werde die ganze Familie hinführen, ohne vorher ein Wort davon zu sagen, als bis wir unterwegs sind; denn wenn ich sagte, daß ich nach Mailand wollte, würde möglicherweise mein Freund sich verpflichtet fühlen, seiner Spanierin Bescheid zu geben, um ihr seine Schwägerinnen vorzustellen, und dies würde mir ganz und gar nicht passen. Ich dachte, dieser Ausflug müßte den drei Schwestern sehr verführerisch erscheinen, da sie Mailand noch niemals gesehen hatten. Meine Phantasie zeigte mir diesen Plan in immer schönerem Lichte, und ich beschloß, diesen Ausflug mit allem Glänze auszustatten, der sich mit meinen Absichten vereinigen ließ.

Kaum war ich erwacht, so schrieb ich an Zenobia, sie solle drei Kleider von den schönsten Lyoner Seidenstoffen für drei junge Damen von Stande kaufen. Ich schickte ihr die Maße und schrieb ihr ganz genau vor, wie die Kleider besetzt werden sollten. Das von mir für die verheiratete Gräfin bestimmte sollte von perlgrauem Atlas und reich mit Valencienner Spitzen besetzt sein. Ich fügte meinem Briefe eine Anweisung auf Herrn Greppi bei, den ich bat, er möchte ihr einen Mann mitgeben, um alles zu bezahlen, was sie kaufen würde. Ich befahl ihr, die drei Kleider nach meiner Privatwohnung zu bringen und sie dort auf meinem Bett auszubreiten. Ferner legte ich einen Brief an meinen Pastetenbäcker bei, worin ich eine Mahlzeit für acht Personen bestellte und ihm einschärfte, daß er keine Kosten sparen sollte. Zenobia sollte sich am bestimmten Tage bei dem Pastetenbäcker einfinden, um die drei Damen zu bedienen, die mit mir kommen würden. Meinen Brief ließ ich durch Clairmont nach Mailand bringen, ohne daß ein Mensch etwas davon erfuhr.

Vor dem Mittagessen war Clairmont bereits zurück; er brachte mir ein Briefchen von Zenobia, die mir versicherte, es solle alles nach meinen Wünschen gemacht werden. Beim Nachtisch wandte ich mich an die Gräfin und sagte zu ihr, ich wünsche ihr ein Mittagessen in derselben Art wie seinerzeit in Lodi zu geben, aber unter zwei Bedingungen: erstens, daß niemand erführe, wohin wir gingen, bis wir im Wagen säßen; zweitens, daß wir nach dem Essen wieder in die Wagen stiegen, um zum Schlafen in Sant‘ Angelo zu sein.

Anstandshalber sah die Gräfin, bevor sie antwortete, ihren Gemahl an; dieser aber ließ sich nicht lange bitten, sondern rief, er sei zur Fahrt bereit, und wenn ich auch die ganze Familie entführen wolle.

»Also gut!« sagte ich. »Wir werden morgen früh um acht Uhr abfahren, und Sie brauchen sich um nichts zu bekümmern; die Wagen werden bereit stehen.«

Ich glaubte, den guten Domherrn nicht von der Teilnahme an unserem Ausflug ausschließen zu dürfen, nicht nur, weil er der Gräfin Ambrogio sehr angelegentlich den Hof machte, sondern auch, weil er ein eifriger Spieler geworden war und jeden Abend verlor, so daß eigentlich er die Kosten des Festes bestritt. Er verlor an diesem selben Abend dreihundert Zechinen auf Wort und war genötigt, mich um eine Frist von drei Tagen zu bitten. Ich antwortete ihm, mein ganzes Vermögen stehe zu seiner Verfügung.

Als die Gesellschaft sich trennte, reichte ich meiner Hebe den Arm und begleitete sie und ihre Schwester in ihre Zimmer. Wir hatten die »Mehrheit der Welten« von Fontenelle zu lesen begonnen, und ich glaubte, wir würden vor dem Schlafengehen damit fortfahren; als ich jedoch diesen Vorschlag machte, sagte Clementina, sie wolle zu Bett gehen, da sie am andern Morgen schon so früh aufstehen müsse.

»Sie haben recht, meine liebe Hebe: legen Sie sich zu Bett; unterdessen werde ich Ihnen etwas vorlesen.«

Da sie nichts hiergegen einzuwenden hatte, so nahm ich den Ariosto und las, so gut ich nur konnte, die Geschichte von der spanischen Prinzessin Fiordespina, die sich in Bradamante verliebt hatte. Ich glaubte, diese reizende Geschichte würde Clementina in Feuer und Flammen setzen; aber ich irrte mich: sie war verdrießlich, ebenso ihre Schwester Eleonora.

»Was haben Sie denn, liebes Herz? Hat Ricciardetto Ihnen vielleicht mißfallen?«

»Nein, er hat mir im Gegenteil sehr gefallen, und an Stelle der Prinzessin hätte ich mich ebenfalls in ihn verliebt; aber wir werden diese ganze Nacht nicht schlafen, und daran sind Sie schuld.«

»Ich? Was habe ich denn getan?«

»Ach – nichts. Aber Sie könnten uns glücklich machen, indem Sie uns einen großen Beweis Ihrer Freundschaft gäben.«

»Sprechen Sie! Worum handelt es sich? Gibt es denn etwas, was ich nicht Ihnen zu Gefallen gern tun würde, wenn es in meiner Macht stände? Mein Leben, ja sogar mein Wille gehören Ihnen. Sie sollen schlafen.«

»Nun, so vertrauen Sie uns an, wohin wir morgen fahren.«

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich es Ihnen im Augenblick der Abfahrt sagen würde?«

»Ja, aber das genügt uns nicht. Wir werden vor Verlangen sterben, es schon heute zu wissen. Wir können unsere Neugier nicht bezwingen, und wenn Sie unseren Wunsch nicht befriedigen, werden wir die ganze Nacht nicht schlafen und dann werden wir morgen den ganzen Tag verdrießlich sein und abscheulich aussehen,«

»Dies würde mich tief betrüben; aber ich bezweifle, daß es Ihnen möglich ist, jemals abscheulich auszusehen.«

»Zweifeln Sie an unserer Verschwiegenheit? Übrigens kann das Geheimnis nicht bedeutend sein.«

»Allerdings nicht, es hat durchaus keine Bedeutung. Aber es ist ein Ordensgeheimnis.«

»Es ist abscheulich, daß Sie mir meine Bitte abschlagen.«

»Si, liebe Hebe, wie könnte ich Ihnen eine Bitte abschlagen? Ich gestehe sogar, es ist unartig von mir, daß ich Sie so lange warten lasse. Also hören Sie: ich gebe Ihnen morgen ein Mittagessen in meiner Wohnung.«

»In Ihrer Wohnung? Aber wo denn?«

»Ihre Frage ist berechtigt: in Mailand.«

»In Mailand! In Mailand! Oh, welches Glück!«

Indem sie diese Worte mit ungemessener Freude wiederholten, sprangen sie aus dem Bett, fielen mir ohne jede Toilettenförmlichkeit um den Hals, bedeckten mich mit Küssen, preßten mich in ihre Arme und setzten sich hierauf auf meinen Schoß.

»Niemals haben wir Mailand gesehen!« riefen sie fortwährend alle beide; »niemals haben wir einen so sehnlichen Wunsch gehabt, als diese herrliche Stadt zu sehen. Wie oft sind wir errötet, wenn wir gestehen mußten, daß wir sie nie gesehen hatten!«

»Dieser Ausflug macht mich glücklich,« sagte Hebe; »aber mein Glück trübt sich bei dem Gedanken, daß wir nichts sehen werden; denn Sie haben uns das harte Gesetz auferlegt, sofort nach dem Essen zurückzufahren. Das ist doch barbarisch! Kann man fünfzehn Miglien fahren, nur um in Mailand zu speisen, und dann denselben Weg zurückfahren, gewissermaßen um die Verdauung zu erleichtern! Zum mindesten müßten wir doch unsere Schwägerin besuchen.«

»Ich habe alle eure Einwendungen vorausgesehen, liebe Kinder; unk dies ist eben der Grund, warum ich die Sache geheim halten wollte. Aber die Partie ist nun einmal so angeordnet. Gefällt sie Ihnen nicht? Dann sprechen, befehlen Sie!«

»Wie sollte sie uns mißfallen, teuerer Iolas? Die Partie ist so, wie Sie sie sich ausgedacht haben, reizend, selbst wenn sie uns noch einiges zu wünschen übrig lassen sollte; vielleicht würde sie sogar durch den Grund der Beschränkung, wenn wir ihn kennten, noch einen neuen Reiz erhalten.«

»Das ist wohl möglich, meine göttliche Hebe; aber für heute kann dieser Grund für Sie keine Bedeutung haben, und ich darf ihn Ihnen nicht sagen.«

»Wir werden auch die Unbescheidenheit nicht so weit treiben, Sie danach zu fragen.«

Mit diesen Worten umarmte sie mich freudetrunken von neuem; Eleonora aber sagte, sie wolle schlafen, damit sie am nächsten Morgen recht munter sei. Dies war das beste, was sie tun konnte. Denn da ich fühlte, daß das Schäferstündchen nahte, so befeuerte ich Clementinas Küsse durch die Glut der meinigen, und von Freude und Liebe entflammt, dachte sie nicht mehr daran, meinen kühnen Angriffen Widerstand zu leisten. Bald war ich ganz in den Tempel eingedrungen, den zu betreten ich so heiß begehrt hatte. Stumm vor Glück und Wollust, teilte Hebe mein Entzücken, mein überschwengliches Glück und vermischte ihre Tränen wonniger Seligkeit mit denen, die ich im Übermaß der Lust vergoß.

Nachdem wir zwei Stunden in dieser wonnigen Selbstvergessenheit verbracht hatten, ging ich freudetrunken zu Bett, ungeduldig dem nächsten Tag entgegensehend, um die Liebesszene noch vollständiger und in einer bequemeren Lage zu wiederholen.

Um acht Uhr waren wir alle am Frühstückstisch versammelt; aber trotz allen meinen Anstrengungen und trotz der glücklichen Stimmung, worin sich meine Lebensgeister befanden, gelang es mir nicht, auch nur einen Schimmer von Heiterkeit auf die Gesichter meiner Gäste zu locken; Herren und Damen waren nachdenklich; die Neugier fraß an ihnen. Clementina und ihre junge Schwester wagten nicht, ihre innere Befriedigung zu zeigen, und stimmten in dieses Konzert der Schweigsamkeit ein. Ich hatte meine innere Freude daran.

Clairmont hatte alle meine Anordnungen aufs beste ausgeführt. Als er uns meldete, daß die Wagen vorgefahren seien, lud ich meine Gäste ein, hinunterzugehen. Man folgte mir schweigend. Ich brachte die Gräfin Ambrogio und Clementina in meinem Wagen unter; die letztere hatte den Säugling auf dem Schoß. Nachdem ich hierauf Eleonora und die drei Herren im zweiten Wagen hatte Platz nehmen lassen, rief ich lachend: »Nach Mailand!«

»Nach Mailand! Nach Mailand!« wiederholten alle Gäste stürmisch. »Bravo!«

Clairmont ritt auf einem guten Pferde uns voraus, und wir fuhren ab. Clementina spielte die Erstaunte; ihre Schwester strahlte vor Freude, sah aber zugleich ein wenig überrascht aus, wie wenn das unerwartete Ereignis ihr Anlaß zu Bedenken gäbe. Da wir jedoch in aller Muße darüber plaudern konnten, so bemerkte ich bald, daß ihre Sorgen verschwunden waren, und nun herrschte unter uns dreien vollkommene Fröhlichkeit. Auf halbem Wege hielten wir in einem Dorfe an, um die Pferde verschnaufen zu lassen, und stiegen alle aus.

Ich hatte einige Zweifel, daß meinem Freunde, dem Grafen, die Partie vielleicht nicht so ganz recht sein konnte; aber zu meiner Befriedigung sah ich, daß alle einverstanden waren und sich mit meinem Streich abgefunden hatten.

»Was wird meine Frau sagen?« fragte der Graf mich.

»Nichts, denn sie wird nichts davon erfahren. Auf alle Fälle werde ich der einzige Schuldige sein. Sie werden bei mir speisen, in einer Wohnung, die ich inkognito gemietet habe, seit ich in Mailand bin; denn, mein lieber Freund, Sie haben gewiß begriffen, daß die Wohnung bei Ihnen mir nicht genügen konnte, da der Platz bereits besetzt war.«

»Und Zenobia?«

»Ja, mein Lieber, Zenobia ist ein sehr leckerer Bissen, aber sie war doch kein täglich Brot für mich.«

»Sie sind ein Glücksmensch!«

»Ich bemühe mich, glücklich zu sein.«

»Lieber Mann,« sagte die Gräfin Ambrogio, »seit zwei Jahren gehst du mit dem Plan um, mir Mailand zu zeigen. Der Herr Chevalier hat nur eine Viertelstunde über den Plan nachgedacht, und schon sind wir unterwegs.«

»Da hast du recht, liebe Freundin; aber nach meinem Plan sollten wir einen Monat dort verbringen.«

»Wenn Sie einen Monat bleiben wollen,« sagte ich zu ihm, »so übernehme ich alles.«

»Ich danke Ihnen, mein werter Herr! Sie sind ein außerordentlicher Mensch.«

»Sie erweisen mir, Herr Graf, weit mehr Ehre, als ich verdiene. An mir ist weiter nichts Außerordentliches, als daß ich leicht finde, was wirklich leicht ist.«

»Das kann wohl sein; aber Sie werden zugeben, daß die Schwierigkeiten entweder aus dem Standpunkt hervorgehen, von dem aus man die Verhältnisse betrachtet, oder aus der Lage, worin man sich befindet.«

»Das gebe ich zu.«

Als wir wieder eingestiegen waren, sagte die Gräfin zu mir:

»Gestehen Sie, Herr Chevalier, daß Sie ein glücklicher Mensch sind.«

»Ich bestreite das nicht, liebenswürdige Gräfin. Aber mein Glück hängt von meiner Gesellschaft ab; wenn Sie mich aus der Ihrigen verweisen würden, wäre ich unglücklich.«

»Sie sind nicht der Mann, den man hinausweisen würde.«

»Dies ist ein sehr freundliches Kompliment.«

»Sagen Sie: ein sehr wahres.«

»Es macht mich glücklich, daß Sie das sagen. Aber man würde mich für einen anmaßenden Laffen halten, wenn ich selber es sagte.«

So erheiterten wir die Fahrt durch tausend liebenswürdige und galante Bemerkungen, besonders auf Kosten des Domherrn, der die Gräfin gebeten hatte, bei mir ein gutes Wort einzulegen, daß ich ihm erlauben möchte, sich auf eine halbe Stunde zu entfernen.

»Ich muß«, hatte er zu ihr gesagt, »einer Dame einen Besuch machen, deren gute Meinung von mir unwiderruflich dahin sein würde, wenn sie erführe, daß ich in Mailand gewesen wäre, ohne ihr meine Aufwartung zu machen.«

»Sie müssen sich, hochwürdiger Herr,« hatte die liebenswürdige Dame ihm geantwortet, »der allgemeinen Bedingung unterwerfen; rechnen Sie also nicht auf meine Verwendung.«

»Wir kamen in Mailand Schlag zwölf Uhr an und stiegen vor dem Hause des Pastetenbäckers ab. Die Frau bat die Gräfin, ihr ihren Säugling anzuvertrauen, indem sie ihr, um ihren Widerstand zu besiegen, einen wundervollen Busen zeigte, der dafür zeugte, daß sie halten würde, was sie versprach. Diese Szene mütterlicher Gastfreundschaft spielte sich am Fuße der Treppe ab, und die Gräfin nahm das Anerbieten mit einer Anmut und Würde an, die mich bezauberten. Es war eine entzückende Episode, die der Zufall herbeigeführt hatte, um die meinem Geist entsprungene Komödie zu verschönen. Alle schienen glücklich zu sein, ich aber war es mehr als alle anderen, und ich fühlte dies. Das Glück ist an und für sich lediglich Einblldungssache; um glücklich zu sein, muß man sich für glücklich halten. Ich gebe jedoch zu, daß die Umstände, die unseren Geist in die geeignete Stimmung versetzen, oftmals nicht von uns abhängen, während dagegen ungünstige Umstände gewöhnlich das Ergebnis unserer eigenen Handlungen sind.

Nachdem die Gräfin meinen Arm genommen, führte ich die Gesellschaft in meine Wohnung, die von Sauberkeit glänzte. Ich sah Zenobia, wie ich es erwartet hatte, aber zu meiner angenehmen Überraschung erblickte ich neben ihr Croces Geliebte, schön wie eine Liebesgöttin. Ich tat jedoch, wie wenn ich sie nicht kennte. Sie war sehr gut angezogen, und ihr Gesicht, von dem der Ausdruck der Traurigkeit entschwunden war, den es getragen hatte, als ich sie zum ersten Male sah, hatte etwas so Verführerisches an sich, daß es mir nach dem ersten Eindruck, den ein schönes Gesicht immer auf mich macht, beinahe leid tat, sie in diesem Augenblick bei mir zu sehen.

»Das sind zwei sehr hübsche Mädchen«, sagte die verheiratete Gräfin. »Wer sind Sie, meine jungen Damen?«

»Wir sind«, antwortete Zenobia, »die sehr ergebenen Dienerinnen des Herrn Chevalier und sind hierher gekommen, um die Ehre zu haben, Sie zu bedienen.«

Zenobia hatte auf ihre eigene Verantwortung die schöne Marseillerin mitgebracht, die bereits anfing, italienisch zu sprechen, und die mich mit einem scheuen Blick ansah, weil sie fürchtete, ich könnte es übelnehmen, daß sie ohne meinen Befehl gekommen wäre. Ich glaubte, sie beruhigen zu müssen, und sagte ihr daher, ich sei erfreut, daß sie Zenobia begleitet habe. Diese Worte waren Balsam für ihr Herz. Ihre Stirn erheiterte sich, und ihre Schönheit erhielt dadurch neuen Glanz. Das schöne junge Mädchen konnte nicht lange unglücklich sein, denn es war unmöglich, sie zu sehen, ohne eine lebhafte Teilnahme für sie zu fühlen. Ein Empfehlungsbrief, der von der Hand der Grazien auf die Schönheit geschrieben ist, wird niemals unter Protest zurückgewiesen; denn wer Augen und ein Herz hat, bezahlt bei Sicht.

Meine freundlichen Dienerinnen nahmen den drei Damen die Mäntel ah und folgten ihnen in mein Schlafzimmer, wo die drei schönen Kleider auf einem Tische ausgebreitet lagen. Ich kannte nur das mit Spitzen besetzte, zartgraue Atlaskleid, weil ich nur dieses besonders bezeichnet hatte. Die Gräfin, die vor ihren beiden Schwestern eintrat, bemerkte es zuerst und rief, indem sie näher trat: »Was für ein schönes Kleid! Wem gehört es denn, Herr von Seingalt? Sie müssen es doch wissen!«

»Selbstverständlich, gnädige Frau. Es gehört Ihrem Herrn Gemahl, der damit tun mag, was er will. Ich hoffe, wenn er es Ihnen schenkt, werden Sie ihm nicht den Schimpf antun, es zurückzuweisen. Sehen Sie, Herr Graf, dieses Kleid gehört Ihnen, und ich schieße mir eine Kugel durch den Kopf, wenn Sie mir nicht die Ehre erweisen, es anzunehmen.«

»Wir haben Sie zu lieb, um Sie zu einer Verzweiflungstat treiben zu wollen. Dieser Zug ist ebenso edel wie neu; er ist Ihrer würdig. Ich empfange also Ihr schönes Geschenk mit der einen Hand und gebe es mit der andern an die, der es gebührt. Denn ich spiele bei dieser Gelegenheit die Rolle eines Reflexspiegels.«

»Wie, mein lieber Mann, dieses prachtvolle Kleid gehört mir? Wem soll ich danken? Allen beiden. Ich will mich unbedingt für die Mahlzelt damit schmücken.«

Die beiden anderen Kleider waren nicht so reich, aber, glänzender, und ich freute mich innig, als ich sah, wie die Augen meiner Clementina sich auf das längere hefteten. Eleonora ihrerseits bewunderte das Kleid, das, wie sie erriet, für sie bestimmt war. Das erste war von herrlichem, apfelgrün und rosarot gestreiftem Atlas und mit Federblumen von bestem Geschmack verziert; das zweite, ebenfalls von Atlas, war himmelblau mit tausend Blümchen und mit Mignonettesspitzen besetzt, die eine sehr schöne Wirkung übten. Zenobia sagte, ohne mich zu fragen, zu Clementina, das erstere sei für sie.

»Woher wissen Sie denn das?«

»Gnädiges Fräulein, es ist das längere, und Sie sind die größere.«

»Da haben Sie recht. Es ist also mein?« fragte sie, indem sie sich zu mir wandte.

»Wenn ich hoffen darf, daß Sie es anzunehmen geruhen.«

»Daran kann nicht der geringste Zweifel sein, Iolas; ich werde es sofort anziehen.«

Eleonora sagte, ihr Kleid sei das schönste, und sie sterbe vor Verlangen, sich damit geschmückt zu sehen.

»Gut!« rief ich überglücklich. »Wir werden Sie allein lassen, damit Sie sich in aller Bequemlichkeit anziehen können. Diese beiden Damen sind dazu da, um Sie zu bedienen.«

Ich ging mit den beiden Brüdern und dem Domherrn hinaus und bemerkte, daß diese ganz betroffene Gesichter machten. Ohne Zweifel dachten sie über die Verschwendung eines Spielers nach, dem das Geld nichts kostete. Ich versuchte nicht, sie zum Sprechen zu bringen, denn da es meine Leidenschaft war, Leute in Erstaunen zu setzen, konnte ihr Erstaunen mir nur angenehm sein. Ich gestehe, es war ein Gefühl zügelloser Eitelkeit, das mich den Menschen meiner Umgebung überlegen machte; wenigstens glaubte ich dies, und das genügte mir. Ich würde jeden verachtet haben, der es gewagt hätte, mir zu sagen, man mache sich über mich lustig; trotzdem ist es wohl möglich, daß man mir damit nur die Wahrheit gesagt hätte.

Da ich von wirklicher Freude beseelt war, so teilte ich diese bald meinen Gästen mit. Ich umarmte herzlich den Grafen Ambrogio, indem ich ihn um Verzeihung bat, daß ich es gewagt hätte, seinen Angehörigen einige kleine Geschenke zu machen, und ich dankte seinem Bruder, daß er mir dies ermöglicht hatte. »Ich bin bei Ihnen so außerordentlich gut aufgenommen,« setzte ich hinzu, »daß ich mir nicht das Glück versagen konnte, Ihnen ein wenig meine Dankbarkeit dafür zu bezeigen.«

Bald kamen die schönen Gräfinnen, strahlend in ihrem Putz und in ihrer Freude. Sie sagten zu mir: »Es ist unmöglich, daß Sie uns nicht Maß genommen haben; nur wissen wir nicht, wie Sie das hätten machen sollen.«

»Das Spaßhafteste dabei ist,« rief die älteste von den Schwestern, »daß Sie mein Kleid so haben machen lassen, daß man es nach Bedürfnis weiter machen kann, ohne den Schnitt zu ändern. Aber was für ein prachtvoller Besatz! Der ist viermal so viel wert als das Kleid.«

Clementina konnte nicht vom Spiegel fortfinden. Sie bildete sich ein, ich hätte ihr mit den Farben rot und grün die Attribute der jungen Hebe beilegen wollen. Die jüngste Schwester behauptete immerzu, ihr Kleid sei das schönste.

Hocherfreut über die Zufriedenheit meiner schönen Damen, bat ich die Gäste, zu Tisch zu gehen. Wir hatten alle einen ausgezeichneten Appetit, und man trug uns eine vortreffliche Mahlzeit von Fleisch und Fastenspeisen auf. Alles war köstlich; die Krone des Mahles aber war ein Korb Austern aus dem Arsenal von Venedig, den mein Pastetenbäcker dem Haushofmeister des Herzogs von Modena wegzukapern gewußt hatte. Wir schwelgten darin. Wir vertilgten dreihundert Stück, denn unsere Damen waren Lecker und der Domherr unersättlich, und wir befeuchteten sie mit einer Menge Flaschen Champagner. Wir blieben drei Stunden bei Tisch, tranken, sangen und scherzten nach Herzenslust, denn wir waren alle von gleicher Fröhlichkeit beseelt. Während dieser ganzen Zeit warteten uns meine immer willigen Dienerinnen auf, deren Reize es mit denen der sie bewundernden Damen aufnehmen konnten.

Gegen Ende der Mahlzeit trat die schöne Pastetenbäckerin fröhlichen Gesichtes mit bloßem Busen ein und reichte der Gräfin ihr Kind, das sich an ihrer Brust festgesogen hatte. Es war eine Theaterszene. Die Freude der liebenswürdigen Mutter äußerte sich in einem Aufjauchzen, als sie ihr Kind sah, und die Pastetenbäckerin strahlte vor Stolz darüber, daß sie vier Stunden lang den einzigen Sprößling einer so erlauchten Familie besessen hatte. Bekanntlich hat die Phantasie, die auf die Männer so stark wirkt, daß man sie für die Schöpferin des Genius halten könnte, auf die Frauen einen Einfluß, der sich gar nicht berechnen läßt. Diese Frau war einfach und gut, wie es im allgemeinen alle Frauen aus dem Volke sind, wenn nicht Laster und Elend sie verderben und herabwürdigen; wer weiß, ob nicht meine Pastetenbäckerin sich einbildete, ihren eigenen Sprößling zu adeln, indem sie ihre Brust einem jungen Grafen bot? Solche Ideen sind natürlich unsinnig, aber gerade darum macht das Volk sie sich zu eigen.

Wir verbrachten noch eine Stunde damit, Kaffee und Punsch zu trinken; hierauf zogen die Gräfinnen wieder ihre Kleider an, in denen sie am Morgen gekommen waren. Zenobia packte die drei Kleider in Schachteln und ließ diese an meinen Wagen festbinden.

Croces Geliebte benutzte einen günstigen Augenblick, um mir unter vier Augen zu sagen, sie sei mit Zenobia sehr zufrieden, und um mich zu fragen, wann wir abreisen würden.

Ich drückte ihr die Hand und sagte: »Sie werden spätestens vierzehn Tage nach Ostern in Marseille sein.«

Zenobia, die ich gleich zu Anfang heimlich befragt hatte, hatte mir gesagt, die junge Marseillerin sei ein sehr liebenswürdiges und anständiges Mädchen, und es würbe ihr sehr leid tun, wenn sie sich von ihr trennen müsse. Ich gab ihr zwölf Zechinen zum Dank für ihre Bemühungen.

Mit allem sehr zufrieden, bezahlte ich dem wackeren Pastetenbäcker eine recht starke Rechnung: ich bemerkte dabei, daß wir mehr als zwanzig Flaschen Champagner getrunken hatten. Allerdings hatten wir fast gar keinen anderen Wein getrunken, da meine drei Damen eine ganz besondere Vorliebe für diesen Saft hatten.

Ich liebte, ich wurde geliebt, ich war gesund, ich hatte viel Geld, ich verschwendete es zu meinem Vergnügen und ich war glücklich. Dies sagte ich mir gern und lachte dabei über die dummen Moralisten, die behaupten, es gäbe kein wahrhaftes Glück auf Erden. Und grade dieses Wort: »auf Erden« erregt meine Heiterkeit: wie wenn es möglich wäre, das Glück anderswo zu suchen! Mors ultims linea rerum est! Ja, der Tod ist die letzte Zeile im Buche des Lebens; er ist das Ende von allem, denn mit dem Tode hört der Mensch auf, Sinne zu haben; aber ich bin weit entfernt, zu behaupten, daß der Geist das Schicksal der Materie teilt. Man darf nur behaupten, was man positiv kennt, und bei den letzten Grenzen des Möglichen muß der Zweifel beginnen.

Ja, ihr verdrießlichen und unklugen Moralisten, es gibt Glück auf Erden, sogar viel Glück, und jeder hat seinen Teil daran. Es ist nicht dauernd, nein, das ist es allerdings nicht; es entschwindet, kehrt zurück und entschwindet von neuem nach jenem Naturgesetz, das für alles Geschaffene gilt: der Bewegung, der ewigen Umwälzung der Menschen und Dinge. Vielleicht übersteigt die Summe der Übel, die eine Folge unserer körperlichen und geistigen Unvollkommenheit sind, für jedes einzelne Individuum die Summe des Glückes. Das alles ist wohl möglich, aber es folgt nicht daraus, daß es nicht Glück, und zwar viel Glück gibt. Wenn es kein Glück auf Erden gäbe, wäre die Schöpfung eine Mißgeburt, und Voltaire hätte recht gehabt, unseren Planeten die Latrine des Weltalls zu nennen; ein schlechter Witz, der nur eine Ungereimtheit oder vielmehr überhaupt nur ein Ausbruch galliger Dichterlaune ist. Ja, es gibt Glück und viel Glück! Das wiederhole ich heute, da ich es nur noch in der Erinnerung kenne. Diejenigen, die aufrichtig bekennen, daß sie das Glück empfinden, sind würdig, es zu besitzen; seiner unwürdig aber sind jene, die es leugnen, obwohl sie es genießen, und diejenigen, die es vernachlässigen, obwohl sie es sich verschaffen könnten. Ich habe mir in diesen beiden Beziehungen keinen Vorwurf zu machen.

Es war sieben Uhr, als wir meine hübsche Wohnung verließen, um nach dem Schloß des Grafen zurückzukehren, wo wir um Mitternacht ankamen. Die Fahrt war so köstlich, daß der Weg uns kurz erschien. Der Champagner, der Punsch und das Vergnügen hatten meine beiden Gefährtinnen erhitzt, und dank der Dämmerung konnte ich mir glückliche Zerstreuungen verschaffen, über welche sie keineswegs böse waren; ich liebte jedoch Clementina zu sehr, um den Spaß mit ihrer reizenden Schwester weiter als bis zu den Fingerspitzen zu treiben.

Sobald wir aus dem Wagen gestiegen waren, wünschten wir einander gute Nacht, und ein jeder begab sich in sein Zimmer, nur ich nicht; denn ich verbrachte mit Clementina Stunden jener köstlichen Wollust, deren Erinnerung sich nie verwischt.

»Glaubst du, mein süßer Freund,« sagte das reizende Mädchen zu mir, »daß ich nach deiner Abreise noch glücklich sein kann?«

»Meine liebe Hebe, ich weiß, daß wir in den ersten Tagen beide unglücklich sein werden; aber allmählich wird die Ruhe uns zurückkehren; die Philosophie wird unsere Liebe nicht auslöschen, sondern die Bitternis des Scheidens köstlich süß machen.«

»Eine köstlich süße Bitternis! Ich glaube nicht, daß die Philosophie ein solches Wunder wirken kann. Ich weiß wohl, mein liebenswürdiger Sophist, du wirst dich leicht mit deinen Fräuleins trösten. Glaube übrigens nur nicht, daß ich eifersüchtig bin. Ich wäre mir selber ein Greuel, wenn ich mich eines so niedrigen Gefühls für fähig halten könnte. Aber ich würde mich ebensosehr verachten, wenn ich imstande wäre, mich mit jenen Mitteln zu trösten, die du ganz gewiß anwenden wirst.«

»Ich wäre in Verzweiflung, wenn du dies glauben könntest.«

»Es ist nur natürlich.«

»Jene Fräuleins, wie du dich ausdrückst, sind nicht dazu angetan, dich zu ersetzen, und können mich nicht beschäftigen. Die größere von den beiden ist die Frau eines Schneiders, und die andere ist ein anständiges Mädchen aus Marseille. Ein unglückseliger Freund von mir hat sie verführt und dann entführt, und ich habe mich erboten, sie nach ihrer Heimatstadt Marseille zurückzubringen. Du wirst in Zukunft und bis zu meinem Tode das einzige Weib sein, das meine Seele beherrscht; sollte es mir je begegnen, daß ich, von meinen Sinnen hingerissen, eine Frau, die mich verführt hat, in meine Arme schließe, so wird dich bald die Reue wegen einer Untreue rächen, woran meine Seele keinen Teil haben wird.«

»Ich bin sicher, daß ich niemals eine derartige Reue verspüren werde. Aber ich begreife nicht, wie du an die Möglichkeit, mir untreu zu werden, denken kannst, da du mich so liebst, wie du mich liebst, mich in deinem Besitze hast und in deine Arme pressest!«

»Ich glaube nicht an diese Untreue, aber ich setze sie als möglich voraus.«

»Ich sehe in diesem Falle keinen großen Unterschied zwischen Glauben und Voraussetzung.«

Was sollte ich auf diese Einwürfe antworten? Clementina hatte recht, obgleich sie sich irrte; aber dieser Irrtum entsprang aus ihrer Liebe. Die meinige war durchaus nicht von einer Glut, die mich hätte verhindern können, eine mögliche, ja sogar unausbleibliche Treulosigkeit vorauszusehen. Ich urteilte nur darum richtiger als sie, weil ich nicht zum ersten Male verliebt war. Wenn aber meine Leser das gleiche durchgemacht haben, wie die meisten von ihnen es sicherlich getan haben, so werden sie wissen, in welche Verlegenheit einen Liebenden solche Worte aus dem Munde einer Frau versetzen, die er für immer glücklich machen möchte. Da weiß auch der Schlagfertigste nicht, was er sagen soll, und kann nur durch Küsse und Tränen antworten.

»Willst du mich mit dir nehmen?« fragte sie mich; »ich bin bereit, dir zu folgen, und ich werde glücklich sein. Wenn du mich liebst, mußt du über dein eigenes Glück hocherfreut sein. Laß uns einander glücklich machen, lieber Freund!«

»Ich kann deine Familie nicht entehren.«

»Findest du mich unwürdig, deine Frau zu werden?«

»Du bist eines Thrones würdig; ich aber bin nicht wert, ein solch herrliches Weib zu besitzen. Ich muß dir sagen, daß ich auf dieser Welt nichts habe als mein Geld, das ich morgen verlieren kann. Für mich allein fürchte ich keine Schicksalsschläge, aber ich würde mir das Leben nehmen, wenn du irgendeiner Entbehrung ausgesetzt wärest, nachdem du dein Schicksal mit dem meinigen verknüpft hättest.«

»Woher mag es wohl kommen, daß es mir unmöglich scheint, du könntest jemals mit mir unglücklich werden, und daß ich überzeugt bin, du kannst nur mit mir wirklich glücklich werden? Deine Liebe gleicht nicht der meinen, wenn du weniger Vertrauen zu ihr hast als ich.«

»Mein Engel, wenn ich weniger Vertrauen habe als du, so liegt es daran, daß ich eine grausame Lebenserfahrung besitze, die du nicht hast, und die mich für die Zukunft zittern läßt. Wird die Liebe beunruhigt, so verliert sie an Stärke, was sie an Vernunft gewinnt.«

»Grausame Vernunft! So müssen wir uns also entschließen, uns zu trennen?«

»Es muß sein, liebes Herz. Es ist eine grausame Notwendigkeit, aber mein Herz wird bei dir bleiben. Wenn ich auch scheide, so bete ich dich doch an, und wenn mir das Glück in England günstig ist, wirst du mich nächstes Jahr hier wiedersehen. Ich werde ein Landgut kaufen, wo du willst, und es dir an unserem Hochzeitstage schenken; dann werden unsere Kinder und die schönen Wissenschaften uns beglücken.«

»Oh, welch angenehme Zukunft! Welch ein Traum! Warum kann ich nicht mit diesem Traum einschlafen, um erst an dem Tage zu erwachen, wo er sich erfüllen wird, oder beim Erwachen zu sterben, wenn er nicht in Erfüllung gehen soll! Aber, lieber Freund, was soll ich tun, wenn du mich schwanger zurückläßt?«

»Dies, meine göttliche Hebe, hast du nicht zu befürchten. Hast du nicht bemerkt, daß ich dich geschont habe?«

»Geschont? Das verstehe ich nicht, aber ich kann es mir wohl vorstellen und danke dir dafür. Ach, vielleicht wäre es besser, du hättest keine Vorsicht beobachtet; denn du bist nicht geboren, mich unglücklich zu machen, und wenn du ein Pfand unserer gegenseitigen Zärtlichkeiten hinterlassen hättest, so würdest du Mutter und Kind nicht verleugnet haben.«

»Du beurteilst mich richtig, liebe Freundin. Solltest du bemerken, daß, trotz meinen Vorsichtsmaßregeln, dein Leib sich rundet, was du vor Ablauf von zwei Monaten merken wirst, so schreibe mir. Mag dann meine Lage sein wie sie will, ich werde die Frucht unserer Liebe legitimieren, indem ich dir meinen Namen und meine Hand gebe. Allerdings wirst du durch diese Namensänderung eine Mißheirat eingehen; aber du wirst deshalb weniger glücklich sein?«

»Nein, nein! Dein Name und deine Hand sind für mich das höchste Ziel des Ehrgeizes. Nein, niemals werde ich bereuen, daß ich mich ohne Rückhalt dir hingegeben habe.«

»Du machst mich überglücklich!«

»Meine ganze Familie liebt dich; alle sagen, du seiest glücklich und verdienest dein Glück. Wie sie dich loben, lieber Freund! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mein Herz vor Freude pocht, wenn ich in deiner Abwesenheit solche Bemerkungen höre. Wenn man mir sagt, ich liebe dich, so antworte ich: ich bete dich an; und du weißt, ich lüge nicht.«

Mit solchen Gesprächen füllten wir während der letzten fünf oder sechs Nächte, die wir miteinander verbrachten, die Pausen zwischen unseren Liebesekstasen aus. Ihre Schwester, die neben uns lag, schlief oder tat wenigstens so, wie wenn sie schliefe. Wenn ich von ihr ging, legte ich mich zu Bett; spät stand ich auf und verbrachte dann den ganzen Tag mit ihr, entweder allein oder in ihrer Familie. Welch köstliches Leben! Ist es möglich, daß ein Mensch, der sein eigener Herr, der unabhängig ist wie der Adler in den Lüften, sich entschließen kann, ein solches Glück aufzugeben? Heute begreife ich es nicht.

Das Glück hatte es gefügt, daß ich dem guten Domherrn das ganze Geld abgewann, das ich die Familie hatte gewinnen lassen. Niemals achtete ich auf deren Spiel; nur Clementina allein machte sich niemals meine Unaufmerksamkeit zunutze; aber die beiden letzten Tage nötigte ich sie, sich an meiner Bank zu beteiligen, und da der Domherr beständig unglücklich war, so gewann sie etwa hundert Zechinen. Der gute Mönch verlor tausend Zechinen, von denen siebenhundert in der Familie blieben. Das war eine gute Bezahlung für die Gastfreundschaft, die ich genossen hatte, und daß ein Mönch die Kosten bestritt, war um so anerkennenswerter, mochte er auch ein Ehrenmann sein.

Die letzte Nacht, die ich ganz mit meiner reizenden Gräfin zubrachte, war sehr traurig: wir wären vor Schmerz gestorben, hätten wir nicht die unerschöpfliche Wollust der Liebe genossen. Niemals wurde eine Nacht besser angewandt! Tränen des Schmerzes wechselten unaufhörlich mit Tränen der Liebe, und ich erneuerte neunmal das Opfer auf dem Altar des Gottes, der meine Kräfte in demselben Maße ersetzte, wie der Genuß sie erschöpfte. Blut und Tränen überströmten das Heiligtum; Priester und Opfer waren erschöpft, und doch riefen die Begierden: noch einmal! Wir mußten uns mit einer Anstrengung losreißen, die ebenso schmerzhaft war, wie unsere achtstündige Vereinigung süß gewesen war.

Eleonora benutzte einen Augenblick, wo wir der Ermüdung nachgebend in doppelter Verschlingung eingeschlafen waren, um leise aufzustehen und uns allein zu lassen. Wir waren ihr dankbar dafür und bewunderten ihre Freundschaft und ihre Entsagung; doch mußten wir gestehen, daß sie entweder sehr unempfindlich war oder daß sie als Zeugin unserer köstlichen Liebeskämpfe sehr hatte leiden müssen. Ich verließ Clementina, damit sie ihre Abwaschungen vomehmen könnte, deren sie ohne Zweifel sehr bedurfte, und kleidete mich selber an.

Als wir zusammen zum Frühstück herunterkamen, sahen wir aus wie zwei Sterbende; besonders Clementina mußte durch ihre Augen verraten werden. Aber man schonte uns. Ich konnte nicht lustig sein, wie ich es gewöhnlich war, aber man fragte mich nicht nach dem Grunde. Ich versprach ihnen, Nachricht zu geben und im nächsten Jahre wiederzukommen. Ich habe ihnen auch geschrieben, doch gab ich es auf, als das Unglück, das mich in London zu Boden schmetterte, mir die Hoffnung raubte, sie jemals wiederzusehen.

Ich habe sie in der Tat nicht wiedergesehen, aber ich habe Clementina niemals vergessen können. Als ich sechs Jahre später aus Spanien zurückkam, erfuhr ich, daß sie in glücklicher Ehe mit dem Marchese N. lebte, den sie drei Jahre nach meiner Abreise geheiratet hatte. Ich weinte Freudentränen über diese Nachricht. Sie hatte damals zwei Söhne; der jüngere von ihnen, jetzt siebenundzwanzig Jahre alt, ist Hauptmann in österreichischen Diensten. Welche Freude würde es mir sein, ihn zu sehen! Als ich von Clementinas Glück hörte, kam ich, wie gesagt, aus Spanien und war unglücklich. Ich war auf der Reise nach Livorno, wo ich mein Glück zu machen hoffte; auf der Fahrt durch die Lombardei war ich nur vier Miglien von einem Landsitz entfernt, wo diese anbetungswürdige Frau mit ihrem Gatten sich aufhalten mußte. Aber ich hatte nicht den Mut, sie aufzusuchen, und vielleicht tat ich recht daran.

Doch zurück zu meiner Erzählung!

Ich war Eleonoren dankbar für ihre Güte und wollte dies gern zum Ausdruck bringen. Ich zog von meinem Finger einen sehr schön von Diamantenrosetten umgebenen geschnittenen Onyx, worauf der Gott des Schweigens dargestellt war, und benützte einen günstigen Augenblick, um sie beiseite zu ziehen und ihr den Ring an den Zeigefinger zu stecken, bevor sie Zeit hatte, ein Wort zu sagen. Ich drückte ihr schweigend die Hand.

Als es Zeit war, hinunter zu gehen, um in meinen Wagen zu steigen, schickte die ganze Familie sich an, mich zu begleiten. Da füllten meine Augen sich mit Tränen. Ich suchte Clementina; sie war verschwunden. Ich tat, wie wenn ich etwas in meinem Zimmer vergessen hätte, und ging in die Schlafkammer meiner Hebe. Ich fand sie in einem entsetzlichen Zustande: ihr Schluchzen erstickte sie. Ich schloß sie in meine Arme und vermischte meine Tränen mit den ihrigen. Sie konnte kein Wort hervorbringen. Ich legte sie auf ihr Bett, drückte einen letzten Kuß auf ihre zitternden Lippen und riß mich los von diesem Ort, wo ich so süße und so schmerzliche Erinnerungen zurückließ.

Nachdem ich allen, auch dem guten Domherrn, der sich zum Abschied eingefunden hatte, meinen Dank ausgesprochen und sie alle umarmt hatte, flüsterte ich Eleonoren ins Ohr, sie möchte schnell zu ihrer Schwester gehen, und sprang in den Wagen, worin mein lieber Graf bereits saß. Wir sprachen kein Wort miteinander, sondern schliefen während der ganzen Fahrt, bis Clairmont vor dem Hause den Wagenschlag aufmachte. Wir fanden den Marchese Triulzi bei der Spanierin, die uns nicht erwartete; der liebenswürdige Stellvertreter meines Freundes ließ schnell ein Mittagessen für vier Personen holen. Zu meiner nicht geringen Überraschung wußten sie, daß wir in Mailand diniert hatten, und die Gräfin hatte große Lust, uns ihren Verdruß fühlen zu lassen, weil wir ihr unseren Besuch nicht gemeldet hätten. Zum Glück beschwichtigte der Marchese, der nie um eine Ausrede verlegen war, die schöne Dame, indem er ihr sagte, es sei nur Zartgefühl von meiner Seite gewesen, denn ich habe ihr die Mühe ersparen wollen, ein Mittagessen für so viele Personen herzurichten.

Bei Tisch erklärte ich, daß ich sehr bald nach Genua abreisen würde; zu meinem Unglück bot mir der Marchese einen Empfehlungsbrief an die berühmte Kokette Signora Isolabella an; die Gräfin versprach mir einen anderen an ihren Verwandten, den Bischof von Tortona.

Ich war in Mailand gerade zur rechten Zeit angekommen, um von meiner Teresa Abschied zu nehmen, die nach Palermo abreisen wollte. Ich sprach mit ihr von den Wünschen Don Cesarinos und bemühte mich nach Möglichkeit, sie zu bestimmen, ihn seiner Neigung folgen zu lassen. Sie antwortete mir: »Ich lasse ihn in Mailand; ich weiß, wo seine Leidenschaft entstanden ist, und ich werde mich niemals bereit finden lassen, seinen Wünschen in dieser Richtung nachzugeben. Übrigens hoffe ich, daß er bei meiner Rückkehr seine Ansichten geändert haben wird.«

Sie täuschte sich: mein Sohn änderte sich nicht, und in fünfzehn Jahren werden meine Leser mehr von ihm erfahren.

Nachdem ich mit Greppi abgerechnet hatte, nahm ich Wechsel auf Marseille und eine Anweisung von zehntausend Franken auf Genua, wo ich nach meiner Meinung nicht viel Geld nötig haben konnte. Trotz meinem Glück im Spiel reiste ich von Mailand mit tausend Zechinen weniger ab als ich bei meiner Ankunft gehabt hatte. Ich hatte allerdings auch außerordentlich viel Geld ausgegeben.

Alle meine Nachmittage verbrachte ich bei der schönen Marchesa Q.; bald war ich mit ihr allein, bald war ihre Base anwesend. Aber mein Herz war noch voll von der Erinnerung an Clementina, und darum schien mir die junge Marchesa nicht mehr dieselbe zu sein wie vor drei Wochen.

Ich hatte keinen Grund, dem Grafen A. B. ein Geheimnis daraus zu machen, daß ich das Fräulein aus Marseille mitnahm. Ich ließ daher von Clairmont ihr Köfferchen abholen und bezahlte der schönen Zenobia die kleinen Auslagen, die sie gemacht hatte. Am Tage meiner Abreise kam um acht Uhr morgens das Fräulein, sauber gekleidet zu mir.

Ich küßte der Gräfin, die nach meinem Leben getrachtet hatte, die Hand und dankte ihr für ihre liebenswürdige Gastfreundschaft, der ich, wie ich sagte, es verdankte, daß ich in so guter Gesellschaft von Mailand abreise. Hierauf dankte ich dem Grafen, der mich wiederholt seiner ewigen Dankbarkeit versicherte, und reiste ab. Wir schrieben den 20. März des Jahres 1763. Ich bin niemals wieder nach dieser prächtigen Hauptstadt zurückgekehrt.

Die junge Dame, die ich aus Achtung vor ihr und ihrer Familie Crosin nennen will, war reizend. Sie hatte einen edlen Anstand, welcher Achtung einflößt und einen Ton der Zurückhaltung, der auf eine sorgfältige Erziehung schließen ließ. Als ich sie so neben mir sitzen sah, wünschte ich mir Glück, daß ich keine Gefahr für mich sah, mich in sie zu verlieben; der Leser aber ahnt wohl schon, daß ich mich irrte. Ich sagte Clairmont, daß ich sie für meine Nichte ausgeben wolle, und befahl ihm, sie mit aller erdenklichen Rücksicht zu behandeln.

Da ich niemals Gelegenheit gehabt hatte, sie zum Sprechen zu bringen, so wünschte ich vor allen Dingen festzustellen, wes Geistes Kind sie sei, und obwohl ich nicht im geringsten die Absicht hatte, ihr den Hof zu machen, so empfand ich doch das Bedürfnis, ihr Freundschaft einzuflößen und ihr Vertrauen zu gewinnen.

Die Wunde, die meine letzte Liebe meinem Herzen geschlagen hatte, blutete noch; darum freute ich mich, daß ich imstande war, die junge Marseillerin ihrem Vater zurückzugeben, ohne mir einen Zwang aufzuerlegen und ohne etwas bereuen zu müssen. Ich freute mich im voraus meiner in Aussicht stehenden guten Handlung und bildete mir etwas darauf ein, soviel Selbstbeherrschung zu besitzen, daß ich mit einem sehr hübschen Mädchen zusammenleben konnte, ohne einen anderen Wunsch zu verspüren, als das heroische Interesse, sie vor der Schande zu bewahren, in die sie hätte versinken können, wenn sie die Reise ganz allein hätte machen müssen oder wenn sie nicht das Glück gehabt hätte, mir zu begegnen, nachdem ihr Verführer sie verlassen hatte. Sie fühlte denn auch dies alles und sagte zu mir: »Ich bin überzeugt, Herr de la Croix hätte mich niemals verlassen, wenn er Ihnen nicht in Mailand begegnet wäre.«

»Ich bewundere Sie, mein Fräulein, teile jedoch keineswegs die gute Meinung, die Sie von ihm haben. In meinen Augen hat Croce geradezu als schlechtes Subjekt gehandelt, um es nicht stärker auszudrücken; denn so anziehend Sie auch sind, konnte er doch nicht mit Bestimmtheit auf mich rechnen. Ich will nicht sagen, daß er Sie verächtlich behandelt hat, denn möglicherweise wurde er von der Verzweiflung fortgerissen; so viel aber ist gewiß, da er Sie in solcher Weise verlassen konnte, so liebte er Sie nicht mehr.«

»Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Als er sich ohne Mittel sah, mußte er mich verlassen oder sich das Leben nehmen.«

»Weder das eine noch das andere. Er mußte alles was Sie haben, verkaufen und Sie nach Marseille zurückbringen. Sie konnten mit geringen Kosten nach Genua gelangen und von dort wären Sie auf dem Wasserwege nach Marseille gereist. Croce hat darauf gerechnet, daß ihr hübsches Gesicht mir Teilnahme einflößen werde, und er hat sich nicht geirrt; aber Sie begreifen wohl, welcher Gefahr er Sie ausgesetzt hat. Glauben Sie mir, mein Fräulein, wenn man wirklich liebt, ist schon der bloße Gedanke daran unerträglich. Sie werden sich nicht beleidigt fühlen, wenn ich Ihnen eine Wahrheit gestehe: hätten Sie nicht, als Sie mich um einen Besuch baten, einen tiefen Eindruck auf meine Sinne gemacht, so hätte ich für Sie nur eine mitleidige Teilnahme empfunden, und solche Teilnahme veranlaßt nicht eben zu großen Opfern. Aber ich habe unrecht, daß ich Croce tadele; dies ist Ihnen peinlich, denn ich sehe klar und deutlich, daß Sie ihn lieben.«

»Das gebe ich zu. Ich beklage ihn. Was mich selbst betrifft, so beklage ich nur mein grausames Geschick. Ich werde ihn nicht mehr sehen, aber ich werde auch keinen Menschen mehr lieben, denn mein Entschluß steht fest: ich werde mich in ein Kloster zurückziehen, um dort meinen Fehltritt zu sühnen. Mein Vater hat ein ausgezeichnetes Herz; er wird mir verzeihen. Ich war ein Opfer der Liebe; mein Wille war nicht frei. Von Croce verführt, hatte ich die Vernunft verloren; aber ich muß mich allein dafür bestrafen, daß ich nicht gegen die Täuschung meiner Sinne auf der Hut gewesen bin. Wenn ich übrigens reiflich darüber nachdenke, sehe ich in meiner Handlungsweise kein Verbrechen, sondern nur einen Fehltritt.«

»Sie wären also von Mailand mit Croce fortgegangen, wenn er es Ihnen gesagt hätte? Sie wären sogar zu Fuß gegangen?«

»Verlassen Sie sich darauf! DaS wäre ja meine Pflicht gewesen; aber er liebte mich zu sehr, als daß er mich dem beschwerlichen und elenden Leben, das er vor sich sah, hätte aussetzen mögen.«

»Er sah es nicht vor sich, sondern war schon mitten darin. Ich bin überzeugt: wenn Sie ihn in Marseille finden, werden Sie wieder zu ihm gehen.«

»Oh nein, niemals! Mit meiner Vernunft erlange ich allmählich meine Freiheit wieder, und der Tag wird kommen, da ich Gott danken werde, ihn ganz und gar vergessen zu haben.«

Die Aufrichtigkeit des jungen Mädchens gefiel mir, und da ich die Macht der Liebe kannte, so beklagte ich sie aufrichtig. Sie erzählte mir zwei Stunden lang ausführlich die ganze Geschichte ihrer unglücklichen Leidenschaft, und da sie gut erzählte, so machte sie mir Vergnügen, und ich begann Geschmack an ihr zu finden.

Mit Einbruch der Nacht kamen wir in Tortona an; ich beschloß, dort zu übernachten, und befahl Clairmont, uns ein Abendessen nach meinem Geschmack herrichten zu lassen. Bei Tisch entfaltete meine angebliche Nichte einen Geist, über den ich sehr erstaunt war. Auch bot sie mir im Essen die Spitze, denn sie hatte einen ausgezeichneten Appetit; das Glas in der Hand, konnte sie es mit jedem gleichaltrigen jungen Mädchen aufnehmen. Sie war lustig, aber anständig, scherzte im Ton der guten Gesellschaft und war entzückend, weil sie nicht mehr von ihrem Liebhaber sprach. Als wir von Tisch aufstanden, sagte sie bei irgendeiner Gelegenheit ein so treffendes und pikantes Scherzwort, daß ich laut auflachen mußte und daß sie mich vollends eroberte. Ich umarmte sie mit überströmendem Gefühl, und da ich auf ihrem reizenden Munde einem Kuß begegnete, der ebenso heiß war wie mein eigener, so fühlte ich, daß die Liebe sich allen Ernstes einmischte. Weil ich in meiner stürmischen Liebesglut keine Zeit hatte, meine Worte abzuwägen, fragte ich sie, ob es ihr recht wäre, wenn wir uns mit einem einzigen Bett begnügten.

Als ich diese Einladung ohne alle Umschweife vorbrachte, malten Überraschung und Furcht sich auf ihrem Antlitz, und mit ernster Miene, aber in jenem Tone der Unterwürfigkeit, die alle Begierden tötet, antwortete sie mir: »Ach, Sie sind der Herr und haben zu befehlen! Wenn aber die Freiheit ein kostbares Gut ist, so ist sie es besonders in der Liebe.«

»Von Gehorsam oder auch nur Gefälligkeit ist gar nicht die Rede, mein Fräulein. Sie haben mir Liebe eingeflößt; aber wenn Sie dieses Gefühl nicht teilen, so kann ich es in seiner Geburt ersticken. Wie Sie sehen, haben wir hier zwei Betten; Sie können nach Ihrem Belieben wählen.«

»Dann werde ich mich also in dieses da legen; sollte aber darum Ihre gütige Teilnahme für mich sich vermindern, so würde mich dies unglücklich machen.«

»Nein, nein! Fürchten Sie das nicht, reizende Französin! Sie werden mich Ihrer Achtung nicht unwürdig finden. Gute Nacht; lassen Sie uns gute Freunde sein!«

Ihr Bett stand hinter einem Wandschirm. Sie wünschte mir gute Nacht und legte sich dann in vollem Vertrauen zu Bett; denn wie ich einige Tage darauf von ihr selber erfuhr, hatte sie sich völlig entkleidet.

Am nächsten Tage schickte ich in der Frühe dem Bischof den Brief, den die Gräfin mir gegeben hatte.

Als ich eine Stunde darauf mit meiner Nichte beim Frühstück saß, kam ein alter Priester und lud mich nebst der Dame, die in meiner Gesellschaft wäre, zum Mittagessen ein. In dem Brief der Gräfin stand nichts von einer Dame; aber der Prälat war Spanier und sehr höflich; darum fühlte er, daß ich meine wirkliche oder angebliche Nichte nicht allein in einem Gasthof lassen konnte und daher seine Einladung nicht angenommen haben würde, wenn er nicht zugleich mit mir auch sie gebeten hätte. Wahrscheinlich hatte Monsignore ihre Anwesenheit durch seine Lakaien erfahren, die in Italien eine Art von freiwilligen Spionen sind und ihren Herren die Skandalchronik der Stadt hinterbringen. Schließlich braucht ja doch ein Bischof noch etwas besseren Zeitvertreib als sein Gebetbuch, seitdem die apostolischen Tugenden unmodern geworden und veraltet sind. Kurz und gut, ich nahm die Einladung an und bat den abgesandten Priester, Seiner Gnaden meine Ehrfurcht zu vermelden. Meine Nichte war in reizender Laune und behandelte mich, wie wenn ich keinen Grund gehabt hätte, darüber empfindlich zu sein, daß sie ihr Bett dem meinigen vorgezogen. Dies gefiel mir, denn bei kaltem Blute sah ich wohl ein, daß sie sich erniedrigt haben würde, wenn sie anders gehandelt hätte. Ich war nicht einmal gereizt, was doch unter solchen Umständen sonst natürlich ist. Selbstgefühl und vielleicht auch Vorurteil machen es einer geistvollen Frau zur Pflicht, sich den Wünschen eines Liebhabers nicht eher zu ergeben, als bis er annehmen darf, daß er sie durch seine Aufmerksamkeiten verführt hat. Ich hatte sie so ganz leichthin eingeladen, mein Bett zu teilen; aber ich hätte dies nicht getan, wäre ich nicht durch die Dünste des Pomad und des Champagners umnebelt gewesen, mit denen wir die von dem Wirt uns vorgesetzten Speisen reichlich befeuchtet hatten. Die Einladung des Bischofs hatte ihr geschmeichelt, aber sie wußte nicht, ob ich dieselbe auch für sie angenommen hätte, und sie fühlte sich vor Freude beinahe in den Himmel erhoben, als ich ihr ankündigte, daß wir zusammen zum Essen gehen würden. Sie machte sich zurecht und kleidete sich für eine Reisende sehr gut. Zum Mittag holte der Wagen Seiner bischöflichen Gnaden uns ab.

Ich sah vor mir einen hochgewachsenen Prälaten, denn er war um zwei Zoll größer als ich; trotz seinen achtzig Jahren war er frisch, gut auf den Beinen und in jeder Beziehung stattlich, obgleich ernst wie ein spanischer Grande. Er empfing uns mit einer Liebenswürdigkeit, die viel von der ausgesuchten Höflichkeit der Franzosen an sich hatte. Als meine Nichte ihm die Hand küssen wollte, zog der Prälat dieselbe freundlich zurück und reichte ihr das prachtvolle Kreuz von Amethysten und Brillanten, das er um den Hals trug. Sie küßte es herzlich und sagte dabei: »Das liebe ich.« Dabei warf sie mir einen Seitenblick zu, und dieser Scherz, der eine Anspielung auf Croce enthielt, überraschte mich.

Wir setzten uns zu Tische, und ich fand in dem Bischof einen liebenswürdigen und gelehrten Mann. Wir waren zu neun, denn außer vier Priestern, die ich für seine täglichen Tischgenossen hielt, hatte Monsignore zwei junge Kavaliere eingeladen, die meiner Nichte alle Aufmerksamkeiten erwiesen, wie sie in der guten Gesellschaft üblich sind; sie erwiderte diese wie eine Dame, die an solchen Ton gewöhnt ist. Ich bemerkte, daß der Bischof, der sehr oft das Wort an sie richtete, nicht ein einziges Mal ihr hübsches Gesicht ansah. Monsignore kannte die Gefahr und setzte als vernünftiger Greis sich ihr nicht aus. Nach dem Kaffee verabschiedeten wir uns und um vier Uhr fuhren wir von Tortona ab, um in Novi zu übernachten.

Während dieser kurzen Nachmittagsfahrt belustigte meine schöne Marseillerin mich durch tausend liebenswürdige und geistreiche Bemerkungen. Beim Abendessen brachte ich das Gespräch auf den Bischof und dann auf die Religion, um einmal zu sehen, was für Grundsätze sie hätte. Als ich in ihr eine gute Christin fand, fragte ich sie, wie sie sich den zweideutigen Scherz habe erlauben können, als sie das Kreuz des Prälaten küßte.

»Daran waren nur der Zufall und die Gelegenheit schuld«, antwortete sie. »Die Zweideutigkeit ist unschuldig, denn ich hatte die Anspielung nicht vorher überlegt; hätte ich Zeit zum Nachdenken gehabt, so würde der schlechte Witz nicht aus meinem Munde gekommen sein.«

Ich tat, wie wenn ich ihr glaubte, denn schließlich war es möglich, daß sie aufrichtig war. Das Mädchen hatte viel Geist, und die Begierden, die sie mir einflößte, wurden immer feuriger; aber meine Eitelkeit hielt die Liebe im Zaum. Als sie zu Bett ging, vermied ich es, sie zu umarmen; da sie jedoch keinen Bettschirm hatte, so entkleidete sie sich erst, als sie glaubte, daß ich eingeschlafen wäre. Am nächsten Tage kamen wir gegen Mittag in Genua an.

Pogomas hatte für mich eine Privatwohnung gemietet und mir deren Adresse gesagt. Ich stieg dort ab und fand vier sehr gut möblierte Zimmer in schöner Lage; sie waren in jeder Beziehung komfortabel, wie die Engländer sagen, die sich so gut auf alle Annehmlichkeiten des Lebens verstehen. Nachdem ich ein gutes Mittagessen bestellt hatte, ließ ich Pogomas von meiner Ankunft in Kenntnis setzen.