Siebzehntes Kapitel


Margherita. – Die Buonaccorsi. – Die Herzogin von Fiano. – Kardinal Bernis. – Die Prinzessin von Santa-Croce. – Menicuccio und seine Schwester.

Ich hatte mich entschlossen, sechs Monate in der größten Ruhe in Rom zu verbringen und mich nur mit dem Studium der Stadt zu beschäftigen, andere Bekanntschaften aber zu vermeiden. Am Morgen nach meiner Ankunft nahm ich eine hübsche Wohnung gegenüber dem Palast des spanischen Gesandten, damals Monsignore d’Aspura. Zufällig war es dieselbe Wohnung, die vor siebenundzwanzig Jahren der Sprachlehrer inne hatte, bei dem ich Stunden nahm, als ich beim Kardinal Acquaviva war. Die Wirtin war die Frau eines Kochs, der wöchentlich nur einmal bei seiner Frau schlief. Sie hatte eine Tochter von sechzehn oder siebzehn Jahren, die trotz ihrer etwas dunklen Hautfarbe sehr hübsch gewesen wäre, wenn nicht die Pocken sie eines Auges beraubt hätten. Man hatte ihr ein falsches Auge eingesetzt, dessen Farbe und Größe nicht zu dem natürlichen Auge paßten, und dies verlieh ihr ein geradezu unangenehmes Aussehen. Margherita, so hieß meine junge Wirtstochter, machte durchaus keinen Eindruck auf mich; trotzdem machte ich ihr ein Geschenk, das ihr unendlich wertvoll war. Ein englischer Augenarzt, Ritter Taylor genannt befand sich damals in Rom; durch ihn ließ ich ihr ein Emailleauge machen, das ihrem echten Auge täuschend ähnlich war. Dieses Geschenk brachte Margherita auf den Gedanken, daß ich mich binnen vierundzwanzig Stunden in sie verliebt hätte, und ihre Mutter, die sehr fromm war, schwebte in großer Angst, ihr Gewissen zu belasten, indem sie ein voreiliges Urteil über meine Absichten fällte. Dies alles entdeckte ich sehr bald, da ich mit Margherita sehr gut bekannt wurde.

Ich vereinbarte mit der Mutter den Preis für gutes, aber nicht übertriebenes Mittag- und Abendessen. Da ich dreitausend Zechinen besaß, so nahm ich mir vor, so zu leben, daß ich in Rom nicht nur keines Menschen bedürfte, sondern sogar eine anständige Rolle spielen könnte.

Am nächsten Tage fand ich Briefe auf mehreren Postämtern vor, und der Bankvorsteher Belloni, der mich seit langer Zeit kannte, war von den Wechseln, die ich überbrachte, bereits in Kenntnis gesetzt. Herr Dandolo, stets mein getreuer Freund, schickte mir zwei Empfehlungsbriefe, von denen der eine an den venetianischen Gesandten Erizzo adressiert war. Es war der Bruder des früheren Gesandten in Paris. Dieser Brief machte mir das größte Vergnügen. Der andere war an die Herzogin von Fiano von ihrem Bruder, Herrn von Zuliani, gerichtet.

Ich sah mich also in der Lage, zu allen großen Häusern Roms Zutritt zu erhalten, und machte mir ein wahres Vergnügen daraus, mich dem Kardinal Bernis erst vorzustellen, wenn ich bereits in der ganzen Stadt bekannt wäre.

Ich nahm weder Wagen noch Bedienten; denn dies ist in Rom durchaus nicht notwendig, da man dort beides sofort findet, wenn das Bedürfnis sich geltend macht.

Mein erster Besuch galt der Herzogin von Fiano. Sie war sehr häßlich und nicht eben reich, aber sie hatte einen ausgezeichneten Charakter, obgleich sie, um ihren Mangel an Geist zu verdecken, den Entschluß gefaßt hatte, recht boshaft zu sein, damit man sie für geistreich hielte.

Ihr Gemahl, der Herzog, der auch den Namen Ottoboni trug, hatte sie nur geheiratet, um sich einen Erben zu verschaffen. Aber der arme Teufel war babilano, wie man in Rom sagt, mit anderen Worten impotent. Dies vertraute die gute Herzogin mir schon bei meinem dritten Besuch an. Sie sagte es mir jedoch nicht in einem Ton, wie wenn sie ihn nicht liebte, oder wie wenn sie bedauert oder getröstet werden wollte, sondern nur um sich über ihren Beichtvater lustig zu machen, dem sie diesen Umstand anvertraut hatte, und der ihr gedroht hatte, ihr die Absolution zu verweigern, wenn sie fortführe, sich über den Zustand ihres Gemahls zu beklagen, und wenn sie irgendein Mittel anwendete, um ihn von seiner Ohnmacht zu heilen.

Die Herzogin gab jeden Abend ihrem aus sieben oder acht Personen bestehenden Kreise ein kleines Souper; zu diesen Mahlzeiten wurde ich erst nach zehn Tagen zugelassen, als alle mich kannten und meine Gesellschaft zu lieben schienen. Der Herzog war eine Art Uhu und liebte keine Gesellschaft; er speiste auf seinem Zimmer.

Der Fürst von Santa-Croce war der Cavaliere servente der Herzogin, und die Fürstin wurde vom Kardinal Bernis bedient. Die Fürstin war eine Tochter des Marchese Falconieri; sie war jung, hübsch, lebhaft und ganz dazu angetan, den Männern zu gefallen; aber sie war eifersüchtig auf den Besitz des Kardinals und ließ keiner anderen Dame die Hoffnung, ihren Platz einzunehmen.

Der Fürst war ein schöner Mann von edlen Manieren und mit einem recht scharfsinnigen Geist begabt, dessen er sich jedoch nur bediente, um geschäftliche Spekulationen zu machen; er war mit Recht überzeugt, daß er seiner vornehmen Geburt nichts vergab, indem er sein Vermögen durch Operationen vermehrte, zu denen vor allen Dingen Intelligenz nötig sei. Da er nicht gern Geld ausgab, so war er der Kavalier der Herzogin von Fiano geworden, weil diese ihm nichts kostete, und weil er außerdem nicht der Gefahr ausgesetzt war, sich in sie zu verlieben. Der Fürst war nicht fromm, aber er war Jesuit von der kurzen Robe in der vollsten Bedeutung des Wortes.

Als ich einige Wochen nach meiner Ankunft mich beklagte, daß einem Gelehrten so viele lästige Schwierigkeiten gemacht würden, wenn er in der römischen Bibliothek arbeiten wollte, erbot er sich, mich dem Superior des Hauses der Gesellschaft Jesu vorzustellen. Ich nahm sein Anerbieten an und wurde von einem der Bibliothekare empfangen, der mich allen Unterbeamten vorstellte; seitdem konnte ich nicht nur auf die Bibliothek gehen, so oft ich wollte, sondern auch die Bücher, die ich brauchte, in meine Wohnung schaffen lassen; ich hatte zu diesem Zweck nur meinen Namen und die Titel der gewünschten Bücher aufzuschreiben. Man brachte mir Kerzen, wenn man annahm, daß ich nicht mehr genügend Licht zum Lesen hätte, und trieb die Höflichkeit so weit, daß man mir die Schlüssel zu einer kleinen Seitentür gab, durch die ich zu allen Stunden eintreten konnte, oft sogar ohne gesehen zu werden.

Die Jesuiten sind stets die höflichsten von den Orden unserer Religion gewesen, ich muß sogar sagen: die einzigen höflichen; aber in der Krisis, in der sie sich damals befanden, waren sie von einer geradezu kriechenden Zuvorkommenheit.

Der König von Spanien verlangte die Unterdrückung des Ordens, und die Jesuiten wußten, daß der Papst sie ihm versprochen hatte; sie glaubten jedoch, der große Schlag könnte niemals geführt werden, und fühlten sich daher beinahe ganz sicher. Sie konnten sich nicht denken, daß der Papst eine übermenschliche Kraft hätte. Sie ließen sogar von dritter Seite darauf aufmerksam machen, daß seine Macht- Vollkommenheit nicht so weit ginge, ihren Orden ohne die Einwilligung eines Konzils aufzuheben; aber sie täuschten sich. Wenn der Pontifex maximus sich nur mit großer Mühe entschließen konnte, die Aufhebungsbulle zu unterzeichnen, so kam dies daher, daß er überzeugt war, mit der Bulle zugleich auch sein Todesurteil zu unterzeichnen; er entschloß sich daher erst dann dazu, als er sich in seiner Ehre bedroht sah. Der König von Spanien, der starrköpfigste aller Despoten, schrieb ihm mit eigener Hand: wenn er den Orden nicht aufhöbe, so würde er in allen europäischen Sprachen die Briefe drucken lassen, die er als Kardinal an ihn geschrieben hätte, und die ihn, den König, veranlaßt hätten, ihm die Tiara des heiligen Petrus auf das Haupt zu setzen.

Ein Papst mit einem anderen Kopf als Ganganelli würde dem König geantwortet haben, der Papst habe die Versprechungen eines Kardinals nicht zu halten, und die Jesuiten würden diese Doktrin unterstützt haben, die durchaus noch nicht die spitzfindigste unter den von den Anhängern des Probabilismus aufgestellten ist; aber Ganganelli liebte im Grunde die Kinder Loyolas nicht: er war Franziskanermönch und kein Edelmann von Geburt; seine Höflichkeit war bäuerisch, und sein Geist war nicht stark genug, um der Scham zu trotzen, die er gefühlt hätte, wenn er als ein Ehrgeiziger bloßgestellt worden wäre, der sein Wort brechen könnte, das er einem großen Herrscher gegeben hätte, um sich auf den Stuhl des vornehmsten Apostels setzen zu können.

Ich muß lachen, wenn ich sagen höre, Ganganelli hat sich durch das Einnehmen von Gegengiften vergiftet. Allerdings gebrauchte er Gegengifte und schützende Arzneien, weil er mit Recht befürchtete, daß man ihn vergiften würde. Er verstand nichts von Medizinen und hätte daher wohl einen solchen Fehler machen können; aber ich habe die moralische Gewißheit – wenn es überhaupt eine moralische Gewißheit gibt, daß der Papst wirklich an Gift starb, aber nicht an seinen Gegengiften.

Meine Gewißheit gründet sich auf folgendes:

In dem Jahre meines Aufenthaltes in Rom, dem dritten Regierungsjahr Klemens‘ des Vierzehnten, verhaftete man eine Frau aus Viterbo, die in einem rätselhaften Stil ganz überraschende Prophezeiungen aussprach. Sie weissagte in dunklen Ausdrücken die Zerstörung der Gesellschaft Jesu, ohne den Zeitpunkt anzugeben, wann dieses große Ereignis eintreten sollte; aber sie sagte sehr klar und deutlich: dieser religiöse Orden werde von einem Papst vernichtet werden, der nur fünf Jahre drei Monate und drei Tage regieren würde, genau so lange wie Sixtus der Fünfte, keinen Tag länger und keinen weniger.

Fast alle lachten über diese Weissagung, als eine Äußerung eines kranken Gehirns, und man sprach bald nicht mehr von der Sibylle von Viterbo, die man jedoch einsperrte.

Ich bitte meine Leser, mir zu sagen, ob ein urteilsfähiger, denkender Mensch an der Vergiftung Ganganellis noch zweifeln kann, da sein Tod die Prophezeiung wahr machte?

Hier gewinnt die moralische Gewißheit die ganze Kraft einer tatsächlichen Gewißheit. Derselbe Geist, der die Pythia von Viterbo abzurichten wußte, verstand es auch, seine Maßregeln so zu treffen, daß die Welt erfuhr, die Jesuiten hätten, wenn sie auch nicht ihre Unterdrückung verhindern konnten, jedenfalls nicht die Macht verloren, sich zu rächen, und wußten von dieser Macht Gebrauch zu machen. Der mächtige Jesuit, der dem Leben Ganganellis zur vorausbestimmten Stunde ein Ende machte, hätte ihn sicherlich vergiften können, bevor er das Breve der Aufhebung des Ordens unterzeichnet hatte; aber alles scheint dafür zu sprechen, daß die Nachfolger Loyolas die Sache erst dann für möglich hielten, als sie bereits vollbracht war. Hätte der Papst nicht den Jesuitenorden aufgehoben, so wäre er auch nicht vergiftet worden, und dann hätte die Weissagung auch nicht gelogen. Es ist zu bemerken, daß Klemens der Vierzehnte genau so wie Sixtus der Fünfte Franziskanermönch war, und daß beide von geringer Herkunft waren. Auffallenderweise wurde nach dem Tode des Papstes die Prophetin in Freiheit gesetzt, indem man sie für wahnsinnig erklärte. Man hörte niemals mehr von ihr sprechen, und obwohl die Prophezeiung durch das Ereignis bestätigt wurde, sagte man in allen gelehrten und adeligen Kreisen hartnäckig, der Papst sei an den Gegenmitteln gestorben, die er zum Schutz gegen Gift eingenommen habe.

Wer vorurteilslos und nicht voreingenommen ist, möge mir sagen, welches Interesse der Papst daran haben konnte, die Weissagung der Frau von Viterbo buchstäblich zu bestätigen? Wenn man mir sagt, das Ereignis könne nur ein Wert des Zufalles gewesen sein, so stopft man mir natürlich den Mund, denn diese Möglichkeit kann ich nicht leugnen; trotzdem werde ich bei meiner Überzeugung bleiben, weil sie auf Wahrscheinlichkeit und Vernunft gegründet ist.

Diese Vergiftung war die letzte Machtäußerung der Jesuiten. Es war ein Verbrechen, weil es nach dem Ereignis stattfand; wäre der Papst vor ihrem Sturz vergiftet worden, so hätte die Politik diese Tat gerechtfertigt; denn wirkliche Politik besteht in Voraussicht und Vorsicht und zögert niemals, die Mittel anzuwenden, die am meisten geeignet sind, den beabsichtigten Zweck möglichst schnell zu erreichen; der elendeste von allen Politikern ist derjenige, der nicht weiß, daß es nichts auf der Welt gibt, was nicht in zweifelhaften Fällen vorsichtshalber geopfert werden müßte.

Als der Fürst von Santa-Croce mich zum zweitenmal bei der Herzogin von Fiano sah, fragte er mich ohne jede Vorrede, warum ich den Kardinal Bernis nicht besuchte.

»Ich gedenke ihm morgen meine Aufwartung zu machen.«

»Gehen Sie ja hin; denn ich habe niemals Seine Eminenz mit so großer Achtung von einem Menschen sprechen hören, wie von Ihnen.«

»Ich habe seit achtzehn Jahren große Verpflichtungen gegen ihn und bewahre ihm eine unerschütterliche Dankbarkeit.«

»Besuchen Sie ihn also; wir alle werden uns freuen.«

Der Kardinal empfing mich am nächsten Tage mit offenbar großer Freude. Er lobte die Zurückhaltung, womit ich zum Fürsten über ihn gesprochen hätte, und sagte mir, er halte es nicht für notwendig, mir Verschwiegenheit in bezug auf unsere Bekanntschaft von Venedig her anzuempfehlen.

»Eure Eminenz sind ein wenig stärker geworden,« sagte ich zu ihm, »im übrigen aber finde ich Sie frisch und durchaus nicht verändert wieder.«

»Sie irren sich, lieber Freund, ich bin in allem anders geworden. Vor allen Dingen bin ich jetzt fünfundfünfzig Jahre alt, während ich damals nur sechsunddreißig zählte; außerdem darf ich nur noch Gemüse essen.«

»Geschieht dies, um die Neigung zu den Freuden der Venus zu töten?«

»Ich möchte gern, daß man es glaubte; aber ich denke, kein Mensch läßt sich dadurch täuschen.«

Er freute sich sehr, als er hörte, daß ich einen Brief für den venetianischen Gesandten besäße, aber ihn noch nicht abgegeben hätte. Er versicherte mir, er werde den Gesandten zu meinen Gunsten stimmen und dieser werde mich gut aufnehmen. »Schon morgen werde ich damit anfangen, das Eis zu brechen,« sagte der liebenswürdige Kardinal; »Sie werden bei mir speisen, und Seine Exzellenz wird es erfahren.«

Er hörte mit Vergnügen, daß ich gut mit Mitteln versehen und daß ich allein war, sowie, daß ich beschlossen hatte, verständig und ohne jeden Luxus zu leben.

»Ich werde diese Nachricht unserer M. M. mitteilen; denn ich stehe immer noch im Briefwechsel mit der schönen Nonne, und ich glaube, sie wird sich darüber freuen.«

Ich machte ihm viel Spaß, indem ich ihm mein Abenteuer mit der Nonne von Chambery erzählte.

»Sie können«, sagte der Kardinal, »den Fürsten von Santa-Croce ruhig bitten, Sie der Fürstin vorzustellen; wir können dann angenehme Stunden miteinander verbringen, aber nicht in der Art jener einstigen Stunden in Venedig; denn die Fürstin hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit M. M.«

»Sie ist aber doch das Entzücken Eurer Eminenz.«

»Ja,in Ermanglung eines Besseren. Sie werden sehen.«

Am nächsten Tage sagte der Kardinal nach Tisch zu mir, Herr Zuliani habe den Botschafter Erizzo von meiner Anwesenheit in Rom benachrichtigt, und dieser habe die größte Lust, mich kennen zu lernen.

Ich war sehr zufrieden mit dem Empfang, den er mir bereitete. Chevalier Erizzo, der Bruder des noch lebenden Prokurators, war ein geistvoller Mann, ein guter Bürger, ein ausgezeichneter Redner und ein großer Politiker. Er machte mir ein Kompliment wegen meiner Reisen und beglückwünschte mich, daß ich mich der Protektion der Staatsinquisitoren erfreute, anstatt von ihnen verfolgt zu werden; denn Herr Zuliani hatte mich ihm mit ihrer Einwilligung empfohlen. Er behielt mich zum Essen bei sich und bat mich, ihm den Vorzug zu geben, so oft ich nichts Besseres zu tun hätte.

Am selben Abend war ich bei meiner Herzogin und bat den Fürsten Santa-Croce, mich seiner Frau vorzustellen.

Er antwortete mir: »Sie selber wünscht dies, seitdem der Kardinal länger als eine Stunde mit ihr über Sie gesprochen hat. Sie können sich jeden Tag um elf Uhr oder um zwei Uhr nachmittags melden lassen.«

Gleich am nächsten Tage ging ich um zwei Uhr hin. Sie lag im Bett und hielt ihre Mittagsruhe; da ich aber den Vorzug hatte, ein Mensch ohne Bedeutung zu sein, so ließ sie mich sofort eintreten. In einer Viertelstunde wußte ich ganz genau, was an ihr war: sie war jung, hübsch, fröhlich, lebhaft, neugierig, lachlustig, sprach und fragte fortwährend und hatte nicht die Geduld, die Antwort abzuwarten oder zu Ende zu hören. Sie kam mir vor wie ein Spielzeug, um Geist und Herz eines genußfreudigen und weisen Mannes zu erheitern, der wichtige Geschäfte hatte und das Bedürfnis fühlte, sich zu zerstreuen. Der Kardinal sah sie regelmäßig dreimal taglich: am Morgen, wenn sie sich anzog, erkundigte er sich, ob sie eine gute Nacht gehabt hätte; am Nachmittag um drei Uhr trank er mit ihr Kaffee, und am Abend sah er sie noch einmal in der Gesellschaft. Dort machte er mit ihr seine Partie Pikett und spielte so geschickt, daß er jeden Abend sechs römische Zechinen verlor, niemals mehr und niemals weniger. Hierdurch wurde die Fürstin die reichste junge Frau in ganz Rom. Ihr Gemahl besaß zwar den Fehler der Eifersucht, aber er war zu vernünftig, um es übel zu nehmen, daß seine Frau eine Pension von achtzehnhundert Franken im Monat hatte, ohne sich etwas vorzuwerfen zu brauchen und ohne der üblen Nachrede den geringsten Stoff zu liefern; denn alles ging in voller Öffentlichkeit vor sich; übrigens war das Geld ehrlich im Spiel gewonnen, und dieses sehr unschuldige Spiel konnte schließlich ja auch wohl eine schöne Frau beständig begünstigen. Warum sollte das Glück nicht verliebt sein?

Der Fürst Sante-Croce mußte einen unendlichen Wert auf die Freundschaft des Kardinals für seine junge Gemahlin legen; sie war sehr fruchtbar und schenkte ihm jedes Jahr ein Kind; manchmal sogar alle neun Monate, obgleich Doktor Salicetti dringend geraten hatte, an ihre Gesundheit zu denken; er hatte ihr gesagt, sie setze sich den größten Gefahren aus, wenn sie wieder schwanger würde, bevor sechs Wochen seit ihrer letzten Niederkunft vergangen wären. Man behauptete, der Fürst, der sich während der letzten Tage der Schwangerschaft seiner Frau hätte enthalten müssen, ginge sofort wieder ans Werk, wenn man das Neugeborene zur Taufe trüge.

Die Freundschaft des Kardinals mit seiner Frau bot dem Fürsten Santa-Croce ferner noch den Vorteil, daß er alle gewünschten Stoffe aus Lyon kommen lassen konnte, ohne daß der Schatzmeister des Papstes sich hineinmischen durfte, denn die Waren wurden an den französischen Botschafter, Kardinal Vernis, adressiert. Die Gönnerschaft des Kardinals schützte ferner das Haus des Prinzen gegen alle diejenigen, die sonst seiner Frau gerne den Hof gemacht hätten, und ohne Zweifel waren die Freier sehr zahlreich. Der Connetabel Colonna war sehr in sie verliebt. Der Fürst hatte eines Tages den vornehmen Herrn unter vier Augen mit seiner Frau in einem Zimmer seines Palastes überrascht, und zwar in einem Augenblick, wo sie sicher war, daß das Glockenzeichen an der Tür nicht die Eminenz anmeldete. Kaum war der Fürst-Connetabel fortgegangen, so befahl der Fürst seiner Gattin, sich bereit zu halten, um mit ihm am nächsten Tage aufs Land zu gehen. Die Frau verwahre sich dagegen und sagte, diese plötzliche Abreise sei nur eine törichte Laune von ihm, und ihre Ehre erlaube ihr nicht, darin einzuwilligen. Der Fürst war jedoch fest entschlossen, und sie hätte nachgeben müssen, wenn nicht der Kardinal während des Streites eingetroffen wäre. Nachdem er die Geschichte aus dem Munde der naiven und unschuldigen Fürstin vernommen hatte, machte er dem Fürsten begreiflich, er müsse um seines Glückes willen allein aufs Land gehen, wenn er dort Geschäfte hätte, und seine Frau ruhig in Rom lassen; in Zukunft werde sie ihre Maßregeln besser treffen, um solche Zusammentreffen zu vermeiden, die stets listig seien, und aus denen Mißverständnisse hervorgehen könnten, die den häuslichen Frieden stören würden.

In weniger als einem Monat war ich den drei Hauptspielern dieser Komödie völlig unentbehrlich geworden. Niemals mischte ich mich in ihre Dispute ein, sondern hörte und bewunderte immer nur, gab stets dem Sieger recht und wurde ihnen dadurch ebenso notwendig, wie ein Marqueur Billardspielern ist. Durch Erzählung oder scherzhafte Erläuterungen füllte ich die verdrießlichen Augenblicke aus, die derartigen Debatten zu folgen pflegen; man kam wieder in gute Stimmung, man fühlte, daß man dies mir verdankte, und belohnte mich dadurch, daß man mich niemals für überflüssig hielt. Ich sah im Kardinal, im Fürsten und in seiner schönen Frau drei liebenswürdige Wesen, die vernünftig und vorurteilsfrei genug waren, um durch unschuldige Mittel ihr Leben glücklich zu machen, ohne dem Frieden und den guten Sitten der Gesellschaft zu nahe zu treten.

Die Herzogin von Fiano war eitel auf ihren Ruf, den sie in Rom hatte, und da sie den Gatten der Frau besaß, die dieser dem Kardinal überließ, so bildete sie sich nicht wenig darauf ein; aber außer ihr selber ließ sich kein Mensch dadurch täuschen. Die gute Dame wunderte sich, warum ich nicht begreifen konnte, daß die Fürstin nur aus unwiderstehlicher Eifersucht niemals zu ihr käme. Eines Tages suchte sie mich mit solchem Feuer hiervon zu überzeugen, daß ich wohl sah, ich würde mich dem Verlust ihrer Huld aussetzen, wenn ich ihr nicht beistimmte.

Ich hatte ihr von Anfang an zugeben müssen, daß es unbegreiflich wäre, wie die Reize der Fürstin den Kardinal hätten blenden können; denn nach ihrer Meinung gab es keine so magere, leichtfertige und flatterhafte Person wie die Fürstin. Ich war durchaus nicht dieser Meinung, denn in meinen Augen war die Fürstin Santa-Croce ein wahres Kleinod für einen genußliebenden und philosophischen Liebhaber wie den Kardinal Bernis.

Manchmal ertappte ich mich darauf, den Prälaten wegen des Besitzes dieses Schatzes glücklicher zu finden als wegen der hohen Würde, zu der ihn Glück und persönliches Verdienst erhoben hatten.

Ich liebte die Fürstin; da ich aber nicht so kühn war, Hoffnungen auf Erfolg zu hegen, so hielt ich mich innerhalb der Grenzen, die mir eine friedliche Fortdauer unseres Verhältnisses sicherten.

Ich hätte es wagen können, und es wäre mir vielleicht geglückt; aber ich hätte mich vielleicht auch getäuscht und den Stolz der Frau beleidigt, die offenbar mehr stolz als verliebt war; ich würde das Zartgefühl des Kardinals beleidigt haben, der trotz seiner Philosophie durch die Jahre und den Kardinalspurpur anders geworden war als zu der Zeit, da wir die schöne M. M. gemeinsam besaßen. Ich erinnerte mich, daß der Kardinal mir gesagt hatte, er empfinde für sie nur die Zärtlichkeit eines Vaters; hierdurch hatte er mir zur Genüge zu verstehen gegeben, daß er es übel nehmen würde, wenn ich mehr zu werden versuchte als der meistbegünstigte ihrer sehr ergebenen Diener.

Übrigens mußte ich mich sehr glücklich schätzen, daß sie sich mir gegenüber nicht mehr Zwang antat als vor ihrer Kammerzofe. Um ihr nach Möglichkeit gefällig zu sein, tat ich, wie wenn ich nichts sähe, während sie überzeugt war, daß ich alles sähe.

Es ist nicht leicht, den Weg zu finden, um die Gunst einer gegen alles so gleichgültigen Frau zu erringen, besonders wenn sie in ihrem Dienst einen König hat – oder einen Kardinal.

Ich war nun seit einem Monat in Rom. Das Leben, das ich führte, war so, wie ich es mir nur wünschen mochte, um glücklich und ruhig zu sein. Margherita hatte schließlich durch ihre Aufmerksamkeiten meine Teilnahme erregt. Da ich keinen Bedienten hatte, so war sie morgens und abends in meinem Zimmer, und ihr falsches Auge war so vorzüglich gemacht, daß ich an ihre Einäugigkeit gar nicht dachte. Sie hatte viel natürlichen Geist, aber nicht die geringste Bildung; sie war eitel, und obwohl ich anfangs gar keine Absicht dabei hatte, schmeichelte ich ihrer Eitelkeit, indem ich abends und morgens mit ihr schäkerte und ihr kleine Geschenke machte, um sich für den Kirchgang am Sonntag putzen zu können. Es dauerte denn auch nicht lange, so bemerkte ich zweierlei: erstens, daß sie sich wunderte, warum ich niemals zu einer Erklärung in Worten oder Taten käme, obwohl ich sie doch offenbar liebte, denn davon war sie überzeugt; zweitens, daß ihre Eroberung nicht schwierig sein würde, wenn ich sie liebte.

Diesen letzten Umstand erriet ich, als ich sie eines Tages bat, mir die kleinen Abenteuer zu erzählen, die sie gewiß von ihrem elften oder zwölften Jahre bis zu ihrem gegenwärtigen Alter von siebzehn oder achtzehn Jahren gehabt hätte; sie erzählte mir Einzelheiten, die sie nur enthüllen konnte, indem sie jede Zurückhaltung beiseite setzte.

Da diese kleinen Skandalgeschichten mir das größte Vergnügen machten, so hatte ich sie daran gewöhnt, mir niemals etwas zu verschweigen; denn ich gab ihr jedesmal, wenn ich an ihrer Erzählung den Charakter der Wahrheit fand, einige Geldstücke; ich gab ihr aber nichts, wenn ich zu bemerken glaubte, daß sie mir Umstände verschwieg, durch deren Einfügung die Geschichte interessanter geworden wäre.

Sie gestand mir, daß sie das nicht mehr hatte, was ein Mädchen nur einmal verlieren kann, und daß eine Freundin von ihr, namens Buonaccorsi, die sie jeden Feiertag besuchte, sich in derselben Lage befand; schließlich nannte sie mir auch den Namen des jungen Mannes, der sie beide entjungfert hatte.

Mein Nachbar war ein junger piemontesischer Abbate, namens Ceruti; wenn ihre Mutter keine Zeit hatte, mußte Margherita ihn bedienen. Als ich sie mit ihm neckte, schwor sie mir, sie hätte kein Liebesverhältnis mit ihm. Das machte mir Spaß, denn mir lag durchaus nichts daran.

Der Abbate war schön, gelehrt und geistvoll; aber er war arm, verschuldet und wegen einer sehr unangenehmen Geschichte in ganz Rom berüchtigt.

Man erzählte sich, er habe einem Engländer, der die Fürstin Lanti liebte, im Vertrauen gesagt, die Fürstin habe zweihundert Zechinen nötig; der Engländer habe ihm das Geld für sie gegeben und der Abbate habe es für sich behalten. Diese Gemeinheit war entdeckt worden, als es zwischen der Dame und dem Insulaner zu einer Aussprache kam. Dieser sagte der Fürstin, er sei bereit, alles für sie zu tun, und rechne dabei die zweihundert Zechinen nicht, die er ihr bereits habe geben lassen.

Überrascht und entrüstet leugnete die Fürstin. Alles klärte sich auf. Der vorsichtige Engländer entschuldigte sich, und dem Abbaten wurde der Zutritt zum Hause der Fürstin versagt, während der Engländer sich weigerte, ihn zu sehen.

Dieser Abbate Ceruti war der Schriftsteller, von dem Bianconi die allwöchentlich erscheinenden römischen Ephemeriden schreiben ließ; er war, wie man zu sagen pflegt, mein Freund geworden, als wir in Margheritas Haus nebeneinander wohnten. Ich hatte bemerkt, daß er sie liebte, und war durchaus nicht eifersüchtig auf ihn, denn ich war nicht in sie verliebt; da er jedoch jung und schön war, so konnte ich mir nicht vorstellen, daß Margherita ihn hart behandelte. Sie versicherte mir jedoch, sie verabscheute ihn und es wäre ihr sehr unangenehm, daß ihre Mutter ihn nicht immer bedienen könnte.

Ceruti hatte einige Verpflichtungen gegen mich; er hatte von mir zwanzig Scudi auf acht Tage geliehen; und es waren bereits drei Wochen vergangen, ohne daß er Wort gehalten hatte. Ich mahnte ihn jedoch nicht und würde ihm sogar noch zwanzig Scudi geliehen haben, wenn er mich darum gebeten hätte.

Wenn ich bei der Herzogin von Fiano zu Abend speiste, kam ich spät nach Hause, und Margherita wartete dann auf mich. Ihre Mutter lag schon zu Bett. Ich behielt das Mädchen eine Stunde oder manchmal auch zwei bei mir und dachte nicht daran, daß unsere geräuschvollen Späße vielleicht dem Abbate mißfallen könnten, der alles hören mußte; denn unsere Zimmer waren nur durch eine dünne Scheidewand getrennt.

Als ich eines Abends gegen Mitternacht nach Hause kam, fand ich zu meiner Überraschung die Mutter auf mich warten.

»Wo ist Ihre Tochter?« fragte ich sie.

»Sie schläft, und ich kann es mit gutem Gewissen nicht mehr erlauben, daß sie die ganze Nacht bei Ihnen bleibt.«

»Aber sie bleibt ja nur so lange bei mir, bis ich zu Bett gehe. Ihre Mitteilung beleidigt mich, denn es liegt darin ein Verdacht, der für mich verletzend ist. Was kann denn Margherita Ihnen gesagt haben? Wenn sie sich über mich beschwert hat, so hat sie gelogen. Morgen werde ich ausziehen.«

»Da würden Sie unrecht tun. Margherita hat mir nichts gesagt; sie behauptete im Gegenteil, Sie scherzten nur.«

»Ganz recht. Haben Sie etwas gegen solches Scherzen einzuwenden?«

»Nein, aber Sie können sonst noch was machen.«

»Und auf diese Möglichkeit hin erheben Sie einen unwürdigen Verdacht, der Ihr Gewissen beunruhigen muß, wenn Sie eine gute Christin sind?«

»Gott soll mich behüten, daß ich Argwohn gegen meinen Nächsten habe! Aber mir ist gesagt worden, Ihr Gelächter und Ihre Scherze seien so laut, daß ohne jeden Zweifel Ihre Unterhaltungen gegen die guten Sitten verstoßen müßten.«

»So hat also mein Nachbar, der Abbate, Sie mit dieser Sache behelligt?«

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wer mich darauf aufmerksam gemacht hat, aber ich weiß Bescheid.«

»Um so besser für Sie! Morgen werde ich ausziehen, damit Ihr Gewissen sich beruhigt.«

»Aber kann ich Sie nicht ebensogut bedienen wie meine Tochter?«

»Nein. Ihre Tochter macht mich lachen, und das tut mir gut. Mit Ihnen wäre es anders. Sie haben mich beleidigt, und ich werde morgen Ihre Wohnung verlassen, denn so etwas darf nicht mehr vorkommen.«

»Es würde mir außerordentlich leid tun wegen meines Mannes; er würde von mir verlangen, daß ich ihm den Grund sage, und dies würde mich in Verlegenheit bringen.«

»Machen Sie das, wie Sie wollen; es ist mir völlig gleichgültig, was Ihr Mann davon denkt, und ich werde morgen ausziehen. Bitte, entfernen Sie sich; ich will zu Bett gehen.«

»Erlauben Sie mir, Sie zu bedienen.«

»Nein. Wenn Sie wünschen, daß ich bedient werde, so schicken Sie mir Margherita.«

»Sie schläft.«

»Wecken Sie sie!«

Die gute Mutter ging hinaus, und zwei Minuten darauf trat die Tochter ein. Sie hatte beinahe nur ein Hemd an, und da sie keine Zeit gehabt hatte, sich ihr falsches Auge einzusetzen, so fand ich sie so komisch, daß ich laut auflachte.

»Ich schlief«, sagte Margherita, »und meine Mutter hat mich plötzlich aufgeweckt und mir befohlen, Sie zu bedienen und Sie zu bitten, daß Sie nicht ausziehen; denn dann würde mein Vater denken, wir hätten irgend etwas Böses miteinander gemacht.«

»Ich werde bleiben; aber Sie werden nach wie vor allein zu mir kommen.«

»Oh, ich komme gern; aber wir dürfen nicht mehr lachen, denn der Abbate hat sich beschwert.«

»Ah, so hat also der Abbate diesen ganzen Lärm gemacht?«

»Das können Sie sich doch denken. Unsere Freude hat ihn geärgert und hat seine Leidenschaft angestachelt.«

»Er ist ein jämmerlicher Kerl, der bestraft werden muß; haben wir gestern gelacht, so werden wir diese Nacht noch mehr lachen.«

Nachdem wir uns hierüber geeinigt hatten, begingen wir tausend Kindereien und lachten dazu absichtlich doppelt laut, um den Bäffchenträger zu ärgern. Als wir seit einer Stunde im schönsten Tollen waren, ging die Türe auf, und die Mutter trat ein.

Sie fand mich mit Margheritas Haube auf dem Kopf und das Mädchen mit einem großen Schnurrbart verziert, den ich ihr mit Tinte angemalt hatte. Bei diesem Anblick mußte die Mutter, die uns vielleicht auf frischer Tat zu ertappen geglaubt hatte, in unser Gelächter einstimmen.

»Nun?« fragte ich sie; »ist dies wirklich ein Verbrechen?«

»Nein; ich sehe, Sie haben recht; aber bedenken Sie, daß Ihre unschuldigen Orgien Ihren Nachbarn am Schlafen verhindern.«

»Mag er anderswo schlafen! Ich werde mir seinetwegen keinen Zwang antun. Ja, ich muß Ihnen sogar sagen, daß Sie zwischen ihm und mir zu wählen haben; denn wenn ich bei Ihnen bleibe, so geschieht dies nur unter der Bedingung, daß Sie ihn fortschicken; sein Zimmer nehme ich.«

»Ich kann ihm erst zum Ende des Monats kündigen, aber ich sehe voraus, daß er meinem Mann Dinge erzählen wird, die den Frieden des Hauses stören werden.«

»Ich verspreche Ihnen, daß er morgen ausziehen und daß er sich hüten wird, etwas zu sagen, überlassen Sie alles mir! Der Abbate wird sofort aus freiem Willen Ihr Haus verlassen, ohne daß Sie die geringste Unruhe zu befürchten haben. In Zukunft aber fürchten Sie für Ihre Tochter, wenn sie mit einem Mann allein ist, ohne zu lachen und zu sprechen. Wenn man nicht lacht, begeht man etwas Ernstes.«

Nach diesem Gespräch entfernte die Mutter sich zufrieden und legte sich zu Bett. Margherita bewunderte die schöne Tat, die ich am nächsten Tage ausführen sollte, und wurde so lustig, daß ich mich nicht enthalten konnte, ihren Reizen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nachdem ich mit ihr eine Stunde verbracht hatte, ohne zu lachen, verließ sie mich sehr glücklich über ihren Sieg.

Am anderen Morgen trat ich in aller Frühe beim Abbaten ein, warf ihm seine Indiskretion vor und forderte ihn auf, sich entweder sofort eine andere Wohnung zu besorgen oder mir unverzüglich die zwanzig Taler zu bezahlen, die er mir schuldig wäre. Er machte allerlei Ausflüchte; als er mich aber unerbittlich sah, sagte er mir, er könne nicht ausziehen, ohne einige kleine Summen zu bezahlen, die er dem Hauswirt schuldig sei, und ohne das Geld zu haben, ein anderes Zimmer auf einen Monat zu bezahlen.

»Gut. Hier sind zwanzig Taler; ich schenke sie Ihnen und ebenso die zwanzig Taler, die Sie mir bereits schuldig sind; aber ziehen Sie noch heute aus und hüten Sie sich, auch nur ein Wörtchen über die ganze Geschichte zu sagen, wenn Sie nicht wollen, daß ich mich für Ihren unversöhnlichen Feind erkläre.«

Nachdem ich mich auf diese Weise des Abbaten entledigt hatte, sah ich mich im Besitz der beiden Zimmer und hatte auf diese Weise eine bequemere Wohnung; ich hatte Margherita zu meiner freien Verfügung, und durch sie wenige Tage später die hübsche Buonaccorsi, die ihr weit überlegen war.

Die beiden Mädchen machten mich mit dem jungen Helden bekannt, der sie verführt hatte.

Er war ein Jüngling von fünfzehn bis sechzehn Jahren mit einem reizenden Gesicht, aber klein von Wuchs. Die Natur hatte ihm ein ungeheures männliches Glied gegeben, und auf Lampsakus würde man ihm ohne Zweifel im Tempel des Priapus Altäre errichtet haben, denn er konnte es mit diesem Gott aufnehmen.

Dieser Jüngling, der sehr freundliche und liebenswürdige Manieren hatte, war von Gefühlen beseelt, die sich weit über die Anschauungsweise eines gewöhnlichen Arbeiters erhoben. Er liebte weder Margharita noch die Buonaccorsi; aber als sie eines Tages ungestört beisammen gewesen waren, hatte er erraten, daß sie neugierig waren, das zu sehen, was sie nicht glaubten, und hatte ihnen die Wahrheit gezeigt. Der Anblick erregte das Bedürfnis einer vollständigeren Befriedigung; er bemerkte es und bot ihnen seine Dienste an. Die beiden jungen Mädchen berieten sich miteinander, und indem sie so taten, als wenn sie ihm nur eine Gefälligkeit erwiesen, gaben sie sich ihm hin, und das doppelte Werk wurde vollzogen. Der junge Mann gefiel mir. Ich versah ihn mit guter Wäsche und Kleidung, und bald hatte er zu mir vollstes Vertrauen. Er war in ein junges Mädchen verliebt, dessen Besitz ihm das höchste Glück dünkte. Aber er war unglücklich, denn sie war in ein Kloster eingesperrt, und da er sie nicht zur Frau erhalten konnte, so war er der Verzweiflung nahe. Er verdiente nämlich täglich nur einen Paolo (elf Soldi) und hatte also nicht einmal genug für seinen eigenen Lebensunterhalt.

Da er mir oft von seiner angebeteten Schönen erzählte, so bekam ich Lust, sie zu sehen. Bevor ich jedoch diese Geschichte erzähle, muß ich erst sagen, in welchen Verhältnissen ich mich in Rom befand.

Eines Tages ging ich aufs Kapitol, um der Verteilung der Preise an die jungen Zöglinge der Mal- und Zeichenschule beizuwohnen. Der erste, den ich dort sah, war Raphael Mengs. Er war mit Pompeo Battoni und zwei oder drei anderen Malern da, um zu bestimmen, welche Arbeiten einen Preis erhalten sollten.

Da ich nicht vergessen hatte, wie der Künstler sich in Madrid gegen mich benommen hatte, so tat ich, wie wenn ich ihn nicht gesehen hätte, aber sobald er mich bemerkte, kam er auf mich zu, begrüßte mich freundlich und sagte: »Mein lieber Casanova, trotz dem, was in Madrid zwischen uns vorgefallen ist, können wir hier in Rom, dem Lande wahrer Freiheit, alles vergessen und miteinander sprechen, ohne dadurch unserer Ehre etwas zu vergeben.«

»Ich sage nicht nein; vorausgesetzt, daß der Gegenstand unseres Zwistes niemals erwähnt wird; denn ich für meinen Teil fühle, daß ich dabei nicht kaltblütig bleiben könnte.«

»Das leugne ich nicht, aber hätten Sie Madrid gekannt wie ich und gewußt, wie notwendig es für mich war, Rücksicht auf die bösen Zungen zu nehmen, so hätten Sie mich nicht in die Lage gebracht, tun zu müssen, was ich nur mit großem Bedauern tat.«

»Es sah nicht danach aus.«

»Ich glaube es, aber um so besser! Ich stand nämlich in dem dringenden Verdacht, Protestant zu sein, und wenn ich mich gegen Ihr Verhalten gleichgültig gezeigt hätte, so hätte ich dadurch die Verdachtgründe bestärkt und mich vielleicht zugrunde gerichtet. Kommen Sie morgen zu mir zum Mittagessen; Bacchus wird unseren Groll ertränken. Wir speisen im Kreise meiner Familie und meiner Freunde. Da Sie, wie ich weiß, mit Ihrem Bruder nicht verkehren, so wird er nicht bei mir sein, übrigens empfange ich ihn auch sonst nicht. Denn wenn ich das täte, würden alle anständigen Leute sich von meinem Hause fernhalten.«

Ich nahm die Einladung an, die den Stempel freimütigster Freundschaft trug, und fand mich pünktlich ein.

Mein Bruder verließ Rom einige Zeit nachher mit dem russischen Gesandten in Dresden, Fürsten Beloselski, mit dem er gekommen war; er hatte die Wiederherstellung seiner Ehre nicht erlangen können, denn der Senator Rezzonico war unerbittlich. Wir sahen uns m Rom nur drei- oder viermal.

Fünf oder sechs Tage vor seiner Abreise hatte ich die angenehme Überraschung, meinen anderen Bruder, den Abbate, bei mir eintreten zu sehen. Er war wie gewöhnlich in Lumpen und verlangte ganz frech Hilfe von mir.

»Woher kommst du?«

»Von Venedig. Dort konnte ich nicht bleiben, weil ich meinen Lebensunterhalt nicht fand.«

»Und wovon gedenkst du in Rom zu leben?«

»Ich werde Messen lesen und französischen Unterricht geben.«

»Du willst Sprachlehrer sein? Du kannst ja nicht einmal deine eigene Sprache.«

»Ich kenne die meinige und auch die französische und habe bereits zwei Schüler.«

»Ich wünsche ihnen Glück zu den Grundsätzen, die du ihnen beibringen wirst. Wer sind sie denn?«

»Der Sohn und die Tochter des Gastwirts, bei dem ich wohne. Aber das genügt nicht, und im Anfang mußt du mich unterstützen.«

»Darauf hast du nicht zu rechnen. Hinaus mit dir!«

Ohne länger auf ihn zu hören, zog ich mich in aller Eile fertig an und ging aus, indem ich Margherita beauftragte, mein Zimmer zu schließen.

Der elende Mensch stellte mich bei allen meinen Bekannten bloß, auch bei der Herzogin von Fiano und sogar beim Abbate Gama. Alle Welt lag mir in den Ohren, ich müßte ihn unterstützen oder ihn von Rom fortschaffen. Das wurde mir sehr lästig. Endlich kam der Abbate Ceruti zu mir und sagte: »Wenn es nicht dahin kommen soll, daß der Taugenichts auf der Straße bettelt, so müssen Sie etwas für ihn tun. Sie können ihn außerhalb Roms unterhalten, wenn Sie täglich drei Paoli opfern. Er ist bereit, die Stadt zu verlassen.« ^

Ich erklärte mich einverstanden, und Ceruti ordnete die Angelegenheit auf eine mir sehr erwünschte Weise. Er sprach mit einem Pfarrer, der sich damals in Rom aufhielt und der den Gottesdienst einer Franziskanerinnen-Kirche besorgte. Dieser Pfarrer nahm meinen Bruder mit, indem er ihm täglich drei Paoli zusicherte, um die Messe zu lesen, außerdem hatte er noch Aussicht, Geschenke zu erhalten, wenn es ihm glückte, als Prediger zu gefallen, denn auf das Predigen legten die Nonnen seines Klosters großen Wert.

Der Abbate Casanova entfernte sich also, und ich kümmerte mich wenig darum, ob er wußte oder nicht wußte, von wem er die drei Paoli erhielt. Solange ich in Rom blieb, fehlten die neun Piaster im Monat, ungefähr fünfzig Franken, ihm niemals. Nach meiner Abreise kehrte er nach Rom zurück; später kam er in ein anderes Kloster, wo er vor dreizehn oder vierzehn Jahren eines plötzlichen Todes starb.

Medini befand sich seit meiner Ankunft in Rom ebenfalls dort, aber wir hatten uns niemals gesehen. Er wohnte in der Ursulinerinnenstraße bei einem päpstlichen Dragoner; er lebte nur vom Spiel und suchte die Fremden zu betrügen, deren er habhaft werden konnte.

Der Taugenichts hatte ein bißchen Glück und ließ von Mantua seine Geliebte mit ihrer Mutter und einem anderen sehr hübschen Mädchen von zwölf bis dreizehn Jahren kommen. Er glaubte größere Vorteile zu haben, wenn er eine größere möblierte Wohnung nähme, und zog daher nach dem Spanischen Platz, wo ich fünf oder sechs Häuser von ihm entfernt wohnte. Dieser Umstand war mir jedoch völlig unbekannt.

Als ich eines Tages beim venetianischen Botschafter speiste, sagte Seine Exzellenz mir: »Sie werden mit einem Grafen Manucci speisen, der von Paris kommt, und sich sehr gefreut hat, als er vernahm, daß Sie in Rom sind. Ich nehme an, daß Sie ihn genau kennen; würden Sie wohl die Güte haben, mir zu sagen, wer dieser Graf ist, den ich morgen dem Heiligen Vater vorstellen soll?«

»Ich habe ihn in Madrid beim Gesandten Mocenigo gekannt; er macht einen guten Eindruck, ist bescheiden und höflich und ein hübscher junger Mensch. Das ist alles, was ich weiß.«

»Wurde er vom spanischen Hof empfangen?«

»Ich glaube es; aber ich kann es nicht bestimmt behaupten.«

»Ich glaube, nein; aber ich sehe. Sie wollen mir nicht alles sagen, was Sie von ihm wissen. Nun, es macht nichts; ich laufe keine Gefahr, wenn ich ihn dem Papst vorstelle. Er behauptet, von dem berühmten Reisenden Manucci aus dem dreizehnten Jahrhundert abzustammen und ein Nachkomme der berühmten Buchdruckerfamille Manucci zu sein, die der Literatur so viel Ehre gemacht hat. Er zeigte mir den Anker in seinem Wappen mit sechzehn Feldern.«

Ich war sehr erstaunt, daß dieser Mensch, der die Rache so weit getrieben hatte, mich sogar ermorden lassen zu wollen, von mir wie von einem vertrauten Freunde sprach. Ich entschloß mich jedoch, meine Gefühle zu verbergen, um zu sehen, wie es weiter kommen würde. Ich sah ihn also erscheinen, ohne ihn meinen gerechten Groll fühlen zu lassen. Als er den Gesandten nach der üblichen Etikette begrüßt hatte, kam er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, um mich zu umarmen und ich wich ihm nicht aus, sondern erkundigte mich nach seinem Gesandten.

Manucci sprach bei Tisch sehr viel; er erzählte, um mich herauszustreichen, zwanzig Lügen, was ich alles in Madrid getan hätte; wahrscheinlich dachte er dabei, wenn er selber lüge, zwinge er mich, ebenfalls zu lügen und meinerseits ihn herauszustreichen.

Ich schluckte alle diese sehr bitteren Pillen hinunter, da es nun einmal nicht anders ging; aber ich war fest entschlossen, gleich am nächsten Tage eine ernsthafte Erklärung herbeizuführen.

Ein Franzose, der mit Manucci gekommen war, ein gewisser Chevalier de Reuville, interessierte mich sehr. Er war nach Rom gekommen, um die Ehe einer Dame, die sich zu Mantua in einem Kloster befand, für ungültig erklären zu lassen. Er war dem Kardinal Galli ganz besonders empfohlen.

Er erzählte uns eine Menge hübscher Geschichten und erheiterte die ganze Gesellschaft. Als wir den Gesandten verließen, nahm ich Manuccis Einladung an, mit ihm in seinen Wagen zu steigen und bis zum Abend spazieren zu fahren.

Als wir mit Einbruch der Dunkelheit zurückkehrten, sagte der Franzose uns, er werde uns einer hübschen Dame vorstellen, bei der wir zu Abend speisen würden und auch eine Pharaobank legen könnten.

Der Wagen hielt am Spanischen Platz dicht bei meiner Wohnung vor einem Hause, und wir gingen nach dem zweiten Stock hinauf. Als ich eintrat, sah ich zu meiner großen Überraschung den Grafen Medini und dessen Geliebte, die der Chevalier sehr gerühmt hatte, die ich jedoch durchaus nicht nach meinem Geschmack fand. Medini begrüßte mich herzlich und dankte dem liebenswürdigen Franzosen, daß er mich veranlaßt hätte, das Vergangene zu vergessen und ihn zu besuchen.

Herr von Reuville machte ein erstauntes Gesicht; um eine Auseinandersetzung zu vermeiden, die vielleicht unangenehm geworden wäre, brachte ich die Unterhaltung auf einen anderen Gegenstand.

Als die Gesellschaft beisammen war, schienen dem Graf Medini genügend viel Spieler vorhanden zu sein. Er setzte sich an einen großen Tisch, legte fünf- oder sechshundert Scudi in Gold und Banknoten vor sich hin und begann abzuziehen. Manucci verlor alles Gold, das er bei sich hatte; Reuville gewann die Hälfte von dem Golde der Bank, und ich begnügte mich mit der Rolle des Zuschauers.

Nach dem Abendessen verlangte Medini von dem Franzosen Revanche, und Manucci bat mich um hundert Zechinen. Ich gab sie ihm und in weniger als einer Stunde hatte er keinen Heller mehr; Reuville dagegen gewann Medini alles Gold ab, bis auf etwa zwanzig oder dreißig Zechinen. Hierauf gingen wir alle nach Hause. Manucci wohnte bei Rolands Tochter, meiner Schwägerin. Ich gedachte ihn dort gleich am nächsten Morgen aufzusuchen; er ließ mir jedoch keine Zeit dazu, denn ich sah ihn in aller Frühe schon bei mir erscheinen.

Nachdem er mir meine hundert Zechinen wiedergegeben hatte, ließ er mir keine Zeit, mich zu besinnen, sondern umarmte mich herzlich, zeigte mir einen starken Kreditbrief auf Belloni und bot mir an, mir soviel Geld zu leihen, wie ich nötig hätte. Ohne von dem Vergangenen ein Wort zu sagen, benahm der eigentümliche junge Mann sich so, daß ich einsah, wir müßten unser beiderseitiges Unrecht vergessen und uns als gute Freunde betrachten.

Bei dieser Gelegenheit trug wieder einmal mein Herz den Sieg über meine Vernunft davon, wie es mir oft geschehen ist. Ich nahm den Frieden an, den er mir anbot.

übrigens war ich nicht mehr in dem Alter, wo der unüberlegte Mut nur durch einen Degenstoß befriedigt werden kann. Manucci war zwar im Unrecht, aber ich sah auch klar und deutlich, daß es ihm leid tat und daß er es gerne wieder gutmachen wollte. Ich erinnerte mich, daß ich vor ihm im Unrecht gewesen war, wenn auch nicht so sehr wie er, und ich fühlte mein Herz beruhigt und meine Ehre befriedigt.

Am dritten Tage speiste ich mit ihm unter vier Augen in seiner Wohnung. Gegen das Ende der Mahlzeit kam der Chevalier de Reuville und kurz darauf Medini. Reuville forderte uns auf, jeder einmal die Bank zu halten. Wir nahmen seinen Vorschlag an, und das war zu seinem Unglück. Manucci gewann das Doppelte von dem, was er das vorige Mal verloren hatte; Reuville verlor vierhundert Zechinen, und ich verlor eine Kleinigkeit. Medini, der nur etwa fünfzig Zechinen verloren hatte, war in Verzweiflung und wollte sich aus dem Fenster stürzen.

Einige Tage darauf reiste Manucci nach Neapel, nachdem er der Geliebten Medinis, die mit ihm soupiert hatte, hundert Louis geschenkt hatte. Trotz dieser unverhofften Einnahme wurde Medini verhaftet, weil er seit seiner Ankunft in Rom mehr als tausend Scudi Schulden gemacht hatte.

Der Unglückliche schrieb mir vom Gefängnis aus jämmerliche Bittgesuche um Hilfe; diese Schreibebriefe übten jedoch auf mich weiter keine Wirkung aus, als daß ich mich seiner sogenannten Familie annahm. Ich hielt mich für meine Auslagen an der jungen Schwester seiner Geliebten schadlos, da ich nicht verpflichtet zu sein glaubte, ohne jeden Vorteil den Großmütigen zu spielen.

Um diese Zeit kam der deutsche Kaiser mit seinem Bruder, dem Großherzog von Toskana, nach Rom. Einer von den Herren seines Gefolges machte die Bekanntschaft der jungen Schönheit und setzte Medini instand, seine Gläubiger zu befriedigen. Er verließ Rom wenige Tage, nachdem er seine Freiheit wiedererlangt hatte; in einigen Monaten werden wir ihn wiederfinden.

Ich lebte glücklich auf meine selbstgewählte Art. Abends ging ich zur Herzogin von Fiano, jeden Nachmittag zur Fürstin Santa-Croce, und die übrige Zeit war ich zu Hause, wo ich Margherita, die hübsche Buonaccorsi und den jungen Menicuccio hatte, der mir so viel von seiner Liebe erzählte, daß ich schließlich Lust bekam, sein Mädchen kennen zu lernen.

Das junge Mädchen, das er liebte, befand sich seit dem zehnten Jahre in einer Art von klösterlicher Wohltätigkeitsanstalt, die sie nur verlassen konnte, um sich mit der Erlaubnis des Kardinals, dem die Verwaltung und Beaufsichtigung des Hauses unterstand, zu verheiraten. Die in dieses Kloster eingesperrten Mädchen erhielten bei ihrem Austritte zweihundert römische Scudi, die sie ihrem Gatten als Mitgift zubrachten.

Menicuccios Schwester befand sich in derselben Anstalt, und er konnte sie jeden Sonntag besuchen; sie kam mit ihrer Erzieherin an das Sprechgitter. Obgleich Menicuccio ihr Bruder war, erlaubte die Klosterordnung nicht, daß sie allein an das Gitter kam.

Vor fünf oder sechs Monaten hatte der junge Mann bei einem seiner gewöhnlichen Besuche seine Schwester mit einem anderen jungen Mädchen kommen sehen, das er vorher noch niemals bemerkt hatte. Er hatte sich sofort sterblich in dieses verliebt.

Da er die ganze Woche arbeiten mußte, so konnte er nur an Feiertagen das Sprechgitter aufsuchen; aber selbst an diesen Festtagen hatte der arme Junge nur selten das Glück, die Geliebte zu sehen, um die er so viele Seufzer ausstieß; in fünf oder sechs Monaten hatte er sich nur etwa achtmal ihrer Gegenwart erfreut.

Seine Schwester kannte seine Liebe und erwies ihm gerne jede Gefälligkeit; aber es stand nicht in ihrer Macht, die Freundin nach ihrem Belieben mit an das Gitter zu führen, und die Oberin um Erlaubnis zu fragen wagte sie nicht, weil sie Verdacht zu erregen fürchtete.

Ich hatte mich also entschlossen, der armen Eingesperrten einen Besuch zu machen. Unterwegs erzählte Menicuccio mir, daß die Frauen, die dieses Haus leiteten, eigentlich keine Nonnen wären; denn sie hätten kein Gelübde abgelegt und trügen keine geistliche Tracht; trotzdem aber kämen sie kaum in Versuchung, ihr Gefängnis zu verlassen, denn draußen in der Welt würden sie ihr Brot erbetteln oder eine dienende Stellung annehmen müssen. Die mannbaren jungen Mädchen verließen das Haus, indem sie die Flucht ergriffen, was sehr schwierig wäre, oder indem sie sich verheirateten, was sehr selten vorkäme.

Wir kamen an ein schlecht gebautes großes Haus, das an einem der Stadttore in öder Gegend lag; denn das Tor führte auf keinen Weg. Als wir das Sprechzimmer betraten, sah ich zu meiner Überraschung ein doppeltes Gitter von gekreuzten Stäben, die so dicht waren, daß ein zehnjähriges Mädchen seine Hand nicht hätte hindurchstecken können, ohne sich zu verletzen. Zwischen dem inneren und äußeren Gitter befand sich ein ziemlich großer Zwischenraum, wodurch die öffnungen scheinbar noch um die Hälfte kleiner wurden; hierdurch wurde es außerordentlich schwierig, die Gesichtszüge der Personen zu erkennen, die sich dicht an das zweite stellten, um so mehr, da der Teil des Sprechzimmers, wo die unglücklichen Gefangenen sich aufhielten, nur von dem unsicheren Licht des für die Besucher bestimmten Teiles notdürftig erhellt wurde.

Der Anblick erfüllte mich mit Entsetzen, und ich fragte Menicuccio: »Wie und wo hast du denn deine Geliebte gesehen? Ich sehe hier nur Finsternisse.«

»Das erste Mal hatte die Erzieherin zufällig eine Lampe bei sich; aber eine solche anzuzünden, ist bei Strafe der Exkommunikation nur gestattet, wenn Verwandte kommen.«

»Wird sie denn heute mit Licht kommen?«

»Das bezweifle ich; denn die Pförtnerin wird ihr gesagt haben, daß ich nicht allein bin.«

»Aber wie ist es dir dann gelungen, deine Freundin zu sehen, die doch nicht deine Verwandte ist?«

»Durch Zufall. Das erste Mal war sie heimlich gekommen, und die Aufseherin meiner Schwester, eine sehr gute Person, sagte nichts. Die anderen Male kam sie auf Bitten meiner Schwester, jedoch ohne Kerze.«

Wirklich erschien bald darauf die Frauengestalt, aber ohne Licht; es war mir unmöglich, die Aufseherin zu überreden, uns welches zu verschaffen. Sie fürchtete, entdeckt und exkommuniziert zu werden.

Da ich sah, daß ich die unschuldige Ursache war, daß mein junger Freund den Anblick der Geliebten entbehren mußte, so wollte ich mich entfernen; aber dies wollte er nicht zugeben. So verbrachte ich an diesem barbarischen Gitter eine peinliche Stunde, die jedoch nicht uninteressant war. Die Stimme von Menicuccios Schwester erregte in mir ein köstliches Gefühl und brachte mich auf den Gedanken, daß die Blinden sich durch das Gehör verlieben müssen. Die Aufseherin war noch nicht dreißig Jahre alt. Sie sagte mir, die Insassen des Hauses würden nach ihrem fünfundzwanzigsten Jahre Aufseherinnen über die jüngeren, und mit fünfunddreißig Jahren stände es ihnen frei, das Haus zu verlassen. Hierzu entschlössen sich jedoch aus Furcht vor der Armut nur sehr wenige.

»Dann haben Sie wohl viele Alte hier?«

»Wir sind hundert, und die Zahl vermindert sich nur durch den Tod oder durch einen Austritt, der selten vorkommt.«

»Aber es treten doch auch einige aus, um sich zu verheiraten; wie fangen denn diese es an, ihren Freiern Liebe einzuflößen?«

»In den zwanzig Jahren, seitdem ich hier bin, habe ich nur vier austreten sehen, um sich zu verheiraten, und diese haben ihren Gatten erst vor dem Altar kennen gelernt. Wer bei dem Kardinal-Protektor eine von uns zur Ehe verlangt, ist ein Narr oder ein Verzweifelter, der zweihundert Piaster braucht. Übrigens erteilt der Kardinal die Erlaubnis nur, nachdem er sich überzeugt hat, daß der Bewerber in seinem Berufe so viel verdient, um seine Frau ordentlich unterhalten zu können.«

»Und wie wird die Auswahl vollzogen?«

»Der Bewerber muß sagen, wie alt seine Frau sein und was sie können muß, und der Kardinal verläßt sich dann auf die Oberin.«

»Ich nehme an, daß Sie gutes Essen und gute Wohnung haben?«

»Keines von beiden. Dreitausend Scudi jährlich können nicht genügen, um die Bedürfnisse von hundert Personen zu bestreiten. Die glücklichsten sind diejenigen, die sich mit ihrer Arbeit etwas verdienen.«

»Und was sind das für Leute, die sich darum bewerben, ihre Töchter in ein solches Gefängnis zu bringen?«

»Arme Leute oder Fromme, welche Furcht haben, daß ihre Töchter dem Laster zur Beute fallen. Aus diesem Grunde werden nur hübsche Madchen bei uns aufgenommen.«

»Und wer urteilt über diese Schönheit?«

»Die Älteren, der Priester, ein Mönch oder der Pfarrer und als letzte Instanz der Kardinal-Protektor; wenn dieser das Mädchen nicht hübsch findet, so verwirft er sie ohne Mitleid, denn er sagt, die häßlichen haben von der Verführung der Welt nichts zu befürchten. Sie können sich also wohl denken, daß wir Unglücklichen, die wir hier sind, diejenigen verfluchen, die uns hübsch gefunden haben.«

»Ich beklage Sie, aber ich wundere mich, daß man nicht die Erlaubnis erhalten kann, Sie in allen Ehren zu sehen; dies würde vielleicht doch manchen veranlassen, eine von Ihnen zur Frau zu begehren.«

»Der Kardinal sagt, er dürfe diese Erlaubnis nicht geben, denn die Übertretung der Gründungsgesetze sei mit Exkommunikation bedroht.«

»Der Begründer dieses Hauses muß in der Hölle sein.«

»Das glauben wir alle, und wir beten nicht dafür, daß er herauskommt. Der Papst sollte diesem Unfug ein Ende machen.«

Ich gab dem Mädchen zehn Scudi und sagte ihr, da ich sie nicht sehen könne, so wolle ich ihr nicht versprechen, ein zweites Mal wiederzukommen. Ich ging mit Menicuccio hinaus, der sich Vorwürfe machte, mir diese langweilige Stunde verschafft zu haben.

Ich antwortete ihm: »Ich sehe voraus, daß ich niemals deine Geliebte und deine Schwester erblicken werde, deren Stimme mir ins Herz gedrungen ist.«

»Es scheint mir unmöglich zu sein, daß Ihre zehn Piaster nicht Wunder wirken.«

»Es muß doch noch ein anderes Sprechzimmer da sein?«

»Ja, aber dieses dürfen bei Strafe der Exkommunikation ohne Erlaubnis des Heiligen Vaters nur Priester betreten.«

Ich begriff nicht, wie eine so abscheuliche Anstalt geduldet werden konnte; denn es war offenbar, daß die armen Eingesperrten nur mit größter Mühe einen Gatten finden konnten. Da jedem Mädchen eine Mitgift von zweihundert Piastern zugesichert war, so hatte der Gründer der Anstalt doch wohl auf zwei Heiraten jährlich rechnen müssen; ich vermutete, daß diese Summen von irgendeinem Gauner zu seinem Nutzen verwendet würden.

Ich teilte meine Gedanken dem Kardinal Bernis in Gegenwart der Fürstin mit. Sie wurde von lebhafter Teilnahme für die Unglücklichen ergriffen und sagte, man müsse dem Papst eine von allen Insassen der Anstalt unterzeichnete Eingabe überreichen, worin sie den Heiligen Vater um Erlaubnis bäten, im Sprechzimmer in allen Ehren und unter denselben Förmlichkeiten wie in anderen Frauenklöstern Besuche zu empfangen.

Der Kardinal bat mich, die Bittschrift aufzusetzen, sie unterzeichnen zu lassen und der Fürstin zu übergeben. Unterdessen werde er einen günstigen Augenblick benützen, den Heiligen Vater von der Sache in Kenntnis zu setzen, und werde die geeignete Person ausfindig machen, um die Eingabe in aller Form zu überreichen.

An der Einwilligung der allergrößten Zahl der Eingesperrten zweifelte ich nicht. Ich setzte die Bittschrift auf, und als ich zum zweiten Male an das Gitter ging, übergab ich sie derselben Aufseherin, mit der ich bereits gesprochen hatte. Sie war von meiner Idee begeistert und versprach mir, bei meinem nächsten Besuch mir die Eingabe mit den Unterschriften aller ihrer Leidensgefährtinnen zurückzugeben.

Sobald die Fürstin Santa-Croce die Eingabe mit den Unterschriften hatte, wandte sie sich an den Kardinal-Protektor Orsini; dieser versprach ihr, mit dem vom Kardinal Bernis schon vorbereiteten Papst darüber zu sprechen. Der Heilige Vater ließ unverzüglich ein Breve ausfertigen, wodurch die Exkommunikation aufgehoben wurde.

Der Kaplan des Hauses erhielt den Auftrag, der Oberin zu sagen, daß sie in Zukunft Besuche im großen Sprechzimmer zu erlauben hätte; die jungen Mädchen, die gerufen würden, wären von einer Aufseherin zu begleiten.

Menicuccio kam freudestrahlend zu mir und erzählte mir diese Neuigkeit, die die Fürstin selber noch nicht kannte. Sie freute sich außerordentlich, als ich sie ihr erzählte.

Papst Ganganelli war ein Ehrenmann und ließ es dabei nicht bewenden. Er befahl, der Verwaltung den Prozeß zu machen und sie über alles in den hundert Jahren seit der Gründung Unterschlagene genau Rechenschaft ablegen zu lassen. Er setzte die Zahl der Zöglinge von hundert auf fünfzig herunter und verdoppelte die Mitgift. Er befahl außerdem, daß jedes Mädchen, das fünfundzwanzig Jahre alt geworden wäre, ohne einen Mann zu finden, mit der Mitgift von vierhundert Talern entlassen werden sollte. Zwölf Matronen von anerkannt gutem Lebenswandel wurden mit festem Gehalt als Aufseherinnen über die jungen Mädchen angestellt, so daß je vier unter der unmittelbaren Leitung einer dieser Frauen standen; zwölf Mägde sollten bezahlt werden, um die groben Arbeiten und die Bedienung im Hause zu verrichten.

Zehntes Kapitel


Ich begehe eine Indiskretion, die Manucci zu meinem grausamsten Feind macht. – Seine Rache. – Meine Abreise von Madrid. – Saragossa. – Valencia. – Nina. – Meine Ankunft in Barcelona.

Wenn diese Erinnerungen, die ich nur niederschreibe, um die Langeweile zu unterbrechen, diese dumpflastende Krankheit, die mich hier in Böhmen tötet und mich vielleicht auch an jedem anderen Ort töten würde, da sie möglicherweise ein unvermeidliches Ergebnis meines Charakters und meines Alters ist – zweier Dinge, die sich beständig im Gegensatz befinden, denn an Jahren bin ich alt, mein Charakter aber ist jung geblieben wie meine Begierden; – wenn, sage ich, diese Erinnerungen jemals das Licht der Welt erblicken, so wird dies erst der Fall sein, wenn ich es nicht mehr sehe. Und wie der scheußliche Mörder Karls des Ersten sagte: »Was macht es mir aus, ob man mich für einen Schelm hält« – so werde ich das Urteil der Welt verlachen können, wie ich es schon im voraus verlache. Da jedoch die Menschheit aus zwei Teilen besteht, der sehr zahlreichen Menge von Unwissenden und Oberflächlichen und der sehr geringen Menge von Gelehrten und Denkern, so wende ich mich an diesen kleinen Teil der Menschheit und nur an ihn; denn nur aus seinem Beifall mache ich mir etwas, und nur sein künftiges Urteil schätze ich – ein Urteil, das ich niemals vernehmen werde, das aber – ich weiß es – meine Wahrhaftigkeit anerkennen wird. Denn warum sollte ich nicht wahr sein? Sich selber täuscht man niemals; und jetzt schreibe ich nur für mich selber.

Ich habe bis jetzt die Wahrheit gesprochen, ohne darauf zu sehen, ob die Wahrheit mir günstig oder schädlich wäre. Meine Lebenserzählung verfolgt keine dogmatischen Zwecke. Wenn man mich jemals liest, werde ich keinen Menschen verderben. Wenigstens ist das nicht mein Wille. Aber meine Erfahrung, meine Laster, wenn man sie so nennen will, und die Tugend, die man wohl in meinem Charakter und in meinen Grundsätzen finden kann – sie werden solchen, die wie die Bienen aus allen Blüten Honig zu saugen wissen, von Nutzen sein können.

Nach dieser Abschweifung, die vielleicht zu lang ist, für die ich aber nur mir selber Rechenschaft schuldig bin, will ich mit der Aufrichtigkeit, deren ich mir bewußt bin, erklären, daß es mir niemals so schwer geworden ist, die Wahrheit zu sagen, wie bei dem, was ich jetzt dem Papier anvertrauen werde: eine verhängnisvolle Indiskretion, eine begreifliche Leichtfertigkeit, die ich mir niemals habe verzeihen können; denn nach so vielen Jahren, nach so vielen Wechselfällen des Lebens zerreißt sie mir noch heute das Herz.

Am nächsten Tage speiste ich beim venetianischen Gesandten und hatte das Vergnügen, von ihm zu vernehmen, daß bei Hof alle Minister und alle Granden, deren Bekanntschaft ich gemacht hatte, von mir die allerbeste Meinung hätten. Drei oder vier Tage darauf kehrte der König mit den Ministern und der königlichen Familie nach Madrid zurück. Wegen der Kolonie in der Sierra Morena verhandelte ich täglich mit den Ministern, und ich stand im Begriff, eine Reise nach jener Gegend zu machen. Manucci, der mir fortwährend eine aufrichtige Freundschaft bezeigte, wollte mich zu seinem Vergnügen begleiten und gedachte, eine Abenteuerin mitzunehmen, die sich Porto-Carrero nannte; sie behauptete, eine Nichte oder Tochter des verstorbenen Kardinals dieses Namens zu sein, und machte daraufhin große Ansprüche, obwohl sie in Wirklichkeit nur die geheime Konkubine des französischen Konsuls in Madrid, Abbé Bigliardi, war.

In dieser günstigen Lage befanden sich meine Verhältnisse, als ein böser Geist einen Lütticher Baron de Fraiture nach Madrid führte. Er war Oberhofjägermeister seines heimatlichen Fürstentums, ein Wüstling, Spieler und Gauner – ein Gauner, wie alle diejenigen, die noch heute behaupten, er sei ehrlich verfahren.

Ich hatte das Unglück gehabt, ihn in Spaa kennen zu lernen, wo ich ihm gesagt hatte, ich würde nach Portugal gehen. Dorthin reiste er mir nach, da er auf meine Bekanntschaft rechnete, um Zutritt zur guten Gesellschaft zu erlangen und seine Börse mit dem Gelde der Dummen zu füllen, die er zu finden hoffte.

Niemals haben die Spieler den geringsten Grund zu der Annahme gehabt, daß ich zu ihrer höllischen Bande gehörte, trotzdem haben sie mich aufs hartnäckigste für einen Falschspieler gehalten.

Sobald der Baron erfuhr, daß ich in Madrid sei, besuchte er mich; und da er anständig aussah und höflich zu reden wußte, so nötigte er mich, ihn gut aufzunehmen. Ich glaubte, er würde mich nicht bloßstellen, wenn ich ihm einige Höflichkeiten erwiese, und vielleicht einige Bekanntschaften vermittelte. Er hatte einen Reisegefährten, mit dem er mich bekannt machte. Dies war ein dicker Franzose, ein Faulenzer, ein unwissender Mensch, aber eben ein Franzose, also liebenswürdig. Solche Leute gehen unbeachtet durch die Welt, wenn man nicht gerade forschende Blicke auf sie wirft, und man denkt selten daran, den Charakter eines Franzosen auszuforschen, der gut auftritt, sich sauber kleidet und, mit einem Wort, das ganze Äußere eines Mannes von gutem Ton hat. Er war von Beruf Rittmeister von jener Sorte von Militärs, die das Glück haben, beständig ein halbes Jahr auf Urlaub zu sein. Vier oder fünf Tage nach seinem ersten Besuch sagte der Baron Fraiture ohne alle Umstände zu mir, er habe kein Geld und bitte mich, ihm doch zwanzig Louis zu geben, die er mir zurückerstatten werde. Ich dankte ihm für sein Vertrauen und sagte ihm, ebenfalls ohne alle Umstände, ich könne ihm bei dieser Gelegenheit nicht gefällig sein, denn ich brauche selbst das bißchen Geld, das ich zur Verfügung habe.

»Aber wir werden irgendein gutes Geschäft machen, und an Geld wird es Ihnen nicht fehlen können.«

»Ich weiß nicht, ob das gute Geschäft zustande kommt, aber ich weiß, daß ich das Notwendige nicht hergeben darf.«

»Wir wissen nicht, was wir anfangen sollen, um unseren Wirt zu beruhigen: sprechen Sie doch mal mit ihm!«

»Wenn ich mit ihm spreche, werde ich Ihnen mehr Schaden als Nutzen bringen, denn er wird mich fragen, ob ich für sie bürgen wolle, und ich werde antworten, Sie seien Kavaliere, die keines Bürgen bedürften. Trotzdem wird der Wirt natürlich denken, daß ich für Sie nicht bürge, weil ich Zweifel hege.«

Da ich ihn auf der Promenade mit dem Grafen Manucci bekannt gemacht hatte, so überredete Fraiture mich, ihn zu diesem zu führen, und ich war so schwach, dies zu tun.

Ihm eröffnete sich einige Tage darauf der Lütticher Baron.

Manucci war dienstwillig, aber selber Falschspieler und schlau; er lieh ihm kein Geld, aber verschaffte ihm jemanden, der ihm ohne Wucherzinsen gegen Pfand lieh.

Fraiture und sein Freund machten einige Spielpartien und gewannen auch etwas; ich mischte mich in keiner Weise in diese Angelegenheiten ein.

Mit meiner Kolonie und mit Dona Ignazia beschäftigt, wollte ich in Frieden leben; hätte ich eine einzige Nacht außer dem Hause verbracht, so hätte ich dadurch die Seele des ausgezeichneten Mädchens beunruhigt, das alles der Liebe opferte.

In jenen Tagen kam der neue venetianische Gesandte Herr Querini in Madrid an, um Herrn von Mocenigo abzulösen, der als Botschafter an den Französischen Hof ging. Dieser Querini besaß wissenschaftliche Bildung, eine Eigenschaft, die Herrn von Mocenigo abging; denn der liebte nur die Musik und die Liebe auf seine besondere Art.

Der neue Gesandte wurde mir wohl geneigt und binnen wenigen Tagen konnte ich mich überzeugen, daß ich auf ihn viel mehr hätte rechnen können als auf Mocenigo.

Baron Fraiture und sein Freund mußten daran denken, Spanien zu verlassen; weder beim Gesandten noch anderswo brachten sie eine Spielpartie zusammen, und sie hatten keine Hoffnung, im Escorial spielen zu können. Sie mußten nach Frankreich zurückkehren, aber sie hatten Schulden in ihrem Gasthof, und für die Reise brauchten sie Geld. Ich konnte ihnen nichts geben, und Manucci glaubte ihnen ebenfalls nichts geben zu können. Wir bedauerten ihr Unglück, aber wir mußten in erster Linie an uns selber denken und daher gegen alle Welt grausam sein.

Eines Morgens kam Manucci verstört und aufgeregt zu mir, ohne mir jedoch zu sagen, was ihn bekümmerte.

»Was hast du, lieber Freund?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe dem Baron Fraiture seit acht Tagen den Zutritt verboten; denn er wurde mir lästig, da ich ihm kein Geld geben konnte. Nun hat er mir einen Brief geschrieben, worin er mir droht, er werde sich heute noch erschießen, wenn ich ihm nicht hundert Pistolen leihe, und ich bin überzeugt, er wird es tun, wenn ich ihm das Geld verweigere.«

»Vor drei Tagen hat er mir dasselbe gesagt. Ich habe ihm geantwortet, ich wolle zweihundert Pistolen wetten, daß er sich nicht töten werde. Aufgebracht über meine Antwort, forderte er mich auf, mich mit ihm zu schlagen. Ich antwortete ihm: da er in einem verzweifelten Zustande wäre, so hätte er entweder einen Vorteil vor mir, oder ich vor ihm. Antworte ihm wie ich, oder antworte ihm überhaupt nicht.«

»Ich kann deinen Rat nicht befolgen. Da hast du hundert Pistolen. Bringe sie ihm und sieh zu, daß du eine Quittung von ihm bekommst.«

Ich bewunderte die schöne Handlung und übernahm den Auftrag. Ich ging zum Baron, den ich sehr verwirrt und verlegen fand; ich wunderte mich jedoch nicht darüber, da ich es mir durch seine Lage erklärte.

Ich dachte mir, seine gute Laune würde wohl zurückkehren, wenn ich ihm sagte, daß ich ihm tausend Franken überbrächte, die der Graf Manucci ihm schickte, um seine Angelegenheiten ordnen und abreisen zu können. Er nahm das Geld, aber ohne irgendwelche Freude oder Dankbarkeit zu bezeigen, und schrieb den Schuldschein nach meinem Diktat. Hierauf versicherte er mir, er werde am nächsten Tage mit seinem Freunde nach Barcelona abreisen und sich von dort nach Frankreich begeben.

Ich brachte Manucci, der immer noch nachdenklich und zerstreut war, die Quittung des Barons und blieb beim Gesandten zum Mittagessen.

Es war das letzte Mal.

Drei Tage darauf wollte ich bei dem Gesandten speisen, als zu meiner großen Überraschung der Türhüter mir sagte, er habe Befehl, mich nicht mehr eintreten zu lassen.

Dies war für mich ein Blitzschlag, dessen Herkunft ich nicht erraten konnte. Ganz vernichtet ging ich nach Hause. Ich schrieb sofort an Manucci, um eine Erklärung für die erlittene Beschimpfung zu erhalten. Filippo brachte mir den Brief uneröffnet zurück. Neue Überraschung. Ich fiel aus den Wolken.

»Was ist geschehen? Ich will eine Erklärung haben, und sollte ich darüber zugrunde gehen!« sagte ich zu mir selbst.

Ich speiste sehr traurig mit Doña Ignazia, ohne ihr etwas von der Ursache meines Kummers zu sagen. Als ich mich eben zur Mittagsruhe hinlegen wollte, brachte Manuccis Bedienter mir einen Brief von seinen Herrn und lief hinaus, obwohl ich ihm sagte, er möchte warten, bis ich den Brief gelesen hätte.

Dieser Brief enthielt einen anderen, offenen, den ich augenblicklich las. Er war vom Baron Fraiture. Der verzweifelte Mensch erbat von Manucci hundert Pistolen als Darlehen und versprach ihm, wenn er ihm das Geld gebe, wolle er ihm einen Feind gerade in dem Manne enthüllen, den er für den treuesten Freund halte.

Manucci nannte mich einen Verräter und Undankbaren und schrieb mir, er sei neugierig gewesen, diesen Feind kennen zu lernen, und habe den Baron Fraiture nach dem Padro San Jeronimo bestellt. Nachdem der Baron sein Ehrenwort erhalten habe, daß er ihm das Geld leihen werde, habe er ihm bewiesen, daß ich dieser Feind sei; denn von mir habe er erfahren, daß zwar der Name, den Manucci trage, echt sei, daß er aber nicht den Rang besitze, den er sich beilege usw.

Manucci führte viele Einzelheiten an, die Fraiture ihm gegeben hatte, und die er nur von mir haben konnte. Er schloß seinen Brief mit dem Rat, ich möchte Madrid so schnell wie möglich und spätestens binnen acht Tagen verlassen.

Vergeblich würde ich versuchen, den Zustand der Niedergeschlagenheit zu schildern, in den mich dieser Brief versetzte. Zum ersten Male in meinem Leben mußte ich mich einer ungeheuerlichen, ohne jeden Grund begangenen Indiskretion schuldig bekennen, einer abscheulichen Undankbarkeit, die sonst nicht in meinem Charakter lag, mit einem Wort, eines Verbrechens, dessen ich mich nicht für fähig gehalten hätte.

Ich schämte mich meiner selber, erkannte das Unrecht in vollem Umfang an und fühlte, daß ich nicht einmal um Verzeihung bitten durfte, da ich keine verdiente. Darum versank ich traurig in eine Art von Verzweiflung.

Obwohl jedoch Manucci mit Recht erzürnt war, mußte ich sagen, daß er einen großen Fehler begangen hatte, indem er seinen Brief mit dem beleidigenden Rat schloß, Madrid binnen acht Tagen zu verlassen. Da er mich genau kannte, so mußte der junge Mann wissen, daß mein Selbstgefühl mir verbot, einen solchen Rat zu befolgen. Er war nicht mächtig genug, fordern zu können, daß ich einen Rat annähme, der einem Befehl von höchster Stelle glich. Nachdem ich das Unglück gehabt hatte, eine unwürdige Handlung zu begehen, durfte ich mich nicht einer zweiten schuldig machen, durch die ich mich zum erbärmlichsten Menschen gemacht und mich für unfähig erklärt hätte, ihm eine andere Genugtuung zu geben.

Kummervoll verbrachte ich den Tag, ohne einen Entschluß fassen zu können. Ich aß nicht zu Abend und ging zu Bett, ohne mich an der Gesellschaft meiner Ignazia erfreut zu haben.

Nachdem ich ziemlich gut geschlafen hatte, so daß ich imstande war, einen vernünftigen Entschluß zu fassen, wie er mir als dem schuldigen Teil zukam, stand ich auf und schrieb dem beleidigten Freunde in einem demütigen Brief das aufrichtigste Schuldbekenntnis. Ich endete mit den Worten: »Wenn Ihre Seele so großmütig ist, wie ich gerne glauben will, so wird mein Brief, der Ihnen meine ebenso tiefe wie aufrichtige Reue zeigt. Ihnen die weitestgehende Genugtuung gewähren müssen. Sollte aber, entgegen meiner Hoffnung, dies Ihnen nicht genügen, so brauchen Sie mir nur zu sagen, was Sie beanspruchen. Ich bin zu allem bereit, wenn es nur nicht ein Schritt ist, der nach Furcht von meiner Seite aussehen würde. Es steht in Ihrem Belieben, mich ermorden zu lassen, aber ich werde von Madrid nur nach meiner Bequemlichkeit abreisen, und wenn ich hier nichts mehr zu tun habe.«

Nachdem ich meinen Brief mit einem nichtssagenden Siegel verschlossen hatte, ließ ich von Filippo, dessen Handschrift Manucci nicht kannte, die Adresse drauf schreiben und schickte ihn mit der Königlichen Post nach Pardo, wohin der König sich begeben hatte.

Ich verbrachte den ganzen Tag auf meinem Zimmer mit Dona Ignazia, die nicht mehr in mich drang, um die Ursache meiner Niedergeschlagenheit zu erfahren, da sie sah, daß meine Stimmung sich gehoben hatte. Auch am nächsten Tag ging ich nicht aus, da ich auf eine Antwort hoffte; aber meine Hoffnung war vergebens.

Am dritten Tage, einem Sonntag, ging ich aus, um dem Fürsten della Cattolica einen Besuch zu machen. Während ich vor der Türe wartete, kam der Türsteher höflich an meinen Wagen und sagte mir ins Ohr, Seine Exzellenz habe Gründe, um mich zu bitten, sie nicht mehr zu besuchen.

Das hatte ich nicht erwartet; aber nach diesem Schlage war ich auf alles gefaßt.

Ich begab mich zum Abbé Bigliardi; ein Lakai meldete mich an und brachte mir den Bescheid, der Herr sei ausgegangen.

Ich stieg wieder in meinen Wagen und fuhr zu Varnier, der mir sagte, er habe mit mir zu sprechen.

»Wollen Sie sich zu mir in den Wagen setzen? Wir werden zusammen die Messe hören.«

Sobald er eingestiegen war, teilte er mir mit, der venetianische Gesandte Mocenigo habe dem Herzog von Medina-Sidonia gesagt, er fühle sich verpflichtet, ihm mitzuteilen, daß ich ein gefährlicher Mensch sei. Der Herzog habe ihm geantwortet: sobald er dies bemerke, werde er Ihnen keinen Zutritt mehr zu seiner Person gestatten.

Diese drei Dolchstöße, die mich in Zeit von einer halben Stunde trafen, ließen mich die ganze Stufenfolge aller schmerzlichen Gefühle durchmachen. Mir war zumute, als wenn ich ersticken solle; – aber ich sagte nichts und hörte mit diesem würdigen Manne zusammen die Messe. Als aber diese zu Ende war, da hätte mich ein Schlagfluß getroffen, wenn ich nicht mein Herz erleichtert hätte, indem ich ihm mit allen Einzelheiten erzählte, warum der Gesandte so zornig war.

Varnier sprach mir sein Bedauern aus und schloß mit den Worten: »So sind die großen Herren, wenn sie sich einmal über Tugend und gute Sitte hinweggesetzt haben. Ich rate Ihnen jedoch, mit keinem Menschen darüber zu sprechen, denn dies könnte Manucci, dem gegenüber Sie leider unrecht haben, nur erbittern.«

Ich fuhr nach Hause zurück und schrieb Manucci, er möchte eine zu unanständige Rache aufgeben, die mich in die Notwendigkeit versetzen würde, indiskret zu werden und alle, die um dem Haß des Gesandten einen Gefallen zu tun, mich beschimpfen zu müssen glaubten, über den wahren Sachverhalt aufzuklären. Ich schickte meinen Brief offen an den Gesandtschaftssekretär Soderini, da ich sicher war, daß dieser ihn weiterbefördern würde.

Hierauf aß ich mit meiner Geliebten zu Mittag und ging dann mit ihr zum Stiergefecht, wo ich zufällig neben der Loge saß, worin Manucci und die beiden Gesandten sich befanden. Ich machte ihnen eine Verbeugung, die sie nicht umhin konnten mir zu erwidern, und sah sie hierauf gar nicht mehr an.

Als am nächsten Tage der Minister Grimaldi mir eine Audienz verweigerte, sah ich, daß ich nichts mehr zu hoffen hatte. Der Herzog von Lossada empfing mich, denn er liebte den Gesandten nicht wegen dessen unnatürlicher sexuellen Neigungen; aber er sagte mir, er sei bereits ersucht worden, mich nicht mehr zu empfangen, und fügte hinzu, bei einer derartigen erbitterten Verfolgung sei leicht vorauszusehen, daß ich vom spanischen Hofe nichts erlangen würde.

Eine derartige Wut war unglaublich. Manucci brüstete sich mit der Macht, die er über den Menschen ausübte, dem er als Gatte diente. Um sich zu rächen, hatte er sich über alle Grenzen der Scham hinweggesetzt.

Ich wollte wissen, ob er Don Emanuel de Roda und den Marques Mora vergessen hätte; ich fand sie bereits benachrichtigt. So blieb nur noch Graf Aranda übrig. Im Augenblick, wo ich mich anschickte, ihn aufzusuchen, kam ein diensttuender Adjutant zu mir und teilte mir mit, Seine Exzellenz wolle mit mir sprechen.

Bei dieser Mitteilung wurde ich vor Schreck ganz kalt; denn in meiner damaligen Stimmung stellte ich mir sofort die übelsten Dinge vor.

Zu der mir bezeichneten Stunde ging ich hin. Ich fand den klugen Denker allein, und er empfing mich mit heiterer Miene. Dies machte mir Mut. Er ließ mich Platz nehmen, und da er mir solche Gnade bisher niemals hatte widerfahren lassen, so fühlte ich mich in angenehmer Stimmung.

»Was haben Sie Ihrem Gesandten getan?« fragte er mich.

»Ihm selber nichts, gnädiger Herr; aber ich habe mit einer unentschuldbaren Leichtfertigkeit seinen süßen Freund Manucci an seiner empfindlichsten Stelle verletzt. Ohne die geringste Absicht, ihm schaden zu wollen, beging ich eine Indiskretion und machte einem elenden Menschen eine vertrauliche Mitteilung, die dieser gemeiner Weise dem Herrn Manucci für hundert Pistolen verkaufte. In seiner Wut hat Manucci den anderen gegen mich vorgeschickt – den anderen, der ihn anbetet und der alles tun muß, was er will.«

»Sie haben unrecht getan, aber was einmal geschehen ist, ist geschehen. Es tut mir leid, daß Sie sich durch diese Unbesonnenheit geschadet haben: Sie begreifen wohl, daß Sie von Ihrem Plan nichts mehr erhoffen können; denn sobald es sich darum handeln würde, Sie anzustellen, würde der König sich bei Ihrem Gesandten nach Ihnen erkundigen.«

»Ich fühle es zu meinem großen Bedauern, gnädiger Herr; aber muß ich denn gehen?«

»Nein. Der Gesandte hat an mich die dringende Bitte gerichtet, Sie ausweisen zu lassen; aber ich habe ihm geantwortet, dies stehe nicht in meiner Macht, solange Sie die Gesetze des Landes nicht übertreten. – Er sagte zu mir: ›Er hat durch Verleumdungen die Ehre eines venetianischen Untertanen verletzt, den zu schützen ich verpflichtet bin.‹ – ›Wenn er ein Verleumder ist,‹ habe ich ihm geantwortet, ›müssen Sie ihn auf dem gewöhnlichen Wege belangen, und wenn er sich nicht rechtfertigen kann, wird man nach der ganzen Strenge des Gesetzes gegen ihn vorgehen.‹ – Zum Schluß hat der Gesandte mich gebeten, Ihnen zu befehlen, daß Sie nicht mit den Venetianern, die gegenwärtig in Madrid sind, über ihn sprechen, und mir scheint, dies könnten Sie mir versprechen, um ihn zu beruhigen.«

»Gnädiger Herr, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, das ich niemals gebrochen habe.«

»Schön; im übrigen können Sie in Madrid bleiben und so wie jetzt weiterleben, solange es Ihnen paßt und ohne irgend etwas zu befürchten. Außerdem wird Mocenigo ja im Laufe der Woche abreisen.«

Dies war mein ganzes Gespräch mit dem hochverdienten Manne. Ich faßte augenblicklich den Entschluß, mich nur noch zu unterhalten und mich nicht mehr damit zu bemühen, irgendwelchen großen Herren den Hof zu machen. Freundschaft allein führte mich oft zu Varnier, zu dem von mir hochgeachteten Herzog von Medina-Sidonia und zum Baumeister Sabattini, der mich ebenso wie seine Frau stets sehr gut aufnahm.

Doña Ignazia besaß mich ganz und gar und wünschte mir oft Glück, mich von alledem befreit zu sehen, was mir früher Sorgen machte.

Nach der Abreise des Herrn von Mocenigo, der sich, nachdem sein Gesuch, Venedig besuchen zu dürfen, abschlägig beschieden worden war, auf dem Wege durch Navarra nach Paris auf seinen Botschafterposten begab, wollte ich sehen, ob sein Neffe Querini für den Groll seines Oheims eintrete; ich lachte dem Türsteher ins Gesicht, der mir den Bescheid überbrachte, er habe Befehl, mir den Eintritt in den Palast zu versagen.

Sechs oder sieben Wochen nach Manuccis Abreise verließ ich ebenfalls Madrid. Ich mußte mich dazu entschließen, trotz meiner Liebe zu Ignazia, die mich völlig glücklich machte und mein Glück teilte; denn abgesehen davon, daß ich nicht nach Portugal gehen konnte, von wo ich keine Briefe mehr erhielt, hatte ich meine Börse erschöpft, ohne daß meine Geliebte etwas davon ahnte. Ich gedachte eine schöne Repetieruhr und eine Tabaksdose, deren Goldwert 25 Louis betrug, zu verkaufen, um nach Marseille zu reisen. Von dort beabsichtigte ich nach Konstantinopel zu gehen, wo ich mein Glück machen zu können glaubte, ohne mich zu Mohammed bekennen zu müssen. Ohne Zweifel würde ich mich geirrt haben, denn ich trat in ein Alter ein, von dem die Glücksgöttin, die flatterhafte Kokette, nichts mehr wissen will. Damit will ich jedoch nicht sagen, daß ich mich über sie zu beklagen habe, denn sie hat mir oft ihre Gunst zugewandt, und ich habe diese stets mißbraucht – das will ich gerne zugeben.

In meiner Verlegenheit verschaffte der gelehrte Abbate Pinzi, Auditor des päpstlichen Nuntius, mir die Bekanntschaft eines Genueser Buchhändlers Corrado, eines reichen, ehrenwerten und tugendhaften Mannes, den der liebe Gott auf die Welt geschickt zu haben schien, damit man die Genueser Spitzbüberei verzeihe. An diesen braven Mann wandte ich mich, um meine Uhr und Tabaksdose zu verkaufen; aber der gute Corrado weigerte sich, diese Gegenstände zu kaufen, und wollte sie nicht einmal als Pfand nehmen, sondern gab mir zwanzig goldene Unzen oder siebzehnhundert Franken, ohne etwas anderes zu verlangen als mein Wort, daß ich ihm diese Summe wiedergeben würde, wenn ich jemals in der Lage wäre, es zu tun. Unglücklicherweise bin ich niemals mehr imstande gewesen, diese heilige Schuld anders heimzuzahlen, als durch ewige Dankbarkeit, die ich dem Geber zolle.

Nichts ist für einen Mann süßer, als mit einer Frau zusammen zu leben, die er anbetet und von der er geliebt wird; aber es gibt auch nichts, das bitterer wäre, als die Trennung, wenn die Liebe noch in voller Kraft steht: der Schmerz scheint viel größer zu sein als die Wonne, die nicht mehr vorhanden ist und deren Eindruck sich verwischt hat oder die zum mindesten durch das auf sie folgende Leid sehr beeinträchtigt wird.

Ich verbrachte meine letzten Tage in Madrid in Genüssen, die von Traurigkeit vergiftet wurden. Der gute Diego weinte nicht, obgleich er sehr traurig war.

Filippo, ein tüchtiger Junge, der hoch über seiner Herkunft stand, gab mir bis in die Mitte des nächsten Jahres Nachrichten von Doña Ignazia. Sie wurde die Gattin eines reichen Schuhmachers; die Rücksicht auf den Nutzen besiegte den Widerwillen, den ihr Vater gegen eine nicht standesgemäße Heirat hatte.

Ich hatte dem Marques Mora und dem Obersten Royas versprochen, sie in der aragonischen Hauptstadt Saragossa oder Caesarea Augusta zu besuchen. Ich kam anfangs September an und verbrachte dort vierzehn Tage, die mir Gelegenheit gaben, die Sitten der Aragonesen zu beobachten. Arandas Gesetze hatten bei diesem Volke keine Kraft; denn bei Tage wie bei Nacht sah man auf den Straßen Männer mit langen Mänteln und Schlapphüten. Sie sahen aus wie wirkliche Masken oder wie schwarze Gespenster; denn der Mantel, der die Absätze bedeckte, verbarg auch die Hälfte des Gesichts. Aber unter dem Mantel trug die Maske el spadino, einen Degen von riesiger Länge. Diese Gespenster werden mit großer Ehrfurcht behandelt, obwohl es meistens nur Spitzbuben waren; es konnten aber auch große Herren sein.

Man muß in Saragossa die ungeheure Frömmigkeit sehen, womit Unsere liebe Frau del Pilar verehrt wird. Ich habe Prozessionen gesehen, bei denen hölzerne Statuen von ungeheurer Größe herumgetragen wurden. Man führte mich in die besten Gesellschaften ein, wo es von Mönchen wimmelte. Man stellte mich einer erstaunlich dicken Dame vor, die man mir als eine Cousine des seligen Palafox bezeichnete; ich war jedoch keineswegs von Ehrfurcht hingerissen, wie man ohne Zweifel erwartet hatte. Ferner hatte ich Gelegenheit, den Domherrn Pignatelli, einen gebürtigen Italiener, kennen zu lernen, den ehrwürdigen Präsidenten der Inquisition. Dieser Herr ließ jeden Morgen die Kupplerin einkerkern, die ihm das Mädchen besorgt hatte, das mit ihm zu Abend gegessen und die Nacht bei ihm geschlafen hatte. Die Strafe erhielt sie, um dafür Buße zu tun, daß sie ihm ermöglicht hatte, eine Sünde zu begehen. Von Wollust erschöpft, erwachte der Domherr und gab Befehl, das Mädchen aus dem Hause zu jagen und die Kupplerin ins Gefängnis zu setzen. Hierauf kleidete er sich an, beichtete, las die Messe und setzte sich sofort zu Tisch. Von Wein und gutem Essen erhitzt, verlangte er ein neues Mädchen, und so ging es jeden Tag. Trotzdem wurde dieser Mensch in Saragossa hoch verehrt, denn er war Mönch, Domherr und Inquisitor.

Die Stierkämpfe waren in der Hauptstadt Aragoniens schöner als in Madrid; denn sie waren mörderischer, und solche barbarischen Schauspiele sind um so schöner, je mehr Blut dabei fließt.

Die Herren Mora und Royas gaben mir sehr schöne Diners. Der Marques war der liebenswürdigste aller Spanier; er ist zwei Jahre darauf in sehr jugendlichem Alter gestorben.

Die große Kirche Nuestra Señora del Pilar liegt auf den Wällen der Stadt, und die Aragonesen betrachten diesen Teil als uneinnehmbar; sie behaupten, im Falle einer Belagerung würde der Feind, wenn Gott es wollte, von allen anderen Seiten eindringen, aber nicht von dieser.

Ich hatte der Doña Pelliccia versprochen, sie in Valencia zu besuchen. Unterwegs sah ich auf einer Anhöhe das alte Sagunt liegen. »Ich will da hinauf!« sagte ich zu einem Priester, der mit mir fuhr, und zu dem Fuhrmann, der am Abend in Valencia ankommen wollte und dem seine Maultiere lieber waren als alle Antiquitäten der Welt. Wie der Priester und der Maultiertreiber sich sträubten und wie sie redeten!

»Sie werden nur Ruinen sehen, Señor.«

»Gut; ich will eben Ruinen sehen, und wenn sie recht alt sind, ziehe ich sie den schönsten Gebäuden der Neuzeit vor.«

»Aber wir werden nicht mehr heute Abend in Valencia ankommen können!«

»Da hast du einen Duro; wir werden morgen ankommen.«

Dieser Taler brachte alles in Ordnung; denn der Fuhrmann rief: »Helf mir Gott! Das ist ein Ehrenmann!«

Das ist der schönste Lobspruch aus dem Munde eines Untertanen Seiner Katholischen Majestät!

Oben auf der Anhöhe sah ich Mauern, die zum großen Teil noch im guten Stande waren, und deutlich erkennbare Zinnen, und doch stammt dieses Denkmal aus der Zeit des zweiten Punischen Krieges. An zwei Toren, die noch aufrecht standen, bemerkte ich Inschriften, die für mich und für viele andere stumm sind, die aber La Condamine oder Séguier, der frühere Freund des Marchese Maffei, sicherlich entziffert hätten.

Dieses Denkmal eines ganzen Volkes, das lieber in den Flammen untergehen, als den Römern die Treue brechen und sich einem Hannibal ergeben wollte, erregte meine volle Bewunderung und die Heiterkeit des unwissenden Priesters, der nicht einmal eine Messe gratis gelesen hätte, um Besitzer dieses von Erinnerungen so reichen Ortes zu werden, dessen Namen sogar untergegangen ist. Diesen hätte man doch wenigstens achten können, zumal da er schöner und leichter auszusprechen ist als der an seine Stelle getretene Name Murviedro, wenngleich dieser ebenfalls auch dem Lateinischen entstammt und von muri veteres hergeleitet ist. Aber die Zeit ist ein unbändiges, wildes Ungeheuer, das nicht nur Marmelstein und Erz zerstört, sondern auch die Erinnerung vertilgt.

»Dieser Ort,« sagte der Priester zu mir, »hat stets Murviedro geheißen.«

»Das ist nicht möglich; denn der gesunde Menschenverstand sträubt sich dagegen, etwas alt zu nennen, was bei seiner Entstehung neu war. Das ist gerade, wie wenn Sie behaupten wollten, Neu-Kastilien sei nicht alt, weil man es ›Neu‹ nenne.«

»Aber es ist doch sicher, daß Alt-Kastilien älter sein muß als Neu-Kastilien.«

»Nein, das ist nicht der Fall: Neu-Kastilien ist so genannt worden, weil es die letzte Rückeroberung von den Mauren war, in Wirklichkeit aber ist Neu-Kastilien älter als Alt-Kastilien.«

Der arme Abbate schwieg; er schüttelte den Kopf und hielt mich für verrückt.

Vergeblich bemühte ich mich, Hannibals Kopf und die Inschrift zu Ehren des Cäsar und Claudius, des Nachfolgers des Kaisers Gallienus, aufzufinden; dagegen sah ich die Spuren des Amphitheaters.

Am anderen Morgen besah ich den Mosaikboden, den man zwanzig Jahre vor jener Zeit bloßgelegt hatte.

Um neun Uhr morgens kam ich in Valencia an. Ich fand sehr schlechte Unterkunft, weil der Operndirektor Marescalchi aus Bologna alle guten Zimmer für die Sänger und Sängerinnen belegt hatte, die von Madrid eintreffen sollten. Bei ihm befand sich sein Bruder, ein Abbate, den ich für sein Alter gelehrt fand. Wir machten einen Spaziergang, und er lachte, als ich ihm vorschlug, ins Kaffeehaus zu gehen; denn es gab in der ganzen Stadt keinen einzigen Ort, wo ein anständiger Mensch eintreten konnte, um sich gegen eine Geldvergütung in anständiger Weise auszuruhen. Es gab nur Schenken niedrigster Ordnung, in denen der Wein untrinkbar war. Ich fand das unbegreiflich; aber Spanien ist ein ganz besonderes Land. In Valencia, das so nahe bei Malaga und Alicante liegt, konnte man zu meiner Zeit eine gute Flasche Wein sich nur mit großen Schwierigkeiten beschaffen.

In den ersten drei Tagen meines Aufenthaltes in Valencia, der Vaterstadt des Papstes Alexanders des Sechsten, sah ich alles Sehenswerte, was in dieser Stadt vorhanden ist, und fand wieder einmal meine Wahrnehmung bestätigt, daß alles, was wir nach Beschreibungen von Dichtern und Abbildungen von Künstlern bewundern, unendlich viel verliert, wenn wir es in der Nähe und in der Wirklichkeit betrachten.

Valencia liegt in herrlichem Klima ganz dicht am Mittelmeer in einer lachenden Landschaft, die die köstlichsten und leckersten Erzeugnisse der Natur in reicher Fruchtbarkeit hervorbringt; die Luft ist gesund und von köstlicher Milde; die Stadt liegt nur eine Stunde von dem berühmten Amoenum stagnum, worin es so delikate Fische gibt; in Valencia wohnt ein zahlreicher vornehmer und begüterter Adel; in Valencia sind die Frauen, wenn nicht die geistreichsten, so doch zum mindesten die schönsten von ganz Spanien; Valencia hat einen Erzbischof und einen Klerus mit einem Jahreseinkommen von einer Million Duros – und trotzalledem ist Valencia eine sehr unangenehme Stadt für einen Fremden; denn er kann dort keine der Bequemlichkeiten genießen, die er sonst überall für sein Geld findet. Unterkunft und Essen ist schlecht; trinken kann man nicht, weil es keinen guten Wein gibt; unterhalten kann man sich nicht, weil man keine gute Gesellschaft hat; man kann nicht einmal disputieren; denn obgleich Valencia eine Universität hat, findet man dort keinen Menschen, den man vernünftigerweise einen Gelehrten nennen könnte.

Die fünf Brücken über den Guadalajara, die Kirchen, die öffentlichen Gebäude, das Zeughaus, die Börse, das Stadthaus, die zwölf Tore konnten mich nicht dazu hinreißen, eine Stadt zu bewundern, deren Straßen nicht gepflastert sind, und wo man nur außerhalb der Mauern spazieren gehen kann. Dort draußen findet man dann allerdings alle seine Sinne befriedigt; denn die Umgebung von Valencia ist ein wahres Paradies, besonders nach dem Meere zu. Aber die Umgegend ist nicht die Stadt.

Was ich dort bewunderte und was man wahrscheinlich noch dort findet, waren eine beträchtliche Anzahl einspänniger Wagen, die immer bereit stehen und die einen für einen sehr bescheidenen Betrag sehr schnell überall hinfahren, sei es auf die Promenade, sei es auf Entfernungen von zwei und drei Tagereisen.

Wäre ich bei guter Laune gewesen, so hätte ich eine Fahrt durch die Königreiche Murcia und Granada gemacht, die an materieller Schönheit alles überbieten, was man in Italien findet.

Arme Spanier! Die Schönheit, die Fruchtbarkeit und der Reichtum eures Landes sind die Ursachen eurer Unwissenheit, wie die Minen von Peru und Potosi schuld sind an eurem dummen Stolz und an allen Vorurteilen, die euch erniedrigen.

O Spanier! Wann werdet ihr einen edlen, aber starken Anstoß erhalten, der euch aus eurer dumpfen Betäubung weckt und eure eingeschlafene Tatkraft mit neuem Leben beseelt, dessen sie recht wohl fähig ist! Heute seid ihr ein elendes, bemitleidenswertes Volk, für die ganze Welt so unnütz wie für euch selber. Was braucht ihr? Ihr braucht eine starke Revolution, eine völlige Umwälzung, einen furchtbaren Anstoß, eine Eroberung, die neues Leben weckt. Eure Fäulnis kann nicht durch einfache zivilisatorische Maßnahmen beseitigt werden; der Krebsschaden, der euer Fleisch verzehrt, muß mit Feuer ausgebrannt werden.

Ich reiste der edlen und bescheidenen Pelliccia entgegen. Die erste Vorstellung sollte am zweiten Tage darauf stattfinden. Das war nicht schwierig; denn man spielte dieselben Opern, die man vor der Hofgesellschaft im Sitios aufgeführt hatte, das will sagen: in Aranjuez, im Escorial, in der Granja; denn Graf Aranda hat niemals gewagt, seine freisinnige Kühnheit so weit zu treiben, um dem Theater in Madrid die Aufführung einer italienischen Opera buffa zu erlauben. Solche Neuerung wäre zu groß gewesen, und die Inquisition hätte ihre satanischen Augen zu weit aufgerissen.

Die Bälle der Scaños del Peral hatten die Inquisition erstaunt, und man war genötigt, sie zwei Jahre später wieder zu unterdrücken. Solange Spanien eine Inquisition hat, wird dieses Ungeheuer der Stein des Anstoßes für Fortschritt und Glück sein.

Señora Pelliccia schickte sofort nach ihrer Ankunft dem Don Diego Valencia den Empfehlungsbrief, den der Herzog von Arcos ihr drei Monate vorher gegeben hatte. Sie hatte den hohen Herrn seit jenen Tagen in Aranjuez nicht wieder gesehen.

Wir saßen beim Essen, nämlich sie, ihr Mann, ihre Schwester, ein berühmter erster Geiger, den sie einige Zeit darauf heiratete, und ich, und waren eben beim Nachtisch angelangt, als man ihr den Señor Diego Valencia meldete; dies war der Bankier, an den der Herzog sie empfohlen hatte.

»Gnädige Frau,« sagte Don Diego zu ihr, »ich bin entzückt von der Gnade, die der Herzog von Arcos mir zuteil werden läßt, indem er Sie an mich weist, und möchte Ihnen meine Dienste anbieten und Ihnen die Befehle mitteilen, die Seine Exzellenz mir gibt und die ihnen vielleicht noch unbekannt sind.«

»Mein Herr, ich hoffe, es wird nicht der Fall eintreten, daß ich genötigt wäre, Sie zu belästigen, aber ich weiß vollkommen die Gnade zu schätzen, die der Herzog mir erwiesen hat, und bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich zu mir bemüht haben; ich werde die Ehre haben, Ihnen meinen Besuch zu machen, um Ihnen meinen Dank abzustatten.«

»Das ist nicht notwendig, Señora, aber ich muß Ihnen sagen, daß ich Befehl habe, Ihnen jede gewünschte Summe bis zur Höhe von fünfundzwanzigtausend Dublonen auszuzahlen.«

»Fünfundzwanziqtausend Dublonen?«

»Zweihundertfünfzigtausend Franken, Señora, und nicht mehr. Haben Sie die Güte, den Brief Seiner Exzellenz zu lesen; denn es kommt mir vor, wie wenn Sie den Inhalt nicht kennen.«

Der Brief war vier Zeilen lang:

Don Diego, Sie werden der Dona Pelliccia auf ihr Ersuchen jede Summe bis zur Höhe von fünfundzwanzigtausend Dublonen für meine Rechnung auszahlen.

Der Herzog von Arcos.

Wir waren vor Erstaunen sprachlos.

Doña Pelliccia gab den Brief dem Bankier zurück, der seine Verbeugung machte und sich entfernte.

Die Geschichte ist beinahe unglaublich, und nur in Spanien kann man so etwas erleben; dort aber sind solche Züge nicht selten. Ich habe bereits erzählt, wie der Herzog von Medina-Celi sich gegen die Pichona benahm.

Wer weder den spanischen Charakter noch die ungeheuren Reichtümer einiger großer Herren kennt, mag vielleicht solche Handlungen unvernünftig und lächerlich finden und sie für Verschwendung erklären; dies ist begreiflich, denn der Mensch urteilt stets nur durch Vergleichung. In diesem Falle aber würde er sich täuschen. Der Verschwender gibt ohne Unterschied und ohne Aufhören, wie der Geizhals unablässig Schätze aufhäuft; weder der eine noch der andere handelt mit Überlegung und aus edlem Antrieb. Es mag wohl vorkommen, daß der Verschwender innehält; aber das geschieht nur, wenn er sich mit Schrecken am Rande des Abgrundes sieht. Die heldenmütigen Handlungen aber, von denen ich spreche, tragen nicht diesen Charakter. Der Spanier ist in hervorragendem Maße gierig nach Bewunderung; alles, was er tut, geschieht in der Absicht, bewundert zu werden; dieser selbe Stolz hält ihn aber zurück, wenn die Leidenschaften ihn dazu treiben möchten, irgendeine Handlung zu begehen, die ihm Schande bringen könnte. Man soll von ihm glauben, er stehe über seinesgleichen, geradeso wie seine Nation über allen anderen erhaben zu sein glaubt. Diejenigen, die ihn prüfen, sollen ihn eines Thrones würdig erachten und von ihm voraussetzen, daß ihm alle Tugenden eigen sind; Tugenden aber kann der Mensch nicht in eigennütziger Absicht ausüben.

Man kann noch hinzufügen, daß gewisse spanische Granden ebenso reich sind wie gewisse englische Lords, daß sie aber nicht wie diese die Mittel haben, ihre Reichtümer auszugeben; infolgedessen wird es ihnen eben möglich, sie zu verschenken.

Als Don Diego fortgegangen war, drehte unsere ganze Unterhaltung sich um die Freigebigkeit des Herzogs.

Señora Pelliccia sagte, der Herzog habe ihr zeigen wollen, was für einen Mann sie um eine Empfehlung gebeten habe, und er habe ihr dabei die Ehre erwiesen, sie für unfähig zu halten, sein Vertrauen zu mißbrauchen. »Jedenfalls ist so viel sicher, daß ich lieber vor Hunger sterben als von Don Diego eine einzige Dublone annehmen würde.«

»Der Herzog wird sich beleidigt fühlen«, sagte der Geiger; »ich wäre der Meinung, Sie sollten etwas annehmen.«

»Du mußt die ganze Summe annehmen«, sagte der Gatte.

»Ich bin der Meinung der gnädigen Frau: sie muß sich so verhalten, daß man ihr nicht den Vorwurf machen kann, seine Großmut mißbraucht zu haben.« Und mich an die Pelliccia wendend, fuhr ich fort: »Ich bin überzeugt, der Herzog von Arcos wird sich für verpflichtet halten, Ihr Glück zu machen, gerade weil Sie durch Ihr Zartgefühl seine Achtung erworben haben werden.«

Sie folgte meinem Rat und ihrem eigenen Antrieb, zur nicht geringen Unzufriedenheit des Bankiers.

Aber so groß ist die Verderbtheit der Menschen, daß niemand an das Zartgefühl der Pelliccia glaubte. Der König erhielt Kenntnis von dem Vorfall; er wollte den Herzog von Arcos verhindern, sich zugrunde zu richten, und ließ der ehrenwerten Sängerin den Befehl zustellen, sofort Madrid zu verlassen.

So wird zuweilen die Tugend hienieden verkannt; aber die boshaften Menschen, die den König vielleicht zu dieser ungerechten Handlung angestachelt hatten, um der Pelliccia zu schaden, wurden die Ursache ihres Glückes.

Der Herzog glaubte sich durch den willkürlichen Befehl seines Herrschers beleidigt; er kannte die Römerin gar nicht weiter, als daß er zuweilen an öffentlichen Orten mit ihr gesprochen hatte, und er hatte niemals etwas für sie ausgegeben. Als er nun sah, daß er wider Willen die brave Frau unglücklich machte, wollte er dies nicht dulden. Zu stolz, um die Rücknahme eines Befehls zu erbitten, dem er sich nicht widersetzen konnte, faßte er den einzigen Entschluß, der seiner edlen Seele würdig war. Zum ersten Mal in seinem Leben begab er sich in die Wohnung der Señora Pelliccia und bat sie, ihm zu verzeihen, daß er die unfreiwillige Ursache ihres Mißgeschickes sei, und eine Rolle und einen Brief anzunehmen, die er auf einen Tisch legte, indem er ihr glückliche Reise wünschte.

Die Rolle enthielt hundert goldene Unzen mit den Worten: »Für die Reisekosten.« Der Brief war an die Bank des Heiligen Geistes in Rom gerichtet und enthielt eine Anweisung auf achtzigtausend römische Taler oder vierhundertachtzigtausend Franken, die Herr Belloni ihr auszahlte.

Durch die uneigennützige Freigebigkeit eines Ehrenmannes reich geworden, legte die Dame ihr Vermögen in guten Werten an. Seit neunundzwanzig Jahren führt sie in Rom ein Haus auf eine Weise, die klar und deutlich zeigt, daß sie dieses Glückes würdig war.

Am Tage nach der Abreise der Pelliccia sagte der König im Pardo zum Herzog von Arcos, er solle nicht traurig sein, sondern die Dame vergessen, die er nur zu seinem Besten habe ausweisen lassen.

»Indem Eure Majestät ihr den Ausweisungsbefehl übersandt haben, haben Sie mich gezwungen, das wahr zu machen, was bis dahin nur eine Fabel war; denn ich kannte die Frau nur insofern, daß ich einige Male mit ihr an öffentlichen Orten gesprochen hatte, und ich hatte ihr niemals auch nur das kleinste Geschenk gemacht.«

»Du hast ihr also nicht fünfundzwanzigtausend Dublonen gegeben?«

»Sire, ich habe diese Summe verdoppelt, aber erst vorgestern. Eure Majestät sind der Herr und können tun, was Ihnen beliebt; aber soviel ist gewiß: wäre sie nicht ausgewiesen worden, so wäre ich niemals zu ihr gegangen, und sie hätte mir niemals etwas gekostet.«

Der König war so erstaunt, daß er kein Wort sagen konnte. Nun begriff er, daß ein König sich um das müßige Geschwätz des Publikums nicht kümmern darf.

Ich erfuhr von diesem Gespräch durch Herrn Monino, der später unter dem Namen Floridablanca bekannt wurde und in diesem Augenblick in seiner Vaterstadt Murcia als Verbannter lebt.

Nach Marecalchis Abreise traf ich meine Vorbereitungen, um nach Barcelona zu fahren. Kurz vor meiner Abreise sah ich in der Stierkampf- Arena ein Weib, das etwas unbeschreiblich Imposantes an sich hatte.

Ich fragte einen Alcantara-Ritter, der neben mir saß, wer die Dame sei.

»Wieso berühmt?«

»Wenn Sie sie nicht dem Ruf nach kennen, ist Ihre Geschichte zu lang, um sich hier erzählen zu lassen.«

Ohne mir irgend etwas dabei zu denken, sah ich die Dame scharf an; zwei Minuten später trennte ein ziemlich übel aussehender, aber gut gekleideter Mann sich von der imposanten Schönheit, trat an den Ritter heran und sagte ihm etwas ins Ohr.

Der Ritter wandte sich mit höflicher Miene zu mir und sagte mir, die Dame, nach deren Namen ich ihn gefragt habe, wünsche den meinigen zu wissen.

Dummerweise von dieser Neugier geschmeichelt, antwortete ich dem Boten, wenn die Dame es erlaube, werde ich nach dem Schauspiel ihr persönlich meinen Namen sagen.

»Nach Ihrem Akzent scheinen Sie Italiener zu sein.«

»Ich bin aus Venedig.«

»Sie auch.«

Als der Bote fort war, wurde der Ritter weniger wortkarg und sagte mir, Nina sei eine Tänzerin, die der Generalkapitän des Fürstentums Barcelona, Graf Ricla, seit einigen Wochen in Valencia unterhält, bis er sie wieder nach Barcelona zurückkehren lassen könne, wo der Bischof sie wegen des von ihr erregten Ärgernisses nicht länger habe dulden wollen.

»Der Graf ist wahnsinnig in sie verliebt und gibt ihr täglich fünfzig Dublonen.«

»Aber sie gibt sie doch hoffentlich nicht aus?«

»Das kann sie nicht; aber sie macht jeden Tag tolle Streiche, die ihm viel Geld kosten.«

Ich war sehr neugierig, eine Frau von solchem Charakter kennen zu lernen, und fürchtete durchaus nicht, daß diese Bekanntschaft mir irgendwelche Unannehmlichkeiten zuziehen könnte. Ich konnte daher kaum das Ende des Schauspiels abwarten, um mit ihr zu sprechen.

Als ich sie anredete, empfing sie mich mit großer Ungezwungenheit. Sie wollte eben in eine schöne, mit sechs Maultieren bespannte Kutsche einsteigen und sagte mir, sie würde entzückt sein, wenn ich ihr das Vergnügen machte, am nächsten Tag um neun Uhr mit ihr zu frühstücken.

Ich versprach es ihr und ging pünktlich hin. Ich fand sie in einem sehr großen Hause ganz dicht vor der Stadt. Es war mit ziemlich viel Geschmack reich möbliert, und ein großer Garten umgab es.

Was mir besonders auffiel, waren eine Menge von Bedienten in glänzenden Livreen und mehrere elegant gekleidete Kammerfrauen, die überall hin und her liefen.

Als ich näher trat, hörte ich eine gebieterische Stimme laut schelten.

Die Schimpferin war die Nina, die einen Mann herunterputzte, der ganz erstaunt vor einem großen Tisch stand, worauf eine Menge Waren ausgebreitet lagen.

»Sie werden meinen Zorn entschuldigen«, sagte sie zu mir; »dieser spanische Dummkopf will behaupten, die Spitzen seien schön. Sagen Sie mir Ihre Meinung darüber.«

Ich fand die Spitzen wirklich schön; weil ich sie aber nicht bei meinem ersten Besuch ärgern wollte, so sagte ich ihr, ich verstände nichts davon.

»Señora,« sagte der Händler schließlich unwillig zu ihr, »wenn Sie die Spitzen nicht wollen, so lassen Sie sie liegen; aber wollen Sie die Stoffe?«

»Ja, ich behalte sie. Außerdem will ich Sie überzeugen, daß ich Ihre Spitzen nicht deshalb zurückweise, um Geld zu sparen!«

Mit diesen Worten nahm sie eine Schere und zerschnitt die Spitzen.

»Das ist sehr schade«, sagte der Mann, der am Tage vorher mit mir gesprochen hatte. »Man wird sagen, Sie seien wahnsinnig!«

»Halt den Mund, elender Kuppler!« rief sie, indem sie ihm eine kräftige Ohrfeige versetzte.

Der Kerl ging hinaus, indem er sie ›Hure‹ nannte, worüber sie nur laut auflachte; hierauf wendete sie sich zum Spanier und befahl ihm, augenblicklich seine Rechnung zu machen. Der Kaufmann ließ sich das nicht zweimal sagen; er hielt sich an den Preisen für die Beleidigungen schadlos, mit denen sie ihn überhäuft hatte. Sie nahm die Rechnung, unterschrieb, ohne sie zu lesen, und sagte: »Gehen Sie zu Don Diego Valencia; er wird Sie sofort bezahlen.«

Als wir allein waren, wurde die Schokolade gebracht, und sie ließ dem Ohrfeigenkerl befehlen, augenblicklich zu kommen und mit uns zu frühstücken.

»Wundern Sie sich nicht«, sagte sie zu mir, »über die Art und Weise, wie ich mit diesem Subjekt umgehe. Er ist ein jämmerlicher Lump, den Ricla mir beigegeben hat, um zu spionieren. Ich behandle ihn, wie Sie gesehen haben, damit er ihm alles schreibt.«

Ich glaubte zu träumen, so sonderbar kam mir alles vor, was ich sah und hörte; ich hatte niemals gedacht, es könnte eine Frau von solchem Charakter auf der Welt geben.

Der unglückselige Geohrfeigte, ein Sänger aus Bologna, kam und trank seine Schokolade, ohne ein Wort zu sagen. Er hieß Molinali.

Sobald er fertig war, ging er wieder hinaus. Hierauf erzählte Nina mir eine Stunde lang Geschichten aus Spanien, Italien und Portugal, wo sie einen Tänzer, namens Bergonzi, geheiratet hatte.

»Ich bin eine Tochter des berühmten Scharlatans Pelandi, den Sie vielleicht in Venedig gekannt haben.«

Nach dieser vertraulichen Mitteilung, aus der sie kein Geheimnis machte, bat sie mich, mit ihr zu soupieren. Das Souper sei ihre Lieblingsmahlzeit. Ich versprach es ihr und machte dann einen Spaziergang, um ungestört über den Charakter dieser Frau nachzudenken, die ein so großes Glück schnöde mit Füßen trat.

Nina war eine überraschende Schönheit; aber da ich niemals geglaubt habe, daß Schönheit allein genügen könne, um einen Mann glücklich zu machen, so begriff ich nicht, wie ein Vizekönig von Katalonien bis zu einem solchen Grade verliebt sein konnte. Molinari konnte ich nach allem, was ich gesehen hatte, nur für einen niederträchtigen Schuft halten.

Ich ging zu ihrem Souper, wie zu einem Schauspiel; denn so schön sie auch war, so hatte sie mir doch keine Gefühle eingeflößt.

Wir standen im Anfang des Oktobermonats, aber in Valencia waren zwanzig Grad Réaumur im Schatten.

Nina ging mit ihrem Jocrisse im Garten spazieren. Beide waren sehr leicht gekleidet; Nina hatte nur ein Hemd und ihr dünnes Röckchen an.

Sobald sie mich sah, kam sie auf mich zu und forderte mich auf, es mir ebenso bequem zu machen; ich unterließ dies jedoch, indem ich einige Gründe anführte, mit denen sie sich zufrieden geben mußte. Die Gegenwart des gemeinen Menschen war mir im höchsten Grade widerwärtig.

Bis zum Abendessen unterhielt Nina mich mit tausend schlüpfrigen Anekdoten, deren Heldin sie gewesen war, von Beginn ihres ausgelassenen Lebenswandels bis zum dreiundzwanzigsten Jahre, in welchem sie damals stand.

Ohne die Gegenwart des ekelhaften Argus hätten alle diese Geschichten ohne Zweifel ihre natürliche Wirkung auf mich geübt, wenn ich sie auch nicht liebte. So aber verspürte ich gar nichts.

Das Abendessen war lecker zubereitet, und wir hatten alle großen Appetit; als wir fertig waren, wäre ich gerne nach Hause gegangen, aber das lag nicht in ihrer Absicht. Der Wein hatte sie erhitzt, der Hanswurst war betrunken; sie wollte ihren Spaß haben.

Nachdem sie alle Leute hinausgeschickt hatte, verlangte die Messalina von Molinari, er solle sich ganz nackt ausziehen; hierauf begann sie mit ihm Experimente zu machen, die ich nur mit dem größten Ekel beschreiben könnte.

Der Bursche war jung und kräftig, und obgleich er betrunken war, versetzten Ninas Manipulationen ihn bald in einen recht respektablen Zustand. Offenbar war ihre Absicht, daß ich sie bei dieser Gelegenheit in Gegenwart des Halunken bedienen sollte; sein Anblick nahm mir jedoch sogar die Fähigkeit, Begierden zu haben.

Nina hatte sich, ohne mich anzusehen, in Naturzustand versetzt; als sie mich bei dieser Orgie kalt bleiben sah, bediente sie sich dieses Menschen, um ihre Glut zu löschen.

Ich sah mit Schmerz ein so schönes Weib sich mit einem Vieh begatten, das kein anderes Verdienst hatte, als eine ungeheuerliche Mißbildung, die für sie ohne Zweifel eine Vollkommenheit war.

Als sie ihn durch alle möglichen Buhlkünste, die nur eine Bacchantin aufbieten konnte, völlig erschöpft hatte, warf sie sich einen Augenblick in eine Badewanne, die in Gestalt einer Kommode im Zimmer stand und von mir bis dahin nicht bemerkt worden war. Hierauf kam sie wieder, nahm eine Flasche Malvasier von Madeira und zwang den Kerl zu trinken, bis er niedersank.

Ich flüchtete mich in ein Nebenzimmer, denn ich konnte es vor Ekel nicht mehr aushalten; sie folgte mir, immer noch nackt. Durch das Bad erfrischt, setzte sie sich neben mich auf eine Ottomane und fragte mich, wie ich dieses Fest gefunden hätte.

Da meine Ehre und mein Stolz eine Genugtuung verlangten, so sagte ich ihr, der Abscheu, den der Elende mir einflößte, sei so groß, daß er alle Wirkungen zerstöre, die ihre Reize auf mich, wie auf jeden Mann, der Augen im Kopfe hätte, ausüben könnten.

»Ich halte das wohl für möglich; aber jetzt ist er doch nicht da, und trotzdem sagen Sie nichts. Man würde das nicht glauben, wenn man Sie sieht.«

»Man würde recht haben, Nina, denn ich bin nicht minderwertiger als ein anderer; aber er hat mich zu sehr angeekelt. Lassen Sie mich heute! Morgen, wenn ich dieses Ungeheuer nicht mehr sehe, das nicht würdig ist, Ihrer zu genießen…«

»Er genießt nicht; ich töte ihn. Wenn ich glauben könnte, er genösse, so würde ich lieber sterben, als etwas mit ihm machen; denn ich verabscheue ihn.«

»Wie? Sie lieben ihn nicht und bedienen sich seiner zu solchen Zwecken?«

Wie ich mich eines künstlichen Werkzeuges bedienen würde.«

Ich sah in diesem Weibe die Natur in ihrer tiefsten Verderbnis.

Sie lud mich für den nächsten Tag zum Abendessen ein, indem sie mir sagte: »Ich will sehen, ob Sie die Wahrheit gesagt haben. Wir werden unter vier Augen sein, denn Molinari wird krank sein.«

»Er wird seinen Wein verdaut haben und sich sehr wohl befinden.«

»Ich sage Ihnen nochmals, er wird krank sein. Kommen Sie, und kommen Sie jeden Abend.«

»Ich reise übermorgen.«

»Sie werden erst in acht Tagen reisen, und zwar werden wir zusammen fahren.«

»Sie werden nicht reisen, sage ich Ihnen; denn Sie würden mir einen Schimpf antun, den ich nicht dulden würde.«

Ich ging nach Hause, fest entschlossen, sofort abzureisen, ohne mich um sie zu bekümmern.

Obwohl es für mich in meinem Alter auf diesem Gebiete nichts Neues mehr gab, war ich doch erstaunt über die Schrankenlosigkeit dieser Megäre, über ihre freie Sprech- und Handlungsweise und vor allen Dingen über ihre Offenheit; denn sie hatte mir eingestanden, was ich zuvor wußte, was aber niemals ein Weib einem Manne gesteht: »Ich bediene mich seiner, um mich zu befriedigen, weil ich sicher bin, daß er mich nicht liebt; wenn ich wüßte, daß er mich liebte, würde ich lieber sterben, als ihm etwas erlauben; denn ich verabscheue ihn.«

Am nächsten Tage ging ich um sieben Uhr abends zu ihr. Sie empfing mich mit einer erheuchelten traurigen Miene, indem sie zu mir sagte: »Leider werden wir beim Abendessen allein sein, denn Molinari hat Kolik.«

»Sie haben mir gesagt, er werde krank sein; haben Sie ihn vergiftet?«

»Ich wäre dazu imstande; aber Gott soll mich davor behüten.«

»Aber Sie haben ihm irgend etwas eingegeben?«

»Nur was er gern hat; aber darüber werden wir noch sprechen. Jetzt wollen wir spielen. Hierauf werden wir zu Abend speisen und bis morgen früh lustig sein, und morgen Abend fangen wir wieder an.«

»Nein, denn ich werde um sieben Uhr abfahren.«

»Oh, Sie werden nicht abreisen, und Ihr Kutscher wird deshalb keine Händel mit Ihnen anfangen, denn er ist bezahlt. Hier ist die Quittung.«

Dies alles sagte sie in einem heiteren Tone verliebter Tyrannei, die mir nicht mißfallen konnte.

Da ich es im Grunde nicht eilig hatte, nahm ich die Sache von der heiteren Seite und sagte ihr nur: »Sie sind wahnsinnig; ich bin des Geschenks nicht würdig, das Sie mir damit gemacht haben. Über eins wundere ich mich jedoch: daß ein Weib wie Sie, das ein so schön eingerichtetes Haus hat, sich nichts daraus macht, Gesellschaft zu empfangen.«

»Alle Welt zittert vor mir. Sie fürchten den verliebten und eifersüchtigen Ricla, dem der Kerl mit der Kolik alles schreibt, was ich mache. Er schwört, das sei nicht wahr; aber ich weiß, daß er lügt. Es ist mir sogar sehr lieb, daß er es tut, und ich bedauere außerordentlich, daß er ihm bis jetzt nichts Wichtiges hat melden können.«

»Er wird ihm schreiben, daß ich heute mit Ihnen allein soupiert habe.«

»Um so besser. Haben Sie Furcht?«

»Nein, aber mir scheint, Sie müßten mir sagen, ob ich etwas zu befürchten habe.«

»Nichts; denn er kann sich nur an mich halten.«

»Aber ich möchte nicht die Ursache einer Zwistigkeit sein, die Ihnen zum Schaden gereichen würde.«

»Im Gegenteil; je mehr ich ihn reize, desto mehr wird er mich lieben, und die Aussöhnung wird ihm teuer zu stehen kommen.«

»Sie lieben ihn also nicht?«

»Doch! Aber nur, um ihn zugrunde zu richten. Leider ist er so reich, daß es mir nicht gelingen wird.«

Ich sah vor mir ein Weib, schön wie Venus, verdorben wie der Engel der Finsternis, eine abscheuliche Prostituierte, die dazu geboren war, einen jeden zu strafen, der das Unglück haben würde, sich in sie zu verlieben. Ich hatte andere Weiber dieser Art gekannt, aber niemals ihresgleichen.

Um von dieser verruchten Sünderin einen Vorteil zu haben, beschloß ich, mir ihren Reichtum zunutze zu machen.

Sie ließ Karten bringen und lud mich ein, mit ihr ›Primiera‹ zu spielen. Dies ist ein Glücksspiel, aber es enthält solche Kombinationen, daß der beste und vorsichtigste Spieler stets gewinnen muß.

In weniger als einer Viertelstunde bemerkte ich, daß ich besser spielte als sie. Sie hatte jedoch so viel Glück, daß ich mit zwanzig Pistolen im Verlust war, als wir aufstanden, um uns zu Tisch zu setzen. Sie nahm das Geld und versprach mir Revanche.

Wir aßen gut zu Abend und begingen hierauf alle Tollheiten, die sie von mir verlangte und die ich noch leisten konnte; denn ich war nicht mehr in dem Alter, wo man Wunder vollbringt.

Am anderen Tage ging ich früher zu ihr. Wir spielten, und sie verlor; ebenso an den folgenden Tagen, so, daß ich zwei- bis dreihundert Dublonen von ihr gewann, was bei meinen damaligen Glücksumständen keine gleichgültige Sache war.

Der Spion war wieder gesund; am nächsten Tage und ebenfalls an den folgenden Tagen speiste er mit uns; aber seine Gegenwart belästigte mich nicht mehr, seitdem sie nicht mehr vor meinen Augen sich ihm preisgab. Sie hatte sich gerade das Gegenteil ausgedacht: sie gab sich mir hin und sagte ihm, er möchte nur dem Grafen Ricla alles schreiben, was er sähe.

Der Graf schrieb ihr einen Brief, den sie mir zu lesen gab und worin der arme Verliebte ihr mitteilte, sie könnte nach Barcelona ohne alle Furcht zurückkehren; denn der Bischof hätte vom Hofe Befehl empfangen, sie nur als eine Theaterdame anzusehen, die sich in seinem Sprengel nur auf der Durchreise aufhielte; sie könnte daher den ganzen Winter in Barcelona verbringen und sich darauf verlassen, daß man sie nicht belästigen würde, vorausgesetzt, daß sie kein Ärgernis erregte.

Sie sagte mir, während meines Aufenthaltes in Barcelona könnte ich sie nur nachts besuchen, nachdem der Graf sie verlassen hätte, was er stets um zehn Uhr täte. Sie versicherte mir außerdem, es wäre für mich durchaus keine Gefahr dabei.

Ich hätte mich vielleicht nicht in Barcelona aufgehalten, wenn Nina mir nicht gesagt hätte, falls ich etwa Geld nötig haben sollte, würde sie mir die Summe leihen, deren ich bedürfte.

Sie verlangte, daß ich einen Tag vor ihr aus Valencia abreiste und in Tarragona Halt machte, um auf sie zu warten. Ich tat, was sie wünschte, und verbrachte in dieser Stadt, die voll von Denkmälern des Altertums ist, einen der angenehmsten Tage.

Ich ließ ein leckeres Abendessen zurechtmachen, um Nina so zu empfangen, wie sie es gerne hatte, und sorgte dafür, daß ihr Schlafzimmer an das meinige anstieß, um kein Ärgernis zu erregen.

Am Morgen reiste sie ab und bat mich, erst am Abend abzufahren, die Nacht hindurch zu reisen und am Morgen in Barcelona anzukommen, wo ich im Gasthof Santa Maria absteigen sollte. Sie empfahl mir, sie nicht früher zu besuchen, als bis sie mir Nachricht gegeben hätte.

Ich befolgte die Vorschriften dieser eigentümlichen Frau und fand in Barcelona eine sehr schöne Wohnung bei einem Schweizer, der mir im geheimen sagte, er habe Befehl erhalten, mich gut zu bedienen, und ich brauchte nur zu verlangen, was ich haben wollte. Wir werden sehen, wohin das alles führte.

Elftes Kapitel


Mein unvorsichtiges Benehmen. – Passano. – Meine Haft im Gefängnisturm. – Abreise von Barcelona. – Die Castelbajac in Montpellier. – Nimes. – Meine Ankunft in Aix in der Provence.

Obgleich mein Wirt ein ehrlicher Schweizer zu sein schien, auf dessen Verschwiegenheit ich rechnen zu können glaubte, fand ich doch Ninas Empfehlung höchst unvorsichtig. Sie war die Geliebte des Generalkapitäns, der vielleicht ein geistreicher Mann war, aber in Spanien in Sachen der Galanterie jedenfalls unbequem sein mußte. Nach ihrer eigenen Schilderung war er von hitzigem, mißtrauischem und eifersüchtigem Charakter.

Aber es war nun einmal geschehen.

Als ich aufgestanden war, stellte mein Wirt mir einen Lohndiener vor, für den er bürgte; hierauf ließ er mir ein ausgezeichnetes Mittagessen auftragen. Es war ungefähr drei Uhr, und ich hatte seit dem Morgen geschlafen.

Nach dem Essen ließ ich den Schweizer heraufkommen und fragte ihn, ob er mir den Bedienten auf Ninas Befehl besorgt habe. Er bejahte dies und sagte, ein Mietswagen halte zu meiner Verfügung vor der Tür; er habe diesen wochenweise gemietet.

»Ich wundere mich, daß Nina sich diese Mühe macht. Denn meine Ausgaben kann nur ich allein bestimmen.«

»Mein Herr, alles ist bezahlt.«

»Alles ist bezahlt? – Das werde ich nicht leiden.«

»Sie können das mit ihr abmachen; inzwischen aber können Sie sich darauf verlassen, daß ich keinen Heller von Ihnen annehmen werde.«

Ich sah sofort alles mögliche Unheil voraus; da ich aber niemals unangenehmen Gedanken nachzuhängen liebte, so beschäftigte ich mich nicht genug mit diesen.

Ich hatte einen Empfehlungsbrief vom Marques de Mora für Don Miguel de Cevallos, und einen vom Obersten Royas für Don Diego de la Secada. Ich gab sie ab; und am nächsten Tage besuchte Don Diego mich und führte mich zum Grafen Peralada. Am übernächsten Tage stellte Don Miguel mich dem Grafen von Ricla vor; dies war der Generalkapitän, Statthalter des Königs im Fürstentum Katalonien und Liebhaber Ninas.

Der Graf von Peralada war ein sehr reicher junger Herr, hübsch von Gesicht, schlecht gewachsen, ein großer Wüstling, Freund schlechter Gesellschaft, Feind der Religion, der guten Sitten und der Polizei. Er war von heftigem Charakter und sehr stolz auf seine Geburt: er stammte in gerader Linie von jenem Grafen Peralada ab, der Philipp dem Zweiten so gut gedient hatte, daß der König ihn zum Grafen »von Gottes Gnaden« ernannte. Dies stand auf einem Pergament, das unter Glas und Rahmen in seinem Vorzimmer aufgehängt war. Es war absichtlich dort angebracht, damit die Besucher während der Viertelstunde, die er sie warten ließ, es lesen konnten.

Der Graf empfing mich mit jener freien und ungezwungenen Weise, die den großen Herrn ankündigt, der auf alle Zeichen von Ehrfurcht, die er wegen seiner hohen Geburt beanspruchen zu können glaubt, freiwillig verzichtet. Er dankte Don Diego dafür, daß er mich zu ihm geführt habe, und sprach mit mir viel vom Obersten Royas. Er fragte mich, ob ich die Engländerin kennen gelernt habe, die der Oberst in Saragossa unterhalte, und als ich diese Frage bejahte, flüsterte er mir ins Ohr, er habe bei ihr geschlafen.

Nachdem er mich in seinen Stall geführt hatte, wo er herrliche Pferde hatte, lud er mich für den nächsten Tag zum Mittagessen ein.

Ganz anders war der Empfang, den der Generalkapitän mir bereitete: er empfing mich stehend, damit er mir keinen Stuhl anzubieten brauchte. Als ich ihn in italienischer Sprache anredete, die ihm, wie ich wußte, vertraut war, antwortete er mir auf Spanisch und redete mich mit »Ussia« an – eine Zusammensetzung von vuestra Señioria: eure Herrlichkeit, eine gebräuchliche Anrede, mit der man in Spanien sehr verschwenderisch umgeht; denn die Packträger nennen sich untereinander so – im Austausch für den Titel Exzellenz, den ich ihm selbstverständlich gab.

Er sprach mit mir viel über Madrid und beklagte sich, daß Herr von Mocenigo über Bajonne nach Paris gereist sei, statt über Barcelona, wie er es ihm versprochen habe.

Um den Gesandten zu entschuldigen, sagte ich, Herr von Mocenigo habe auf der anderen Straße etwa fünfzig Wegstunden gespart; aber der Statthalter antwortete mir, es wäre besser gewesen, wenn er sein Wort gehalten hätte.

Er fragte mich, ob ich mich in Barcelona lange aufzuhalten gedächte, und schien überrascht zu sein, als ich ihm sagte, ich würde mit seiner Erlaubnis so lange bleiben, wie es mir gefiele.

»Ich wünschte,« versetzte er, »daß es Ihnen lange hier gefiele; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Vergnügungen, die mein Neffe Peralada Ihnen verschaffen kann, Sie in Barcelona in keinen guten Ruf bringen werden.«

Da der Graf Ricla diese Bemerkung in Gegenwart anderer Leute gemacht hatte, so glaubte ich sie dem Grafen Peralada bei Tische an demselben Tage wiedererzählen zu können. Er war entzückt davon und erzählte mir in ruhmredigem Ton, er habe drei Reisen nach Madrid gemacht und jedesmal vom Hofe den Befehl erhalten, nach Katalonien zurückzukehren.

Ich glaubte den indirekten Rat des Generalkapitäns befolgen zu sollen und schlug alle Einladungen zu Vergnügungspartien, sei es auf dem Lande, sei es in Peraladas Hause, höflich aus.

Am fünften Tage überbrachte ein Offizier mir eine Einladung zum Mittagessen bei dem Generalkapitän. Diese Einladung freute mich sehr; denn ich befürchtete, er möchte von meinen Beziehungen zu Nina während meines Aufenthaltes in Valencia gehört haben und mir deswegen grollen. Bei Tisch war er liebenswürdig und richtete oft das Wort an mich, aber stets in ernstem Tone und mit Vermeidung jeder scherzhaften Wendung.

Ich befand mich seit acht Tagen in Barcelona und hatte zu meinem großen Erstaunen von Nina noch nichts gehört; endlich aber schrieb sie mir einen Brief, ich möchte, zu Fuß und ohne Bedienten, an demselben Abend um zehn Uhr bei ihr vorsprechen.

Da ich in dieses Weib nicht verliebt war, so hätte ich sicherlich nicht hingehen sollen. Damit würde ich anständig und weise gehandelt haben und hätte zugleich dem Grafen Ricla einen Beweis meiner Achtung gegeben. Aber ich war, der Leser weiß es, weder weise noch vorsichtig. In meinem an Unglück so reichen Leben hatte ich doch noch nicht genug Unglück gehabt, um vernünftig zu werden.

Ich begab mich also zur bestimmten Stunde, im Überrock und nur mit meinem Degen bewaffnet, zu ihr. Ich fand sie mit ihrer Schwester zusammen, einer Person von ungefähr sechsunddreißig Jahren, die an einen italienischen Tänzer verheiratet war. Dieser hatte den Beinamen Schizza, weil er plattnäsiger war als ein Kalmücke.

Nina hatte mit ihrem Liebhaber gespeist, der sie nach seiner unabänderlichen Gewohnheit kurz vor meiner Ankunft verlassen hatte.

Sie sagte mir, sie sei hocherfreut, daß ich bei ihm gespeist habe, um so mehr, daß sie mit ihm über mich gesprochen und mich gelobt habe, daß ich ihr acht oder zehn Tage lang in Valencia so gute Gesellschaft geleistet habe.

»Vortrefflich, meine Liebe; aber mir scheint. Sie sollten mich nicht zu unschicklicher Zeit zu sich kommen lassen.«

»Das tue ich, um der Klatschsucht der Nachbarn keinen Stoff zu liefern.«

»Dazu ist das nicht das rechte Mittel; im Gegenteil, du wirst dadurch die bösen Zungen noch mehr reizen und deinem Grafen einen Floh ins Ohr setzen.«

»Er kann nichts davon wissen.«

»Er wird es erfahren.«

Um Mitternacht zog ich mich nach einer höchst anständigen Unterhaltung zurück. Ihre Schwester, die übrigens durchaus nicht zimperlich war, verließ uns keinen Augenblick, und Nina tat nichts, wodurch jene unsere vertrauten Beziehungen hätte erraten können.

An den nächsten Tagen machte ich jeden Abend den gleichen Besuch, weil sie mich darum bat. Wir ließen die Rechte des Grafen unangetastet, und darum fürchtete ich nichts. Trotzdem hätte ich nicht mehr hingehen sollen, denn ich erhielt eine Warnung. Aber mein Schicksal und mein Eigensinn trieben mich vorwärts.

Ein Offizier von der Wallonischen Garde redete mich eines Mittags an, als ich vor der Stadt allein spazieren ging. Er sagte höflich: »Ich bitte Sie, zu entschuldigen, daß ich, obwohl Ihnen unbekannt, mir die Freiheit nehme, von etwas zu sprechen, was mich selber durchaus nichts angeht, für Sie jedoch von großem Interesse ist.«

»Sprechen Sie nur, mein Herr! Ich kann Ihnen nur dankbar sein für das, was Sie mir gütigst sagen wollen.«

»Schön. Sie sind ein Fremder, mein Herr; Sie kennen vielleicht weder den Boden, worauf Sie sich befinden, noch die spanischen Sitten, und wissen infolgedessen nicht, daß Sie sich einer großen Gefahr aussetzen, indem sie jeden Abend oder vielmehr jede Nacht zu Nina gehen, sobald der Graf sie verlassen hat.«

»Was kann ich dabei riskieren? Ich möchte darauf wetten, daß der Graf es weiß, und daß er nichts Böses dabei findet.«

»Ich glaube ebenfalls, daß er es weiß, und daß er vielleicht ihr gegenüber tut, wie wenn er nichts weiß, weil er sie ebensosehr fürchtet, wie er sie liebt; aber wenn sie Ihnen sagt, der Graf nehme es nicht übel, so täuscht sie sich oder Sie; denn es ist nicht möglich, daß er sie liebt, ohne eifersüchtig zu sein, und ein eifersüchtiger Spanier…! Folgen Sie meinem Rat, mein Herr, glauben Sie mir und verzeihen Sie mir!«

»Ich danke Ihnen aufrichtig, mein Herr; aber ich werde Ihren Rat nicht befolgen, denn das wäre ein Verstoß Nina gegenüber, die meine Gesellschaft liebt, mich sehr gut aufnimmt und weiß, daß ich sie gerne besuche. Ich werde so lange hingehen, bis sie mir es verbietet, oder bis der Graf mir kundgibt, daß meine Besuche bei seiner Geliebten ihm unangenehm sind.«

»Das würde der Graf niemals tun; er würde fürchten, sich dadurch zu erniedrigen.«

Der brave Offizier erzählte mir hierauf ausführlich alle Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten, die Graf Ricla begangen hatte, seitdem er sich in diese Frau verliebt hatte, die ihn alles tun ließ, was sie wollte. Leute wurden auf den einfachen Verdacht, sie zu lieben, aus dem Dienst gejagt, andere wurden in die Verbannung geschickt, noch andere unter nichtigen Vorwänden eingekerkert. Der Graf, der ein so hohes Amt bekleidete und der vor der Bekanntschaft mit Nina ein Muster von Weisheit, Gerechtigkeit und Tugend gewesen war – er war, seitdem er sich in sie verliebt hatte, ungerecht, gewalttätig, blind geworden und gab allen Leuten ein Ärgernis.

Die Auseinandersetzungen des ehrlichen Offiziers hätten mich zur Vernunft bringen sollen; aber es war nicht der Fall. Ich sagte ihm beim Abschied aus Höflichkeit, ich würde mich allmählich von ihr trennen; aber ich dachte nicht daran, zu tun, was ich sagte.

Als ich ihn fragte, wie er erfahren hätte, daß ich zu Nina ginge, antwortete er mir lachend, das sei das Tagesgespräch in allen Kaffeehäusern der Stadt.

An demselben Abend besuchte ich Nina, ohne ihr ein Wort von unserer Unterhaltung zu sagen. Ich wäre entschuldbar gewesen, wenn ich sie geliebt hätte; da ich aber nichts für sie fühlte, so war ich – wahnsinnig.

Am 14. November ging ich um die gewöhnliche Stunde zu ihr. Ich fand bei ihr einen Mann, der ihr Miniaturen zeigte. Ich sah ihn an und erkannte den niederträchtigen Schurken Passano oder Pogomas.

Das Blut stieg mir zu Kopf; ich nahm Nina bei der Hand, führte sie in ein Nebenzimmer und sagte ihr, sie möchte augenblicklich den Gauner fortschicken, den sie bei sich hätte; sonst würde ich gehen und niemals wiederkommen.

»Es ist ein Maler.«

»Ich weiß es, ich kenne ihn; ich werde Ihnen alles sagen; aber schicken Sie ihn fort oder ich gehe.«

Nina rief ihre Schwester und trug ihr auf, dem Genueser zu befehlen, sofort ihr Haus zu verlassen und es nicht wieder zu betreten.

Der Befehl wurde sofort ausgeführt, und die Schwester berichtete mir, er habe im Hinausgehen gesagt: Se ne pentira – »er wird es bereuen!«

Eine Stunde lang erzählte ich ihnen einen Teil der Beschwerden, die ich gegen das Ungeheuer hatte.

Am nächsten Tage, dem 15. November, begab ich mich zur gewohnten Stunde zu Nina, und nachdem ich in Gegenwart ihrer Schwester zwei Stunden in heiterer Unterhaltung verbracht hatte, ging ich mit dem Schlage zwölf Uhr hinaus.

Die Haustüre befand sich unter dem Bogengang, der bis an das Ende der Straße führte.

Es war dunkel. Kaum hatte ich fünfundzwanzig Schritte unter den Steinlauben gemacht, als ich mich von zwei Männern angegriffen sah.

Schnell sprang ich zurück, zog den Degen, rief »Mörder!« und stieß meine Klinge dem nächsten in den Leib. Dann sprang ich aus dem Bogengang über die niedrige Mauer mitten auf die Straße und lief davon. Ein Schuß, den der zweite Mörder mir nachsandte, traf mich glücklicherweise nicht. Unterwegs fiel ich hin, sprang aber sofort wieder auf und lief weiter, ohne meinen Hut zu suchen, den ich bei meinem Sturze verloren hatte. Ich wußte nicht, ob ich verwundet war, aber ich lief immer weiter, den blanken Degen in der Hand, bis ich ganz außer Atem in meinem Gasthof ankam, wo ich meinen Degen vor dem Wirt auf den Schenktisch legte. Die Klinge war ganz blutig.

Ich erzählte dem guten alten Mann, was vorgefallen war; hierauf zog ich meinen Überrock aus und fand unterhalb der Achsel zwei Kugellöcher.

»Ich werde zu Bett gehen,« sagte ich zu meinem Schweizer, »und lasse Ihnen meinen Degen und meinen Überrock zurück. Morgen früh werde ich Sie bitten, mit mir vor den Richter zu gehen, um diesen Mordanfall anzuzeigen; denn wenn ein Mensch getötet H0Z sein sollte, so wird man sehen, daß ich nur in Verteidigung meines Lebens gehandelt habe.«

»Ich glaube, Sie werden besser tun, sofort abzureisen.«

»Sie glauben also, daß die Sache sich nicht so verhält, wie ich sie ihnen erzählt habe?«

«Ich glaube alles. Aber reisen Sie ab! Denn ich sehe, von wo der Streich ausgeht, und Gott weiß, was Ihnen noch geschieht!«

»Mir wird nichts geschehen; wenn ich aber abreiste, würde man mich für schuldig halten! Nehmen Sie den Degen in Verwahrung! Man hat mich ermorden wollen. Die Mörder mögen sich in acht nehmen!«

Ziemlich aufgeregt legte ich mich zu Bett; indessen war ich doch weniger aufgeregt, wie ich es nach einem solchen Ereignis hätte sein können; denn wenn ich einen Menschen getötet hatte – wie ich noch jetzt ganz bestimmt glaube – so hatte ich es nur zu meiner Selbsterhaltung getan. Mein Gewissen war ruhig.

Um sieben Uhr morgens wurde an meine Tür geklopft. Ich öffnete und sah vor mir meinen Wirt und einen Beamten in Uniform, der mir befahl, ihm alle meine Papiere zu übergeben, mich anzukleiden und ihm zu folgen; wenn ich den geringsten Widerstand leistete, würde er bewaffnete Hilfe heraufkommen lassen.

Ich antwortete ihm: »Ich habe durchaus keine Lust, Widerstand zu leisten, auch bedarf ich dessen nicht. In wessen Auftrag verlangen Sie von mir meine Papiere?«

»Auf Befehl des Gouverneurs; sie werden Ihnen zurückgegeben werden, wenn nichts Verdächtiges dabei ist.«

»Und wohin werden Sie mich bringen?«

»Auf die Zitadelle. Sie werden dort in Haft gesetzt werden.«

Ich öffnete meinen Koffer und nahm meine Wäsche und meine Kleider heraus, die ich dem Schweizer übergab. Der Beamte machte ein ganz erstauntes Gesicht, als er sah, daß der Koffer halb voll von Papieren war.

»Dies sind meine Papiere, mein Herr; andere habe ich nicht.«

Ich schloß den Koffer wieder zu und übergab ihm den Schlüssel.

Er nahm ihn und sagte zu mir: »Ich rate Ihnen, in einen Mantelsack die Sachen zu legen, die Sie für die Nacht brauchen.«

Hierauf wandte er sich zum Wirt und befahl ihm, mir ein Bett zu schicken; dann sagte er, er wünschte zu wissen, ob ich Papiere in meinen Taschen hätte.

»Nur meine Pässe.«

»Gerade Ihre Pässe«, sagte er mit einem bitteren Lächeln, »wünsche ich zu erhalten.«

»Meine Pässe sind unantastbar, ich werde sie nur dem Generalgouverneur übergeben, und Sie können sie mir nur zugleich mit meinem Leben entreißen. Haben Sie Respekt vor Ihrem König, hier ist sein Paß, hier der des Grafen Aranda und hier der des venetianischen Gesandten. In diesen Pässen wird Ihnen befohlen, mich zu respektieren. Sie bekommen Sie nur, wenn Sie mir Arme und Beine binden lassen.«

»Mäßigen Sie sich, mein Herr! Wenn Sie sie mir geben, ist das so gut, als wenn Sie sie Seiner Exzellenz übergäben. Wenn Sie sich widersetzen, werde ich Ihnen nicht Hände oder Füße binden lassen, aber ich werde Sie vor den Generalkapitän führen, und dort werden Sie gezwungen sein, sie vor allen Leuten herauszugeben. Liefern Sie sie mir gutwillig aus, und ich werde Ihnen eine Quittung darüber ausstellen.«

Mein guter Schweizer sagte mir, es wäre besser, wenn ich nachgäbe, und meine Pässe könnten mir nur günstig sein. Der Beamte gab mir eine genaue Quittung darüber; ich legte diese in meine Brieftasche, die er mir aus Gefälligkeit ließ, und ging mit ihm hinaus. Sechs Häscher, die er unter seinem Befehl hatte, folgten uns nur von ferne. Indem ich mich an die Katastrophe in Madrid erinnerte, fühlte ich mich menschlich behandelt.

Bevor wir gingen, sagte der Beamte mir, ich könne bei meinem Wirt bestellen, was ich zu meinen Mahlzeiten zu erhalten wünsche, und ich bat diesen, mir Mittag- und Abendessen nach meiner Gewohnheit zu schicken.

Unterwegs erzählte ich dem Beamten, was mir in der letzten Nacht begegnet war; er hörte mich mit großer Aufmerksamkeit an, ohne jedoch auch nur ein einziges Wort zu äußern.

In der Zitadelle übergab mein Begleiter mich dem wachthabenden Offizier, der mich in ein Zimmer im ersten Stock brachte. Dieses Zimmer hatte völlig kahle Wände, aber die Fenster waren nicht vergittert und gingen auf einen kleinen Platz hinaus.

Kaum war ich zehn Minuten dort, so brachte man mir meinen Nachtsack und ein ausgezeichnetes Bett.

Als ich allein war, überließ ich mich meinen Betrachtungen. Ich hörte mit dem auf, womit ich hätte anfangen sollen:

Was bedeutet ein solches Gefängnis, und was kann es mit meinem Abenteuer von voriger Nacht zu tun haben? Ich sehe keine Beziehungen. Man will meine Papiere prüfen; ohne Zweifel glaubt man, ich habe mit irgendeiner Verschwörung gegen die Regierung oder die Religion zu tun; ich weiß, daß ich nichts zu befürchten habe, und darum bin ich ruhig. Man gibt mir eine sehr anständige Unterkunft, versichert sich aber meiner Person jedenfalls so lange, bis man meine Papiere untersucht hat. In alledem ist nichts, was nicht in der Ordnung wäre.

Die Erstechung meines Mörders hat gar nichts damit zu tun. Selbst wenn der Schurke tot sein sollte, habe ich doch, glaube ich, von dieser Seite nichts zu fürchten.

Anderseits zeigt mir der Rat, den mein Wirt mir gestern Abend gab, daß ich alles zu fürchten habe, wenn die Menschen, die mich töten wollten, auf Befehl eines Mannes handelten, der nichts zu fürchten hat, weil ihm eine unbeschränkte Macht zu Gebote steht.

Ricla kann sich rächen, er kann mich verderben wollen; aber ich darf dies nicht annehmen.

Würde ich gut daran getan haben, dem Rate des ehrlichen Schweizers zu folgen und auf der Stelle abzureisen?

Das kann wohl sein, aber ich glaube es nicht; denn abgesehen davon, daß es meine Ehre verletzt hätte, so hätte man mich verfolgen, mich fangen und in einen schrecklichen Kerker setzen können.

Hier bin ich zwar in einem Gefängnis, befinde mich aber ganz behaglich.

Zur Durchsicht meiner Papiere sind nur drei oder vier Tage nötig, und da in ihnen nichts enthalten ist, was die Regierung oder den spanischen Stolz beleidigen könnte, so wird man sie mir zurückgeben und zugleich mit ihnen meine Freiheit, die mir um so süßer erscheinen wird, da ich ihrer für einige Augenblicke beraubt gewesen bin.

Meine Pässe können mir nur Achtung verschaffen.

Es ist nicht wahrscheinlich, daß der heute Nacht gegen mich verübte Angriff von einem tyrannischen Befehl des einzigen Mannes ausgeht, der in Barcelona einen solchen erteilen kann; denn abgesehen davon, daß ein solcher Befehl ihn entehrt hätte, so würde er mich auch jetzt nicht so sanft behandeln. Ist der Befehl von ihm ausgegangen, so hat er auch auf der Stelle erfahren, daß seinen Mordknechten der Streich mißlungen ist, und ich glaube nicht, daß ein kluger Mann wie er dann den Befehl gegeben hätte, mich zu verhaften.

Wir werden sehen.

Täte ich gut daran, an Nina zu schreiben? Aber kann man hier überhaupt schreiben?

Mit tausend solchen Gedanken beschäftigt lag ich auf meinem Bett, denn einen Stuhl hatte ich nicht. Während ich so nachdachte, ohne zu einem Entschluß kommen zu können, hörte ich ein Geräusch. Ich öffnete mein Fenster und sah zu meiner größten Überraschung den Schurken Passano, den ein Korporal und zwei Soldaten in das Gefängnis führten, das sich fünfundzwanzig Schritte von meinem Fenster entfernt im Erdgeschoß befand. Als der Spitzbube in die Tür trat, blickte er auf, bemerkte mich und fing an zu lachen.

»Aha!« sagte ich bei mir selber, »da gibt es neue Nahrung für meine Mutmaßungen. Der Schurke hat zu Ninas Schwester gesagt, ich werde es bereuen. Er wird irgendeine gräßliche Verleumdung gegen mich ausgeheckt haben, und man nimmt ihn in Haft, damit er für sie eintritt. Gut! Besseres könnte ich mir gar nicht wünschen.«

Man brachte mir ein leckeres Mittagessen, aber ich hatte weder Tisch noch Stuhl. Der Soldat, der mich zu bewachen hatte, besorgte mir beides für einen Duro.

Es war verboten, ohne besondere Erlaubnis den Gefangenen Federn und Tinte zu liefern; da aber die Vorschrift von Bleistift und Papier nichts sagte, so besorgte mein Soldat mir für mein Geld davon soviel, wie ich wollte, ferner noch Kerzen und Leuchter, und ich machte, um die Zeit totzuschlagen, geometrische Berechnungen.

Ich ließ den freundlichen Soldaten mit mir zu Abend essen, und er versprach mir, am nächsten Tage mich einem seiner Kameraden zu empfehlen, der mich treu bedienen würde. Die Wache wurde um elf Uhr abgelöst.

Am Morgen des vierten Tages trat der wachhabende Offizier mit traurigem Gesicht bei mir ein und sagte mir höflich, es tue ihm sehr leid, mir eine recht unangeneme Nachricht ankündigen zu müssen.

Eine solche hatte ich an diesem Ort nicht erwartet. »Worum handelt es sich?«

»Ich habe Befehl, Sie in das unterirdische Gefängnis des Turms zu bringen.«

»Mich?«

«Sie.«

»Man hat also in mir einen großen Verbrecher entdeckt. Gehen wir, mein Herr!«

Wir kamen in ein rundes Gefängnis, eine Art von Keller, der mit großen Steinfliesen gepflastert war. Fünf oder sechs Spalten von zwei Fuß Breite ließen ein spärliches Licht ein. Der Offizier sagte mir, ich könne befehlen, was ich zu essen wünsche, aber nur einmal am Tage; denn sonst sei es verboten, das Gefängnis zu öffnen.

»Wer wird mir Licht bringen?«

»Sie können beständig eine Lampe brennen lassen, und diese muß Ihnen genügen, denn Bücher sind nicht erlaubt. Wenn man Ihnen Ihr Essen bringt, wird der wachhabende Offizier die Pasteten und das Geflügel öffnen, um sich zu überzeugen, daß sie nichts Geschriebenes enthalten; denn hier ist es nicht erlaubt, Briefe zu empfangen oder welche zu schreiben.«

»Ist dieser Befehl eigens für mich gegeben worden?«

»Nein, mein Herr, es ist allgemeine Vorschrift. Sie werden beständig eine Schildwache bei sich haben, mit der Sie sich nach Ihrem Belieben unterhalten können.«

»Die Tür wird also offen sein?«

»O nein!«

»Und die Reinlichkeit?«

»Der Offizier, der Ihnen das Essen bringen läßt, wird einen Soldaten mitkommen lassen, der Sie für eine Kleinigkeit bedienen wird.«

»Darf ich zu meiner Unterhaltung mit Bleistift architektonische Pläne zeichnen?

»Soviel Sie wollen!«

»Wollen Sie also, bitte, befehlen, daß man mir Papier kaufe.«

»Mit Vergnügen.«

Der Offizier verließ mich mit bekümmerter Miene, indem er mich zur Geduld ermahnte, wie wenn es von mir abgehangen hätte, keine Geduld zu haben, und verschloß doppelt eine dicke Tür, hinter der ich eine Schildwache mit aufgepflanztem Bajonett sah. In dieser Tür war ein kleines, vergittertes Fenster angebracht.

Der Offizier, der mittags kam, brachte mir Papier, zerlegte ein Huhn und stocherte mit der Gabel in den Schüsseln herum, worin sich Tunke befand, um sich zu vergewissern, daß nicht etwa ein Papier auf dem Grunde läge.

Mein Essen war so reichlich, daß es für sechs genügt haben würde. Ich sagte ihm, er würde mir eine Ehre erweisen, wenn er mit mir speisen wollte, aber er antwortete mir, das sei streng verboten. Dieselbe Antwort gab er mir, als ich ihn fragte, ob ich die Zeitungen lesen dürfte.

Meine Schildwachen führten ein Götterleben, denn ich gab ihnen zu essen und bewirtete sie mit ausgezeichnetem Wein. Die armen Teufel behandelten mich denn auch mit aller erdenklichen Rücksicht.

Ich war sehr neugierig, zu erfahren, ob ich das gute Essen auf meine eigenen Kosten erhielt, aber es war mir nicht möglich, meine Neugier zu befriedigen; denn der Kellner aus dem Gasthof konnte nicht bis zu mir dringen.

In diesem Loch, worin ich zweiundvierzig Tage verbrachte, schrieb ich mit Bleistift und ohne ein anderes Hilfsmittel als mein Gedächtnis die ganze Widerlegung der Geschichte der Regierung von Venedig von Amelot de la Houssaye; die Stellen für die Zitate ließ ich frei, um sie einzufügen, wenn ich wieder in Freiheit wäre und das Werk selber vor Augen hätte.

Der Zufall fügte es, daß ich in meinem Gefängnis einen Augenblick lachen durfte, und das Lachen ist ein Vorrecht des vernunftbegabten Wesens, das oft zu wenig mit Vernunft begabt ist.

Um diese Geschichte zu erzählen, muß ich etwas weiter ausholen:

Ein Italiener, namens Tadini, kam nach Warschau, während ich mich in der polnischen Hauptstadt aufhielt. Er war an Tomatis empfohlen, und dieser empfahl ihn an mich. Dieser Tadini nannte sich einen Okulisten. Tomatis lud ihn manchmal zum Essen ein; ich, der ich damals nicht reich war, konnte ihm weiter nichts geben als gute Worte und eine Tasse Kaffee, wenn er zum Frühstück zu mir kam.

Tadini sprach überall von seinen Operationen und schimpfte auf einen anderen, seit zwanzig Jahren in Warschau ansässigen Augenarzt, weil dieser, wie er behauptete, nicht den Star zu stechen wüßte.

Der andere dagegen nannte ihn einen Scharlatan, der nicht einmal wisse, wie das Auge gebaut sei.

Tadini bat mich, zu seinen Gunsten mit einer Dame zu sprechen, die von dem anderen erfolglos operiert worden war, denn der Star war wiedergekommen.

Diese Dame war auf dem operierten Auge blind, aber mit dem anderen sah sie, und da die Geschichte heikel war, so sagte ich Tadini, ich wolle nichts damit zu tun haben.

»Ich habe mit der Dame gesprochen,« sagte der Italiener zu mir, »und habe ihr gesagt, daß Sie für mich bürgen können.«

»Daran haben Sie sehr unrecht getan, denn in solchen Dingen würde ich nicht einmal für den allergelehrtesten Menschen bürgen. Ihr Wissen aber kenne ich ja gar nicht.«

»Aber Sie wissen doch, daß ich Okulist bin.«

»Ich weiß, daß Sie als solcher bezeichnet werden; das ist aber auch alles. In Ihrem Beruf dürfen Sie keine Empfehlung von irgendeinem Menschen nötig haben; Sie müssen laut rufen: Operibus credite – glaubet meinen Werken! Das muß Ihr Wahlspruch sein.«

Er machte keine Einwendungen, legte mir aber eine Menge Zeugnisse vor, die ich vielleicht gelesen haben würde, wenn nicht das allererste, das er mir zeigte, von einer Person hergerührt hätte, die urbi et orbi verkündete, Herr Tadini habe sie vom schwarzen Star geheilt. Ich lachte ihm ins Gesicht und bat ihn, mich ungeschoren zu lassen.

Einige Tage darauf war ich mit ihm zum Essen bei der Dame mit dem grauen Star. Ich behandelte ihn freundlich und ließ ihn reden, jedoch mit der Absicht, die Dame rechtzeitig zu warnen, daß sie sich ihm nicht anvertrauen solle. Ich fand sie beinahe entschlossen, sich der Operation zu unterwerfen; da aber der Bursche mich als Zeugen angerufen hatte, so wünschte sie, daß ich bei einer Disputation zwischen ihm und dem Warschauer Okulisten zugegen wäre. Dieser kam nach Tisch.

Ich war mit dem größten Vergnügen bereit, die Gründe der beiden feindlichen Professoren anzuhören. Der Alte war ein Deutscher, sprach aber gut französisch. Er griff jedoch Tadini in lateinischer Sprache an. Dieser fiel ihm sofort ins Wort, indem er sagte, die Dame müsse doch verstehen können, was sie sagten. Dieser Meinung schloß ich mich an.

Offenbar aber verstand Tadini kein Wort Latein.

Der deutsche Augenarzt führte zunächst Gründe der Vernunft an. Er sagte: es sei allerdings wahr, daß das Stechen des grauen Stares dem Operateur und dem Operierten die Gewißheit gebe, daß der Star nicht wiederkommen werde; die Operation aber sei weniger sicher und setze außerdem den Kranken der Gefahr aus, blind zu werden, indem er die unersetzbare Kristallinse verliere.

Tadini hätte dies leugnen sollen, denn der Deutsche hatte unrecht; statt dessen beging er die Albernheit, eine kleine Schachtel hervorzuziehen, worin er kleine Kugeln hatte, die sehr schönen Kristallinsen glichen.

»Was soll das bedeuten?« fragte der alte Professor.

»Ich besitze die Kunst, diese Kügelchen anstatt der Kristallinsen in die Hornhaut einzusetzen.«

Hierüber lachte der Deutsche so laut und so anhaltend, daß die Dame sich nicht enthalten konnte, ebenfalls zu lachen. Ich hätte gerne mitgelacht, aber ich schämte mich, für einen dummen Ignoranten zu gelten, und verhielt mich schweigend.

Tadini glaubte ohne Zweifel, ich wolle mit diesem Schweigen das Lachen des Deutschen mißbilligen, und hoffte das Gewitter beschwören zu können, indem er sich an mich wandte.

Ich antwortete ihm: »Da Sie meine Meinung kennen zu lernen wünschen, so will ich sie Ihnen sagen: der Unterschied zwischen einem Zahn und der Kristallinse des Auges ist sehr groß und Sie haben unrecht, wenn Sie glauben, man könne die Kristallinse in das Auge zwischen der Netzhaut und der Hornhaut einsetzen, wie Sie vielleicht an Stelle eines ausgerissenen hohlen Zahnes einen falschen Zahn in einen Kiefer einsetzen.«

»Mein Herr, ich habe keinem Menschen je einen Zahn eingesetzt!«

»Das kann wohl sein, aber sicherlich auch keine Kristallinse.«

Als ich diese Worte sagte, stand der freche Ignorant auf und ging hinaus. Daran tat er wohl, denn was hätte er anderes machen sollen?

Wir lachten noch lange über den Mann, und die Dame nahm sich fest vor, den unverschämten Menschen, der sehr gefährlich werden konnte, nicht mehr zu empfangen. Der Professor aber glaubte, ihn nicht stillschweigend verachten zu dürfen. Er ließ ihn vor das Kollegium der Fakultät zitieren, um in einer Prüfung seine Kenntnisse von der Einrichtung des menschlichen Auges zu zeigen. Außerdem brachte er einen komischen Artikel in die Zeitungen, worin er sich über die Einsetzung einer Kristallinse zwischen Netz- und Hornhaut lustig machte; dabei zitierte er den wunderbaren Künstler, der in Warschau wäre und diese Operation mit derselben Leichtigkeit vollzöge, wie ein Zahnarzt einen falschen Zahn einsetzte.

Wütend und verzweifelt lauerte Tadini dem alten Professor in einer Straße auf; er griff ihn mit gezücktem Degen an und zwang ihn, in ein Haus zu flüchten.

Nach dieser schönen Heldentat verließ er ohne Zweifel die Stadt zu Fuß; denn man sah ihn nicht wieder.

Man stelle sich also meine Überraschung und meine Lachlust vor, als ich eines Tages durch das vergitterte Türfenster meines Calabozo, worin ich vor Langeweile umkam, den Okulisten Tadini sah, der in weißer Uniform mit aufgepflanztem Bajonett als Schildwache dastand. Ich weiß nicht, wer von uns beiden am meisten erstaunt war. Jedenfalls fiel der arme Teufel aus den Wolken, als er trotz der Dunkelheit mich endlich erkannte. Aber ihm war nicht lächerlich zumute, während ich mich nicht enthalten konnte, während der ganzen zwei Stunden bis zu seiner Ablösung aus vollem Halse zu lachen.

Nachdem ich ihm tüchtig zu essen gegeben und ihn mehrere Gläser meines ausgezeichneten Weines hatte trinken lassen, schenkte ich ihm einen Taler und versprach ihm eine gleiche Bewirtung für jedes Mal, wo er auf Posten sein würde. Er kam jedoch nur viermal wieder, denn die Soldaten rissen sich darum, tagsüber vor meinem Gefängnis Wache zu stehen.

Tadini belustigte mich, indem er mir alles Unglück erzählte, das ihm seit seinem Fortgange von Warschau widerfahren war. Nachdem er viel gereist, aber nirgendswo das Glück getroffen hatte, war er nach Barcelona gekommen, wo die katalonischen Gesetze auf seine Würde als Okulist keine Rücksicht genommen hatten. Da er keine Empfehlungen hatte und kein Universitätsdiplom besaß, so wollte man mit ihm ein Examen in lateinischer Sprache anstellen. Er weigerte sich jedoch, sich diesem zu unterziehen, indem er erklärte, die lateinische Sprache habe mit den Augenkrankheiten nichts zu schaffen. Man begnügte sich nicht, ihn wie an anderen Orten einfach auszuweisen – worin er sich gefügt hätte, zumal da er daran gewöhnt war – sondern man hatte ihn zum Soldaten gemacht.

Nachdem ich ihm Verschwiegenheit versprochen hatte, vertraute er mir an, er würde bei der nächsten Gelegenheit desertieren, wollte jedoch sicher sein, daß er nicht auf die Galeren käme.

»Und was haben Sie mit Ihren Kristallinsen gemacht?«

»Auf diese habe ich seit Warschau verzichtet, obgleich ich sicher bin, daß sie Erfolg haben müssen.«

Er hatte niemals eine praktische Erfahrung damit gemacht.

Ich habe nicht wieder von ihm sprechen hören.

Am 28. Dezember, sechs Wochen nach dem Tage meiner Verhaftung, kam der wachthabende Offizier und forderte mich auf, mich anzukleiden und ihm zu folgen.

»Wohin gehen wir?«

»Es wartet auf Sie ein Beamter des General-Kapitäns; diesem werde ich Sie übergeben.«

Ich kleidete mich in aller Eile an, und nachdem ich alle Sachen, die ich dort hatte, in einen Mantelsack gepackt hatte, folgte ich ihm.

In der Wachtstube übergab er mich demselben höflichen Beamten, der mich verhaftet hatte. Dieser führte mich nach dem Palast des Statthalters, wo ein Regierungsbeamter mir meinen Koffer zeigte und mir sagte, alle meine Papiere seien darin. Hierauf übergab er mir meine drei Pässe mit den Worten, sie seien in Ordnung.

»Das weiß ich und wußte ich.«

»Ich zweifle nicht daran, aber man hat starke Gründe gehabt, das Gegenteil zu glauben.«

»Das müssen Gründe sein, die ich mir nicht denken kann; denn, wie Sie sehen, waren diese Gründe unbegründet.«

»Sie werden begreifen, Señor, daß ich auf eine solche Bemerkung nicht antworten kann.«

»Das verlange ich auch nicht.«

»Euer Gnaden sind vollkommen gerechtfertigt; indessen erteile ich Ihnen hierdurch den Befehl, Barcelona in drei Tagen zu verlassen und Katalonien in acht.«

»Selbstverständlich werde ich gehorchen; aber ich hoffe, alle ehrlichen Leute der ganzen Welt, und Sie zu allererst, werden zugeben, daß dieser Befehl kaum dazu angetan ist, die mir widerfahrene Ungerechtigkeit wieder gut zu machen.«

»Es steht in Ihrer Macht, nach Madrid zu gehen und sich bei Hofe zu beschweren, wenn Sie Anlaß zu Klagen zu haben glauben.«

»Ich habe sehr großen Anlaß zu Klagen, mein Herr, aber ich werde nach Frankreich gehen und nicht nach Madrid: ich habe von Spanien genug. Wollen Sie mir wohl den Befehl schriftlich geben, den Sie mir erteilt haben?«

»Das ist nicht nötig. Sie haben ihn ja verstanden. Ich heiße Emanuel Badillo und bin Sekretär der Regierung. Der Herr wird Sie nach Santa Maria in dasselbe Zimmer bringen, worin er Sie verhaftet hat. Sie werden dort alles finden, was Sie zurückgelassen haben. Sie sind frei. Morgen werde ich Ihnen den von Seiner Exzellenz, dem General-Kapitän, und von mir unterzeichneten Paß schicken. Leben Sie wohl, mein Herr.«

Begleitet von dem Zivilbeamten und einem Bedienten, der meinen Koffer trug, begab ich mich nach meinem Gasthof. Unterwegs las ich die Theateranzeige für denselben Abend und sagte: »Gut, ich werde die Oper sehen.«

Mein guter Schweizer strahlte vor Freude, als er mich wiedersah, und ließ mir schnell ein gutes Feuer anzünden; denn bei dem Nordwind war es außerordentlich kalt. Er versicherte mir, kein Mensch außer ihm habe mein Zimmer betreten, und übergab mir in Gegenwart des Beamten meinen Degen, meinen Überrock und außerdem, zu meinem großen Erstaunen, meinen Hut, den ich bei meinem Sturz auf der Flucht vor den Mördern verloren hatte. Der Beamte ließ hierauf ebenfalls alles, was ich in dem Turm der Zitadelle zurückgelassen hatte, auf mein Zimmer bringen und fragte mich, ob ich irgendwelche Ansprüche an ihn hätte.

»Nicht den geringsten, mein Herr.«

»Ich wäre glücklich, wenn Sie anerkennen wollten, daß ich nur meine Pflicht getan habe und daß Sie sich nicht über mich zu beklagen haben.«

Ich streckte ihm die Hand hin und versicherte ihn meiner Achtung.

»Leben Sie wohl, mein Herr, ich wünsche Ihnen glückliche Reise.«

Diese Erzählung ist in allen Einzelheiten wahr; sie könnte, wenn das der Mühe wert wäre, von mehreren Personen bezeugt werden. Aber sie ist noch nicht zu Ende:

Ich sagte meinem guten Schweizer, ich würde um zwölf Uhr zu Mittag essen, und er müßte daran denken, mir zur Feier meiner Befreiung ein Festmahl zu rüsten; hierauf ging ich mit meinem Bedienten nach der Post, um nachzufragen, ob Briefe für mich da seien. Ich fand fünf oder sechs, die völlig unversehrt waren, worüber ich mich ebenfalls in hohem Grade verwunderte. Denn wie kann man begreifen, daß eine Behörde einen Menschen aus irgendwelchen Verdachtsgründen seiner Freiheit beraubt und sich dann selbstverständlich auch seiner Papiere bemächtigt, zugleich aber das Geheimnis der Briefe achtet, die an ihn adressiert sind? Ich glaube, schon gesagt zu haben: Spanien ist ein Land, wo alles anders ist als sonst auf der Welt.

Diese Briefe kamen von Paris, Venedig, Warschau und Madrid, und ich hatte keinen Anlaß zum Verdacht, daß die Behörde einen anderen beseitigt hätte.

Nachdem ich in meinen Gasthof zurückgekehrt war, um in aller Bequemlichkeit meine Briefe zu lesen, ließ ich meinen Wirt kommen und fragte ihn nach meiner Rechnung.

»Mein Herr, Sie sind mir nichts schuldig. Hier ist die Rechnung über Ihre Ausgaben seit Ihrer Verhaftung; wie Sie sehen, ist sie beglichen. Außerdem habe ich von derselben Seite den Befehl erhalten, Ihnen im Gefängnis und solange Sie überhaupt in Barcelona bleiben, alles zu liefern, was Sie wünschen könnten.«

»Haben Sie gewußt, wie lange Zeit ich im Gefängnis bleiben sollte?«

»Nein, mein Herr; man hat mich am Ende jeder Woche bezahlt.«

»In wessen Auftrag?«

»Das wissen Sie.«

»Haben Sie irgendeinen Brief für mich empfangen?«

»Nichts.«

»Und was ist während meiner Haft aus dem Lohndiener geworden?«

»Nach Ihrer Verhaftung zahlte ich ihm seinen Lohn und entließ ihn; jetzt habe ich in bezug auf ihn keinerlei Befehl.«

»Ich wünsche, daß der Mann mich bis Perpignan begleitet.«

»Sie haben recht, und ich glaube, Sie tun gut daran, Spanien zu verlassen, denn Gerechtigkeit werden Sie hier nicht finden.«

»Was hat man zu dem Mordanfall gesagt?«

»O, das ist sehr komisch! Man sagt, den Büchsenschuß, den man hörte, hätten Sie selber abgefeuert; ebenso hätten Sie selber Ihren Degen blutig gemacht; denn man behauptet, man habe weder einen Toten noch einen Verwundeten gefunden.«

»Das ist scherzhaft; und mein Hut?«

»Man hat ihn mir drei Tage später gebracht.«

»Welches Chaos! Aber wußte man, daß ich im Turm saß?«

»Die ganze Stadt wußte es, und man führte zwei gute Gründe dafür an, den einen öffentlich, den anderen im Vertrauen.«

»Und was sind das für Gründe?«

»Der öffentlich bekannt gegebene Grund: daß Ihre Pässe falsch wären; der Grund, den man sich ins Ohr flüsterte: daß Sie alle Nächte mit der Nina verbrächten.«

»Sie hätten bezeugen können, daß ich keine Nacht außer dem Hause geschlafen habe.«

»Das habe ich auch zu jedermann laut gesagt; aber das war einerlei: Sie gingen zu Nina, und für einen gewissen hohen Herrn ist das ein Verbrechen. Ich glaube aber jetzt, Sie haben gut daran getan, daß Sie nicht die Flucht ergriffen, wie ich es Ihnen riet; denn jetzt stehen Sie vor aller Welt gerechtfertigt da.«

»Ich will heute Abend in die Oper gehen, aber nicht ins Parkett. Ich bitte Sie, mir eine Loge für mich allein zu besorgen.«

»Sie sollen sie erhalten. Aber, mein guter Herr, Sie werden nicht zur Nina gehen, nicht wahr?«

»Nein, mein braver Mann, ich bin entschlossen, nicht mehr hinzugehen.«

Im Augenblick, wo ich mich zum Essen niedersetzen wollte, brachte ein Bankkommis mir einen Brief, der mir eine angenehme Überraschung bereitete, denn er enthielt die Wechsel, die ich in Genua dem Marchese Augustino Grimaldi de la Pietra gegeben hatte, nebst folgenden Zeilen:

Passano ersucht mich vergebens, diese Wechsel nach Barcelona zu schicken, um Sie verhaften zu lassen. Ich schicke sie, aber um sie Ihnen zu schenken und Sie dadurch zu überzeugen, daß ich nicht der Mann bin, die Leiden von Menschen zu vermehren, die ohnehin schon vom Schicksal verfolgt werden.

Genua, den 30. November 1768.

Das war der vierte Genuese, der sich gegen mich wie ein wirklicher Held betrug. Mußte ich um dieser vier braven Männer willen ihrem scheusäligen Landsmann Passano verzeihen?

Ich fühlte mich solcher Tugend nicht fähig. Ich dachte, es wäre besser, wenn ich diesen Räuber beseitigte, der über alle Genuesen Schimpf und Schande brächte; aber ich habe vergeblich gewünscht, eine Gelegenheit dazu zu finden. Einige Jahre später erfuhr ich, daß der Elende in größter Armut in seiner Heimatstadt gestorben sei.

Die hochherzige Handlungsweise des Herrn Grimaldi machte mich neugierig zu erfahren, was aus Passano geworden sei. Ich wußte, daß er als Gefangener in der Kaserne geblieben war, als man mich in den Turm brachte, und es war für mich wichtig, seinen Aufenthaltsort zu wissen, um ihn entweder wenn möglich zu vernichten, wenn er etwa imstande sein sollte, mir zu schaden, oder um gegen einen solchen Mordgesellen auf der Hut zu sein.

Ich teilte meinen Wunsch dem Wirte mit, und dieser beauftragte den Lohndiener, sich zu erkundigen.

Ich konnte aber weiter nichts entdecken, als folgendes: Ascanio Pogomas, genannt Passano, war gegen Ende November aus dem Gefängnis entlassen worden, und man hatte ihn auf eine Feluke gebracht, die nach Toulon segelte.

Ich schrieb am selben Tage einen langen Brief an Herrn Grimaldi, um ihm meine lebhafte Dankbarkeit auszudrücken. Mit solchen Gefühlen der Dankbarkeit mußte ich die tausend Zechinen bezahlen, die ich ihm schuldig war, und ihm für seine wahrhaft großmütige Handlungsweise danken; denn wenn er auf die Ratschläge meines niederträchtigen Feindes gehört hätte, hätte er mich furchtbar unglücklich machen können.

Mein Wirt hatte eine Loge auf meinen Namen genommen. Zwei Stunden darauf wurden zum großen Erstaunen der ganzen Stadt die Theaterzettel mit einer Ankündigung überklebt, worin es hieß, zwei von den Sängern seien plötzlich unwohl geworden; die angekündigte Vorstellung finde daher nicht statt, und das Theater sei bis zum 2. Januar geschlossen.

Dieser Befehl konnte nur vom Grafen Ricla ausgehen, und alle Welt erriet die Ursache.

Es tat mir sehr leid, unschuldigerweise die große Stadt ihres einzigen leidlichen Vergnügens zu berauben, und ich beschloß, überhaupt nicht auszugehen. Dies schien mir das beste Mittel, den Eifersüchtigen über seine tyrannische Willkür erröten zu machen.

Petrarca sagt:

Amor che fa gentile un cor villano.

Wenn er den Liebhaber der verruchten Nina gekannt hätte, hätte er das Gegenteil von ihr sagen können:

Amor che fa villan un cor gentile.

In einem Monat werde ich etwas mehr über diese dunkle Geschichte sagen können.

Wäre ich nicht ein bißchen abergläubisch gewesen, so wäre ich am selben Tage abgereist; aber ich wollte am letzten Tage des unglückseligen Jahres abreisen, das ich in Spanien erlebt hatte. Ich brachte also meine drei Tage damit zu, an alle meine Bekannten eine Menge Briefe zu schreiben.

Don Miguel de Cevallos, Don Diego de la Secada und der Graf von Peralada besuchten mich, ohne jedoch einander zu treffen. Dieser Herr de la Secada war ein Oheim der Gräfin A. B., die ich in Mailand gekannt hatte. Diese drei Herren erzählten mir einen sehr eigentümlichen Umstand, der ebenso sonderbar ist wie die anderen, aus denen sich meine Erlebnisse in Barcelona zusammensetzen.

Am 26. desselben Monats, also zwei Tage vor meiner Befreiung, fragte der Abbate Marquisio, Gesandter des Herzogs von Modena, den Grafen Ricla in Gegenwart vieler Leute, ob er mir einen Besuch machen könne, um mir einen Brief zu übergeben, den er mir nur persönlich zustellen könne, und den er sonst zu seinem großen Bedauern mit sich nach Madrid nehmen müsse, wohin er am nächsten Tage abreise.

Zum großen Erstaunen aller Anwesenden antwortete der Graf nichts, und der Abbate reiste wirklich am nächsten Tage ab.

Ich schrieb diesem Abbate, den ich nicht kannte; aber ich habe niemals erfahren können, was aus diesem so sorgfältig behandelten Briefe, der meine Neugier im höchsten Maße erregte, geworden ist.

Es ist sonnenklar, daß ich nur durch Willkür des armen Grafen Ricla verhaftet worden war. Nina machte sich über den Eifersüchtigen lustig, und die schöne Verbrecherin hatte sich den Spaß gemacht, ihm einzubilden, sie mache mich mit ihrer Liebe glücklich. Meine Pässe konnten nur ein Vorwand sein; denn wenn man überhaupt an ihrer Echtheit zweifelte, so hätte man sie in acht oder zehn Tagen nach Madrid schicken und wieder zurückhaben können. Wenn Passano gewußt hätte, daß ich einen Paß vom König besaß, so hätte er allerdings darauf aufmerksam machen können, daß dieser falsch wäre; denn um eine solche Ehre zu erlangen, hätte ich einen Paß vom venetianischen Botschafter beibringen müssen, und dies konnte nicht möglich sein, weil ich bei den Staatsinquisitoren in Ungnade war. Er hätte sich allerdings getäuscht, aber dies wäre entschuldbar gewesen, und es wäre ihm gelungen, mir Unannehmlichkeiten zu verursachen.

Als ich mich gegen Ende August entschlossen hatte, mich von meiner reizenden Doña Ignazia zu trennen und Madrid für immer zu verlassen, bat ich den Grafen Aranda um einen Paß. Er antwortete mir, nach der herkömmlichen Regel könne er mir einen solchen nur ausstellen, wenn ich ihm einen Paß vom venetianischen Gesandten bringe, der mir, so sagte er, einen solchen nicht verweigern könne.

Sehr zufrieden mit diesem Bescheide, begab ich mich nach dem Gesandtschaftspalast. Da Herr Querini in San Jldefonso war, sagte ich dem Türsteher, ich hätte mit dem Gesandtschaftssekretär zu sprechen.

Der Türsteher meldete mich an, aber der Geck erlaubte sich, mich nicht empfangen zu wollen. Entrüstet schrieb ich ihm, ich sei nicht Hl l in den Palast Seiner Exzellenz des venetianischen Gesandten gekommen, um seinem Sekretär meine Aufwartung zu machen, sondern um einen Paß zu verlangen, den er mir nicht verweigern könne. Ich unterzeichnete mit meinem Namen und mit meinem Titel als Doktor der Rechte und hat ihn, den Paß beim Türsteher zu hinterlegen, bei dem ich ihn am nächsten Tage abholen würde.

Am nächsten Tage fand ich mich ein, und der Türhüter sagte mir, er habe Auftrag, mir mitzuteilen, daß der Gesandte mündlich Befehl hinterlassen habe, mir keinen Paß zu geben.

Wütend schrieb ich sofort an den Marques Grimaldi und an den Herzog von Lossaba und bat sie, dem venetianischen Gesandten zu sagen, er möchte mir einen regelrechten Paß schicken, sonst würde ich die schmachvolle Ursache veröffentlichen, durch die sein Oheim Mocenigo veranlaßt worden wäre, mich in Ungnade zu stürzen.

Ich weiß nicht, ob die Herren meinen Brief dem Gesandten Querini zeigten, aber ich weiß, daß der Sekretär Olivieri mir den Paß schickte.

Auf Grund dieses Passes schickte Graf Aranda mir einen anderen Paß, der vom König unterzeichnet war.

Am letzten Tage des Jahres verließ ich Barcelona mit meinem Bedienten, der auf meiner Kalesche hinten aufsaß. Mit dem Fuhrmann hatte ich einen Vertrag gemacht, wonach ich in kleinen Tagereisen am 3. Januar 1769 in Perpignan ankommen sollte.

Mein Fuhrmann war ein Piemontese, ein braver Mann. Als ich am zweiten Tage in einem Wirtshaus an der Straße beim Mittagessen saß, trat er mit meinem Bedienten in ein Zimmer und fragte mich, ob ich vielleicht annehmen könnte, daß ich verfolgt würde.

»Das wäre wohl möglich; warum fragen Sie danach?«

»Ich sah gestern bei unserer Abfahrt aus Barcelona drei bewaffnete und übel aussehende Männer zu Fuß. Die letzte Nacht haben sie bei meinen Maultieren im Stall geschlafen. Heute haben sie hier zu Mittag gegessen und vor dreiviertel Stunden sind sie vorausgegangen. Die Leute sprachen mit keinem Menschen; sie sind mir verdächtig.«

»Was können wir tun, um nicht ermordet zu werden oder um uns von einem lästigen Verdacht zu befreien?«

»Wir können später fahren und bei einem mir bekannten Wirtshaus anhalten, das eine Wegstunde diesseits der gewöhnlichen Station liegt, wohin die Leute gegangen sein werden, um uns zu erwarten. Sehen wir sie umkehren und in demselben Wirtshaus, wo wir sind, übernachten, so wird kein Zweifel mehr sein.«

Dies schien mir richtig gedacht zu sein. Wir fuhren später als gewöhnlich ab, und ich ging fast den ganzen Weg zu Fuß. Um fünf Uhr machten wir Halt. Es war eine schlechte Herberge, aber wir sahen wenigstens die drei verdächtigen Gestalten nicht.

Als ich um acht Uhr beim Abendessen saß, trat mein Bedienter ein und sagte mir, die drei Kerle wären zurückgekommen und säßen im Stall, wo sie mit dem Fuhrmann trinken.

Meine Haare sträubten sich mir auf dem Kopf. Es war kein Zweifel mehr.

Im Gasthof hatte ich nichts zu befürchten, um so mehr aber an der Grenze, wo wir in der Dämmerung des nächsten Tages ankommen mußten. Ich ermahnte meinen Bedienten, sich nichts merken zu lassen, und befahl ihm, dem Fuhrmann Bescheid zu sagen, daß er mit mir sprechen möchte, sobald die drei Mörder schliefen. Um zehn Uhr kam der brave Mann und sagte mir ohne alle Umschweife, die drei Kerle würden uns ermorden, sobald wir an der französischen Grenze wären. »Sie haben mit Ihnen getrunken?«

»Ja, nachdem wir einige Flaschen geleert hatten, die ich bezahlte, fragte einer von ihnen mich, warum ich nicht bis zur nächsten Station gefahren wäre, wo Sie doch bessere Unterkunft gefunden hätten. Ich antwortete ihm, es wäre Ihnen zu kalt gewesen und wir hätten uns verspätet gehabt. Ich hätte sie fragen können, warum sie nicht selber dort geblieben wären und wohin sie gingen. Ich habe mich aber wohl gehütet und sie nur gefragt, ob die Straße bis Perpignan gut sei. Sie haben mir geantwortet, sie sei ausgezeichnet.«

»Was tun sie jetzt?«

»Sie schlafen, in ihre Mäntel eingewickelt, neben meinen Maultieren.«

»Was sollen wir tun?«

»Wir werden vor Tagesanbruch abfahren, jedoch selbstverständlich erst nach ihnen, und werden auf der gewöhnlichen Haltestelle zu Mittag essen. Von diesem Augenblicke an verlassen Sie sich nur auf mich: wir fahren nach ihnen ab, ich werde in gutem Trabe einen anderen Weg einschlagen, und um Mitternacht sind wir heil und gesund in Frankreich. Sie können sich auf meine Worte verlassen.«

Hätte ich eine Bedeckung von vier bewaffneten Männern erhalten können, so würde ich den Rat des Piemontesen nicht befolgt haben. Aber in der Lage, in der ich mich befand, konnte ich nichts Besseres tun, als ihm folgen.

Wir fanden die drei Halunken an dem von meinem Fuhrmann mir bezeichneten Ort. Ich sah sie scharf an. Sie sahen wie richtige Halsabschneider aus, die für ein paar kleine Münzen den ersten besten töten würden.

Eine Viertelstunde darauf brachen sie auf. Eine halbe Stunde später kehrte mein braver Fuhrmann um und nahm einen Bauern als Führer an; mein Bedienter hatte sich in den Wagen neben mich gesetzt, der Bauer stieg hinten auf, um dem Kutscher Bescheid zu sagen, wenn er sich im Wege irren sollte. Er bog in einen Seitenweg ein und ließ seine Maultiere fortwährend traben, so daß wir in sieben Stunden elf französische Meilen machten. Um zehn Uhr kamen wir an ein gutes Wirtshaus in einem großen Dorf des lieben Frankreichs, wo wir nichts mehr zu befürchen hatten. Ich schenkte dem Führer eine Dublone, so daß er mit diesem guten Nebengeschaft sehr zufrieden war, und gab mich selber in einem ausgezeichneten französischen Bett einem köstlichen Schlummer hin. Hoch Frankreich für seine guten Betten und für seine köstlichen Weine!

Am nächsten Tage kam ich zur Essenszeit vor dem Gasthof zur Post in Perpignan an. Nun erst war ich ganz sicher, mein Leben gerettet zu haben; ich verdankte es meinem ehrlichen Fuhrmann.

Ich zerbrach mir den Kopf, um zu erraten, wer die Räuber bezahlt haben könnte. Bald wird der Leser sehen, wie ich zwanzig Tage später dies erfuhr.

In Perpignan entließ ich meinen Bedienten, den ich ebenso wie meinen braven Fuhrmann so reichlich belohnte, wie es mir in Anbetracht meiner damaligen Mittel möglich war. Hierauf schrieb ich meinem Bruder nach Paris und teilte ihm mit, daß ich den Nachstellungen von drei Mördern glücklich entronnen sei. Ich bat ihn, mir nach Aix in der Provence zu antworten, wo ich in der Hoffnung, den Marquis d’Argens zu treffen, vierzehn Tage zu verbringen gedachte.

Ich verließ Perpignan am Tage nach meiner Ankunft und übernachtete in Narbonne; den Tag daraus fuhr ich bis Béziers.

Von Narbonne bis Béziers sind nur fünf französische Meilen, und es war nicht meine Absicht gewesen, hier die Tagereise zu beschließen; aber, wie mein Leser weiß, hat gutes Essen immer einen verführerischen Reiz für mich gehabt. Diese Leidenschaft wird Gott sei Dank nicht mit dem Alter schwächer, wie die andere so süße Leidenschaft, die sich zu einer Qual verwandelt, wenn das Alter uns unsere körperlichen Kräfte genommen hat. Das gute Essen also, das ausgezeichnete Essen, das die liebenswürdigste aller Wirtinnen mir zu Mittag vorsetzte, veranlaßte mich, mit ihr und ihrer ganzen Familie zu Abend zu essen.

Béziers ist eine Stadt, deren herrliche Lage man auch in der schlechten Jahreszeit mit Vergnügen sieht. Keine Stadt eignet sich so sehr zur Alterszuflucht für einen Philosophen, der auf alle Eitelkeiten der Erde verzichtet hat, oder für einen wollüstigen Epikuräer, der alle Freuden der Sinne genießen möchte, ohne reich zu sein.

Der Geist ist ein einheimisches Produkt dieses Landes; alle Welt hat Geist; das weibliche Geschlecht ist schön, und man ißt ausgezeichnet für einen bescheidenen Preis. Wie man weiß, sind die Weine köstlich und billig. Was kann man mehr wünschen? Hoffentlich wird die Gegend nicht durch zu großen Fremdenzustrom verdorben, und vielleicht werde ich eines Tages … Aber verlieren wir uns nicht in eitle Pläne!

Nachdem ich in Pézénas übernachtet hatte, kam ich in Montpellier an und stieg im Gasthof zum weißen Roß ab, mit der Absicht, acht Tage in der Stadt zu verbringen. Am Abend speiste ich an der Wirtstafel; die Gesellschaft war zahlreich, und ich bemerkte mit Vergnügen, daß ebenso viele Schüsseln auf dem Tisch standen, wie Esser vorhanden waren. Nirgendwo in Frankreich, selbst in Béziers nicht, ißt man besser als in Montpellier. Es ist ein wahres Schlaraffenland.

Am nächsten Morgen ging ich zum Frühstück ins Kaffeehaus. Dies ist eine göttliche Einrichtung, die man nur in Frankreich gut antrifft, wo man überhaupt sich auf Lebenskunst besser versteht als in allen anderen Ländern. Ich knüpfte mit einem der Gäste ein Gespräch an, und als er erfuhr, daß ich ein Fremder sei und Professoren kennen zu lernen wünschte, erbot er sich, mich selber zu einem der berühmtesten zu führen.

Diese Dienstwilligkeit ist auch wieder eine von den herrlichen Eigenschaften des französischen Charakters. Die französische Nation ist überhaupt in mancher Hinsicht allen anderen überlegen, trotz ihren zahlreichen Fehlern, die man vielleicht zu sehr übertrieben hat. Für einen Franzosen in seinem Lande ist ein Fremder ein geheiligtes Wesen; überall empfängt ihn Gastfreundschaft im besten Sinne des Wortes – nicht jene Gastfreundschaft, die darin besteht, dem Gast die Füße zu waschen, ihm einen Platz am Tisch und am Kamin zu geben, sondern jene Herzlichkeit, jene feine Zuvorkommenheit, die es ihm behaglich macht und es ihm erleichtert, alles kennen zu lernen, was ihn interessieren kann.

Mein neuer Bekannter stellte mich dem Professor vor, der mich mit jener Freundlichkeit empfing, die nach der Meinung der französischen Gelehrten mit Recht für die schönste Blume in Apollos Kranz angesehen wird. Der wahre Gelehrte muß der Freund aller sein, die die Wissenschaft lieben, und er ist es in Frankreich noch mehr als in Italien. In Deutschland ist der Gelehrte geheimtuerisch und zurückhaltend. Er glaubt sich zu sehr verpflichtet, als ganz anspruchslos zu erscheinen, während für ein schwaches Auge der Dünkel überall hervorsieht; dieses Vorurteil verhindert ihn, sich die Freundschaft der Fremden zu erwerben, die ihn aufsuchen, um ihn in der Nähe zu bewundern und die Milch seiner Weisheit zu saugen.

In Montpellier war damals eine ausgezeichnete Schauspielertruppe. Ich ging noch an demselben Abend ins Theater, und meine Seele weitete sich vor Glück, weil ich mich wieder in der wohltuenden Luft Frankreichs befand, nachdem ich in Spanien so viele Leiden ausgestanden hatte. Mir war, als sei ich eben wiedergeboren; ich fühlte mich verjüngt, aber auch verwandelt, denn ich hatte auf der Bühne mehrere Schauspielerinnen von reizender Anmut, Jugend und Schönheit gesehen; und doch hatten sie keinerlei Wunsch in mir erregt, und das war mir angenehm.

Ich hatte den lebhaften Wunsch, die Castelbajac wiederzusehen, viel mehr, um mich zu freuen, wenn es ihr gut gehen sollte, oder mit ihr das Bißchen zu teilen, was ich besaß, als in der Hoffnung, unsere Beziehungen wieder anzuknüpfen; aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte, um sie zu entdecken.

Ich hatte an sie unter dem Namen Madame Blasin geschrieben; aber sie hatte meinen Brief nicht erhalten, weil sie sich diesen Namen willkürlich beigelegt hatte. Ihren richtigen Nnmen hatte sie mir nicht angegeben, überdies befürchtete ich, ihr vielleicht zu schaden, wenn ich mich nach ihr erkundigte.

Da ich wußte, daß ihr Mann Apotheker sein sollte, so beschloß ich, mich mit allen Apothekern von Montpellier bekannt zu machen.

Unter dem Vorwande, zu chemischen Experimenten einiger wenig bekannter Stoffe zu bedürfen, unterhielt ich mich über die Verschiedenheit des Apothekenwesens in Frankreich und in den fremden Landern, die ich besucht hatte. Wenn ich mit dem Herrn selber sprach, so hoffte ich, daß er mit seiner Frau über den Fremden sprechen würde, der dieselben Länder besucht hätte, wo sie gewesen wäre; ich dachte mir, dadurch würde sie neugierig werden, mich kennen zu lernen. Wenn ich dagegen mit einem Gehilfen spräche, so würde ich bald alles erfahren, was die Familie seines Herrn beträfe, und wenn das nicht zu meinen Nachforschungen passen würde, so würde ich gehen.

Am dritten Tage endlich gelang mir mein Plan. Ich erhielt von meiner früheren Freundin einen Brief, worin sie mir schrieb, sie habe mich mit ihrem Gatten in seinem Laboratorium sprechen sehen. Sie bitte mich, zu der und der Stunde wiederzukommen und ihrem Mann auf seine Fragen nichts weiter zu sagen, als daß ich sie als Spitzenhändlerin unter dem Namen eines Fräuleins Blasin in England, Spaa, Leipzig und Wien gekannt und daß ich mich in Wien ihrer angenommen habe, um ihr den Schutz des Botschafters zu verschaffen. Sie beendete ihren Brief mit den Worten: »Ich zweifle nicht daran, daß mein guter Mann zum Schluß mich triumphierend als seine liebe Frau vorstellen wird.«

Ich befolgte ihre Vorschrift. Der Biedermann freute sich, als er mich wiedersah, und fragte mich, ob ich irgendwo eine junge Spitzenhändlerin, namens Fräulein Blasin, aus Montpellier kennen gelernt hätte.

»Ja, ich erinnere mich sehr wohl dieser sehr liebenswürdigen und sehr anständigen jungen Dame, aber ich weiß nicht, ob sie aus Montpellier war. Sie war hübsch und anständig, und ich glaube, sie machte gute Geschäfte. Ich habe sie mehrere Male an verschiedenen Orten Europas gesehen, das letzte Mal in Wien, wo ich das Glück hatte, ihr nützlich zu sein. Ihre gute Aufführung verschaffte ihr die Achtung aller Damen, mit denen sie in Berührung kam. Die Dame, bei der ich sie in England kennen lernte, war sogar nichts geringeres als eine Herzogin.«

»Würden Sie sie wieder erkennen, wenn Sie sie sähen?«

»Das will ich meinen. Eine so hübsche Frau! Ist sie in Montpellier? Wenn sie hier ist, fragen Sie sie nach dem Chevalier de Seingalt.«

»Mein Herr, Sie können selber mit ihr sprechen, wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mir zu folgen.«

Mir klopfte das Herz, aber es gelang mir, mich zu beherrschen.

Der biedere Apotheker ging voran, stieg eine Treppe hinauf, öffnete im ersten Stock eine Tür und sagte zu mir: »Da ist sie.«

»Wie, mein Fräulein, Sie hier? Ich bin entzückt. Sie zu sehen.«

»Mein Herr, es ist kein Fräulein, sondern meine liebe Frau, wenn Sie nichts dagegen haben, und ich bitte Sie, sich dadurch nicht abhalten zu lassen, sie zu umarmen.«

»Das ist eine Ehre, die ich niemals gehabt habe; aber ich tue es mit großem Vergnügen. Sie sind also nach Montpellier gekommen, um sich zu verheiraten? Ich wünsche Ihnen allen beiden Glück und danke für mich dem glücklichen Zufall. Sagen Sie mir, ob Sie von Wien nach Lyon eine gute Reise gehabt haben?«

Madame Blasin – ich muß sie wohl auch weiter hier unter diesem Namen bezeichnen – erzählte mir irgendwelche Geschichte und fand in mir einen ebenso guten Schauspieler, wie sie selber war.

Unser Vergnügen über dieses Wiedersehen war groß; aber die Freude, die der gute Apotheker empfand, als er sah, wie ehrfurchtsvoll ich seine keusche Gattin behandelte, war unzweifelhaft noch viel größer.

Eine volle Stunde lang erzählten wir uns Geschichten, die lediglich unserer Einbildungskraft entsprungen waren, aber den Eindruck unverfälschter Wahrheit machten.

Sie fragte mich, ob ich den Karneval in Montpellier zu verbringen gedächte, und nahm eine gekränkte Miene an, als ich ihr sagte, ich würde am nächsten Tage abreisen.

Ihr Mann erklärte sofort, das sei nicht möglich. Sie selber sagte ebenfalls: »Oh, das werden Sie doch hoffentlich nicht tun! Sie müssen unbedingt meinem Mann die Ehre erweisen, ihm zwei Tage zu schenken, um übermorgen in unserer Familie zu speisen.«

Nachdem ich mich durch den Gatten ziemlich lange hatte bitten lassen, gab ich endlich nach und nahm ihr Familienessen für den übernächsten Tag an.

Ich widmete ihnen nicht nur zwei Tage, sondern vier. Die Mutter des Apothekers war eine durch ihre Weisheit sowohl wie ihr Alter ehrwürdige Dame. Sie hatte wie ihr Sohn alles vergessen, was sie hätte verhindern können, ihre Schwiegertochter mit mütterlicher Zärtlichkeit zu lieben.

Bei unseren Unterhaltungen, die wir unter vier Augen hatten, versicherte Madame Blasin mir in einem Tone schlichter Einfachheit, sie sei glücklich, und ich hatte allen Anlaß, ihr dies zu glauben. Sie hatte es sich zum Gesetz gemacht, alle Pflichten einer ehrbaren Frau und guten Gattin gewissenhaft zu erfüllen, und ging nur selten ohne ihre Schwiegermutter oder ihren Mann aus.

Ich verbrachte diese vier Tage in der süßen Zufriedenheit einer, aufrichtigen und reinen Freundschaft, ohne daß die Erinnerung an unsere früheren Liebesfreuden in uns den Wunsch erregte, sie zu erneuern. Wir brauchten unsere Gedanken nicht auszusprechen, um sie gegenseitig zu kennen. Am Tage vor meiner Abreise speiste ich mit ihr und ihrem Gemahl zu Mittag; als wir nach Tisch einen Augenblick allein waren, sagte sie mir: wenn ich fünfzig Louis brauchen sollte, so wüßte sie, wo sie sich diese Summe verschaffen könnte. Ich bat sie, mir dieses Geld für ein anderes Mal aufzuheben, wenn ich das Glück hätte, sie wiederzusehen, und das Unglück, in Geldnot zu sein. ^

Ich verließ Montpellier mit der Gewißheit, daß mein Besuch die Achtung ihres Gatten und ihrer Schwiegermutter nur noch vermehrt hätte, und ich freute mich, zu sehen, daß ich mich wirklich glücklich fühlen konnte, ohne Verbrechen zu begehen.

Einen Tag nach meinem Abschied von dieser Frau, die mir ihr Glück verdankte, übernachtete ich in Nîmes, wo ich drei Tage in der Gesellschaft eines sehr gelehrten Naturforschers verbrachte, des Herrn de Séguier, eines vertrauten Freundes des Marchese Maffei in Verona.

Er zeigte mir in den Wundern seiner Sammlung die Unendlichkeit der Natur und die unbegreifliche Allmacht ihres Schöpfers.

Nîmes ist eine Stadt, die es verdient, die Aufmerksamkeit eines gebildeten oder Bildung suchenden Fremden zu fesseln. Man findet für den Geist reichliche Nahrung in ihren großen Denkmälern und in dem schönen Geschlecht, das hier wirklich schön ist, noch reichlichere fürs Herz.

Ich wurde zu einem Ball eingeladen, bei dem ich in meiner Eigenschaft als Fremder die erste Rolle spielte. Ein solches Vorrecht genießt der Fremde nur in Frankreich, während in England und besonders in Spanien das Wort Ausländer eine Beleidigung ist. Nachdem ich von Nîmes abgereist war, beschloß ich, den ganzen Karneval in Aix zu verbringen, das der Sitz eines Parlaments ist und dessen Adel sich eines großen Rufes erfreut. Ich wünschte diese Gesellschaft kennen zu lernen. Ich stieg, wenn ich mich nicht irre, in den Drei Delphinen ab, wo ich einen spanischen Kardinal fand, der sich zur Wahl eines Nachfolgers für den Papst Rezzonico nach dem Konklave begab.

Zwölftes Kapitel


Mein Aufenthalt in Aix in der Provence. – Schwere Krankheit. – Ich werde von einer Unbekannten gepflegt. – Der Marquis d’Argens. – Cagliostro. – Meine Abreise. – Brief von Henrietten. – Marseille. – Geschichte der Nina. – Nizza. – Turin. – Lugano. –Frau von ***.

Da mein Zimmer von der kastilianischen Eminenz nur durch eine leichte Scheidewand getrennt war, so hörte ich beim Abendessen den Kardinal seinem Haushofmeister einen derben Verweis erteilen, daß er auf der Reise an den Mahlzeiten und Wohnungen sparte, wie wenn er der armseligste aller Spanier wäre. »Eure Gnaden, ich spare durchaus nicht; aber es ist nicht möglich, mehr auszugeben, wenn ich nicht etwa die Wirte zwinge, für die Mahlzeiten, die sie mir geben, das Doppelte zu verlangen. Eure Eminenz finden ja selber, daß das Essen ausgezeichnet und reichlich ist.«

»Das mag sein, aber wenn Sie ein bißchen Geist hätten, könnten Sie zum Beispiel durch reitende Boten Mahlzeiten bestellen, die ich unterwegs nicht einnehmen würde und die Sie natürlich trotzdem zu bezahlen hätten; ferner könnten Sie für zwölf bestellen, während wir nur sechs sind; vor allen Dingen müssen stets drei Tafeln da sein: eine für mich, die zweite für die Beamten meines Haushaltes, die dritte für die Bedienten. Ich sehe aus dieser Rechnung, daß Sie den Postillonen immer nur einen Franken Trinkgeld geben; Sie müßten ihnen wenigstens einen Taler geben; denn über eine solche Knickerei muß ich ja erröten. Wenn man Ihnen auf einen Louis herausgibt, müssen Sie das Geld auf dem Tische liegen lassen, statt es in Ihre Tasche zu stecken. Von Schäbigkeiten will ich nichts wissen. Man wird in Versailles und Madrid, vielleicht sogar in Rom sagen: der Kardinal de la Cerda ist ein Geizhals. Ich bin es nicht und will nicht in solchem Rufe stehen. Ich verlange, daß Sie mich fernerhin nicht mehr entehren; sonst müssen Sie gehen.«

Dieses eigentümliche Gespräch würde mich ein Jahr früher sehr überrascht haben; jetzt aber hörte ich es ohne Erstaunen an, denn ich hatte inzwischen den spanischen Charakter einigermaßen kennen gelernt: alles für den Ruhm, oder vielmehr für das Großtun!

Wenn ich die freigebige Verschwendung des *Senor de la Cerda bewunderte, so konnte ich andererseits nicht umhin, es kläglich zu finden, wie dieser Kirchenfürst in einem Augenblick, wo er an der Wahl des Oberhauptes der Christenheit teilnehmen sollte, sich mit seinen Reichtümern brüstete.

Was ich aus dem Munde des Prälaten gehört hatte, machte mir Lust, ihn zu sehen, und ich paßte auf, als er abreiste. Was für ein Mann! Er war nicht nur klein, braun von Farbe, schlecht gewachsen, sondern es war auch ein Gesicht so häßlich, der Ausdruck seiner Züge so gemein, daß neben Seiner Eminenz Äsop wie ein Liebesgott hätte aussehen müssen. Nun begriff ich, warum er das Bedürfnis hatte, sich durch Verschwendung Achtung zu verschaffen und sich durch äußeren Prunk auszuzeichnen; denn sonst hätte man ihn für einen Stallknecht halten können. Sollte jemals das Konklave die sonderbare Laune haben, ihn zum Papst zu machen, so würde Gottes Sohn niemals einen häßlicheren Statthalter auf Erden gehabt haben.

Sogleich nach der Abfahrt Seiner Eminenz erkundigte ich mich nach dem Marquis d’Argens und erfuhr, er sei auf dem Lande bei seinem Bruder, dem Parlaments-Präsidenten, Marquis l’Eguille. Ich begab mich dorthin.

Der Marquis, der mehr durch die beständige Freundschaft Friedrichs des Zweiten als durch seine heutigentags von keinem Menschen mehr gelesenen Werke berühmt geworden ist, war damals schon alt. Ehrenhaft und sinnlich, liebenswürdig und witzig, ein überzeugter Epikuräer, lebte der Marquis d’Argens mit der Schauspielerin Cochois zusammen, die er geheiratet hatte und die es verstand, sich dieser Ehre würdig zu zeigen. Der Marquis selber besaß ein gründliches gelehrtes Wissen und eine große Kenntnis der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache; er war mit einem wunderbaren Gedächtnis begabt und infolgedessen vollgepfropft mit Kenntnissen.

Er empfing mich sehr gut, da er sich erinnerte, was sein Freund, Mylord Marishal, ihm über mich geschrieben hatte. Er stellte mich seiner Frau und seinem Bruder vor. Dieser war ein ausgezeichneter Beamter, ziemlich reich, ein Freund der Wissenschaften. Er führte einen streng sittlichen Lebenswandel, und dazu veranlaßte ihn noch mehr sein Charakter als sein religiöser Glaube. Das will viel sagen; denn er war aufrichtig fromm, obwohl er ein kluger Mann war. Übrigens können nach meiner Meinung diese beiden Eigenschaften sich sehr wohl miteinander vertragen.

Trotzdem überraschte es mich sehr, daß er ein sogenannter Jesuit von der kurzen Robe war; er liebte seinen Bruder zärtlich und seufzte fortwährend über dessen sogenannte Irreligiosität; doch hoffte er immer noch, daß die werktätige Gnade ihn früher oder später in den Schoß der Kirche zurückführen würde. Sein Bruder ermutigte ihn zu diesen Hoffnungen und lachte zugleich darüber. Da sie beide vernünftige Leute waren, so vermieden sie es, von Religion zu sprechen, um sich nicht zu ärgern.

Man stellte mich einer zahlreichen Gesellschaft vor, die aus Verwandten beiderlei Geschlechtes bestand. Alle waren liebenswürdig und höflich, wie eben der Adel der Provence durchweg ist.

Man spielte Komödie auf einem hübschen kleinen Theater, aß und trank gut und ging trotz der Jahreszeit spazieren. Aber in der Provence macht sich die Strenge des Winters nur fühlbar, wenn der Nordwind weht, was leider oft der Fall ist.

Eine Berlinerin, die Witwe eines Neffen des Marquis d’Argens, war nebst ihrem Bruder auf dem Schlosse anwesend. Der noch sehr junge Mann, ein lustiger Tollkopf, hatte seine Freude an allen Vergnügungen des Hauses, kümmerte sich aber gar nicht um den Gottesdienst, der jeden Tag abgehalten wurde. Als geborener Ketzer dachte er höchst selten einmal an die Kirche, während das ganze Haus der Messe beiwohnte, die der Jesuit, bei dem die ganze Familie beichtete, jeden Tag las, spielte er auf seiner Flöte lustige Walzer. Er lachte über alles. Mit seiner Schwester war es anders; sie war nicht nur katholisch geworden, sondern auch so fromm, daß das ganze Haus sie für eine Heilige ansah, obgleich sie erst zweiundzwanzig Jahre alt war. Das war das Werk des Jesuiten.

Ihr Bruder erzählte mir, ihr Mann, der an der Schwindsucht gestorben sei, habe im Augenblick seines Todes zu ihr gesagt: er könne nicht hoffen, sie im Jenseits wiederzusehen, wenn sie nicht katholisch werde.

Diese Worte hatten sich in ihre Seele eingegraben, und da sie ihren Gatten anbetete, hatte sie sich entschlossen, Berlin zu verlassen und bei den Verwandten ihres Mannes zu leben. Niemand hatte gewagt, sich ihrer Absicht zu widersetzen. Ihr Bruder erklärte sich bereit, sie zu begleiten, und sobald sie sich den Verwandten des Verstorbenen entdeckt hatte, herrschte die größte Freude in der ganzen Familie.

Diese angehende Heilige war häßlich.

Ihr junger Bruder wurde bald mein Freund, da er mich in meinen Ansichten weniger starr fand als seine Verwandten. Er kam alle Tage nach Aix, um mich in allen adligen Familien einzuführen.

Wir waren jeden Tag mindestens dreißig Personen bei Tisch; das Essen war gut und lecker, aber ohne Übertreibung. Es herrschte der Ton der guten Gesellschaft, die Scherze waren geschmackvoll und alle Bemerkungen anständig. Ausgeschlossen waren doppelsinnige Bemerkungen, die sich auf die Geschlechtsliebe bezogen oder darauf hätten bezogen werden können. Wenn dem Marquis d’Argens eine derartige Bemerkung auch nur in ganz verschleierter Form entschlüpfte, so schnitten die Damen jedesmal Gesichter, und der Herr Beichtvater beeilte sich, ein anderes Gespräch zu beginnen. Dieser Beichtvater hatte nichts von der jesuitischen Weltgewandtheit an sich, denn er ging auf dem Lande wie ein einfacher Abbé gekleidet, und ich hätte nicht erraten, daß er Jesuit wäre, obwohl man doch dieses Wild von weitem wittern muß. Der Marquis d’Argens hatte mich darauf aufmerksam gemacht; übrigens übte die Gegenwart des Pfaffen durchaus keine Wirkung auf meine natürliche Heiterkeit aus.

Ich erzählte in sorgfältig gewählten Ausdrücken die Geschichte von dem Bilde der Jungfrau, die ihren göttlichen Sprößling säugte und von den Spaniern nicht mehr angebetet wurde, als der unglückselige Pfarrer ihren schönen Busen mit einem häßlichen Tuch hatte bedecken lassen. Ich weiß nicht mehr auf welche besondere Art ich diese Geschichte erzählte, aber alle Damen lachten darüber. Dieses Lachen mißfiel dem Jünger Loyolas so sehr, daß er sich erlaubte, mir zu sagen, man dürfe Geschichten, die sich zweideutig auslegen ließen, nicht öffentlich erzählen. Ich dankte ihm mit einer Neigung des Kopfes, und um das Gespräch abzulenken, fragte der Marquis d’Argens mich, wie man auf italienisch eine große Fleischpastete nenne, die Madame d’Argens gerade eben verteilte und die von allen ausgezeichnet gefunden wurde.

»Wir nennen das eine Crostata, doch weiß ich nicht, wie man die Beatilien bezeichnet, mit denen sie gefüllt ist.«

Diese Beatilien waren kleine Schweserwürstchen, Champignons, Artischockenböden, Gänseleber usw.

Der Jesuit fand, ich machte mich über den ewigen Ruhm lustig, indem ich dieses Allerlei Beatilien nannte.

Über diese dumme Empfindlichkeit mußte ich unwillkürlich laut auflachen. Der Marquis d’Eguille nahm meine Partei und sagte, Beatilles sei in gutem Französisch die Bezeichnung für alle Leckereien.

Nachdem er sich in dieser Weise erlaubt hatte, gegen seinen Gewissensbeirat aufzutreten, hielt der verständige Mann es für besser, von etwas anderem zu sprechen. Unglücklicherweise trat er erst recht ins Töpfchen, indem er mich fragte, welchen Kardinal man nach meiner Meinung zum Papst machen würde.

»Ich möchte darauf wetten, daß man den Pater Ganganelli wählen wird, denn er ist der einzige Kardinal, der zugleich Mönch ist.«

»Warum muß man denn durchaus einen Mönch zum Papst wählen?«

»Weil nur ein Mönch imstande ist, das zu tun, was Spanien von dem neuen Pontifex verlangt.«

»Sie meinen die Unterdrückung des Jesuiten-Ordens?«

»Ganz recht.«

»Spanien verlangt sie vergebens.«

»Ich wünsche es; denn in den Jesuiten liebe ich meine Lehrer; aber ich hege große Befürchtungen, denn ich habe einen schrecklichen Brief gelesen. Abgesehen davon wird Kardinal Ganganelli noch aus einem anderen Grund gewählt werden, über den Sie lachen werden, der aber nichtsdestoweniger ausschlaggebend ist.«

»Was ist das für ein Grund? Nennen Sie ihn uns; wir werden lachen.«

»Er ist der einzige Kardinal, der keine Perücke trägt. Solange das Papsttum besteht, hat auf Sankt Peters Stuhl niemals ein Papst mit einer Perücke gesessen.«

Da ich allen diesen Bemerkungen den Anstrich eines leichten Scherzes gab, so wurde viel darüber gelacht; hierauf aber veranlaßte man mich, in Ernst über die Aufhebung des Ordens zu sprechen, und als ich alles sagte, was ich vom Abbate Pinzi erfahren hatte, sah ich meinen Jesuiten erbleichen.

»Der Papst«, sagte er, »kann diesen Orden nicht unterdrücken.«

»Augenscheinlich, Herr Abbé haben Sie nicht bei den Jesuiten studiert; denn Sie haben den Satz aufgestellt: Der Papst kann alles et aliquid pluris.«

Infolge dieser Worte glaubten alle, ich wüßte nicht, daß ich mit einem Jesuiten spräche, und da er nicht antwortete, so begannen wir von etwas anderem zu reden.

Nach dem Essen bat man mich, zur Aufführung des Polieucte dazubleiben; aber ich entschuldigte mich und fuhr mit dem jungen Berliner nach Aix zurück. Dieser erzählte mir die Geschichte seiner Schwester und schilderte den Charakter der verschiedenen Personen, aus denen die tägliche Gesellschaft des Marquis d’Eguille bestand. Ich sah, daß es mir unmöglich sein würde, mich ihren Gewohnheiten und Vorurteilen anzuschmiegen, und wenn ich nicht durch den jungen Berliner reizende Bekanntschaften gemacht hätte, so wäre ich nach Marseille gegangen.

Mit Gesellschaften, Bällen, Soupers und Liebeleien mit sehr hübschen Provencalinnen verbrachte ich den Karneval und einen Teil der Fastenzeit in Aix.

Ich hatte dem Marquis d’Argens, der ebenso gut griechisch sprach wie französisch, eine Ilias von Homer zum Geschenk gemacht. Ferner hatte ich seiner Adoptivtochter eine lateinische Tragödie geschenkt, denn sie verstand die lateinische Sprache sehr gut.

Meine Iliade hatte die Anmerkungen des Porphyrius. Es war ein seltenes Exemplar in reichem Einbande.

Der Marquis kam nach Aix, um mir zu danken, und ich mußte, seiner Einladung folgend, noch einmal auf das Land hinausgehen.

Am Abend fuhr ich ohne Mantel in einem offenen Wagen bei sehr kaltem Nordwind nach Aix zurück. Ich kam ganz erstarrt an. Anstatt sogleich zu Bett zu gehen, begleitete ich den jungen Berliner zu einer Frau, die eine junge Tochter von seltener Schönheit hatte, ein Mädchen von herrlichem Wuchs, mit allen Zeichen vollständiger Mannbarkeit, obgleich sie nur vierzehn Jahre alt war. Dieses kleine Wunder forderte alle Liebhaber heraus, es zu entjungfern. Mein Berliner hatte sich bereits mehrere Male bemüht, es war ihm jedoch nicht gelungen. Ich lachte ihn aus, denn ich wußte, daß es nur Spiegelfechterei war, und war entschlossen, die junge Spitzbübin aus dem Sattel zu heben, wie mir ähnliches bereits in England und in Metz gelungen war.

Da das Mädchen uns zur Verfügung stand, so gingen wir ans Werk. Die junge Spitzbübin dachte nicht an Widerstand, sondern sagte, sie wünsche gar nichts Besseres, als von ihrem unangenehmen Leiden befreit zu werden.

Ich bemerkte sofort, daß die Schwierigkeit nur von ihrer schlechten Haltung herrührte; ich hätte sie vor allen Dingen durchprügeln sollen, wie ich es fünfundzwanzig Jahre früher in Venedig getan hatte; aber törichterweise wollte ich durch Anwendung von Kraft siegen, denn ich glaubte, ich könnte sie vergewaltigen.

Die Zeit der Wundertaten war jedoch vorbei.

Nachdem ich zwei Stunden lang mich vergeblich bemüht hatte, ging ich allein in meinen Gasthof zurück, indem ich den jungen Preußen weiterarbeiten ließ.

Als ich mich zu Bett legte, verspürte ich sehr heftiges Seitenstechen, und nachdem ich sechs Stunden geschlafen hatte, fühlte ich mich sehr unwohl. Es war eine Lungenentzündung ausgebrochen. Ein alter Arzt, den der Wirt holen ließ, wollte mich zu Ader lassen. Ich hatte einen heftigen Husten, und am nächsten Tage begann ich Blut zu spucken. Nach sechs oder sieben Tagen war die Krankheit so ernst, daß ich beichtete und die letzte Wegzehrung erhielt.

Am zehnten Tage, nachdem ich drei Tage lang bewußtlos gewesen war, erklärte der alte Arzt, ein geschickter Mann, ich werde bestimmt mit dem Leben davonkommen; aber erst am achtzehnten Tage hörte ich auf, Blut zu spucken.

Hierauf begann eine Rekonvaleszenz, die drei Wochen dauerte und die ich schwerer zu ertragen fand als meine Krankheit; denn ein Kranker, der leidet, hat keine Zeit sich zu langweilen. Während der ganzen Krankheit wurde ich Tag und Nacht von einer Frau gepflegt, die ich nicht kannte. Ich wußte nicht einmal, woher sie kam. Da ich mich aber mit unendlicher Sorgfalt und Aufmerksamkeit bedient sah, so wartete ich nur meine vollständige Heilung ab, um sie zu belohnen und wieder fortzuschicken.

Diese Frau war nicht alt, sah aber auch nicht so aus, um mir den Wunsch einzuflößen, mich mit ihr zu belustigen. Sie hatte während meiner Krankheit beständig in meinem Zimmer geschlafen.

Gleich nach dem Osterfest fühlte ich mich bereits wohl genug, um wieder ausgehen zu können. Ich belohnte sie nach besten Kräften, dankte ihr, und fragte sie, wer sie zu mir gebracht habe. Sie antwortete mir, der Arzt habe sie zu meiner Pflege angenommen; hierauf dankte sie mir und entfernte sich.

Als ich ein paar Tage später meinem alten Doktor dafür dankte, daß er mir eine so gute Krankenpflegerin besorgt habe, war er sehr erstaunt und versicherte mir, er kenne sie gar nicht! Dies machte mich neugierig; ich fragte meine Wirtin, ob sie sie kenne, und sie verneinte ebenfalls. Kurz und gut, kein Mensch wollte die gute Frau kennen, und ich konnte trotz der größten Mühe nicht herausbringen, wie sie zu mir gekommen war.

Als ich wieder gesund war, holte ich von der Post alle Briefe, die für mich dort lagen. Eine eigentümliche Nachricht erhielt ich von meinem Bruder in Paris in seiner Antwort auf meinen von Perpignan an ihn gerichteten Brief. Er dankte mir für das Vergnügen, das ich ihm durch meinen Brief bereitete, indem ich durch diesen die ihm zugegangene schreckliche Nachricht widerlegt hätte, ich sei in den ersten Tagen des Januar an der Grenze von Katalonien ermordet worden. »Die Trauerbotschaft brachte mir einer deiner besten Freunde, der Graf Manucci von der venetianischen Gesandtschaft, und er versicherte mir, sie sei durchaus zuverlässig.«

Dies war für mich ein Lichtstrahl. Der beste meiner Freunde hatte seine Rachsucht so weit getrieben, Mörder zu bezahlen, um mir das Leben zu nehmen.

Bis dahin war Manucci entschuldbar, von diesem Augenblicke an aber hatte er unrecht.

Er mußte seiner Sache offenbar sehr sicher sein, da er meinen Tod als bereits eingetreten meldete. Indem er die Todesart bekannt gab, zu der seine fürchterliche Rachsucht mich verurteilt hatte, enthüllte er seinen verbrecherischen Anschlag.

Als ich diesen verächtlichen Menschen zwei Jahre später in Rom traf und ihn von der Schimpflichkeit seiner Handlungsweise überzeugen wollte, leugnete er alles und behauptete, er hätte die Nachricht ganz frisch von Barcelona erhalten; aber davon werden wir später sprechen.

Ich speiste täglich mittags und abends an der Gasttafel, wo die Gesellschaft ausgezeichnet und das Essen köstlich war. Eines Mittags sprach man von einem Pilger und einer Pilgerin, die soeben angekommen waren. Sie waren Italiener; sie kamen zu Fuß von Santiago de Compostella in Galizien und mußten Leute von hoher Geburt sein, denn sie hatten gleich nach ihrer Ankunft in der Stadt reichliche Almosen ausgeteilt.

Man sagte, die Pilgerin solle reizend sein; sie sei ungefähr achtzehn Jahre alt und habe sich, sehr ermüdet, gleich nach ihrer Ankunft zu Bett gelegt. Sie wohnten in demselben Gasthof. Wir wurden alle neugierig, und ich mußte mich als Italiener an die Spitze der Gesellschaft stellen, um den beiden Personen einen Besuch zu machen, die offenbar entweder fanatisch fromm oder Betrüger waren.

Wir fanden die Pilgerin, die allem Anschein nach sehr ermüdet war, in einem Lehnstuhl sitzend. Sie erregte unsere Teilnahme durch ihre große Jugend, durch ihre Schönheit, die durch einen Schimmer von Frömmigkeit noch besonders gehoben wurde, und durch einen sechs Zoll langen Kruzifixus von gelbem Metall, den sie in den Händen hielt. Als wir eintraten, legte sie den Kruzifixus fort und stand auf, um uns eine anmutige Verbeugung zu machen. Der Pilger, der auf seinem Mäntelchen von schwarzer Wachsleinwand Muschelschalen ordnete, rührte sich nicht; indem er seine Frau ansah, schien er uns zu sagen, wir müßten uns nur mit ihr beschäftigen. Er war anscheinend vierundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt, klein von Gestalt und ziemlich gut gewachsen. Auf seinem nicht unangenehmen Gesicht las man Kühnheit, Frechheit, Spottsucht und Betrügerei; er war gerade das Gegenteil von einer Frau, die offenbar edel, bescheiden und sanft war und jene schüchterne Schamhaftigkeit zeigte, die ein junges Weib so reizvoll macht. Da die beiden nur so viel Französisch sprachen, wie unumgänglich notwendig ist, um sich verständlich zu machen, so atmeten sie erleichtert auf, als ich sie auf italienisch anredete.

Die Pilgerin sagte mir, sie sei Römerin; sie hätte es mir nicht zu sagen gebraucht, denn ihre hübsche Aussprache verriet es mir. Den jungen Mann hielt ich für einen Neapolitaner oder Sizilianer. Sein in Rom ausgestellter Paß lautete auf den Namen Balsamo. Sie trug die Namen Serafina Feliciani, die sie seitdem immer beibehalten hat; ihn werden wir zehn Jahre später unter dem Namen Cagliostro wieder finden.

Sie erzählte mir: »Wir sind auf dem Rückwege nach Rom, nachdem wir Santiago von Compostella und Unsere liebe Frau del Pilar verehrt haben. Wir sind den ganzen Weg zu Fuß gegangen und haben nur von Almosen gelebt, damit Gott, den ich in meinem Leben so oft beleidigt habe, uns eher seine Barmherzigkeit schenke. Vergebens bat ich, mir aus Barmherzigkeit nur einen Sou zu geben; man hat mir stets Silbermünzen und sogar Goldstücke gegeben, so daß wir nach unserer Ankunft in jeder Stadt das uns verbliebene Geld unter die Armen verteilen mußten, damit wir nicht die Sünde begingen, kein Vertrauen zur ewigen Vorsehung zu haben. Mein Mann ist kräftig und hat nicht viel gelitten; ich aber habe große Leiden ausgestanden, um einen so langen Weg zu Fuß zu machen, auf Stroh oder in schlechten Betten zu schlafen, und zwar stets angekleidet, um nicht von Krankheiten angesteckt zu werden, die man nicht leicht wieder los wird.«

Ich fand es ziemlich wahrscheinlich, daß sie den letzten Umstand nur anführte, um uns Lust zu machen, die Sauberkeit ihrer Haut noch an anderen Stellen als an ihren Armen und Händen zu sehen, deren Weiße und tadellose Sauberkeit sie uns einstweilen gratis sehen ließ.

»Gedenken Sie sich hier einige Tage aufzuhalten, Madame?«

»Meine Ermüdung wird uns zwingen, drei Tage hier zu verbringen; von hier werden wir uns nach Rom begeben, und zwar über Turin, wo wir zum heiligen Schweißtuch beten werden.«

»Sie wissen ohne Zweifel, daß es in Europa mehrere Schweißtücher gibt?«

»Man hat es uns gesagt, aber zugleich uns versichert, das Turiner Schweißtuch sei das echte: es ist das Tuch, dessen die heilige Veronika sich bediente, um unserem Erlöser den Schweiß abzutrocknen, wodurch das göttliche Gesicht dem Tuche sein Bild eindrückte.«

Wir verabschiedeten uns sehr befriedigt von der schönen Pilgerin, an deren Frömmigkeit wir jedoch wenig glaubten. Ich war noch zu schwach von meiner Krankheit her und hatte daher keine Absichten auf sie; aber alle anderen Herren, die mit mir bei ihr gewesen waren, hätten gerne mit ihr zu Abend gespeist, um sie zu erobern. Am nächsten Tage kam der Gatte der schönen Römerin zu mir und fragte mich, ob ich hinaufkommen und mit ihnen frühstücken wolle oder ob es mir lieber wäre, wenn sie zu mir herunterkämen. Es wäre unhöflich gewesen, ihm zu antworten: keines von beiden; ich sagte ihm daher, sie würden mir ein Vergnügen bereiten, wenn sie herunterkämen.

Beim Frühstücken fragte ich den Pilger nach seinem Beruf; er antwortete mir, er mache Federzeichnungen in sogenannter helldunkler Art.

Seine Kunst bestand darin, einen Kupferstich zu kopieren, nicht aber einen neuen Stich zu entwerfen. Er versicherte mir jedoch, er verstehe seine Kunst ganz ausgezeichnet und könne einen Stich so getreu abzeichnen, daß die Kopie vom Urbilde nicht zu unterscheiden sei.

»Ich mache Ihnen mein Kompliment dazu. Wenn Sie nicht reich sind, so sind Sie sicher, mit solchem Talent Ihr Brot zu verdienen, einerlei, wo Sie sich niederlassen.«

»Von allen Seiten wird mir dasselbe gesagt, aber es ist ein Irrtum, denn mit meinem Talent kann man Hungers sterben. Wenn ich in Rom oder Neapel diese Beschäftigung ausübe, verdiene ich höchstens einen halben Franken täglich, und das ist nicht genug, um zu leben.«

Hierauf zeigte er mir Fächer, die er gemacht hatte, und man konnte nichts Schöneres sehen; sie waren mit Federzeichnungen geschmückt, die nicht von den besten Kupferstichen übertroffen wurden.

Um mich vollends zu überzeugen, zeigte er mir eine von ihm kopierte Rembrandt-Zeichnung, die beinahe noch schöner war als das Original. Trotzdem schwor er mir, sein Talent verschaffe ihm nicht den Lebensunterhalt; ich glaubte ihm nicht; nach meiner Meinung war er einer von jenen Faulenzern, die lieber in der Welt herumziehen, als ein arbeitsames Leben führen.

Ich bot ihm für einen seiner Fächer einen Louis; er wies jedoch das Geld zurück, bat mich, den Fächer umsonst anzunehmen und für ihn bei Tisch eine Sammlung zu veranstalten, denn er wünsche am dritten Tage weiterzureisen.

Ich nahm sein Geschenk an und versprach ihm, die Sammlung zu veranstalten.

Ich brachte ein paar hundert Franken zusammen, die die Pilgerin sich holte, als wir noch bei Tisch saßen.

Die junge Frau sah in höchstem Grade tugendhaft aus. Als sie gebeten wurde, ihren Namen auf ein Lotteriebillett zu schreiben, entschuldigte sie sich mit der Bemerkung: Kinder, die man zu ehrbaren und tugendhaften Mädchen erziehen wolle, lasse man in Rom nicht schreiben lernen.

Alle lachten über diese Entschuldigung, außer mir; sie tat mir leid, und ich wollte sie nicht gerne erniedrigt sehen. Aber es schien mir nunmehr offenbar zu sein, daß sie den allerniedrigsten Klassen des Volkes angehörte.

Am nächsten Tage kam die Pilgerin in mein Zimmer und bat mich, ihr einen Empfehlungsbrief für Avignon zu geben. Ich schrieb sofort zwei, den einen an den Bankier Audifret, den andern an den Wirt des Gasthofes zum heiligen Homer. Am Abend brachte sie mir den für Herrn Audifret zurück, indem sie mir sagte, ihr Mann habe diesen für überflüssig erklärt. Zugleich bat sie mich, genau nachzusehen, ob es auch wirklich der Brief sei, den ich ihr gegeben habe. Ich sah die Schrift genau an und sagte, es sei ganz gewiß mein Brief.

Hierauf antwortete sie mir lachend: »Sie irren sich, das ist nur eine Abschrift.«

»Das ist nicht möglich!«

Sie rief ihrem Mann, und dieser kam mit meinem echten Brief in der Hand. Da ich nicht mehr zweifeln konnte, so sagte ich zu ihm: »Ihr Talent ist wunderbar; denn ein Brief ist viel schwerer nachzumachen, als eine Zeichnung zu kopieren ist. Sie können es bei Ihrer Begabung weit bringen und aus Ihrer Geschicklichkeit großen Vorteil ziehen; aber wenn Sie nicht vernünftig sind, kann es Ihnen das Leben kosten.«

Am nächsten Tage reiste das Paar ab. Ich werde später erzählen, wann und wie ich zehn Jahre später diesen Menschen unter dem Namen eines Grafen Pellegrini wiedersah; seine Frau und unzertrennliche Begleiterin, die gute Serafina, war immer noch bei ihm.

Im Augenblick, da ich dieses schreibe, befindet er sich im Gefängnis, das er wahrscheinlich nicht mehr verlassen wird; seine Frau befindet sich in einem Kloster und ist, vielleicht, glücklich.

Als ich meine Kräfte völlig wiedererlangt hatte, begab ich mich zum Marquis d’Argens und seinem Bruder, um mich zu verabschieden. Nachdem ich am Familientische mit dem Jesuiten gespeist hatte, den ich gar nicht beachtete, verbrachte ich drei Stunden mit dem guten und gelehrten alten Herrn, und es waren drei köstliche Stunden, denn sie waren mit Geist, Gelehrsamkeit, Philosophie und Heiterkeit gewürzt. Er erzählte mir eine Menge Züge aus dem Privatleben Friedrichs des Zweiten. Der Leser würde mir gewiß dankbar sein, wenn ich ihm diese charakteristischen Anekdoten mitteilte, um so mehr, da sie zum größten Teil für die Geschichte verloren sein werden. Aber eine unerklärliche Faulheit quält mich in diesem Augenblick, ich werde alt, oder ich bin alt geworden, das fühle ich. In einem anderen Augenblick vielleicht, wenn das Schloß zu Dux nicht von so dichten Nebeln umgeben ist, wenn mein Geist von einigen Strahlen einer belebenden Sonne aufgeweckt wird – ein anderes Mal vielleicht, sage ich, werde ich dies alles zu Papier bringen; heute fühle ich nicht den Mut dazu.

Friedrich hatte große Eigenschaften und große Schwächen, wie fast alle großen Menschen; aber sicherlich war die Gesamtheit seiner Schwächen geringer als die seiner hohen Eigenschaften, und die Weltgeschichte wird in diesem Herrscher stets einen großen Mann sehen und in ihm ein Merkzeichen des achtzehnten Jahrhunderts verehren.

Der ermordete König von Schweden fand ein Vergnügen darin, Haß zu erregen, weil es in seinen Augen ein Ruhm war, solchem Hasse zu trotzen. Er hatte eine Despotenseele, und er mußte ein Despot sein, um seine herrschende Leidenschaft zu befriedigen: nämlich von sich reden zu machen und für einen großen Mann zu gelten. Darum haben seine Feinde sich dem Tode geweiht, um ihm das Leben zu entreißen. Der König hätte sein Ende voraussehen müssen, denn seine Gewalttaten hatten schon lange die von ihm Unterdrückten zur Verzweiflung getrieben. Zwischen ihm und Friedrich ist kein Vergleich möglich.

Der Marquis d’Argens schenkte mir alle seine Werke. Ich fragte ihn, ob ich mich wirklich rühmen könnte, alle zu besitzen, und er antwortete mir: »Ja, mit Ausnahme eines Teils meiner Lebensgeschichte, die ich in meiner Jugend geschrieben und später vernichtet habe, weil ich es bereute, sie veröffentlicht zu haben.«

»Warum?«

»Weil ich die Manie hatte, nur die Wahrheit sagen zu wollen, und mich damit unsterblich lächerlich gemacht habe. Sollten Sie jemals eine solche Lust verspüren, so weisen Sie sie als eine unvernünftige Versuchung von sich ab. Ich kann Ihnen versichern, Sie würden es bereuen; denn als Ehrenmann könnten Sie nur die Wahrheit schreiben und als wahrhaftliebender Geschichtschreiber wären Sie nicht nur verpflichtet, nichts zu verschweigen, sondern Sie dürften nicht einmal mit den von Ihnen begangenen Fehlern eine feige Nachsicht üben und müßten sie als guter Moralist geißeln, wie Sie als echter Philosoph das von Ihnen bewirkte Gute hervorheben müßten. Sie wären genötigt, auf jeder Seite sich selber zu loben oder zu tadeln. Nun würde man alles Böse, das Sie von sich selber sagen, für bare Münze nehmen, alle Ihre kleinen Sünden für Verbrechen erklären, und wenn Sie etwas Gutes von sich sagen, würde man es Ihnen nicht nur nicht glauben, sondern Ihnen obendrein Stolz, Eitelkeit usw. vorwerfen. Außerdem würden Sie durch die Abfassung von Lebenserinnerungen sich alle jene zu Feinden machen, von denen Sie Unvorteilhaftes berichten müßten. Glauben Sie mir, lieber Freund, wenn es einem Ehrenmann nicht erlaubt ist, von sich selber zu sprechen, so ist es ihm noch weniger erlaubt, über sich selber zu schreiben, es sei denn, daß Verleumdung uns zwingt, uns zu verteidigen. Ich hoffe, Sie werden niemals Rousseaus Fehler begehen – einen Fehler, den ich von einem so hervorragenden Mann niemals habe begreifen können.«

Durch seine weisen Reden überzeugt, versprach ich ihm, niemals eine solche Torheit zu begehen; trotzdem tue ich seit sieben Jahren nichts anderes, und es ist für mich allmählich eine Notwendigkeit geworden, die Sache zu Ende zu bringen, obwohl ich sehr bereue, sie angefangen zu haben. Aber ich schreibe in der Hoffnung, daß meine Geschichte niemals das Tageslicht der Öffentlichkeit erblicken wird; denn abgesehen davon, daß die niederträchtige Zensur, dieses Löschhorn des Geistes, niemals den Druck erlauben würde, so hoffe ich, daß ich in meiner letzten Krankheit vernünftig werde, da ich nicht mehr verrückter werden kann, und alle meine Hefte vor meinen Augen verbrennen lasse. Sollte dies nicht der Fall sein können, so rechne ich auf die Nachsicht meiner Leser, und diese werden sie mir nicht vorenthalten, wenn sie erfahren, daß die Niederschrift meiner Erinnerungen für mich das einzige Heilmittel war, um nicht wahnsinnig zu werden oder vor Ärger zu sterben – vor Ärger über die Unannehmlichkeiten und täglichen Scherereien von seiten der neidischen Halunken, die sich mit mir zusammen auf dem Schloß des Grafen von Waldstein oder Wallenstein in Dux befinden.

Indem ich täglich zehn oder zwölf Stunden schrieb, habe ich verhindert, daß der düstere Kummer mein Leben verzehrte oder mir die Vernunft raubte. Wir werden später darüber sprechen, wenn ich nicht etwa früher sterbe.

Am Tage nach dem Fronleichnamsfest reiste ich von Aix ab und begab mich nach Marseille. Ich habe jedoch eine wichtige Sache zu erwähnen vergessen, die ich noch nachtragen will. Ich spreche von der Fronleichnamsprozession.

Wie ein jeder weiß, wird das Fest des heiligen Sakraments in der ganzen Christenheit mit Pomp gefeiert; aber in Aix in der Provence sind mit dieser Feier so anstoßende Gebräuche verbunden, daß jeder vernünftige Mensch eine derartige Verirrung beklagen muß.

Dem Wesen aller Wesen, das unter dem Bilde der Eucharistie in Leib und Seele verkörpert wird, folgen bekanntlich überall sämtliche religiöse Körperschaften. Hierüber will ich also nichts sagen, denn dasselbe findet auch in Aix statt. Was aber unangenehm überraschen und anstößig wirken muß, das sind die Maskeraden und unpassenden Späße, die man sich bei einer so heiligen Handlung erlaubt, bei welcher man alles darauf berechnen müßte, die der Religion unentbehrliche Ehrfurcht noch zu vermehren, indem man Liebe und Dankbarkeit und fromme Verehrung für den Schöpfer aller Dinge und Spender alles Guten erregte.

Statt dessen sieht man den Teufel, den Tod und die sieben Todsünden, auf die lächerlichste Art gekleidet, tausend komische Gliederverrenkungen machen, sich schlagen und stoßen, heulen und schreien, wie wenn sie außer sich darüber wären, dem Herrn der Welt dienen zu müssen. Das Volk lacht und schreit und pfeift die greulichen Gestalten aus, singt Spottlieder auf sie, foppt sie auf alle möglichen Arten. Dies alles zusammen bildet ein Schauspiel, das mehr an Karnevalssaturnalien erinnert als an eine Prozession christlicher Völker, und das an schmutziger Unsittlichkeit alles überbietet, was wir über die Bacchanalien des Heidentums lesen. Die ganze Landbevölkerung von fünf bis sechs Wegstunden in der Runde kommt an diesem Tage nach Aix, um Gott zu ehren. Es ist sein Fest. Gott kommt im ganzen Jahre nur an diesem einen Tage auf die Straße. Ohne Zweifel hat eine Geistlichkeit, die entweder aus Verrückten oder aus Betrügern bestand, es für notwendig gehalten, den lieben Gott zum Lachen zu bringen. Die niedrigen Klassen des Volkes glauben dies allen Ernstes, und wenn einer sich erlauben sollte, etwas dagegen zu sagen, so würde es ihm übel ergehen, denn der Bischof marschiert an der Spitze des ganzen Mummenschanzes; folglich muß alles fromm und heilig sein.

Als ich gegen das tolle Treiben sprach, das die Religion nur in Verruf bringen könnte, sagte ein gewisser Herr der St. Marc, ein Mann von Bedeutung und Mitglied des Parlaments, in ernstem Tone zu mir, dieses Fest wäre eine ausgezeichnete Sache, denn dadurch kämen an einem einzigen Tage mehr als hunderttausend Franken in die Stadt.

Diese Anschauungsweise war so gewichtig, daß ich mir keine Antwort erlaubte.

Während meines Aufenthaltes in Aix verging kein Tag, daß ich nicht an Henriette dachte. Da ich ihren richtigen Namen kannte, so hatte ich nicht vergessen, was sie mir durch Marcolina hatte sagen lassen; ich erwartete, sie in Aix in irgendeiner Gesellschaft zu finden, und ich würde mich alsdann gegen sie so benommen haben, wie sie es gewünscht hätte. Oft hatte ich ihren Namen nennen gehört, aber ich hatte mir niemals eine Frage erlaubt, da ich sorgfältig vermeiden wollte, daß man vermuten konnte, sie sei mir bekannt. Ich hatte stets geglaubt, sie sei auf dem Lande, und da ich beschlossen hatte, ihr einen Besuch zu machen, war ich nur deswegen so lange in Aix geblieben, um vollständig gesund bei ihr anzukommen. Als ich nun von Aix abreiste, hatte ich in meiner Tasche einen Brief, wodurch ich mich bei ihr anmeldete. Ich beabsichtigte vor dem Tor des Schlosses zu halten, ihr den Brief hineinzuschicken und den Wagen nicht zu verlassen, wenn sie mich nicht dazu auffordern würde.

Ich hatte dem Postillon Bescheid gesagt; ihr Schloß lag anderthalb französische Meilen diesseits von Croix d’Or. Es war elf Uhr, als wir ankamen.

Ein Mann kam heraus. Ich gab ihm meinen Brief, und er sagte mir, er werde nicht verfehlen, ihn der gnädigen Frau zu schicken.

»Ist sie denn nicht hier?«

»Nein, mein Herr; sie ist in Aix.«

»Seit wann?«

»Seit sechs Monaten.«

»Wo wohnt sie?«

»In ihrem Hause; sie wird erst in drei Wochen hier hinauskommen, um nach ihrer Gewohnheit den Sommer hier zu verbringen.«

»Würden Sie so freundlich sein, mich einen Brief schreiben zu lassen?«

»Bitte, steigen Sie nur aus! Ich werde Ihnen das Zimmer der gnädigen Frau öffnen lassen; dort werden Sie alles finden, was Sie brauchen.«

Ich stieg aus, trat ins Haus und sah zu meiner größten Überraschung meine Krankenwärterin vor mir.

»Sie wohnen hier?« »Jawohl, mein Herr.« »Seit wann?« »Seit zehn Jahren.« »Wie kam es denn, daß Sie mich während meiner Krankheit pflegten?« »Das werde ich Ihnen oben sagen.«

Ihre Erzählung lautete folgendermaßen:

»Die gnädige Frau ließ mich in aller Eile holen und befahl mir, zu Ihnen zu gehen und Sie so zu pflegen, wie wenn sie selber krank gewesen wäre, und Ihnen zu sagen, ich sei auf Anordnung des Arztes bei Ihnen, falls Sie etwa irgendeine Frage an mich stellen sollten.«

»Der Arzt hat mir gesagt, er kenne Sie nicht.«

»Vielleicht hat er Ihnen die Wahrheit gesagt; wahrscheinlicher aber ist es, daß er von der gnädigen Frau Befehl erhalten hatte, Ihnen so zu antworten. Mehr weiß ich übrigens nicht; aber ich bin überrascht, daß Sie die gnädige Frau nicht in Aix gesehen haben.«

»Sie muß wohl nicht in Gesellschaft verkehren, denn ich bin überall gewesen.«

»Allerdings empfängt Madame keine Besuche, aber sie geht überall hin.«

»Das ist sehr wunderbar! Ich muß sie gesehen haben, und kann nicht begreifen, daß ich sie nicht erkannt habe. Sie sind seit zehn Jahren bei ihr?«

»Jawohl, mein Herr, wie ich bereits die Ehre hatte. Ihnen zu sagen.«

»Ist sie verändert? Hat sie irgendeine Krankheit gehabt, durch die ihr Gesicht sich geändert hat? Ist sie gealtert?«

»Durchaus nicht. Sie ist stärker geworden, aber ich versichere Ihnen, man würde sie für eine Frau von dreißig Jahren halten.«

»Ich muß blind sein, oder ich habe sie nicht ein einziges Mal zu sehen bekommen. Ich werde ihr schreiben.«

Die Frau ging hinaus.

Ich fühlte mich ratlos in dieser seltsamen Lage und fragte mich: soll ich augenblicklich nach Aix umkehren? Sie wohnt in ihrem Hause, sie empfängt niemanden. Wer kann sie verhindert haben, mit mir zu sprechen, und wer könnte sie verhindern, mich zu empfangen? Wenn sie mich nicht vorläßt, werde ich sofort wieder abfahren, und dann hätte ich eben einfach den Weg vergebens gemacht. Damit wäre dies erledigt. Aber Henriette liebt mich noch. Sie hat mich während meiner Krankheit pflegen lassen, und das würde sie nicht getan haben, wenn ich ihr gleichgültig geworden wäre. Sie wird empfindlich darüber sein, daß ich sie nicht wiedererkannt habe. Sie weiß, daß ich von Aix abgereist bin, und kann nicht daran zweifeln, daß ich in diesem Augenblick hier bin. Soll ich zu ihr fahren? Oder soll ich ihr schreiben?

Zu dem letzteren entschloß ich mich endlich. Ich schrieb ihr, ich würde in Marseille auf ihre Antwort warten. Ich gab meiner Pflegerin den Brief und das nötige Geld, um ihn sofort durch einen besonderen Boten zu befördern, und stieg wieder in meinen Wagen. Zum Mittagessen war ich in Marseille, wo ich in einem geringen Gasthof abstieg, da ich nicht erkannt werden wollte. Kaum war ich ausgestiegen, so sah ich die Donna Schizza, Ninas Schwester. Sie kam mit ihrem Mann von Barcelona; sie reisten nach Livorno und befanden sich seit drei oder vier Tagen in Marseille.

Signora Schizza war in diesem Augenblick allein, denn ihr Mann war ausgegangen. Ich hatte eine brennende Lust, hundert Dinge zu erfahren, und bat sie daher, in mein Zimmer zu kommen, bis man mir mein Essen brächte.

»Was macht Ihre Schwester? Ist sie immer noch in Barcelona?«

»Ja; aber sie wird nicht lange mehr dort bleiben, denn der Bischof will sie weder in der Stadt noch in seinem Sprengel dulden, und der Bischof ist mächtiger als Graf Ricla. Sie ist von Valencia zurückgekehrt, weil Graf Ricla geltend machte, man könne es ihr nicht verwehren, durch Katalonien nach ihrer Heimat zurückzureisen. Man bleibt aber nicht neun oder zehn Monate in einer Stadt, wenn man nur auf der Durchreise ist. In einem Monat wird sie sicherlich abreisen, aber daraus macht sie sich nicht viel; denn sie ist sicher, daß der Graf ihr überall einen mehr als reichlichen Lebensunterhalt gewähren wird, und es wird ihr vielleicht gelingen, ihn zugrunde zu richten. Einstweilen freut sie sich, daß sie seinen guten Ruf vernichtet hat.«

»Ich weiß ja, wie sie zu denken pflegt; aber schließlich kann sie doch nicht einen Mann hassen, durch den sie jetzt reich geworden sein muß.«

»Reich? Sie hat nur Diamanten. Aber können Sie annehmen, daß dieses Scheusal Dankbarkeit kennt? Glauben Sie, sie denke wie ein Mensch? Sie ist ein Scheusal; das weiß niemand so gut wie ich. Sie hat nur darum den Graf gezwungen, hundert Ungerechtigkeiten zu begehen, weil ganz Spanien von ihr sprechen und weil alle Welt wissen soll, daß sie Herrin über seinen Leib, sein Hab und Gut, seine Seele und seinen Willen ist. Je haarsträubender eine Ungerechtigkeit ist, zu der sie ihn veranlaßt, desto sicherer ist sie, daß man von ihr sprechen wird, und weiter will sie nichts. Ihre Verpflichtungen gegen mich, mein Herr, sind unzählig; denn sie verdankt mir alles, sogar das Leben; aber anstatt mir Gutes zu tun, indem sie meinem Mann einen besseren Posten mit einer Gehaltserhöhung verschaffte, was ihr nur ein Wort gekostet hätte, hat sie ihn verabschieden lassen.«

»Ich wundere mich, daß sie bei einer solchen Denkungsweise sich gegen mich so edel benommen hat.«

»Ja, ich weiß alles; aber wenn Sie ebenfalls alles wüßten, würden Sie ihr für das, was sie für Sie getan hat, keinen Dank wissen.«

»Nun, sprechen Sie!«

»Sie hat Ihre Rechnung im Gasthof und die Verpflegung im Gefängnisturm nur deshalb bezahlt, damit das Publikum zur Schande des Grafen glauben sollte, Sie wären ihr Liebhaber. Ganz Barcelona weiß, daß man Sie vor ihrer Tür hat ermorden wollen, und daß der Mordbube an dem Degenstich gestorben ist, den Sie zu Ihrem großen Glück ihm versetzt hatten.«

»Aber sie hat doch nicht meine Ermordung befehlen können! Sie hat nicht einmal Mitschuldige sein können; denn das wäre nicht natürlich!«

»Das weiß ich wohl, aber an Nina ist eben nichts Natürliches. Aber ich kann Ihnen für gewiß sagen, was ich selber mit angehört habe: Während der Stunden, die Graf Ricla bei ihr verbrachte, sprach sie unaufhörlich von Ihnen, von Ihrem Geist, von Ihrem edlen und galanten Auftreten, das sie mit dem der Spanier verglich, um diese verächtlich zu machen und herunterzusetzen. Der Graf ärgerte sich und sagte ihr schließlich, sie möchte von etwas anderem sprechen; aber vergeblich. Um nichts mehr davon zu hören, entfernte er sich mit einem Fluch auf Sie. Zwei Tage vor jenem Vorfall war er wieder ganz außer sich; er verließ sie mit den Worten: »Valga me Dios! Ich werde Ihnen eine Höflichkeit erweisen, auf die Sie nicht gefaßt sind!« Als wir dann den Büchsenschuß gleich nach Ihrem Fortgehen hörten, sagte sie ohne die geringste Gemütsbewegung, dieser Schuß sei ohne Zweifel die Höflichkeit, die ihr ekliger Spanier ihr in Aussicht gestellt habe. Ich sagte ihr, vielleicht habe man Sie getötet. »Um so schlimmer für den Grafen!« sagte sie zu mir; »denn er wird ebenfalls an die Reihe kommen.« Hierauf lachte sie wie eine Wahnsinnige bei dem Gedanken, welchen Lärm diese Neuigkeit in Barcelona verursachen würde. Am anderen Morgen um acht Uhr – dies muß ich zu ihrem Lobe sagen – war sie recht erfreut, als Ihr Bedienter ihr meldete, man habe Sie auf die Zitadelle gebracht.«

»Wie? Mein Bedienter? Ich habe niemals gewußt, daß er Beziehungen zu ihr hatte.«

»Sie sollten das auch nicht wissen. Übrigens kann ich Ihnen versichern, daß der ein braver Mann war, der Sie liebte.«

»Davon bin ich überzeugt gewesen. Fahren Sie fort.«

»Nina schrieb Ihrem Wirt ein Briefchen. Sie zeigte es mir nicht; aber ohne Zweifel hat sie ihm darin befohlen, Ihnen alles zu besorgen, was Sie wünschen würden. Der Bediente sagte uns, er habe den blutbefleckten Degen gesehen, und Ihr Mantel sei von einer Kugel durchlöchert worden. Sie freute sich darüber, aber nicht etwa, weil sie Sie liebte; glauben Sie das nur nicht! Sie freute sich, weil Sie dem Mordanfall entronnen waren und sich daher rächen könnten. In Verlegenheit brachte sie nur der Vorwand, dessen der Graf sich bedient hatte, um Sie verhaften zu lassen. – An jenem Abend kam der Graf nicht, aber am nächsten Tage kam er um acht Uhr, und das niederträchtige Weib empfing ihn lachend, wie wenn sie ganz glücklich wäre. Sie sagte ihm, sie wisse, daß er Sie ins Gefängnis gesteckt habe; daran habe er wohl getan, denn er könne sich dazu doch nur entschlossen haben, um Ihr Leben gegen neue Nachstellungen zu sichern. Er antwortete kurz angebunden, Ihre Verhaftung habe mit dem Vorfall der Nacht nichts zu tun. Sie seien nur für einige Tage gefangen gesetzt, denn man untersuche Ihre Papiere und werde Sie wieder in Freiheit setzen, wenn man daran nichts finde, was eine strenge Haft rechtfertigen könnte. Nina fragte ihn, wer der Mann wäre, den Sie verwundet hätten. Er antwortete: >Die Polizei stellt Nachforschungen an, denn man hat weder einen Toten noch einen Verwundeten, ja nicht einmal Blutspuren gefunden. Man hat nur Casanovas Hut gefunden, und diesen hat man in seinen Gasthof geschickt.« – Hierauf blieben sie bis Mitternacht miteinander allein; so daß ich nicht hören konnte, was sie noch weiter über Sie sagten; aber drei Tage darauf erfuhr alle Welt, daß Sie in den Turm gesperrt worden seien.

Am Abend fragte Nina den Grafen nach dem Grunde dieser strengen Maßregel; er antwortete, man hätte Verdacht, daß Ihre Pässe falsch seien; denn der vom Botschafter in Ildefonso ausgestellte müsse falsch sein. Da Sie nämlich bei der Staatsinquisition von Venedig in Ungnade seien, so sei es nicht wahrscheinlich, daß der Gesandte Ihnen einen Paß gegeben habe; ohne diesen aber hätten Sie weder den des Königs noch den vom Grafen Aranda erhalten können. In dieser Annahme habe man Sie in den Turm setzen müssen, denn das Verbrechen könne Ihnen teuer zu stehen kommen.

Diese Nachrichten beunruhigten uns, und als wir erfuhren, daß Pogomas verhaftet worden war, waren wir überzeugt, daß er Sie angezeigt hätte, um sich dafür zu rächen, daß Sie ihn aus unserem Hause hatten jagen lassen. Als wir erfuhren, daß der Kerl aus dem Gefängnisse entlassen, aber zu Schiff nach Genua gebracht worden war, glaubten wir, nun könne Ihre Freilassung nicht lange mehr dauern, denn man hätte doch längst die Nachricht erhalten müssen, daß ihre Pässe in Ordnung seien. Als wir aber sahen, daß man Sie immer noch in Haft behielt, da wußten wir nicht mehr, was wir darüber denken sollten; denn der Graf antwortete nicht mehr auf ihre Fragen nach Ihrem Befinden. Falsch, wie sie ist, hatte sie den Entschluß gefaßt, zu schweigen. Da erfuhren wir endlich, daß Sie in Freiheit gesetzt und vollkommen gerechtfertigt seien.

Nina zweifelte nicht, daß sie Sie im Parkett sehen und daß sie in ihrer Loge triumphieren würde; sie gedachte sich in dem ganzen Schmuck ihrer Diamanten zu zeigen; sie war daher in Verzweiflung, als sie von dem unerwarteten Ausfall der Theatervorstellungen hörte. Am Abend erfuhr sie vom Grafen, man habe Ihnen Ihre Pässe wiedergegeben, aber auch zugleich Ihnen den Befehl erteilt, binnen drei Tagen abzureisen. Die falsche Spitzbübin lobte die Vorsicht ihres Liebhabers, obgleich sie im geheimen ihn in die Hölle wünschte.

Sie dachte sich wohl, daß Sie nicht wagen würden, sie zu besuchen, denn sie glaubte, Sie hätten gewiß geheime Befehle empfangen, keinerlei Beziehungen zu ihr zu unterhalten; da erfuhr sie, daß Sie abgereist seien, ohne ihr auch nur ein ganz kleines Briefchen zu schreiben; sie geriet in eine rasende Wut gegen Ricla und schrie: >>Wenn Casanova den Mut gehabt hätte, mich zur Reise mit ihm einzuladen, so würde ich es getan haben.«

Durch Ihren Bedienten erfuhr sie, daß Sie glücklich drei Mördern entronnen seien. Am Abend machte sie Ricla ein Kompliment darüber, er schwor aber, er wisse nichts davon. Nina glaubte es ihm nicht. Ach! danken Sie Gott, daß Sie aus Spanien heraus gekommen sind, nachdem Sie Nina kennen gelernt hatten, dieses Scheusal, das Ihnen schließlich noch das Leben gekostet hätte und das mich dafür bestraft, es ihr gegeben zu haben.«

»Wie, Sie sind ihre Mutter?«

»Ja, Nina, dieses abscheuliche Geschöpf, ist meine Tochter.«

»Ist es möglich! Alle Welt hält sie für Ihre Schwester.«

»Das ist ja eben das Entsetzliche. Alle Welt hat recht.«

»Wie? Erklären Sie mir dies.«

»Ich will es tun, obgleich es mich in Verlegenheit bringt: sie ist meine Tochter und meine Schwester; denn sie ist die Tochter meines Vaters.«

»Was höre ich! Ihr Vater hat Sie geliebt.«

»Ob der Barbar mich geliebt hat, weiß ich nicht; jedenfalls hat er mich als seine Frau behandelt. Ich war damals sechzehn Jahre alt. Sie ist aus einem Verbrechen entsprossen, und der gerechte Gott bestraft mich durch sie. Mein Vater ist der Rache Gottes entgangen; möchte er auch der ewigen Höllenstrafe entgehen! Was soll aus mir werden? Ich hätte das niederträchtige Geschöpf in der Wiege erdrosseln sollen; vielleicht aber werde ich sie noch erdrosseln, bevor sie mich tötet.«

Außer mir vor Entsetzen, hörte ich schweigend diese furchtbare Erzählung an, deren Wahrheit nicht anzuzweifeln war.

»Ihr eigener Vater hat es ihr gesagt, als sie zwölf Jahre alt war. Er weihte sie zuerst in den Lebenswandel ein, den sie seitdem geführt hat, und er würde schließlich auch sie zur Mutter gemacht haben, wenn er nicht in demselben Jahre gestorben und dadurch vielleicht dem Galgen entgangen wäre.«

»Wie kam es, daß Graf Ricla sich in sie verliebte?«

»Hören Sie! Die Geschichte ist nicht lang, und sie ist eigenartig. Als sie vor zwei Jahren von Portugal nach Barcelona kam, wurde sie nur wegen ihres schönen Wuchses als Ballettfigurantin angenommen; denn Talent hat sie ja nicht; das einzige, was sie gut macht, ist die Rebaltade, eine Art Rückwärtssprung mit Pirouetten. Bei ihrem ersten Auftreten klatschte das Parkett lebhaften Beifall, weil sie bei der Rebaltade ihre Unterhosen bis zum Gürtel sehen ließ. Nun muß man wissen, daß in Spanien ein Gesetz besteht, daß jede Tänzerin, die auf der Bühne dem Publikum ihre Unterhosen zeigt, zu einem Taler Strafe verurteilt wird. Nina wußte davon nichts; als sie den Beifall hörte, machte sie es gleich noch einmal; aber nach dem Ballett sagte der Inspektor ihr, er würde zur Strafe für ihre schamlosen Sprünge zwei Taler von ihrem Monatsgehalt zurückbehalten. Nina fluchte und wetterte, konnte aber gegen das Gesetz nichts machen. Wissen Sie, was sie am nächsten Tage tat, um das Gesetz zu umgehen und sich zu rächen?«

»Vielleicht tanzte sie schlecht?«

»Sie tanzte ohne Unterhosen und machte wieder ihre Rebaltade. Dies erregte im Parkett eine so stürmische Heiterkeit, wie man sie in Barcelona noch niemals erlebt hatte.

Graf Ricla, der von seiner Loge alles gesehen hatte und sich von Entsetzen und zugleich von Bewunderung ergriffen fühlte, ließ den Inspektor rufen und sagte ihm, er müsse diese freche Tänzerin auf ganz andere Weise als durch Geldbuße exenplarisch bestrafen. ‚Einstweilen schicken Sie sie mal sofort zu mir!‘

Gleich darauf stand Nina in der Loge des Vizekönigs und fragte ihn mit ihrem schamlosen Gesicht, was er von ihr wünsche.

‚Sie sind eine schamlose Person und haben das Publikum beschimpft.‘

‚Was habe ich getan?‘

‚Sie haben denselben Sprung gemacht wie gestern.‘

‚Allerdings; aber ich habe Ihr Gesetz nicht verletzt; kein Mensch kann behaupten, daß er eine Unterhose gesehen hat; denn, um sicher zu sein, daß man sie nicht sehen würde, habe ich keine angezogen. Konnte ich mehr für Ihr verdammtes Gesetz tun, das mir bereits zwei Taler kostete? Antworten Sie nur!‘

Der Vizekönig und alle die ernsten würdigen Herren, die zugegen waren, mußten sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen; denn im Grunde hatte Nina recht, und wenn es zu einer Diskussion über diese Gesetzesübertretung gekommen wäre, hätte man sich sehr lächerlich darüber gemacht.

Der Vizekönig begriff, daß er sich in einer falschen Lage befand; er sagte zur Tänzerin nur: wenn sie noch einmal ohne Unterhose tanze, werde sie einen Monat bei Wasser und Brot im Gefängnis sitzen.

Nina war gehorsam. Acht Tage darauf gab man ein Ballett meines Mannes. Es wurde mit solchem Beifall aufgenommen, daß das Publikum stürmisch die Wiederholung verlangte.

Ricia befahl, den Wunsch des Publikums zu erfüllen, und den Tänzern wurde gesagt, daß sie noch einmal aufzutreten hätten.

Nina, die sich inzwischen fast gänzlich entkleidet hatte, sagte meinem Mann, er möchte sich einrichten, wie er wollte, sie würde nicht tanzen. Da sie nun die erste Rolle hatte, so konnte das Ballett ohne sie nicht aufgeführt werden. Mein Mann schickte daher den Direktor zu ihr, aber diesen warf sie in ihrer Wut mit solcher Kraft zur Türe hinaus, daß der arme Mensch mit der Stirn gegen die Korridorwand fuhr. Der Direktor berichtete jammernd dem Vizekönig von der Weigerung der Tänzerin. Zwei Soldaten erhielten Befehl, sie vor ihn zu führen, und dies war zu seinem Unglück; denn Nina ist, wie Sie wissen, sehr schön, und ihr Anzug war in jenem Augenblicke in einem Zustande, daß sie den kältesten Mann verführt haben würde.

Der Graf sagte ihr mit unsicherer Stimme, was er ihr zu sagen hatte. Seine Verlegenheit machte sie kühn, und sie antwortete ihm, es stehe in seiner Macht, sie in Stücke reißen zu lassen, aber er sei nicht mächtig genug, um sie dazu zu bringen, daß sie gegen ihren Willen tanze; denn in ihrem Vertrage stehe nichts davon, daß sie an einem Abend zweimal tanzen müsse; das könne weder er noch das Publikum von ihr verlangen.

‚Ich bin außer mir‘, rief sie, ‚über Ihr tyrannisches Vorgehen, das mich zwingt, beinahe nackt zwischen zwei Soldaten zu erscheinen, und ich werde Ihnen diesen barbarischen Despotismus niemals vergeben. Sie können machen, was Sie wollen, ich werde nicht tanzen, und ich erkläre Ihnen, ich werde Ihnen nicht mehr die Ehre erweisen, vor Ihnen und Ihrem Publikum zu tanzen. Ich verlange von Ihnen weiter nichts, als daß Sie mich gehen lassen oder mich töten; standhaft werde ich die härteste Behandlung erdulden und Ihnen beweisen, daß ich Venetianerin und ein freies Weib bin!‘ Erstaunt sagte der Vizekönig, Nina sei toll. Hierauf ließ er meinen Gatten kommen und befahl ihm, das Ballett ohne sie tanzen zu lassen und in Zukunft nicht auf sie zu rechnen, denn sie stehe nicht mehr in seinem Dienst.

Dann sagte er zu Nina, sie möchte gehen, und befahl den Soldaten, sie freizulassen.

Sie ging in ihre Ankleidekammer zurück, und als sie sich angezogen hatte, kam sie zu uns, denn sie wohnte bei uns.

Das Ballett wurde wiederholt, so gut es eben ging; der arme Graf sah aber nicht mehr viel davon, denn das Gift hatte bereits seine Wirkung getan. ‚

Am folgenden Tage kam der jämmerliche Sänger Molinari zu Nina und sagte ihr, der Gouverneur wünsche sich zu überzeugen, ob sie wahnsinnig sei oder nicht; er wolle sie in einem gewissen Landhause sehen.

Das war just, was das unglückselige Geschöpf wollte, und sie antwortete Molinari: ‚Sagen Sie Seiner Exzellenz, ich werde der Einladung Folge leisten und der Herr Gouverneur werde mich sanft wie ein Lamm und keusch wie einen Engel finden.‘ So begann ihre Bekanntschaft. Sie wußte die Schwächen ihrer neuen Eroberung so scharfsinnig zu erraten, daß sie den armen Spanier ebensosehr durch ihre schlechte Behandlung fesselte wie durch ihre verführerischen Reize und durch die schlaueste Koketterie.«

Dieses erzählte die unglückselige Schizza mit der ganzen Leidenschaft einer von Reue und Rachsucht gepeinigten Italienerin.

Am nächsten Tage erhielt ich, wie ich erwartet hatte, die Antwort meiner Henriette. Sie schrieb mir:

»Nichts, mein lieber Freund, ist romantischer als unsere Begegnung in meinem Landhause vor sechs Jahren und jetzt wieder von neuem, zweiundzwanzig Jahre nach jenem Tage, da wir uns in Genf trennten. Wir sind alle beide gealtert, das ist natürlich. Aber wollen Sie es glauben? Obgleich ich Sie noch liebe, ist es mir doch angenehm, daß Sie mich nicht wiedererkannt haben. Nicht daß ich häßlich geworden wäre, aber ich bin dicker geworden, und dadurch haben sich meine Gesichtszüge verändert. Ich bin Witwe, lebe glücklich und besitze ein genügendes Vermögen, um Ihnen sagen zu können, daß Sie sich an Henriettens Börse wenden mögen, wenn Sie etwa bei den Bankiers kein Geld haben sollten. Kommen Sie nicht nach Aix zurück, um das Wiedersehen mit mir zu feiern, denn Ihre Rückkehr könnte Anlaß zu Gerede geben; wenn Sie aber nach einiger Zeit herkommen, so werden wir uns sehen können, jedoch nicht als alte Bekannte. Ich fühle mich glücklich in dem Gedanken, daß ich vielleicht zur Verlängerung Ihres Lebens beigetragen habe, indem ich Ihnen eine Frau schickte, deren gutes Herz und Treue ich kannte. Wenn Ihnen ein Briefwechsel mit mir recht ist, so werde ich gern mein Bestes tun. Ich bin sehr neugierig, zu erfahren, was Sie seit Ihrer Flucht aus den Bleikammern gemacht haben, und da Sie jetzt einen so schönen Beweis von Verschwiegenheit abgelegt haben, so verspreche ich Ihnen, alles zu erzählen, was unser Zusammentreffen in Cesena und meine Rückkehr in die Heimat veranlaßte. Unsere Bekanntschaft ist ein Geheimnis für alle Welt. Nur Herr d’Antoine kennt einen Teil davon. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich bei keinem Menschen nach meiner Existenz erkundigt haben, obwohl Marcolina Ihnen gewiß alles gesagt hat, was ich ihr für Sie auftrug. Schreiben Sie mir, was mit diesem entzückenden Geschöpf geworden ist. Leben Sie wohl!«

Ich antwortete ihr, indem ich den angebotenen Briefwechsel annahm und ihr in großen Umrissen meine wechselvollen Schicksale erzählte. Sie ihrerseits erzählte mir in etwa vierzig Briefen ihre ganze Lebensgeschichte. Wenn sie vor mir stirbt, werde ich diese Briefe meinen Erinnerungen beigeben; aber heutigentags lebt sie noch, und sie ist glücklich, wenngleich alt.

Am nächsten Tage besuchte ich Frau Audibert, und wir fuhren zusammen zu Frau N. N., die bereits Mutter von drei Kindern war. Sie wurde von ihrem Gatten angebetet und war infolgedessen glücklich. Ich brachte ihr gute Nachrichten von Marcolina und erzählte ihr Croces Abenteuer und Charlottens Tod, der ihr sehr zu Herzen ging.

Sie gab mir dafür die allerneuesten Nachrichten über Rosalie, die durch ihren Mann sehr reich geworden war. Ich konnte nicht mehr hoffen, diese reizende Frau wiederzusehen, denn in Genua würde der Anblick des Herrn Grimaldi mir kein Vergnügen gewesen sein.

Meine liebe frühere Nichte betrübte mich, ohne es zu wollen; sie sagte mir, sie finde mich gealtert. Obgleich ein Mann sich aus dem Altwerden nichts zu machen braucht, so mißfällt doch ein solches Kompliment, wenn man noch nicht auf Galanterie verzichtet hat. Sie gab mir zu Ehren ein schönes Diner, und ihr Gatte machte mir Anerbietungen, die ich aus falscher Scham nicht annahm. Ich besaß noch fünfzig Louis, und da ich nach Turin gehen wollte, so wußte ich, daß ich dort Hilfsquellen haben würde.

Ich traf in Marseille den Herzog von Villars, den Tronchin künstlich am Leben erhielt; der hohe Herr war Gouverneur der Provence; er lud mich zum Abendessen ein, und ich fand zu meiner Überraschung bei ihm den angeblichen Marquis d’Arragon, der eine Bank hielt. Ich spielte mit kleinen Einsätzen und verlor. Der Marquis lud mich zum Mittagessen bei seiner Frau, der alten Engländerin, ein, die ihm vierzigtausend Guineen zugebracht hatte, während weitere zwanzigtausend nach ihrem Tode einem Sohne zufallen sollten, den sie in London hatte. Von diesem glücklichen Taugenichts schämte ich mich nicht, fünfzig Louis zu borgen, obwohl es ziemlich sicher war, daß ich sie ihm niemals zurückgeben würde.

Ich reiste allein von Marseille über Antibes, Nizza und den Col di Tenda, die höchste Alpenstraße nach Turin. Auf diesem Wege hatte ich das Vergnügen, das sogenannte Piemont zu sehen, ein Land von großer Schönheit.

In Turin empfingen der Chevalier Raiberti und Graf de la Pérouse mich auf das freundlichste. Beide wiederholten mir das Kompliment meiner Exnichte: sie fanden, daß ich alt geworden wäre. Da ich aber nur im Verhältnis zu den vierundvierzig Jahren alt sein konnte, die ich damals zählte, so tröstete ich mich leicht.

Ich schloß enge Freundschaft mit dem englischen Gesandten, Ritter R., einem liebenswürdigen, wissenschaftlich gebildeten, reichen, geschmackvollen Mann, der eine ausgezeichnete Tafel führte und den alle Welt liebte, unter anderen auch eine Tänzerin aus Parma, namens Campioni, ein Weib von entzückender Schönheit.

Ich teilte meinen Freunden mit, daß ich die Absicht hätte, nach der Schweiz zu gehen, und dort auf meine Kosten in italienischer Sprache eine Widerlegung der Geschichte der venetianischen Regierung von Amelot de la Houssaie drucken zu lassen. Alle beeilten sich, mir Subskribenten zu verschaffen, die mir eine gewisse Anzahl von Exemplaren vorausbezahlten. Der Freigebigste von allen war der Graf de la Pérouse, der mir siebenhundertundfünfzig Franken für fünfzig Exemplare gab. Acht Tage darauf verließ ich Turin mit dreitausend Franken in meiner Börse. Dieses Geld setzte mich in den Stand, das ganze Werk drucken zu lassen, das ich in der Zitadelle von Barcelona niedergeschrieben hatte. Ich mußte es jedoch noch einmal umschreiben, weil ich damals den zu widerlegenden Autor und die venetianische Geschichte des Prokurators Rani nicht vor Augen gehabt hatte.

Nachdem ich mir diese Werke verschafft hatte, begab ich mich in der Absicht, mein Buch drucken zu lassen, nach Lugano, wo eine gute Buchdruckerei und keine Zensur war. Ich wußte außerdem, daß der Buchdruckereibesitzer ein wissenschaftlich gebildeter Mann war, sowie, daß man in Lugano gut aß und gute Gesellschaft fand. Ich war dort dicht bei Mailand, in nächster Nähe von Varese, wo der Herzog von Modena die schöne Jahreszeit verbrachte, von Como, Chiavenna und dem Lago Maggiore mit den berühmten Borromeischen Inseln. Ich befand mich also an einem Ort, wo ich leicht Unterhaltung finden mußte. Ich ging in den Gasthof, der für den besten galt, und der Wirt, ein gewisser Tagoeretti, gab mir das beste Zimmer seines Hauses.

Gleich am nächsten Morgen suchte ich den Dottore Agnelli auf; er war zugleich Buchdrucker, Priester, Theologe und ein recht ehrlicher Mann. Ich machte mit ihm einen Vertrag in einer Form, wonach er sich verpflichtete, mir wöchentlich vier Bögen in zwölfhundert Exemplaren zu liefern. Ich meinerseits verpflichtete mich, jede Woche das Fertige zu bezahlen. Er behielt sich das Recht der Zensur vor, sprach aber die Hoffnung aus, daß seine Meinung stets mit der meinigen übereinstimmen werde.

Ich übergab ihm sofort Vorwort und Einleitung, womit er für eine volle Woche genug zu tun haben mußte, und suchte ein Papier in Großoktavformat aus.

Als ich in den Gasthof zurückgekehrt war, um zu Mittag zu essen, meldete man nur den Bargello oder Polizeimeister.

Obgleich Lugano zu den dreizehn Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft gehört, wird die Polizei dort wie in den italienischen Städten gehandhabt.

Ich war neugierig, was ein solcher Mann von übler Vorbedeutung von mir wünschen könnte, und da ich außerdem verpflichtet war, ihn anzuhören, so ließ ich ihn eintreten. Nachdem er mir eine tiefe Verbeugung gemacht hatte, sagte der Signore Bargello, mit dem Hut in der Hand, er sei gekommen, um mir seine Dienste anzubieten und mir zu versichern, daß ich mich, wenngleich fremd, in Lugano sehr wohl befinden werde und daß ich weder für meine Person etwas zu befürchten habe, falls ich etwa Feinde außerhalb des Kantons habe, noch für meine persönliche Freiheit, falls ich Verdrießlichkeiten mit der venetianischen Regierung haben sollte.

»Ich danke Ihnen, Herr Bargello, und bin vollkommen überzeugt, daß Sie mir die Wahrheit sagen, da ich mich ja in der Schweiz befinde.«

»Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen zu sagen, mein Herr, daß Ausländer, die hierher kommen und der Unverletzlichkeit der ihnen gewährten Zuflucht sicher sein wollen, gewöhnlich eine Kleinigkeit vorauszahlen, sei es wöchentlich oder monatlich oder auf ein Jahr.«

»Und wenn sie nicht zahlen wollen?«

»Dann sind sie nicht so sicher.«

»Schön! – Geld macht alles?«

»Aber mein Herr….«

»Ich verstehe, aber ich will Ihnen etwas sagen: ich habe nichts zu befürchten und halte mich daher für unverletzlich, ohne daß ich mir die Mühe mache, etwas zu bezahlen.«

»Sie werden mir verzeihen, aber ich weiß, daß Sie im Unfrieden mit der venetianischen Regierung leben.«

»Sie täuschen sich, mein guter Freund.«

»Oh nein, hierin täusche ich mich ganz gewiß nicht.«

»Wenn Sie Ihrer Sache sicher zu sein glauben, so bringen Sie mir irgend jemanden, der um zweihundert Zechinen wetten will, daß ich irgend etwas von Venedig zu befürchten habe. Ich werde dagegen wetten und die Summe sofort hinterlegen.«

Der Bargello wurde ganz verlegen, und der Wirt, der zugegen war, sagte ihm, er möchte sich doch vielleicht irren. Er grüßte mich und entfernte sich sehr enttäuscht.

Mein Wirt freute sich, dieses Gespräch mit angehört zu haben, und sagte mir: »Da Sie die Absicht haben, einige Zeit hier am Orte zu verweilen, so tun Sie gut, wenn Sie dem Capitano oder Landvogt einen Besuch machen. Er ist gewissermaßen Gouverneur, und alle Macht liegt in seiner Hand. Er ist ein liebenswürdiger Schweizer Edelmann, und seine Frau ist voller Geist und eine strahlende Schönheit.«

»O, das ist etwas anderes. Verlassen Sie sich darauf, gleich morgen werde ich den Herrn aufsuchen.«

Am nächsten Tage ließ ich mich gegen Mittag beim Landvogt melden; ich wurde sofort vorgelassen und sah vor mir Herrn von R. und seine reizende Gemahlin mit einem hübschen Knaben von fünf oder sechs Jahren.

Man stelle sich unsere gegenseitige Überraschung vor!

Erstes Kapitel


Ich sehe die Zarin. – Meine Unterhaltungen mit der großen Herrscherin. – Die Valville. – Ich trenne mich von Zaïra. – Meine Abreise von Petersburg und Ankunft in Warschau. – Die Fürsten Adam Czartoryski und Sulkowski. – Der König von Polen Stanislaus Poniatowski, genannt Stanislaus August der Erste. – Theaterintrigen. – Branicki.

Ich gedachte zu Anfang des Herbstes abzureisen, aber die Herren Panin und Alsuwieff sagten mir fortwährend, ich dürfte nicht gehen, wenn ich nicht sagen könnte, daß ich mit der Kaiserin gesprochen hätte.

»Auch mir würde es leid tun«, antwortete ich ihnen; »da ich aber niemanden gefunden habe, um mich vorzustellen, so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich in mein Schicksal zu ergeben.«

Endlich sagte Panin mir eines Tages, ich möchte doch in der Morgenfrühe im Sommergarten spazieren gehen, wo Ihre Kaiserliche Majestät häufig lustwandelte; wenn sie mir scheinbar zufällig begegnete, wäre es sehr wahrscheinlich, daß sie mich anreden würde. Ich sagte ihm, es wäre mir sehr angenehm, wenn ich Ihrer Majestät an einem Tage begegnen könnte, wo er bei ihr wäre. Er bezeichnete mir den Tag, und ich ging hin.

Während ich ganz allein spazieren ging, besah ich mir die Statuen, die am Rande der Allee aufgestellt waren – Statuen aus schlechtem Sandstein und von noch schlechterem Geschmack, die aber durch die auf ihrem Sockel eingemeißelten Namen eine komische Wirkung erzielten. Ein Kopf mit strömenden Tränen sollte Demokrit vorstellen, ein anderer, der den Mund von einem Ohr zum anderen aufriß, trug den Namen Heraklit, ein Greis mit langem Bart hieß Sappho und ein altes Weib mit schlotterndem Busen wurde Avicenna genannt. In demselben Geschmack war alles übrige.

Während ich über die Geschmacksverirrung lächelte, die diesen Unsinn eingegeben hatte, sah ich die Zarin erscheinen. Graf Gregor Orloff ging vor ihr her, und zwei Hofdamen folgten ihr. Graf Panin ging zu ihrer Linken. Ich trat beiseite, um sie vorüber zu lassen, aber sobald sie in Sprechweite war, fragte sie mich lachenden Mundes, ob die Schönheit der Statuen mich nicht sehr interessiert hätte. Ich schloß mich ihr an und antwortete: »Ich denke mir, man hat die Bilder hier aufgestellt, um die Dummköpfe zu foppen, oder um solche, die ein bißchen von Weltgeschichte wissen, zu erheitern.«

Die Kaiserin antwortete mir: »Ich weiß nur soviel, daß man meine gute Tante angeführt hat, die freilich wenig Wert darauf legte, solchen kleinen Scherzen auf den Grund zu gehen, übrigens hoffe ich, daß das, was Sie sonst bei uns gesehen haben. Ihnen nicht ebenso lächerlich vorgekommen ist wie diese Statuen.«

Ich würde einen Verstoß gegen Wahrhaftigkeit und Höflichkeit begangen haben, wenn ich diese Anregung nicht verstanden hätte. Ich antwortete daher: das Lächerliche, das man in Rußland sehe, sei nur der Schatten in dem großartigen Gemälde, das es hier zu bewundern gebe. Hierauf unterhielt ich die große Herrscherin länger als eine Stunde von allem, was ich in Petersburg bemerkenswert gefunden hatte.

Eine Abschweifung führte mich auf den König von Preußen, und ich pries den großen Mann, tadelte jedoch seine unerträgliche Gewohnheit, den Leuten, mit denen er sprach, niemals Zeit zu einer vollständigen Antwort zu lassen. Hierauf fragte Katharina mich mit dem anmutigsten Lächeln nach den Gesprächen, die ich mit dem Herrscher gehabt hätte, und ich schilderte ihr alles in einer Weise, die sie offenbar interessierte. Sodann hatte sie die Güte, mir zu sagen, sie habe mich niemals auf dem »Courtag« gesehen. Der Courtag war ein Instrumental- und Vokalkonzert, das sie jeden Sonntag nach dem Essen in ihrem Palais gab und wozu jedermann Zutritt hatte. Sie ging unter den Anwesenden auf und ab und sprach hier und da ein Wort mit solchen, die sie auszeichnen wollte. Ich sagte ihr, ich sei nur ein einziges Mal dagewesen, da ich das Unglück habe, die Musik nicht zu lieben. Sie wandte sich zu ihrem lieben Panin und sagte lächelnd, sie kenne jemanden, der dasselbe Unglück habe. Wenn der Leser sich der Worte erinnert, die ich die Kaiserin beim Verlassen der Oper hatte sagen hören, so wird er finden, daß ich als verschlagener Höfling sprach. Ich gebe es zu; aber ach, es ist zu schwer, es regierenden Herrschaften gegenüber nicht zu sein, besonders wenn es Herrschaften im Unterrock sind.

Die Zarin unterbrach unsere Unterhaltung, um etwas mit Herrn Betzkoy zu sprechen, der an sie herangetreten war. Da Herr von Panin sich von ihr verabschiedete, so verließ auch ich den Park, ganz bezaubert von der Ehre, die mir zuteil geworden war.

Die Kaiserin war von mittlerer Größe, gut gewachsen und von majestätischer Haltung. Sie besaß die Kunst, allen Liebe einzuflößen, von denen sie glaubte, daß sie neugierig seien, sie kennen zu lernen. Ohne schön zu sein, war sie doch sicher, durch ihre Sanftmut und Liebenswürdigkeit zu gefallen, besonders aber durch ihren Geist, dessen sie sich mit feinstem Takt bediente, um den geringsten Anschein von Anmaßlichkeit zu vermeiden, und dies war um so bewunderungswürdiger, da sie mit bestem Recht eine sehr gute Meinung von sich selber haben durfte.

Einige Tage darauf sagte Graf Panin mir, die Kaiserin habe sich zweimal nach mir erkundigt, und das sei ein sicheres Zeichen, daß ich ihr gefallen habe. Er riet mir, Gelegenheiten auszuspähen, um ihr zu begegnen, und versicherte mir, da sie bereits Geschmack an mir gefunden habe, so werde sie mich jedesmal zu sich heranrufen, wenn sie mich sehe, und wenn ich Lust hätte, eine Anstellung zu erhalten, so wäre es wohl möglich, daß sie an mich dachte.

Obwohl ich selber nicht wußte, zu welchem Amt ich in einem Lande, das ich zudem nicht liebte, wohl tauglich sein könnte, so war es mir doch angenehm, zu erfahren, daß ich mir mit leichter Mühe Zutritt bei Hof verschaffen könnte. Infolgedessen ging ich jeden Tag im Parke spazieren, und bald hatte ich ein zweites Gespräch mit der hohen Frau, das ich ganz genau mitteilen will.

Die Kaiserin bemerkte mich von ferne und schickte mir einen Offizier zu, der mich einlud, näher zu kommen. Das Tagesgespräch war damals das große Reiterfest, dessen Abhaltung durch das schlechte Wetter verhindert worden war. Sie fragte mich, ob man auch in Venedig Schauspiele dieser Art geben könnte. In meiner Antwort machte ich eine Menge Bemerkungen über die Schauspiele, die man an keinem anderen Ort als Venedig geben könnte. Meine Ausführungen machten ihr viel Vergnügen. Bei dieser Gelegenheit sagte ich auch, das Klima meiner Heimat sei glücklicher als das russische, insofern, als die schönen Tage dort die Regel seien, während sie in Petersburg eine seltene Ausnahme seien, obwohl die Fremden das Jahr hier jünger fänden als sonstwo auf der Welt.

»Sie haben recht,« sagte sie, »bei Ihnen ist das Jahr elf Tage älter.«

»Wäre es nicht eine Eurer Majestät würdige Handlung, das russische Jahr ebenso alt zu machen, wie das unsrige, indem Sie den Gregorianischen Kalender annähmen? Alle Protestanten haben das mit Vorteil getan, und England, das ihn vor vierzehn Jahren annahm, hat bereits mehrere Millionen gewonnen. Europa ist erstaunt, Madame, daß der alte Stil sich noch in einem Staate erhält, dessen Herrscherin das sichtbare Oberhaupt der Kirche ist, und dessen Hauptstadt eine Akademie der Wissenschaften besitzt. Man glaubt, Madame, Peter der Große, der den Befehl gab, das Jahr mit dem ersten Januar zu beginnen, würde ebenfalls den alten Stil abgeschafft haben, wenn er es nicht für notwendig und vorteilhaft gehalten hätte, sich nach England zu richten, das damals für den Handel Ihres ungeheuren Reiches die größte Bedeutung hatte.«

»Sie wissen doch,« sagte sie mit liebenswürdiger Miene und einem sehr feinen Lächeln, »daß Peter der Große kein Gelehrter war.«

»Madame, er war mehr als ein Gelehrter: der unsterbliche Peter war ein Genius ersten Ranges. Wenn er keine wissenschaftliche Bildung besaß, so hatte er statt dessen ein sehr feines Gefühl, und das ließ ihn ein sehr richtiges Urteil fällen über alles, was er sah oder was nach seiner Meinung geeignet war, die Wohlfahrt seiner Untertanen zu erhöhen. Sein großes Genie, verbunden mit einem festen und entschlossenen Charakter, bewahrte ihn vor Irrtümern und setzte ihn instand, die Mißbräuche abzustellen, die die Erreichung seiner großen Absichten hätten hindern können.«

Ihre Majestät, die mir mit Vergnügen zugehört zu haben schien, wollte mir antworten, als sie im selben Augenblick zwei Damen bemerkte, die sie heranrufen ließ. Sie sagte mir: »Ich werde Ihnen mit Vergnügen ein anderes Mal antworten.« Hierauf wandte sie sich zu den Damen.

Dieses andere Mal trat acht oder zehn Tage später ein, als ich bereits zu glauben begann, sie wolle nicht mehr mit mir sprechen. Denn sie hatte mich gesehen, aber nicht rufen lassen.

Sie redete mich mit den Worten an: »Was Sie zum Ruhme Rußlands gerne geschehen sähen, ist bereits gemacht. Alle Briefe, die wir nach fremden Ländern schreiben, alle öffentlichen Urkunden, die von irgendeiner geschichtlichen Bedeutung sein können, sind von jetzt an mit zwei Daten versehen, von denen das eine oben, das andere unten steht. Daß das Datum, das dem anderen um elf Tage voraus ist, das neuere ist, weiß jedermann.«

»Darf ich es jedoch wagen, Eure Majestät darauf aufmerksam zu machen, daß am Ende dieses Jahrhunderts der Unterschied der Tage zwölf betragen wird?«

»Durchaus nicht, auch dafür ist bereits gesorgt. Das letzte Jahr des Jahrhunderts, das bei Ihnen kein Schaltjahr ist, wird es auch bei uns nicht sein. Es bleibt also kein wirklicher Unterschied zwischen uns. Nicht wahr, diese Einschränkung genügt doch, da sie ein weiteres Umsichgreifen des Irrtums verhindert. Es ist sogar ein Glück, daß der Fehler elf Tage beträgt, denn da dies die Zahl ist, um welche jedes Jahr die Epakten vermehrt werden, so können wir sagen, daß Ihre Epakten auch die unsrigen sind, nur mit dem Unterschied eines Jahres. Wir haben sogar die gleiche Zahl in den elf letzten Tagen des tropischen Jahres. Was die Feier des Osterfestes anbetrifft, so muß man die Leute reden lassen. Ihre Tag- und Nachtgleiche ist auf den einundzwanzigsten März festgesetzt, die unsrige auf den zehnten, und die Vorwürfe, die die Astronomen gegen uns erheben, gelten auch Ihnen; bald haben wir unrecht, bald Sie. Denn die Tag- und Nachtgleiche tritt oftmals einen, zwei und sogar drei Tage früher oder später ein, und sobald wir der Tag- und Nachtgleiche gewiß sind, hat das Gesetz des Märzmondes recht geringe Bedeutung. Sie wissen doch, daß Sie oft nicht einmal mit den Juden übereinstimmen, deren Embolismus, wie man behauptet, ganz vollkommen sein soll. Kurz und gut, der Unterschied der Osterfeier stört nicht im geringsten die öffentliche Ordnung.«

»Was Eure Majestät mir soeben gesagt haben, ist voller Weisheit und Gelehrsamkeit. Sie haben mich mit höchster Bewunderung erfüllt; indessen, das Weihnachtsfest –«

»Nur in diesem Punkt hat Rom allerdings recht; denn Sie wollten mir vermutlich sagen, daß wir Weihnacht nicht in den Tagen der Wintersonnenwende feiern, wie es eigentlich sein sollte. Wir wissen es, aber ich glaube, man darf es auch nicht so genau nehmen. Ich ziehe es vor, lieber diesen geringen Fehler zu dulden, als allen meinen Untertanen eine große Betrübnis zu verursachen, indem ich elf Tage aus dem Kalender ausmerze und dadurch zwei oder drei Millionen wackere Russen um ihren Geburts- oder Namenstag bringe – ja sogar allen Russen: denn man würde sagen, ich hätte durch einen unerhört despotischen Befehl das Leben aller Menschen um elf Tage abgekürzt. Freilich würde man sich nicht laut beklagen, denn das ist hier nicht der Brauch; aber man würde sich ins Ohr flüstern, ich sei eine Atheistin und greife offenbar die Unfehlbarkeit des Konzils von Nicäa an. Diese einfältige Kritik wäre zwar im Grunde lächerlich, aber ich würde durchaus nicht darüber lachen: denn um mich zu erheitern, habe ich andere und viel angenehmere Gegenstände.«

Die Zarin hatte das Vergnügen, mich überrascht zu sehen, und entfernte sich sehr befriedigt. Ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt, daß sie das Thema eigens studiert hatte, um mich zu verblüffen. Einige Tage darauf sagte Herr Alsuwieff mir, es sei sehr wohl möglich, daß die Kaiserin eine kleine Abhandlung über diesen Gegenstand gelesen habe, ein Werkchen, das er kenne, und worin alles, was sie mir gesagt habe, ganz genau enthalten sei. Übrigens sei es sehr wohl möglich, daß Ihre Majestät tiefe Kenntnisse auf diesem Gebiete besitze. Das war natürlich eine bloße Redensart, wie man sie eben im Munde eines jeden Höflings findet, besonders in Rußland.

Die Zarin sagte in sehr bescheidenem Ton und in einer sehr einfachen Redeweise ihre Meinung klar und deutlich, und ihr Geist schien ebenso unerschütterlich zu sein wie ihre gute Laune, deren immer gleiche Beständigkeit ihr lachendes Antlitz verkündete. Da diese lachende Miene ihr zur Gewohnheit geworden war, so kostete sie ihr wahrscheinlich keine Mühe; trotzdem ist sie dieserhalb zu bewundern, denn es gehört dazu eine Selbstbeherrschung, die die gewöhnlichen Regungen der menschlichen Natur im Zaume zu halten weiß. Die äußere Haltung der großen Katharina war das gerade Gegenteil der des Königs von Preußen, aber sie war Zeugnis, daß ihr Genie größer war als das dieses Herrschers. Sie ermutigte durch einen äußeren Anschein von Güte und hatte dadurch stets einen Vorteil, während die ausgeklügelte Schroffheit des Potsdamer Soldaten nicht selten dazu benutzt wurde, ihn zu täuschen. Prüft man Friedrichs Leben, so bewundert man seinen Mut, aber man sieht zugleich, daß er unterlegen wäre, wenn er nicht viel Glück gehabt hätte. Untersucht man dagegen das Leben Katharinas, so findet man, daß sie offenbar auf den Beistand der blinden Göttin sehr wenig gerechnet hat. Sie führte Unternehmungen durch, die vor ihrer Thronbesteigung in ganz Europa für groß gegolten hatten, die sie aber absichtlich als klein ansah.

Ich las kürzlich einen jener modernen Zeitschriftenaufsätze, deren Schreiber sich absichtlich von ihrem Thema zu entfernen scheinen, um die Aufmerksamkeit der Leser auf ihre eigene Person zu lenken. Der Verfasser behauptet, Katharina die Zweite sei glücklich gestorben wie sie gelebt habe. Alle Welt weiß, daß die große Herrscherin, auf ihrem Nachtstuhl sitzend, von einem plötzlichen Tod ereilt wurde. Wenn nun der Artikelschreiber diesen Tod einen glücklichen nennt, so liegt darin, daß dies die Todesart ist, die er für sich selber wünscht. Natürlich hat jeder seinen eigenen Geschmack, und wir können einem jeden wünschen, daß er einen solchen Tod findet, wie er ihm gefällt. Wenn aber für die Behauptung, daß dieser Tod ein glücklicher sei, die Voraussetzung gilt, daß der von ihm Betroffene ihn so gewünscht haben müsse – wer hat denn dem sonderbaren Schwärmer gesagt, daß Katharina sich gerade diesen Tod gewünscht habe? Wenn er etwa glaubt, daß dieser Wunsch dem tiefen Geist entspreche, den alle Welt der Kaiserin zuschrieb, so kann man ihn fragen, mit welchem Recht er die Behauptung aufstellt, daß ein tiefer Geist einen plötzlichen Tod als den glücklichsten ansehen müsse. Etwa, weil er selber ihn dafür hält? Aber, wenn er kein Dummkopf ist, so muß er doch befürchten, daß er sich irren kann, und wenn er sich irrt, so ist er ja ein Dummkopf. Der Artikelschreiber hat also auf alle Fälle eine Dummheit gesagt, einerlei, ob er sich irrt oder nicht. Um die Wahrheit zu erfahren, müßten wir die verstorbene Zarin selber befragen können. Wir würden etwa zu ihr sagen: »Sind Sie wirklich froh, Madame, daß Sie eines plötzlichen Todes gestorben sind?« Es wäre nicht unmöglich, daß sie uns antwortete:

»Welche Dummheit! Eine solche Frage dürfte nur an einen verzweifelten Menschen gerichtet werden, oder an eine Frau, deren schlechte Gesundheit sie befürchten ließe, daß sie nach langer und grausamer Krankheit einen schmerzhaften Tod erleiden würde. Ich befand mich weder in dem einen noch in dem anderen Fall; denn ich war glücklich und befand mich körperlich wohl. Ein größeres Unglück konnte mir gar nicht zustoßen, und gerade dieses Unglück kam mir völlig unerwartet. Dieses Unglück hat mich verhindert, eine Menge Sachen durchzuführen, die ich leicht hätte zu Ende bringen können, wenn Gott mir eine kleine Krankheit vergönnt hätte, deren Symptome mich auf die Möglichkeit meines Todes aufmerksam gemacht hätten. Es wäre nicht nötig gewesen, daß mein Äskulap mich darauf vorbereitete. Aber so ist es nicht gewesen. Ein unwiderruflicher Befehl hat mich gezwungen, die längste aller Reisen anzutreten, ohne mir Zeit zu lassen, mein Bündel zu schnüren, und in einem Augenblick, wo ich nicht bereit war. Soll man mich etwa wegen dieses Todes glücklich nennen, weil ich nicht die Qual gehabt habe, ihn kommen zu sehen? Wenn man annimmt, ich würde nicht den Mut gehabt haben, mich willig einem Naturgesetz zu fügen, das für mich wie für alle Sterblichen gilt, so traut man mir offenbar eine Feigheit zu, die ich bei Lebzeiten niemals gezeigt zu haben glaube. Heute, da Sie mich als Geist vor sich sehen, kann ich Ihnen versichern, daß ich mich glücklich schätzen würde, wenn der gar zu strenge Befehl, der mich plötzlich wie ein Blitz traf, mir vor meinem Ende einen Aufschub von zwanzig Stunden ruhiger Überlegung gelassen hätte. Dann würde ich mich nicht über die göttliche Ungerechtigkeit beklagen.«

»Wie, Madame, Sie klagen Gott der Ungerechtigkeit an?«

»Das ist ganz natürlich; denn ich bin ja verdammt. Glauben Sie, ein Verdammter, so schwer er auch bei Lebzeiten gefehlt haben möge, könne das Urteil gerecht finden, das ihn dazu verdammt, für die Ewigkeit unglücklich zu sein?«

»Das halte ich allerdings für schwierig, aber ich denke, es hätte Ihnen ein gewisser Trost sein können, wenn Sie die Verurteilung als gerecht anerkennen müßten.«

»Der Gedankengang ist richtig, aber ein Verdammter muß stets untröstlich sein.«

»Trotzdem gibt es Philosophen, die gerade wegen dieses Trostes, der Sie empört, Sie glücklich schätzen.«

»Das sind keine Philosophen, sondern Dummköpfe; denn was ich Ihnen gesagt habe, beweist, daß mein plötzlicher Tod mich offenbar unglücklich macht, selbst wenn ich mich heute glücklich fühlen sollte.«

»Ein starker Gedanke! Aber dürfte ich mir die Frage erlauben, ob Sie zugeben, daß auf einen unglücklichen Tod ein ewiges Glück folgen kann, oder umgekehrt: ein ewiges Unglück auf einen glücklichen Tod?«

»Das sind zwei Dinge, die außerhalb des Bereiches der Möglichkeit liegen. Das ewige Glück ergibt sich aus dem seligen Zustande, worin die Seele sich in dem Augenblick befindet, da sie ihre Stoffhülle abwirft; gerade so wird die ewige Verdammnis einer Seele zuteil, die den Leib in einem Augenblick verläßt, wo sie von Gewissensbissen gepeinigt und von brennender Reue verzehrt wird. Doch genug davon: die Strafe, zu der ich verdammt bin, erlaubt mir nicht, noch länger mit Ihnen zu sprechen.«

»Aber sagen Sie mir wenigstens: was ist das für eine Strafe?«

»Mich zu langweilen. Leben Sie wohl!«

Nach dieser langen poetischen Abschweifung, woran vielleicht nichts Wahres ist als meine augenblicklichen Ideen, wird der Leser mir Dank wissen, wenn ich wieder zu meiner Erzählung zurückkehre.

Graf Panin sagte mir, die Zarin werde in zwei oder drei Tagen nach ihrem Sommerpalast abreisen. Ich fand mich daher wieder im Park ein, in der Voraussicht, daß es zum letzten Male sein werde.

Ich befand mich seit einigen Augenblicken im Garten, als ein ziemlich starker Regen zu fallen begann. Ich wollte mich daher entfernen, aber in diesem Augenblick ließ die Kaiserin mich rufen und in einen zu ebener Erde gelegenen Saal eintreten, worin sie mit Gregorewitsch und einer Hofdame auf und ab ging.

»Ich vergaß«, sagte sie mit einem Gemisch von Würde und liebenswürdigstem Wohlwollen, »ich vergaß, Sie zu fragen, ob Sie die Verbesserung des Kalenders für völlig fehlerfrei halten.«

»Gewiß nicht, Madame; der verbesserte Kalender gibt ja diesen Fehler selber zu; aber der Fehler ist so klein, daß er sich erst nach Ablauf von neun- oder zehntausend Jahren bemerkbar machen kann.«

»Das habe ich ebenfalls gefunden, und mir scheint daher, daß unter diesen Umstünden Papst Gregor den Irrtum nicht hätte zugeben dürfen. Ein Gesetzgeber darf sich niemals so schwach und so übertrieben genau zeigen. Ich mußte lachen, als ich vor einigen Tagen sah, daß, ohne die Ausmerzung des Grundirrtums durch Unterdrückung des Schaltjahres am Ende jeden Jahrhunderts, die Welt nach Ablauf von fünfzigtausend Jahren ein ganzes Jahr zuviel gehabt hätte, und daß während dieses Zeitraums die Tag- und Nachtgleiche einhundertunddreißig Mal auf alle Tage des Jahres gefallen sein würde. Man hätte infolgedessen Weihnachten zehn- bis zwölftausendmal im Sommer gefeiert. Der Hohe Priester der lateinischen Kirche fand bei der Durchführung seiner weisen Maßregel einen willigen Gehorsam, den er in meiner Kirche nicht gefunden haben würde; denn diese hält überaus peinlich an ihren alten Gebräuchen fest.«

»Ich habe mir stets eingebildet, Eure Majestät würde sie gehorsam gefunden haben.«

»Daran zweifle ich nicht; aber wie tief würde es meine Geistlichkeit betrübt haben, wenn sie mehr als hundert männliche und weibliche Heilige ihres Festtages hatte berauben müssen! Sie haben für jeden Tag nur einen Heiligen, wir aber haben ein Dutzend. Ich möchte außerdem noch bemerken, daß alle alten Staaten an ihren alten Gesetzen hängen. Man hat mir gesagt, Ihre Republik beginne ihr Jahr mit dem ersten März, und ich finde diesen Brauch nicht etwa barbarisch, sondern im Gegenteil groß: er ist ein ehrenvolles Denkmal, das für das Alter des Staates zeugt. Übrigens ist es richtiger, das Jahr am ersten März, als am ersten Januar zu beginnen. Aber verursacht dieser Brauch nicht mancherlei Verwirrung?«

»Durchaus nicht, Madame. Die beiden Buchstaben M. V., die wir in den Monaten Januar und Februar dem Datum hinzufügen, machen ein Mißverständnis unmöglich.«

»Venedig zeichnet sich auch durch sein Wappen aus, das von allen Regeln der Heraldik abweicht; denn man kann es eigentlich kein Wappenschild nennen. Eigentümlich ist auch die scherzhafte Art, wie Ihr Schutzpatron dargestellt ist, und seltsam sind die fünf lateinischen Worte, die sich an den Heiligen Markus richten, und worin, wie man mir gesagt hat, ein grammatikalischer Fehler vorkommt – ein Fehler, der durch sein Alter ehrwürdig geworden ist. Aber ist es wahr, daß Sie die vierundzwanzig Stunden des Tages nicht in zweimal zwölf Stunden einteilen?«

»Ganz recht, Madame, und wir beginnen die Stundenzählung mit dem Einbruch der Nacht.«

»Da sehen Sie die Macht der Gewohnheit! Ihnen erscheint dies bequemer, und Sie kümmern sich nicht darum, daß es der ganzen übrigen Welt lächerlich vorkommt. Ich wenigstens würde es, glaube ich, sehr unbequem finden.«

»Eure Majestät würde durch einen Blick auf die Uhr sofort erfahren, wie viele Stunden der Tag noch dauern wird, und brauchte nicht auf den Kanonenschuß der Zitadelle zu hören, die die Einwohner benachrichtigt, daß die Sonne unter den Horizont verschwunden ist.«

»Das ist richtig, aber wenn Sie den Vorteil haben, zu wissen, wieviel Uhr es am Ende des Tages ist, so haben wir dafür zwei Vorteile: wir wissen, daß es um zwölf Uhr stets entweder Mittag oder Mitternacht ist.«

Hierauf sprach die Zarin mit mir über die Sitten der Venetianer, besonders über ihre Neigung zum Glücksspiel. Sie fragte mich bei dieser Gelegenheit, ob die Genueser Lotterie bereits in Venedig eingerichtet sei, und bemerkte: »Man hat mich überreden wollen, sie in meinem Staate zu erlauben. Ich wäre einverstanden gewesen, aber nur unter der Bedingung, daß der Einsatz nicht weniger als einen Rubel betragen dürfte, damit die Armen nicht zum Spiel verlockt würden.«

Ich antwortete auf diese weise Bemerkung durch eine tiefe Verbeugung, und dies war das Ende der letzten Unterhaltung, die ich mit der berühmten Frau hatte. Sie hat es verstanden, fünfunddreißig Jahre lang zu regieren, ohne auch nur einen einzigen bedeutungsvollen Fehler zu begehen. Der Geschichtschreiber wird ihr stets einen der schönsten Plätze unter den großen Herrschern zuerkennen, wenngleich strenge Moralisten sie zu den übermüßig sinnlichen Frauen rechnen werden, und mit Recht.

Wenige Tage vor meiner Abreise gab ich allen meinen Freunden ein Festmahl in Katharinenhof mit einem schönen Feuerwerk, das mir nichts kostete, denn es war ein Geschenk meines Freundes Melissino. Mein Abendessen zu dreißig Gedecken war auserlesen und mein Ball glänzend. Trotz der Schmalheit meiner Börse hielt ich mich für verpflichtet, meinen Freunden für die viele Aufmerksamkeit, die sie mir erwiesen hatten, dieses Zeichen meiner Dankbarkeit zu geben.

Da ich mit der Schauspielerin Valville abreiste, so muß ich jetzt dem Leser mitteilen, auf welche Weise ich ihre Bekanntschaft machte.

Eines Abends ging ich allein in die Französische Komödie und setzte mich in einer Loge neben eine sehr hübsche Dame, die ohne Begleitung dort war und die ich nicht kannte. Ich kam mit ihr in ein Gespräch, indem ich bald lobende, bald tadelnde Bemerkungen über das Spiel der Künstler und Künstlerinnen machte. Ich fand ihre Antworten stets richtig und geistreich und ihren Ton ebenso verführerisch wie ihre Reize. Ganz entzückt von ihr, nahm ich mir gegen Ende der Vorstellung die Freiheit, sie zu fragen, ob sie Russin sei.

»Um Gottes willen, nein!« sagte sie lächelnd; ich bin Pariserin, und zwar Schauspielerin von Beruf. Ich heiße Valville und bin durchaus nicht überrascht, daß Sie mich nicht kennen, denn ich bin erst seit einem Monat hier und habe nur ein einziges Mal die Zofenrolle in den Folies amoureuses gespielt.«

»Warum haben Sie nur ein einziges Mal gespielt?«

»Weil ich nicht das Glück hatte, der Kaiserin zu gefallen. Da ich jedoch für ein Jahr engagiert bin, hat sie gnädigst befohlen, mir bis zum Ablauf des Jahres jeden Monat hundert Rubel auszuzahlen. Alsdann wird man mir einen Paß geben, mir die Reisekosten bezahlen, und ich werde abreisen.«

»Ich bin überzeugt, die Zarin glaubt, Ihnen eine Gnade zu erweisen, indem sie Ihnen Ihr Gehalt auszahlen läßt, ohne daß Sie zu spielen brauchen.«

»Wahrscheinlich glaubt sie das, aber sie ist keine Schauspielerin und weiß nicht, daß ich mehr, als sie mir gibt, verliere, indem ich nicht spiele; denn ich verlerne meinen Beruf, worin ich noch nicht einmal ausgelernt hatte.«

»Sie müssen Sie darauf aufmerksam machen.«

»Es wäre mein Wunsch, daß sie mir eine Audienz bewilligte.«

»Das ist nicht nötig. Sie haben doch ganz gewiß einen Liebhaber?«

»Nein.«

»Das ist unglaublich.«

»Das Wahre ist zuweilen nicht wahrscheinlich, aber es ist die Wahrheit.«

»Ich will es Ihnen gern glauben.«

Ich ließ mir ihre Adresse geben und schrieb ihr gleich am nächsten Tage folgendes Briefchen:

»Ich möchte, Madame, eine Intrige mit Ihnen anknüpfen. Sie haben mir Gefühle eingeflößt, die mich unglücklich machen würden, wenn Sie sie nicht erwidern würden. Ich nehme mir die Freiheit, mich bei Ihnen zum Abendessen einzuladen, aber ich wünsche vorher zu wissen, was es mir kosten wird; ich muß in einem Monat nach Warschau reisen und biete Ihnen einen Platz in meinem Schlafwagen an. Ich kenne die Mittel, Ihnen einen Paß zu verschaffen. Der Bote hat Befehl, auf Antwort zu warten, und ich hoffe, Sie werden diese eben so klar und deutlich abfassen, wie mein Brief es ist.«

Zwei Stunden später erhielt ich folgende Antwort:

»Mein Herr! Da ich das Talent besitze, eine Intrige, deren Fäden mir nicht gefallen, mit Leichtigkeit wieder zu lösen, so nehme ich durchaus keinen Anstand, Ihrem Vorschlage zuzustimmen. Ich verlange nichts Besseres, als die Gefühle zu teilen, die Sie mir eingeflößt haben, und ich werde mein Möglichstes tun, Sie glücklich zu machen. Sie werden das Abendessen bereit finden; über den Preis dessen, was darauf folgen soll, werden wir uns später einigen. Es wird mir eine große Freude sein, den Platz in Ihrem Schlafwagen anzunehmen, wenn Sie soviel Einfluß besitzen, um mir außer meinem Paß auch die Reisekosten bis Paris zu verschaffen. Ich hoffe, Sie werden meine Ausdrücke nicht weniger deutlich finden als die Ihrigen. Leben Sie wohl bis heute Abend!«

Ich fand meine neue Bekannte allein in einer sehr gut eingerichteten Wohnung, und wir begrüßten uns wie zwei alte vertraute Freunde.

»Ich würde glücklich sein,« sagte sie, »mit Ihnen abreisen zu können, aber ich bezweifle, daß Sie mir die Erlaubnis verschaffen können.«

»Ich zweifle gar nicht daran, wenn Sie der Kaiserin eine Eingabe überreichen wollen, wie ich sie Ihnen machen werde.«

»Ich werde sie genau so einreichen wie sie ist; darauf können Sie sich verlassen!«

Sie reichte mir sofort Schreibzeug, und ich schrieb die Eingabe nieder. Sie lautete ungefähr folgendermaßen:

»Madame, ich bitte Eure Majestät allergnädigst bedenken zu wollen, daß ich meinen Beruf, den ich noch nicht einmal völlig erlernt habe, ganz sicherlich verlernen werde, wenn ich ein volles Jahr hier bleibe, ohne etwas zu tun. Ihre Großmut gereicht mir daher nicht zum Nutzen, sondern im Gegenteil zu großem Schaden, und ich würde Eurer Majestät zu tiefster Dankbarkeit verpflichtet sein, wenn Sie mir gütigst gestatten würden, abzureisen.«

»Wie? Weiter nichts?«

»Kein Wort mehr.«

»Du sagst nichts vom Paß, nichts vom Reisegeld. Ich bin nicht reich.«

»Überreiche diese Eingabe, und ich müßte der allerdümmste Mensch sein, wenn du nicht nur das Reisegeld, sondern auch dein Gehalt für das ganze Jahr erhieltest.«

»Das wäre zuviel.«

»Nein, und du wirst es bekommen. Du kennst Katharina nicht, ich aber kenne sie. Laß diese Eingabe abschreiben und überreiche sie persönlich.«

»Ich werde sie selber abschreiben, denn ich habe eine ziemlich schöne Schrift. Übrigens kommt es mir vor, wie wenn ich selber diese Eingabe verfaßt hätte, denn es ist ganz und gar mein Stil. Ich glaube, mein lieber Freund, du bist ein besserer Schauspieler als ich, und ich will von heute Abend an deine Schülerin werden. Laß uns zu Tisch gehen, damit du mir meine erste Unterrichtsstunde um so früher geben kannst!«

Nach einem recht delikaten Abendessen, das die schöne Valville mit hundert angenehmen Bemerkungen würzte, bewilligte sie mir alles, was ich wünschte. Ich ging einen Augenblick hinunter, um meinen Kutscher fortzuschicken und ihm zu sagen, was er meiner Zaira mitteilen sollte. Ich hatte dieser vorher gesagt, ich würde vielleicht nach Kronstadt fahren und dann erst am nächsten Tage zurückkehren. Mein Kutscher war ein Ukrainer, dessen Treue ich oft erprobt hatte. Aber ich begriff sofort, daß ich mich von meiner schönen Russin trennen mußte, wenn ich der Freund meiner neuen Eroberung wurde.

Ich fand an der Valville den Charakter und die Eigenschaften aller jungen Französinnen ihrer Art, die ihre Reize auszunützen gedenken, eine gewisse Erziehung genossen haben, die sie über den großen Haufen hinaushebt, und daraus das Recht ableiten, nur einem einzigen anzugehören: sie wollen unterhalten werden, und es schmeichelt ihnen mehr, eine Geliebte zu sein als eine Gattin.

In unserem Zwischenakte erzählte sie mir einige von ihren Abenteuern, und ich erriet daraus ihre ganze Geschichte, die nicht lang war. Der Schauspieler Clerval war nach Paris gegangen, um für den Petersburger Hof eine Schauspielertruppe zu werben. Er hatte sie zufällig kennen gelernt, und da er in ihr ein geistreiches Mädchen fand, so hatte er ihr eingeredet, sie sei zur Schauspielerin geboren, obwohl sie nie in ihrem Leben daran gedacht hatte. Der Gedanke hatte sie geblendet, und sie hatte den Vertrag unterzeichnet. Sie war mit ihrem Werber und sechs anderen Schauspielern und Schauspielerinnen von Paris abgereist; unter diesen war sie die einzige, die noch niemals gespielt hatte.

»Ich glaubte,« so erzählte sie mir, »man könnte in eine Schauspielertruppe eintreten, wie in Paris ein junges Mädchen in den Opernchor oder ins Ballett eintritt, ohne jemals singen oder tanzen gelernt zu haben. Konnte ich anders denken, wenn ein Künstler wie Clerval mir sagte, ich sei dazu geschaffen, auf der Bühne zu glänzen, und wenn er es mir dadurch bewies, daß er mit mir einen vorteilhaften Vertrag abschloß und daß er mich mit sich nahm? Er verlangte von mir weiter nichts, als daß ich ihm etwas vorlas und daß ich einige Szenen auswendig lernte, die er mich in meinem Zimmer mit ihm spielen ließ. Er fand, ich sei eine ausgezeichnete Soubrette, und er hat mich ganz gewiß nicht täuschen wollen; aber er hat sich selber getäuscht. Vierzehn Tage nach unserer Ankunft in Petersburg trat ich zum ersten Mal auf und erlitt einen sogenannten Durchfall, aus dem ich mir in Wahrheit recht wenig machte, da ich die angebliche Schande nicht fühlte.«

»Vielleicht hast du Angst gehabt.«

»Angst! Im Gegenteil. Clerval hat mir geschworen: wenn ich nur ein wenig Angst hätte heucheln können, so würde die Kaiserin, die die Güte selber ist, es als ihre Pflicht angesehen haben, mich zu ermutigen.«

Ich verließ sie am Morgen, nachdem sie noch in meiner Gegenwart die Eingabe abgeschrieben hatte. Sie hatte eine sehr schöne Handschrift.

»Ich werde«, sagte sie mir, »die Bittschrift morgen überreichen.«

Ich bestärkte sie in diesem Beschluß und nahm ihre Einladung zu einem zweiten Abendessen an, das an dem Abend stattfinden sollte, wo ich mich von Zaïra getrennt haben würde.

Die jungen Pariserinnen, die sich dem Dienst der Venus gewidmet haben und dabei Geist besitzen, gleichen alle der Valville: sie haben weder Leidenschaft noch Temperament und kennen infolgedessen die Liebe nicht; aber sie sind gefällig, einschmeichelnd und liebenswürdig. Sie kennen nur ein einziges Ziel, dem sie unaufhörlich zustreben: angenehmes Leben und pekuniären Vorteil. Lachend und stets mit der größten Leichtigkeit lösen und knüpfen sie eine Intrige. Das ist keine Leichtfertigkeit, sondern System, und wenn es nicht das beste ist, so ist es sicherlich das bequemste.

Als ich nach Hause kam, fand ich Zaïra ruhig, traurig, und dies gefiel mir noch weniger, als wenn sie zornig gewesen wäre, denn ich liebte sie. Aber ich mußte ein Ende mit ihr machen und mich auf alle Pein unserer bevorstehenden Trennung vorbereiten.

Der Baumeister Rinaldi, ein alter Herr von siebzig Jahren, aber noch frisch und sinnlich, war in sie verliebt. Er hatte mir mehrere Male gesagt, ich würde ihm ein großes Vergnügen machen, wenn ich bei meiner Abreise sie ihm überließe, und hatte sich erboten, mir das Doppelte von dem zu geben, was sie mir gekostet hätte. Ich hatte ihm bisher immer geantwortet, ich würde sie niemals einem anderen überlassen, dem sie nicht freiwillig folgte, denn ich hatte die Absicht, ihr die Summe zu überlassen, die ich für sie erhalten würde. Diese Erklärung gefiel Herrn Rinaldi nicht, denn er schmeichelte sich nicht mit der Einbildung, ihr zu gefallen. Trotzdem hoffte er.

Der Zufall führte ihn gerade an diesem Morgen zu mir, als ich beschlossen hatte, der Sache ein Ende zu machen. Da er sehr gut russisch sprach, so erklärte er der Kleinen, wie innig und zärtlich er sie liebe. Sie antwortete ihm italienisch, sie könne nur demjenigen gehören, dem ich ihren Paß überlassen werde, und er müsse sich daher an mich wenden; denn sie könne keinen anderen Willen haben als den meinigen; sie hege jedoch für keinen Menschen Gefühle des Abscheus oder der Zuneigung.

Der ehrenwerte Greis konnte eine bestimmtere Antwort nicht von ihr erlangen und verließ uns daher, nachdem er mit uns gespeist hatte. Seine Hoffnung war gering, trotzdem empfahl er sich angelegentlich meiner Fürsprache.

Als Rinaldi fortgegangen war, bat ich Zaïra, mir aufrichtig zu sagen, ob sie es mir übelnehmen würde, wenn ich sie diesem trefflichen Manne überließe, der sie wie seine eigene Tochter behandeln würde.

In dem Augenblick, wo sie mir antworten wollte, übergab man mir ein Briefchen von der Valville. Sie bat mich, einen Augenblick bei ihr vorzusprechen, um eine gute Nachricht zu hören. Ich befahl sofort meinen Wagen, indem ich Zaiïra sagte, ich würde sehr bald zurückkommen.

»Schön,« antwortete sie mir; »besorge deine Geschäfte. Wenn du wiederkommst, werde ich dir eine bestimmte Antwort geben.«

Ich fand die Valville in einem Freudentaumel.

»Hurra die Bittschrift!« rief sie mir sofort bei meinem Anblick entgegen. »Ich erwartete die Kaiserin vor ihren Gemächern, als sie aus der Kapelle kam. Sobald sie mich bemerkte, fragte sie mich huldvoll, was ich da machte. Ich überreichte ihr mit ehrfurchtsvoller Miene meine Bittschrift; sie las dieselbe im Gehen und sagte mir mit einem wohlwollenden Lächeln, ich möchte einen Augenblick warten. Zwei Minuten darauf schickte Ihre Majestät mir die Eingabe mit einer eigenhändigen Randbemerkung zurück und ließ mir sagen, ich möchte damit zu Herrn Ghelagin gehen. Der Herr empfing mich sehr freundlich und sagte mir, die Fürstin befehle ihm, mir einen Paß auszuhändigen und dazu mein Gehalt für ein Jahr und hundert Dukaten für die Reisekosten. Paß und Geld werde ich in vierzehn Tagen erhalten, weil soviel Zeit erforderlich ist, um die polizeilichen Veröffentlichungen zu erlassen.

Die Valville war voll von Dankbarkeit und versicherte mich ihrer innigsten Freundschaft. Wir verabredeten den Zeitpunkt unserer Abfahrt, und drei oder vier Tage darauf ließ ich bekannt machen, daß ich reisen würde.

Da ich Zaiïra versprochen hatte, gleich wieder nach Hause zu kommen, außerdem auch neugierig war, welchen Entschluß sie gefaßt hätte, so verabschiedete ich mich von meiner neuen Freundin, indem ich ihr die Versicherung gab, daß ich mit ihr zusammenleben würde, sobald ich die junge Russin, die ich in Petersburg lassen müßte, guten Händen übergeben hätte.

Zaiïra aß in sehr guter Laune mit mir zu Abend und fragte mich dann, ob Herr Rinaldi, wenn er sie erhielt, mir die hundert Rubel zurückzahlen würde, die ich ihrem Vater gegeben hätte. Als ich diese Frage bejahte, fuhr sie fort: »Aber mir scheint, jetzt bin ich doch viel mehr wert; denn du lässest mir alle Sachen, die du mir geschenkt hast, und außerdem spreche ich italienisch.«

»Du hast vollkommen recht, mein Kind, aber ich will nicht, daß man mir soll nachsagen können, ich hätte Geld an dir verdient, zumal da ich die Absicht habe, dir die hundert Rubel zu schenken, die er mir auszahlen wird, wenn ich ihm deinen Paß gebe.«

»Da du mir dieses schöne Geschenk machen willst, warum gibst du mich nicht mit meinem Paß meinem Vater zurück? Wenn Herr Rinaldi mich liebt, brauchst du ihm nur zu sagen, er solle mich bei meinem Vater aufsuchen. Er spricht ebensogut russisch wie dieser, sie werden sich über den Preis einigen, und ich werde mich nicht widersetzen. Wird es dir unangenehm sein, wenn er für mich bezahlt, was ich wert bin?«

»Nein, gewiß nicht; es wird mir im Gegenteil sehr angenehm sein, wenn ich deiner Familie nützlich sein kann, um so mehr, da Rinaldi reich ist.«

»Das genügt. Du wirst meinem Gedächtnis stets teuer sein. Bringe mich morgen nach Katharinenhof und jetzt laß uns zu Bett gehen!«

So trennte ich mich also von diesem reizenden Mädchen, dem ich es verdankte, daß ich in Petersburg recht vernünftig lebte. Zinowieff sagte mir, ich hätte mit ihr abreisen können, wenn ich eine bescheidene Summe als Bürgschaft hinterlegte. Er würde mir die Erlaubnis leicht verschaffen. Ich dachte jedoch an die Folgen und war so vernünftig, das Anerbieten abzulehnen; denn ich liebte Zaiïra. Sie entwickelte sich immer herrlicher,und bei ihrer Schönheit und ihrem Geist wäre ich ihr Sklave geworden. Immerhin ist es möglich, daß ich es nicht so genau genommen hätte, wenn ich nicht bereits die Valville besessen hätte.

Zaiïra verbrachte den Vormittag damit, unter Lachen und Weinen ihre Sachen zu packen. Sie sah meine Tränen fließen, so oft sie ihren Koffer verließ, um mir einen Kuß zu geben. Als ich sie bei ihrem Vater ließ und diesem ihren Paß gab, sah ich um mich herum ihre ganze Familie auf den Knien liegen. Ich schämte mich der menschlichen Natur, die durch die Sklaverei so tief erniedrigt wird.

Zaiïra paßte nicht gut in die armselige elterliche Hütte hinein, wo ein riesiger Strohsack das gemeinsame Bett der ganzen Familie war.

Rinaldi war mit den getroffenen Anordnungen nicht unzufrieden; er sagte mir, die Einwilligung des Vaters werde er bald haben, da er auf die Zustimmung der Tochter rechnen dürfte. Er besuchte sie gleich am nächsten Tage, doch erhielt er sie erst nach meiner Abreise. Er hat sie bis zu seinem Tode bei sich behalten und ihr viel Gutes getan.

Nach dieser traurigen Trennung wurde die Valville meine einzige Freundin. Einige Wochen darauf reisten wir ab. Ich nahm als Diener einen armenischen Kaufmann, der mir hundert Dukaten lieh und recht gut auf orientalische Art kochte. Er hatte einen Empfehlungsbrief des polnischen Gesandten für den Fürsten August Sulkowski und einen anderen von einem anglikanischen Geistlichen für den Fürsten Adam Czartoryski.

Am Tage nach unserer Abfahrt von Petersburg machten wir in Koporie Halt, um dort zu Mittag zu essen; wir hatten in unserem Schlafwagen gute Eßwaren und ausgezeichnete Weine. Zwei Tage darauf begegneten wir dem berühmten Kapellmeister Galuppi, genannt Buranelli, der sich mit zwei Freunden und einer Virtuosa nach Petersburg begab. Er kannte mich nicht und war sehr überrascht, in dem Gasthof, wo er Halt machte, ein gutes Mittagessen nach venetianischer Art zu finden und von einem Kavalier mit einem Kompliment in seiner Muttersprache empfangen zu werden. Sobald ich ihm meinen Namen genannt hatte, umarmte er mich mit Ausrufen der Überraschung und Befriedigung.

Da der Regen die Straßen verdorben hatte, brauchten wir acht Tage, um nach Riga zu gelangen, wo ich zu meinem großen Schmerz meinen liebenswürdigen Prinzen Karl nicht mehr fand. Von Riga brauchten wir noch vier Tage bis Königsberg, wo die Valville, die in Berlin erwartet wurde, mich verlassen mußte. Ich überließ ihr meinen Armenier, dem sie gerne die hundert Dukaten bezahlte, die ich ihm schuldete. Zwei Jahre später traf ich sie in Paris wieder, wie ich am geeigneten Orte erzählen werde. Wir trennten uns als gute Freunde und ohne jene traurigen Gedanken, die uns stets einige Augenblicke des Glücks rauben. Wir waren nur deshalb ein Liebespaar gewesen, weil wir uns aus der Liebe selbst nichts gemacht hatten, aber unsere Genüsse hatten zwischen uns eine aufrichtige und opferwillige Freundschaft begründet. In Klein-Roop, einem Örtchen nicht weit von Riga, wo wir die Nacht verbrachten, bot sie mir ihre Diamanten und all ihr Geld an. Wir wohnten bei der Gräfin von Löwenwald, der ich einen Brief von der Fürstin Dolgorucki überbracht hatte. Die Dame hatte bei ihren Kindern als Erzieherin Campionis Frau, die hübsche Engländerin, die ich bei meiner ersten Durchreise in Riga kennen gelernt hatte. Sie sagte mir, ihr Mann sei in Warschau und wohne bei Villiers. Sie gab mir einen Brief für ihn, und ich versprach ihr, ihn zu veranlassen, daß er ihr Geld schickte; ich habe Wort gehalten. Ich sah auch die kleine Betty wieder; sie war immer noch reizend und wurde immer noch von ihrer Mutter, die auf sie eifersüchtig zu sein schien, schlecht behandelt.

Da ich nun in Königsberg allein war, so verkaufte ich meinen ausgezeichneten Schlafwagen und nahm einen Platz in einem Mietswagen, um die Reise nach Warschau zu machen. Wir waren zu vieren, und meine Begleiter waren Polen, die nur polnisch und deutsch sprachen; so lernte ich denn in den sechs Tagen, die diese unangenehme Reise dauerte, die Langeweile in ihrer ganzen Häßlichkeit kennen. In Warschau stieg ich bei Villiers ab, in dessen Gasthof ich sicher war, meinen Freund Campioni zu treffen.

Bald hatte ich das Vergnügen, ihn zu sehen. Ich fand ihn in guten Verhältnissen und in einer schönen Wohnung. Er hielt eine Tanzschule, die sich guten Zuspruchs erfreute. Er war hocherfreut, Nachrichten von Fanny und seinen Kindern zu erhalten, und schickte ihnen Geld, dachte aber nicht daran, sie nach Warschau kommen zu lassen, wie sie es wünschte. Er versicherte mir, Fanny sei nicht seine Frau.

Er erzählte mir, Tomatis, der Direktor der Komischen Oper, habe in Warschau sein Glück gemacht; er habe eine Mailänder Tänzerin, eine gewisse Catai, die mehr durch ihre Reize als durch ihr Talent Stadt und Hof entzücke. Das Glücksspiel war erlaubt; er nannte mir die Spieler, die offenes Haus hielten, machte mich aber zugleich darauf aufmerksam, daß Warschau voll von Griechen sei, oder mit einem anderen Wort: von Betrügern. Eine Veroneserin, namens Giropoldi, die mit einem lothringischen Offizier, Bachelier, zusammenlebte, hielt eine Pharaobank; eine Tänzerin, die früher die Geliebte des berüchtigten Afflisio in Wien gewesen war, lockte die Kunden an.

Ein anderer Grieche, der mit einer hübschen Sächsin zusammenlebte, war der Major Salvi, von dem ich gelegentlich meines zweiten Aufenthaltes in Amsterdam zur Genüge gesprochen habe. Der Baron von Ste.-Héleine war ebenfalls in Warschau, aber sein Haupttalent bestand nur darin, Schulden zu machen und nicht zu bezahlen. Er wohnte ebenfalls bei Villiers mit seiner hübschen und anständigen Frau, die von seinen Geschäften nichts wissen wollte. Campioni erzählte mir außerdem von verschiedenen anderen Abenteurern, die ich in meinem eigenen Interesse sorgfältig vermeiden müßte. Es war mir sehr lieb, von ihm diese Warnung zu erhalten.

Am nächsten Tage nahm ich einen Lohndiener und einen Mietswagen; ein solcher ist in Warschau unentbehrlich, denn es war dort, zu meiner Zeit wenigstens, völlig unmöglich, zu Fuß zu gehen. Es war Ende Oktober 1765.

Mein erster Ausgang galt dem Fürsten Adam Czartoryski, General von Podolien, für den ich einen Brief hatte. Ich fand den Fürsten vor einem großen, mit Aktenheften bedeckten Tisch, von etwa fünfzig Menschen umringt, in einer sehr großen Bibliothek, die er sich als Schlafzimmer eingerichtet hatte. Er war indessen mit einer sehr hübschen Gräfin von Flemming verheiratet, hatte ihr aber noch kein Kind machen können, weil er sie zu mager fand.

Nachdem er den langen Brief gelesen hatte, den ich ihm überbrachte, sagte er mir in parfümiertem Französisch, er halte große Stücke auf die Person, die mich empfehle; da er aber für den Augenblick sehr beschäftigt sei, so bitte er mich, mit ihm zu Abend zu speisen, ›wenn ich nichts Besseres zu tun habe‹.

Ich stieg wieder in meinen Wagen und ließ mich zum Fürsten Sulkowski fahren, der soeben zum Gesandten am Hofe Ludwigs des Fünfzehnten ernannt worden war. Der Fürst war der älteste von vier Brüdern; er hatte einen tiefen Geist und war voll von Plänen; aber diese waren alle im Geschmack des Abbé von St.- Pierre.

Er las meinen Brief und sagte mir, er habe viel mit mir zu sprechen; da er aber ausgehen müsse, so werde ich ihm ein großes Vergnügen machen, wenn ich um vier Uhr allein mit ihm zu Mittag speisen werde. Ich versprach es ihm. Von dort fuhr ich zu einem Kaufmann, namens Szempinski, der mir im Auftrage Papanelopulos jeden Monat fünfzig Dukaten auszahlen sollte. Mein Lakai sagte mir, im Theater finde die Generalprobe einer neuen Oper statt, wozu jedermann Zutritt habe. Ich ließ mich hinfahren und verbrachte dort drei Stunden; ich kannte unter den Anwesenden keinen Menschen, und niemand kannte mich. Ich fand die Künstlerinnen hübsch, besonders aber die Catai, obwohl diese keinen Schritt tanzen konnte. Trotzdem fand sie allgemeinen Beifall, besonders auch vonseiten des russischen Gesandten, Fürsten Repnin, der in einem Ton sprach, wie wenn er der Herrscher von Polen wäre.

Fürst Sulkowski behielt mich vier lange Stunden bei Tisch und prüfte mich auf allen Gebieten, nur nicht auf denen, wo ich etwas wissen konnte. Seine Stärke waren Politik und Handelswissenschaft, und da er fand, daß ich davon gar nichts verstand, so glänzte er und faßte eine große Zuneigung zu mir; wie ich glaube, gerade darum, weil er in mir nur einen Bewunderer sah.

‚Da ich nichts Besseres zu tun hatte‘ – eine Redensart, die alle polnischen großen Herren unaufhörlich im Munde führten, – so ging ich gegen neun Uhr zum Fürsten Adam, der der Gesellschaft meinen Namen nannte und mir hierauf alle anwesenden Personen vorstellte. Es waren Seine Gnaden der Fürstbischof von Ermland, Krasinski; der Großnotar der Krone, Rzewuski, den ich in Petersburg gesehen hatte, der Freund der kurz vorher an den Pocken gestorbenen Langlade; der Wojwode von Wilna, Oginski, und der General Roniker nebst zwei anderen Herren, deren allzu schwierige Namen ich nicht habe behalten können. Die letzte, die er mir nannte, war seine Frau, die ich sehr hübsch fand. Einige Augenblicke darauf sah ich einen schönen Kavalier eintreten, bei dessen Anblick alle Anwesenden sich erhoben. Fürst Adam nannte meinen Namen, wandte sich hierauf zu mir und sagte in kaltem Tone: »Es ist der König.«

Diese Art, einen bedeutungslosen Fremden mit einem Herrscher zusammenzubringen, hatte sicherlich nichts Entmutigendes, denn die souveräne Majestät trat nicht in einer blendenden Form auf; nichtsdestoweniger war es für mich eine Überraschung, und ich sah, daß allzu große Einfachheit einen Menschen ebensowohl aus dem Gleichgewicht bringen kann wie allzugroße Pomphaftigkeit. Den Gedanken, daß der Fürst sich über mich lustig machen könnte, wies ich sofort von mir. Ich trat zwei Schritt vor, und in dem Augenblick, wo ich das Knie beugen wollte, gab Seine Majestät mir mit der größten Anmut die Hand zum Kuß. Als er mich anreden wollte, gab Fürst Adam ihm den Brief des anglikanischen Geistlichen, der ihm ebenfalls sehr gut bekannt war. Der König begann diesen Brief zu lesen, ohne sich zu setzen; hierauf stellte er mir allerlei Fragen über die Zarin und über die hervorragendsten Persönlichkeiten der Hofgesellschaft; er schien sich sehr für die Einzelheiten zu interessieren, die ich ihm erzählen konnte und mit denen ich nicht geizig war.

Als zu Tisch gerufen wurde, ging der König in fortwährendem Gespräch mit mir in den Speisesaal und ließ mich zu seiner Rechten Platz nehmen. Alle aßen, außer dem König, der wahrscheinlich keinen Appetit hatte, und mir, der sich wahrscheinlich nicht hätte einfallen lassen, Appetit zu haben, selbst wenn ich nicht vier Stunden am Tische des Fürsten Sulkowski verbracht hätte – so sehr schmeichelte mir die Ehre, daß die ganze Gesellschaft aufmerksam meinen Bemerkungen lauschte. Nach Tisch machte der König Anmerkungen zu allem von mir Gesagten, und zwar legte er in alle seine Worte eine ganz besondere Anmut. Seine Majestät sprach übrigens im elegantesten Stil, aber ganz ungesucht. Als er sich entfernte, sagte er mir, er werde mich stets mit großem Vergnügen an seinem Hofe sehen, und Fürst Adam sagte mir seinerseits, wenn ich von ihm seinem Vater vorgestellt zu werden wünschte, möchte ich ihn nur am nächsten Morgen um elf Uhr aufsuchen.

Der König von Polen war von mittlerer Größe, aber sehr gut gewachsen. Sein Gesicht war nicht schön, aber anmutig,geistreich und ausdrucksvoll. Er war ein wenig kurzsichtig, und wenn er nicht sprach, lag auf seinen Zügen ein Anflug von Melancholie; wenn er dagegen sprach, belebte er sich und glänzte durch seine Beredsamkeit. Er besaß auch das Talent, alle Bemerkungen, die es erlaubten, mit feinem Witz zu würzen.

Mit diesem ersten Anfang recht zufrieden, kehrte ich nach meinem Gasthof zurück, wo ich Campioni mit mehreren Gästen beiderlei Geschlechts bei Tisch fand. Nachdem ich mich eine halbe Stunde lang aus Neugier bei ihnen aufgehalten hatte, ging ich zu Bett.

Am nächsten Tage um elf Uhr machte ich die Bekanntschaft des seltenen Mannes, des prachtliebenden Wojwoden von Rußland, Fürsten August Czartoryski. Der hohe Herr stand im Schlafrock in einem Kreise von Edelleuten, die die polnische Nationalkleidung mit den hohen Stiefeln trugen; sie hatten lange Schnurrbärte, und ihre Köpfe waren unbedeckt und glattrasiert. Der Fürst sprach mit einem jeden von ihnen in freundlichem, aber ernstem Ton. Sobald sein Sohn Adam meinen Namen genannt hatte, erheiterte sich sein Gesicht, und er empfing mich voller Würde und Wohlwollen. Er schüchterte nicht ein, aber er flößte auch keine Vertraulichkeit ein; dies setzte ihn in den Stand, einen Menschen, den er kennen lernen wollte, genau zu beobachten. Als er erfuhr, daß ich in Rußland mich nur unterhalten und mit der Hofgesellschaft verkehrt hatte, zog er den Schluß, daß ich in Polen mich in derselben Absicht aufhielte, und sagte mir, er werde mir Gelegenheit verschaffen, die ganze vornehme Gesellschaft kennen zu lernen. Er fügte hinzu: da er wie ein Junggeselle für sich allein lebte, so würde ich ihm ein Vergnügen machen, wenn ich morgens und abends an seinem Tisch äße, falls ich nicht anderweitig eingeladen wäre. Nachdem er sich hinter einen Wandschirm zurückgezogen hatte, ließ er sich ankleiden; hierauf erschien er in der Uniform seines Regiments nach französischem Schnitt in einer langen blonden Zopfperrücke mit großen Seitenlocken, im Kostüm des verstorbenen Königs August des Dritten. Er machte allen Anwesenden eine Verbeugung und begab sich dann in das Innere seiner Gemächer, wo seine Gemahlin, die Wojwodin, wohnte.

Sie litt noch an den Nachwehen einer Krankheit, der sie ohne die Geschicklichkeit des Doktor Reimann, eines Schülers des großen Boerhave, erlegen sein würde. Die Dame entstammte der inzwischen erloschenen Familie d’Enoff, als deren letzte Erbin sie dem Wojwoden ein unermeßliches Vermögen zugebracht hatte. Er trat aus dem Malteserorden aus, als er sie heiratete, und hatte sie durch einen Zweikampf zu Pferde mit Pistolen gewonnen. Die Dame hatte ihr Wort gegeben, den Sieger zu heiraten, und der Fürst hatte das Glück, seinen Nebenbuhler zu töten. Die Kinder aus dieser Ehe waren Fürst Adam und eine Prinzessin, die jetzt verwitwet und unter dein Namen Lubomirska bekannt ist; während ihrer Ehe nannte man sie Stražnikowa nach dem Range, den ihr Gatte im königlichen Heere einnahm.

Dieser Fürst-Wojwode von Rußland und sein Bruder, der Großkanzler von Littauen, führten die ersten polnischen Unruhen herbei. Die beiden Brüder waren unzufrieden mit der geringen Beachtung, die ihnen bei Hofe zuteil wurde; denn der König tat nur, was sein Günstling und Premierminister Graf Brühl wollte. Sie stellten sich daher an die Spitze der Verschwörung, die den regierenden König beseitigen wollte, um unter dem Schutze Rußlands ihren Neffen auf den Thron zu setzen – einen jungen Mann, der in Petersburg bei der polnischen Gesandtschaft gewesen war und die Huld der Großfürstin Katharina, die bald darauf Kaiserin wurde, zu gewinnen verstanden hatte.

Dieser junge Mann war Stanislaus Poniatowski, der Sohn von Constanze Czartoryska und dem berühmten Poniatowski, dem Freund Karls des Zwölften. Das Glück wollte, daß es nicht einer Verschwörung bedurfte, um einen Thron zu besteigen, dessen er dignus fuisset, si non regnasset: denn König August der Dritte, der Sohn Augusts des Starken, Kurfürst von Sachsen und König von Polen, starb am fünften Oktober 1763 und räumte den Platz dem Fürsten Poniatowski, der am sechsten September 1764 als Stanislaus August der Erste zum König erwählt wurde. Als ich in Warschau ankam, regierte er seit zwei Jahren. Ich fand seine Hauptstadt glänzend, denn man traf eben die Vorbereitungen, den Reichstag dort abzuhalten, und jeder war ungeduldig zu sehen, welche Ansprüche Katharina dafür erheben würde, daß sie den Polen einen König aus dem Geschlechte der Piasten gegeben hatte.

Als ich zum Mittagessen kam, fand ich beim Paladin von Rußland drei Tafeln zu je dreißig Gedecken, und man sagte mir, für eine solche Anzahl von Gästen werde jeden Tag gedeckt. Der Glanz des Hofes erblich vor dem Luxus des Paladins. Fürst Adam sagte zu mir: »Herr Chevalier, an der Tafel meines Vaters wird stets ein Gedeck für Sie aufgelegt sein.«

Ich fühlte mich von dieser Auszeichnung geschmeichelt. Der Fürst stellte mich an demselben Tag seiner Schwester, der schönen Prinzessin, vor, sowie auch mehreren Wojwoden und Starosten. Da ich nicht verfehlte, allen diesen hohen Herrschaften meinen Besuch zu machen, so war ich in weniger als vierzehn Tagen in allen großen Häusern bekannt und wurde überall sehr gut aufgenommen.

Da meine Börse nicht gut genug versehen war, um mich mit den polnischen Spielern einzulassen oder mir eine zärtliche Bekanntschaft mit einer der Theaterschönen zu verschaffen, so nahm ich meine Zuflucht zu der Bücherei des Bischofs von Kiew, Zaluski, der mir eine ganz besondere Zuneigung zu seiner Person eingeflößt hatte. Ich verbrachte bei ihm fast alle meine Vormittage, und von diesem Prälaten erhielt ich die authentischen Dokumente über alle Ränke, die zum Umsturz der alten polnischen Verfassung angesponnen wurden. Zaluski war eine der stärksten Stützen dieser Verfassung; leider war seine Standhaftigkeit erfolglos. Er war einer von den Polen, die die russische Tyrannei unter den Augen des Königs aufheben ließ, der zum Widerstande zu schwach war. Die Zarin ließ sie nach Sibirien schaffen. Dieses schmachvolle Ereignis fand wenige Monate nach meiner Abreise statt.

Das Leben, das ich führte, war also sehr eintönig, aber es war das Leben eines Ehrenmannes, und ich erinnere mich dieser Zeit stets mit Vergnügen. Die Nachmittage verbrachte ich beim Wojwoden von Rußland, um mit ihm tre sette zu spielen, ein italienisches Kartenspiel, das er sehr liebte und das ich ziemlich gut spielte, so daß er immer sehr zufrieden war, wenn er seine Partie mit mir machen konnte.

Trotz meiner vernünftigen Lebensweise und Sparsamkeit befand ich mich drei Monate nach meiner Ankunft in Schulden, und leider hatte ich keine Hilfsmittel. Ich erhielt aus Venedig monatlich fünfzig Dukaten; aber diese genügten mir nicht, denn die Ausgaben für Wagen, Wohnung, Bediente und die unerläßliche gute Kleidung waren zu hoch. So befand ich mich denn in Not, aber ich wollte mich niemandem offenbaren. Ich hatte recht; denn ein Mensch, der sich in Not befindet und einen Reichen um Hilfe bittet, verliert dessen Achtung, wenn er Unterstützung erlangt, und erwirbt sich dessen Verachtung, wenn sie ihm versagt wird. Aber das Glück sorgte für mich, es hatte mich noch niemals verlassen.

Madame Schmidt, die der König aus gewissen Gründen in seinem Palaste wohnen ließ, lud mich zum Abendessen ein, indem sie mir sagen ließ, daß der König anwesend sein werde. Ich ging hin und sah mit Vergnügen den liebenswürdigen Bischof Krasinski, den Abbate Guigiotti und zwei oder drei andere Herren, die sich für die italienische Literatur interessierten. Der König, den ich in Gesellschaft niemals bei schlechter Laune sah, und der große Kenntnisse in allen Literaturen besaß, brachte das Gespräch auf Anekdoten über alte römische Schriftsteller und zitierte dabei Handschriften von Scholiasten, die Seine Majestät vielleicht nur erfand, und mit denen er mir jedenfalls den Mund verschloß. Alle beteiligten sich an der Unterhaltung. Ich war der einzige, der schlechter Laune war. Da ich nicht zu Mittag gespeist hatte, so aß ich wie ein Tiger und gab nur einsilbige Antworten, wenn die Höflichkeit es durchaus verlangte. Die Rede kam auf Horaz; ein jeder zitierte einen oder zwei Aussprüche und sagte seine Meinung über die tiefe Philosophie des großen Dichters der Vernunft. Schließlich zwang Abbate Guigiotti mich zum Sprechen, indem er sagte, ich dürfte nicht schweigen, wenn ich nicht etwa seiner Meinung wäre.

»Wenn Sie mein Schweigen«, antwortete ich ihm, »als eine Bestätigung ansehen, daß Sie mit Recht die von Ihnen zitierte Stelle des Horaz mehreren anderen vorziehen, so gestatte ich mir, Ihnen zu sagen, daß ich inbezug auf Hofpolitik bedeutendere von ihm kenne, denn das nec cum venari volet poemata panges, das Ihnen so sehr gefällt, ist im Grunde nur eine keineswegs zartfühlende Satire.«

»Es ist schwierig, Zartgefühl und Satire zu vereinigen.«

»Nicht für Horaz, der hauptsächlich deshalb Augustus gefiel. Das spricht zum Lobe dieses Herrschers, der als Beschützer von Dichtern und Gelehrten seinen Namen unsterblich machte und dadurch manche gekrönten Häupter dazu veranlaßte, sich als seine Nacheiferer zu erklären, indem sie seinen Namen, zuweilen sogar in einer Verkleidung, annahmen.«

Der König, der bei seiner Thronbesteigung den Namen August angenommen hatte, wurde ernst und konnte sich nicht enthalten, mich zu unterbrechen.

»Wer sind denn«, fragte er, »die Herrscher, die den Namen August in einer Verkleidung angenommen haben?«

»Der erste König von Schweden; er nannte sich Gustav und das ist ein Anagramm von August.«

»Das ist amüsant. Diese Anekdote wiegt alle unsrigen auf. Woher haben Sie sie?«

»Ich fand sie in Wolfenbüttel in dem Manuskript eines Professors von Upsala.«

Der König lachte herzlich; er erinnerte sich, daß er beim Beginn des Essens ebenfalls ein Manuskript zitiert hatte. Er wurde jedoch bald wieder ernst und fragte mich: »In welcher Stelle des Horaz, und zwar einer nicht etwa nur im Manuskripte vorhandenen, sondern allgemein bekannten, finden Sie ein bemerkenswertes Zartgefühl, das geeignet ist, seine Satire besonders angenehm zu machen?«

»Sire, ich könnte mehrere anführen, begnüge mich aber mit einem einzigen, das ich sehr schön und vor allen Dingen sehr bescheiden finde. Horaz sagt:

Coram rege sua de paupertate tacentes
plus quam poscentes ferent. «

»Das ist wahr,« sagte der König lächelnd.

Madame Schmidt, die kein Latein verstand und von ihrer Mutter her die von der Urmutter Eva ererbte Neugier besaß, bat den Bischof, die Stelle zu übersetzen. Er sagte:

»Wer vor dem König nicht von seinen Bedürfnissen spricht, wird mehr erlangen, als andere, die davon sprechen.«

Die Dame sagte, die Bemerkung scheine ihr nicht satirisch zu sein.

Nachdem ich so viel gesagt hatte, mußte ich schweigen; der König aber brachte die Rede auf Ariost und sagte zu mir, er wünschte, daß wir ihn zusammen läsen. Ich neigte das Haupt und antwortete mit Horaz: »tempora quaeram.«

Als am nächsten Tage der edle und unglückliche Stanislaus August zur Messe kam, reichte er mir seine Hand zum Kuß und gab mir eine Rolle mit den Worten: »Danken Sie nur Horaz und sagen Sie keinem Menschen etwas davon.«

Die Rolle enthielt zweihundert polnische Dukaten, und ich beeilte mich, meine Schulden zu bezahlen. Seit diesem Tage ging ich fast jeden Morgen in das Ankleidezimmer des Königs, wo er sich das Haar machen ließ und gerne mit den Herren sprach, die sich dort nur einfanden, um ihn zu unterhalten. Es war jedoch niemals die Rede davon, den Ariost zu lesen. Er verstand Italienisch, aber zu wenig, um es zu sprechen oder gar an dem großen Dichter Geschmack finden zu können.

Wenn ich an diesen guten Fürsten denke, an die großen Eigenschaften, womit er begabt war, so erscheint es mir unmöglich, daß er als König so viele Fehler begangen hat. Daß er das Ende seines Vaterlandes überlebt hat, war vielleicht der geringste von diesen Fehlern. Wenn er keinen Freund fand, um ihn zu töten, so meine ich, er hätte sich selber töten sollen. Aber er hatte nicht nötig, einen Freund zu suchen, um ihm diesen verhängnisvollen Dienst zu erweisen; denn er brauchte nur den unsterblichen Koscinszko nachzuahmen, und ein Russe würde genügt haben, um ihn in die Unsterblichkeit zu befördern.

Der Karneval war sehr glänzend. Die Fremden schienen sich von allen Ecken und Enden Europas hier zusammengefunden zu haben, nur um den glücklichen Sterblichen zu sehen, der so ganz wider Erwarten durch eine Laune des Glücks König geworden war. Aber wer ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte, der gab ohne weiteres zu, daß er die Behauptung Lügen strafte, das Glück sei stets blind und taub. Vielleicht ging er jedoch zu weit in seinem Eifer, sich vor Fremden sehen zu lassen. Ich habe bemerkt, daß er unruhig wurde, wenn er wußte, daß in Warschau irgendein Fremder war, den er noch nicht gesehen hatte, übrigens hatte niemand nötig, sich ihm vorstellen zu lassen; denn sein Hof war, wie alle Höfe es sein sollten, für alle Welt geöffnet, und wenn er Gäste mit fremden Gesichtern sah, so war er der erste, das Wort an sie zu richten.

Gegen Ende Januar hatte ich ein Erlebnis, das ich hier berichte, mag man über meine Denkweise urteilen, wie man will. Es handelte sich um einen Traum, und ich habe bereits an anderer Stelle das Bekenntnis abgelegt, daß ich eines gewissen Aberglaubens mich niemals habe erwehren können.

Mir träumte, ich speiste in guter Gesellschaft; einer der Gäste warf mir eine Flasche an den Kopf; das Blut strömte reichlich hervor; ich stieß dem Angreifer meinen Degen durch den Leib und stieg in meinen Wagen, um zu fliehen.

Prinz Karl von Kurland kam nach Warschau und veranlaßte mich, ein Diner bei dem Grafen Poninski, dem damaligen Haushofmeister der Krone, mitzumachen. Es ist derselbe Poninski, der später so viel von sich reden machte, der zum Fürsten erhoben, später aber geächtet und mit Schimpf und Schande bedeckt wurde. Er machte ein stattliches Haus und hatte eine liebenswürdige Familie. Ich hatte ihm niemals meine Aufwartung gemacht, weil er beim König und dessen Verwandten nicht beliebt war.

Während des Essens zersprang eine Flasche Champagner, ein Splitter traf mich über dem Auge und zerschnitt eine Ader. Das Blut rieselte über mein Gesicht und über meine Kleider, sogar bis auf das Tischtuch. Alle Gäste sprangen auf; schnell wird mir die Stirn verbunden, man wechselt das Tischtuch, und das Essen geht weiter. Ich war der erste, der über den Unfall lachte. Freilich war ich erstaunt über das Eintreffen meines Traumes, doch wünschte ich mir Glück, daß die Wirklichkeit in den hauptsächlichsten Umständen davon abwich. Der Leser wird sehen, daß einige Monate später diese Umstände doch noch wirklich eintrafen.

Die Binetti, die ich zuletzt in London gesehen hatte, traf mit ihrem Gatten und dem Tänzer Pic in Warschau ein. Sie kamen von Wien und gingen nach Petersburg. Sie hatten einen Empfehlungsbrief an den Bruder des Königs, den Prinzen Poniatowski, der als General im österreichischen Dienst stand, damals aber sich in Warschau aufhielt. Ich erfuhr dies alles am Tage ihrer Ankunft, als ich mit dem König beim Fürsten Wojwoden speiste. Der König sagte, er wolle sie tanzen sehen und werde sie veranlassen, für ein Honorar von tausend Dukaten acht Tage in Warschau zu bleiben.

Ich war ungeduldig, die Binetti zu sehen und ihr als erster diese gute Nachricht zu überbringen; daher ging ich am anderen Morgen schon in aller Frühe zu ihr. Sie war sehr überrascht, mich in Warschau zu sehen, und noch mehr über meine Nachricht von den tausend Dukaten, die das Glück ihr in den Schoß warf. Sie rief Pic, der an der Wahrheit zu zweifeln schien; während wir uns aber darüber unterhielten, kam Prinz Poniatowski in eigener Person, um ihnen den Wunsch Seiner Majestät mitzuteilen, und das Anerbieten wurde angenommen. In drei Tagen arrangierte Pic ein Ballett; Kostüme, Dekorationen, Orchester und Ballettpersonal – alles war zur rechten Zeit in Ordnung, weil Tomatis die Sache in großem Stil betrieb, um seinem freigebigen Herrn gefällig zu sein. Die Binetti und ihr Freund gefielen so sehr, daß unter glänzenden Bedingungen mit ihnen ein Vertrag auf ein Jahr geschlossen wurde. Dies war aber der Catai sehr ärgerlich; denn die Binetti verdunkelte sie nicht nur durch ihre Talente, sondern beging noch das viel größere Unrecht, daß sie ihr ihre Anbeter wegnahm. Von ihr beeinflußt, bereitete Tomatis der Binetti solche Unannehmlichkeiten, daß die beiden Tänzerinnen unversöhnliche Feindinnen wurden.

Kaum waren zehn oder zwölf Tage vergangen, so hatte die Binetti ein elegant eingerichtetes Haus, einfaches, aber gutes Silbergeschirr, einen Keller mit auserlesenen Weinen, einen ausgezeichneten Koch und zahlreiche Anbeter, darunter den Stolnik Moszcynski und den Freund des Königs, den Kronpodstoli Branicki, der im Schloß seine Gemächer unmittelbar neben denen des Monarchen hatte.

Das Parkett war in zwei Parteien geteilt, denn die Catai dachte nicht daran, der Binetti das Feld zu räumen, obgleich ihr Talent sich nicht annähernd mit dem ihrer Feindin vergleichen ließ. Sie tanzte im ersten Ballett, und die Binetti im zweiten. Diejenigen, die der ersten Beifall gezollt hatten, schwiegen, sobald die zweite erschien, und umgekehrt. Die Verpflichtungen, die ich gegen die Binetti hatte, sind bekannt; aber ich hatte Verpflichtungen auch gegen die Catai, auf deren Seite die ganze Familie Czartoryski mit ihrem Anhang stand; unter anderen der Kronstražnik, Fürst Lubomirski, der mich bei jeder Gelegenheit mit seinem Vertrauen beehrte; dieser war ihr vornehmster Anbeter. Es ist klar, daß ich nicht um der Binetti willen die Partei meiner Freunde verlassen konnte, ohne mir deren Verachtung zuzuziehen. Die Binetti machte mir bittere Vorwürfe deswegen; ich sagte ihr offen meine Gründe und sie gab mir recht. Zugleich aber verlangte sie von mir, ich solle nicht mehr ins Theater gehen. Eine nähere Erklärung verweigerte sie mir und sagte nur soviel, daß sie gegen Tomatis eine Rache vorbereite, um ihn für seine Unverschämtheit zu bestrafen. Sie nannte mich den Doyen aller ihrer Bekannten; übrigens liebte ich sie noch und machte mir gar nichts aus der Catai, die zwar hübscher als die Binetti war, aber an Fallsucht litt.

Die erste Rache, die die Binetti an Tomatis nahm, bestand in folgendem:

Der Vorstand der Anbeter der Binetti war Xaver Branicki, Kronpodstoli, Ritter des weißen Adlers, Ulanenoberst. Er hatte sechs Jahre in Frankreich gedient, war noch jung, hatte ein hübsches Gesicht und war der Freund des Königs. Ohne Zweifel vertraute die Tänzerin ihm ihren Kummer an und wahrscheinlich verlangte sie von ihm, sie an einem Manne zu rächen, der als Theaterdirektor keine Gelegenheit versäumte, um sie zu kränken und zu ärgern. Graf Branicki muß ihr versprochen haben, diese Rache zu vollziehen und eine Gelegenheit dazu zu schaffen, falls eine solche sich nicht binnen kurzer Zeit von selber zeigen sollte. Dies ist der Verlauf, den alle Händel dieser Art nehmen, und ich glaube daher, daß meine Vermutung richtig ist. Eigentümlich aber und wirklich ganz außerordentlich war die Art und Weise, wie der Pole es anfing. Am zwanzigsten Februar war Branicki in der Oper. Gegen seine Gewohnheit ging er nach dem zweiten Akt in das Zimmer, worin die Catai sich auskleidete, und begann der Tänzerin den Hof zu machen. Tomatis war dabei; er war bisher mit der Catai allein gewesen und hielt es nicht für nötig, hinauszugehen. Die Catai und Tomatis glaubten, der Oberst habe sich mit ihrer Nebenbuhlerin überworfen und sei nur gekommen, ihren Triumph vollständig zu machen. Obwohl sie sich sehr wenig daraus machte, ihn unter ihren Anbetern zu sehen, behandelte sie ihn doch mit Auszeichnung, denn sie wußte, daß sie seine Huldigungen nicht verschmähen durfte, ohne sich großen Gefahren auszusetzen.

Als die Catai mit dem Umkleiden fertig war, war auch die Vorstellung zu Ende. Der galante Podstoli bot ihr seinen Arm, um sie zu ihrem Wagen zu führen, der vor der Türe hielt, und Tomatis folgte ihnen. Ich befand mich ebenfalls an der Türe, da ich auf meinen Wagen wartete. Die Catai kam, der Wagenschlag ihres Vis-à-Vis wurde geöffnet, sie stieg ein, Branicki folgte ihr und sagte zu dem sehr erstaunten Tomatis, er solle sich in seine Berline setzen und ihnen nachfahren. Aufgebracht erwiderte Tomatis ihm, er wolle nur in seinem eigenen Wagen fahren und bitte den Herrn Oberst, gefälligst auszusteigen. Branicki kümmerte sich nicht um ihn und rief dem Kutscher zu, er solle abfahren. Tomatis dagegen verbot diesem, sich von der Stelle zu rühren, und da der Kutscher natürlich seinem Herrn gehorchte, so sah der schöne Podstoli sich gezwungen, auszusteigen; aber er befahl seinem Husaren, dem Direktor eine Ohrfeige zu geben, und dieser Befehl wurde mit solcher Schnelligkeit und Kraft ausgeführt, daß der arme Tomatis keine Zeit hatte, sich zu erinnern, daß er einen Degen trug, den er seinem Beleidiger für die schnöde Beschimpfung hätte durch den Leib rennen können. Er stieg in seinen Wagen und fuhr ab. Aber er konnte nicht zu Abend essen, wahrscheinlich, weil er erst seine Ohrfeige verdauen mußte. Ich hätte eigentlich bei ihm speisen sollen; nachdem ich jedoch Zeuge dieses schrecklichen Auftritts gewesen war, besaß ich nicht den Mut, hinzugehen. Traurig und gedankenvoll fuhr ich nach Hause; mir war beinahe zu Mute, wie wenn ich die Hälfte dieser schimpflichen Ohrfeige empfangen hätte. Ich zerbrach mir den Kopf, ob der Streich wohl mit der Binetti vereinbart gewesen wäre; dies schien mir jedoch nicht möglich zu sein, denn weder sie noch Branicki hatten ahnen können, daß Tomatis so unhöflich und so feige sein würde. Im nächsten Kapitel wird der Leser sehen, was für ein tragisches Erlebnis die Folge dieses Auftritts war.

Sechstes Kapitel


Abreise von Marseille. – Henriette in Aix. – Irene in Avignon. – Passanos Verrat. – Frau von Urfé reist von Lyon ab.

Das Hochzeitsmahl wäre für mich kein Vergnügen gewesen, wenn ich nicht für den Anlaß des Festes große Teilnahme gehabt hätte. In den Speisen herrschte mehr Verschwendung als eine feine Auswahl; die Gesellschaft war zahlreich, gemischt und lärmend; Komplimente und Gespräche waren abgeschmackt; die Späße waren platt und sinnlos; über allerlei dummes Zeug wurde aus vollem Halse gelacht. Dies alles würde mich zum Sterben gelangweilt haben, wäre nicht Frau Audibert dagewesen, der ich keinen Augenblick von der Seite wich. Marcolina folgte der Neuvermählten wie ihr Schatten. Diese sollte ihrem Gemahl acht Tage später nach Genua folgen und wünschte sie mitzunehmen; sie erbot sich, sie mit einer vertrauenswürdigen Person nach Venedig zu schicken; Marcolina wollte aber von keinem Plan etwas wissen, der sie von mir getrennt hätte. »Ich werde nur nach Venedig gehen,« sagte sie zu mir, »wenn du mich aus eigenen Antrieb dorthin schickst.«

Übrigens erregte die Hochzeit ihrer Freundin trotz allem Glänze in ihr nicht das geringste Bedauern, daß sie die schöne Partie des jungen Marseiller zurückgewiesen hatte. Der Neuvermählten stand die Freude ihrer Seele auf dem Gesicht geschrieben. Ich wünschte ihr von ganzem Herzen und ohne jeden Hintergedanken Glück dazu; sie gab zu, daß sie glücklich sei, und sagte mir, am meisten erhöhe ihr Glück der Gedanke, daß sie es mir verdanke, und daß sie sicher sei, in Genua eine treue Freundin in Rosalie zu finden, die um so inniger mit ihr übereinstimmen würde, da sie nunmehr Verwandte und in ähnlicher Lage wären.

Am Tage nach der Hochzeit rüstete ich mich zur Abreise. Vor allen Dingen entledigte ich mich der Kiste, die die Opfergaben für die Planeten enthielt. Ich behielt die Diamanten und die Edelsteine und brachte das ganze Metall zum Bankier Rousse de Cosse, bei dem ich noch die ganze Summe stehen hatte, die Greppi zu meinen Gunsten bei ihm angewiesen hatte. Ich nahm einen Kreditbrief auf Tourton & Baur in Paris, denn da Frau von Urfé in Lyon war, so war es kaum möglich, daß ich Geld nötig haben konnte, und die dreihundert Louis, die ich in meiner Börse hatte, genügten für die laufenden Bedürfnisse. Marcolinas Geldverhältnisse ordnete ich in der Weise, daß ich mir von ihr ihre sechshundert Louis geben ließ und zu diesen die sechshundert Franken hinzufügte, die an der runden Summe von fünfzehntausend Franken fehlten. Für diesen Betrag nahm ich eine Anweisung auf Lyon, denn ich gedachte, die erste günstige Gelegenheit zu benutzen, um sie nach Venedig zurückzuschicken. In dieser Absicht ließ ich ihr einen besonderen Koffer machen, in den sie alle Kleider und die Wäsche packte, womit ich sie überreichlich ausgestattet hatte.

Am Tage vor unserer Abreise verabschiedeten wir uns von den Neuvermählten, bei denen wir mit der ganzen Familie zu Abend aßen. Wir trennten uns unter Tränen, indem wir uns ewige Freundschaft versprachen.

Am folgenden Tage begaben wir uns auf die Reise, mit der Absicht, die ganze Nacht hindurch zu fahren, um erst in Avignon Halt zu machen. Gegen fünf Uhr aber brach, eine Stunde über Croix-d’Or hinaus, die Deichselkette meines Wagens, so daß wir ohne Hilfe eines Schmiedes nicht weiterreisen konnten. Wir ergaben uns in die Notwendigkeit, so lange warten zu müssen, und Clairmont ging, um Erkundigungen einzuziehen, in ein schönes Haus, das zur Rechten unseres Weges, am Ende einer Allee von schönen Bäumen lag. Da ich nur einen Postillon hatte, so erlaubte ich diesem nicht, sich auch nur einen Augenblick von seinen Pferden zu entfernen. Bald darauf sahen wir Clairmont mit zwei Bedienten erscheinen, von denen der eine mich im Auftrage seines Herrn einlud, in dessen Hause die Ankunft des Schmiedes abzuwarten. Es würde mir übel angestanden sein, eine Höflichkeit zurückzuweisen, die übrigens von Seiten eines Franzosen sehr natürlich war. Indem ich alles meinem treuen Clairmont überließ, begab ich mich mit Marcolina nach dem gastlichen Hause.

Drei Damen und zwei Herren der besten Gesellschaft kamen uns entgegen, und einer von diesen letzteren sagte mir, sie wünschten sich Glück zu dem kleinen Unfall, der mich betroffen hätte, da er der gnädigen Frau das Vergnügen verschaffte, mir ihr Haus und ihre Dienste anzubieten. Ich wandte mich zu der Dame, die der Herr mir durch eine Handbewegung bezeichnet hatte, dankte ihr und sagte, ich hoffe, sie nicht lange zu belästigen, sei ihr aber für ihr freundliches Entgegenkommen sehr dankbar. Sie machte mir eine sehr anmutige Verbeugung, doch konnte ich ihre Züge nicht unterscheiden, denn der sehr heftige Wind der Provence nötigte sie und ihre beiden Begleiterinnen, ihre Kapuzen tief ins Gesicht zu ziehen. Marcolina trug ihren schönen Kopf unbedeckt und ließ ihre Haare im Winde flattern. Sie antwortete nur durch anmutige Verbeugungen und ein wohlerzogenes Lächeln auf die schmeichelhaften Komplimente, die man ihr darüber machte, daß sie ihre Reize dem Winde preisgebe. Derselbe Herr, der mich begrüßt hatte, fragte mich, indem er ihr den Arm bot, ob die Dame meine Tochter sei. Marcolina lächelte, und ich antwortete, sie sei meine Base, und wir seien aus Venedig.

Der Franzose ist so darauf erpicht, einer hübschen Frau etwas Schmeichelhaftes zu sagen, daß er sich nichts daraus macht, wenn dies auf Kosten eines dritten geschieht. Der Herr konnte füglich nicht annehmen, daß Marcolina meine Tochter sei; denn obgleich ich zwanzig Jahre älter war als sie, gab man mir doch ganz allgemein zehn Jahre weniger, als ich in Wirklichkeit zählte; Marcolina lächelte denn auch auf eine recht bezeichnende Weise.

Als wir gerade in das Haus treten wollten, sprang ein großer Kettenhund auf ein hübsches Wachtelhündchen los; die Dame bekam Angst, der Köter würde das Hündchen beißen, und eilte diesem zu Hilfe. Dabei tat sie einen Fehltritt und stürzte zu Boden. Wir eilten ihr zu Hilfe und hoben sie auf. Sobald sie auf den Füßen stand, sagte sie, sie habe eine Sehne verrenkt. Auf den Arm eines der Kavaliere gestützt, ging sie hinkend nach ihren Gemächern.

Man beeilte sich, uns Erfrischungen vorzusetzen. Als ich sah, daß Marcolina einer Dame gegenüber, die sie anredete, in Verlegenheit geriet, bat ich sie um Entschuldigung, indem ich sagte, sie spräche nicht französisch. Marcolina begann allerdings schon etwas zu radebrechen; da aber die geselligste Sprache der Welt nach meiner Ansicht nicht mittelmäßig gesprochen werden darf, so hatte ich sie gebeten, in vornehmer Gesellschaft nicht zu sprechen, bevor sie sich nicht auf eine erträgliche Weise auszudrücken verstehe. Es war besser, wenn sie schwieg, als wenn sie sich durch italienische Wendungen und durch komische Zweideutigkeiten lächerlich machte.

Die weniger hübsche, oder vielmehr die häßlichere von den beiden Damen sagte zu mir: »Ich wundere mich, daß man in Venedig die Erziehung der jungen Damen in solchem Grade vernachlässigt. Wie ist es möglich, daß man sie nicht französisch lernen läßt!«

»Ohne Zweifel tut man unrecht, gnädige Frau; aber in meiner Heimat gehört zur Erziehung der jungen Mädchen weder der Unterricht in fremden Sprachen noch die Erlernung von gesellschaftlichen Kartenspielen. Diese Dinge kommen an die Reihe, wenn die Erziehung beendet ist.«

»Sie sind also ebenfalls Venetianer?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Wahrhaftig, man würde es nicht glauben.«

Ich antwortete mit einer Verbeugung auf dieses Kompliment, das in Wirklichkeit nur eine Beleidigung war; denn wenn es für mich schmeichelhaft war, so war es beleidigend für meine Landsleute. Dies entging denn auch Marcolina nicht, und sie gab ihre Mißbilligung zu erkennen, indem sie mit einem Lächeln voll von Anmut und feiner Bosheit ihr Mündchen verzog.

»Wie ich sehe, versteht das Fräulein französisch,« sagte die Komplimentenmacherin; »denn sie hat sehr zur rechten Zeit gelacht.«

»Ja, meine Gnädige, sie versteht es und sie hat gelacht, weil sie weiß, daß ich nicht anders bin als alle Venetianer.«

»Nicht anders als alle Venetianer – das ist möglich; aber man sieht doch leicht, daß Sie lange in Frankreich gelebt haben, mein Herr.«

»Oui, madame, oui, madame!« rief Marcolina, und diese Worte, die sie mit ihrem hübschen venetianischen Akzent vorbrachte, waren reizend anzuhören.

Der Herr, der die Dame nach ihrem Zimmer begleitet hatte, kam zurück und sagte uns, die gnädige Frau habe ihren Fuß etwas geschwollen gefunden; sie habe sich daher zu Bett gelegt und bitte uns, heraufzukommen.

Wir fanden sie im Hintergrunde eines Alkovens, der durch Vorhänge von karmoisinrotem Atlas noch dunkler gemacht wurde, in einem prachtvollen Bett liegen; es war mir daher unmöglich, sie zu sehen und mich zu vergewissern, ob sie jung oder alt, schön oder häßlich war. Ich sagte ihr, ich sei in Verzweiflung, daß ich die mittelbare Ursache ihres Unglücks sei. Sie antwortete in gutem Italienisch, es habe nicht viel auf sich, und sie glaube damit das Vergnügen, so liebenswürdigen Gästen eine Zuflucht zu bieten, nicht zu teuer zu bezahlen.

»Frau Gräfin muß in Venedig gewohnt haben, um meine Sprache so rein zu sprechen.«

»Ich bin niemals dort gewesen, mein Herr, aber ich habe viel mit Venetianern gesprochen.«

Da ein Bedienter mir meldete, der Schmied sei gekommen und sage, er brauche vier Stunden, um meinen Wagen auszubessern, so bat ich um Erlaubnis, hinuntergehen zu dürfen. Der Schmied wohnte eine Viertelmeile weit entfernt. Wenn die Deichsel mit Stricken zusammengebunden wurde, konnte ich in meinem Wagen zu ihm fahren und bei ihm die Beendigung der Reparatur abwarten. Hierzu hatte ich mich denn auch entschlossen, als der Herr, der die Honneurs des Hauses machte, zu mir kam und im Auftrage der Frau Gräfin mich bat, bei ihr zu speisen und die Nacht zu verbringen. Denn wenn ich zum Schmied ginge, würde ich nicht nur einen Umweg machen, sondern auch eine schlechte Nacht haben; der Schmied würde bei Nacht schlecht arbeiten, und die Reparatur würde nicht gut ausfallen. Überzeugt, daß die Gräfin recht hatte, nahm ich an und vereinbarte mit dem Schmied, er solle am nächsten Morgen in aller Frühe mit allen notwendigen Werkzeugen kommen und den Wagen an Ort und Stelle ausbessern. Hierauf befahl ich Clairmont mein ganzes Gepäck, das man von dem Wagen abgeladen hatte, in das mir angewiesene Zimmer zu bringen.

Als ich wieder bei der Gräfin eintrat, um ihr meinen Dank auszusprechen, fand ich die Gesellschaft in fröhlichster Heiterkeit über Marcolinas witzige Bemerkungen, die die Gräfin übersetzte. Ich war durchaus nicht erstaunt, zu sehen, daß meine Venetianerin und die Gräfin sich auf das zärtlichste liebkosten. Ich ärgerte mich nur, daß ich die Dame nicht sehen konnte; denn ich kannte die Schwächen meiner Geliebten, und ihre Liebkosungen ließen mich erraten, daß die Dame, der sie galten, schön sein müßte.

Man deckte den Tisch im Zimmer der Gräfin, die ich beim Abendessen zu sehen hoffte. Ich sah mich jedoch in meiner Erwartung getäuscht, denn die Dame erklärte, sie wolle nichts essen, und unterhielt sich während der ganzen Mahlzeit unaufhörlich mit Marcolina und mir. Sie zeigte während des Gespräches viel Geist und Bildung und sprach das Italienische sehr korrekt. Da ihr einmal das Wort: mein verstorbener Mann entschlüpfte, so wußte ich, daß sie Witwe war, weiter aber auch nichts, da ich keine Fragen zu stellen wagte. Am Abend sagte Clairmont mir beim Auskleiden den Namen der Gräfin; da ich jedoch eine Familie dieses Namens nicht kannte, so verschaffte auch dieser Umstand mir keine Aufklärung.

Nach dem Essen setzte Marcolina sich wieder auf das Bett ihrer neuen Bekannten, und die beiden sprachen mit solcher Zungenfertigkeit, daß von uns anderen niemand ein Gespräch anknüpfen konnte.

Als nach meiner Meinung die Höflichkeit erforderte, daß ich mich empföhle, sagte meine angebliche Base mir, sie wolle bei der Gräfin schlafen. Da diese hierüber lachte und Ja, ja sagte, so glaubte ich,, meiner leichtsinnigen Freundin nicht sagen zu dürfen, daß ihr Vorschlag ungezogen sei. Übrigens zeigten ihre gegenseitigen Umarmungen mir, daß sie bereits im Einverständnis waren. Ich begnügte mich, der Gräfin zu sagen, ich könne für das Geschlecht der von ihr erwählten Bettgesellschaft keine Bürgschaft übernehmen; hierauf antwortete sie mir: »Seien Sie unbesorgt, mein Herr, ich kann bei einem Irrtum nur gewinnen.«

Ich fand die Bemerkung ein wenig leichtfertig; doch war ich nicht, der Mann, an so etwas Anstoß zu nehmen. Ich lachte über den Geschmack meiner Venetianerin, sowie darüber, daß es ihr so leicht gelang, ihn zu befriedigen, wie es in Genua bei meiner vorigen Nichte der Fall gewesen war. Übrigens neigen die Provençalinnen im allgemeinen zu diesem Geschmack, und ich bin weit entfernt, ihnen einen Vorwurf daraus zu machen, sondern finde sie deswegen nur um so liebenswürdiger.

Am anderen Morgen stand ich mit Tagesanbruch auf, um den Schmied bei seiner Arbeit anzutreiben; ich frühstückte neben meinem Wagen, und als alles bereit war, fragte ich, ob die Frau Gräfin sichtbar sei. Einen Augenblick darauf kam Marcolina mit dem Kavalier aus dem Hause. Er sagte zu mir: »Ich bitte Sie, die gnädige Frau freundlichst entschuldigen zu wollen, die sich in ihrem Nachtgewande nicht vor Ihnen sehen zu lassen wagt. Sie bittet Sie jedoch inständig, wenn Sie jemals wieder hier vorbeikommen sollten, stets ihr Haus zu beehren, sei es, daß Sie allein oder daß Sie in Gesellschaft sind.«

Diese Abweisung mißfiel mir sehr, trotz der Vergoldung, in der sie mir zuteil wurde. Ich verhehlte jedoch mein Mißvergnügen, denn ich konnte die Ursache nur Marcolinens Schamlosigkeit zuschreiben. Da ich sie aber in sehr fröhlicher Stimmung sah, so wollte ich sie nicht kränken. Nachdem ich dem Herrn tausend Komplimente gemacht und jedem der anwesenden Bedienten einen Louisdor in die Hand gedrückt hatte, fuhren wir ab.

Ich umarmte Marcolina zärtlich, damit sie meine schlechte Laune nicht bemerken möchte; hierauf fragte ich sie, wie sie die Nacht mit der Gräfin zugebracht hätte, die ich nicht gesehen hätte.

»Sehr gut, mein lieber Freund; sie ist ein reizendes Weib, und wir haben die ganze Nacht hindurch alle Tollheiten getrieben, die zwei Frauen anstellen können, die ineinander verliebt sind.«

»Ist sie hübsch? Ist sie alt?«

»Erst dreiunddreißig Jahre, und ich versichere dir, sie ist ebenso schön wie meine Freundin Crosin. Ich kann darüber ein sachverständiges Urteil abgeben, denn wir haben einander im Naturzustand gesehen und umarmt.«

»Du bist ein sonderbares Wesen. Um ein Weib bist du mir untreu gewesen und hast mich die ganze Nacht allein verbringen lassen. Es ist unmöglich, daß du mir eine Frau vorziehst.«

»Du mußt mir eine Laune verzeihen; außerdem war ich ihr diese Gefälligkeit schuldig, denn sie hat mir zuerst gesagt, daß sie in mich verliebt sei.«

»Wirklich? Wie machte sie denn das?«

»Als ich bei unserem ersten Ausbruche tollen Gelächters ihr den ersten Kuß gab, küßte sie mich auf florentinische Art, und unsere Zungen berührten sich mit heißem Feuer. Als ich mich nach dem Abendessen auf ihr Bett setzte, machten wir einander die ersten bedeutungsvollen Liebkosungen. Ich gestehe dir, daß ich damit anfing. Sie ließ mich aber auf die Erwiderung nicht warten. Mußte ich sie denn nicht ganz und gar glücklich machen, indem ich die Nacht mit ihr verbrachte? Da sieh das Zeichen ihrer Zufriedenheit!«

Mit diesen Worten zog Marcolina einen herrlichen Brillantring von ihrem Finger. Ich war sprachlos vor Verwunderung; endlich sagte ich zu ihr: »Nun, das ist einmal eine Frau, die das Vergnügen liebt, und die verdient, daß sie Vergnügen findet!«

Ich gab meiner neuen Lesbierin, deren Sappho sich nicht geschämt haben würde, hundert Küsse und verzieh ihr ihre Untreue. »Aber«, sagte ich zu ihr, »ich begreife nicht, warum sie sich nicht vor mir sehen lassen wollte! Mir scheint, deine freigebige Gräfin hat mich ein wenig als procuratore behandelt, als Freund des Fürsten, wie man bei Hofe sagt.«

»Nein, ich glaube eher, sie hat sich geschämt, sich vor meinem Liebhaber sehen zu lassen, nachdem sie mich ihm untreu gemacht hat; denn ich habe ihr gestehen müssen, was wir einander sind.«

»Das ist wohl möglich. Übrigens hast du deine Gefälligkeiten gut bezahlt bekommen, meine Liebe, denn dieser Ring ist zweihundert Louis wert.«

»Aber ich brauche nicht zu erröten, wenn ich dir sage, daß die Wonne, die ich gab, reichlich durch die bezahlt wurde, die ich empfing.«

»Da hast du recht; ich bin erfreut, dich glücklich zu sehen.«

»Wenn du willst, daß ich ganz und gar glücklich werde, so nimm mich mit nach England. Mein Oheim muß da sein, und ich werde mit ihm nach Venedig zurückkehren.«

»Wie? Du hast einen Oheim in England? Ist das auch wirklich wahr? Es klingt mir ganz nach einem Märchen. Du hast ja von dergleichen niemals etwas gesagt.«

»Ich habe dir bis jetzt nichts davon gesagt, weil ich mir immer einbildete, daß dieser Grund dich verhindern könnte, mir meinen glühenden Wunsch zu erfüllen.«

»Dein Oheim ist Venetianer? Was macht er denn in England? Bist du sicher, daß er dich gut aufnehmen wird?«

»Ja.«

»Wie heißt er? Und wie soll ich es anfangen, um ihn in einer Stadt von mehr als einer Million Einwohner zu entdecken?«

»Mein Oheim ist schon gefunden. Er heißt Mattio Bosi; er ist Kammerdiener des Monsignore Querini, der mit dem Prokurator Morosini von der venetianischen Regierung nach London geschickt worden ist, um dem neuen König von England die Glückwünsche der Republik zu überbringen. Er ist der Bruder meiner Mutter; er liebt mich sehr und wird mir meinen leichtsinnigen Streich vergeben, besonders wenn er hört, daß ich reich bin. Bei seiner Abreise sagte er uns, er werde im Juli dieses Jahres nach Venedig zurückkehren; wir finden ihn also vielleicht gerade im Augenblick seiner Abreise.«

Durch Herrn von Bragadino wußte ich, daß die Sache mit der Gesandtschaft sich so verhielt, im übrigen trug Marcolinas Erzählung den vollen Charakter der Wahrheit. Da ihr Plan außerdem dem Gefallen entsprach, das ich an ihr gefunden hatte, so versprach ich ihr, sie mitzunehmen. Es war mir sehr angenehm, sie noch fünf oder sechs Wochen besitzen zu können, ohne mich zu Weiterem verpflichten zu müssen.

Gegen Abend kamen wir in Avignon an. Wir hatten großen Appetit. Ich kannte den Gasthof zum Heiligen Homer als ausgezeichnet und bestellte sofort bei der Ankunft eine leckere Mahlzeit, sowie für fünf Uhr morgens frische Pferde. Marcolina, die nicht gerne die Nächte in einem Wagen verbrachte, war sehr erfreut; sie fiel mir mit überschwenglicher Lustigkeit um den Hals und fragte mich: »Sind wir in Avignon?«

»Ja, mein Herz.«

»Nun, mein lieber Schatz, so ist also die Stunde da, wo ich als gewissenhaftes Mädchen das Versprechen erfüllen muß, das ich der Gräfin gab, als sie mich heute morgen zum letzten Male umarmte. Sie hat mich bei meiner Seligkeit schwören lassen, dir vor diesem Augenblick kein Wort zu sagen.«

»Du machst mich neugierig, mein Lieb, sprich!«

»Sie hat mir einen Brief anvertraut, den ich dir geben werde.«

»Einen Brief!«

»Verzeihst du mir, daß ich ihn dir nicht früher übergeben habe?«

»Selbstverständlich; du hattest dich ja auf Wort dazu verpflichtet. Aber wo ist denn dieser Brief?«

»Warte!«

Sie zog ein dickes Bündel Papier aus ihrer Tasche und sagte: »Dies ist mein Geburtsschein.«

»Wie ich sehe, bist du im Jahre 1746 geboren.«

»Dies ist ein Sittenzeugnis.«

»Heb es gut auf; es kann dir vielleicht später von Nutzen sein.«

»Hier ist eine Bescheinigung meiner Jungfräulichkeit.«

»Das ist veraltete Ware. Hat eine Hebamme es dir gegeben?«

»Nein; der Patriarch von Venedig.«

»Hat er sich davon überzeugt?«

»Dazu war er zu alt; er hat es mir aus Vertrauen gegeben.«

»Laß doch den Brief sehen!«

»Ich will doch hoffen, daß ich ihn nicht verloren habe.«

»Das hoffe ich auch!«

»Hier ist das Heiratsversprechen deines Bruders, der reformiert werden wollte.«

»Du kannst ihn selber reformieren.«

»Was heißt das?«

»Das werde ich dir spater sagen. Wo ist der Brief?«

»Gott sei Dank, da ist er!«

»Das ist dein Glück! Aber er hat ja keine Adresse!«

Das Herz klopfte mir sehr stark. Ich riß den Umschlag auf und fand statt einer Adresse nur folgende Worte in italienischer Sprache: Dem ehrenhaftesten Manne, den ich je gekannt habe.

Gilt diese Anrede wirklich mir? Ich öffne das Blatt…Henriette… kein Wort mehr. Das Blatt war völlig leer.

Ich war bei diesem Anblick wie vernichtet:

Io non morì, e non rimasi vivo.

Ich war nicht tot und war auch nicht am Leben.

Henriette! – Das war ihr Stil, ihr beredter Lakonismus. Ich erinnere mich ihres letzten Briefes aus Pontarlier, den ich in Genf empfing, und der nur das Wort Adieu! enthielt. Diese Henriette, die ich so sehr geliebt hatte, und die ich in diesem Augenblick mit neuer Glut zu lieben glaubte!

»Henriette!« sagte ich bei mir selber; »du hast mich gesehen. Grausame, und hast nicht gewollt, daß ich dich sehe! Ohne Zweifel hast du gefürchtet, deine Reize hätten nicht mehr die Kraft, mit der sie mich vor sechzehn Jahren an dich ketteten. Ich sollte nicht sehen, daß ich in dir nur eine Sterbliche geliebt habe! Und doch liebe ich dich noch mit der ganzen Glut erster Liebe! Warum hast du mich des Glücks beraubt, aus deinem schönen Munde zu erfahren, daß du glücklich bist? Dies wäre die einzige Frage gewesen, die ich an dich gerichtet hätte, grausame Freundin! Ich hätte dich nicht gefragt, ob du mich noch liebst; denn ich erkenne mich dessen unwürdig, da ich nach dir, nach dem vollkommensten Wesen deines Geschlechtes, also der ganzen Schöpfung, so viele andere Frauen habe lieben können. Anbetungswürdige, großmütige Henriette! Morgen werde ich dich sehen, denn du hast mir ja sagen lassen, dein Haus werde mir immer offen stehen.«

Diesen Gedanken wälzte ich eine Zeitlang in mir herum. Ich bestärkte mich in meinem Entschluß immer mehr; dann aber sagte ich mir wieder: »Nein; dein Vorgehen beweist, daß du von mir jetzt nicht gesehen werden willst. Du mußt deine Gründe dafür haben; diese werde ich achten, aber ich werde mir ganz gewiß nicht den Vorwurf zu machen haben, daß ich sterbe, ohne dich wiederzusehen.«

Marcolina war erschrocken, wie sie mich so unbeweglich und in meine Gedanken versunken sah; sie wagte kaum zu atmen, und ich weiß nicht, wann ich wieder zu mir gekommen wäre, wenn nicht der Wirt eingetreten wäre und mir gesagt hätte, er erinnere sich noch meines Geschmackes und habe mir eine außerordentlich leckere Mahlzeit herrichten lassen. Da wurde ich wach, und als ich hörte, daß das Essen aufgetragen sei, machte ich meine schöne Venetianerin glücklich, indem ich sie mit einer Art von Wut umarmte.

»Weißt du, lieber Freund«, sagte sie zu mir, »du hast mir Furcht gemacht! Du warst bleich und unbeweglich wie ein Toter. Eine volle Viertelstunde saßest du da in einem Zustand von Betäubung, von dem ich mir früher niemals einen Begriff gemacht habe. Woher kam denn das? Ich wußte wohl, daß die Gräfin dich kannte, aber niemals hätte ich mir gedacht, daß ihr bloßer Name so überraschend auf dich wirken könnte.«

»Ich gebe es zu, es ist erstaunlich; aber woher wußtest du, daß die Gräfin mich kannte?«

»Sie hat es mir diese Nacht zwanzigmal gesagt; aber sie hatte mir das Versprechen abgenommen, dir nichts davon zu sagen, bevor ich dir den Brief übergeben hätte.«

»Was hat sie dir gesagt?«

»Auf Hundertlei verschiedene Art, was die Aufschrift ihres Briefes enthält.«

»Ihres Briefes! Es steht ihr Name darin und weiter nichts.«

»Das ist recht sonderbar.«

»Ja; aber dieser Name sagt alles.«

»Sie hat mir gesagt, ich solle dich niemals verlassen, wenn ich immer glücklich sein wolle. Ich habe ihr geantwortet: dessen sei auch ich gewiß, aber du wollest mich fortschicken, obgleich du jetzt nur mich allein lieb habest. Ich errate, lieber Freund, daß ihr ein zärtlich liebendes Paar gewesen seid. Ist es schon lange her?«

»Sechzehn oder siebzehn Jahre.«

»Da war sie recht jung; aber unmöglich kann sie damals schöner gewesen sein als jetzt.«

»Schweig, Marcolina!«

»Und hat eure Verbindung lange gedauert?«

»Vier Monate beständigen Glückes.«

»Ich werde nicht so lange glücklich sein!«

»Du wirst länger glücklich sein, meine liebe Marcolina, aber mit einem anderen ehrenhaften Mann, der deinem schönen Alter näher steht. Ich gehe nach England, weil ich versuchen will, meine Tochter aus den Händen ihrer Mutter zu befreien.«

»Du hast eine Tochter? Die Gräfin hat mich gefragt, ob du verheiratet seist, und ich habe ihr geantwortet, du seist unverheiratet.«

»Du hast die Wahrheit gesagt. Meine Tochter ist von unehelicher Geburt; sie ist zehn Jahre alt, und solltest du sie sehen, so würdest du sofort erkennen, daß sie von mir stammt.«

Im Augenblick, wo wir uns zu Tisch setzen wollten, hörten wir jemand die Treppe nach dem Speisesaal hinuntergehen, in welchem ich, wie der Leser sich erinnern wird, Madame Stuart kennen lernte. Da wir die Personen sehen wollten, die zu Tisch gingen, so hatten wir unsere Tür offen gelassen. Ein junges Mädchen sah uns, stieß einen Schrei aus, eilte leichtfüßig wie ein Reh auf mich zu, küßte mir die Hand und rief: »Mein lieber Papa!«

Ich wandte mich nach dem Licht um und sah Irene – jene Irene, die ich in Genua so schroff von mir gestoßen hatte, als ihr Vater in dem Gespräch über das Biribi einen unpassenden Ton anschlug. Ich zog meine Hand zurück und umarmte sie mit freudigem Herzen. Die listige kleine Person stellte sich überrascht und machte Marcolinen eine tiefe Verbeugung, die diese mit edlem Anstand erwiderte. Mit großer Aufmerksamkeit folgte dann Marcolina dem Gespräch, das sich zwischen dem jungen Mädchen und mir entwickelte, besonders als sie hörte, daß ich mit ihr venetianisch sprach.

»Wie? Sie sind hier, meine schöne Irene?«

»Seit vierzehn Tagen sind wir hier. Gott! wie bin ich glücklich, Sie hier zu treffen. Ich fühle mich ganz aufgeregt. Gnädige Frau, wollen Sie mir wohl gestatten, mich zu setzen?«

»Ja, meine Liebe,« sagte ich zu ihr, »setzen Sie sich!«

Zugleich schenkte ich ihr ein Glas Wein ein, damit sie sich frisch belebte.

Ein Diener trat ein und sagte ihr, man erwarte sie zum Abendessen. Sie antwortete ihm jedoch: »Ich werde nicht speisen.«

Marcolina, die stets auf der Lauer lag, um zu erraten, was mir Freude machen könnte, befahl ein drittes Gedeck aufzulegen. Sie strahlte vor Vergnügen, als ich ihr zum Zeichen meines Einverständnisses zunickte.

Wir setzten uns zu Tisch, und ich forderte Irene auf, uns die Spitze zu bieten: »Wir haben großen Appetit! Wenn wir gespeist haben, müssen Sie uns sagen, durch welchen Zufall Sie in Avignon sind.«

Marcolina hatte noch kein Wort gesagt. Als sie aber sah, daß Irene recht herzhaft aß, sagte sie zu ihr in liebenswürdigem Tone: sie würde nicht gut daran getan haben, nicht zu Abend zu speisen. Irene war entzückt, sie venetianisch sprechen zu hören; sie bedankte sich bei ihr für die freundliche Teilnahme, und in drei oder vier Minuten waren sie schon solche Freundinnen geworden, daß sie sich umarmten und küßten.

Ich lachte laut auf, als ich sah, wie Marcolina stets geneigt war, sich in alle hübschen Frauen zu verlieben, wie wenn sie einem anderen Geschlecht angehört hätte.

Aus Irenens Geplauder entnahm ich, daß ihre Eltern unten an der Gasttafel saßen; und ihre wiederholten Ausrufe, daß der liebe Gott mich in seiner Güte nach Avignon geführt hätte, sagten mir, daß die Familie in Not war. Trotzdem lag auf Irenens hübschem Gesicht ein Ausdruck von Zufriedenheit, der aufs beste zu Marcolinens fröhlichen Bemerkungen paßte, und diese freute sich sehr, als sie erfuhr, daß Irene mich nur darum Papa genannt hatte, weil ihre Mutter ihr in Mailand gesagt hatte, sie sei meine Tochter. Sie zimmerte sich schon ihren Roman – wenigstens glaube ich das – und meine Vaterschaft würde sie dabei gestört haben.

Wir waren mit unserem Abendessen noch nicht zur Hälfte fertig, als Rinaldi und seine Frau eintraten. Ich bat sie, Platz zu nehmen; wäre aber Irene nicht gewesen, so würde ich den Gauner, der mich zu schröpfen versucht hatte, übel empfangen haben. Er machte seiner Tochter Vorwürfe, daß sie mich belästigt habe, ohne zu bedenken, daß sie überflüssig sein müsse, da ich doch schon so schöne Gesellschaft habe. Marcolina beruhigte ihn jedoch sofort, indem sie ihm sagte, Irene könne mir nur Vergnügen gemacht haben; denn da ich ihr Oheim sei, könne ich nur erfreut sein, daß eine so liebenswürdige junge Dame sich ihr zugesellt habe. »Ich hoffe sogar,« setzte sie hinzu, »Sie werden ihr erlauben, bei mir zu schlafen, wenn es ihr selber nicht unangenehm ist.«

»Ja, ja!« riefen alle wie aus einem Munde. Ich hätte es zwar vorgezogen, die Nacht mit Marcolina allein zuzubringen; aber ich habe mich stets den Umständen anzupassen gewußt, und darum lachte ich recht herzlich über die eigentümliche Fügung.

Irene teilte Marcolinas Wünsche; denn sobald sie gewiß waren, daß sie die Nacht miteinander verbringen würden, waren sie wie närrisch vor Freude, und es machte mir Spaß, ihren Taumel noch zu erhöhen, indem ich ihnen reichlich Champagner und Punsch einschenkte.

Rinaldi und seine Frau verließen uns erst, als sie sich vollständig im Weinberge des Herrn befanden. Als wir sie los waren, erzählte Irene uns, ein Franzose, der sich in Genua in sie verliebt, habe ihren Vater überredet, nach Nizza zu reisen, wo nach seiner Behauptung hoch gespielt werden sollte. In Nizza habe man jedoch nichts gefunden, was ihren Erwartungen entsprochen hätte, und sie sei genötigt gewesen, ihre Kleider zu verkaufen, um den Gastwirt zu bezahlen. Ihr Liebhaber habe ihr vorgeredet, er werde sie in Aix entschädigen, denn dort habe er Geld einzukassieren. Sie habe daher ihre Eltern veranlaßt, ihm dorthin zu folgen. Abermals sei sie in ihrer Erwartung getäuscht worden, denn die Leute, von denen er das Geld zu fordern gehabt, seien nach Avignon weitergereist gewesen. Infolgedessen habe abermals ein Verkauf von Sachen stattgefunden, um ihm auch dorthin zu folgen. »So sind wir hier angekommen, aber wir waren auch nicht glücklicher. Die bitteren Vorwürfe, die mein Vater ihm machte, brachten den armen jungen Menschen zur Verzweiflung, und er würde sich das Leben genommen haben, wenn ich ihm nicht den Luchspelz gegeben hätte, den du mir in Mailand schenktest. Ich gab ihm diesen, um ihn zu versetzen, aber unter der Bedingung, daß er mit dem Gelde abreisen solle. Er bekam vier Louis darauf und schickte mir den Pfandschein mit einem sehr zärtlichen Brief, worin er mir versicherte, in Lyon werde er ganz bestimmt Geld auftreiben; er werde damit zurückkehren und mit uns nach Bordeaux reisen, wo wir nach seiner Behauptung Schätze gewinnen müßten. Vor zwölf Tagen ist er abgereist, aber wir warten immer noch auf eine Nachricht von ihm. Unterdessen haben wir keinen Heller in der Tasche, und da wir auch nichts mehr zu verkaufen haben, so droht der Wirt uns, er werde uns ohne Hemd auf die Straße werfen, wenn wir ihn nicht morgen bezahlen.«

»Und was gedenkt dein Vater zu tun?«

»Das weiß ich nicht. Er behauptet, die Vorsehung werde für uns sorgen.«

»Was sagt deine Mutter dazu?«

»Sie ist ruhig, wie immer.«

»Und du?«

»Ach! Ich erduldete jeden Tag tausend Kränkungen: sie werfen mir unaufhörlich vor, daß ich mich in den Franzosen verliebt und dadurch, daß ich mit ihm gegangen sei, unsere peinliche Lage verschuldet habe.«

»Warst du wirklich in ihn verliebt?«

»Nur zu sehr.«

»Du fühlst dich also unglücklich?«

»Sehr. Aber nicht wegen meiner Liebe, denn von dieser werde ich genesen, sondern wegen dessen, was morgen kommen wird.«

»Hast du denn nicht an der Gasttafel irgend eine Eroberung machen können?«

»Es haben wohl einige Herren mir mit schönen Worten den Hof gemacht; da man jedoch weiß, daß wir in der Klemme sind, hat niemand gewagt, zu uns zu kommen.«

»Und trotzdem bist du lustig und guter Dinge. Dein Gesicht hat durchaus nicht den Ausdruck von Traurigkeit, den das Unglück gewöhnlich gibt. Ich wünsche dir Glück dazu.«

Mit Irene wiederholte sich das Abenteuer der schönen Stuard. Marcolina war von den Dünsten des Champagners ein bißchen umnebelt, und Irenens Erzählung rührte sie tief. Sie umarmte sie und sagte ihr, als guter Vater würde ich sie nicht im Stich lassen; darum sollte sie für den Augenblick an weiter nichts denken, als wie sie sich eine lustige Nacht machen könnten.

»Wir wollen zu Bett gehen«, rief sie. Im Nu hatte sie ihre Kleider abgeworfen, dann half sie Irenen, sich ebenfalls auszuziehen. Ich hatte keine Lust, einen Kampf gegen einen doppelten Feind aufzunehmen, und sagte ihnen daher, ich wolle in Ruhe gelassen werden. Die Venetianerin lachte laut auf und rief: »Geh nur zu Bett und laß uns machen!«

Dies tat ich denn auch und hatte meinen Spaß daran, müßig meinen beiden Bachantinnen zuzusehen. Irene, die ohne Zweifel zum ersten Male an einem solchen Gefecht teilnahm, zeigte sich viel weniger gewandt.

Es dauerte nicht lange, so trug Marcolina Irene in ihrem Arm an mein Bett heran und befahl mir, sie zu küssen.

»Laß mich in Ruhe, meine Liebe,« sagte ich zu ihr; »du weißt nicht, was du tust. Du hast zuviel Punsch getrunken.«

Durch diese Bemerkung gereizt, forderte sie Irene auf, ihr zu helfen, und plötzlich lagen die beiden Mädchen neben mir. Da der Platz nicht ausreichte, legte Marcolina sich auf Irene, nannte sie ihre Frau und forderte sie auf, die Rolle einer solchen zu spielen. Ich besaß die Tugend, eine volle Stunde lang bloßer Zuschauer eines Schauspiels zu sein, das mir ewig neu war, obgleich ich es so oft gesehen hatte. Endlich griffen sie mich mit solcher Gewalt an, daß ich mich wohl oder übel an ihren Spielen beteiligen mußte. So verbrachte ich einen großen Teil der Nacht damit, ihnen bei ihren Ausgelassenheiten zu helfen; denn sie ließen mich erst los, als sie mich in einem solchen Zustande von Erschöpfung sahen, daß sie keine Hoffnung mehr hatten, mich zu neuen Taten reizen zu können. So schliefen wir denn ein, und unser Schlummer dauerte bis zum Mittag. Ich wachte zuerst auf, und mein erster Blick fiel auf die beiden nackten Schönheiten, die wie zwei Geißblattranken ineinander verschlungen waren. Ich seufzte bei dem Gedanken an die Wollust, deren die beiden entzückenden Geschöpfe genossen hatten, und stand leise auf, um ihre Ruhe nicht zu stören. Ich ging hinunter, um ein gutes Mittagessen zu bestellen und die Pferde fortzuschicken, die schon seit mehreren Stunden warteten.

Der Wirt, der sich noch erinnerte, was ich für Stuard getan hatte, erriet, daß ich dasselbe auch für den Grafen Rinaldi tun würde, und ließ daher die Familie in Ruhe.

Als ich wieder in mein Zimmer kam, waren meine beiden Lesbierinnen inzwischen erwacht und empfingen mich mit einem Raffinement von Wollust, das mich dazu reizen sollte, meinen nächtlichen Arbeiten durch einen Morgengruß die Krone aufzusetzen. Ich hatte die größte Lust, ihre Wünsche zu erfüllen, aber ich begann bereits das Bedürfnis zu spüren, mit meinen Kräften hauszuhalten. Darum enthielt ich mich jeder Betätigung und ließ mir ihre Stichelreden und verliebten Sarkasmen bis gegen ein Uhr ruhig gefallen. Dann forderte ich sie auf, das Bett zu verlassen, indem ich ihnen sagte, wir hätten schon um fünf Uhr abfahren sollen und würden um zwei Uhr noch nicht gefrühstückt haben.

»Wir haben genossen!« rief Marcolina, »und die Zeit, die man dem Genüsse widmet, ist stets vortrefflich angewandt.«

Als sie angezogen waren, ließ ich den Kaffee kommen; hierauf gab ich Irenen sechszehn Louis, von denen vier dazu bestimmt waren, ihren Mantel auszulösen. Ihre Eltern, die im Speisesaal gegessen hatten, traten nach Tisch bei uns ein, um uns guten Tag zu sagen. Irene gab mit stolzer Miene dem Grafen zwölf Louis und sagte ihm, in Zukunft solle er sie nicht wieder so ausschelten. Er lachte, weinte und ging hinaus. Bald darauf trat er wieder ein und sagte seiner Tochter, er habe eine gute Gelegenheit gefunden, für billiges Geld nach Antibes zu gelangen; er müsse jedoch augenblicklich abreisen, da der Fuhrmann in St. Andiol übernachten wolle.

»Ich bin bereit.«

»Nein, meine liebe Irene, das bist du nicht! Du wirst mit deiner Freundin zu Mittag speisen, und der Fuhrmann wird warten. Lassen Sie ihn warten, Graf Rinaldi. Meine Nichte wird ihm den verlorenen Tag bezahlen, nicht wahr, Marcolina?«

»Oh, ganz gewiß! Mir ist es sehr recht, wenn wir hier zu Mittag speisen, und noch lieber wäre es mir, wenn wir erst morgen abführen.«

Dieser Wunsch war für meine Liebe ein Befehl. Um fünf Uhr setzten wir uns zu einem köstlichen Abendessen nieder, um acht gingen wir zu Bett, und die ganze Nacht verging unter denselben Ausgelassenheiten wie die vorige; aber früh um fünf Uhr waren wir reisefertig. Irene, mit ihrem schönen Mantel, weinte heiße Tränen, als sie von Marcolina Abschied nahm, und diese weinte ebenfalls von Herzen. Der alte Rinaldi, der kein guter Prophet war, weissagte mir, ich würde in England ein unermeßliches Glück finden, und seine Tochter seufzte darüber, daß sie nicht an der Stelle meiner Venetianerin wäre. Zehn Jahre später werden wir sie wiederfinden.

Wir stiegen ein und fuhren fünfzehn Poststationen, ohne anzuhalten. In Valence verbrachten wir die Nacht. Wir bekamen dort schlechtes Essen, aber Marcolina empfand es nicht, indem sie von Irene sprach.

»Weißt du was, lieber Freund,« sagte sie zu mir, »wenn ich gekonnt hätte, so würde ich sie ihren Eltern entführt haben. Ich halte sie für deine Tochter, obgleich sie dir nicht ähnlich sieht.«

»Wie soll sie denn meine Tochter sein? Ich habe ja ihre Mutter gar nicht näher gekannt!«

»Das hat sie mir allerdings auch gesagt.«

»Hat sie dir sonst nichts gesagt?«

»Sie hat mir außerdem erzählt, daß du drei Tage mit ihr zugebracht und für ihre Jungfernschaft hundert Zechinen bezahlt hast.«

»Das ist wahr; hat sie dir auch gesagt, daß ich dieses Geld ihrem Vater bezahlt habe?«

»Ja. Ach, das arme, dumme Mädchen! Sie behält ja gar nichts für sich. Ich glaube, lieber Freund, ich würde niemals auf deine Geliebten eifersüchtig sein, wenn du mich bei ihnen schlafen ließest. Ist das nicht ein Zeichen von gutem Charakter? Sage mir, ob ich recht habe!«

»Ohne Zweifel bist du gut; aber du könntest ebenso gut sein, wenn dein Temperament dich nicht so beherrschte.«

»Das Temperament ist es nicht, lieber Freund; denn ich empfinde Begierden nur Frauen gegenüber, die ich liebe.«

»Woher hast du diesen Geschmack?«

»Von der Natur. Mit sieben Jahren habe ich angefangen, und in zehn Jahren habe ich gewiß vierhundert Freundinnen gehabt.«

»Da hast du ja früh angefangen! Und wann hattest du den ersten Freund?«

»Mit elf Jahren.«

»Erzähle mir das!«

»Vater Molini vom Kloster San Giovanni e Paolo war mein Beichtvater; er verlangte, die Freundin kennen zu lernen, die ich damals hatte. Es war während des Karnevals. Er hielt bei der Beichte eine väterliche Ansprache an uns und versprach uns, er wolle mit uns ins Theater gehen, wenn wir eine volle Woche lang nicht miteinander schäkern wollten. Wir versprachen ihm das, und nach acht Tagen gingen wir zu ihm und versicherten ihm, daß wir unser Wort getreulich gehalten hätten. Am nächsten Tage kam Vater Molini maskiert zur Tante meiner Freundin. Da sie ihn kannte, so ließ sie uns mit ihm gehen, ohne sich etwas Böses dabei zu denken; denn erstens war Molini Mönch und mein Beichtvater sowie der meiner Freundin; zweitens waren wir offenbar noch die reinen Kinder, und darum hatte sie keinen Verdacht; denn meine Freundin war nur um ein Jahr älter als ich.

»Nach dem Theater ging Molini mit uns in einen Gasthof, wo wir zu Abend aßen. Nach der Mahlzeit sprach er mit uns über unsere Sünde und verlangte zu sehen, wie wir gewachsen wären. Er sagte zu uns: »Wenn zwei Mädchen so etwas miteinander machen, so ist das eine sehr große Sünde; wenn es aber zwischen Mann und Frau vorkommt, hat es nicht viel zu bedeuten. Wißt ihr, wie die Männer gebaut sind?« –Wir wußten es, aber wir riefen wie aus einem Munde: nein! – »Möchtet ihr es wissen?« fragte er uns. Wir antworteten ihm: »Recht gern«. Da sagte er: »Wenn ihr mir versprechen wollt, daß ihr nichts davon sagt, so kann ich eure Neugier befriedigen.« – Wir versprachen es, und der gute Beichtvater zeigte uns die reiche Ausstattung, mit der die Natur ihn begabt hatte. In Zeit von einer Stunde machte er uns beide zu Frauen. Eins muß ich dir noch sagen: er wußte es so geschickt anzufangen, daß wir selber ihn baten, diese Metamorphose an uns vorzunehmen. Drei Jahre später, also in meinem vierzehnten, wurde ich die Geliebte eines jungen Goldschmieds. Endlich kam dein Bruder; der hat aber nichts von mir erhalten, weil er mir gleich am Anfang sagte, er könne mit gutem Gewissen meine Gunst nur verlangen, wenn er mich heirate.«

»Du hast dies jedenfalls sehr lächerlich gefunden?«

»Ich gestehe, ich habe herzlich darüber gelacht, außerdem glaubte ich kein Wort davon, daß ein Priester sich verheiraten könnte. Er machte mich aber neugierig, als er mir versicherte, in Genf sei das möglich. Neugier und Leichtsinn veranlaßten mich, mit ihm auf die Reise zu gehen. Das übrige weißt du.«

Mit dieser schönen Schilderung ihres frühreifen Lebens erheiterte Marcolina mir den Abend; hierauf gingen wir zu Bett und schliefen sehr tugendhaft bis zum andern Morgen. Um fünf Uhr fuhren wir von Valence ab, und mit Einbruch der Nacht kamen wir in Lyon an, wo wir im Gasthof zum Park abstiegen.

Sobald ich mich in einer schönen Wohnung eingerichtet hatte, ging ich zur Frau von Urfé, die an der Place Bellecour wohnte. Sie sagte mir nach ihrer Gewohnheit, sie habe ganz bestimmt gewußt, daß ich an diesem Tage ankommen würde. Sie wollte wissen, ob sie die Kulte richtig vollzogen hätte; natürlich fand Paralis, daß sie alles aufs beste gemacht hätte. Hierauf war sie sehr stolz. Der kleine Aranda wohnte bei ihr; ich ließ ihn kommen, und nachdem ich ihn zärtlich umarmt hatte, sagte ich der Marquise, ich würde am nächsten Morgen um zehn Uhr bei ihr sein.

Pünktlich erschien ich zu dieser Stunde. Wir verbrachten den ganzen Tag unter vier Augen und ließen uns von dem Orakel alle notwendigen Unterweisungen in bezug auf ihre Niederkunft und auf ihr Testament geben; auch belehrte es uns, wie wir es anzufangen hätten, daß sie nicht in Armut geriete, wenn sie als Mann wiedergeboren würde.

Das Orakel bestimmte, daß sie ihre Mannwerdung in Paris erwarten solle; ihr ganzes Vermögen solle sie ihrem Sohne hinterlassen. Der werde kein Bastard sein, denn Paralis verpflichtete sich, ihr sofort nach meiner Ankunft in London einen englischen Edelmann zuzuschicken, der sie heiraten werde. Zum Schluß befahl das Orakel ihr, in drei Tagen abzureisen und den kleinen Aranda mitzunehmen, den ich nach London zu seiner Mutter bringen müsse. Sein wirklicher Stand war ihr nämlich kein Geheimnis mehr, denn der kleine Schlingel hatte ihr alles gesagt; ich hatte jedoch dafür gesorgt, daß seine Schwatzhaftigkeit ebensowenig Folgen hatte wie der Verrat der Corticelli und des elenden Passano.

Es drängte mich um so mehr, den kleinen Undankbaren zu seiner Mutter zu bringen, da diese mir fortwährend unverschämte Briefe schrieb, und da ich die Absicht hatte, mir meine damals zehn Jahre alte Tochter aushändigen zu lassen, die nach den Versicherungen ihrer Mutter ein Wunder an Schönheit, Anmut und Begabung geworden war.

Nachdem das alles abgemacht war, ging ich wieder in meinen Gasthof, um mit Marcolina zu speisen. Es war bereits sehr spät, und da ich deshalb mein liebes Mädchen nicht ins Theater führen konnte, so machte ich Herrn Bono einen Besuch, um von ihm zu hören, ob er meinen Bruder nach Paris geschickt hätte. Er sagte mir, dieser sei am Tage vorher abgereist; Passano aber, mein bitterer Feind, sei noch in Lyon, und ich solle vor ihm auf der Hut sein.

»Der Mann war bei mir,« sagte Bono; »er war blaß, ganz verstört und konnte sich kaum aufrecht halten. Er sagte zu mir: »Ich werde in irgendeinem Winkel verrecken, denn der Schuft Casanova hat mich vergiften lassen; aber er soll mir sein Verbrechen teuer bezahlen; noch vor meinem Tode werde ich meine Rache haben, und zwar hier in Lyon, wohin er kommen muß, wie ich ganz bestimmt weiß.« – Voller Wut hat er mir eine halbe Stunde lang die schrecklichsten Dinge erzählt, deren er Sie beschuldigt. Er sagte, die ganze Welt solle erfahren, daß Sie der größte Schurke sind, den es gibt, daß Sie Frau von Urfé durch gottlose Lügen zugrunde richten. Sie sind Hexenmeister, Zauberer, Fälscher, Dieb, Spion, Münzenbeschneider, Giftmischer – mit einem Wort, der niederträchtigste Mensch auf der Welt. Und er will nicht etwa durch eine Schrift Sie vor der Welt bloßstellen, sondern vielmehr Sie in aller Form bei Gericht anzeigen. An das Gericht will er sich wenden und Sühne für den Schaden verlangen, den Sie seiner Person, seiner Ehre und seinem Leben zugefügt haben. Denn Sie sollen ihn durch ein nur Ihnen bekanntes, langsam wirkendes Gift allmählich töten. Er sagte, er behaupte nichts, wofür er nicht unwiderlegliche Beweise beibringen könnte. Ich will nicht alle die Beleidigungen wiederholen, die er außer diesen Anschuldigungen gegen Sie geschleudert hat. Aber die Freundschaft und Achtung, die ich für Sie hege, machten es mir zur Pflicht, Ihnen zu sagen, was dieser Mensch von Ihnen behauptet, was er gegen Sie im Schilde führt, und daß er sich an das Gericht zu wenden beabsichtigt. Sie müssen von allem unterrichtet sein, damit Sie ihre Maßregeln treffen können, um seine boshafte Absicht zuschanden zu machen. Es ist in diesem Falle nicht angebracht, das Gerede eines elenden Menschen zu verachten; denn Sie kennen die Macht der Verleumdung.«

»Wo wohnt der Elende?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wo könnte ich es erfahren?«

»Auch das weiß ich nicht; denn wenn er sich absichtlich verborgen hält, so wird es schwierig sein, ihn ausfindig zu machen.«

»Lyon ist aber doch nicht so groß, daß es unmöglich sein könnte…«

»Lyon ist ein Labyrinth; nichts ist so leicht als sich hier zu verstecken, besonders wenn man Geld hat, und Passano hat ja welches.«

»Aber was kann er denn gegen mich unternehmen?«

»Er kann Ihnen einen Kriminalprozeß anhängen, der Ihnen bitteres Herzeleid machen und Sie bloßstellen wird, wären Sie auch der gerechteste und unschuldigste von allen Menschen.«

»Mir scheint, es wäre das beste, wenn ich ihm zuvorkäme.«

»Das ist auch meine Meinung; dann werden Sie aber nicht vermeiden können, daß die Sache in die Öffentlichkeit kommt.«

»Sagen Sie mir ganz offen, ob Sie bereit wären, vor Gericht zu bezeugen, was der Verleumder zu Ihnen gesagt hat.«

»Ich werde unter allen Umständen der Wahrheit die Ehre geben.«

»Seien Sie so freundlich, mir einen guten Anwalt zu nennen.«

»Hier haben Sie die Adresse eines der besten; aber überlegen Sie es sich noch einmal: die Geschichte wird Lärm machen.«

»Da ich nicht weiß, wie ich den Schurken entdecken kann, so bleibt mir kein anderer Weg übrig.«

Hätte ich Passanos Wohnung gewußt, so würde ich die Angelegenheit erstickt haben, indem ich ihn hätte ausweisen lassen; denn Frau von Urfé war eine Verwandte des damaligen Statthalters von Lyon, Herrn de Rocheboron. Es blieb mir aber keine Wahl.

Obgleich Passano ein undankbarer Verleumder war, konnte ich mich doch einer gewissen Unruhe nicht erwehren. Ich ging daher in meinen Gasthof und verfaßte sofort eine Eingabe. Ich verlangte Sicherheit für meine Person gegen einen Verräter, der sich in Lyon verborgen halte und einen Anschlag gegen mein Leben und meine Ehre plane.

Meine Eingabe war fertig, als am anderen Morgen Herr Bono zu mir kam, um mir abzuraten. Er sagte mir: »Die Polizei wird sofort Nachforschungen anstellen, wo er sich versteckt hält; sobald Ihr Feind davon Wind erhält, wird er gegen Sie Anzeige beim Kriminalgericht machen. Alsdann braucht er sich nicht mehr zu verstecken, sondern im Gegenteil, er wird Schutz vor Ihnen verlangen. Ich bin der Meinung, Sie sollten lieber Ihre Abreise beschleunigen, wenn Sie nicht etwa in Lyon wichtige Geschäfte haben.«

»Meine Abreise beschleunigen, um vor einem Passano zu fliehen? Dadurch würde ich mich in meinen eigenen Augen verächtlich machen, mein lieber Herr Bono. Da habe ich denn doch von Ehre einen anderen Begriff. Nein, lieber will ich sterben als meine Abreise auch nur um eine Stunde beschleunigen wegen eines Spitzbuben, den ich trotz seiner Unwürdigkeit mit Wohltaten überhäuft habe. Ich gäbe hundert Louis darum, wenn ich wüßte, wo der Schelm sich verborgen hält.«

»Ich bin entzückt, das nicht zu wissen. Denn wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen sagen, und Gott weiß, was daraus entstehen würde. Sie wollen also nicht früher abreisen? Gut, so kommen Sie der Anklage zuvor. Ich werde mündlich oder schriftlich, sobald Sie wollen, aussagen, was für Bemerkungen er mir gegenüber gemacht hat.«

Ich ging zu dem Anwalt, den Herr Bono mir bezeichnet hatte. Bevor ich ihm meine Angelegenheit vortrug, teilte ich ihm mit, von wem ich käme. Als er aber den Zweck meines Besuches erfahren hatte,sagte er mir: »Mein Herr, ich kann weder Ihr Anwalt noch Ihr Berater sein, denn ich bin bereits der Vertreter Ihres Gegners. Es braucht Ihnen jedoch nicht leid zu tun, daß Sie mir Ihre Absichten mitgeteilt haben; denn ich gebe Ihnen mein Wort darauf, es ist so gut, wie wenn Sie mir nichts gesagt hätten. Die Klage der Beschuldigung meines Klienten Passano wird erst übermorgen aufgesetzt werden; ich werde ihm nicht sagen, daß er sich beeilen solle, weil Sie ihm zuvorkommen könnten; denn von diesem Umstand habe ich nur auf einem Schleichweg gewissermaßen durch Überraschung Kenntnis erhalten. Gehen Sie, mein Herr; Sie werden in Lyon andere Anwälte finden, die ebenso ehrenhaft und dabei tüchtiger sind als ich.«

»Würden Sie wohl die Güte haben, mir einen zu nennen?«

»Das darf ich nicht, mein Herr; aber Herr Bono, der so freundlich war, mit Achtung von mir zu sprechen, wird Ihnen auch hierin behilflich sein können.«

»Wäre es Ihnen erlaubt, mir zu sagen, wo Ihr Klient wohnt?«

»Da sein hauptsächlichstes Bemühen ist, sich verborgen zu halten – und darin hat er recht –, so begreifen Sie wohl, daß ich nicht einen solchen Vertrauensbruch begehen kann.«

»Sie haben recht; ich danke Ihnen.«

Ich machte ihm eine Verbeugung und legte einen Louis auf seinen Tisch. Aber obwohl ich das ebenso geschickt wie zartfühlend machte, bemerkte er es doch, lief mir nach und nötigte mich, mein Geld zurückzunehmen.

»Das ist aber wirklich ein ehrlicher Anwalt!« dachte ich bei mir selber. Unterwegs faßte ich den Plan, dem niederträchtigen Passano einen Spion auf den Hals zu schicken, der ihn schließlich wohl entdecken würde; denn ich hatte in meiner gerechten Wut eine sehr starke Lust, ihn von ein paar Leuten totschlagen zu lassen. Wo sollte ich aber einen Spion finden in dieser Stadt, die mir so wenig bekannt war? Mit diesen Gedanken beschäftigt, kam ich zu Herrn Bono. Er nannte mir einen andern Anwalt und riet mir, mich zu beeilen; denn bei einem Kriminalprozeß habe der erste Kläger stets den Vorteil. Ich bat ihn, mir zu sagen, wie ich einen geschickten und zuverlässigen Menschen bekommen könnte, der Passanos Anwalt beobachten und auf diese Weise die Wohnung des Schurken entdecken könnte. Der ehrliche Bankier weigerte sich jedoch, mir diesen Gefallen zu tun. Er bewies mir sogar, daß ich eine unehrliche Handlung begehen würde, wenn ich den Anwalt beobachten ließe. Das wußte ich auch. Aber wo ist der Mensch, der sich nicht von seinem Zorn, mag dieser gerecht oder ungerecht sein, so weit hinreißen läßt, daß er nicht mehr auf die Stimme der Vernunft hört! Der Zorn ist ja doch die stärkste Leidenschaft.

Ich ging zu dem zweiten Anwalt, einem ehrwürdigen Greise von großer Klugheit. Ich trug ihm meinen Fall mit allen Umständen vor und fragte ihn, ob er die Sache übernehmen wolle. Er erklärte sich dazu bereit und sagte mir, er werde meine Klage im Laufe des Tages einreichen.

»Dies ist allerdings mein Wunsch,« rief ich; »denn von dem Anwalt meines Verleumders habe ich gehört, daß die Anschuldigung übermorgen eingereicht werden soll.«

»Nicht deshalb, mein Herr, müssen wir schnell vorgehen; denn Sie dürfen von der vertraulichen Mitteilung, die mein Kollege Ihnen gemacht hat, keinen unrechten Gebrauch machen.«

»Es ist aber doch nicht unrecht, sich eine Nachricht zunutze zu machen, die man zufällig erfahren hat.«

»Das kann zuweilen zutreffen; in diesem Fall dürfen wir um deswillen keine Zeit verlieren, weil die Natur der Angelegenheit Eile erheischt. Prior in tempore, potior in jure. Die Klugheit verlangt, den Feind anzugreifen. Seien Sie so freundlich, heute Nachmittag um drei Uhr bei mir wieder vorzusprechen.«

»Ich werde pünktlich sein. Einstweilen, mein Herr, hier sechs Louis.«

»Ich werde sie Ihnen in Rechnung stellen.«

»Ich bitte Sie, das Geld nicht zu schonen!«

»Mein Herr, ich werde nur so viel ausgeben, wie unbedingt notwendig ist.«

Es kam mir beinahe vor, wie wenn die Redlichkeit die Stadt Lyon zu ihrem besonderen Wohnsitze erwählt hätte. Doch muß ich hier eine Wahrheit bekannt geben, die für die französische Anwaltschaft ehrenvoll ist: nirgends habe ich so redliche Anwälte gefunden wie in Frankreich.

Nachdem ich um drei Uhr die Klageschrift fertig und gut geschrieben gefunden hatte, ging ich zu Frau von Urfé. Ich blieb bei ihr vier Stunden und baute Pyramiden, die sie mit Freude erfüllten. Trotz meiner schlechten Laune mußte ich doch unwillkürlich lachen über die tausend verrückten Fragen, die sie wegen ihrer Schwangerschaft an mich richtete. Sie war gewiß, daß sie schwanger war! Sie fühlte bereits alle Symptome! Sie sagte mir ferner, es sei ihr recht schmerzlich, daß sie nicht über alle die verschiedenen Mutmaßungen würde lachen können, die die Pariser Ärzte wegen ihrer Schwangerschaft aufstellen würden. Ganz sicherlich würde man diese in ihrem Alter höchst verwunderlich finden.

Als ich in mein Gasthaus zurückkam, war Marcolina traurig. Sie sagte mir, sie habe auf mich gewartet, da ich ihr versprochen habe, sie ins Theater zu begleiten. »Du hättest mich nicht warten lassen dürfen.«

»Du hast recht, liebes Herz; aber du wirst mir verzeihen, denn eine dringliche Angelegenheit hat mich bei der Marquise zurückgehalten. Sei vernünftig!«

Ich hatte selber nötig, diesen Rat zu befolgen; denn die Geschichte mit dem Passano quälte mich, und ich schlief sehr schlecht. Früh am anderen Morgen ging ich zu meinem Anwalt; er sagte mir, meine Klage sei bei der Registratur des Kriminalstatthalters eingereicht. »Für den Augenblick«, setzte er hinzu, »haben wir nichts mehr zu tun; denn da wir nicht wissen, wo er ist, so können wir ihn nicht vorladen.«

»Könnten wir nicht die Polizei bitten, sie möge ihn auszukundschaften versuchen?«

»Das könnten Sie; aber ich rate Ihnen nicht dazu. Lassen wir ihn lieber kommen! Da der Ankläger seinerseits angeklagt ist, so wird er an seine Verteidigung denken müssen. Er wird die Verbrechen beweisen müssen, deren er Sie beschuldigen will. Wenn er nicht zum Vorschein kommt, werden wir ihn in contumaciam zu allen Strafen verurteilen, die die Verleumder treffen. Sein Anwalt selber wird sich von ihm lossagen, wenn er nicht ebenso offen auftritt wie Sie.«

Diese Darstellung beruhigte mich ein wenig. Ich verbrachte den Tag mit Frau von Urfé zusammen, die am anderen Morgen abreisen sollte, und ich versprach ihr, in Paris zu sein, sobald ich einige Angelegenheiten erledigt hätte, die die Ehre des Ordens angingen.

Ihr Hauptgrundsatz war: meine Geheimnisse zu achten und mich niemals zu belästigen. Marcolina, die sich den ganzen Tag allein gelangweilt hatte, atmete auf, als ich ihr sagte, ich sei jetzt wieder ganz der ihre. Am nächsten Morgen kam Herr Bono zu mir und bat mich, mit ihm zu Passanos Anwalt zu gehen, der mit mir zu sprechen wünsche. Der Anwalt sagte mir, sein Klient sei ein Wahnsinniger, der sich einbilde, vergiftet zu sein, und aus diesem Grunde in seiner Verzweiflung zu allem imstande sei.

»Er behauptet, er werde Sie zum Tode verurteilen lassen, obgleich Sie ihm allerdings zuvorgekommen seien. Er ist bereit, sich ins Gefängnis werfen zu lassen; denn er sagte, er werde als Sieger daraus hervorgehen, da er für alle seine Behauptungen Zeugen habe. Er zeigte fünfundzwanzig Louis, die Sie ihm in Marseille gegeben haben; sie sind sämtlich beschnitten. Er hat aus Genua zwei Bescheinigungen, aus denen hervorgeht, daß Sie eine Anzahl Quadrupel beschnitten haben, die ein Herr von Grimaldi durch einen Goldschmied hat einschmelzen lassen, damit man sie nicht bei der Haussuchung fände, die die Regierung bei Ihnen vornehmen lassen würde, um Sie des Verbrechens zu überführen. Er hat sogar einen Brief von Ihrem Bruder, dem Abbate, der gegen Sie aussagt. Er ist ein Tobsüchtiger, den ein venerisches Leiden verzehrt, und der nun, wenn es möglich wäre, Sie vor ihm in die andere Welt möchte gehen sehen. In Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen: geben Sie ihm Geld, um ihn los zu werden. Er hat mir gesagt, er sei Familienvater, und wenn Herr Bono ihm tausend Louis geben wollte, so werde er alle seine berechtigten Klagen seinen Bedürfnissen aufopfern. Er hat mich beauftragt, mit Herrn Bono darüber zu sprechen. Was antworten Sie, mein Herr?«

»Was meine gerechte Entrüstung mir gegen einen Schuft eingibt, den ich in meiner Gutmütigkeit aus dem Elend errettet habe, und der mich jetzt mit abscheulichen Verleumdungen verfolgt. Er soll niemals einen Sou von mir bekommen.«

Hierauf erzählte ich den Vorfall von Genua ganz der Wahrheit gemäß, und sagte ihm, Herr von Grimaldi würde notwendigerweise bereit sein, die Wahrheit meiner Darstellung zu bescheinigen.

»Ich habe«, sagte der Advokat, »bis jetzt die Einreichung der Klage noch hinausgeschoben, um zu sehen, ob es kein Mittel gegen den Skandal gebe, der die Folge davon sein muß; aber ich werde sie jetzt einreichen.«

»Ich bitte Sie darum und werde Ihnen unendlich verpflichtet sein.«

Ich ging sofort zu meinem Anwalt und berichtete ihm den Vorschlag des Spitzbuben. Er lobte mich besonders, weil ich jede Auseinandersetzung mit einem solchen Menschen zurückgewiesen hätte. Da Herr Bono für mich zeugen wollte, so müsse ich Passanos Anwalt nötigen, seine Klage einzureichen, die nach seiner Behauptung bereits niedergeschrieben sei. Ich gab ihm Vollmacht, die Aufforderung in meinem Namen zu erlassen.

Sofort wurde ein Gerichtsschreiber zum Kriminalstatthalter geschickt, damit dieser den Anwalt auffordere, binnen drei Tagen eine Klage wegen Kriminalvergehens einzureichen. Diese Klage befinde sich in seinen Händen und rühre von einem Quidam her, der sich bald Anami, bald Pogomas, bald Passano nenne. Die Klage sei gegen Giacomo Casanova, genannt Chevalier von Seingalt gerichtet. Nachdem ich das Schriftstück eigenhändig unterzeichnet hatte, wurde es dem Kriminalstatthalter übergeben.

Ich wollte von der dreitägigen Frist nichts wissen; mein Anwalt sagte mir jedoch, dies sei eine Vorschrift, die sich nicht umgehen lasse; übrigens heiße es jetzt jacta est alea und ich müsse mich auf alle Unannehmlichkeiten gefaßt machen, die der Prozeß mir im Falle des allerglücklichsten Ausganges verursachen werde.

Frau von Urfé war abgereist, wie Paralis es ihr befohlen hatte. Ich speiste im Gasthof mit Marcolina und machte alle möglichen Versuche, mich aufzuheitern. Ich führte das reizende Mädchen zu den angesehensten Modistinnen und kaufte ihr alles, was sie sich zu wünschen schien. Hierauf ging ich mit ihr ins Theater, wo sie alle Blicke auf sich lenkte. Madame Pernon, die in der nächsten Loge neben der unsrigen saß, veranlaßte mich, ihr meine Venetianerin vorzustellen. An der Art und Weise, wie sie nach der Vorstellung sich umarmten, sah ich, daß es zur größten Vertraulichkeit zwischen ihnen kommen würde. Es war nur ein Hindernis vorhanden: Madame Pernon sprach kein Wort italienisch, und Marcolina wagte nicht gegen mein Verbot französisch zu sprechen; denn ich hatte ihr gesagt, sie werde sich dadurch lächerlich machen. Als wir wieder in unserem Gasthof waren, sagte Marcolina mir, ihre neue Bekannte habe ihr den florentinischen Kuß gegeben. Das war das Erkennungszeichen der Sekte.

Selig über die tausend Kleinigkeiten, die ich ihr gekauft hatte, bot sie alle Glut auf, um mir ihre Dankbarkeit zu bezeugen, und wir verbrachten eine der muntersten Nächte.

Am nächsten Tage besuchte ich wieder eine Anzahl Seidenfabriken und kaufte neue Kleider für Marcolina; am Abend speisten wir in fröhlicher Gesellschaft bei Frau Pernon.

Am dritten Tage kam Herr Bono schon in aller Frühe zu mir; er schien bedrückt zu sein, obgleich er ein sehr vergnügtes Gesicht machte. Er forderte mich auf, im Kaffeehause mit ihm zu frühstücken, da er etwas mit mir zu besprechen habe. Dort zeigte er mir einen Brief, worin der schurkische Passano ihm schrieb, er sei bereit, seine Ansprüche aufzugeben; dies habe ihm sein Anwalt geraten, der eine Anzeige vorgefunden habe, gegen die er keinen Widerstand leisten wolle. Zum Schluß schrieb er: »Veranlassen Sie Herrn de Seingalt, mir hundert Louis zu geben, und ich werde unverzüglich abreisen.«

»Da wäre ich ja verrückt,« rief ich, »wenn ich diesem Spitzbuben noch Geld gäbe, damit er sich dem Arme der Gerechtigkeit entziehen kann. Er soll gehen, wohin er will; ich werde ihm kein Hindernis in den Weg legen; aber von mir soll er nichts erwarten! Morgen wird ihm der Haftbefehl zugestellt werden; wenn ich kann, will ich zusehen, wie er von Henkers Hand gebrandmarkt wird. Die Verleumdungen, die er sich gegen mich, seinen Wohltäter, erlaubt hat, sind zu stark. Sie verletzen meine Ehre zu tief, und ich verlange daher, daß er sie beweist oder vom Gericht für ehrlos erklärt wird.«

»Ein Zurückziehen der Beschuldigung in aller Form,« antwortete Herr Bono mir, »könnte nach meiner Meinung Ihnen als Rechtfertigung dienen, und Sie sollten diesen Ausgang einem Prozeß vorziehen, der, selbst wenn Sie triumphieren, Ihnen unfehlbar in der öffentlichen Meinung empfindlichen Schaden verursachen würde. Übrigens sind diese hundert Louis gar nichts im Vergleich zu den Kosten, die Ihnen der Prozeß verursachen wird.«

»Herr Bono, ich schätze Ihre Meinung hoch und schätze noch höher das Gefühl des Wohlwollens, das Sie veranlaßt, mir Ihren Rat zu geben; aber gestatten Sie, daß ich diesmal nach meinem eigenen Kopfe handle.«

Ich berichtete meinem Anwalt den Vorschlag, der mir gemacht worden war, und sagte ihm, ich wolle mich auf nichts einlassen und bitte ihn, die vom Gesetz vorgeschriebenen Schritte zu tun, um den Schurken, der mir den Tod geschworen habe, verhaften zu lassen.

Am selben Abend hatte ich Frau Pernon und Herrn Bono, der ihr Liebhaber war, bei mir zu Tisch. Da der Bankier sehr gut italienisch sprach, hatte Marcolina das Vergnügen, durch ihre witzigen Bemerkungen zur Erheiterung der Gesellschaft beizutragen.

Am anderen Tage schrieb Bono mir, Passano sei auf Nimmerwiedersehen abgereist; vorher habe er schriftlich alles widerrufen, und zwar in einer Form, die mich unbedingt zufriedenstellen müsse. Ich fand seine Flucht erklärlich; sein Widerruf dagegen kam mir unwahrscheinlich vor, oder wenigstens, daß er es freiwillig sollte getan haben. Ich suchte also sofort Herrn Bono auf, der mir zu meiner Überraschung einen schriftlichen Widerruf in aller Form vorlegte.

»Sind Sie damit zufrieden?« fragte er mich.

»Mehr als zufrieden: ich verzeihe ihm. Aber ich finde es überraschend, daß er nicht auf seinen hundert Louis bestanden hat.«

»Lieber Freund, ich habe sie ihm gegeben, und zwar mit Vergnügen, damit ein Skandal, der uns allen geschadet haben würde, nicht an die Öffentlichkeit komme. Wenn ich Ihnen nichts gesagt hätte, so würden Sie nichts unternommen haben. Darum habe ich mich für verpflichtet gehalten, das ganze angerichtete Unheil durch dieses Opfer wieder gutzumachen, von dem Sie nichts erfahren haben würden, wenn Sie mir gesagt hätten, es wäre Ihnen nicht recht. Es freut mich sehr, daß ich durch diese Kleinigkeit Ihnen meine Freundschaft habe beweisen können. Sprechen wir nicht mehr davon!«

»Gut, lieber Freund,« sagte ich zu ihm, indem ich ihn umarmte, »sprechen wir nicht mehr davon! Aber stellen Sie mir diesen Betrag in Rechnung, und seien Sie versichert, daß ich Ihnen dankbar bin.«

Ich gestehe, daß ich mich sehr erleichtert fühlte, nachdem ich mir diese fatale Sache vom Halse geschafft hatte.

Siebentes Kapitel


Ich treffe in Lyon die venetianischen Gesandten und Marcolinas Oheim. – Ich trenne mich von dem reizenden Mädchen und fahre nach Paris. – Verliebte Reise mit Adele.

Da ich nun die Sorgen los war, die Passanos abscheuliche Verleumdung mir verursacht hatte, überließ ich mich dem Liebesglück, das meine schöne Venetianerin mir gewährte, und unterließ nichts, was das Glück des herrlichen Geschöpfes erhöhen konnte. Es war, wie wenn ich ein Vorgefühl gehabt hätte, daß ich mich bald von ihr würde trennen müssen.

Am Tage nach dem Abend, wo wir mit Frau Pernon und Herrn Bono zusammen gespeist hatten, saß ich mit diesen und mit meiner Marcolina zusammen im Theater. Plötzlich bemerkte ich in der gegenüberliegenden Loge Herrn Querini, den Prokurator Morosini, Herrn Memmo und den Professor an der Universität Padua, Grafen Stratico. Ich kannte alle diese Herren. Sie waren auf der Rückreise von London nach ihrer Heimat. Leb wohl, meine liebe Marcolina! sagte ich bei mir selber, das Herz von Kummer zerrissen. Aber ich blieb ruhig und sagte ihr kein Wort. Ich freute mich nur, daß sie, von ihrer Unterhaltung mit Herrn Bono gänzlich in Anspruch genommen, nichts bemerkte. Übrigens kannte sie keinen einzigen von den Herren. Ich sah, daß Herr Memmo mich bemerkt hatte, und daß er mich dem Prokurator zeigte, der mich sehr gut kannte. Ich hielt es daher für unbedingt notwendig, sofort zu ihnen hinüberzugehen und ihnen meine Aufwartung zu machen.

Der Botschafter Querini empfing mich für einen Frommen, wie er es war, sehr höflich, desgleichen Herr Morosini; Memmo war sichtlich aufgeregt, denn er erinnerte sich wohl, welchen Anteil seine Mutter an der Verschwörung gehabt hatte, die mich acht Jahre vorher unter die Bleidächer gebracht hatte.

Ich beglückwünschte die Herren zu ihrer Gesandtschaft, die sie an den Hof Georgs des Dritten geführt hatte, und zu ihrer Rückkehr in die Heimat. Ganz nebenbei empfahl ich mich auch ihrem Schutze und ihrer Fürsprache, um selber eines Tages nach Venedig zurückkehren zu können. Morosini sagte zu mir mit einer Anspielung auf mein glänzendes Auftreten: ich sei glücklicher als er, daß ich der Heimat fernbleiben müsse; denn er kehre dorthin nur zurück, weil die Pflicht ihn rufe. Ich antwortete ihm: »Euer Exzellenz wissen wohl, daß nichts so süß schmeckt wie verbotene Frucht.« Er lächelte und fragte mich, woher ich komme und wohin ich gehe.

»Ich komme von Rom; ich habe dort einige Zeit zugebracht, und der Heilige Vater, dem ich vorgestellt zu werden Gelegenheit hatte, war so gnädig, mich zu seinem Ritter zu machen. Ich gehe nach Paris, wo ich mich jedoch nur kurze Zeit aufhalten werde, da ich die Absicht habe, mich nach London zu begeben.«

»Besuchen Sie mich doch, wenn Sie Zeit haben; ich werde Ihnen eine kleine Besorgung anvertrauen.«

»Ich werde stets Zeit haben, wenn es sich darum handelt. Eurer Exzellenz gefällig zu sein. Werden Sie sich für einige Zeit aufhalten, gnädiger Herr?«

»Drei oder vier Tage.«

Als ich wieder in unsere Loge zurückkam, fragte Marcolina mich, wer die Herren wären, die ich begrüßt hätte. Ich sagte ihr in ruhigem und gleichgültigem Tone, indem ich sie jedoch zugleich beobachtete: »Es sind die venetianischen Gesandten, die von London zurückkehren.«

Sofort wichen ihre schönen Farben einer tödlichen Blässe; sie schlug ihre Augen zum Himmel auf, senkte sie dann wieder und sprach kein Wort mehr. Mir war das Herz gebrochen. Nach einigen Augenblicken fragte sie mich in sanftem Tone, wer von ihnen Herr Querini sei; ich zeigte ihn ihr und bemerkte dann während der ganzen Aufführung, daß sie ihn fortwährend mit verstohlenen Blicken beobachtete. Als der Vorhang gefallen war, gingen wir hinunter. An der Tür begegneten wir den Gesandten, die auf ihren Wagen warteten. Der meinige stand in der Reihe vor den ihren. Während wir warteten, sagte der Botschafter Querini zu mir:

»Sie haben da eine reizende junge Dame bei sich.«

Ohne mir Zeit zur Antwort zu lassen, ergriff Marcolina seine Hand und küßte sie.

Ganz erstaunt dankte Querini ihr und fragte: »Warum denn diese Ehre mir?«

»Weil ich,« antwortete Marcolina ihm auf venetianisch, »die Ehre habe, Ihre Exzellenz Monsignore Querini zu kennen.«

»Was machen Sie hier bei Herrn Casanova?«

»Er ist mein Oheim.«

Da mein Wagen vorgefahren war, verabschiedete ich mich mit einer tiefen Verbeugung, reichte meiner improvisierten Nichte den Arm und stieg mit ihr ein. Dann rief ich: »Nach dem Park!« Dies war der erste Gasthof von Lyon, und es war mir recht angenehm, die Herren wissen zu lassen, daß ich dort wohnte.

Marcolina war in Verzweiflung, denn sie sah voraus, daß unsere Trennung unmittelbar bevorstände. Mit Tränen in den Augen speisten wir zu Abend. »Wir haben noch drei oder vier Tage für uns,« sagte ich zu ihr; »wir werden sehen, wie wir ein Gespräch mit deinem Oheim Mattio zustande bringen können. Daß du Herrn Querini die Hand geküßt hast, gefiel mir sehr, liebes Kind; es war ein Meisterstreich von dir. Ich sehe voraus, daß alles gut gehen wird; aber ich bitte dich: sei fröhlich; denn die Traurigkeit tötet mich!«

Wir saßen noch bei Tisch, als ich im Vorzimmer die Stimme des jungen Memmo hörte, den ich als einen liebenswürdigen und geistreichen Kavalier stets sehr gern gehabt hatte. Schnell bat ich Marcolina, von unseren Angelegenheiten kein Wort zu sagen und recht lustig zu sein, dabei aber Maß zu halten. Der Lohndiener meldete den jungen Herrn. Wir standen auf, um ihn zu begrüßen; er nötigte uns jedoch wieder Platz zu nehmen, setzte sich zu uns und trank mit der größten Freundlichkeit ein Glas Wein. Er erzählte uns ausführlich, daß die Gesandten bei ihrem Abendessen herzlich darüber gelacht hätten, daß eine schöne junge Venetianerin dem frommen, alten Herrn von Querini die Hand geküßt hätte; Querini selber hätte sich trotz seinen sonstigen Gewissensbedenken dadurch lebhaft geschmeichelt gefühlt.

»Dürfte ich mir die Frage erlauben, mein Fräulein, woher Sie Herrn von Querini kennen?«

»Dies, mein Herr, ist ein Geheimnis.«

»Ein Geheimnis! Oh, da werden wir morgen lachen!« Und zu mir sich wendend, fuhr Memmo fort: »Ich soll Sie im Auftrag der Gesandten bitten, morgen mit Ihrer reizenden Nichte bei ihnen zu Mittag zu speisen.«

»Willst du hingehen, Marcolina?«

»Con grandissimo piacere! Wir werden venetianisch sprechen, nicht wahr?«

»Selbstverständlich.«

»Evviva! Es ist mir unmöglich französisch zu lernen.«

»Herrn von Querini geht es gerade so!« sagte Memmo.

Nachdem wir uns eine halbe Stunde sehr lustig unterhalten hatten, entfernte er sich, und Marcolina umarmte mich mit verdoppelter Zärtlichkeit, voller Freude darüber, daß sie auf die Herren einen angenehmen Eindruck gemacht hatte.

Ich sagte zu ihr: »Morgen wirst du dir dein elegantestes Kleid anziehen; vergiß auch deinen Schmuck nicht! Bei Tisch mußt du gegen alle Herren reizend sein; du mußt, jedoch in unauffälliger Weise, so tun, wie wenn du deinen Oheim Mattio nicht sähest. Ich bin überzeugt, daß er bei Tisch bedienen wird.«

»Laß mich nur machen; ich werde deine Ratschläge befolgen.«

»Und ich, meine Liebe, werde die Erkennungsszene auf eine dramatische und interessante Weise herbeiführen; denn ich will es dahin bringen, daß Herr Querini selber dich mit sich nach Venedig nimmt und daß dein Oheim auf seinen Befehl es übernimmt, für dich zu sorgen.«

»Ich bin von diesem Plan entzückt. Wenn er nur gelingt!«

»Dafür werde ich sorgen. Verlaß dich auf meine Geschicklichkeit.«

Am anderen Morgen um neun Uhr verließ ich Marcolina, die noch mit dem Ankleiden beschäftigt war, und begab mich zu Herrn Morosini, um dessen Aufträge in Empfang zu nehmen. Er übergab mir ein versiegeltes Kästchen für Lady Harrington nebst einem Brief; außerdem einen anderen offenen Brief, der nur wenige Zeilen enthielt und folgendermaßen lautete:

»Der Procuratore Morosini ist abgereist und hat sehr bedauert, daß er von Fräulein Charpillon nicht noch einen letzten Abschied hat nehmen können.«

»Wo werde ich die Dame finden?«

»Das weiß ich nicht. Wenn Sie sie finden, geben Sie ihr das Briefchen; wenn nicht, so schadet es auch nichts. Sie haben da, mein lieber Casanova, eine blendende junge Schönheit bei sich.«

»Ich bin auch wirklich von ihr geblendet.«

»Aber woher kennt sie Querini?«

»Sie hat ihn zufällig in Venedig gesehen, aber niemals mit ihm gesprochen.«

»Das glaube ich. Wir haben herzlich gelacht; denn Querini legt diesem Zusammentreffen eine große Bedeutung bei. Aber woher haben Sie denn diese Venetianerin, die offenbar noch gar nicht in der Gesellschaft verkehrt hat? Denn, wie Memmo mir gesagt hat, spricht sie nicht französisch.«

»Das wäre eine lange Geschichte, die schließlich darauf hinauslaufen würde, daß alles der reine Zufall war.«

»Sie ist natürlich nicht Ihre Nichte.«

»Sie ist mehr als das: sie ist meine Königin.«

»Sie müssen sie französisch lernen lassen, denn in London…«

»Ich werde sie nicht dorthin mitnehmen; denn sie will nach Venedig zurückkehren.«

»Wenn Sie sie lieben, so beklage ich Sie. Sie wird doch hoffentlich mit uns speisen?«

»Sie ist entzückt ob dieser Ehre.«

»Und wir sind entzückt, daß eine so schöne Dame unser Mahl beleben wird.«

»Sie werden sie würdig finden, daran teilzunehmen; denn sie ist sehr geistvoll.«

In meinen Gasthof zum Park zurückgekehrt, sagte ich zu Marcolina: »Wenn man während der Mahlzeit oder nachher auf deine Rückkehr nach Venedig zu sprechen kommt, so mußt du erklären, daß auf der ganzen Welt kein Mensch außer Herrn Ouerini dich veranlassen könne, dorthin zurückzukehren; du seist jedoch bereit, nach deinem Vaterlande zu reisen, wenn er dich selbst unter seinen Schutz und dein Vermögen in Verwahrung nehmen wolle. Ich übernehme es, dich aus der Verlegenheit zu ziehen, sobald du dies gesagt hast.«

Marcolina versprach mir, meine Lehren zu befolgen. Sie hatte auch getan, was ich ihr in bezug auf ihren Anzug geraten hatte: in ihrem herrlichen Schmuck strahlte sie von Jugendfrische und Schönheit. Da ich in den Augen meiner stolzen aristokratischen Landsleute glänzen wollte, so kleidete ich mich ebenfalls sehr reich: ich trug einen Rock von aschgrauem geschorenem Samt, mit Gold und Silber gestickt, dazu ein Spitzenhemd, das wenigstens fünfzig Louis wert war. Meine Diamanten, meine Uhren mit ihren brillantenbesetzten Ketten, mein Degen vom schönsten englischen Stahl, meine mit herrlichen Brillanten besetzte Tadakdose, mein Ritterkreuz mit Brillanten und meine Schuhschnallen, die mit den gleichen Edelsteinen besetzt waren – das alles zusammen stellte einen Wert von mehr als hundertfünfzigtausend Franken dar. Dieses Schaugepränge war allerdings an sich kindisch, aber es war durch die Zeit und besonders durch die Umstände begründet: ich wollte, Herr von Bragadino sollte erfahren, daß ich in der Welt keine schlechte Figur spielte; die tyrannischen Oberen, die mich gezwungen hatten, meine Heimat ohne andere Mittel als meinen Geist zu verlassen, sollten wissen, daß ich davon so guten Gebrauch gemacht hatte, um sie auslachen zu können.

In diesem glänzenden Aufzuge begaben wir uns also um halb zwei zum Diner bei den Gesandten.

Die Gesellschaft, die aus lauter Venetianern bestand, empfing Marcolina mit einer Art von Bewunderung. Das junge Mädchen hatte ein natürliches Gefühl für die gesellschaftlichen Formen und bewegte sich mit der Anmut einer Nymphe und mit der ganzen Würde einer französischen Prinzessin. Nachdem sie inmitten dieser glänzenden Gesellschaft zwischen zwei würdigen Senatoren Platz genommen hatte, begann sie das Gespräch mit der Bemerkung, sie sei entzückt, sich als einzige Angehörige ihres Geschlechtes in einer so ausgezeichneten Gesellschaft zu sehen, in der sich kein einziger Franzose befinde.

»Sie lieben also die Franzosen nicht, Signora?« fragte Memmo sie.

»Ich finde sie sehr nett; aber ich kann sie nur nach ihrem Äußeren beurteilen, da ich ihre Sprache nicht verstehe.«

Nachdem sie diese Probe von ihrem Geist gegeben hatte, wußten alle Anwesenden, welchen Ton sie anzuschlagen hatten, und ein jeder fühlte sich behaglich.

Man richtete lachende Bemerkungen an sie, die sie mit dem größten Anstand entgegen nahm; sie gab stets treffende Antworten, stellte niemals eine Frage und trug auf anmutige Weise ihre Beobachtungen über die französischen Sitten vor, die von den venetianischen Bräuchen so verschieden seien.

Bei Tisch fragte Herr von Querini sie, woher sie ihn kenne. Sie antwortete, sie habe ihn hundertmal beim Gottesdienst bemerkt. Diese Worte schienen dem frommen Herrn sehr zu schmeicheln. Herr von Morosini stellte sich, als ob er nicht wüßte, daß sie nach Venedig zurückkehren wollte, und sagte zu ihr, sie müsse sich bemühen, die französische Sprache zu erlernen, die die Sprache aller Nationen sei; sonst werde sie sich in London langweilen, denn dort sei die italienische Sprache sehr wenig in Gebrauch.

»Ich hoffe,« antwortete sie, »Herr von Seingalt wird die Gefälligkeit haben, mich nur mit Personen zusammenzubringen, mit denen ich meine Gedanken austauschen kann, wie er es bis jetzt getan hat; denn wenn ich nur durch Studium französisch lernen soll, so sehe ich voraus, daß dies mir niemals gelingen wird.«

Nachdem wir gespeist hatten, baten die Gesandten mich, ihnen die Geschichte meiner Flucht aus den Bleikammern zu erzählen, und ich war gern bereit, ihren Wunsch zu erfüllen. Meine Erzählung dauerte zwei Stunden ohne Unterbrechung, und da alle bemerkt hatten, daß Marcolina Tränen in den Augen hatte, als ich die gefahrvollen Augenblicke erzählte, so griff man sie scherzhaft an und sagte, für eine Nichte habe sie sich zu gefühlvoll gezeigt.

»Für eine Nichte?« antwortete sie; »das könnte wohl sein, meine Herren, obwohl ich nicht einsehe, warum nicht eine Nichte ihren Oheim zärtlich lieben sollte. Ich, meine Herren, habe – ganz abgesehen von dem Namen, den unser Verhältnis hat – stets nur den Helden der Geschichte geliebt, und ich vermag nicht zu begreifen, was für ein Unterschied zwischen Liebe und Liebe sein kann.«

»Es gibt,« bemerkte Herr von Querini, »fünf Arten von Liebe in der menschlichen Natur: die Liebe zum Nächsten, die Liebe zu Gott, die die höchste von allen ist, die Liebe zum Gatten, die Liebe zur Familie und die Liebe zu sich selber, die als letzte hinter allen andern stehen muß, obgleich viele Leute sie in die erste Reihe stellen.«

Der Senator erklärte hierauf in aller Kürze die verschiedenen Arten von Liebe; als er an die Liebe zu Gott kam, riß ihn die Begeisterung fort, und ich sah mit dem höchsten Erstaunen Marcolina reichliche Tränen vergießen, die sie schnell wieder abtrocknete, wie wenn sie sie dem guten alten Herrn hätte verbergen wollen, in dem der Wein noch mehr als sonst den Theologen erweckt hatte. Marcolina küßte ihm mit gut gespielter Begeisterung die Hand; hiervon fortgerissen, nahm der eitle Greis sie liebevoll beim Kopf, küßte sie auf die Stirn und sagte: »Poveretta! Sie sind ein Engel!«

Bei diesem Ausruf, woran die Liebe zum Nächsten mehr Anteil hatte als die Liebe zu Gott, bissen wir alle uns auf die Lippen, um nicht laut herauszulachen; die Spitzbübin aber tat, wie wenn sie tief gerührt wäre.

Erst an diesem Tage lernte ich Marcollna recht kennen; denn als wir wieder in unserem Gasthof waren, gestand sie mir, sie habe sich absichtlich so gerührt gestellt, um das Herz des alten Herrn zu gewinnen; wenn sie ihrer Neigung nachgegeben hätte, würde sie ihm laut ins Gesicht gelacht haben. Das junge Mädchen war dazu geboren, eine Rolle zu spielen, sei es auf einer Bühne, sei es auf einem Throne – was so ziemlich auf das Gleiche hinauskommt. Der Zufall hatte sie in der Dunkelheit der niederen Stände geboren werden lassen, und ihre Erziehung war vernachlässigt worden, wie es eben beim Volk ist; hätte sie eine sorgfältige Erziehung und guten Unterricht empfangen, so wäre sie würdig gewesen, die glänzendste Rolle zu spielen.

Bevor wir die edle Gesellschaft verließen, wurden wir dringend gebeten, am nächsten Tage wieder zum Mittagessen zu kommen.

Da wir das Bedürfnis empfanden, allein beisammen zu sein, so gingen wir an diesem Abend nicht ins Theater. Als wir in unserer Wohnung waren, konnte ich vor Ungeduld nicht einmal so lange warten, bis sie sich ausgekleidet hatte, um sie mit meinen Küssen zu bedecken.

»Liebste Marcolina, so hast du also bis zu den letzten Augenblicken unserer nur allzu süßen Verbindung gewartet, um mir alle deine Vollkommenheiten zu enthüllen, damit ich mein Leben lang bedaure, daß ich dich habe nach Venedig zurückkehren lassen? Heute hast du alle Herzen gefangen genommen.«

»Nun, mein lieber Giacomo, so behalte mich doch, und ich werde alle Tage sein wie heute. Hast du übrigens meinen Oheim gesehen?«

»Ich glaube, ihn gesehen zu haben. Ist es nicht der Alte, der dich bei Tisch die ganze Zeit über bedient hat?«

»Ganz recht. Ich habe ihn an seinem Ring erkannt. Hat er mich angesehen?«

»In einemfort, und zwar mit einem ganz erstaunten Gesicht. Ich habe es vermieden, ihn fest anzusehen, weil seine Blicke fortwährend zwischen dir und mir hin und her schweiften.«

»Ich möchte wohl wissen, was der gute Mann sich denkt! Morgen wirst du etwas Neues erleben, lieber Freund; denn ich bin überzeugt, er wird Herrn Querini gesagt haben, daß ich seine und folglich nicht deine Nichte bin.«

»Das glaube ich auch.«

»Und wenn Herr von Querini morgen mir das sagt, so werde ich es wohl zugeben müssen, glaube ich. Was meinst du dazu?«

»Das ist unbedingt notwendig; aber es muß auf die vornehmste Art geschehen: in ganz herzlicher Weise und ohne irgendwelche Andeutungen, daß du seiner bedürfest, um nach Venedig zurückzukehren. Er ist nicht dein Vater und hat durchaus kein Recht, über deine Freiheit zu verfügen.«

»Oh nein, das hat er gewiß nicht.«

»Gut! Du wirst ferner zugeben, daß ich nicht dein Oheim bin, und daß wir durch das zärtlichste Band miteinander vereinigt sind. Hast du irgend etwas dagegen einzuwenden?«

»Wie kannst du nur so fragen? Ich bin stolz auf das Band, das mich mit dir vereinigt, und es würde mich für mein Leben glücklich machen, wenn unser Verhältnis dauern könnte.«

»Nun, ich werde dir also gar nichts mehr sagen; du bist klug, und ich verlasse mich vollkommen auf dich. Denke daran, daß nur Querini und kein anderer dich nach Venedig bringen darf; er muß dich behandeln, wie wenn du seine Tochter wärest. Unter anderen Bedingungen würdest du nicht mit ihm gehen.«

»Gott gebe es!«

Am anderen Morgen erhielt ich schon in aller Frühe ein Briefchen von Herrn von Querini. Er bat mich, bei ihm vorzusprechen, da er mir eine wichtige Mitteilung zu machen habe. »Die Geschichte ist im Gange!« rief Marcolina. »Ich freue mich, daß es so gekommen ist; denn wenn du wiederkommst, wirst du mir Wort für Wort erzählen, was ihr miteinander gesprochen habt, und ich kann mich dann danach richten.«

Der Einladung folgend, ging ich zu Herrn Querini, bei dem ich auch Morosini fand. Sie gaben mir die Hand, und Querini bat mich Platz zu nehmen, indem er bemerkte, die Anwesenheit seines Freundes bei unserer Zusammenkunft werde nur von Vorteil sein.

Dann fuhr er fort: »Herr Casanova, ich habe Ihnen eine vertrauliche Mitteilung zu machen; zuvor muß ich jedoch eine solche von Ihnen erbitten.«

»Ich habe zu Eurer Exzellenz solches Vertrauen, daß ich kein Geheimnis vor Ihnen haben kann.«

»Ich danke Ihnen; ich verdiene dieses Vertrauen durch die gute Meinung, die ich von Ihnen habe. Ich bitte Sie also, mir aufrichtig zu sagen, ob Sie das junge Mädchen kennen, das bei Ihnen ist? Denn daß es Ihre Nichte ist, glaubt kein Mensch hier.«

»Allerdings ist sie nicht meine Nichte; da ich aber weder ihre Eltern noch ihre Familie kenne, so kann ich nicht behaupten, daß ich sie in dem Sinne kenne, den Eure Exzellenz diesem Wort beilegen. Indessen glaube ich sie geistig wie körperlich vollkommen zu kennen, und glaube, mir Glück wünschen zu dürfen, daß ich eine zärtliche Neigung zu ihr gefaßt habe, die nur mit meinem Tode enden wird.«

»Was Sie da sagen, freut mich. Seit wann haben Sie sie bei sich?«

»Ungefähr seit zwei Monaten.«

»Vortrefflich. Wie ist sie in Ihre Hände gekommen?«

»Das ist ein Punkt, der nur sie allein angeht; gestatten Sie mir, diese Frage unbeantwortet zu lassen.«

»Gut, lassen wir es. Da Sie in sie verliebt sind, so ist es ja wohl möglich, daß Sie nicht so neugierig gewesen sind, sie nach ihren Eltern und Angehörigen zu fragen.«

»Sie hat mir gesagt, daß ihre Eltern ehrliche Leute sind, wenn auch arm; ich bin aber wirklich nicht so neugierig gewesen, sie nach ihrem Namen zu fragen. Ich kenne nur ihren Taufnamen, der vielleicht nicht einmal ihr richtiger ist; es genügt mir jedoch, sie rufen zu können, und ich habe mich daher mit dem Namen begnügt, den sie mir angegeben hat.«

»Sie hat Ihnen ihren wahren Namen genannt.«

»Eure Exzellenz setzen mich in Erstaunen! Sie kennen sie also?«

»Ja; gestern allerdings nicht, aber heute kenne ich sie. Zwei Monate…Marcolina…Ja, sie ist es wirklich. Jetzt bin ich überzeugt, daß mein Kammerdiener nicht verrückt ist.«

»Ihr Kammerdiener?«

»Ja, sie ist seine Nichte. Er hat in London erfahren, daß sie etwa um Mittfasten aus dem Elternhause entflohen ist. Seine Schwester, Marcolinas Mutter, hat es ihm geschrieben. Als er sie gestern als eine so glänzende Erscheinung sah, hat er es nicht gewagt, sie anzusprechen. Er hat sogar geglaubt, er müsse sich irren; zudem hatte er gefürchtet, mein Mißfallen zu erregen, wenn er mit ihr gesprochen hatte, da sie ja wie eine große Dame an meiner Tafel saß. Sie muß ihn ebenfalls gesehen haben.«

»Das glaube ich nicht; denn sie würde es mir gesagt haben.«

»Allerdings ist er stets hinter ihr gestanden. Doch lassen Sie uns jetzt schlüssig werden! Sagen Sie mir, ob Marcolina Ihre Frau ist oder ob Sie die Absicht haben, sie zu heiraten?«

»Ich liebe sie so innig und zärtlich, wie ein Mann nur lieben kann. Aber ich kann sie nicht zu meiner Frau machen, und dies ist für mich ein tiefer Kummer; die Gründe sind nur ihr und mir bekannt.«

»Ich achte Ihre Gründe; aber werden Sie es dann übel nehmen, wenn ich in meiner Teilnahme für Marcolina so weit gehe, Sie zu bitten, sie mit ihrem Oheim nach Venedig zurückreisen zu lassen?«

»Ich glaube, daß Marcolina bei mir glücklich ist; aber ich würde sie für noch glücklicher halten, wenn es ihr gelungen sein sollte, Ihnen Teilnahme einzuflößen; ich bin sogar überzeugt, es würde ihr, wenn sie unter dem wohlwollenden Schutz Eurer Exzellenz in den Schoß ihrer Familie zurückkehrte, leicht gelingen, den Makel zu tilgen, der durch ihre Flucht auf sie gefallen ist. Fortzugehen kann ich sie nicht verhindern, denn ich bin nicht ihr Herr. Als ihr Liebhaber würde ich sie mit allen meinen Kräften gegen jeden Versuch verteidigen, den man etwa unternehmen würde, um sie gewaltsam meinen Armen zu entreißen; wenn sie mich aber verlassen will, kann ich mich nur ihrem Willen fügen, so schmerzlich mir auch die Trennung von ihr sein mag.«

»Was Sie da sagen, finde ich vollkommen vernünftig; ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich dieses gute Werk durchzuführen versuche. Sie werden begreifen, mein Herr, daß ich ohne Ihre Zustimmung nicht wagen konnte, mich in diese Angelegenheit einzumischen.«

»Ich ehre die Fügungen des Schicksals, wenn sie allem Anschein nach einer so reinen Quelle entströmen. Wenn Eure Exzellenz durch Überredung Marcolina bewegen können, mich zu verlassen, so werde ich Ihnen kein Hindernis bereiten. Ich gestatte mir jedoch, darauf aufmerksam zu machen, daß Sie nur mit sanften Mitteln vorgehen dürfen; denn sie ist klug, liebt mich und ist stolz auf ihre Unabhängigkeit; außerdem vertraut sie auf mich, und mit Recht. Sprechen Sie noch heute unter vier Augen mit ihr; denn meine Gegenwart könnte Ihnen wie ihr lästig sein. Sprechen Sie aber nicht früher mit ihr, als bis wir mit dem Essen fertig sind; denn die Unterredung könnte sich vielleicht in die Länge ziehen.«

»Mein lieber Casanova, Sie sind ein Ehrenmann, und ich schwöre Ihnen, ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«

»Sie erweisen mir eine Ehre, die ich tief empfinde. Ich empfehle mich Ihnen, und möchte Ihnen nur noch sagen, daß ich Marcolina nichts erzählen werde.«

In den Gasthof zum Park zurückgekehrt, erstattete ich dem jungen Mädchen einen genauen Bericht über unsere Unterhaltung, indem ich sie darauf aufmerksam machte, daß ich versprochen hätte, ihr nichts zu sagen.

»Du mußt es sehr geschickt anfangen, meine Liebe, um Herrn von Querini zu überzeugen, daß ich nicht gelogen habe, als ich ihm sagte, du habest deinen Oheim nicht gesehen. Sobald du ihn erblickst, stellst du dich höchst überrascht, rufst: Mein lieber Onkel! läufst auf ihn zu und umarmst ihn. Wirst du das tun? Es wird eine prachtvolle Szene sein, und du wirst in den Augen aller anwesenden Herren die größte Ehre damit einlegen.«

»Verlaß dich drauf, mein lieber Freund. Ich werde meine Rolle so spielen, daß du damit zufrieden sein sollst, obgleich mir das Herz sehr traurig ist.«

Zur verabredeten Stunde begaben wir uns zu den Gesandten, wo die Gesellschaft bereits versammelt war und nur noch auf uns wartete. Marcolina war noch fröhlicher und glänzender als am Tage vorher; sie zeichnete Herrn von Querini vor allen anderen aus, war aber gegen alle Anwesenden sehr liebenswürdig. Einige Minuten bevor wir zu Tisch gingen, trat Mattio ein und brachte seinem Herrn auf einer silbernen Platte dessen Brille. Marcolina,, die neben Herrn von Querini saß, unterbrach plötzlich eine Bemerkung, die an die ganze Gesellschaft gerichtet war, sah überrascht den Mann an und rief in fragendem Tone: »Mein Oheim?!«

»Ja, meine liebe Nichte!« Marcolina warf sich mit einer Zärtlichkeit in seine Arme, daß wir alle zu Erstaunen und Bewunderung hingerissen wurden.

»Ich wußte, lieber Oheim, daß Sie von Venedig ins Ausland gereist waren; aber ich wußte nicht, dnß Sie in Diensten Seiner Exzellenz stehen. Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Sie werden meinen Leuten in Venedig Nachricht von mir geben. Wie Sie sehen, bin ich glücklich. Wo waren Sie denn gestern?«

»Hier.«

»Und Sie haben mich nicht gesehen?«

»O doch; aber Ihr anderer Onkel…«

»Nun!« sagte ich lachend zu ihm, »mein lieber Vetter, wir wollen uns gegenseitig anerkennen! Umarmen Sie mich! Marcolina, ich mache dir mein Kompliment, daß du einen so prächtigen Oheim hast!«

»Welch schöner Augenblick!« rief Herr von Querini; und alle andern wiederholten: »Sehr schön! Sehr schön!«

Der neue Oheim Mattio ging hinaus, und wir setzten uns zu Tisch, aber wir waren alle in einer ganz andern Stimmung als am Abend vorher. Auf Marcolinas Zügen lag eine unbeschreibliche Mischung von Trauer und von jenem Glücksgefühl, das in einer schönen Seele die Erinnerung an das Vaterland hervorruft. Herrn von Querinis Züge drückten Bewunderung aus und zugleich jene Zuversicht auf Erfolg, die dem Blick eine heitere Ruhe gibt, in der sich das Gefühl ausspricht, eine gute Handlung zu vollbringen. Herr von Morosini saß als zufriedener Beobachter da. Die anderen waren aufmerksam und neugierig; sie lauschten mit Teilnahme dem Gespräch und verschlangen jedes Wort, das von Marcolinas anmutigen Lippen fiel. Von mir mußten die verschiedenen Anwesenden je nach ihrer Kenntnis der Geschichte und ihres Fortganges eine verschiedene Meinung haben.

Nach dem ersten Gange hatten die Gemüter sich ein wenig beruhigt, und Herr von Morosini sagte zu Marcolina: »Wenn Sie nach Venedig zurückkehren, so können Sie sicher sein, dort einen Gatten zu finden, der Ihrer würdig sein wird.«

»Ob er meiner würdig wäre,« versetzte das entzückende Geschöpf, »könnte nur ich allein beurteilen.«

»Aber man kann sich in dieser Beziehung auch auf das Urteil erfahrener Männer verlassen, die an dem Glück der beiden Parteien aufrichtigen Anteil nehmen.«

»Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihre Ansicht nicht teile. Wenn ich mich jemals vermähle, so muß der Gatte meiner Wahl mir vor der Hochzeit gefallen.«

»Wer hat Ihnen diesen Grundsatz beigebracht?« fragte Querini.

»Mein Oheim Casanova, der in den zwei Monaten, die ich mit ihm zu verleben das Glück hatte, mir die ganze Weisheit der Welt beigebracht hat, wie ich glaube.«

»Ich mache dem Lehrer und der Schülerin mein Kompliment; aber, meine liebe Marcolina, Sie sind alle beide zu jung, um die ganze Weisheit dieser Welt zu kennen. Diese Weisheit ist die Moral, und die kann man in zwei Monaten nicht lernen.«

Ich wandte mich zu Marcolina und sagte: »Was Seine Exzellenz dir gesagt hat, ist sehr wahr. In Heiratsangelegenheiten muß man viel auf das Urteil weiser Freunde geben; denn die meisten von den Heiraten, die nur durch gegenseitiges Gefallen herbeigeführt wurden, sind unglücklich.«

»Dies, meine liebe Marcolina,« nahm wieder Herr von Querini das Wort, »ist eine treffliche und weise Bemerkung. Aber sagen Sie mir doch, welche Eigenschaften wollen Sie nach Ihren Grundsätzen bei dem Gatten Ihrer Wahl finden?«

»Ich wäre in Verlegenheit, wenn ich Ihnen das sagen sollte; aber in dem Augenblick, wo er mir gefiele, würde ich sie alle bei ihm voraussetzen.«

»Und wenn er ein Taugenichts wäre?«

»Dann würde er mir ganz sicherlich nicht gefallen, und dies ist eben der Grund, warum ich entschlossen bin, niemals einen Mann zu heiraten, den ich nicht genau kennen gelernt habe.«

»Und wenn Sie sich täuschten?«

»Dann würde ich schweigend meinen Irrtum beweinen.«

»Und die Armut?«

»Diese kann sie unmöglich befürchten,« fiel ich ein; »denn sie ist sicher, ihr Leben lang monatlich fünfzig Taler zu haben.«

»Ah! Das ändert die Sachlage ganz bedeutend. Wenn dies sich so verhält, meine schöne Freundin, so haben Sie einen großen Vorzug, denn Sie können in Venedig in völliger Unabhängigkeit leben.«

»Ich bin allerdings der Meinung, daß ich, um in Venedig in Ehren zu leben, des Schutzes eines hohen Herrn, wie Eurer Exzellenz, nicht entbehren könnte.«

»Kommen Sie nur nach Venedig, teure Marcolina, und ich gebe Ihnen mein Wort als Ehrenmann, ich werde alles für Sie tun, was in meinen Kräften steht. Aber, erlauben Sie mir diese Frage, inwiefern sind Sie sicher, monatlich diese fünfzig Taler zu haben? Sie lachen?«

»Ich lache, weil ich ein leichtsinniges Mädchen bin, das sich um seine eigenen Angelegenheiten nicht bekümmert. Mein Freund wird Ihnen alles sagen.«

»Es war kein Scherz von Ihnen?« wandte der gute alte Herr sich nun an mich.

Ich antwortete: »Marcolina besitzt nicht nur ein bares Kapital, das ihr, auf Leibrenten angelegt, sogar noch mehr als die genannte Summe einbringen kann, sondern sie besitzt auch eine wertvolle Ausrüstung. Mit vollem Recht, das werden Eure Exzellenz begreifen, hat sie gesagt, sie bedürfe in Venedig des Schutzes Eurer Herrlichkeit; denn es muß dafür gesorgt werden, daß ihre Kapitalien gut angelegt werden. Diese Kapitalien befinden sich in meinen Händen, und wenn meine teure Marcolina es wünscht, kann sie sie binnen zwei Stunden haben.«

»Das genügt. Sie müssen also, meine liebe Tochter, nach Venedig abreisen, und zwar übermorgen. Wie ich sehe, ist Mattio außer sich vor Freude; er ist von Herzen bereit, Sie mitzunehmen.

»Ich liebe meinen Oheim Mattio, ich empfinde die zärtlichste Achtung vor ihm; aber nicht ihm dürfen Euere Exzellenz mich anvertrauen, wenn ich mich zur Reise entschließen soll.«

»Wem denn sonst?«

»Ihnen selber, gnädiger Herr. Eure Exzellenz waren so gütig, mir dreimal den süßen Namen: liebe Tochter zu geben. Geruhen Sie, mich als guter Vater nach Venedig zu bringen, und ich bin bereit, Ihnen zu folgen. Wenn nicht, so erkläre ich mit aller Bestimmtheit: ich werde niemals den Mann verlassen, dem ich alles verdanke, und wir werden übermorgen nach London abreisen!«

Nach diesen Worten, die mich mit Entzücken erfüllten, sahen alle Anwesenden schweigend einander an. Jeder spitzte die Ohren, um die Worte zu vernehmen, die Herr von Querini sprechen würde; alle fühlten, daß er zuweit gegangen war, um noch zurück zu können. Der Greis schwieg jedoch; vielleicht fürchtete er als frommer Mann, sich einem Triebe unschuldiger Wollust zu überlassen oder auch der Welt Veranlassung zu geben, dies zu glauben. So schwiegen denn alle wie er und beschäftigten sich mit ihrem Essen. Mattio verrichtete mit zitternder Hand seine Aufwärterdienste; Marcolina allein zeigte eine entzückende Ruhe. Als der Nachtisch aufgetragen wurde, hatte noch keiner von den Anwesenden den Mund aufgetan. Plötzlich erhob das erstaunliche Mädchen die Stimme und sagte mit demütigem Gesicht, wie wenn sie eine Eingebung hätte, gleichsam zu sich selber: »Man muß die göttliche Vorsehung anbeten, aber erst nach dem Eintritt der Wirkung; denn vorher kann kein Mensch auf dieser Welt beurteilen, ob etwas gut oder böse ist.«

»Aus welchem Anlaß, meine liebe Tochter, stellen Sie diese Betrachtungen an?« sagte Herr von Querini; »und warum küssen Sie mir in diesem Augenblick die Hand?«

»Ich küsse Ihnen die Hand, weil Sie mich soeben zum vierten Male Ihre liebe Tochter genannt haben.«

Diese feine und schlagfertige Antwort rief ein allgemeines beifälliges Lachen hervor und stellte die frühliche Stimmung wieder her. Ouerini hatte jedoch Marcolinas Ausruf über die Vorsehung nicht vergessen und bat sie, eine Erklärung zu geben.

»Es war eine Eingebung, die mich das sagen ließ, und dieser Gedanke war, das Ergebnis einer Selbstprüfung, die ich vorgenommen hatte. Ich befinde mich wohl, ich habe mich zu benehmen gelernt, ich bin erst siebzehn Jahre alt und bin im Laufe von zwei Monaten durch anständige und ehrenhafte Mittel reich geworden. Ich bin glücklich, denn ich fühle mich glücklich. Aber das alles verdanke ich dem schlimmsten Fehltritt, den ein ehrbares Mädchen begehen kann. In allem diesem finde ich zahlreiche Gründe, mich vor der göttlichen Vorsehung zu demütigen und tausendmal ihre Beschlüsse anzubeten.«

»Sie haben recht, mein liebes Kind; aber Sie müssen nichtsdestoweniger den Fehltritt bereuen, den Sie begangen haben.«

»Dies ist eben der Punkt, der mich in Verlegenheit setzt; denn um ihn zu bereuen, muß ich daran denken, und wenn ich daran denke, kann ich keinen Grund der Reue finden. Ich muß zu diesem Zweck irgend einen großen Theologen um Rat fragen.«

»Das ist nicht notwendig, meine Liebe; Sie haben einen klaren Geist und ein gutes Herz. Ich übernehme es, Sie unterwegs darüber zu belehren, wie Sie sich damit abzufinden haben. Wenn man bereut, ist es nicht notwendig, an das Vergnügen zu denken, das der Gegenstand unserer Reue uns bereitet hat.«

Indem er sich zum Apostel machte, wurde der gute Herr von Querini in aller Frömmigkeit in seine schöne Proselytin verliebt. Nach Tisch verschwand er auf einige Augenblicke, und als er wieder hereinkam, sagte er zu Marcolina: »Wenn ich ein junges Mädchen nach Venedig zurückbringen soll, tue ich es nur unter der Bedingung, daß ich sie der Obhut meiner Haushälterin, der Dame Veneranda, anvertraue, einer würdigen Frau, der ich mein volles Vertrauen geschenkt habe. Ich habe soeben mit ihr gesprochen; und wenn Sie unter dieser Bedingung mitkommen wollen, so ist alles in Ordnung. Sie werden bei ihr schlafen, wenn es Ihnen recht ist, und werden mit uns zusammen essen, bis wir in Venedig angekommen sind. Dort werde ich selber, in Gegenwart Ihres Oheims, Sie Ihrer Mutter übergeben. Was sagen Sie zu diesem Plan?«

»Ich finde ihn ausgezeichnet.«

»Kommen Sie mit mir zur Dame Veneranda.«

»Gern.«

»Casanova, kommen Sie mit!«

Ich sah eine Frau von richtigem kanonischen Alter, in die Marcolina sich gewiß nicht nach ihrer Art verlieben konnte; sie sah aber vernünftig aus und hatte ein sehr anständiges Benehmen. Herr von Querini sagte ihr in unserer Gegenwart alles, was er soeben seiner neuen Schutzbefohlenen gesagt hatte, und die Duenna versicherte ihm, sie werde das Fräulein wie eine gute Hausmutter pflegen. Marcolina nannte sie ihr gutes Mütterchen, umarmte sie und stimmte sie dadurch vollkommen zu ihren Gunsten. Wir kehrten hierauf zu den Herren zurück, die um die Wette meiner Freundin ihre Freude aussprachen, sie zur Reisegefährtin zu haben.

»Ich muß,« sagt Herr von Querini, »daran denken, meinen Haushofmeister in einem andern Wagen unterzubringen; denn die Kalesche hat nur zwei Sitze.«

»Eure Exzellenz brauchen nicht daran zu denken; denn Marcolina hat ihren eigenen Wagen, den die Dame Veneranda sehr bequem finden wird. Sie können auf diesen Wagen auch ihre Koffer packen.«

»Du willst also, mein lieber Freund, mir auch noch deinen Wagen schenken,« rief Marcolina. »Das ist wahrlich der Wohltaten viel zu viel!«

Ich konnte ihr vor Rührung nicht antworten. Ich drehte mich um und trat in eine Fensternische, um meine Tränen zu trocknen. Als ich gleich darauf wieder zu den Versammelten trat, sah ich Marcolina nicht mehr. Herr von Morosini, der ebenfalls tief gerührt war, sagte mir, sie sei hinausgegangen, um mit der Dame Veneranda zu sprechen.

Alle waren traurig, und da ich erriet, daß meine Rührung die Ursache dieser Stimmung war, so begann ich von England zu sprechen, wo ich mein Glück zu machen gedachte. Ich hatte nämlich einen Plan, dessen Ausführung nur vom Minister Lord Egremont abhing. Herr von Morosini sagte mir, er würde mir einen Brief für diesen und einen anderen für den Residenten der Republik Venedig, Herrn Zuccata, mitgeben.

»Fürchten Sie nicht,« fragte Querini ihn, »bei den Staatsinquisitoren Anstoß zu erregen, indem Sie Herrn Casanova empfehlen?«

Morosini antwortete ihm kalt, die Inquisitoren hätten ihm nicht mitgeteilt, welchen Verbrechens ich schuldig wäre, und er glaube daher auch nicht, daß ihr Urteil für ihn maßgebend sein müßte. Der kleinliche und sehr beschränkte alte Querini schüttelte den Kopf und sagte nichts mehr.

In diesem Augenblick trat Marcolina wieder ein, und ein jeder konnte sehen, daß sie geweint hatte. Ich gestehe, daß dieses Zeichen ihres Kummers meiner Eitelkeit ebensosehr schmeichelte wie meiner Liebe; so ist der Mensch, und so ist ohne Zweifel auch der Leser, der mich deshalb vielleicht tadelt.

Das reizende Mädchen, an das ich nach so viel Jahren noch ein lebhaftes Andenken bewahre, trotz dem Alter, das mich vertrocknet haben müßte, wenn das Herz überhaupt altern könnte – das reizende Mädchen eilte auf mich zu und fragte mich zärtlich, ob ich sie nicht nach unserem Gasthof bringen wolle; denn sie müsse ihren Koffer packen. Wir entfernten uns sofort, nachdem wir aber zuvor versprochen hatten, am nächsten Tage wieder zum Essen zu kommen – um vielleicht zum letzten Male miteinander zu speisen, wie unsere Gastgeber freundlich hinzusetzten.

Ich war ganz in Tränen aufgelöst, als wir unsere Wohnung betraten. Ich befahl Clairmont, den Wagen untersuchen zu lassen und ihn für eine lange Reise instand zu setzen; nachdem ich mich hierauf in aller Eile entkleidet und meinen Schlafrock angezogen hatte, warf ich mich auf mein Bett und überließ mich meinen Tränen, wie wenn man mir ein Gut entrissen hätte, das ich nicht imstande gewesen wäre zu verteidigen. Marcolina war tausendmal vernünftiger als ich; sie führte, um mich zu trösten, alle Gründe an, die die Vernunft und die zärtlichste Liebe vorbringen konnten; aber ich empfand ein nicht gut erklärliches Vergnügen daran, mich selber zu peinigen, und ihre Worte vermehrten daher nur meine Verzweiflung.

»Bedenke doch,« sagte das anbetungswürdige Mädchen zu mir, »daß ich dich ja gar nicht verlasse, sondern daß du mich fortschickst, daß es mein Glück wäre, wenn ich mein ganzes Leben bei dir verbringen könnte, und daß du nur ein Wort zu sagen brauchst, um dieser ganzen Komödie ein Ende zu machen.«

Ich fühlte, daß dies alles wahr sei und daß meine Liebe mit ihren Wünschen übereinstimme. Aber mich hat stets eine Neigung beherrscht, mich vom Schicksal leiten zu lassen; vielleicht war es auch Furcht vor einer Verpflichtung, die mich hätte binden können; eine innere Furcht, über die ich mir selber keine Rechenschaft gab, die aber doch auf mich wirkte; und schließlich war es wohl auch die Heuchelei eines Günstlings, der unwillkürlich und aller Überlegung zum Trotz mehr nach Veränderung als nach neuen Genüssen strebte. Mag es gewesen sein, was es wolle, genug, dies alles bewirkte, daß ich bei meinem Beschluß und in meiner Traurigkeit verharrte.

Gegen sechs Uhr kamen die Herren Morosini und Querini auf den Hof; sie blieben stehen, um sich meinen Wagen anzusehen, den der Schmied gerade untersuchte. Sie sagten etwas zu Clairmont und kamen dann zu uns herauf, um uns einen Besuch zu machen. »Großer Gott!« rief Herr Querini, als er die vielen Schachteln sah, die Marcolina auf ihren Wagen packen sollte; als er aber erfuhr, daß dies der Wagen war, den er soeben gesehen hatte, sprach er seine Überraschung aus. Es war in der Tat ein sehr schöner Wagen.

Herr von Morosini sagte Marcolina, wenn sie ihm nach der Ankunft in Venedig den Wagen verkaufen wolle, würde er ihr tausend Dukaten dafür geben. Dies sind dreitausend Franken; denn der venetianische Dukaten gilt nur den vierten Teil des holländischen.

»Sie können ihr das Doppelte dafür geben,« sagte ich zu ihm; »denn er ist dreitausend wert.«

»Wir werden darüber schon einig werden,« sagte er, und Querini fügte hinzu: »Es wird ein hübscher Zuwachs zum Kapital sein.«

Nachdem wir mehrere scherzhafte und höfliche Bemerkungen gewechselt hatten, sagte ich Herrn Querini, ich würde ihm am nächsten Tage einen Wechsel von fünftausend Dukaten übergeben; dieser Betrag und dazu die drei- oder viertausend Dukaten, die sie leicht aus dem Verkauf ihrer verschiedenen wertvollen Sachen lösen könnte, nebst den tausend für den Wagen bildeten ein Kapital von neun- bis zehntausend Dukaten, von dessen Zinsen Marcolina in Ehren leben könnte.

Am nächsten Morgen nahm ich bei Bono einen Wechsel auf Venedig an die Ordre des Herrn von Querini. Vor dem Essen übergab Marcolina diesen ihrem neuen Beschützer, der ihr dafür eine Quittung in aller Form ausstellte. Morosini gab mir die versprochenen Briefe, und die Abreise wurde auf den nächsten Tag um elf Uhr festgesetzt. Wie der Leser sich denken kann, war unser Essen kein Hochzeitsmahl. Marcolina war niedergeschlagen, ich düster wie ein hypochondrischer Engländer, und so teilten wir der ganzen Gesellschaft einen Ton mit, der mehr für eine Beerdigung als für eine freundschaftliche Zusammenkunft paßte.

Ich will nichts davon sagen, welch eine Nacht ich in den Armen dieser Sylphide verbrachte, denn mir würden die Farben fehlen, um sie auszumalen. Unaufhörlich fragte sie mich immer wieder, wie ich mir mein eigenes Glück zerstören könnte, und sie hatte recht; denn ich begriff dies ebensowenig wie sie. Aber wie oft habe ich nicht in meinem Leben etwas getan, was mir zuwider war, oder was ich selber nicht begriff! Ich wurde aber durch eine geheime Kraft angetrieben, der ich absichtlich keinen Widerstand leistete.

Nachdem ich mit meinem Anzug fertig, gestiefelt und gespornt war, und nachdem ich Clairmont gesagt hatte, er möchte sich nicht beunruhigen, wenn er mich am Abend nicht zurückkommen sähe, fuhr ich mit Marcolina zu den Gesandten. Wir frühstückten zusammen. Es ging ziemlich still zu; denn Marcolina hatte die ganze Zeit über Tränen in den Augen, und alle achteten ihre Traurigkeit, die man als berechtigt ansah, denn man würdigte mein edles Verhalten gegenüber diesem entzückenden Geschöpf. Nach dem Frühstück fuhren wir ab. Ich nahm den Vordersitz des Wagens ein, und mir gegenüber saßen Marcolina und die Dame Veneranda, über die ich unter anderen Umstünden herzlich gelacht haben würde, wie sie sich so in einer Karosse blähte, die schöner war als der Wagen der Gesandten. Sie konnte gar nicht müde werden, die Schönheiten und die Bequemlichkeiten des Wagens zu preisen, und ergötzte uns durch ihre wiederholten Versicherungen, ihr Herr habe wirklich recht gehabt, indem er gesagt habe, man werde sie unterwegs für die Frau Botschafterin halten. Trotz dieser komischen Ablenkung waren Marcolina und ich während der ganzen Fahrt sehr traurig. Herr von Querini, der nicht gerne nachts reiste, ließ um neun Uhr abends in Pont-Beauvoisin Halt machen. Nach einem schlechten Abendessen ging ein jeder auf sein Zimmer, um am nächsten Morgen mit Tagesanbruch bereit zu sein.

Marcolina mußte natürlich bei der Dame Veneranda schlafen. Ich begleitete sie. Die gute Dame legte sich ohne Umstände zu Bett, drehte uns den Rücken zu und drückte sich so eng an die Bettkante heran, daß noch für zwei andere Platz übrig blieb. Ich aber setzte mich auf einen Stuhl, sobald Marcolina sich niedergelegt hatte, und legte meinen Kopf neben das schöne Gesicht meiner Freundin; und so verbrachten wir die Nacht damit, unsere Tränen und unsere Seufzer zu mischen.

Veneranda, die fest geschlafen hatte, war sehr überrascht, als ich sie am Morgen rief, und sie mich in derselben Verfassung sah wie am Abend vorher. Sie war sehr fromm, aber bei den Frauen ist das Mitleid leicht stärker als die Frömmigkeit; indem sie sich auf die Seite drückte, hatte sie die Absicht gehabt, mir eine letzte Liebesnacht zu verschaffen, die ich mir aber in meiner Traurigkeit nicht zunutze machen konnte.

Ich hatte am Abend befohlen, daß in dem Augenblick, wo die Herrschaften in ihren Wagen steigen würden, ein Reitpferd für mich bereit sein sollte. Nachdem wir in aller Eile eine Tasse Kaffee getrunken hatten, gingen wir hinunter. Alle waren zur Abfahrt bereit, und wir wünschten uns gegenseitig alles Gute. Nachdem ich Marcolina in ihrem Wagen untergebracht hatte, umarmte ich sie zum letztenmal; ich habe sie erst elf Jahre später wiedergesehen.

Ich stieg zu Pferde, wartete neben ihrem Wagenschlag, bis der Postillon mit der Peitsche knallte, und sprengte dann mit verhängtem Zügel die Straße entlang, die ich am Tage vorher gekommen war. Ich ritt wie ein Verzweifelter; denn mir war zumute, wie wenn ich, um mich zu erleichtern, den Gaul zuschanden reiten und mich selber töten müßte. Aber außer in der Fabel des guten Lafontaine kommt der Tod niemals, wenn ein Unglücklicher ihn herbeisehnt. Ich ritt in sechs Stunden, indem ich nur zum Pferdewechseln anhielt, die achtzehn französischen Meilen von Pont-Beauvoisin nach Lyon. Nachdem ich mich in aller Eile entkleidet hatte, warf ich mich in das unglückselige Bett, worin ich vor dreißig Stunden in allen Wonnen der Liebe geschwelgt hatte. Ich hoffte im Traum eine Wirklichkeit wiederzufinden, deren Verlust ich tief beklagte. Aber ich fand sie nicht, denn ich schlief fest und friedlich und wachte erst um acht Uhr morgens auf. Ich hatte ununterbrochen etwa neunzehn Stunden geschlafen.

Ich klingelte Clairmont, befahl ihm, mir ein Frühstück zu bringen, und schlang ohne Wahl alle Fleischspeisen und Weine hinunter, die er mir vorsetzte. Nachdem ich meinen Magen erfrischt hatte, schlief ich wieder ein. Erst am nächsten Morgen verließ ich das Bett, vollkommen wiederhergestellt und imstande, das Dasein zu ertragen.

Drei Tage nach Marcolinas Abreise kaufte ich einen guten zweirädrigen Wagen, einen sogenannten Amadis. Er ruhte auf guten Federn und war sehr bequem. Meinen Koffer schickte ich mit der Schnellpost nach Paris. Ich hatte in einem Mantelsack nur die notwendigsten Sachen zurückbehalten; denn ich wollte am nächsten Tage in Schlafrock und Nachtmütze abfahren und gedachte meinen einplätzigen Wagen nicht eher zu verlassen, als bis ich die achtundfünfzig Poststationen auf der schönsten Landstraße Europas zurückgelegt hatte. Indem ich allein und im tiefsten Negligé reiste, meinte ich meiner geliebten Marcolina, die ich nicht vergessen konnte, ein Zeichen meiner Ehrfurcht zu erweisen. Aber wie oft habe ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht! Ich war eben dabei, meine Schmucksachen in meine Kassette zu packen, als Clairmont mir einen Kaufmann und dessen Tochter meldete. Diese war ein hübsches Mädchen, und ich hatte sie bereits bei Tisch flüchtig bemerkt; denn seit der Abreise meiner schönen Venetianerin aß ich an der Gasttafel, um mich zu zerstreuen.

Ich ließ sie eintreten, und während ich meine Kassette zuschloß, richtete der Vater höflich das Wort an mich und sagte: »Mein Herr, ich bitte Sie um eine Gunst, die Ihnen nur eine kleine Unbequemlichkeit kosten, mich aber sowie meine Tochter zum unendlichen Dank verpflichten wird.«

»Was kann ich für Sie tun? Ich reise morgen mit Tagesanbruch ab.«

»Ich weiß es, mein Herr, Sie haben es ja bei Tisch gesagt. Aber wir werden zu jeder Stunde bereit sein. Geruhen Sie, meine Tochter mit in Ihren Wagen zu nehmen! Ich werde selbstverständlich ein drittes Pferd bezahlen, und werde reiten.«

»Sie haben augenscheinlich meinen Wagen nicht gesehen?«

»Ich bitte um Verzeihung, ich habe ihn gesehen. Es ist allerdings ein Einsitzer; aber der Sitz ist sehr tief, und indem Sie sich ein wenig zurücklehnen, kann sie ganz gut auf dem Rande sitzen, denn sie ist ja schmächtig. Ich fühle wohl, daß es eine Belästigung für Sie ist, aber wenn Sie sich vorstellen könnten, welchen Gefallen Sie uns damit tun, so bin ich überzeugt. Sie würden uns diese Bitte nicht abschlagen. Im Eilwagen sind alle Plätze bis zur nächsten Woche besetzt, und wenn ich nicht in sechs Tagen in Paris bin, so verliere ich mein Brot. Wenn ich reich wäre, würde ich die Post nehmen; aber das würde mir vierhundert Franken kosten, und eine solche Ausgabe kann ich nicht machen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als morgen mit dem Eilwagen zu fahren, indem ich mich und meine Tochter auf dem Verdeck festbinden lasse. Sehen Sie, mein Herr, bei dem bloßen Gedanken daran weint sie schon, und ich selber bin nicht viel weniger traurig als sie.«

Ich sah das junge Mädchen aufmerksam an und fand sie zu hübsch, um mich in den Grenzen einfacher Höflichkeit halten zu können, wenn ich allein mit ihr reiste. Meine Seele war traurig, und in der Qual meiner Trennung von Marcolina hatte ich beschlossen, jede Gelegenheit zu vermeiden, die zu neuen Verpflichtungen führen könnte. Dieser Entschluß war nach meiner Meinung notwendig für meine Ruhe. Ich sagte zu mir selber: das Mädchen hat vielleicht zu meinem Unglück solche Reize des Geistes oder des Charakters, daß ich mich in sie verlieben könnte, wenn ich so schwach wäre, der Bitte nachzugeben. Das will ich aber nicht.

Ich wende mich also zum Vater und antworte ihm, ohne das junge Mädchen anzusehen: »Ihre Lage, mein Herr, tut mir sehr leid; aber ich kann nichts daran ändern, denn ich sehe zu viele Unzuträglichkeiten bei Ihrem Vorschlag.«

»Sie glauben vielleicht, ich würde es nicht aushalten können, den ganzen Weg ohne Aufenthalt zu reiten, aber seien Sie unbesorgt!«

»Das Pferd kann stürzen. Sie können sich verletzen, und wenn dieser Fall eintreten sollte, so kenne ich mich: ich würde Halt machen müssen, selbst wenn Sie es nicht wollten. Ich habe es aber ellig. Sollte dieser Grund Ihnen nicht triftig genug erscheinen, so tut es mir leid; in meinen Augen läßt sich nichts dagegen einwenden.«

»Ach, mein Herr, lassen wir es doch auf dieses Wagnis ankommen!«

»Es ist noch ein größeres dabei, das ich Ihnen nicht nennen möchte. Mit einem Wort, mein Herr, es ist unmöglich.«

»Im Namen des Himmels, mein Herr!« rief das Fräulein in einem Tone und mit einem flehenden Blick, die ein Herz von Stein hätten erweichen können; »lassen Sie mich doch nicht auf diesem schrecklichen Verdeck reisen! Ich schaudere bei dem bloßen Gedanken daran; denn obgleich man mich festbinden wird, werde ich eine Todesangst ausstehen; außerdem sieht man es ja als eine Schande an, auf diese Weise zu reisen; es mag vielleicht eine Dummheit sein, aber es ist nun einmal so. Bitte, bitte, bewilligen Sie mir doch diese Huld! Ich werde zu Ihren Füßen sitzen, um Sie so wenig wie möglich zu belästigen.«

»Das ist zu viel! Sie kennen mich nicht, mein Fräulein. Ich bin weder grausam noch unhöflich, am wenigsten gegen Ihr Geschlecht, obwohl mein Widerstand Sie vielleicht veranlaßt, das Gegenteil von mir zu glauben. Wenn Sie meinen Wünschen nachgeben, könnten Sie vielleicht Anlaß finden, es zu bedauern, und das will ich nicht!«

Hierauf wandte ich mich zu ihrem Vater und fuhr fort: »Eine Postkalesche kostet sechs Louis. Hier sind sie; ich bitte Sie, sie anzunehmen. Ich werde nötigenfalls meine Abreise um einige Stunden aufschieben, um für den Wagen Bürgschaft zu leisten, falls Sie nicht bekannt sein sollten. Hier haben Sie außerdem noch vier Louis für ein Extrapferd, das Sie ohne Zweifel werden nehmen müssen. Was an den Kosten noch fehlt, würden Sie ausgegeben haben, wenn Sie zwei Plätze im Eilwagen genommen hätten.«

»Mein Herr, ich erkenne Ihre Tugend an und bewundere Ihre Großmut; aber so dankbar ich dafür bin, so kann ich doch das Geschenk, das Sie mir machen wollen, nicht annehmen. Ich bin desselben nicht würdig und würde es noch weniger sein, wenn ich es annähme. Komm, Adele! Verzeihen Sie, mein Herr, wenn diese Belästigung Ihnen eine halbe Stunde gekostet hat. Komm, mein armes Kind!«

»Warten Sie einen Augenblick, Vater!«

Adele bat ihn zu warten, weil ihre Tränen sie erstickten. Dieser Anblick brachte mich in Wut, als aber mein Blick den schönen Augen des jungen Mädchens begegnete, konnte ich mein Herz nicht länger gegen das Mitleid verschließen, das sie mir einflößte, und so sagte ich zu ihr: »Beruhigen Sie sich, mein Fräulein! Man soll mir nicht nachsagen können, daß ich unempfindlich gegen die Tränen der Schönheit gewesen sei. Ich gebe Ihrem Wunsche nach, denn sonst würde ich nicht schlafen können. Aber ich stelle eine Bedingung,« sagte ich zum Vater. »Sie dürfen nichts dabei finden, wenn ich von Ihnen verlange, daß Sie auf meinen Wagen hinten aufsteigen.«

»Das will ich sehr gern tun; aber Ihr Bedienter?«

»Der reitet voraus. So ist also alles in Ordnung. Gehen Sie zu Bett und seien Sie um sechs Uhr bereit.«

»Wir werden bereit sein, mein Herr; aber werden Sie mir gestatten, das eine Pferd zu bezahlen?«

»Sie dürfen nichts bezahlen. Dies würde mich entehren, und ich bitte Sie, nicht darauf zu bestehen. Sie haben mir gesagt. Sie seien arm; das ist keine Schande. Und so will ich Ihnen sagen, daß ich reich bin; Reichtum aber ist nur dann ein Verdienst, wenn man ihn benutzt, um Gutes zu tun. Es ist also nur natürlich, daß ich bezahle und daß Sie nicht bezahlen.«

»Ich gebe nach, mein Herr, aber ich werde das Pferd für meine Tochter bezahlen.«

»Noch weniger! Ich bitte Sie, lassen Sie uns nicht darum feilschen, sondern gehen wir zu Bett. Ich werde Sie alle beide in Paris absetzen, ohne daß es Ihnen einen Heller kostet. Dort können Sie mir Ihren Dank sagen, wenn Sie wollen. Nur unter diesen Bedingungen können wir das Geschäft miteinander machen. Sehen Sie, da lacht Fräulein Adele; das ist für mich schon Lohnes genug.«

»Ich lache vor Glück, weil ich dem schauderhaften Verdeck entronnen bin.«

»Das begreife ich, und ich hoffe. Sie werden in meinem Wagen nicht weinen, denn ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich die Traurigkeit verabscheue.«

In mein Schicksal mich fügend, ging ich zu Bett. Ich sah voraus, daß ich den Reizen dieser neuen Schönheit nicht würde widerstehen können, und ich beschloß, die Versuchung nicht länger als zwei Tage dauern zu lassen. Diese hübsche Adele mit ihren wundervoll geschnittenen blauen Augen, mit ihrer Haut von Lilien und Rosen, mit ihrem niedlichen Munde und den schönen Zähnen, mit ihrer Büste, die noch zart war, aber sich herrlich zu entwickeln versprach, denn sie stand erst an der Grenze der Jugend – wieviele Gründe, um eine neue Niederlage vorauszuahnen! Als ich mich zu Bett legte, dankte ich meinem guten Geist, daß er dafür sorgte, mich während der kurzen Reise nicht an Langeweile leiden zu lassen.

Einen Augenblick vor der Abfahrt kam der Vater und fragte mich, ob es mir einerlei wäre, wenn wir durch das Bourbonnais oder durch Burgund führen.

»Mir ist das gleichgültig. Aber Sie? Ziehen Sie vielleicht den einen Weg dem anderen vor?«

»Wenn wir über Nevers reisten, könnte ich dort eine kleine Summe einkassieren.«

»Wir werden also durch das Bourbonnais fahren.«

Gleich darauf kam Adele, einfach, aber sehr sauber gekleidet. Sie wünschte mir mit fröhlichem Gesicht guten Morgen und sagte mir, ihr Vater würde einen kleinen Koffer, worin ihre Kleider wären, hinten auf den Wagen legen. Als sie sah, daß ich beschäftigt war, einige Sachen in Ordnung zu bringen, fragte sie mich, ob sie mir nützlich sein tönnte.

»Nein!« antwortete ich ihr, »aber nehmen Sie bitte Platz.« Sie setzte sich, aber mit jener schüchternen und verlegenen Miene, die mir stets mißfällt, weil sie ein Gefühl von Abhängigkeit auszudrücken scheint. Ich warf ihr dies in sanftem Tone vor und forderte sie auf, mit mir Kaffee zu trinken. Sie tat dies, und dabei verlor sich allmählich die Verlegenheit. Als wir eben hinuntergehen wollten, trat ein Mann ein und sagte mir, die Laternen säßen nicht fest, und ich würde die Laternen verlieren, wenn ich den Schaden nicht ausbessern ließe. Er erbot sich, sie binnen einer Stunde wieder in guten Stand zu bringen. Ich war wütend. Ich rief Clairmont, um ihn auszuschelten; er verteidigte sich jedoch, indem er sagte, es hätte an den Laternen nichts gefehlt und der Mann, der sie ohne Auftrag untersucht hätte, müßte sie absichtlich beschädigt haben, um auf diese Weise Gelegenheit zu einem Verdienst zu finden. Es stimmte buchstäblich so. Da ich die List schon kannte, so nannte ich den Mann einen Spitzbuben; und als er mir ein bißchen zu sehr auf französische Art antwortete, griff ich nach meiner Pistole und gab ihm ein paar Fußtritte. Fluchend ging er ab. Infolge des Lärmes kam der Wirt mit fünf bis sechs Leuten. Alle Welt gab mir recht; nichtsdestoweniger aber mußte ich zwei Stunden verlieren, denn es wäre unvorsichtig gewesen, nachts ohne Laternen zu fahren.

Sofort wurde ein anderer Laternenmacher gerufen; er besichtigte den Schaden und lachte über die offenbare Spitzbüberei seines Kollegen.

»Kann ich den Schuft einsperren lassen?« fragte ich den Wirt; »diese Genugtuung brauche ich, und wenn sie mir zwei Louis kosten sollte!«

»Zwei Louis, mein Herr? Sie sollen sofort bedient werden.«

Ich brüllte vor Wut, ohne auf Adele Rücksicht zu nehmen, so daß ich ihr Furcht einjagte. Gleich darauf kam ein Polizeikommissar; er untersuchte die Sache, verhörte mehrere Zeugen und nahm ein Protokoll auf. Hierauf fragte er mich: »Mein Herr, wieviel ist eine Stunde Ihrer Zeit wert?«

»Ich taxiere sie nach englischer Weise: fünf Louis.«

Zugleich drückte ich dem Kommissar zwei Louis in die Hand. Sofort erkannte er gegen den Laternenmacher auf eine Buße von 2«Z zwanzig Louis; hierauf entfernte er sich mit den Worten: »In zehn Minuten, mein Herr, wird Ihr Mann im Gefängnis sein.«

Ich atmete auf, und da meine Rache befriedigt war, so beruhigte ich mich. Hierauf bat ich Fräulein Adele um Verzeihung; sie geriet dadurch in große Verlegenheit, weil sie nicht wußte, inwiefern ich sie beleidigt hatte; darum bat sie mich ihrerseits um Verzeihung. Aus dieser Verlegenheit hätte sich schon eine gewisse Zärtlichkeit entwickeln können, aber in demselben Augenblick trat der Vater ein und sagte mir, der Laternenmacher sei im Gefängnis, und alle Welt gebe mir recht. »Und ich,« rief er, »werde bezeugen, daß der Schelm die Federn zerbrochen hat.«

»Sie haben es also gesehen?«

»Nein. Aber das ist einerlei; denn alle Welt versichert, er sei es gewesen.«

Diese Naivetät versetzte mich in gute Laune. Lachend nahm ich Platz und richtete einige gleichgültige Fragen an Adelens Vater, Moreau. Er sagte mir, er sei Witwer, Adele sei sein einziges Kind, er gehe nach Louviers, um eine Stelle in einer Fabrik anzunehmen usw. usw.

Etwa seit einer Stunde hatte ich mich an dem Komischen des Abenteuers ergötzt, als die Szene plötzlich pathetisch wurde. Zwei weinende Frauen, von denen die eine einen Säugling an der Brust hielt, und vier Würmer, die man alle zusammen in einen Scheffel hätte stecken können, traten ein und warfen sich vor mir auf die Knie. Bei diesem kläglichen Anblick erriet ich sofort, was sie von mir wollten. Es waren die Mutter, die Frau und die Kinder des Verbrechers. Sofort war mein Herz von Mitleid erfüllt; denn da mein Zorn durch die Genugtuung einer völligen Rache besänftigt war, so hatte ich keinen Grund mehr, noch länger zu grollen. Die Frau hätte mich jedoch beinahe wieder in Wut gebracht, indem sie mir sagte, ich sei getäuscht worden; ihr Mann sei ein ehrlicher Mensch, aber alle seine Ankläger seien Schufte.

Die Mutter sah, daß ein Gewitter loszubrechen drohte, und fing es geschickter an. Sie sagte mir, es sei ja wohl möglich, daß ihr Sohn die Gaunerei begangen habe, aber ich müsse sie ihm verzeihen, denn er könne nur durch seine Armut dazu getrieben worden sein; er habe seinen Kindern kein Brot zu geben. »Mein guter Herr!« rief sie aus, »haben Sie Mitleid mit uns, deren einzige Stütze er ist. Tun Sie ein gutes Werk und geben Sie ihm die Freiheit wieder; sonst muß er ja sein ganzes Leben lang im Gefängnis bleiben, denn selbst wenn wir unsere Betten verkaufen, wären wir niemals imstande. Ihnen eine solche Summe zu bezahlen.«

»Meine gute Frau, ich verzeihe ihm, soweit ich dabei in Betracht komme. Hier haben Sie meine schriftliche Abstandserklärung. Machen Sie das übrige mit dem Kommissar ab, denn ich will keinen Menschen mehr sehen.«

Zugleich gab ich ihr einen Louis, um Lebensmittel zu kaufen, und befahl ihr hinauszugehen, um nicht länger von ihren Danksagungen belästigt zu werden. Einige Augenblicke später trat der Kommissar ein, um mich sein Protokoll unterschreiben zu lassen, und ich mußte auch noch die Kosten bezahlen. Die Laternen wurden für zwölf Franken ausgebessert, und nachdem die ganze Geschichte mir vier oder fünf Louis gekostet hatte, stieg ich endlich gegen neun Uhr in meinen Einsitzer.

Adele mußte sich zwischen meine Beine setzen, aber sie saß recht unbequem. Ich forderte sie auf, näher an mich heranzurücken, um sich besser stützen zu können. Sie hätte sich jedoch an mich anlehnen müssen, und ich wagte nicht, weiter in sie zu dringen, dies zu tun, denn die Stellung wäre von Anfang an ein bißchen unzüchtig gewesen. Vater Moreau setzte sich auf den Hintersitz, und Clairmont bestieg sein Pferd. So waren wir also tête-à-tête oder vielmehr tête-à-dos, und befanden uns notwendigerweise in fortwährender Berührung. In dieser Stellung ließ ich das junge Mädchen bis zum ersten Pferdewechsel fortwährend plaudern; aber ich dachte mir nichts Böses dabei, sondern hatte nur die Absicht, uns die Zeit zu vertreiben.

Während die Pferde umgespannt wurden, waren wir ausgestiegen. Als wir wieder in den Wagen stiegen, mußte Adele ihr Bein sehr hoch heben, und ich sah infolgedessen eine schwarze Hose. Frauen mit Hosen waren mir immer ein Greuel, besonders aber mit schwarzen Hosen.

»Moreau,« sagte ich zum Vater, der ihr beim Einsteigen half, »Ihre Tochter hat mir ihre schwarze Hose gezeigt.«

Adele wurde rot, und der Vater versetzte lachend: »Ein großes Glück für sie, daß sie Ihnen weiter nichts gezeigt hat.«

Diese Antwort gefiel mir, aber die verfluchte Hose hatte mich so geärgert, daß ich ganz verdrießlich wurde. Ich glaubte darin einen beleidigenden Gedanken, einen Versuch der Abwehr zu erblicken. Natürlich wäre dies ganz vernünftig gewesen, aber ich fand es sehr wenig angebracht bei einem jungen Mädchen, das an Gefahr noch gar nicht denken durfte oder sich wenigstens sehr in acht nehmen mußte, damit nicht andere dächten, sie dächte daran. Da ich ihr jedoch keinen Vorwurf machen, ebensowenig aber die üble Laune überwinden konnte, die sich meiner bemächtigt hatte, so begnügte ich mich, höflich zu sein, aber bis St.-Simphorien sprach ich weiter kein Wort mehr mit ihr, als daß ich sie bat, sich bequemer zu setzen; dagegen hatte mich bis zum Augenblick, wo die verhängnisvolle Hose sich vor meinen Blicken offenbart hatte, Adele mit jenen Nichtigkeiten der guten Gesellschaft amüsiert, die die Zeit vergehen lassen, ohne den Geist zu ermüden.

Als wir in St.-Simphorien ankamen, befahl ich Clairmont voraus zu reiten und mir in Roanne ein gutes Abendessen für drei Personen zu bestellen; er könne dann zu Bett gehen und bis Tagesanbruch schlafen. Etwa in der Mitte des Weges sagte Adele zu mir, sie müsse mich doch wohl belästigen, denn ich sei nicht mehr so heiter wie im Anfang. Ich versicherte ihr, sie belästige mich durchaus nicht, und ich sitze nur darum so ruhig, um sie selber vollkommen in Ruhe zu lassen.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Absicht; aber Sie haben sicher unrecht, wenn Sie glauben, Sie könnten durch Ihr Gespräch meine Ruhe stören. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, was ich denke: Sie sagen mir nicht den wahren Grund für den Umschlag Ihrer Stimmung.«

»Und glauben Sie den wahren Grund zu kennen?«

»Ja, zum wenigsten bilde ich es mir ein.«

»Nun, so nennen Sie ihn mir.«

»Sie sind verdrießlich, seitdem Sie meine Hosen gesehen haben.«

»Das ist wahr; diese schwarzen Hosen haben meine Seele verdüstert.«

»Das tut mir recht leid; aber geben Sie zu, daß ich nicht ahnen konnte: erstens, daß Sie meine Hosen sehen würden; zweitens, daß die schwarze Farbe Ihnen mißfallen würde.«

»Auch das ist sehr wahr; da nun aber der Zufall mir die Sache entdeckt hat, so werden Sie auch die Wirkung verzeihen, die die Hose auf mich hervorgebracht hat. Dieses Schwarz hat mich auf traurige Gedanken gebracht, während ein Weiß mir lachende eingeflößt haben würde. Tragen Sie immer dieses häßliche Kleidungsstück?«

»Heute zum erstenmal.«

»Sie sehen also, daß Sie eine unpassende Handlung begangen haben, indem Sie es heute anlegten.«

»Unpassend?«

»Nach meiner Ansicht, ja. Hören Sie, Adele: Was würden Sie gesagt haben, wenn ich heute morgen Unterröcke angezogen hätte? Sie würden das unpassend gefunden haben. Sie lachen?«

»Entschuldigen Sie, und gestatten Sie mir zu lachen, denn ich habe niemals etwas so Komisches gehört, übrigens haben Sie unrecht, einen solchen Vergleich zu ziehen. Er trifft nicht zu; denn alle Welt hätte Sie in Röcken gesehen, und das wäre lächerlich gewesen, während kein Mensch ahnen konnte, daß ich Hosen trug.«

Ich ließ dies gelten. Es freute mich, an dem jungen Mädchen Geist genug zu finden, um meinen Sophismus zu entlarven; ich blieb jedoch wortkarg.

In Roanne erhielten wir ein ziemlich gutes Abendessen. Moreau begriff wohl, daß er ohne Adele nicht mit mir gespeist und nicht umsonst gereist haben würde, und er war entzückt, als ich ihm sagte, daß seine Tochter mir durchaus nicht lästig falle, sondern im Gegenteil sehr gute Gesellschaft leiste. Ich erzählte ihm unseren Hosenstreit, und er gab mit behaglichem Lachen seiner Tochter unrecht. Ich machte ihm eine Freude, als ich ihm nach dem Abendessen sagte, er solle mit seiner Tochter in dem Zimmer schlafen, worin wir uns befänden; in diesem standen zwei Betten. Ich selber verbrachte die Nacht in einer anstoßenden Kammer.

Am nächsten Morgen sagte Clairmont im Augenblick der Abfahrt zu mir, er werde voraus reiten, um das Nachtquartier zu bestellen; denn da wir schon einmal eine Nacht verloren hätten, so käme es nicht darauf an, wenn wir noch eine zweite verlören.

Diese Bemerkung meines treuen Clairmont zeigte mir, daß er anfing, ein gewisses Ruhebedürfnis zu empfinden, und seine Gesundheit lag mir am Herzen. Ich befahl ihm daher, in St. Pierre-le-Mortier Halt zu machen und dafür zu sorgen, daß ich ein gutes Abendessen vorfände. Als wir in unserem Wagen saßen, dankte Adele mir.

»Sie reisen also nicht gerne bei Nacht?« fragte ich sie.

»Das wäre mir einerlei; aber ich habe Furcht, ich könnte einschlafen und dann auf Sie fallen.«

»Das würde ich nur als ein Glück empfinden, meine liebe Adele. Ein hübsches Mädchen wie Sie ist eine angenehme Last.«

Sie antwortete mir nicht, aber sie verstand mich. Ich hatte mich erklärt; aber ich mußte sie mir von selber entgegenkommen lassen, um sie sanft wie ein Lamm zu finden. Von neuem schwieg ich, bis wir in der Nähe von Varennes waren. Dort sagte ich zu ihr: »Wenn ich wüßte, meine liebe Adele, daß Sie mit ebenso gutem Appetit wie ich ein Huhn essen würden, so würden wir hier Mittag machen.«

»Versuchen Sie es; ich werde mich bemühen, Ihnen die Spitze zu bieten.«

Wir speisten gut und tranken noch besser, sodaß wir ein bißchen beschwipst waren, als wir wieder abfuhren. Adele, die sonst nur zwei– oder dreimal im Jahre Wein trank, lachte darüber, daß sie nicht mehr ganz gerade gehen konnte. Sie war darob in einiger Unruhe; ich tröstete sie, indem ich ihr sagte, die Dünste des Champagners seien gar bald verflogen. Sie kämpfte nun mit allen Kräften wider den Schlaf an, konnte ihn aber nicht besiegen, und ließ ihr hübsches Köpfchen auf meine Brust sinken. So lag sie zwei Stunden lang in tiefem Schlaf. Ich achtete diesen, obgleich ich nicht dem Wunsch widerstehen konnte, mich zu überzeugen, daß das mir so unangenehme Kleidungsstück gänzlich verschwunden war.

Während sie schlief, berauschte ich mich an wollüstigen Gedanken, indem ich sah, wie ihr sprossender Busen das leichte Mieder zu sprengen suchte. Aber ich hielt meine Begierden im Zaum, und das wurde mir um so leichter, da das Verschwinden der schwarzen Hose mir keinen Zweifel mehr ließ, daß ich Adele gefügig finden würde, sobald ich sie angreifen wollte. Ich wünschte jedoch, daß sie aus freiem Antriebe sich mir ergeben oder doch wenigstens mir entgegenkommen sollte, und ich wußte, daß ich ihr nur die Sache etwas zu erleichtern brauchte, um meinen Zweck zu erreichen. Als sie erwachte, war sie höchst überrascht, sich in meinen Armen zu finden. Sie bat tausendmal um Entschuldigung, und ich glaubte, um sie zu beruhigen, ihr einen zärtlichen Kuß geben zu müssen. Dieses Mittel wirkte, wie ich dem Leser wohl nicht zu sagen brauche – denn wer hätte nicht die Macht eines Kusses empfunden, der unter gewissen Umständen gegeben wird!

Da ihr Kleid ein bißchen in Unordnung gekommen war, wollte sie es wieder zurecht machen, aber der Wagen war eng, und durch eine ungeschickte Bewegung entblößte sie ein Knie. Ich lachte laut auf, sie stimmte ein und sagte voller Geistesgegenwart: »Diesmal hat hoffentlich keine schwarze Farbe Ihnen düstere Gedanken eingeflößt.«

»Aber, liebe Adele, Rosenfarbe kann mir doch nur köstliche Gedanken einflößen!«

Ich sah sie ihre großen Augen niederschlagen, aber sie tat es mit jener Anmut, welche Wonne verheißt.

Indem wir miteinander plauderten und dabei, wie man zu sagen pflegt, Öl ins Feuer gossen, kamen wir in Moulin an, wo wir einen Augenblick ausstiegen. Eine Menge Weiber fielen über uns her und boten uns Schnitzwaren an; ich schenkte dem Vater und der Tochter alle Sachen, die ihnen zu gefallen schienen. Hierauf fuhren wir weiter, indem wir die Weiber miteinander keifen und sich zerkratzen ließen, weil wir der einen etwas abgekauft hatten, und der andern nicht.

Mit Einbruch der Nacht kamen wir in St.-Pierre an. Während der vier Stunden unserer Fahrt von Moulin hatten wir Fortschritte gemacht, und Adele war so zutraulich zu mir geworden wie zu einem alten Bekannten.

Ein ausgezeichnetes Abendessen erwartete uns dank dem Eifer meines Clairmont; er war zwei Stunden vor uns angekommen und hatte sich zu Bett gelegt, nachdem er sorgfältig alles für meine Ankunft vorbereitet hatte. Wir speisten in einem großen Zimmer, wo zwei blütenweiße große Betten uns erwarteten.

Ich sagte Moreau, er solle mit seiner Tochter in dem einen schlafen das andere würde ich für mich nehmen. Er antwortete mir jedoch, Adele und ich könnten jedes für sich in einem Bett schlafen, denn er bitte mich um Erlaubnis, sofort nach dem Essen nach Nevers aufbrechen zu dürfen, damit er am Morgen in aller Frühe seinen Schuldner antreffen und mit uns gleich nach unserer Ankunft weiterfahren könnte.

»Wenn Sie mir das gesagt hätten, würden wir in Nevers übernachtet haben.«

»Sie sind zu gütig, ich werde diese vierthalb Poststationen reiten. Das wird mir gut tun, und ich liebe die Bewegung des Reitens sehr. Ich vertraue Ihnen meine Tochter an. Sie wird hier im Zimmer weniger nahe bei Ihnen sein als in Ihrem Einsitzer.«

»Oh! Wir sind übrigens alle beide sehr vernünftig.«

Als er fort war, sagte ich Adelen, sie solle zu Bett gehen und in ihren Kleidern bleiben, wenn sie mich nicht für ihren Freund halte; ich würde es ihr nicht übel nehmen.

»Es wäre sehr unrecht von mir,« sagte sie, »wenn ich Ihnen ein solches Zeichen von Mißtrauen geben wollte.«

Sie stand auf und ging einen Augenblick hinaus. Als sie wieder eintrat, verschloß sie die Türe. Dann zog sie sich aus und als sie im Hemde war, kam sie zu mir und umarmte mich. Ich war in diesem Augenblick mit Schreiben beschäftigt, und da sie sich auf den Fußspitzen herangeschlichen hatte, so war ich ein bißchen überrascht, übrigens auf eine sehr angenehme Weise. Sie lief nach ihrem Bett und sagte mutwillig: »Pfui! Sie sind erschrocken!«

»Du irrst dich, meine schöne Sylphide; allerdings hast du mich überrascht. Bitte, komme noch einmal, denn ich sterbe vor Verlangen, dich wieder eingeschlafen in meinen Armen zu sehen.«

»Kommen Sie doch her und sehen Sie mich schlafen.«

»Wirst du immer schlafen?«

»Ja, immer.«

»Das wollen wir sehen.«

Ich warf die Feder hin und hielt im selben Augenblick Adele in meinen Armen. Sie lachte, war voller Feuer, gab sich allen meinen Wünschen hin und bat mich nur, ich möchte sie schonen. Ich tat alles, was sie wollte, und obgleich die liebe Kleine sich die größte Mühe gab und mit aller Glut mithalf, um das Werk zu erleichtern, so war doch der erste Angriff so mühevoll wie eine von den Arbeiten des Herkules. Das übrige ging besser, denn nur der . erste Schritt ist schwer. Als nach drei aufeinanderfolgenden Kämpfen das Schlachtfeld ganz von Blut überströmt war, überließen wir uns der Ruhe. Um fünf Uhr klopfte Clairmont an die Tür; ich befahl ihm, Kaffee für uns zu bestellen, und wir standen auf, ohne daß ich meiner Adele einen Morgengruß hätte darbringen können; ich versprach ihr jedoch diesen für unterwegs.

Als Adele angekleidet war, entdeckte sie den Kampfplatz, auf dem sie der Liebe ihr erstes Opfer gebracht hatte. Als sie die Spuren ihrer Niederlage sah, seufzte sie. Sie war beim Kaffeetrinken ein wenig nachdenklich. Sobald wir aber in unserem Einsitzer waren, kehrte mit der Wonne der Liebe auch ihre Heiterkeit zurück, und wir übertäubten mit unserm Entzücken das Bedauern darüber, daß die Reise so bald ein Ende nehmen würde.

In Nevers trafen wir Moreau. Er war untröstlich, daß sein Schuldner ihm die zweihundert Franken erst am Mittag bezahlen könnte; denn er wagte nicht mich zu bitten, so lange auf ihn zu warten. Ich sagte zu ihm: »Sehen Sie nur zu, daß wir ein ganz ausgezeichnetes Mittagessen erhalten; wir werden weiterreisen, sobald Sie Ihr Geld bekommen haben.«

Bis zum Mittagessen schlossen wir uns in ein Zimmer ein, um uns einem Haufen von Weibern zu entziehen, die uns allerlei Tand verkaufen wollten. Nach zwei Uhr fuhren wir weiter, da Moreau sein Geld bekommen hatte. In der Dämmerung kamen wir in Come an; obgleich Clairmont uns in Briare erwartete, so beschloß ich doch, die Nacht in Come zu verbringen, und diese zweite Nacht war besser als die erste. Nachdem wir am andern Morgen in Briare zum Frühstück das Abendessen verzehrt hatten, das Clairmont am Tage vorher für uns bestellt hatte, übernachteten wir in Fontainebleau, wo ich meine schöne Adele zum letztenmal besaß. Am Morgen versprach ich ihr, sie auf meiner Rückreise von England in Louviers zu besuchen; ich habe ihr jedoch nicht Wort halten können.

Von Fontainebleau nach Paris brauchten wir vier Stunden, aber diese kamen uns recht kurz vor! In Paris ließ ich an der Brücke St.-Michel den Wagen vor einem Uhrmacherladen halten; ich ließ mir verschiedene Uhren an den Wagen bringen, kaufte eine für fünfzehn Louis und schenkte sie Adelen, die ich mit ihrem Vater an der Ecke der Rue aux Ours absetzte. Hierauf fuhr ich nach dem Hôtel Montmorency, da ich nicht bei Frau von Urfé wohnen wollte. Nachdem ich jedoch Toilette gemacht hatte, ging ich zu ihr zum Mittagessen.

Achtes Kapitel


Ich lasse meinen Bruder, den Abbate, aus Paris ausweisen. – Frau du Rumain bekommt durch meine Kabbala ihre Stimme wieder. – Ein schlechter Spaß. – Die Corticelli. – Ich nehme den kleinen Aranda mit nach London. – Ankunft in Calais.

Frau von Urfé empfing mich wie immer mit offenen Armen; dies- mal aber überraschte sie mich, indem sie sofort nach der Be- grüßung dem kleinen Aranda befahl, aus ihrem Arbeitszimmer den versiegelten Brief zu holen, den sie ihm am Morgen übergeben habe.

Ich öffnete diesen Brief, der von demselben Tage datiert war, und las:

»Mein Genius hat mir bei Tagesanbruch gesagt, daß Galtinardo von Fontainebleau abfährt und daß er noch heute bei mir zu Mittag speisen wird.«

Der Zufall hatte die Wahrheit gesprochen; aber solche Dinge sind mir hundertmal in meinem Leben begegnet – Dinge, die ganz ausgezeichnet sind, um anderen Leuten, aber nicht mir, den Kopf zu verdrehen. Ich gestehe, daß diese Dinge mich in Erstaunen versetzt haben; aber sie haben mich niemals dazu veranlaßt, meine Vernunft aufzugeben. Man behauptet irgend etwas, das man erraten hat, und zieht daraus die Folgerung, daß man eine prophetische Gabe besitze; aber man spricht nicht von den tausend Fällen, in denen die Ereignisse die Weissagungen zuschanden gemacht haben. Vor ungefähr sechs Monaten ging ich die törichte Wette ein, daß eine Hündin am nächsten Tage fünf Junge werfen würde, und zwar lauter weibliche. Ich gewann. Alle Welt erklärte das für ein Wunder, nur ich nicht. Denn wenn der Zufall nicht meine Kühnheit begünstigt hätte, wäre ich der erste gewesen, der darüber gelacht hätte, damit die Lacher sich nicht über meine Zuversicht lustig machen möchten.

Selbstverständlich bewunderte ich die Weisheit ihres Schutzgeistes, und teilte lebhaft die Freude, die Frau von Urfé darüber empfand, während ihrer Schwangerschaft so gesund zu sein. Überzeugt, daß ich kommen würde, hatte die gute Närrin allen Gästen, die an diesem Tage bei ihr speisen sollten, unter dem Vorwand eines Unwohlseins absagen lassen. Wir verbrachten daher den ganzen Nachmittag unter vier Augen und beschäftigten uns damit, die Mittel zu finden, wie wir den kleinen Aranda veranlassen könnten, freiwillig nach London zu gehen. Da ich durchaus nicht wußte, wie das zu erreichen wäre, so waren alle Antworten des Orakels dunkel, verworren und hatten einen doppelten oder dreifachen Sinn. Frau von Urfé hatte eine große Abneigung dagegen, ihm zu sagen, daß er reisen müsse. Ich mochte daher nicht mit ihrem Gehorsam Mißbrauch treiben und sah ein, daß ich mir den Kopf zerbrechen müßte, um den kleinen Mann dahin zu bringen, daß er selber es als eine Gunst erbäte, die Reise machen zu dürfen.

Da ich das Bedürfnis hatte, mich zu zerstreuen, ging ich in die italienische Komödie, wo ich Frau du Rumain fand. Sie war entzückt, mich wieder in Paris zu sehen, und sagte zu mir: »Ich fühle das größte Bedürfnis, Ihr Orakel um Rat zu fragen. Und ich beschwöre Sie, besuchen Sie mich morgen!«

Natürlich versprach ich ihr das gern.

Die Vorstellung interessierte mich wenig, denn das gespielte Stück gefiel mir nicht. Ich wäre fortgegangen, wenn ich nicht gewünscht hätte, das Ballett zu sehen. Daß dieses für mich ganz besonders interessant sein würde, hatte ich allerdings nicht erwartet. Man stelle sich meine Überraschung vor, als ich unter den Figurantinnen die Corticelli entdeckte! Ich bekam Lust, mit ihr zu sprechen; nicht als ob sie in mir irgend einen verliebten Wunsch erweckt hätte, sondern weil ich neugierig war, ihre Abenteuer kennen zu lernen. Als ich hinausging, begegnete ich dem guten Baletti, der sich vom Theater zurückgezogen hatte und in allen Ehren von einer Pension lebte. Nachdem ich ihn umarmt und mich erkundigt hatte, wie es ihm gehe, sprach ich mit ihm über die Corticelli; er sagte mir ihre Wohnung und erzählte mir, daß es ihr sehr traurig gehe.

Zum Abendessen ging ich zu meinem Bruder; er und seine Frau waren sehr erfreut, mich wiederzusehen, und beide wünschten sich Glück, daß ich gerade zur rechten Zeit gekommen sei, unseren Bruder, den Abbate, zu überreden, daß er freiwillig ihr Haus verlasse; denn sie seien sonst entschlossen, ihn hinauszuwerfen.

»Wo ist er?«

»Du wirst ihn gleich sehen; denn es ist die Stunde des Abendessens, und da Essen und Trinken für ihn die beiden wichtigsten Angelegenheiten dieser Welt sind, so wird er ganz bestimmt kommen.«

»Was hat er dir getan?«

»Er hat alle schlechten Streiche verübt, deren ein Taugenichts fähig ist. Aber da kommt er; ich werde dir alles in seiner Gegenwart erzählen.«

Der Abbate war erstaunt, mich zu sehen; er machte mir ein Kompliment, obgleich ich ihn nicht ansah, und fragte mich, was ich gegen ihn hätte.

»Was ein Ehrenmann gegen ein Ungeheuer haben kann! Ich besitze den Brief, den du an Passano geschrieben hast, und wonach ich ein Betrüger, ein Spion, ein Dukatenbeschneider, ein Giftmischer bin. Was sagt Herr Abbate dazu?«

Er antwortete nicht und setzte sich zu Tisch.

Hierauf erzählte mein anderer Bruder mir folgendes:

»Als dieser schöne Herr zu mir kam, empfing ich ihn mit Freuden, und meine Frau nahm ihn auf das freundschaftlichste auf. Ich gab ihm ein sehr sauberes Zimmer und bat ihn, mein Haus als das seinige zu betrachten. Wohl um uns zu seinen Gunsten einzunehmen, sagte er uns sofort, du seiest der größte Schuft von der Welt. Um uns dies zu beweisen, erzählte er uns: er habe ein junges Mädchen aus Venedig entführt, das er habe heiraten wollen; in Genua habe er dich aufgesucht, weil er sich mit ihr in der drückendsten Not befunden habe. Allerdings hat er anerkannt, daß du ihn sofort aus dem Elend errettest habest. Du habest dich jedoch verräterischerweise seiner Schönen bemächtigt und sie zu zwei anderen Mädchen gesellt, die du bereits gehabt habest. Du habest in seiner Gegenwart bei ihr geschlafen und habest ihn aus Marseille fortgeschickt, um dich ungestört mit ihr belustigen zu können. Er hat seine häßliche Geschichte damit geschlossen, daß er uns sagte: wegen der Entführung des jungen Mädchens könne er nicht nach Venedig zurückkehren; er sei daher auf uns angewiesen, bis er die Möglichkeit gefunden habe, von seinen Talenten oder von seinem Priesterberuf zu leben. Ich fragte ihn, was für Talente dies seien, und er antwortete mir, er werde italienischen Unterricht geben. Da wir nun aber sahen, daß er selber sehr schlecht italienisch spricht, so lachten wir über sein Vorhaben, als wir erfuhren, daß er kein Wort französisch versteht. Es blieb also nur sein Priesterberuf übrig, und gleich am nächsten Tage sprach meine Frau mit Herrn de Sauci, dem Schatzmeister der geistlichen Pfründen. Sie bat ihn, unseren Bruder dem Erzbischof von Paris vorzustellen, der ihm vielleicht eine Anstellung in seinem Dienst geben würde, bis er sich einer guten Pfründe würdig gezeigt hätte. Zu diesem Zweck mußte er unsere Pfarrkirche besuchen. Ich sprach mit dem Pfarrer von St.-Sauveur, und dieser versprach mir, sich für ihn zu interessieren. Er nannte mir die Stunde, zu der er die Messe lesen könnte, wofür er das übliche Almosen von zwölf Sous erhalten würde. Das war ein guter Anfang, der zu Besserem führen konnte. Als wir aber unserem Bruder von dem Erfolg unserer Bemühungen Mitteilung machten, da geriet der Herr Abbate in Zorn und sagte, er sei nicht der Mann, für zwölf Sous Messen zu lesen oder einem Bischof den Hof zu machen in der Hoffnung, dadurch in dessen Dienste eintreten zu können, denn er wolle in keines Menschen Dienst stehen. Wir waren entrüstet, verbargen jedoch unseren Ärger. Nun hat aber der Bursche in den drei oder vier Wochen, seitdem er hier ist, es fertig gebracht, unser ganzes Haus auf den Kopf zu stellen. Infolgedessen hat gestern die Kammerzofe meiner Frau zu unserem großen Bedauern uns verlassen, und die Köchin will fortgehen, weil er sie fortwährend in der Küche belästigt. Darum sind wir fest entschlossen, ihn fortzuschicken, um so mehr, da seine Gesellschaft uns unerträglich ist. Ich bin über deine Ankunft hocherfreut, denn ich hoffe, wir werden zusammen ein Mittel finden, ihn fortzuschicken, und je eher dies geschieht, desto besser wird es sein.«

»Nichts ist leichter als das!« antwortete ich. »Wenn er in Paris bleiben will, so mag er das tun; aber schicke schon morgen seine Sachen in ein möbliertes Zimmer und laß ihm zugleich ein polizeiliches Verbot zustellen, daß er dein Haus nicht wieder betreten darf. Will er abreisen, so möge er sagen, wohin. Ich verpflichte mich, ihm noch heute Abend, bevor ich gehe, die Reise zu bezahlen.«

»Man kann nicht nobler sein! Nun, Abbate, was sagst du dazu?«

»Ich sage: es ist genau ebenso, wie Giacomo mich aus Marseille fortgeschickt hat. Es ist sein Stil: Gewalttätigkeit, Despotismus!«

»Scheusal, danke Gott, daß ich statt Prügel dir Geld geben will. Erinnere dich, daß du versucht hast, mich in Lyon an den Galgen zu bringen.«

»Wo ist Marcolina?«

»Habe ich dir Rechenschaft zu geben? Schnell, wähle: Rom oder Paris? Aber in Paris bekommst du keinen Heller.«

»Ich werde nach Rom gehen.«

»Schön. Die Reise kostet für einen einzelnen Menschen nur zwanzig Louis; aber ich werde dir fünfundzwanzig geben.«

»Wo sind sie?«

»Das wirst du gleich sehen. Bitte, gib mir Papier, Tinte und eine Feder.«

»Was willst du schreiben?«

»Anweisungen auf Lyon, Turin, Genua, Florenz und Rom. Für die Reise nach Lyon wird für dich morgen ein Platz im Eilwagen bezahlt sein; nach deiner Ankunft erhältst du dort fünf Louis: die gleiche Summe wird dir in jeder der vier anderen Städte ausbezahlt werden; solange du aber hier in Paris bist, hast du keinen Heller von mir zu erhoffen. Ich wohne im Hotel Montmorency; weiter brauchst du nichts zu wissen.«

Hierauf grüßte ich meinen Bruder und dessen Frau und sagte ihnen auf Wiedersehen. Checco, so hieß mein Bruder, der Maler, mit seinem Kosenamen, sagte mir, er werde mir am nächsten Tage den Koffer des Abbate zuschicken; ich sagte ihm, er solle dies unter allen Umständen tun und sich im übrigen ganz auf mich verlassen.

Am anderen Tage kam der Koffer und mit ihm der Abbate. Ohne ihn anzusehen, ließ ich ihm ein Zimmer geben, indem ich dem Wirt mit lauter Stimme sagte, ich wolle drei Tage lang, aber nicht eine Stunde länger, für Wohnung und Essen des Abbate bürgen. Dieser wollte mit mir sprechen, aber ich verwies ihn in hartem Ton auf den nächsten Tag und verbot in seiner Gegenwart meinem Clairmont nachdrücklich, ihn in mein Zimmer eintreten zu lassen.

Hierauf begab ich mich zu Frau du Rumain; der Schweizer sagte zu mir: »Mein Herr, alles schläft noch. Aber wer sind Sie? Ich habe einen Befehl.«

»Der Chevalier de Seingalt.«

»Bitte, treten Sie hier in meine Loge ein und unterhalten Sie sich mit meiner Nichte. Ich bin gleich wieder hier.«

Ich trete ein und finde ein reizendes junges Mädchen, sehr sauber gekleidet und mit lustigem Gesicht.

»Mein Fräulein, Ihr Oheim hat mir gesagt, ich solle mich mit Ihnen unterhalten.«

»Mein Onkel ist komisch, er hat weder mich noch Sie vorher gefragt.«

»Allerdings nicht; aber er hat erraten, daß ich nicht erst befragt zu werden brauchte, um Sie sehr hübsch zu finden.«

»Sehr schmeichelhaft, mein Herr! Aber ich weiß, was Komplimente wert sind.«

»Ich bezweifle nicht, daß man Ihnen dieses Kompliment oft gemacht hat; aber Sie verdienen es wirklich.«

»Das freut mich; aber ein Verdienst ist dies nicht.«

»Sie sind streng, mein Fräulein.«

»Wenn Sie vernünftig sind, werden Sie mir das nicht als Verbrechen anrechnen.«

Das Gespräch begann mich ebensosehr zu interessieren wie die schönen Augen der jungen Nichte; zum Glück machte der Oheim der Sache ein Ende, indem er mich bat, ihm zu folgen. Er führte mich zur Kammerfrau, die brummend einen Rock überwarf.

»Was haben Sie denn, mein schönes Fräulein? Sie scheinen nicht bei guter Laune zu sein.«

»Sie hätten wohl um zwölf Uhr kommen können! Es ist noch nicht neun Uhr, und die Gnädige ist erst um drei nach Hause gekommen. Es tut mir leid um sie; ich werde sie wecken.«

Ich wurde sofort in das Schlafzimmer geführt, und obgleich die Gräfin ihre Augen noch nicht ganz offen hatte, dankte sie mir, daß ich sie hätte wecken lassen, während ich sie zugleich um Entschuldigung bat, daß ich sie in ihrem Schlaf gestört hätte.

»Raton!« rief sie; »gib uns Schreibzeug und geh! Du kommst nicht eher herein, als bis ich dich rufe. Und vergiß nicht, daß ich für jedermann noch schlafe. «

»Gut, gnädige Frau, ich werde ebenfalls schlafen!«

»Mein lieber Herr, wie kommt es, daß das Orakel uns betrogen hat? Mein Mann lebt noch, und er sollte doch schon vor sechs Monaten sterben. Allerdings befindet er sich nicht eben wohl! Doch danach werden wir später fragen. Ich werde Ihnen gleich sagen, worauf es mir jetzt hauptsächlich ankommt. Wie Sie wissen, ist die Musik meine Leidenschaft; meine Stimme ist wegen ihres Umfanges und wegen ihrer Stärke berühmt. Nun, mein lieber Freund, ich habe sie verloren; seit drei Monaten singe ich nicht mehr. Man hat mich mit Arzneien vollgestopft, die alle nichts genützt haben. Ich bin untröstlich! Ich bin unglücklich, denn der Gesang war der einzige Genuß, der mir mein Leben lieb machte. Ich flehe Sie an: fragen Sie das Orakel nach einem Heilmittel, das mir die Stimme wieder verschafft. Wie glücklich wäre ich, wenn ich singen könnte – womöglich gleich morgen! Ich werde zahlreiche Gesellschaft bei mir haben, und ich würde mich an dem allgemeinen Erstaunen erfreuen. Wenn das Orakel will, so bin ich überzeugt, es ist auch möglich. Denn ich habe eine ausgezeichnete Brust. Da haben Sie die Frage! Sie ist lang, aber um so besser; die Antwort wird ebenfalls lang sein, und ich habe lange Antworten gerne.«

Ich liebte zuweilen ebenfalls lange Fragen, weil ich beim Bau der Pyramide Zeit hatte, darüber nachzudenken, was ich antworten sollte. Im Falle der Madame du Rumain handelte es sich um ein Heilmittel gegen ein leichtes Übel. Aber ich war kein Arzt und kannte keines. Außerdem durfte, der Kabbala zu Ehren, das Orakel sich nicht in den ausgefahrenen Geleisen der Heilkunst bewegen. Ich begriff bald, daß eine vernünftige Lebensweise ihre Kehle wieder in den normalen Zustand bringen würde, und jeder denkende Arzt hätte dieses Wunder bewirken können. Ich jedoch bedurfte des imponierenden Apparates eines Scharlatans, und zwar gerade darum, weil ich auf eine Frau von Geist, wenn auch von befangenem Geist, einwirken mußte. Ich verfiel daher darauf, ihr einen Sonnenkultus zu verordnen, und ich setzte diesen auf eine Stunde an, die sie zu einer Lebensweise nötigte, welche sie gesund machen konnte und die sie pünktlich befolgen mußte, ohne daß ich ihr es besonders vorschrieb.

Demgemäß erklärte das Orakel: sie werde ihre Stimme in einundzwanzig Tagen, vom Tage des Neumondes an gerechnet, wieder erhalten, wenn sie jedem Tag in einem Zimmer, das mindestens »ein« Fenster nach Osten habe, der aufgehenden Sonne einen Kultus darbringe.

Ein zweites Orakel gebot ihr, den Kultus nur nach einem siebenstündigen, ununterbrochenen Schlaf darzubringen. Die Stunden des Schlafes entsprachen der Anzahl der Planeten. Bevor sie zu Bette gehe, solle sie dem Monde ein Badeopfer bringen, indem sie ihre Beine bis zu den Knien in lauwarmem Wasser halte. Ferner bezeichnete ich ihr die Psalmen, die sie hersagen müsse, um sich den Mond geneigt zu machen, sowie andere, die sie bei Sonnenaufgang hinter einem geschlossenen Fenster hersagen müsse.

Diese letzte Vorschrift erfüllte sie mit Bewunderung. Sie sagte: »Das Orakel hat sehr richtig vorausgesehen, daß ich mich bei offenen Fenstern hätte erkälten können. Ich werde alles tun, was das Orakel mir vorschreibt; aber ich flehe Sie an, mein lieber Freund, besorgen Sie alles, was für den Kultus notwendig ist.«

»Ich werde Ihnen nicht nur alles besorgen, sondern um Ihnen einen Beweis meines Eifers zu geben, werde ich selber am ersten Tage die Räucherungen vornehmen, damit Sie lernen, wie es gemacht wird. Denn die Anwesenheit von Frauen ist durch die Art dieser beiden Kulte ausgeschlossen.«

Sie nahm meine Anerbietungen mit sichtlicher Dankbarkeit an. Eine solche hatte ich allerdings erwartet, denn ich wußte, daß man gerade den geringsten Diensten einen unendlichen Wert beimißt. Dies ist das große Geheimnis, um in der Welt Glück zu haben, besonders bei den Damen der großen Gesellschaft.

Da schon am nächsten Tage Neumond war, der erste Tag für ihren Kultus, so ging ich um neun Uhr abends zu ihr; denn um sieben Stunden schlafen zu können, bevor sie der aufgehenden Sonne opferte, mußte sie vor zehn Uhr zu Bette gehen. Die Beobachtung aller dieser Kleinigkeiten war wichtig, wie ein jeder begreifen wird. Ich war überzeugt, daß die Dame, wenn überhaupt, nur durch eine vernünftige Lebensweise ihre Stimme wieder erlangen konnte. Ich täuschte mich nicht in meinen Mutmaßungen und erfuhr in London den glücklichen Erfolg meiner Methode durch einen Brief, der aus jeder Zeile herzliche Dankbarkeit atmete.

Frau du Rumain, deren Tochter den Fürsten Polignac heiratete, liebte das Vergnügen und besuchte gern große Soupers. Infolgedessen konnte sie nicht immer vollkommen gesund sein, und sie hatte ihre Stimme verloren, indem sie ihr zu große Anstrengungen zugemutet hatte. Als sie sie durch ein Verfahren wieder erlangt hatte, das sie dem Einfluß der Geister zuschrieb, lachte sie die vernünftigen Leute aus, die ihr sagten, die Magie sei eine chimärische Wissenschaft.

Ich fand bei Frau von Urfé einen Brief von Teresa Imer. Sie schrieb, sie sei entschlossen, nach Paris zu kommen, um ihren Sohn abzuholen, wenn ich ihn nicht zu ihr brächte. Sie verlangte eine bestimmte Antwort. Ich wünschte mir nichts Besseres, aber ich fand Teresa sehr unverschämt.

Ich sagte zum kleinen Aranda: »Deine Mutter erwartet uns in acht Tagen in Abdeville und wünscht dich dort zu sehen. Wir wollen miteinander hinreisen und ihr diese Freude machen.«

»Mit Vergnügen,« sagte er; »aber mit wem werde ich nach Paris zurückreisen, wenn Sie nach London gehen?«

»Sie werden ganz allein reisen,« antwortete Frau von Urfé ihm, »und zwar als Postillon gekleidet.«

»Zu Pferde! O, welches Vergnügen!«

»Aber Sie werden täglich nur acht oder zehn Stationen reiten, denn Sie brauchen nicht ihr Leben zu riskieren, indem Sie bei Nacht reiten.«

»Gern; aber nicht wahr, ich werde als Kurier gekleidet sein?«

»Ja; ich werde Ihnen eine schöne Jacke und Lederhosen machen lassen und werde Ihnen eine prachtvolle Satteltasche mit dem Wappen von Frankreich schenken.«

»Man wird mich für einen Kabinettskurier halten, und ich werde sagen, ich komme von London.«

Ich war überzeugt, daß ich nur einige Schwierigkeiten einzuwenden brauchte, um seinen Entschluß unerschütterlich zu machen. Darum erklärte ich in mißbilligendem Ton, ich würde niemals meine Einwilligung dazu geben, denn das Pferd könnte stürzen und er den Hals brechen. Ich ließ mich drei Tage lang bitten, bevor ich schließlich der Fürsprache der Marquise nachgab; ich tat dies jedoch nur unter der Bedingung, daß er nur den Rückweg zu Pferde machen solle.

Da er überzeugt war, daß er nach Paris zurückkehren würde, so wollte er nur soviel Wäsche mitnehmen, wie für eine sehr kurze Reise notwendig ist. Da ich jedoch wußte, daß er mir nicht aus den Fingern kommen würde, wenn ich ihn erst einmal in Abbeville hatte, so schickte ich heimlich seinen Koffer nach Calais, wo wir ihn bei unserer Ankunft vorfanden. Die gute Frau von Urfé ließ ihm eine prachtvolle Kurierausrüstung machen, wobei auch die hohen Stiefel nicht vergessen wurden.

So war denn diese Angelegenheit, die sehr schwierig zu sein schien, durch einen reinen Zufall in Ordnung gebracht worden. Ich erkenne gern an, daß der Zufall mich manchesmal in meinem Leben ganz ohne mein Zutun ebenso gut bedient hat.

Ich ging hierauf zu einem Bankier und nahm bei ihm Kreditbriefe über große Summen auf mehrere bedeutende Londoner Bankhäuser, da ich die Absicht hatte, dort viele Bekanntschaften zu machen.

Als ich über die Place des Victoires ging, kam ich an der Wohnung der Corticelli vorbei. Aus Neugier trat ich ein. Sie war sehr erstaunt, mich zu sehen. Nach einem langen Schweigen brach sie schließlich in Tränen aus, als sie sah, daß ich nichts sagte.

»Wenn ich dich niemals gekannt hätte,« rief sie, »wäre ich nicht unglücklich.«

»Du wärest auf alle Fälle unglücklich, wenn auch in anderer Form, denn dein Unglück ist nur eine Folge deiner schlechten Aufführung. Aber laß jetzt das Weinen und sage mir, worin dein Unglück besteht.«

»Da ich mich in Turin nicht mehr halten konnte, nachdem du mich entehrt hattest…«

»Fandest du es ohne Zweifel angebracht, nach Paris zu gehen und dich hier entehren zu lassen. Aber nimm einen anderen Ton an, sonst gehe ich!«

Sie erzählte mir nun einen ganz verruchten Lebenswandel. Ich war betroffen; denn schließlich mußte ich mir doch gestehen, daß ich den ersten Anlaß zu dieser Reihe von Unglücksfällen gegeben hatte. Hieraus ergab sich für mich die moralische Notwendigkeit, der Unglücklichen zu Hilfe zu kommen, so sehr ich mich auch über sie zu beklagen haben mochte.

»Du lebst«, sagte ich ihr, »in Schimpf und Schande; eine scheußliche Krankheit verzehrt deinen Leib; du kannst jeden Augenblick auf die Straße geworfen und dann von deinen Gläubigern ins Gefängnis gebracht werden. Was gedenkst du unter diesen Umständen zu tun?« ‚

»Ach! Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich in die Seine zu stürzen; denn um etwas anderes tun zu können, müßte ich Geld haben, und ich besitze nicht einmal so viel, um die Ausgaben für den heutigen Tag bestreiten zu können.«

»Und wenn du Geld hättest, was würdest du dann tun?«

»Zunächst würde ich mich bemühen, gesund zu werden; wenn mir dann noch genug übrig bliebe, würde ich nach Bologna gehen, und dort würde ich leben, so gut ich könnte. Vielleicht hätte die Erfahrung mich klüger gemacht.«

»Arme Corticelli, du tust mir leid! Obgleich du dich gegen mich schurkisch benommen hast – wodurch du heute dich im Elend befindest – will ich dich nicht verlassen. Da hast du vier Louis für die dringendsten Bedürfnisse; morgen werde ich wiederkommen und dir den Ort nennen, wo du gesund werden kannst. Wenn du wieder hergestellt bist, werde ich dir das nötige Reisegeld geben. Trockne deine Tränen, bereue deine Schuld, fasse gute Vorsätze. Der Himmel möge Mitleid mit dir haben.«

Das arme, unglückliche Mädchen warf sich mir zu Füßen, ergriff eine meiner Hände, die sie mit Küssen und Tränen bedeckte, und bat mich um Verzeihung für das Unrecht, das sie mir angetan habe. Ich tröstete sie und entfernte mich dann mit wundem Herzen. Um das menschliche Gefühl, das mich antrieb, nicht sich abkühlen zu lassen, nahm ich gleich auf der Straße einen Fiaker und fuhr zu einem mir befreundeten alten Wundarzt in der Rue de Seine. Ich erzählte ihm den Sachverhalt und sagte ihm, was ich von ihm wünschte. Er hörte mich ruhig an und sagte dann: »Die Kur wird sechs Wochen dauern; die betreffende Person wird völlig unbekannt bleiben, aber sie muß vorher bezahlen.«

»Sehr gern; aber die Person ist arm, und es handelt sich um einen Akt der Mildtätigkeit von meiner Seite.«

Ohne mir zu antworten, nahm der brave Mann ein Blatt Papier und schrieb einen Brief, den er an eine Adresse ganz draußen in der Vorstadt St.-Antoine richtete. Dieser Brief lautete:

»Sie werden die Person, die Ihnen diesen Brief nebst dreihundert Franken überbringt, in Pension nehmen und werden Sie in sechs Wochen als geheilt entlassen, wenn Gott es nicht anders fügt. Die Person hat ihre Gründe, um nicht erkannt werden zu wollen.«

Erfreut, diese Angelegenheit so schnell und so billig in Ordnung gebracht zu haben, ging ich ruhiger nach Hause. Ich legte mich sofort zu Bett, obwohl mein Bruder mich zu sprechen verlangte. Ich ließ ihm sagen, ich wolle ihn erst am anderen Tage sehen.

Schon um acht Uhr kam er zu mir. Dumm, wie immer, sagte er mir, er habe mir einen Vorschlag zu machen und sei überzeugt, daß ich nichts dagegen einwenden werde.

»Ich habe durchaus nicht die Absicht, deine Vorschläge zu hören. Wählst du Paris oder Rom?«

»Gib mir das Reisegeld; ich werde in Paris bleiben und mich schriftlich verpflichten, weder meinen Bruder noch dich jemals aufzusuchen. Das muß dir doch einerlei sein.«

»Es kommt dir nicht zu, darüber zu urteilen, was mir paßt. Entferne dich; ich habe weder Zeit noch Lust, dich anzuhören, überlege es dir: entweder bleibst du in Paris und bekommst keinen Heller, oder du gehst mit fünfundzwanzig Louis nach Rom, wie ich dir bereits gesagt habe.«

Hierauf rief ich Clairmont und befahl ihm, den Abbate hinauszuführen.

Es drängte mich, die Angelegenheit der Corticelli in Ordnung zu bringen. Ich begab mich daher sofort nach der Vorstadt St.-Antoine und fand dort ein Ehepaar von freundlichem Wesen und verständigem Aussehen; die Einrichtung des Hauses war vorzüglich geeignet für Kuren, die geheim gehalten werden sollten. Ich sah das für die neue Pensionärin bestimmte Zimmer und das Bad und war mit der Sauberkeit und mit der guten Ordnung zufrieden. Ich bezahlte gegen Quittung hundert Taler und sagte den Leuten, die kranke Dame werde im Laufe dieses oder des folgenden Tages kommen.

Zu Mittag speiste ich mit Frau von Urfé und dem kleinen Aranda. Nach dem Essen sprach die gute Marquise ganz glücklich lange Zeit von ihrer Schwangerschaft, deren Symptome sie bereits festgestellt hatte. Sie sagte mir, wie glücklich sie sein werde, wenn sie erst die deutlichen Zeichen ihres neuen Lebens und Wachstums verspüren werde. Ich mußte beständig auf der Hut sein, um mich nicht der Lachlust hinzugeben, die ihre Einfalt jeden Augenblick in mir erregte. Nachdem ich mich frei gemacht hatte, begab ich mich wieder zur Corticelli, die mich ihren Retter, ihren Schutzengel nannte. Ich gab ihr zwei Louis, da sie einige kleine Schmucksachen auf dem Leihhaus auszulösen wünschte, und versprach ihr, vor meiner Abreise sie noch einmal zu besuchen, um ihr hundert Taler zu geben, die für ihre Rückreise nach Bologna genügen würden. Hierauf ging ich zu Frau du Rumain, die sich für drei Wochen von allen ihren Bekannten verabschiedet hatte.

Die Dame war von der größten Rechtschaffenheit und außerordentlich hübsch, aber sie hatte einen gewissen geckenhaften Ton an sich, der so eigentümlich war, daß ich oft recht herzlich darüber lachen mußte. Sie sprach von der Sonne und von dem Monde wie von zwei mächtigen Herrschern, deren Bekanntschaft zu machen sie im Begriff stände. Als sie eines Tages mit mir über das Glück der Auserwählten nach dem Tode sprach, sagte sie, das Glück der Seelen müsse im Himmel darin bestehen, daß sie Gott »wahnsinnig« liebten. Ein friedliches, ruhiges Glück begriff sie nicht, denn zwischen Ruhe und Gleichgültigkeit konnte sie keinen Unterschied sehen.

Nachdem ich ihr die Kräuter für die Räucherungen gegeben hatte, bezeichnete ich ihr die Psalmen, die sie herzusagen hätte; hierauf nahmen wir unter vier Augen ein köstliches Abendessen ein, und nach Beendigung desselben befahl sie ihrer Kammerfrau, sie einzuschließen und mich um zehn Uhr zu erwarten, um mich in ein Schlafzimmer im zweiten Stock zu führen, das sie mit einem sybaritischen Luxus für mich hatte Herrichten lassen. »Sorge dafür, meine Liebe,« schloß sie, »daß Herr von Seingalt morgen früh um fünf in mein Zimmer kommt.«

Um neun Uhr setzte ich ihre Füße in eine Badewanne mit lauem Wasser und zeigte ihr, wie sie die Räucherungen vorzunehmen hätte, damit sie an den nächsten Tagen dies allein tun könnte. Ihre Beine waren von den Händen der Grazien geformt; ich trocknete sie ihr verliebt bis zu den Knieen ab und lachte innerlich über die Danksagungen, die sie mir dafür abstattete. Hierauf brachte ich sie liebevoll zu Bett, doch begnügte ich mich, einen feierlichen Kuß auf ihre hübsche Stirn zu drücken. Nachdem ich dies alles erledigt hatte, ging ich zu Bett. Ihre Kammerfrau, eine junge und hübsche Zofe, bediente mich unter lauter Scherzen, aber mit einer Geschicklichkeit, wie sie diesen Mädchen besonders in Frankreich eigen ist. Ich mußte laut auflachen, als sie mir sagte: da ich die Kammerzofe ihrer Herrin geworden sei, so sei es nicht mehr als recht und billig, daß sie mein Kammerdiener werde. Ihr munteres Wesen stimmte mich heiter und ich wollte sie auf meinen Schoß ziehen; aber gewandt wie ein Reh entschlüpfte sie meinen Armen und lief hinaus, indem sie mir sagte, ich müsse mich schonen, um am anderen Morgen um fünf gut zu bestehen. Sie irrte sich, aber der Schein war allerdings gegen ihre Herrin, und im allgemeinen lassen es ja die Dienstboten ihrer Herrschaft gegenüber weder an Verdacht noch an übler Nachrede fehlen.

Als ich früh um fünf Uhr das Zimmer der Frau du Rumain betrat, fand ich sie schon beinahe angekleidet, und wir gingen sofort in ein anderes Zimmer, von wo man die aufgehende Sonne hätte sehen können, wenn die Aussicht nicht durch das Hotel de Bouillon versperrt gewesen wäre. Aber natürlich war die unmittelbare Aussicht vollkommen gleichgültig. Sie vollzog den Kultus mit der ganzen Würde einer antiken Baalspriesterin. Hierauf setzte sie sich an ihr Klavier, indem sie mir sagte, am schwersten erscheine es ihr, den langen neunstündigen Vormittag auszufüllen; denn sie speiste um zwei Uhr zu Mittag. Dies war damals die Essensstunde der vornehmen Welt. Wir nahmen ein Gabelfrühstück zu uns, denn ich hatte ihr vorgeschrieben, daß sie möglichst wenig Kaffee trinken sollte. Beim Abschied versprach ich ihr, sie vor meiner Abreise von Paris noch einmal aufzusuchen.

In das Hotel Mormoreney zurückgekehrt, fand ich meinen Bruder auf mich wartend. Er war sehr unruhig, weil ich die Nacht nicht nach Hause gekommen war. Sowie ich ihn erblickte, rief ich ihm zu: »Paris oder Rom?«

»Rom!« antwortete er mit frommer Heuchlermiene.

»Warte im Vorzimmer; ich werde deine Angelegenheit sofort erledigen.«

Als ich fertig war, ließ ich ihn rufen. In demselben Augenblick traten mein anderer Bruder und dessen Frau zusammen mit ihm ein. Sie sagten mir, sie wollten sich bei mir zum Mittagessen einladen.

»Seid willkommen!« antwortete ich ihnen; »ihr seid gerade zur rechten Zeit gekommen, um zu sehen, wie ich den Abbate abfertige. Er hat sich endlich entschlossen, auf die von mir für gut befundene Art und Weise nach Rom zu reisen.«

Ich schickte Clairmont nach der Abfertigungsstelle der Eilwagen, um für den Abbate einen Platz bis Lyon zu bezahlen. Hierauf schrieb ich fünf Wechsel auf Lyon, Turin, Genua, Florenz und Rom aus.

»Wer bürgt mir dafür, daß die Anweisungen mir ausbezahlt werden?«

»Ich, du Tölpel. Wenn du sie nicht haben willst, dann laß sie hier.«

Clairmont brachte einen bezahlten Fahrschein, der für die Abreise am nächsten Tage gültig war. Ich gab ihm diesen und forderte ihn in harten Worten auf, das Zimmer zu verlassen.

»Aber ich könnte doch mit euch speisen!«

»Nein, ich will nichts von dir wissen. Du kannst mit Passano speisen; du warst ja sein Helfershelfer bei dem abscheulichen Anschlag, den der Schuft gegen mich ersonnen hatte. Clairmont, werfen Sie diesen Menschen hinaus und erlauben Sie ihm niemals wieder, meine Schwelle zu überschreiten!«

Mehr als einer meiner Leser wird der Ansicht sein, daß ich meinen Bruder, den Abbate, barbarisch behandelt habe. Ich habe allerdings keinem Menschen über meine Anschauungs- und Handlungsweise Rechenschaft abzulegen; aber ich will nur soviel sagen: ich hatte schon von Natur eine starke Abneigung gegen diesen Bruder; außerdem aber hatte sein Benehmen als Mensch und Priester und besonders sein Einverständnis mit Passano ihn mir dermaßen verhaßt gemacht, daß ich mit vollkommener Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen, mit großem Vergnügen, ihn hätte am Galgen sehen können. Ein jeder hat seine Moral, ein jeder hat seine Leidenschaften, und meine höchste Leidenschaft ist stets die Rachsucht gewesen.

»Was haben Sie mit dem Mädchen gemacht, das er entführt hatte?« fragte meine Schwägerin mich.

»Ich habe sie unter dem Schutz der Gesandten nach Venedig zurückgeschickt; sie hat mehr als dreißigtausend Franken Vermögen, besitzt schöne Schmucksachen, hat eine gute Ausrüstung an Kleidern und Wäsche und fährt in einem Wagen, der mehr als zweihundert Gulden wert ist und den ich ihr geschenkt habe.«

»Das ist alles ganz schön und gut, mein lieber Schwager; aber bedenken Sie, welchen Schmerz der Abbate empfinden mußte, als er sie bei Ihnen im Bett liegen sah.«

»Die Dummköpfe, liebe Schwägerin, sind dazu da, um solche und noch ganz andere Schmerzen zu haben. Hat er Ihnen gesagt, daß sie ihm niemals erlaubt hat, sie zu küssen, und daß sie ihm kräftige Ohrfeigen gab?«

»Im Gegenteil; er sprach nur von ihrer Liebe zu ihm.«

»Er hat sich selber schöngefärbt, liebe Schwägerin; in Wirklichkeit war es eine sehr häßliche Sache.«

Nachdem wir einige Stunden mit sehr angenehmem Geplauder verbracht hatten, entfernte mein Bruder sich, und ich begleitete meine Schwägerin in die Oper.

Als wir miteinander allein waren, schüttete die arme Frau in schwesterlichem Vertrauen ihr Herz aus und beklagte sich bitterlich über ihren Gatten:

»Seit zehn Jahren bin ich nun mit ihm verheiratet, und ich bin noch immer so wie am Tage vor unserer Hochzeit.«

»Wie, liebe Schwester? Immer noch Jungfrau?«

»Wie am Tage meiner Geburt. Man sagt mir, ich könne leicht die Lösung unserer unfruchtbaren Ehe durchsetzen; aber ich will keinen Skandal, und außerdem bin ich so schwach, ihn zu lieben, und ich will ihm keinen Kummer machen.«

»Sie sind ein seltenes Weib, liebe Schwester! Aber warum geben Sie ihm denn keinen Stellvertreter?«

»Dies könnte ich allerdings, glaube ich, tun, ohne mein Gewissen zu beschweren; aber ich will lieber meine schreckliche Lage erdulden und mir nichts vorzuwerfen haben.«

»Das ist sehr verdienstvoll, und ich lobe Sie darum; aber sind Sie sonst glücklich?«

»Er steckt über und über in Schulden, und wenn ich ihn nötigen wollte, mir meine Mitgift herauszugeben, würde ihm kein Hemd bleiben. Warum hat er mich geheiratet, da er doch seine Impotenz kennen mußte? Es ist eine Ungeheuerlichkeit!«

«Ja, aber Sie müssen ihm verzeihen.«

Die Frau hatte recht, daß sie sich beklagte; denn ohne den Geschlechtsgenuß ist die Ehe ein Dornenzweig ohne Blüten. Sie hatte Leidenschaften, aber ihre Grundsätze waren stärker; wäre es anders gewesen, so hätte sie außer dem Hause gesucht, was sie in ihrem Hause nicht fand. Mein Bruder, der seine Impotenz wohl kannte, entschuldigte sich damit, daß er seine Frau sehr lieb habe; er habe darum gehofft, das Zusammenleben mit ihr werde die ihm mangelnde Fähigkeit allmählich entwickeln. Er hatte sich selber betrogen und damit auch seine Lebensgefährtin. Nach dem Tode dieser Frau erweckte eine andere die gleiche Hoffnung in ihm; aber diesmal fand er mehr Leidenschaft als Tugend, und seine zweite Gattin zwang ihn, aus Paris zu fliehen und ihr seine ganze Habe zurückzulassen. In zwanzig Jahren werde ich von ihr sprechen.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr reiste der Abbate im Eilwagen ab; ich habe ihn erst sechs Jahre darauf in Rom wiedergesehen. Ich verbrachte den Tag bei Frau von Urfé und gab dem Anschein nach meine Einwilligung dazu, daß der kleine Aranda zu Pferde von Abbeville nach Paris zurückkehren dürfe. Ich setzte unsere Abreise auf den übernächsten Tag fest.

Am nächsten Tage speiste ich wieder bei Frau von Urfé, die immer noch in Wonne ob ihrer Wiedergeburt schwamm. Hierauf nahm ich einen Fiaker und besuchte die Corticelli in ihrer Zurückgezogenheit. Ich fand sie traurig und krank; aber sie war mit ihrem Schicksal zufrieden und lobte sehr das freundliche Benehmen des Chirurgen und seiner Frau. Das Ehepaar versicherte mir, sie werde gründlich geheilt werden. Ich übergab ihr zwölf Louis und versprach, ihr eine gleiche Summe zu schicken, sobald sie mir von Bologna geschrieben hätte. Sie versprach es mir, aber die arme Unglückliche hat ihr Versprechen nicht halten können, denn sie erlag der Behandlung, wie mein alter Chirurgus mir nach London schrieb. Zugleich fragte er bei mir an, wie er zwölf Louis bestellen könne, die sie einer Signora Laura vermacht habe, die mir wohl bekannt sein werde. Ich schickte ihm die Adresse, und der ehrliche Mann beeilte sich, den letzten Willen der Verstorbenen zu erfüllen.

Ich wurde von allen verraten, deren ich mich bei meinem Zauberschwindel mit der Frau von Urfé bediente, nur von Marcolina nicht, und alle, mit Ausnahme der schönen und geistreichen Venetianerin, sind im Unglück gestorben. Der Leser wird später Passano und Costa wiederfinden.

Am Tage vor meiner Abreise nach London speiste ich abends bei Frau du Rumain. Sie versicherte mir, ihre Stimme beginne bereits wieder zu kommen, und sie fügte eine vernünftige Bemerkung hinzu, über die ich mich freute. Sie sagte nämlich: »Ich glaube, die Lebensweise, zu der dieser kabbalistische Kultus mich nötigt, trägt gewiß auch zu meiner Besserung bei.«

»Verlassen Sie sich darauf, gnädige Frau! Wenn Sie diese Überzeugung haben, so bleiben Sie bei Ihrer jetzigen Lebensweise; Sie werden dadurch lange Zeit Ihre Stimme und Ihre Gesundheit sich erhalten.«

Ich sah, daß man oft, um zur Wahrheit zu gelangen, mit einer Täuschung beginnen muß. Dem Licht muß notwendigerweise Finsternis vorangegangen sein.

Ich verabschiedete mich von meiner guten Frau von Urfé mit einer Rührung, wie ich sie nie zuvor empfunden hatte, wie wenn ich ein Vorgefühl gehabt hätte, daß ich sie zum letztenmal sähe. Ich versicherte ihr, ich würde alle meine Versprechungen ohne Ausnahme halten. Sie umarmte mich mit der größten Zärtlichkeit und sagte mir, sie sei auf dem Gipfel des Glückes und erkenne an, daß sie dieses nur mir verdanke. Endlich nahm ich den kleinen Aranda in seinen Stulpstiefeln, die er anbetete, mit mir in das Hotel Mormorency, von wo wir erst gegen Abend abfuhren; er hatte mich nämlich gebeten, bei Nacht zu reisen, weil er sich schämte, in seinen Kurierkleidern im Wagen zu fahren.

Kaum waren wir in Abbeville angekommen, so fragte er mich, wo seine Mutter sei.

»Danach werden wir uns nach dem Essen erkundigen.«

»Aber man kann doch in einem Augenblick erfahren, ob meine Mutter hier ist oder nicht.«

»Allerdings; aber es eilt nicht.«

»Und wenn sie nicht hier ist?«

»Dann reisen wir weiter; wir werden sie unterwegs treffen. Bis zum Mittagessen wollen wir die schöne Fabrik des Herrn Varobes besehen.«

»Gehen Sie allein hin; ich bin müde und will lieber schlafen, bis Sie wiederkommen.«

»Gut.«

Nachdem ich zwei Stunden lang die herrliche Fabrik besehen hatte, die ihr Besitzer mir in eigener Person zeigte, ging ich nach meinem Gasthof zurück und ließ meinen jungen Menschen rufen.

»Mein Herr,« sagte der Wirt, der zugleich Postmeister war, »er ist fünf Minuten nach Ihrem Fortgehen nach Paris abgeritten. Er hat gesagt, er wolle die Depeschen holen, die Sie in Paris vergessen haben.«

»Wenn Sie ihn mir nicht zurückbringen lassen, richte ich Sie mit einem Prozeß zugrunde. Denn Sie durften ihm ohne meinen Befehl kein Pferd geben.«

»Beruhigen Sie sich, mein Herr! Wir werden den kleinen Taugenichts festnehmen, bevor er in Amiens ist.«

Er rief einen kräftigen und munteren Postillon; als dieser den Grund meiner Unruhe vernahm, lachte er und sagte: »Ich hole ihn ein, gnädiger Herr, und wenn das Jungchen einen Vorsprung von vier Stunden hätte! Ich verspreche Ihnen, bis sechs Uhr bin ich mit ihm wieder hier.«

»Ich verspreche dir zwei Louis Trinkgeld.«

»Dafür, gnädiger Herr, würde ich Ihnen einen Türken bringen!«

Fünf Minuten später saß der Postillon im Sattel, und als ich ihn davonjagen sah, zweifelte ich nicht mehr am Erfolg. Aber trotz meinem guten Appetit konnte ich mich doch nicht zu Tisch setzen, so sehr wurmte es mich, daß ein junger Mensch ohne Erfahrung mich angeführt hatte. Ich warf mich auf mein Bett und schlief, bis der Postillon mich weckte und mir meinen Flüchtling brachte, der wie ein Toter aussah. Ohne ein Wort mit diesem zu sprechen, befahl ich, ihn in einem guten Zimmer mit einem guten Bett einzusperren und ihm ein gutes Abendessen aufzutragen. Außerdem verlangte ich, daß der Wirt dafür bürgte, daß er bis zum Augenblick meiner Abreise nach Calais nicht wieder entfliehen würde. Der Postillon hatte ihn auf der fünften Poststation ganz in der Nähe von Amiens eingeholt; der gute Junge war bereits todmüde gewesen und hatte sich sanft wie ein Lamm in sein Schicksal ergeben.

Mit Tagesanbruch ließ ich ihn mir vorführen und fragte ihn, ob er freiwillig oder gefesselt mit mir nach London gehen wolle.

»Ich werde Ihnen freiwillig folgen, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort; aber nur zu Pferde und wenn ich Ihrem Wagen vorausreiten darf; denn sonst würde ich mich in diesen Kleidern für entehrt halten. Man soll nicht sagen können, Sie hätten mich verfolgen lassen, wie wenn ich Ihnen etwas gestohlen hätte!«

»Ich nehme dein Ehrenwort an; aber halte es auch! Bestelle in meinem Namen noch ein Reitpferd und umarme mich.«

Mit fröhlichem Herzen stieg er zu Pferd und ritt mit Clairmont voraus. Er war sehr erstaunt, als er seinen Koffer bereits in Calais fand, wo er zwei Stunden vor mir ankam.

Neuntes Kapitel


Meine Ankunft in London. – Die Cornelis. – Ich werde bei Hof vorgestellt. – Ich miete ein möbliertes Haus. – Ich mache viele Bekanntschaften. – Denkweise der Engländer.

Sofort nach meiner Ankunft in Calais übergab ich meinen Reisewagen dem Wirt zum goldenen Arm zur Aufbewahrung und mietete ein Paketboot, das mir zu jeder von mir gewünschten Stunde zur Verfügung stehen sollte. Es war nur ein einziges frei; ein zweites stand dem Publikum zur Verfügung gegen einen Überfahrtspreis von sechs Franken für den Kopf. Ich zahlte sechs Guineen voraus und ließ mir dafür eine Quittung in aller Form ausstellen; denn ich wußte, daß man schon in Calais bei jedem Rechtsstreit unrecht bekam, wenn man sein Recht nicht schriftlich beweisen konnte.

Bevor die Ebbe eintrat, ließ Clairmont mein ganzes Gepäck einschiffen, und ich bestellte ein Abendessen. Der Wirt machte mich darauf aufmerksam, daß die Louis in England keinen Kurs hätten, und erbot sich, mir die meinigen gegen Guineen einzuwechseln. Ich nahm dies an; aber ich war überrascht, als ich sah, daß er mir ebensoviele englische Goldstücke gab, wie ich ihm französische gegeben hatte. Ich wollte ihm den Überschuß aufdrängen, der vier vom Hundert beträgt; er wies dies jedoch zurück, indem er sagte, daß er den Unterschied auch nicht berechnete, wenn die Engländer ihre Guineen für Louis gäben. Ich weiß nicht, ob er bei dieser Rechnung gewann. Jedenfalls verlor ich nichts dabei.

Der kleine Aranda, dem ich von nun an seinen bescheidenen Namen Trenti wiedergeben muß, hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden; er war ruhig, aber stolz darauf, daß er mir seine Reitkunst bewiesen hatte. Gegenseitig miteinander zufrieden, hatten wir uns eben zu Tisch gesetzt, als ich vor meiner Tür einen englischen Wortwechsel hörte. Gleich darauf kam der Wirt herein und teilte mir den Anlaß des Streites mit: »Draußen steht der Kurier des Herzogs von Bedford, des englischen Botschafters; er meldet die Ankunft seines Herrn und streitet sich mit dem Kapitän des Paketbootes. Er behauptet, er hat dieses brieflich geheuert und der Kapitän könne daher nicht über sein Schiff verfügen. Der Schiffer dagegen behauptet, er habe keinen Brief bekommen, und kein Mensch kann ihm das Gegenteil nachweisen.«

Ich freute mich, daß ich das Paketboot gemietet und vorausbezahlt hatte, und legte mich zu Bett. Schon in der ersten Morgenfrühe kam der Wirt herein und sagte mir, der Botschafter sei um Mitternacht eingetroffen, und sein Kammerdiener wünsche mit mir zu sprechen.

Ich ließ ihn eintreten. Er setzte mir auseinander, sein Herr, der Lord, hätte es sehr eilig, nach London zurückzukommen, und ich würde ihm einen großen Dienst erweisen, wenn ich ihm das Paketboot überließe.

Ohne auch nur ein Wort zu sagen, ergriff ich die Feder und schrieb folgende Zeilen:

»Mylord Herzog kann über mein ganzes Paketboot verfügen mit Ausnahme des Platzes, den ich für mich, zwei andere Personen und mein kleines Gepäck brauche. Ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, dem englischen Botschafter gefällig zu sein.«

Der Bote kam wieder, um mir im Auftrage des Herzogs zu danken, sagte mir jedoch, sein Herr könne die Gefälligkeit nur gegen Bezahlung annehmen.

»Sagen Sie ihm, dies sei unmöglich, denn das Boot sei bereits bezahlt.«

»Er wird Ihnen die sechs Guineen erstatten.«

»Sagen Sie Ihrem Herrn, er könne über das Paketboot verfügen, aber nur ohne Bezahlung, sonst nicht; denn ich kaufe keine Ware, um sie wieder zu verkaufen.«

Eine halbe Stunde darauf ließ der Herzog sich melden. Er sagte mir mit edlem Anstand: »Sie haben recht; aber auch ich habe nicht unrecht, wenn ich Ihr Anerbieten unter solchen Umständen zurückweise. Es gibt nur ein Ausgleichmittel: nehmen Sie dieses an, und ich werde Ihnen nicht weniger verpflichtet sein.«

»Und welches wäre dies, Mylord?«

»Jeder von uns bezahlt die Hälfte.«

»Der Wunsch, Ihnen gefällig zu sein, verbietet mir, Ihren Vorschlag abzulehnen, Mylord; aber nun werde ich Ihr Schuldner, indem Eure Herrlichkeit mir diese Ehre erweisen. Wir werden abreisen, sobald Sie es befehlen, denn ich kann mich danach einrichten.«

Er schüttelte mir die Hand und ging hinaus. Als er fort war, fand ich auf meiner Kommode drei Guineen, die er dorthin gelegt hatte, ohne daß ich es bemerkte. Eine Stunde darauf erwiderte ich seinen Besuch, ließ dem Kapitän des Paketbootes sagen, er möchte den Botschafter und sein Gepäck an Bord nehmen; mit seinen Leuten solle er es nach seinem Belieben halten, denn das ginge mich nichts an.

Wir brauchten nur zwei und eine halbe Stunde zur Überfahrt über den Kanal; der Wind war heftig, aber wir gelangten ohne Unfall in den Hafen.

Der Fremde, der Englands Boden betritt, muß sich mit Geduld wappnen. Die Zolldurchsuchung war kleinlich, schikanös, indiskret, ja sogar unverschämt; aber da der Herzog sich ihr unterwarf, so mußte ich wohl oder übel seinem Beispiel folgen. Was hätte es mir übrigens genützt, wenn ich hätte Widerstand leisten oder mich beschweren wollen? Der Engländer beschränkt sich auf die Rechte, die die Gesetze ihm zuweisen, und erlaubt sich nur, was die Gesetze nicht verbieten; dies macht ihn schroff, schwer zu behandeln und grob. Besonders die Beamten können in keiner Beziehung mit den Franzosen verglichen werden, die die Kunst besitzen, bei der Ausübung aller ihrer Rechte Höflichkeit und Zartgefühl zu bewahren.

Nichts ist in England wie im übrigen Europa: die Erde selber hat eine andere Färbung, und das Wasser der Themse hat einen Geschmack, den man bei keinem anderen Flusse trifft. In Albion hat alles einen besonderen Charakter: Fische, Hornvieh, Pferde, Männer und Frauen – alles hat einen Typus, den man nur dort trifft. So ist es nicht zu verwundern, daß ihre Lebensweise im allgemeinen von derjenigen anderer Völker durchaus verschieden ist, besonders ihre Küche. Der Hauptcharakterzug dieser kühnen Insulaner ist ihr Nationalstolz, der sie veranlaßt, sich hoch über alle anderen Völker zu stellen. Man muß jedoch anerkennen, daß dieser Fehler allen Nationen anhaftet: eine jede stellt sich selber auf den ersten Platz, und schwierig ist in der Tat nur die Bestimmung des zweiten Ranges.

Was mir sofort auffiel, war die allgemeine Sauberkeit, die Schönheit der Landschaft, die Sorgfalt der Landbestellung, die kräftige Nahrung, die schönen Straßen und Postwagen, die Gerechtigkeit der Fahrpreise, die Leichtigkeit, wie diese mit einem Stück Papier bezahlt werden konnten, die Schnelligkeit ihrer Wagenpferde, obgleich diese stets nur trabten, und endlich die eigentümliche Anlage ihrer Städte, die auf dem Weg von Dover nach London liegen, wie zum Beispiel die sehr volkreichen Städte Canterbury und Rochester, die man mit großen Därmen vergleichen könnte, denn sie sind außerordentlich lang und haben fast gar keine Breite.

Gegen Abend kamen wir in London an und stiegen bei Madame Cornelis ab. Diesen Namen hatte Teresa angenommen; sie war zuerst mit dem Schauspieler Imer und hierauf mit dem Tänzer Pompeati verheiratet gewesen, der sich in Wien das Leben nahm, indem er sich mit einem Rasiermesser den Bauch aufschlitzte.

Diese Pompeati, die sich in Holland Trenti genannt hatte, trug in London den Namen ihres Liebhabers Cornelius Rigerboos, den sie zugrunde gerichtet hatte; ich habe früher in meinen Erinnerungen von ihr gesprochen.

Madame Cornelis wohnte am Soho-Quare, dem venetianischen Geschäftsträger gegenüber. Ich richtete mich nach der Vorschrift, die sie mir in ihrem letzten Brief gegeben hatte: ich befahl ihrem Sohn, im Wagen sitzen zu bleiben, und ließ mich selber melden. Ich glaubte, sie würde mir entgegenfliegen, aber ein Türhüter befahl mir, zu warten, und zwei Minuten später überbrachte ein Bedienter in großer Livree mir ein Briefchen, worin Madame Cornelis mir schrieb, ich möchte in dem Hause absteigen, wohin der Bediente mich führen würde. Ich verbarg meinen Verdruß, denn ich fand ihr Benehmen sonderbar, aber sie konnte ihren Grund haben. An dem bezeichneten Hause wurden wir von einer dicken Dame, Namens Rancour, und zwei Bedienten empfangen. Oder sie empfingen vielmehr meinen jüngeren Begleiter, denn die Dame umarmte den kleinen Cornelis, sprach ihm ihre Freude über seine glückliche Ankunft aus und tat, wie wenn sie mich überhaupt nicht sähe.

Unsere Koffer wurden abgeschnallt und ins Haus gebracht. Dame Rancour erkundigte sich, was von dem Gepäck dem jungen Mann gehörte, und ließ dieses in eine schöne Wohnung bringen, die aus drei Zimmern bestand. Hierauf zeigte sie ihm diese Zimmer und die beiden Bedienten und sagte: »Diese beiden Bedienten und diese Zimmer gehören Ihnen, desgleichen ich, Ihre sehr ergebene Dienerin.«

Zu mir kam Clairmont und sagte mir, er habe meine Koffer in ein Zimmer gebracht, das mit der Wohnung des jungen Cornelis in Verbindung stehe. Ich ging hin und sah auf den ersten Blick, daß man mich ohne Umstände wie einen Subalternen behandelte. Beinahe wäre mein Zorn ausgebrochen; wunderbarerweise aber beherrschte ich mich und sagte kein Wort.

Ich fragte nur Clairmont: »Wo ist Ihr Zimmer?«

»Oben unter dem Dach; ich muß es noch dazu mit einem von den beiden dicken Lümmeln teilen, die Sie gesehen haben.«

Mein braver Diener, der mich kannte, war sehr überrascht über die Ruhe, womit ich sagte: »Bringen Sie Ihre Koffer hinauf.«

»Soll ich die Ihrigen auspacken?«

»Nein, wir wollen morgen weiter sehen.«

Ich fuhr fort, meine Stimmung zu verbergen, und trat in das Zimmer des jungen Mannes, den man ohne Zweifel für meinen Herrn hielt und der vor Überraschung und Müdigkeit ein sehr dummes Gesicht machte. Er hörte der Frau Rancour zu, die ihm mit Behagen die glänzenden Verhältnisse seiner Mutter, der Madame Cornelis, schilderte: sie schwatzte von ihren großen Unternehmungen, ihrem unermeßlichen Kredit, von dem prachtvollen Hause, das sie hätte bauen lassen, von ihren dreiunddreißig Bedienten, ihren zwei Sekretären, ihren sechs Pferden, ihrem Landhause usw.

»Wie geht es meiner Schwester Sophie?« fragte der Junge.

»Heißt sie Sophie? Man nennt sie hier nur Miß Cornelis. Sie ist eine Schönheit, ein wahres Wunder: sie spielt mehrere Instrumente vom Blatt, tanzt wie Terpsichore, spricht englisch, französisch und italienisch mit gleicher Fertigkeit; mit einem Wort, sie ist ein wahres Wunder! Sie hat ihre Erzieherin und ihre Kammerfrau. Schade, daß sie ein wenig klein für ihr Alter ist; denn sie ist schon acht Jahre alt.«

Sie war zehn Jahre alt; da aber die Dame Rancour ihre Geschichten erzählte, ohne mich eines einzigen Blickes zu würdigen, so behielt ich meine Bemerkung für mich.

Junker Cornelis, der ein großes Bedürfnis nach Ruhe fühlte, tat die Frage, wann zu Abend gegessen werde.

»Um zehn Uhr, früher nicht,« sagte die Duenna; »denn vorher ist Madame Cornelis niemals frei. Sie ist stets mit ihrem Advokaten beschäftigt, wegen eines großen Prozesses, den sie gegen Sir Frederik Fermer führt.«

Ich merkte, daß ich durch das Geschwätz der Dame Rancour nicht viel Neues erfahren würde, wenn ich sie nicht besonders befragte; darum nahm ich meinen Hut und Stock und machte aufs geradewohl einen Spaziergang in der Riesenstadt. Ich achtete nur darauf, die Richtung nicht zu verlieren.

Es war sieben Uhr; eine Viertelstunde später trat ich in ein Kaffeehaus ein, worin ich viele Menschen sitzen sah. Es war das verrufenste Kaffeehaus von ganz London, der Sammelpunkt für die Hefe des italienischen Gesindels, das über den Kanal kam. Man hatte mich in Lyon darauf aufmerksam gemacht, und ich hatte mir fest vorgenommen, es niemals zu betreten. Der Zufall, der fast immer uns nach links führt, wenn wir nach rechts wollen, spielte mir ganz ohne mein eigenes Zutun diesen üblen Streich. Ich bin nicht wieder hingegangen. Nachdem ich mich abseits gesetzt und eine Limonade bestellt hatte, nahm ein Unbekannter neben mir Platz, um sich das Licht zunutze zu machen und eine Schrift zu lesen, die, wie ich bemerkte, in italienischer Sprache gedruckt war. Er strich mittels eines Bleistiftes gewisse Buchstaben aus und setzte die Verbesserung an den Rand; ich hielt ihn infolgedessen für einen Schriftsteller. Indem ich ihn in mäßiger Neugier bei seiner Beschäftigung beobachtete, sah ich, daß er das Wort ancora verbesserte, indem er ein h an den Rand schrieb, wie wenn er eine anchora drucken lassen wollte. Diese Barbarei ärgerte mich, und ich sagte zu ihm, seit vierhundert Jahren schreibe man ancora ohne h.

»Zugegeben; aber ich zitiere Boccacio, und bei Zitaten muß man genau sein.«

»Ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr; Sie sind, wie ich sehe, Gelehrter.«

»Von der ganz kleinen Sorte. Ich heiße Martinelli.«

»Dann sind Sie von der großen und nicht von der kleinen Sorte. Ich kenne Sie dem Rufe nach; wenn ich mich nicht irre, sind Sie ein Verwandter von Casalbigi, der mir von Ihnen gesprochen hat. Ich habe einige von Ihren Satiren gelesen.«

»Dürfte ich mir die Frage erlauben, mit wem ich die Ehre habe, zu sprechen?«

»Ich heiße Seingalt. Sind Sie mit Ihrer Ausgabe des Decamerone fertig?«

»Ich arbeite noch daran und suche die Zahl meiner Subskribenten zu vermehren.«

»Wenn Sie mich haben wollen, bitte ich Sie, mich unter diese Zahl aufzunehmen.«

»Sie erweisen mir eine Ehre.«

Er gab mir meinen Schein, und da ich sah, daß es sich nur um eine Guinee handelte, so nahm ich ihm vier Exemplare ab. Hierauf erhob ich mich, um mich zu entfernen, und sagte ihm, ich hoffe ihn in demselben Kaffeehaus wiederzusehen, indem ich zugleich nach dessen Namen fragte. Erstaunt, daß ich diesen nicht wußte, sagte er ihn mir. Er wunderte sich jedoch nicht mehr, als ich ihm sagte, ich sei zum erstenmal in London und zwar seit einer Stunde.

»Sie werden in Verlegenheit sein, Ihren Heimweg zu finden,« sagte er zu mir; »gestatten Sie mir, Sie zu begleiten.«

Draußen sagte er mir, der Zufall habe mich in das verrufenste Kaffeehaus von ganz London, das Café d’Orange, geführt.

»Aber Sie gehen ja dorthin.«

»Ich kann ruhig hingehen, denn für mich gilt Juvenals Vers:

Cantabit vacuus coram latrone viator.

Bei mir haben die Schnapphähne nichts zu suchen. Ich kenne sie, sie kennen mich; wir sprechen niemals ein Wort miteinander.«

»Sie sind gewiß schon lange in London?«

»Fünf Jahre.«

»Haben Sie hier viele Bekanntschaften?«

»Ja; ich mache jedoch nur dem Lord Spencer den Hof. Ich beschäftige mich mit Literatur, lebe für mich allein, verdiene wenig, weiß aber damit auszukommen. Ich wohne in einem möblierten Zimmer, besitze zwölf Hemden und die Kleider, die Sie auf meinem Leibe sehen. Und so fühle ich mich glücklich. Nec ultra deos lacesso. – Ich reize die Götter nicht.«

Dieser Landsmann, der das reinste Toskanisch sprach, gefiel mir besonders durch die offenbare Rechtschaffenheit, die aus dem Ton aller seiner Worte drang.

Unterwegs fragte ich ihn, wie ich es wohl anfangen müßte, um eine gute Wohnung zu bekommen. Nachdem ich ihm gesagt hatte, wie ich eingerichtet sein, wie ich leben und wie lange ich mich in London aufhalten wollte, riet er mir, ein ganzes Haus zu nehmen, das von der Küche bis zum Schlafzimmer und Speisesaal völlig eingerichtet wäre. »Man wird Ihnen ein Verzeichnis aller Einrichtungsgegenstände geben, und sobald Sie einen Bürgen stellen, sind Sie vollkommen Ihr eigener Herr, ansässig wie ein Engländer und nur den Gesetzen Untertan.«

»Was Sie mir da vorschlagen, ist sehr nach meinem Geschmack; aber weisen Sie mir bitte ein Haus dieser Art nach.«

»Das werden wir bald haben.«

Er trat in einen Laden ein, bat die Besitzerin, ihm den Advertiser zu leihen, schrieb sich einige Adressen daraus auf und sagte zu mir: »Da haben wir schon, was Sie brauchen.«

Das nächste von den angezeigten Häusern lag in Pall Mall; wir gingen dorthin. Eine alte Frau öffnete uns die Tür und zeigte uns das Erdgeschoß und die Stockwerke; jedes Stockwert hatte zwei Vorderzimmer, dazu eine Kammer, was in London selbstverständlich ist; in jedem Stockwerk waren zwei Betten. Im ganzen Hause glänzte alles vor Sauberkeit: Wäsche, Möbel, Teppiche, Spiegel, Porzellan, überhaupt alles, auch die Klingelzüge und Türschlösser nicht ausgenommen. Ein großer Schrank enthielt alle notwendige Wäsche; in einem anderen befanden sich das Silberzeug und mehrere vollständige Tischausrüstungen von Porzellan und Steinzeug. Die Küche war reichlich mit Geschirr versehen, das sich im besten Zustande befand und blitzblank geputzt war. Mit einem Wort, es fehlte in dem Hause nichts, was zum Komfort einer reichen Familie gehört. Der Preis betrug zwanzig Guineen für die Woche, und ohne zu feilschen, was in London ziemlich überflüssig ist, sagte ich Herrn Martinelli, ich wolle das Haus augenblicklich mieten, um es beziehen zu können, sobald es mir passe.

Mein Landsmann übersetzte der alten Frau meine Worte und sie ließ mir sagen, wenn ich sie als Housekeeper behalten wolle, brauche ich keine Kaution zu stellen, und es genüge, wenn ich jede Woche vorausbezahle. Ich ließ ihr antworten, ich würde sie unter der Bedingung behalten, daß sie eine von mir bezahlte Magd annähme, die vollständig unter ihren Befehlen stehen würde, aber außer englisch entweder französisch oder italienisch können müßte. Sie versprach mir, ich solle die gewünschte Magd schon am nächsten Tage haben, und ich bezahlte sofort für vier Wochen voraus. Sie gab mir eine Quittung auf den Namen des Chevalier de Seingalt; einen anderen habe ich in London nicht geführt.

So war ich also in weniger als zwei Stunden in einer Stadt, die man ein Chaos nennt, und die es auch besonders für einen Fremden ist, nach Wunsch untergebracht. Aber in London ist alles leicht für einen, der Geld hat und sich nicht vor Ausgaben scheut. Ich war entzückt, daß ich sofort imstande war, ein Haus zu meiden, wo man mich so schlecht empfangen hatte, während ich doch mit Recht hätte hoffen dürfen, daß man mich aufs beste aufnehmen würde. Ebensosehr freute ich mich des Zufalls, der mir die Bekanntschaft Martinellis verschafft hatte, von dem ich schon seit sechs Jahren die allerbeste Meinung hatte.

Als ich wieder in das Haus der Madame Cornelis kam, wartete man noch auf sie, obgleich es schon nach zehn Uhr war; ihr Herr Sohn schlief auf seinem Kanapee. In meinem Ärger auf diese Frau erwartete ich ihre Ankunft mit Ungeduld, doch war ich entschlossen, mir meinen Verdruß nicht anmerken zu lassen.

Bald verkündeten drei laute Schläge des Türklopfers die Herrin. Dame Cornelis war in einer Sänfte angekommen, und ich hörte sie geräuschvoll die Treppe hinaufsteigen. Sie trat ein und zeigte sich erfreut, mich zu sehen, kam mir aber nicht näher und umarmte mich nicht, wie ich doch hätte erwarten dürfen. Sie stürzte auf ihren Sohn zu – was gewiß sehr begreiflich war – nahm ihn auf ihren Schoß und bedeckte ihn mit Küssen; aber das schlaftrunkene Kind erwiderte ihre Liebkosungen nur kalt.

Ich sagte zu ihr: »Er ist, ebenso wie ich, sehr ermüdet; in Anbetracht unserer Ruhebedürftigkeit haben Sie uns recht lange warten lassen.«

Ob sie mir antworten wollte oder was sie mir antworten wollte, weiß ich nicht, denn in diesem Augenblick meldete der Diener, daß angerichtet sei. Sie stand auf und erwies mir die Ehre, sich an meinen Arm zu hängen und mit mir in einen Saal zu gehen, den ich bis dahin nicht bemerkt hatte. Es waren vier Gedecke aufgelegt, sie befahl jedoch, das vierte fortzunehmen. Neugierig fragte ich sie: »Für wen war dieses bestimmt?«

»Für meine Tochter; ich habe sie aber zu Hause gelassen; denn sobald sie erfuhr, daß Sie mit ihrem Bruder angekommen seien, hat sie gefragt, ob es Ihnen gut gehe.«

»Und darum haben Sie sie bestraft?«

»Selbstverständlich! Denn mir scheint, sie hätte sich zuerst nach dem Befinden ihres Bruders erkundigen müssen und dann erst nach dem Ihrigen. Finden Sie nicht, daß ich recht habe?«

»Arme Sophie, sie tut mir leid. Ihr Herz fühlt die Dankbarkeit tiefer als die Macht des Blutes.«

»Es handelt sich hier nicht um Gefühle, sondern darum, daß man junge Leute daran gewöhnen muß, so zu denken, wie es sich gehört.«

»Wie es sich gehört und wie es sich gehören sollte, ist manchmal zweierlei.«

Die Cornelis sagte ihrem Sohn, sie arbeite, damit er nach ihrem Tode ein reicher Mann sei, und sie habe mich veranlaßt, ihn zu ihr zurückzubringen, weil er schon alt genug sei, ihr zu helfen und an den Arbeiten in dem von ihr geleiteten Hause teilzunehmen.

»Und was sind das für Arbeiten, an denen ich teilnehmen soll, liebe Mama?«

»Ich gebe jährlich zwölf Soupers und zwölf Bälle für den Adel und ebensoviele für die bürgerliche Gesellschaft, zu zwei Guineen für die Person, und ich habe oft fünf- bis sechshundert Gäste. Die Ausgaben sind ungeheuer, und da ich allein bin, ist es unvermeidlich, daß ich bestohlen werde, denn ich kann nicht überall zu gleicher Zeit sein. Da du jetzt hier bist, so kannst du alles überwachen, mein lieber Sohn, kannst alles unter Verschluß halten, kannst schreiben, die Kasse führen, Zahlungen machen, die bezahlten Eintrittskarten entgegennehmen und dich in den Sälen bewegen, um zu sehen, ob jedermann gut bedient wird. Mit einem Wort, du wirst den Herrn machen.«

»Und Sie glauben, liebe Mama, daß ich imstande sein werde, das alles zu machen?«

»Ja; denn du wirst es lernen.«

»Das scheint mir recht schwierig zu sein.«

»Einer meiner Sekretäre wird hier bei dir wohnen und dich in allem unterrichten. Ein Jahr lang wirst du weiter nichts tun, als englisch lernen und an den Gesellschaftsabenden erscheinen, damit ich dich mit allen vornehmen Herrschaften Londons bekannt machen kann; so wirst du nach und nach Engländer werden.«

»Ich möchte aber lieber Franzose bleiben.«

»Vorurteil, liebes Kind! Du wirst dieses ablegen, und alle Welt wird vom Mister Cornelis sprechen.«

»Cornelis?«

»Ja; das ist dein Name.«

»Komisch.«

»Ich werde ihn dir aufschreiben, damit du ihn nicht vergißt.«

Die Cornelis schien zu glauben, daß ihr Sohn scherze; sie sah mich ein wenig überrascht an und sagte dann zu ihm, er könne zu Bett gehen. Dies tat er augenblicklich. Als wir allein waren, sagte sie zu mir: »Mein Sohn scheint mir schlecht erzogen und für sein Alter zu klein zu sein. Ich fürchte sehr, wir müssen ein wenig zu spät anfangen, ihm eine andere Erziehung zu geben. Was hat er in den sechs Jahren gelernt?«

»Er hätte viel lernen können, denn er ist im ersten Pensionat von Paris gewesen; aber er hat nur gelernt, was er wollte, und das war sehr wenig: die Flöte spielen, reiten, fechten, gut Menuett tanzen, jeden Tag die Wäsche wechseln, höflich antworten, sich gefällig benehmen, hübsch über Nichtigkeiten plaudern und sich elegant anziehen. Das ist alles, was er versteht; da er niemals Lust hatte, sich Mühe zu geben, hat er keinen Schimmer von den schönen Wissenschaften; er kann kaum schreiben, hat von Rechtschreibung keine Ahnung, weiß nichts von den vier Arten des Rechnens und macht sich sehr wenig daraus, zu wissen, daß England eine Insel ist, die zu Europa gehört.«

»Da sind ja die sechs Jahre gut angewandt!«

»Oder verloren, wie Sie wollen. Aber er wird noch viele Jahre mehr verlieren.«

»Meine Tochter wird sich über ihn lustig machen. Aber die ist ja auch von mir erzogen worden. Er wird sich schämen, wenn er sieht, welche Kenntnisse sie mit ihren acht Jahren hat.«

»Das wird er niemals sehen, wenn anders ich rechnen kann. Denn sie ist zehn Jahre alt.«

»Das muß ich besser wissen. Sie hat Geographie, Geschichte, Sprachen und Musik gelernt; sie weiß sich geistreich zu unterhalten und benimmt sich mit einer Vernunft, die weit über ihr Alter hinausgeht. Alle Damen reißen sich um sie. Ich lasse sie den ganzen Tag in eine Zeichenschule gehen; denn sie hat für das Zeichnen eine hervorragende Anlage; erst abends kommt sie nach Hause. Sonntags ißt sie bei mir, und wenn Sie mir das Vergnügen machen sollten, nächsten Sonntag bei mir zu speisen, so werden Sie sehen, daß ich nicht übertreibe.«

Wir hatten Montag. Ich erhob keine Einwendungen, aber ich fand es eigentümlich, daß sie mich anscheinend nicht für ungeduldig hielt, meine Tochter zu sehen, und daß sie mich nicht einlud, schon am nächsten Abend bei ihr zu essen, um mir dies Vergnügen zu bereiten.

»Sie sind«, fuhr sie fort, »gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um das letzte Fest zu sehen, das ich dieses Jahr dem Adel gebe, der in zwei oder drei Wochen die Stadt verlassen wird, um den Sommer auf dem Lande zu verbringen. Ich kann Ihnen keine Eintrittskarte geben, denn diese sind nur für Adelige bestimmt: Sie können aber trotzdem kommen, indem Sie mich als mein Freund begleiten; so werden Sie alles sehen. Wenn man mich nach Ihnen fragt, werde ich sagen, Sie haben sich in Paris meines Sohnes angenommen und ihn mir nach London gebracht.«

»Sie erweisen mir zu viel Ehre.«

Wir plauderten noch bis zwei Uhr morgens, und sie erzählte mir auf das ausführlichste den Prozeß, den sie mit dem Herrn Fermer hatte. Er behauptete, das von ihr gebaute Haus, das zehntausend Guineen gekostet hatte, gehöre ihm, weil er ihr das Geld dazu gegeben habe. Tatsächlich hatte er recht; nach dem englischen Gesetz aber hatte er unrecht, weil sie Materialien, Arbeiter und Baumeister bezahlt hatte: sie hatte die Quittungen auf ihren eigenen Namen ausgestellt und empfangen. Das Haus gehörte also ihr, und dies gab Fermer auch zu; aber er behauptete, er habe ihr die Mittel gegeben, und dies war der heikle Punkt des ganzen Rechtsstreites; denn sie forderte ihn heraus, eine einzige Quittung von ihr vorzuzeigen.

»Allerdings,« sagte die rechtschaffene Frau, »haben Sie mir mehr als einmal eine Summe von tausend Guineen gegeben; aber das waren freigebige Geschenke eines Freundes, und eine solche Freigebigkeit eines reichen Engländers ist nichts überraschendes, denn wir liebten uns ja und lebten zusammen.«

Dieser Prozeß, den die Cornelis im Laufe von zwei Jahren viermal gewonnen hatte, und den Fermer auf Grund der englischen Prozeßordnung immer wieder erneuerte, kostete der Dame bereits sehr viel Geld; im gegenwärtigen Augenblick handelte es sich um die Berufung letzter Instanz, aber bis zur Entscheidung konnten noch fünfzehn Jahre vergehen.

»Dieser Prozeß«, sagte die ehrliche Cornelis zu mir, »entehrt Fermer.«

»Das leuchtet mir ein; aber Sie glauben doch nicht, daß es für Sie eine Ehre ist?«

»O doch! Davon bin ich sogar fest überzeugt.«

»Das kann ich allerdings kaum begreifen.«

»Ich werde es Ihnen auseinandersetzen.«

»Wir wollen ein anderes Mal davon sprechen.«

In diesem dreistündigen Gespräch fragte die Frau mich nicht ein einzigesmal, ob es mir gut gehe, ob ich nach meinem Wunsch untergebracht sei, ob ich mich einige Zeit in London aufzuhalten gedenke, ob ich mit meinen Vermögensverhältnissen zufrieden sei. Mit einem Wort, von mir sprach sie überhaupt nicht, sondern sagte mir nur lachend und ganz unangebrachterweise, aber nicht ohne Absicht: sie habe niemals einen Heller! Sie hatte eine Einnahme von mehr als achtzigtausend Pfund Sterling im Jahre; aber ihre Ausgaben waren ungeheuer, und sie hatte Schulden.

Ich rächte mich für ihre Gleichgültigkeit, indem ich ihr nichts von meinen Verhältnissen sagte; übrigens war ich sauber, aber einfach gekleidet und trug an diesem Tage keine Diamanten oder sonstige Wertsachen an mir.

Etwas verletzt, aber nicht ärgerlich, ging ich zu Bett; denn im Grunde war es mir recht lieb, ihr schlechtes Herz entdeckt zu haben. Daher beschloß ich, trotz der Ungeduld, womit ich mich danach sehnte, meine Tochter zu sehen, doch nichts zu tun, um mir diese Freude vor dem nächsten Sonntag zu verschaffen.

Früh am andern Morgen befahl ich Clairmont, mein ganzes Gepäck auf einen Wagen zu laden. Als alles fertig war, ging ich zum jungen Cornelis, der noch im Bett lag, sagte ihm, daß ich in Pall Mall wohnte, und gab ihm meine Adresse.

»Wie? Sie bleiben nicht mehr bei mir?«

»Nein; denn deine Mutter hat vergessen, mich anständig zu empfangen und unterzubringen.«

»Sie haben vollkommen recht. Ich will nach Paris zurück!«

»Hüte dich ja, eine solche Dummheit zu machen! Bedenke, daß du hier zu Hause bist und daß du in Paris vielleicht keine Unterkunft mehr finden würdest. Leb wohl; Sonntag werde ich dich wiedersehen.«

Bald war ich in meinem neuen Hause eingerichtet. Ich ging aus, um dem venetianischen Geschäftsträger, Herrn Zuccata, meine Aufwartung zu machen. Ich gab ihm den Brief des Herrn von Morosini; er las ihn und sagte mir kalt, es freue ihn, meine Bekanntschaft zu machen. Als ich ihn bat, mich bei Hof vorzustellen, antwortete der unverschämte Dummkopf nur mit einem Lächeln, worin ich einen Ausdruck von Verachtung hätte finden können, wenn ich mir nur ein kleines bißchen Mühe gegeben hätte. Es war von seiner Seite aristokratischer Hochmut; ich vergalt Stolz mit Stolz, machte ihm eine kalte Verbeugung und entfernte mich, um seine Schwelle niemals wieder zu überschreiten.

Von Zuccata begab ich mich zu Lord Egremont; da ich ihn krank fand, gab ich den Brief ab, den ich für ihn hatte. Einige Tage darauf starb der Lord, und so nützten die beiden Briefe des Herrn von Morosini mir gar nichts; daran war allerdings dieser Herr nicht schuld. Wir werden sehen, welchen Erfolg sein kleines Briefchen hatte.

Ich begab mich hierauf mit einem Brief des Marquis de Chauvelin zum französischen Botschafter, dem Grafen Guerchy, der mich sehr freundlich empfing. Der Herr lud mich für den nächsten Tag zum Mittag ein und sagte mir, er würde mich auf meinen Wunsch am nächsten Sonntag nach dem Gottesdienst bei Hofe vorstellen. An der Tafel des Botschafters lernte ich den Gesandtschaftssekretär Chevalier d’Eon kennen, der später ganz Europa von sich reden machte. Dieser Chevalier d’Eon war eine schöne Frau, die vor ihrem Eintritt in den diplomatischen Dienst Advokat und Dragonerrittmeister gewesen war; sie diente Ludwig dem Fünfzehnten als tapferer Soldat und als geschickter Unterhändler. Trotz ihrem diplomatischen Geist und ihren männlichen Manieren brauchte ich keine Viertelstunde, um in ihr eine Frau zu erkennen; denn ihre Stimme klang für eine Kastratenstimme zu hell, und ihre Formen waren zu rund für einen Mann. Von dem vollständigen Mangel des Bartes will ich nichts sagen, denn dieser Umstand kann zufällig auch bei einem Mann vorkommen, der im übrigen vollkommen männlich gebildet ist.

Gleich in den ersten Tagen stellte ich mich allen Bankiers vor, bei denen ich im ganzen mindestens dreihunderttausend Franken gut hatte. Alle erkannten die Wechsel an, die ich ihnen vorlegte, und alle fanden sich durch die Briefe der Herrn Tourton & Baur veranlaßt, mir ihre ganz besonderen Dienste anzubieten. Ich habe keinen Gebrauch davon gemacht.

Da ich keinen Menschen kannte, besuchte ich die Theater von Covent-Garden und Drury-Lane; ich fand dort aber wenig Unterhaltung, weil ich kein Wort englisch verstand. Ich aß in allen Speisehäusern von gutem und schlechtem Ton, um mich an die Gebräuche dieser so großen und so kleinen Insulaner zu gewöhnen. Vormittags ging ich auf die Börse, wo ich einige Bekanntschaften machte. Ein Kaufmann, an den ich mich gewandt hatte, verschaffte mir einen Neger, der englisch, französisch und italienisch sprach und für dessen Treue er mir bürgte. Derselbe Kaufmann verschaffte mir auch einen französisch sprechenden, sehr guten englischen Koch, der mit seiner ganzen Familie in meine Dienste trat. Gleich in der ersten Woche lernte ich auch die feinen Badehäuser kennen, wo ein reicher Mann mit einer Vettel von gutem Ton, deren es in London nicht wenige gibt, baden, soupieren und schlafen kann. Man verschafft sich eine herrliche Orgie, die nur sechs Guineen kostet. Mit Sparsamkeit kann man die Ausgabe um ein Drittel ermäßigen; aber Sparsamkeit, die das Vergnügen verdirbt, war nicht meine Sache.

Am Sonntag legte ich eine elegante und reiche Kleidung an und ging gegen elf Uhr zu Hofe, wo ich unserer Verabredung gemäß den Grafen Guerchy traf. Er stellte mich Georg dem Dritten vor; dieser sagte etwas zu mir, aber er sprach so leise, daß ich ihn nicht verstand und nur durch eine Verbeugung antworten konnte. Die Königin machte dies wieder gut, und ich sah zu meinem Entzücken unter den Kavalieren, die sich um sie bemühten, auch den dummen Vertreter meiner teueren Heimatsrepublik. Als Herr von Guerchy mich als Chevalier de Seingalt vorstellte, machte Zuccata ein sehr erstauntes Gesicht; denn der Procuratore Morosini hatte mich in seinem Brief nur mit dem Namen Casanova bezeichnet. Die Königin fragte mich, aus welcher Gegend von Frankreich ich sei: als ich ihr antwortete, ich sei Venetianer, sah sie den Geschäftsträger von Venedig an, der durch eine Verbeugung bestätigte, daß er es nicht bestreiten könne. Ihre Majestät fragte mich hierauf, ob ich die Gesandten kenne, die dem König die Glückwünsche der Republik überbracht hätten. Ich antwortete ihr, ich wäre sehr genau mit ihnen bekannt und hätte in Lyon drei Tage lang sehr intim mit ihnen verkehrt; Herr von Morosini hätte mir Empfehlungsschreiben an Lord Egremont und an Herrn Zuccata übergeben.

»Ich habe sehr gelacht«, sagte die Königin, »als Herr von Querini mir sagte, ich sei ein kleiner Teufel.«

»Er hat sagen wollen, Madame, daß Euer Majestät geistreich sind wie ein Engel.«

Ich wünschte nichts sehnlicher, als daß die Königin mich fragen sollte, warum der venetianische Geschäftsträger mich nicht vorgestellt hätte; denn mir lag eine Antwort auf der Zunge, die dem Signor Zuccata auf acht Tage den Schlaf geraubt haben würde. Um so besser würde ich geschlafen haben, denn die Rache, besonders an einem hochmütigen Dummkopf, ist ein Vergnügen der Götter. Die Unterhaltung bestand jedoch wie immer bei Hof aus lauter nichtssagenden Redensarten.

Nach der Vorstellung bei Hofe setzte ich mich wieder in meinen Traqstuhl, und meine beiden Zweifüßler trugen mich nach Soho- Square, zur Dame Cornelis, bei der ich zum Mittagessen eingeladen war. Ein Herr in Hoftracht kann es nicht wagen, zu Fuß sich in den Straßen von London sehen zu lassen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, von gemeinem Pack mit Kot beworfen zu werden, und die Gentlemen würden ihm ins Gesicht lachen, wenn er sich darüber beklagen wollte. Man muß Gebräuche achten, wie sie sind, denn es gibt keinen Brauch, der nicht zu gleicher Zeit ehrwürdig und lächerlich wäre.

Man ließ mich und meinen Neger Jarbe in das Haus der Cornelis eintreten. Nachdem ich ein Dutzend große und schöne Zimmer durchschritten hatte, wurde ich in den Salon geführt, wo die Hausherrin nebst zwei englischen Damen und zwei englischen Herren sich aufhielt. Sie empfing mich mit der Höflichkeit vertrautester Freundschaft, wies mir einen Lehnstuhl an ihrer Seite an und setzte das Gespräch auf englisch fort, ohne meinen Namen zu nennen und ohne mir zu sagen, wer die Herrschaften waren. Als ihr Haushofmeister meldete, daß angerichtet sei, befahl sie, ihre Kinder herunterzurufen. Mein Herz wartete auf diesen Augenblick mit lebhafter Ungeduld. Sobald ich die kleine Sophie eintreten sah, eilte ich voll Rührung auf sie zu; aber ihre Mutter hatte sie abgerichtet: sie trat zurück, machte eine tiefe Verbeugung und sagte ein auswendig gelerntes Kompliment her. Um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, war ich so bescheiden, nicht darauf zu antworten; aber mein Herz zog sich schmerzlich zusammen.

Hierauf stellte die Cornelis ihren Sohn vor und sagte der Gesellschaft, ich hätte ihn zu ihr nach London gebracht, nachdem ich sechs Jahre lang seine Erziehung überwacht hätte. Da sie diese Mitteilung auf französisch machte, bemerkte ich mit Vergnügen, daß alle Anwesenden diese Sprache verstanden.

Wir setzten uns zu Tisch; die Cornelis saß zwischen ihren beiden Kindern und ich ihr gegenüber zwischen den beiden Engländerinnen, von denen die eine, obgleich sie bereits, wie man zu sagen pflegt, in vernünftigen Jahren war, mir sofort wegen ihrer Liebenswürdigkeit und ihrer heiteren Laune gefiel. Ich vertiefte mich in ein Gespräch mit ihr, sobald ich bemerkte, daß die Dame des Hauses nur wie zufällig einmal das Wort an mich richtete und daß Sophie mich niemals ansah, obgleich sie ihre schönen Augen fortwährend wandern ließ. Sie sah mir so ähnlich, daß jeder Irrtum ausgeschlossen war. Offenbar benahm sie sich nur darum so sonderbar gegen mich, weil ihre Mutter ihr das befohlen hatte. Ich fand diese Komödie ebenso lächerlich wie unverschämt. Ich ärgerte mich, daß ich mich hierüber verdrießlich fühlte, und da ich mir dies nicht merken lassen wollte, so führte ich ein scherzhaftes Gespräch über meine Beobachtungen englischer Gebräuche herbei, doch vermied ich sorgfältig jede Kritik, da eine solche stets den Nationalstolz verletzt, wenn ein Ausländer sie übt. Ich wollte die Gesellschaft nur zum Lachen bringen und mich ihr angenehm machen. Dies gelang mir. Ich vergaß aber dabei meine Rache nicht und redete die Cornelis nicht ein einzigesmal an. Ich sah sie überhaupt nicht.

Meine Nachbarin bewunderte die Schönheit meiner Spitzen und fragte mich dann, was es bei Hofe Neues gäbe.

»Mir war alles neu, meine Gnädige, denn ich habe heute den Hof zum ersten Mal gesehen.«

»Haben Sie den König gesehen?« fragte Sir Joseph Cornelis mich.

»Mein Sohn,« sagte seine Mutter zu ihm, »man stellt niemals solche Fragen.«

»Warum nicht, liebe Mutter?«

»Weil die Frage möglicherweise dem Herrn nicht gefällt.«

»Sie ist im Gegenteil sehr nach meinem Geschmack, Madame. Vor sechs Jahren habe ich Ihrem Sohn die Lehre gegeben, daß er stets fragen solle; denn das sei das beste Mittel, etwas zu lernen. Wer nicht fragt, bleibt immer unwissend.«

Ich hatte ins Schwarze getroffen; die Cornelis schmollte und sagte kein Wort mehr.

»Mit alledem«, fing der Kleine wieder an, »haben Sie mir noch nicht gesagt, ob Sie den König gesehen haben.«

»Ja, mein Freund, ich habe den König und die Königin gesehen, und Ihre Majestäten haben mir die Ehre erwiesen, mit mir zu sprechen.«

»Wer hat Sie vorgestellt?«

»Der französische Botschafter.«

»Das ist ja recht schön und gut,« rief die Mutter, »aber Sie werden mir zugeben, daß diese letzte Frage zu weit geht.«

»Wenn sie an einen Fremden gerichtet wäre, würde sie allerdings zu weit gehen; aber nicht mir gegenüber, da ich sein Freund bin. Wie Sie sehen, macht das, was ich ihm antworten mußte, mir Ehre. Wenn ich nicht die Absicht gehabt hätte, Sie ausdrücklich wissen zu lassen, daß ich bei Hofe gewesen bin, wäre ich nicht in solchem Kostüm zu Ihnen gekommen.«

»Das mag ja sein; da Sie aber nun einmal solche Fragen lieben, so will ich Sie jetzt fragen, warum Sie sich durch den französischen Botschafter und nicht durch den Vertreter der Republik Venedig haben vorstellen lassen?«

»Weil der venetianische Gesandte das nicht wollte. Und er hatte recht, denn er weiß, daß ich mit seiner Regierung auf gespanntem Fuße stehe.«

Wir waren schon beim Nachtisch, und die arme Sophie hatte noch kein Wort gesagt.

»Mein Kind,« sagte ihre Mutter zu ihr, »sage doch Herrn von Seingalt etwas.«

»Ich weiß nicht was, liebe Mama. Fordern Sie doch, bitte, Herrn von Seingalt auf, mit mir zu sprechen; ich werde ihm dann antworten, so gut ich kann.«

»Nun, meine liebe Sophie, so sage mir doch, mit welchen Studien du dich gegenwärtig beschäftigst.«

»Mit Zeichnen; wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen Arbeiten von mir.«

»Ich werde alles mit großem Vergnügen sehen; aber sage mir doch bitte, inwiefern du mich beleidigt zu haben glaubst; du machst ja ein ganz schuldbewußtes Gesicht.«

»Ich, mein Herr? Ich glaube wirklich. Ihnen nichts getan zu haben.«

»Das glaube ich auch, mein schönes Kind; aber du sprichst ja immer, ohne mich anzusehen, und da dachte ich, du schämtest dich vor mir. Schämst du dich etwa, daß du so schöne Augen hast? Du wirst rot! Was könntest du denn sonst begangen haben?«

»Sie bringen sie in Verlegenheit!« sagte ihre Mutter zu mir. – »Antworte ihm, meine Liebe, du habest dir durchaus nichts vorzuwerfen, aber du sehest aus lauter Achtung und Bescheidenheit die Personen nicht an, mit denen du sprichst.«

Hierauf entgegnete ich: »Aber wenn ein junges Mädchen aus Bescheidenheit die Augen niederschlägt, so gebietet es die Höflichkeit, daß es sie auch aufschlägt, wenn sie mit jemandem spricht.«

Niemand antwortete auf meinen Einwand, der eine Abfertigung der pedantischen Cornelis war. Nach einem kurzen Schweigen standen alle von Tisch auf, und die Kleine holte ihre Zeichnungen, um sie mir vorzulegen.

»Ich will nichts sehen, Sophie, wenn du mich nicht anblicken willst.«

»Nun, so sieh doch den Herrn an!« rief die Mutter.

Blitzschnell gehorchte das Kind ihr, und ich sah die allerschönsten Augen.

»Ei, jetzt erkenne ich dich, meine liebe Sophie! Und erinnerst auch du dich, daß du mich schon einmal gesehen hast?«

»Ja, mein Herr! Obgleich es schon sechs Jahre her sind, habe ich Sie auf den ersten Blick erkannt!«

»Wie ist das möglich, du hast mich ja gar nicht angesehen! Wenn du wüßtest, mein kleiner Engel, wie unhöflich es ist, eine Person, mit der man spricht, nicht anzusehen! Wer kann dir nur einen so falschen Grundsatz eingeflößt haben?«

Die Kleine blickte auf ihre Mutter, die inzwischen an ein Fenster getreten war, und ihr Blick sagte mir, von wem sie die Lehre hatte.

Ich sah, daß die Engländer vollkommen Bescheid wußten, und diese Rache genügte mir. Ich begann nun, mir ihre Zeichnungen anzusehen, sie wegen jeder einzelnen Schönheit zu loben und ihr Talent zu preisen. Ich wünschte ihr Glück, daß sie eine Mutter habe, die ihr eine so schöne Erziehung geben lasse. Dieses mittelbare Lob machte die Mutter ganz stolz. Meine kleine Sophie war überglücklich, daß sie sich keinen Zwang mehr anzutun brauchte, und sah mich unaufhörlich mit einem Ausdruck kindlicher Zärtlichkeit an, der mich entzückte. Sie trug auf ihrem Antlitz alle Kennzeichen einer schönen Seele, und ich beklagte innerlich dieses Engelchen, daß es unter der Herrschaft einer so unvernünftigen Mutter leben mußte. Sophie setzte sich ans Klavier und spielte voll Gefühl. Hierauf nahm sie eine Gitarre zur Hand und sang mehrere italienische Lieder mit einem Geschmack, der zu reif für ihr Alter war: sie bekundete damit eine Frühreife des Gefühls, das eine bessere Leitung erforderte, als die einer Cornelis.

Nachdem sie gesungen und den Beifall der ganzen Gesellschaft erhalten hatte, verlangte ihre Mutter von ihr, daß sie mit ihrem Bruder ein Menuett tanzen sollte. Er hatte es in Paris gelernt, aber er tanzte sehr schlecht, weil er keine Haltung hatte. Nachdem seine Schwester ihm das letzte Kompliment gemacht hatte, gab sie ihm einen Kuß, gleichsam als Balsam für eine Verletzung, die sie ihm zufügte: sie bat mich nämlich, mit ihr zu tanzen. Ich tat dies, ohne mich bitten zu lassen. Ihre Mutter fand mit Recht, sie habe entzückend getanzt, und sagte zu ihr, sie müsse mir erlauben, sie zu umarmen. Sie sprang auf mich zu; ich setzte sie auf meinen Schoß und bedeckte sie mit Küssen, die dadurch unbeschreiblich süß wurden, daß sie sie mir mit der innigsten Zärtlichkeit zurückgab. Ihre Mutter war guter Laune geworden und lachte aus aufrichtigem Herzen. Trotzdem verließ Sophie mich, wie wenn sie plötzlich sich einer Schuld bewußt worden wäre, lief zu ihrer Mutter und fragte diese, ob sie böse sei. Ein Kuß versicherte sie des Gegenteils. Nach dem Essen und dem Kaffee, der nach französischer Art gereicht wurde, zeigte die Cornelis mir einen prachtvollen Saal, den sie hatte bauen lassen. Es konnten darin gleichzeitig vierhundert Personen an einer einzigen, ungeheueren Tafel in Hufeisenform speisen. Sie sagte mir – und ich glaubte es ihr gerne – es gäbe in der ganzen riesigen Stadt London nicht einen zweiten Saal in solcher Ausdehnung.

Das letzte Fest vor dem Schluß des Parlaments sollte in vier oder fünf Tagen stattfinden. Sie hatte in ihrem Dienste etwa zwanzig Mädchen, die alle ziemlich hübsch waren, und ein Dutzend Lakaien in großer Livree.

»Dies ganze Pack bestiehlt mich,« sagte sie zu mir, »aber ich muß die Leute haben. Ich brauche einen klugen und tatkräftigen Mann, der mit mir zusammen die Aufsicht führt und mir ergeben wäre; hätte ich einen solchen, so wäre ich gewiß, in wenigen Jahren ein glänzendes Vermögen zu erwerben; denn die Engländer können nicht rechnen, wenn es sich um Vergnügungen handelt.«

Ich wünschte ihr diesen Mann und dieses Glück und verabschiedete mich sodann von ihr, indem ich ihr meine Bewunderung ihres Mutes aussprach.

Ich ließ mich darauf von ihrem Hause nach dem St. James-Park tragen, um Lady Harrington zu besuchen, für die ich einen Brief hatte, wie ich bereits erwähnte. Die Dame wohnte im Hofbezirke, und es war deshalb jeden Sonntag bei ihr Gesellschaft. Es war erlaubt, in ihrem Hause zu spielen; denn der Park steht unter der königlichen Gerichtsbarkeit. Sonst darf in ganz England am Sonntag niemand zu spielen oder Musik zu machen wagen. Die zahlreichen Spione, die sich in den Straßen der Hauptstadt herumtreiben, horchen auf jedes Geräusch, das aus den Gesellschaftszimmern der Häuser dringt. Wenn sie annehmen können, daß in einem Hause gespielt oder gesungen wird, verstecken sie sich, so gut sie können. Sobald sie die Türe sich öffnen sehen, schlüpfen sie hinein und verhaften alle schlechten Christen, die es wagen, durch eine Unterhaltung, die in der ganzen übrigen Welt für unschuldig gilt, den Sabbath zu verletzen. Dafür kann aber der Engländer ungestraft den Tag Gottes in den Schenken feiern oder in den Freudenhäusern, von denen die Stadt wimmelt. 2H7 Lady Harrington ließ mich eintreten, sobald sie meinen Brief erhalten hatte. Ich fand sie von etwa dreißig Personen beiderlei Geschlechts umgeben, doch erkannte ich sie leicht, da sie mir zur Begrüßung entgegenging, sobald sie mich eintreten sah.

Nachdem ich ihr meine Verbeugung gemacht hatte, sagte sie mir, sie habe mich bei der Königin gesehen und sofort, ohne mich zu kennen, den Wunsch gehabt, mich auch in ihrem Hause zu sehen. Unsere Unterhaltung dauerte eine Viertelstunde und bestand nur aus nichtigen Redensarten und jenen müßigen Fragen, die man ohne besonderen Zweck an einen Reisenden richtet.

Die Dame war bereits vierzig Jahre alt, aber noch schön. Sie war in London berühmt wegen ihres Einflusses und wegen ihrer galanten Abenteuer. Sie stellte mich auch ihrem Gemahl und ihren reizenden, schon erwachsenen vier Töchtern vor. Sie fragte mich, warum ich zu einer Zeit nach London gekommen sei, wo alle Welt aufs Land gehe. Ich antwortete ihr, ich tue für gewöhnlich nur das, was gerade in dem Augenblick mir angebracht erscheine, und sei daher in Verlegenheit, wie ich ihre Frage beantworten solle; übrigens gedenke ich, in London ein Jahr zu verbringen, und aufgeschoben sei daher nicht aufgehoben.

Meine Antwort schien ihr zu gefallen, weil sie dem englischen Charakterzuge der Unabhängigkeit entsprach; sie erbot sich mit der größten Liebenswürdigkeit zu allen Diensten, die in ihrer Macht ständen, und fuhr dann fort: »Vor allen Dingen werden Sie damit beginnen, am Donnerstag den ganzen Adel bei Madame Cornelis am Soho-Square zu sehen. Ich kann Ihnen meine Eintrittskarte geben. Hier! Sie gilt für Ball und Abendessen; kostet zwei Guineen.«

Ich gab ihr das Geld, und sie nahm mir die Karte wieder ab, um darauf zu schreiben: Bezahlt, Harrington.

»Ist diese Formalität durchaus notwendig, Mylady?«

«Ja; sonst würde man Ihnen den Betrag an der Tür abverlangen.«

Ich hütete mich natürlich, ihr zu sagen, daß ich eben von Soho- Square kam.

Während Lady Harrington eine Whistpartie zusammenbrachte, fragte sie mich, ob ich Empfehlungsbriefe an Damen habe. Ich antwortete ihr: »Ich habe einen von eigentümlicher Art und gedenke ihn morgen zu überbringen. Dieser Brief besteht nur aus dem Porträt der betreffenden Person.«

»Haben Sie es bei sich?«

»Ja, Mylady.«

»Kann ich es sehen?«

»Sehr gerne. Hier!«

»Es ist die Herzogin von Northumberland. Kommen Sie, wir wollen es ihr geben.«

»Gern.«

»Aber warten Sie, bis die Dame den ›Robber‹ markiert hat.«

Lord Percy hatte mir dieses Porträt gegeben und mir gesagt, es würde mir als Empfehlungsbrief dienen, wenn ich es seiner Mutter überreichte.

»Liebe Herzogin,« sagte Lady Harrington zu ihr, »hier ist ein Empfehlungsbrief, den der Herr beauftragt ist, Ihnen zu überreichen.«

»Ach ja! Es ist der Herr von Seingalt. Mein Sohn hat es mir geschrieben. Ich bin entzückt, Sie zu sehen, Herr Chevalier, und ich hoffe, Sie werden zu mir kommen. Ich empfange dreimal wöchentlich.«

»Wollen Sie mir wohl gestatten, Mylady, Ihnen den kostbaren Brief in Ihrem Hause zu überreichen?«

»Gern; Sie haben recht.«

Ich nahm an einer Whistpartie teil, die um kleine Einsätze gespielt wurde, und verlor fünfzehn Guineen, die ich sofort in bar bezahlte. Lady Harrington nahm mich auf die Seite und benützte die Gelegenheit, mir eine Lehre zu geben, die es nach meiner Meinung verdient, hier mitgeteilt zu werden.

»Sie haben verloren«, sagte sie zu mir, »und haben in Gold bezahlt. Ich vermute, Sie haben keine Banknoten bei sich.«

»Verzeihung, Mylady, ich habe Banknoten zu fünfzig und zu hundert Pfund.«

»Sie hätten sie wechseln lassen oder mit dem Bezahlen bis zu einem anderen Tage warten müssen; denn in Gold oder in klingender Münze zu bezahlen, gilt bei uns als ein Verstoß, den man allerdings einem Fremden verzeiht, der unsere Bräuche nicht kennen kann. Aber lassen Sie das nicht wieder vorkommen. Sie haben wohl gesehen, daß die Dame lächelte.«

»Ja; wer ist sie?«

»Lady Coventry, Schwester der Herzogin von Hamilton.«

»Muß ich mich bei ihr entschuldigen?«

»O nein, durchaus nicht. Die Beleidigung ist nicht derart, daß sie einer Entschuldigung bedürfte. Übrigens konnte sie wohl überrascht sein, aber sich nicht beleidigt fühlen, denn sie gewinnt dabei fünfzehn Schillinge.«

Dieser kleine Schnitzer, der nur einem Provinzialen hätte passieren dürfen, ärgerte mich ein bißchen, weil diese Lady Coventry eine entzückend schöne pikante Brünette war. Ich tröstete mich jedoch nicht allzu schwer.

Ich lernte an diesem Tage auch Lord Hervey kennen, den Eroberer von Havana, einen liebenswürdigen und geistreichen Herrn. Er hatte Miß Chudleigh geheiratet, später aber die Heirat für ungültig erklären lassen. Diese berühmte Chudleigh war Hofdame der verwitweten Prinzessin von Wales und wurde später Herzogin von Kingston; da ihre seltsamen Abenteuer sehr bekannt sind, werde ich bei Gelegenheit noch von ihr sprechen.

Ziemlich befriedigt von meinem Tagewerk kam ich nach Hause. Am nächsten Tage aß ich zum ersten Male bei mir zu Hause; ich war mit meinem englischen Koch sehr zufrieden, denn außer den Lieblingsgerichten der Engländer, die er mir jeden Tag vorsetzte, wußte er auch die französischen Gerichte sehr gut zuzubereiten: Huhn, Kalbsfilet, Rippchen, allerlei Ragouts und vor allen Dingen die gute französische Suppe, die schon für sich allein zum Ruhme der Nation hinreichen würde, wenn das französische Volk sich nicht auf allen Gebieten rühmlich ausgezeichnet hätte. Leider werden diese rühmlichen Eigenschaften durch Fehler beeinträchtigt, die ihnen viel von ihrem Glanz nehmen.

Mein Haus und mein Tisch allein genügten nicht zu meinem Glück. Ich war allein, und die Natur hatte mich, wie meine Leser wissen, nicht zum Eremiten geschaffen. Ich hatte keine hübsche Geliebte und keinen fröhlichen Freund! Man kann in London wohl einen Herrn der guten Gesellschaft ins Speisehaus einladen; er bezahlt dann, so will es der Brauch, seinen eigenen Anteil. Aber man kann niemanden in sein Haus einladen. Eines Tages lud mich ein junger Bruder des Herzogs von Beaufort im St.-James-Park ein, mit ihm Austern zu essen und eine Flasche Champagner zu trinken. Ich nahm die Einladung an. Im Wirtshause bestellte er Austern und eine Flasche Champagner; wir tranken aber zwei, und er ließ mich von der zweiten die Hälfte bezahlen. So sind nun einmal die Sitten jenseits des Kanals! Man lachte mir ins Gesicht, wenn ich sagte, ich äße zu Hause, weil man in den Wirtshäusern keine Suppe bekäme. »Sind Sie denn krank?« fragte man mich. Suppe gibt es nämlich nur für Kranke. Der Engländer ißt hauptsächlich Fleisch; Brot ißt er fast gar nicht, und er behauptet, sparsam zu sein, weil er keine Ausgaben für Suppe und Nachtisch hat, – was mich zu dem Ausspruch veranlaßte, das englische Diner habe keinen Anfang und kein Ende. Suppe zu essen wird für eine große Verschwendung angesehen, weil nicht einmal die Dienstboten das Suppenfleisch würden essen wollen. Sie behaupten, mit dem Kochfleisch könne man nur die Hunde füttern. Allerdings ist das gesalzene Rindfleisch, das sie anstatt der Suppe essen, ganz ausgezeichnet. Anders ist es mit ihrem Bier; es war mir unmöglich, mich an dieses zu gewöhnen, denn es erschien mir unerträglich bitter. Übrigens fand ich es vielleicht nur deshalb so schlecht, weil mein Weinhändler mir ganz ausgezeichnete französische Weine lieferte. Sie waren sehr rein, aber auch sehr teuer.

Ich wohnte nun schon seit einer Woche in meinem hübschen Hause, und noch war Martinelli nicht bei mir gewesen. Erst am zweiten Montag besuchte er mich vormittags, und ich lud ihn zum Mittagessen ein. Er sagte mir, er gehe ins Museum, wo er bis zwei Uhr bleiben werde. Hierdurch bekam ich Lust, mir die berühmten Sammlungen anzusehen, die der englischen Nation so hohe Ehre machen. Ich lernte dort den Doktor Matti kennen, der mir später sehr nützlich wurde. Ich werde Näheres darüber sagen, sobald ich soweit bin.

Bei Tisch leistete Martinelli mir ausgezeichnete Gesellschaft, denn er war sehr gebildet und ein genauer Kenner der englischen Sitten, die ich durchaus kennen lernen mußte, wenn ich mich in dem Lande wohl fühlen sollte. Da mich noch die Unhöflichkeit wurmte, die ich begangen hatte, indem ich statt mit Papiergeld mit schönen Goldstücken bezahlt hatte, so belehrte er mich in sehr verständiger Weise über den Kredit der Nation, indem er mir nachwies, daß eine solche Auffassung ein sicheres Zeichen des allgemeinen Wohlstandes sei; denn indem die Engländer ihr Papier ihrem Golde vorziehen, bekunden sie damit, daß sie zu ihrer Bank volles Vertrauen haben. Dieses Vertrauen mag blind sein, aber es ist eine Quelle des Reichtums. Dieses Vertrauen kann allerdings zerstört werden, weil die Regierung die Möglichkeit, diesen nur in der Einbildung vorhandenen Reichtum auf leichte Weise zu vermehren, mißbrauchen kann. Sollte dieser Fall, was ja nicht unmöglich ist, jemals eintreten, entweder durch einen unglücklichen Krieg oder durch ein Ereignis anderer Art, so würde ein Staatsbankerott die unvermeidliche Folge sein, und wie es dann kommen würde, das vermag niemand zu sagen.

Nachdem wir lange über Politik, Literatur, Sitten und Gebräuche gesprochen hatten, lauter Gebiete, auf denen Martinelli heimisch war, gingen wir ins Drury-Lane-Theater, und dort erlebte ich ein Beispiel von den etwas rauhen Sitten dieser Inselbewohner. Da die Truppe wegen irgend eines Zwischenfalls, dessen ich mich nicht mehr erinnere, das angekündigte Stück nicht geben konnte, so machte das Publikum Lärm. Der berühmte Schauspieler Garrick, der zwanzig Jahre später ein Grab in Westminster erhielt, betrat vergeblich die Bühne, um die Leute zu beruhigen. Er mußte die Bühne verlassen. In diesem Augenblick schrieen einige Wütende: Rette sich wer kann! Der König, die Königin und die ganze Gesellschaft nebst dem übrigen besseren Publikum verließen so schnell wie möglich das Haus und in weniger als einer Stunde wurde das Theater vollständig zerstört. Nur die Mauern blieben stehen, denn sie widerstanden der Wut des Pöbels, der diese ganze Verwüstung nur aus Übermut anrichtete, weil es ihm Vergnügen bereitete, seine Macht zu zeigen.

Nachdem der Pöbel, unbelästigt von der Obrigkeit, diese Heldentat vollbracht hatte, liefen die Rasenden in die Schenken und betranken sich in Bier und Schnaps. Vierzehn Tage darauf war der Theatersaal wieder hergestellt, und es wurde eine neue Vorstellung angekündigt. Als der Vorhang aufging, trat Garrick vor, um das Publikum um Verzeihung zu bitten. Eine Stimme aus dem Parkett rief: »Auf die Knie!« und der Roscius Englands, der hundertmal mehr wert war als alle die Schreihälse, mußte das Knie beugen und in dieser demütigen Haltung um Verzeihung bitten. Ein Beifallsdonner erscholl, und alles war erledigt. So ist das englische Volk, besonders das Londoner: König, Königin, Prinzen werden ausgepfiffen, wenn sie sich öffentlich sehen lassen; darum tun sie dies auch niemals, außer bei großen Festlichkeiten, wenn Hunderte von Konstablern für die Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung sorgen.

Als ich eines Tages allein im St. James-Park spazieren ging, bemerkte ich Lord Augustus Hervey, den ich kurz vorher kennen gelernt hatte. Er sprach mit einem Herrn, den er aber stehen ließ, um mich zu begrüßen. Neugierig fragte ich ihn, wer der andere Herr sei.

»Es ist der Bruder von Lord Ferrer, dem vor ein paar Monaten der Kopf abgeschlagen wurde, weil er einen von seinen Leuten getötet hatte.«

»Und Sie sprechen mit ihm?«

»Warum nicht?«

»Ist er denn nicht durch den Tod seines Verwandten entehrt?«

»Entehrt? Das wäre scherzhaft! Nicht einmal sein Bruder selbst ist entehrt. Er hat das Gesetz gebrochen, aber er hat dies mit seinem Leben bezahlt, und da er die Gesellschaft befriedigt hat, so ist er nicht mehr ihr Schuldner. Er ist ein Ehrenmann, der hoch gespielt und verloren hat – weiter nichts! Ich kenne in unserer Verfassung überhaupt keine einzige entehrende Strafe: eine solche wäre tyrannisch, und wir würden sie nicht dulden. Es ist mir erlaubt, jedes mir unbequeme Gesetz zu verletzen, sobald ich bereit bin, die Strafe zu erdulden, die auf der Verletzung steht. Ich gebe zu, dies klingt ein wenig verrückt; aber gerade auf dieses Recht sind wir eifersüchtig; denn es steht bei uns, unsere Wahl zu treffen. Für entehrt erachten wir nur den Verbrecher, der, um sich der Strafe zu entziehen, gemeine oder niedrige Handlungen begeht, die eines Gentlemans unwürdig sind.

»Zum Beispiel?«

»Den König um Begnadigung bitten, das Volk um Verzeihung anrufen und andere dergleichen Handlungen.«

»Und fliehen?«

»Nein; denn um zu fliehen, dazu gehört Mut. Es ist nur eine fortgesetzte Übertretung des Gesetzes; um so schlimmer für das Gesetz, wenn es sich keinen Gehorsam zu verschaffen weiß. Bemerken Sie wohl, daß der Mensch, um zu fliehen, nur seine körperliche oder geistige Kraft nötig hat. Sie haben sich Ehre erworben, indem Sie der Tyrannei Ihrer Behörden entflohen sind: Ihre Flucht aus den Bleikammern ist eine tapfere Handlung. In solchem Falle kämpft man mit dem Tode, indem man sein Leben daran setzt. Indem man vor dem Tode flieht, fordert man ihn heraus. Vir fugiens denuo pugnabit – Wer flieht, wird von neuem streiten.«

»Wie denken Sie dann über die Straßenräuber?«

»Dies sind Elende, die ich verabscheue, weil sie der Gesellschaft lästig sind; aber sie tun mir leid, wenn ich daran denke, daß ihr Gewerbe sie fortwährend mit dem Galgen bedroht. Sie fahren in einer Mietskutsche aus, um einen Freund zu besuchen, der drei oder vier Meilen vor London wohnt. Ein flinker, entschlossener Mensch springt auf das Trittbrett des Wagens, setzt Ihnen eine Pistole auf die Brust und verlangt Ihre Börse – was würden Sie dann tun?«

»Wenn ich eine Pistole zur Hand hätte, würde ich ihm eine Kugel vor den Kopf schießen; sonst aber würde ich ihm meine Börse geben und ihn einen niederträchtigen Mörder nennen.«

»Sie würden in beiden Fällen unrecht haben. Wenn Sie ihn töteten, würde man Sie hängen; denn Sie haben kein Recht, einem Engländer nach dem Leben zu stellen. Und wenn Sie ihn einen niederträchtigen Mörder nennen, so wird er Ihnen antworten, das sei er nicht; denn er greife Sie von vorn an und lasse Ihnen daher die Wahl. Man würde Ihnen sogar nachweisen, daß er eine großmütige Handlung begangen hat; denn er hätte Sie töten können. Sie können ihm, indem Sie ihm Ihre Börse reichen, sein schändliches Gewerbe vorhalten, und er wird Ihnen sagen, Sie haben recht, und er werde dem Galgen, den er allerdings für unabwendbar halte, so lange wie möglich fern bleiben. Sodann wird er Ihnen danken und Ihnen den Rat geben, niemals die Stadt London zu verlassen, ohne sich von einem berittenen Diener begleiten zu lassen; denn wenn Sie das tun, wird kein Räuber Sie anzufallen wagen. Da wir wissen, daß dies Ungeziefer in unserem Lande vorhanden ist, so führen wir Engländer auf Reisen zwei Börsen mit uns, eine kleine für die Räuber, die uns etwa begegnen werden, eine andere für unsere Bedürfnisse.«

Was konnte ich auf eine solche Auseinandersetzung antworten? Was er sagte, war auf die nationalen Gebräuche begründet, und ich habe ihn daher vernünftig gefunden. England ist ein reiches Meer, aber es enthält viele verborgene Klippen. Wer sich aus Eigennutz oder Neugier auf die Fahrt begibt, muß vorher seine Maßregeln treffen. Die Belehrung, die Lord Augustus Hervey mir hatte zuteil werden lassen, machte mir viel Vergnügen.

Wir kamen in unserem Gespräch von einem auf das andere, wie es stets zu geschehen pflegt, wenn die Unterhaltung keinen bestimmten Anlaß hat, der erledigt werden muß. Lord Augustus beklagte das Geschick eines unglücklichen Engländers, der durch Schwindel siebzigtausend Pfund Sterling an der Börse gewonnen, sich damit nach Frankreich geflüchtet hatte, wo er in Sicherheit zu sein glaubte, und den man kürzlich in London gehängt hatte.

»Wie ist denn das möglich?« fragte ich ihn.

»Der König hat beim Herzog von Rivernois die Auslieferung beantragt, und Ludwig der Fünfzehnte hat diese bewilligt, um dadurch England günstig zu stimmen und in bezug auf bestimmte Artikel des Friedensvertrages bessere Bedingungen zu erlangen. Dies ist eine niedrige Handlung, die eines Königs unwürdig ist; denn er hat dadurch das Völkerrecht verletzt, allerdings in der Person eines Elenden; aber das ändert an der Handlung selber nichts.«

»Ohne Zweifel hat England auf diese Weise die siebzigtaussnd Pfund Sterling wiedererlangt?«

»Keinen Schilling.«

»Wie ist das möglich.«

»Weil man keine Guineen bei ihm gefunden hat. Offenbar hat er auch den kleinen Schatz seiner Frau überlassen; diese lebt nun in sehr angenehmem Wohlstand und wird sich wieder verheiraten können; denn sie ist noch jung und hübsch.«

»Ich wundere mich, daß man sie nicht wegen des Geldes beunruhigt hat.«

»Daran hat man nicht einmal gedacht. Was könnte man ihr denn tun? Daß sie gestehen sollte, ihr Mann habe ihr das gestohlene Geld gegeben, ist nicht wahrscheinlich. Das Gesetz gegen die Straßenräuber befiehlt die Schuldigen zu hängen, aber von dem Gestohlenen sagt es gar nichts; denn es nimmt an, daß dieses verschwunden sei. Wollte man übrigens einen Unterschied machen zwischen Räubern, die das Gestohlene zurückerstatten, und solchen, die es ausgegeben hätten, so müßte man zwei Gesetze machen und zwei Strafen bestimmen, und dann käme es außerdem noch auf die näheren Umstände der Wiedererstattungen an. Dies wäre ein Labyrinth, in welchem man sich verirren würde. Uns Engländern scheint es richtig, für ein Verbrechen nicht zwei Strafen zu verhängen: die Strafe des Galgens erscheint uns genügend, ohne daß sie durch die Rückerstattung des Gestohlenen verschärft wird. Der Räuber ist Eigentümer geworden; allerdings durch eine Gewalttat; aber diese Gewalttat schließt nicht aus, daß er in Wirklichkeit Eigentümer und tatsächlicher Besitzer ist, denn er kann darüber verfügen. Da dies nun einmal so ist, so muß ein jeder sorgfältig bewachen, was er besitzt; denn wenn er sich bestehlen läßt, so hat er unrecht, weil er weiß, daß eine Rückerstattung beinahe unmöglich ist. Ich habe Spanien die Stadt Havanna weggenommen. Dies ist ein großer Diebstahl, der mit bewaffneter Hand ausgeführt wurde, und man wird das Gestohlene wieder zurückgeben, weil ich nicht die Insel Kuba in die Tasche stecken konnte, wie ich für Rechnung meiner Regierung vierzig Millionen Piaster eingesteckt habe, ohne daß man überhaupt ein Wort darüber gesprochen hätte.«

Was er sagte, gefiel mir, denn er sprach als Philosoph und als getreuer Untertan seines Landes.

Während wir uns über sehr interessante Sachen unterhielten, gingen wir zur Herzogin von Northumberland; ich lernte bei ihr Lady Rochefort kennen, deren Gemahl kurz vorher zum Botschafter in Spanien ernannt worden war. Die Dame war eine von den drei Erlauchten, die durch ihre Galanterien den müßigen Schwätzern der ungeheuren Stadt jeden Tag neuen Gesprächsstoff lieferten.

Am Tage vor der Gesellschaft, die in Soho-Square stattfinden sollte, speiste Martinelli bei mir. Er erzählte mir viel von der Dame Cornelis und von ihren Schulden, die sie beinahe erdrückten und sie zwangen, nur am Sonntag ihr Haus zu verlassen, da dies der einzige Tag ist, an welchem die Gläubiger keine Rechte gegen ihre Schuldner geltend machen können. »Ihre ungeheuren Ausgaben, die gar nicht nötig sind,« sagte er zu mir, »haben sie in eine solche Not gebracht, daß sie schon sehr bald am Ende angelangt sein muß. Ihre Schulden betragen viermal so viel als alles, was sie besitzt, selbst das Haus mit eingerechnet, das doch immerhin nur ein zweifelhafter Besitz ist, da noch ein Prozeß darüber schwebt.«

Ich bedauerte ihre Lage nur ihrer Kinder wegen; denn sie selber schien mir ein besseres Los gar nicht verdient zu haben.

Einundzwanzigstes Kapitel.


Crèvecoeur. – Bomback. – Reise nach Moskau. – Fortsetzung meiner Abenteuer in St. Petersburg.

An dem Tage, wo ich Zaïra nahm, schickte ich Lambert fort, mit dem ich nichts mehr anzufangen wußte. Er betrank sich jeden Tag, und dann war er ein unausstehlicher Flegel. Man wollte ihn nur als einfachen Soldaten annehmen, und das ist in Rußland eine nicht sehr glänzende Stelluug. Ich verschaffte ihm einen Paß, um nach Berlin zurückkehren zu können, und gab ihm das nötige Reisegeld. Später erfuhr ich, daß er in österreichische Dienste eingetreten sei.

Im Mai war Zaïra so schön geworden, daß ich nicht den Mut hatte, sie in Petersburg zu lassen, als ich Lust bekam, eine Reise nach Moskau zu machen. Ich verzichtete daher auf einen Bedienten und nahm sie mit. Es machte mir ein außerordentliches Vergnügen, wenn sie in ihrer reizenden Weise venetianisch radebrechte. Samstags ging ich mit ihr ins russische Bad. Dort sind dreißig oder vierzig Männer und Weiber beisammen. Alle sind vollkommen nackt; da aber niemand den anderen ansieht, so hat man gar nicht das Gefühl gesehen zu werden. Diese Abwesenheit jedes Schamgefühls entspringt aus einer angeborenen Unschuld. Ich war überrascht, daß niemand Zaïra ansah, die mir als das Original der Psyche-Statue erschien, welche ich in Rom in der Villa Borghese gesehen hatte. Ihr Busen war noch nicht ganz entwickelt, denn sie war kaum vierzehn Jahre alt und wies erst leichte Spuren der Mannbarkeit auf. Sie war weiß wie Schnee, ihre ebenholzschwarzen Haare waren von wunderbarer Länge und Dichtigkeit; denn ihr schöner nackter Leib war buchstäblich in ihre Haare eingehüllt, und nur einzelne weiße Stellen schimmerten wie durch schwarze Spitzen hindurch. Vollendet feine Brauen wölbten sich über ihren herrlich geschnittenen Augen, die vielleicht ein bißchen größer hätten sein können, die aber unübertrefflich an Glanz und Ausdruck waren; ihre breiten Lider mit langen, dichten Wimpern dämpften das Feuer ihrer Blicke und verliehen ihr einen Ausdruck von bezaubernder Bescheidenheit. Von ihrem Munde will ich nichts sagen; er war so klein, daß sie kaum einen Apfel anbeißen zu können schien; ihn zierten zwei Perlenreihen zwischen ihren Korallenlippen. Ohne ihre entsetzliche Eifersucht und ohne ihren blinden Glauben an die Unfehlbarkeit der Karten, die sie sich jeden Tag mindestens zehnmal legte, wäre Zaïra ein Wunder gewesen, und ich hätte sie niemals verlassen.

Ein junger Franzose von vornehmem und liebenswürdigem Wesen und offenbar sehr gut erzogen, namens Crèvecoeur, kam nach Petersburg mit einer leidlich hübschen, jungen Pariserin, die er la Rivière nannte. Leider hatte sie kein anderes Talent und keine andere Erziehung als die, die in Paris alle jungen Mädchen haben, die mit ihren Reizen Handel treiben. Der junge Mann brachte mir einen Brief vom Prinzen Karl von Kurland, der mir schrieb, er werde mir dankbar sein, wenn ich dem jungen Paar gefällig sein könnte. Er kam mit seiner Schönen in dem Augenblick, wo ich mit Zaïra frühstückte.

»Wollen Sie die Güte haben,« sagte ich zu der jungen Französin, »mir zu sagen, worin ich Ihnen nützlich sein kann.«

»Indem Sie uns Ihre Gesellschaft gönnen und uns mit Ihren Bekannten bekannt machen.«

»Da ich Fremder bin, so will meine Gesellschaft wenig bedeuten: ich werde Sie besuchen, und Sie kommen zu mir, so oft Sie wollen; es wird mir stets ein Vergnügen sein; aber ich speise niemals zu Hause. Was meine Bekanntschaften anlangt, so begreifen Sie wohl, daß ich als Fremder gegen das Herkommen verstoßen würde, wenn ich Sie und Madame vorstellte. Ist sie Ihre Frau? Man wird mich fragen, wer Sie sind und was Sie in Petersburg wollen. Was soll ich sagen? Ich wundere mich, daß Prinz Karl Sie nicht an andere empfohlen hat.«

»Ich bin lothringischer Edelmann und bin nach Petersburg gekommen, um mich zu amüsieren. Fräulein la Rivière ist meine Geliebte.«

»Ich wüßte nicht, wem ich Sie mit solchen Titeln vorstellen sollte; aber ich glaube, Sie können die Bräuche des Landes studieren und sich unterhalten, ohne daß Sie einen Menschen nötig haben. Schauspiele, Erholungsorte, ja sogar die Hoffeste stehen jedermann offen. Ich nehme an, daß es Ihnen an Geld nicht fehlt.«

«Das ist es gerade: ich habe kein Geld und kann auch keins erwarten.«

»Ich habe ebensowenig etwas übrig. Sie setzen mich in Erstaunen. Wie haben Sie die Torheit begehen können, ohne Geld hierher zu kommen?«

»Meine Geliebte behauptet, wir brauchen nicht mehr, als was von einem Tage zum anderen langt. Sie hat mich veranlaßt, ohne einen Heller in der Tasche von Paris abzureisen, und bis jetzt scheint mir, daß sie wohl recht haben mag. Wir haben überall zu leben gehabt.«

»Dann hat sie also die Börse?«

»Meine Börse,« sagte sie, »befindet sich in der Tasche meiner Freunde.«

»Ich verstehe und ich begreife, daß Sie überall Mittel finden müssen. Wenn ich eine Börse für Freundschaft solcher Art hätte, würde ich sie Ihnen ebenfalls öffnen; aber ich bin nicht reich.«

Der Hamburger Bombad, den ich in England gekannt hatte, war von dort seiner Schulden wegen entflohen; er war nach Petersburg gekommen und hatte das Glück gehabt, in den russischen Militärdienst eintreten zu dürfen. Als Sohn eines reichen Kaufmanns machte er ein großes Haus, hielt Dienerschaft und Wagen; er liebte Weiber, gutes Essen und Spiel und machte Schulden, wo er nur konnte. Er war häßlich, aber lebhaft, weltgewandt und geistreich. Er trat bei mir ein, als ich gerade mit der sonderbaren Reisenden sprach, die ihre Börse in der Tasche ihrer Freunde hatte. Ich stelle ihm das edle Paar vor und erzähle ihm alles; nur von der Börse sage ich nichts, Bomback ist von dem Zusammentreffen entzückt und macht sofort der Rivière den Hof. Sie benimmt sich vollkommen im Geiste ihres Handwerks, und bald muß ich bei mir selber lachen, denn ich sehe, daß sie recht hat. Bomback ladet sie ein, am nächsten Tage bei ihm zu Mittag zu essen und am gleichen Tage mit ihm nach Crasnafabad zu fahren, um dort eine ländliche Mahlzeit einzunehmen. Er bat mich mitzukommen, und ich nahm seine Einladung an.

Zaïra, die kein Französisch verstand, fragte mich, wovon die Rede sei. Ich sagte es ihr, und sie bat, mich begleiten zu dürfen. Ich erlaubte ihr dies; denn ich sah, daß sie eifersüchtig war, und fürchtete die Folgen, die sich in schlechter Laune, Tränen und Verzweiflung kundgaben und mich bei früheren Gelegenheiten schon mehr als einmal gezwungen hatten, nach dem Landesbrauch sie zu schlagen. Der Leser möge sich darüber nicht wundern: es war das beste Mittel, ihr zu beweisen, daß ich sie liebte. Die russischen Frauen sind nun einmal so. Wenn sie ihre Schläge bekommen hatte, wurde sie allmählich wieder zärtlich, und die Liebe vollendete die Versöhnung.

Bomback verließ uns sehr befriedigt, um schnell seine Geschäfte zu erledigen; er versprach um elf Uhr wieder zu kommen. Während Zaïra sich ankleidete, machte die Rivière Bemerkungen zu mir, daß es mir vorkam, wie wenn ich bisher von der Welt soviel gewußt hätte wie ein neugeborenes Kind. Am meisten fiel es mir auf, daß ihr Liebhaber sich der Rolle, die er spielte, offenbar nicht im geringsten schämte. Er hatte eine gewisse Entschuldigung gehabt, wenn er in seine Messalina verliebt gewesen wäre; aber dies galt hier nicht.

Unser Ausflug verlief sehr lustig. Bomback sprach fast nur mit der Abenteurerin; Zaïra faß fast immer auf meinem Schoß; Crèvecoeur aß, lachte, wo es paßte und nicht paßte, und ging spazieren. Die schlaue La Rivière veranlaßte Bomback, Quinze um fünfundzwanzig Rubel zu spielen. Er verlor das Geld in sehr galanter Weise, bezahlte und verlangte von ihr nichts weiter als einen Kuß. Zaïre war sehr froh, daß sie den Ausflug mitgemacht hatte; denn sie hätte sonst befürchtet, daß ich ihr untreu gewesen wäre. Sie sagte mir allerlei Scherzhaftes über die Französin und deren Liebhaber, der gar nicht eifersüchtig wäre. Das ging über ihren Horizont; sie begriff nicht, wie die Französin dulden könnte, daß er so täte, wie wenn er ihrer vollständig sicher wäre.

»Aber ich bin ja auch deiner sicher, und trotzdem liebst du mich!«

»Ich habe dir aber auch niemals Anlaß gegeben, daran zu zweifeln.«

Am nächsten Tage ging ich allein zu Bomback, denn ich wußte, daß ich bei ihm junge russische Offiziere finden würde, die mich geärgert hätten, wenn sie Zaïra in ihrer Sprache den Hof gemacht hätten. Ich traf bei ihm das reisende Paar und die beiden Brüder Lunin, die damals Leutnants waren und heute Generäle sind. Der jüngere war blond und sah aus wie ein hübsches Mädchen. Er war der Liebling des Kabinettssekretärs Teploff gewesen. Als geistreicher Junge setzte er sich nicht nur über das Vorurteil hinweg, sondern rühmte sich sogar, daß er durch seine Liebenswürdigkeit die Zärtlichkeit und das Wohlwollen aller mit ihm verkehrenden Männer gewinne.

Er hatte bei dem reichen Hamburger denselben Geschmack vorausgesetzt, den er bei Teploff gefunden hatte, und hatte sich nicht geirrt. Er würde mich zu entehren geglaubt haben, wenn er bei mir nicht denselben Geschmack angenommen hätte. Infolgedessen setzte er sich bei Tisch neben mich und neckte mich während des Essens in einer Weise, daß ich ihn allen Ernstes für ein verkleidetes Mädchen hielt. Als ich nach Tisch zwischen ihm und der Französin vor dem Kaminfeuer saß, teilte ich ihm meinen Verdacht mit. Stolz auf die Überlegenheit seines Geschlechtes stellte Lunin es sofort zur Schau. Um zu wissen, ob ich bei dem Anblick seiner Schönheit kalt bleiben könnte, bemächtigte er sich meiner und nahm, in der festen Überzeugung, daß er mir gefalle, eine geeignete Stellung ein, um, wie er sagte, ihn und mich glücklich zu machen. Ich gestehe zu meiner Schande, daß es vielleicht dazu gekommen wäre, wenn die Rivière sich nicht geärgert hätte, daß in ihrer Gegenwart ein Lustknabe sich ihre Rechte anzumaßen wagte; sie nötigte ihn daher, seine Heldentaten noch aufzuschieben.

Der ältere Lunin, Crèvecoeur und Bomback, die einen Spaziergang gemacht hatten, kamen am Abend mit zwei oder drei Freunden zurück, die die Französin leicht darüber trösteten, daß der jüngere Lunin und ich ihr so schlechte Gesellschaft geleistet hatten.

Bomback legte eine Pharaobank und hörte erst um elf Uhr auf, als er kein Geld mehr hatte. Dann speisten wir, und hierauf begann die große Orgie, bei der die Rivière mit einem unglaublichen Heldenmut die Hauptrolle spielte. Mein neuer Freund, der jüngere Lunin, und ich beteiligten uns nur als Zuschauer. Der arme Crèvecoeur war zu Bett gegangen. Wir trennten uns erst am hellen Tage.

Ich komme nach Hause, trete in mein Zimmer ein und entgehe durch einen unerhörten Glückszufall einer Flasche, die Zaïra nach meinem Kopf wirft. Hätte sie mich getroffen, so wäre ich ein toter Mann gewesen. Wütend wirft sie sich zu Boden und schlägt mit dem Kopf an die Erde. Von Mitleid ergriffen, eile ich zu ihr, reiße sie empor und frage sie, was sie hat.

Ich glaubte, sie sei wahnsinnig geworden, und wollte Leute zu Hilfe rufen. Plötzlich beruhigte sie sich; dann aber brach sie wieder in Tränen aus, nannte mich Mörder und Verräter, belegte mich mit allen Schimpfnamen, die ihr einfielen; um mich meines Verbrechens zu überführen, zeigte sie mir fünfundzwanzig Karten, aus denen sie auf dem Tisch ein Viereck gebildet hatte; in diesem hatte sie gelesen, was für Ausschweifungen mich die ganze Nacht ferngehalten hätten.

Ohne sie zu unterbrechen, ließ ich sie ruhig ausreden, um sich auf diese Weise von ihrer eifersüchtigen Wut zu erleichtern. Hierauf warf ich ihre Karten ins Feuer, sah sie mit einem Blick an, worin sich mein gerechter Zorn und zugleich mein Mitleid spiegelten, und sagte ihr: sie habe mich beinahe getötet, ich wolle mich ihrer Wut nicht mehr aussetzen, und es sei daher unwiderruflich nötig, daß wir uns schon am nächsten Tage trennten. Ich gestand ihr, daß ich allerdings die Nacht bei Bomback verbracht hätte und daß ein Weib zugegen gewesen wäre; aber ich leugnete die Ausschweifungen, deren sie mich beschuldigte.

Da ich der Ruhe bedurfte, so ging ich endlich zu Bett und schlief ein, ohne ihr eine einzige Liebkosung zu gönnen, obgleich sie sich neben mich legte und alles aufbot, um mich von ihrer Reue zu überzeugen und meine Verzeihung zu erlangen.

Nach fünf oder sechs Stunden wachte ich auf. Da ich sie in tiefem Schlafe liegen sah, so zog ich mich an und dachte darüber nach, wie ich das Mädchen loswerden könnte, das mich in seiner eifersüchtigen Wut früher oder später vielleicht getötet haben würde. Während ich mich mit diesen Gedanken beschäftigte, wachte sie auf, da sie mich nicht mehr an ihrer Seite fühlte. Sie sprang aus dem Bett, fiel mir zu Füßen und erneuerte unter Tränen die Versicherungen ihrer Reue. Sie flehte um meine Verzeihung, rief mein Mitleid an und schwor mir, sie werde keine Karte mehr anrühren, wenn ich nur die Güte haben wollte, sie zu behalten.

Wie verführerisch ist in einem solchen Zustande ein schönes Weib, das man liebt! Das Ende vom Liede war, daß ich sie in meine Arme schloß, ihr verzieh und sie nicht eher verließ, bevor ich ihr die deutlichsten Beweise meiner wiedergekehrten Zärtlichkeit gegeben hatte. Ich hatte meine Abreise nach Moskau auf den dritten Tag angesetzt, und sie war überselig, als ich ihr versprach, sie mitzunehmen.

Drei Gründe hatten besonders dazu beigetragen, mir die leidenschaftliche Liebe des Mädchens zu erwerben: erstens nahm ich sie oft mit mir nach Katharinenhof, um ihre Familie zu besuchen, der ich jedesmal einen Rubel zurückließ; zweitens ließ ich sie mit mir essen; drittens hatte ich sie drei- oder viermal geschlagen, als sie mich nicht ausgehen lassen wollte.

In Rußland ist das Prügeln absolut notwendig; denn Worte haben keine Macht. Ein Bedienter, eine Geliebte, eine Frau von gewöhnlichem Stande kennen nur den Stock. Man würde sein Latein verlieren, wenn man Gründe der Vernunft oder der Moral anführen wollte; ein paar kräftige Hiebe mit der Reitpeitsche oder mit dem Stock sind die einzigen wirksamen Mittel. Der Bediente ist noch mehr Sklave mit der Seele als mit dem Körper; wenn er Prügel bekommen hat, stellt er folgende Betrachtung an: mein Herr hat mich nicht fortgejagt, sondern mich nur geschlagen; er hat mich also lieb; folglich muß ich ihm anhänglich sein. Ebenso ist es mit dem russischen Soldaten, und das ist ganz natürlich, denn er entstammt ja dem Volke. Mit einer Anrufung des Ehrgefühls ist bei ihm nichts anzufangen; aber mit Schlägen und Branntwein kann man von ihm alles erlangen, was man will, nur keine Heldentaten.

Papanelopulo lachte mich aus, als ich in der ersten Zeit meines Aufenthaltes ihm sagte, mein Kosake gefalle mir; ich wolle ihn daher durch Milde gewinnen und ihn nur mit Worten schelten, wenn er sich sinnlos in Branntwein betrinke.

»Wenn Sie ihn nicht prügeln,« sagte er zu mir, »wird er schließlich Sie prügeln!«

So kam es auch wirklich. Als ich ihn eines Tages so betrunken fand, daß er zu jedem Dienst unfähig war, schalt ich ihn aus, drohte ihm mit meinem Stock und sagte, ich würde ihn prügeln, wenn er sich nicht besserte. Sobald er den erhobenen Stock sah, lief er auf mich zu und griff danach. Hätte ich ihn nicht sofort niedergeworfen, so würde er mich ohne Zweifel geschlagen haben. Ich jagte ihn augenblicklich fort. Es gibt auf der ganzen Welt keinen besseren Bedienten als den Russen: er ist unermüdlich bei der Arbeit, schläft auf der Schwelle des Zimmers, worin sein Herr schläft, ist stets zu jedem Gange bereit, ist immer unterwürfig, hat niemals eine Gegenrede, wenn er unrecht hat, und ist nicht imstande, zu stehlen. Aber er wird ein Scheusal oder ein Trottel, wenn er ein bißchen zuviel Branntwein getrunken hat, und an diesem Laster krankt das ganze Volk.

Ein Kutscher, der manchmal die ganze Nacht dem härtesten Frost ausgesetzt ist, kennt kein anderes Mittel, als Kornbranntwein zu trinken. Nimmt er ein wenig zuviel, so schläft er auf seinem Bock ein, um vielleicht nicht wieder aufzuwachen. Wenn man nicht aufpaßt, kann man leicht das Unglück haben, ein Ohr, die Nase, ein Stück Wange oder eine Lippe zu verlieren. Als ich eines Tages bei sehr starkem Frost im Schlitten nach Petersburg zurückfuhr, bemerkte ein Russe, daß ich in Gefahr war, ein Ohr zu verlieren. Sofort rieb er mich mit einer Handvoll Schnee, bis der ganze knorpelige Teil durch diese Reibung sich wieder belebt hatte. Als ich ihn fragte, woran er die Gefahr erkannt hätte, antwortete er mir, man sehe es leicht an der bläulich-weißen Farbe; diese sei ein untrügliches Kennzeichen, daß das Fleisch erfriere. Überraschend war für mich, und es scheint mir noch heute unglaublich, daß zuweilen der verlorene Körperteil wieder wächst. Prinz Karl von Kurland hat nur versichert, er habe in Sibirien eines Tages die Nase verloren, und diese sei während des Sommers wieder angewachsen. Mehrere Russen haben mir die Wahrheit dieser Erscheinung bestätigt.

Zu jener Zeit ließ die Kaiserin durch ihren Baumeister Rinaldi, der seit fünfzig Jahren in Petersburg war, ein hölzernes Amphitheater errichten, das den ganzen Platz vor ihrem Palast bedeckte. Es sollte hunderttausend Zuschauer enthalten, und in der Arena wollte Katharina für alle stolzen Ritter des Reiches ein prachtvolles Turnier veranstalten. Es sollten gleichzeitig vier Quadrillen gebildet werden, von denen eine jede aus hundert Reitern in den reichsten Trachten der von ihnen vertretenen Völkerschaften bestehen sollte. Die Quadrillen sollten mit Lanzen gegeneinander anreiten, und für die Sieger waren wertvolle Preise bestimmt. In ganz Rußland wurde das prunkvolle Fest verkündet, das auf Kosten der Herrscherin stattfinden sollte, und aus den entlegensten Teilen des Reiches kamen schon Fürsten, Grafen und Barone mit ihren schönsten Rennern an. Prinz Karl von Kurland hatte mir geschrieben, er werde ebenfalls kommen.

In begreiflicher Vorsicht war die Bestimmung getroffen worden, daß das Fest am ersten Tage stattfinden sollte, wo das Wetter schön sein würde. Diese Zeitbestimmung war ebenso vernünftig wie unsicher; denn in Petersburg kommt es ziemlich selten vor, daß ein ganzer Tag ohne Regen, Schnee oder Wind vergeht, außer in der Zeit nach den großen Winterfrösten. In Italien, in Spanien und selbst in Frankreich rechnet man auf die schönen Tage, die schlechten sind die Ausnahme. Aber in Rußland ist gerade das Gegenteil der Fall. Seitdem ich dieses liebe Land kenne, diese Heimat des Boreas und des Frostes, muß ich lachen, wenn ich reisende Russen von ihrem schönen Klima sprechen höre. Ich entschuldige sie damit, daß alle Menschen von Natur geneigt sind, das Mein dem Dein vorzuziehen. Die Edelleute bilden sich ein, sie haben reineres Blut als die Bedienten und Bauern, von denen sie abstammen. Die Römer und andere Völker des Altertums erklärten sich in ihrem Stolz für Abkömmlinge von Göttern und Helden, um unter diesem Firnis die Räuber zu verbergen, von denen sie in Wirklichkeit abstammten. Tatsächlich hat es im ganzen Jahre 1765 in Rußland, oder wenigstens in Ingermannland, nicht einen einzigen schönen Tag gegeben; ein unwiderleglicher Beweis dafür ist, daß das berühmte Turnier nicht stattfinden konnte. Man mußte die Gerüste des Amphitheaters zudecken und das Turnier wurde erst im nächsten Jahre abgehalten. Die Ritter verbrachten den Winter in Petersburg, mit Ausnahme derjenigen, deren Börse nicht so gut versehen war, um die Kosten eines Aufenthaltes in der Hauptstadt und des an einem Hofe erforderlichen Luxus vertragen zu können. Mein lieber Prinz von Kurland gehörte zu meinem großen Bedauern zu diesen letzten.

Nachdem ich alle Vorbereitungen für meine Reise nach Moskau getroffen hatte, legte ich mich mit Zaïra in meinen Schlafwagen; hintenauf saß ein Bedienter, der Russisch und Deutsch sprach. Für achtzig Rubel verpflichtete ein russischer Schiwotschik (Mietsfuhrmann) sich, mich mit sechs Pferden in sechs Tagen und sieben Nächten nach Moskau zu bringen. Dies war sehr billig. Da ich nicht mit der Post fuhr, konnte ich auf eine größere Schnelligkeit keinen Anspruch machen, denn die Entfernung betrügt zweiundsiebzig russische Posten, das heißt ungefähr fünfhundert italienische Miglien oder hundertundsechzig französische Wegstunden.

Wir fuhren in dem Augenblick ab, wo der Kanonenschuß von der Zitadelle das Ende des Tages verkündete. Wir befanden uns Ende Mai, und zu dieser Zeit gibt es in Petersburg buchstäblich keine Nacht mehr. Ohne den Kanonenschuß würde kein Mensch wissen, daß die Sonne untergegangen ist. Man kann um Mitternacht einen Brief lesen, und der Mond trägt gar nichts dazu bei, die Nacht heller zu machen. Man sagt, das sei schön, aber mir kam es langweilig vor. Dieser beständige Tag dauert acht Wochen. Während dieser ganzen Zeit zündet kein Mensch eine Kerze an. In Moskau ist das anders: es liegt vierundeinenhalben Breitengrad tiefer als Petersburg, und man muß daher um Mitternacht stets Licht brennen.

In vierundzwanzig Stunden kamen wir in Nowgorod an, wo der Schiwotschik uns eine Ruhepause von fünf Stunden erlaubte. Ich wurde hier Zeuge eines Vorfalles, der mich sehr überraschte, obgleich er einen eigentlich nur wenig überraschen sollte, wenn man viel auf Reisen ist, besonders unter halbwilden Völkern. Als ich den Schiwotschik einladen ließ, einen Schluck zu trinken, machte er ein sehr trauriges Gesicht. Ich wollte den Grund wissen, und er sagte zu Zaïra, eines seiner Pferde wolle nicht fressen, und er sei darüber ganz verzweifelt, denn wenn es nicht fresse, werde es auch nicht laufen wollen. Wir gingen mit ihm in den Stall, und da stand das Pferd traurig, gesenkten Kopfes, unbeweglich da und wollte nicht fressen. Sein Herr beginnt in einem sanften, aber leidenschaftlichen Ton eine Ansprache an das Pferd zu halten und sieht es dabei zärtlich an, wie wenn er sein Ehrgefühl erwecken wollte, damit es sich bemühen solle zu fressen. Nach dieser Ansprache nimmt er den Kopf des Pferdes, küßt ihn liebevoll und drückt ihn in die Krippe hinein. Alles war vergeblich. Hierauf begann der Schiwotschik zu weinen, aber auf eine Art, die meine größte Lachlust erregte, denn ich sah deutlich, daß er das Pferd durch seine Tränen zu rühren hoffte. Nachdem er tüchtig geweint hatte, nahm er abermals den Kopf, küßte ihn und steckte ihn wieder in die Krippe. Abermals vergeblich. Nun wurde der Schiwotschik wütend und schwur, er wolle sich wegen einer solchen Halsstarrigkeit rächen. Er führte das arme Tier aus dem Stall, band es an einen Pfahl, nahm einen dicken Knüppel und prügelte eine Viertelstunde aus Leibeskräften darauf los. Mir blutete das Herz bei dem Anblick. Als der Schiwotschik sich müde geprügelt hatte, führte er das Pferd wieder in den Stall, band es an der Raufe fest und sofort begann das Tier zu fressen. Sein Herr aber lachte und machte Freudensprünge, wie wenn er seinem Pferde zeigen wollte, daß es ihn glücklich mache.

Ich war im höchsten Grade erstaunt, und mir schien, so etwas könne nur in Rußland vorkommen, wo man in Gestalt von Stockschlägen das Allheilmittel gefunden zu haben scheint. Ich teile diese Geschichte Tierärzten und Pferdehändlern zu freundlichem Nachdenken mit.

Man hat mir gesagt, die Stockschläge seien seither in Rußland etwas aus der Mode gekommen. Jedenfalls müssen seit den Tagen Peters des Großen, der seine Generäle verprügelte, wenn er nicht mit ihnen zufrieden war, die Verhältnisse sich bedeutend geändert haben. Damals mußte ein Leutnant demütig die Schläge hinnehmen, die sein Hauptmann ihm gab; den Hauptmann prügelte sein Major, den Major sein Oberst und diesen sein General. Ich verdankte diese Mitteilung dem alten General Wojakoff, der ein Schüler Peters des Großen gewesen war. Er sagte mir, er habe mehr als einmal den Rohrstock des großen Mannes gespürt, der Petersburg geschaffen hat.

Ich habe wohl noch nichts von dieser Stadt gesagt, die schon so berühmt ist, und deren Dasein mir trotzdem immer noch unsicher erscheint. Nur ein Mann mit eisernem Geist, wie Peter, konnte die Natur so herausfordern, indem er auf einem Schlammboden, der unter jedem Schritt wich, riesige Gebäude von Marmor und Granit aufführte und so zu seiner Hauptstadt einen Haufen von Palästen schuf, die man nur mit ungeheuren Kosten erbauen konnte. Man sagt mir, heutzutage sei die Stadt bereits ausgewachsen. Ehre sei dafür der großen Katharina; aber im Jahre 1765 befand sie sich noch in der Kindheit, und es kam mir vor, wie wenn alles zu dem kindischen Zweck erbaut wäre, viele Ruinen zu haben. Man pflasterte Straßen mit der sichern Gewißheit, daß man sie nach sechs Monaten noch einmal pflastern müßte. Aus allem ging hervor, daß ein mächtiger Despot die Stadt in aller Eile hatte erstehen lassen, und in der Tat war Peter der Große in neun Monaten damit niedergekommen, obgleich er vielleicht zur Empfängnis viel längere Zeit gebraucht hatte. Damit Petersburg dauerhaft sei, werden stets eine beständige Sorgfalt und große Ausgaben notwendig sein; denn die Natur gibt niemals ihre Rechte auf und nimmt sie sich sofort wieder, sobald der Zwang aufhört. Ich prophezeie, daß früher oder später der lose Boden, auf welchem man diese Riesenmasse aufgeführt hat, unter einem Gewicht weichen wird, das in keinem Verhältnis zu seiner Widerstandskraft steht.

Wir kamen in Moskau zur rechten Zeit an, wie unser Schiwotschik uns versprochen hatte. Da wir mit denselben Pferden reisten, war es nicht möglich, diese Strecke in kürzerer Zeit zurückzulegen. Als ich eines Tages darüber sprach, sagte ein Russe mir, die Kaiserin Elisabeth habe die Reise in zweiundfünfzig Stunden gemacht.

»Das will ich meinen,« sagte ein anderer Russe von altem Schrot und Korn, »die Zarin hatte einen Ukas erlassen, und wenn sie gewollt hatte, hätte sie die Reise auch in kürzerer Zeit machen können. Sie hätte die Anzahl der Stunden nur durch einen Ukas vorzuschreiben brauchen.«

Es ist Tatsache, daß es zu meiner Zeit nicht erlaubt war, an der Unfehlbarkeit eines Ukas zu zweifeln; denn man hätte sich dadurch einer Majestätsbeleidigimg schuldig gemacht. Eines Tages ging ich in Petersburg auf einer kleinen Holzbrücke über einen Kanal. Ich war in Gesellschaft von Melissino, Papanelopulo und einigen andern Russen. Ich sprach einige tadelnde Worte über die kleine Brücke, die sehr jämmerlich erbaut und dem Einsturz nahe war. Einer meiner Begleiter sagte mir, bis zu dem und dem Tage werde die Holzbrücke durch eine schöne Steinbrücke ersetzt sein, weil die Kaiserin sie passieren müsse, um sich zu irgendeiner Festlichkeit zu begeben. Da dieser Tag nur drei Wochen entfernt war, erklärte ich die Sache für unmöglich. Ein Russe sah mich von der Seite an und sagte, man dürfe nicht daran zweifeln, denn es sei ein Ukas vorhanden, der es so anordne. Ich wollte etwas erwidern, aber Papanelopulo drückte mir stark die Hand und sagte mir auf italienisch: »Taci – schweigen Sie!«

Die Brücke wurde nicht gebaut, aber ich bekam trotzdem nicht recht; denn die Kaiserin veröffentlichte einen andern Ukas, worin Ihre Majestät ankündigte, es sei ihr Belieben, daß die besagte Brücke erst im Laufe des nächsten Jahres gebaut werde. Glückliches Regiment des absoluten Despotismus!

Die russischen Herrscher haben stets die Sprache des Despotismus geführt. Eines Tages sah ich die Kaiserin in männlicher Kleidung, um auszureiten. Ihr Oberhofstallmeister, Fürst Repnin, hielt das Pferd, das sie besteigen sollte, am Zügel. Das Pferd gab dem Fürsten einen Huftritt, der ihm den Fußknöchel zerschmetterte. Augenblicklich befahl die Zarin, das Pferd solle verschwinden, und verbot bei Todesstrafe, es jemals wieder vor ihre Augen zu bringen.

Alle Ämter entsprechen in Rußland einem gewissen militärischen Range; dies allein genügt schon, um die Art der Regierung zu kennzeichnen. Der erste Kutscher Ihrer Kaiserlichen Majestät hat Obersten-Rang; desgleichen ihr erster Koch. Der Kastrat Luini hatte den Rang eines Oberstleutnants, der Maler Toretti aber hatte nur Hauptmannsrang, weil er nur achthundert Rubel jährlich bekam, während der Kutscher dreitausend hatte. Die Schildwachen, die vor den inneren Türen der Kaiserlichen Gemächer stehen, halten stets die Gewehre gekreuzt und fragen jeden, der eintreten will, nach seinem Range. Als man mir diese Frage stellte und erklärte, wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Der kluge Offizier aber fragte mich, wie hoch mein Jahreseinkommen sei, und als ich aufs Geratewohl antwortete, ich hätte dreitausend Rubel, gab er mir Generalsrang und ließ mich passieren. In diesem Zimmer sah ich die Zarin einen Augenblick; sie blieb an der Tür stehen und zog ihre Handschuhe aus, um ihre schönen Hände den beiden Schildwachen und dem Offizier, der mich zum General gemacht hatte, zum Kusse zu reichen. Durch solche Freundlichkeit gewann sie sich die Liebe ihrer Garde, die von Gregor Gregorowitsch Orloff befehligt wurde, und von der, im Falle einer Revolution, die Sicherheit ihrer Person abhing.

Als ich zum erstenmal die Fürstin in ihre Kapelle begleitete, wo sie die Messe hören wollte, bemerkte ich folgendes: der Protopapa (Bischof) empfing sie an der Kirchentür, um ihr das Weihwasser zu bieten; sie küßte ihm den Ring, während gleichzeitig der Prälat, den ein zwei Fuß langer Bart schmückte, sein Haupt neigte, um die Hand seiner Herrscherin zu küssen, die seine weltliche Gebieterin und zugleich sein geistliches Oberhaupt war; denn in Rußland ist der Lenker des Staates zugleich geistliches Oberhaupt der Kirche.

Während der ganzen Messe war von Frömmigkeit an ihr nichts zu merken; Heuchelei lag nicht in ihrem Charakter. Sie beehrte bald diesen bald jenen mit einem lachenden Blick und richtete von Zeit zu Zeit das Wort an ihren Günstling, dem sie ohne Zweifel nichts zu sagen hatte; sie wollte ihn nur zu einem Gegenstand des Neides machen, indem sie aller Welt zeigte, daß sie ihn über alle anderen stellte.

Als sie eines Abends die Oper verließ, wo man Metastasios Olympias gegeben hatte, hörte ich sie sagen: »Die Musik dieser Oper hat aller Welt viel Vergnügen gemacht; folglich bin ich von ihr entzückt, aber ich habe mich dabei gelangweilt. Die Musik ist etwas Schönes, aber ich begreife nicht, wie man sie leidenschaftlich lieben kann – wenigstens wenn man etwas Wichtiges zu tun oder zu denken hat. Icb lasse jetzt Buranello kommen; ich bin neugierig, ob er mir die Musik wird interessant machen können; aber ich zweifle daran, denn ich glaube, ich habe von Geburt an kein Gefühl dafür.«

So dachte und sprach sie immer. Ich werde am passenden Ort erzählen, was sie nach meiner Rückkehr von Moskau zu mir sagte.

In Moskau stieg ich in einem guten Gasthof ab; man gab mir zwei Zimmer und stellte meinen Wagen in die Remise. Nach dem Essen mietete ich einen zweisitzigen Wagen und nahm einen Lohndiener an, der französisch sprach. Mein Wagen wurde von vier Pferden gezogen, denn Moskau ist eine riesige Stadt, die eigentlich aus vier Städten besteht, und wenn man viele Besuche zu machen hat, so gilt es auf den schlecht gepflasterten Straßen lange Wege zurückzulegen. Ich hatte fünf oder sechs Briefe, die ich sämtlich zu bestellen gedachte. Da ich sicher war, daß ich nicht auszusteigen brauchte, nahm ich meine liebe Zaïra mit mir, die sich mit der Neugier eines vierzehnjährigen Mädchens für alles interessierte. Ich erinnere mich nicht mehr, welches Fest die griechisch-katholische Kirche an jenem Tage feierte, aber ich werde mich stets des betäubenden Geläutes der tausend Glocken erinnern, die ich in allen Straßen hörte; denn überall sind Kirchen. Man machte damals die Aussaat für die Septemberernte und spottete darüber, daß wir acht Wochen früher säen; sie behaupten, dies sei nicht nur nicht notwendig, sondern die Ernte werde sogar weniger reichlich. Ich weiß nicht, ob sie recht oder unrecht haben; aber es ist wohl möglich, daß wir ebenfalls recht haben; denn die Erfahrung ist die beste Lehrmeisterin.

Ich bestellte also alle Briefe, die ich in Petersburg vom Großjägermeister Narischkin, von Fürst Regnin, von meinem guten Papanelopulo und von Melissinos Bruder erhalten hatte. Am nächsten Vormittag erhielt ich die Besuche aller jener Herren, an die ich empfohlen worden war. Sie luden mich alle mit meiner Zaïra zum Mittagessen ein. Ich nahm die Einladung des ersten, der kam, für denselben Tag an; dies war ein Herr Demidoff. Den anderen sagte ich für die folgenden Tage der Reihe nach zu. Ich unterrichtete Zaïra, wie sie sich zu benehmen hätte, und sie war hocherfreut, mir zeigen zu können, daß sie dieser Auszeichnung würdig sei. In ihrem Anzug sah sie aus wie eine kleine Liebesgöttin; überall entzückte sie die Gesellschaft, die sich wenig darum bekümmerte, ob sie meine Tochter, meine Geliebte oder meine Sklavin war; denn in dieser Hinsicht, wie in hundert anderen, sind die Russen sehr vernünftige Leute. Wer Moskau nicht gesehen hat, kann nicht behaupten, daß er Rußland kennt; denn die Petersburger Russen sind nicht die eigentlichen Russen. Bei Hofe sind sie ganz anders, als die Natur sie geschaffen hat; ja man kann sagen, in Petersburg sind die Russen Fremde. Die Moskauer Bürger, besonders die Reichen, beklagen jeden, der aus Ehrgeiz oder aus Eigennutz oder seines Amtes wegen auswandert, denn auswandern nennen sie es, wenn jemand fern von Moskau lebt, das sie als ihr eigentliches Vaterland ansehen. Petersburg sehen sie mit neidischen Augen an; sie betrachten es gewissermaßen als die Ursache ihres Ruins. Ich weiß nicht, ob dies wahr ist; ich wiederhole nur, was man mir gesagt hat.

In acht Tagen sah ich alles: Fabriken, Kirchen, alte Denkmäler, Kunstsammlungen und Bibliotheken. Diese letzten interessierten mich nicht. Ich sah auch die berühmte Glocke und machte die Bemerkung, daß ihre Glocken nicht, wie die unsrigen, beweglich sind, sondern daß sie feststehen: man läutet sie mittels eines Seiles, das am Ende des Klöppels befestigt ist.

Ich fand die Frauen in Moskau schöner als in Petersburg, und ich glaube, das liegt an der Luft, die dort unendlich viel gesünder ist. Sie sind sehr angenehm im Verkehr, und um von ihnen die Gunst eines Kusses auf den Mund zu erhalten, genügt es, wenn man so tut, wie wenn man ihnen die Hand küssen wolle.

Das Essen fand ich sehr reichlich, aber es ist nicht lecker zubereitet. Ihre Tafel ist stets für alle ihre Freunde und Bekannten gedeckt; ein Freund bringt ohne alle Umstände fünf oder sechs Menschen zum Essen mit, manchmal sogar erst gegen Ende der Mahlzeit. Es kommt nicht vor, daß ein Russe sagt: Wir haben schon gegessen. Sie kommen zu spät. Solche Worte zu sprechen, bringen sie nicht übers Herz. Mag der Koch sehen, wie er fertig wird: das Essen fängt einfach wieder von neuem an. Sie haben ein köstliches Getränk, dessen Namen ich vergessen habe, es ist aber weit besser als der Sorbet von Konstantinopel. Der Dienerschaft, die überall sehr zahlreich ist, gibt man kein Wasser zu trinken, sondern ein leichtes, angenehm schmeckendes und nahrhaftes Getränk, das auch sehr billig ist, denn für einen Rubel macht man ein großes Faß voll.

Alle haben eine große Verehrung für den heiligen Nikolaus. Sie beten zu Gott nur durch die Vermittlung dieses Heiligen, dessen Bild sich stets in einer Ecke des Zimmers befindet, worin der Hausherr seine Besuche empfängt. Wer eintritt, macht die erste Verbeugung dem Heiligenbilde, die zweite dem Hausherrn. Ist zufällig ein solches Bild nicht da, so weiß der Russe nicht, was er sagen soll; es ist, wie wenn er den Kopf verloren hätte. Im allgemeinen sind die Moskoviten die abergläubigsten Christen der ganzen Welt. Ihre Liturgie ist griechisch; das Volk versteht nichts davon, und dem Klerus, der selber sehr unwissend ist, ist es angenehm, das Volk in Unwissenheit und Dunkelheit zu erhalten. Ich konnte einem Calogero, der Latein sprach, niemals begreiflich machen, warum die römischen Christen das Zeichen des Kreuzes von links nach rechts machen, während die griechischen Christen es von rechts nach links machen. Der einzige Grund ist der, daß wir sagen: spiritus sancti, während die Griechisch-Katholischen in griechischer Sprache άγιον πνευ̃μα sagen. »Wenn Sie πνευ̃μα άγιον sagten, würden Sie wie wir das Zeichen von links nach rechts machen, wir dagegen würden es wie Sie von rechts nach links machen, wenn wir sancti spiritus sagen würden.«

»Das Adjektiv,« antwortete er mir, »muß dem Substantiv vorangehen; denn man darf den Namen Gottes nicht aussprechen, ohne ein ehrendes Beiwort vorauszuschicken.«

Fast alle Unterschiede, die die beiden Religionsgemeinschaften trennen, sind von gleicher Art, ungerechnet eine Menge von Lügen, die sie gerade ebenso haben wie wir und an denen sie nicht am wenigsten hängen.

Wir kehrten in derselben Weise, wie wir gekommen waren, nach Petersburg zurück; aber Zaïra wäre es am liebsten gewesen, wenn ich Moskau niemals verlassen hätte. Da sie beständig bei mir war, war sie so verliebt geworden, daß ich nicht ohne Betrübnis an den Augenblick denken konnte, wo ich sie würde verlassen müssen. Am Tage nach unserer Ankunft in Petersburg fuhr ich mit ihr nach Katharinenhof. Sie zeigte ihrem Vater alle kleinen Geschenke, die ich ihr gemacht hatte, und beschrieb ihm ausführlich alle Ehren, die man ihr als meiner Tochter angetan hätte. Der gute Mann lachte recht herzlich darüber.

Die erste Neuigkeit, die ich bei meiner Rückkehr vorfand, war ein Ukas, der die Errichtung eines großen Tempels in der Morskaja, gegenüber meiner Wohnung, anordnete. Dieser Tempel sollte Gott geweiht sein. Die Erbauung hatte die Kaiserin dem Architekten Rinaldi anvertraut. Als der philosophische Baumeister ihr sagte, er müsse wissen, was für ein Symbol er über das Portal setzen solle, antwortete ihm die Herrscherin: »Kein Symbol; nur den Namen Gottes in großen Buchstaben.«

»Ich werde ein Dreieck anbringen.«

»Kein Dreieck! Den Namen Gottes in welcher Sprache Sie wollen. Nichts mehr!«

Die zweite Neuigkeit war die Flucht Bombacks, den man in Mitau, wo er sich in Sicherheit glaubte, wieder erwischt hatte. Herr von Simolin hatte ihn verhaftet. Der arme Narr saß im Gefängnis, und um seine Sache stand es böse, denn er hatte sich der Desertion schuldig gemacht. Er fand jedoch Gnade, indem man ihn nur nach Kamschatka in Garnison schickte. Crèvecoeur und seine Schöne waren mit Geld abgereist. Ein Florentiner Abenteurer, namens Billiotti, war mit achtzehntausend Rubeln geflohen, um die er Papanelopulo beschwindelt hatte. Aber ein gewisser Bori, der Vertraute meines guten Griechen, hatte ihn ebenfalls in Mitau gefaßt und ihn nach Petersburg zurückgebracht, wo er im Gefängnis saß.

Prinz Karl von Kurland traf um jene Zeit ein und ließ mir seine Ankunft melden. Ich beeilte mich, ihm meinen Besuch zu machen. Er wohnte in einem Hause, das dem Grafen Demidoff gehörte. Dieser hatte als Besitzer riesiger Eisenbergwerke sich den Spaß gemacht, das ganze Haus vom Keller bis zum Dach aus Eisen herstellen zu lassen. Nur die Möbel waren nicht aus Eisen. Ein Brand war nicht zu befürchten. Der Prinz hatte seine Geliebte bei sich, die immer noch schlechter Laune war; er konnte sie nicht mehr ausstehen, weil sie in der Tat unerträglich war. Er war zu beklagen; denn er konnte sie nur loswerben, indem er ihr einen Gatten gab; ein Gatte aber, wie sie ihn verlangte, fand sich nicht, und es wurde jeden Tag schwieriger, einen solchen zu finden. Ich machte ihr einen Besuch; aber sie langweilte mich mit ihren Klagen gegen den Prinzen so sehr, daß ich mir vornahm, nicht wieder hinzugehen. Als der Prinz mich besuchte und meine Zaïra sah und darüber nachdachte, mit wie geringen Kosten ich glücklich war und ein reizendes Mädchen glücklich machte, da fühlte er, daß jeder vernünftige Mensch, der das Bedürfnis nach Liebe hat, eine Geliebte halten sollte; aber die Neigung zum Luxus verdirbt alles und macht die Süßigkeit selber bitter.

Man hielt mich für glücklich; ich gab mir auch gerne den Anschein, es zu sein, aber ich war es nicht. Seit meiner Gefangenschaft unter den Bleidächern litt ich an inneren Hämorrhoiden, die mich alljährlich drei- oder viermal belästigten. In Petersburg wurde dieses Leiden ernstlich; regelmäßig wiederkehrende unerträgliche Schmerzen machten mich traurig und unglücklich. Ein achtzigjähriger Arzt, namens Senapios, den ich hatte rufen lassen, gab mir die traurige Kunde, daß ich eine unvollständige Fistel am Rectum habe; nur das grausame Messer könne eine Erleichterung verschaffen, sagte der Äskulap, aber es sei keine Zeit mehr zu verlieren. Trotz meinem Widerwillen mußte ich mich mit allem einverstanden erklären; zum großen Glück aber fand ein geschickter Chirurg, den der Arzt kommen ließ, daß die Natur binnen kurzem die Operation mit besserem Erfolge vollziehen werde als die Kunst; ich müsse nur ein wenig Geduld haben. Ich hatte viel zu leiden, besonders unter der strengen Diät, die mir vorgeschrieben wurde, die aber ohne Zweifel heilsam für mich war.

Oberst Melissino lud mich zu einer Parade ein, die drei Werst von Petersburg stattfand, und wobei der General Alexis Orloff ein Diner zu achtzig Gedecken gab. Ich fuhr mit dem Prinzen von Kurland hinaus. Man vollbrachte bei dieser Gelegenheit die Leistung, in einer Minute aus einem Geschütz zwanzig Schüsse abzugeben. Die Feldgeschütze, von sechs Artilleristen bedient, schossen zwanzigmal in einer Minute, teils aus der Stellung, teils im Vorrücken gegen den Feind. Ich habe es mit der Uhr in der Hand verfolgt; in drei Sekunden schleuderte das Rohr den Tod. In der ersten Sekunde wurde das Geschütz ausgewischt, in der zweiten wurde es geladen, in der dritten wurde es abgefeuert.

Ich saß bei Tisch neben dem französischen Botschaftssekretär. Er wollte einmal auf russische Art trinken, und da er den Ungarwein für ebenso unschuldig wie Champagner hielt, trank er so wacker, daß er nach Tisch nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Graf Orloff kurierte ihn, indem er ihn weitertrinken ließ. Nachdem der Magen das Übermaß von sich gegeben hatte, legte man den Zecher auf ein Bett, und ein gesunder Schlaf machte ihn wieder nüchtern.

Bei diesem heiteren Mahle bekam ich einen Begriff von dem Geist des Landes. Da ich kein Russisch verstand, so erklärte Herr von Zinowieff, der neben mir saß, mir alle Witze der Gäste, die jedesmal mit donnerndem Beifall begrüßt wurden. Man glänzte, indem man eine Gesundheit auf irgend jemand ausbrachte, und dieser glänzte dann wieder, indem er darauf antwortete.

Melissino erhob sich, einen großen Becher voll Ungarwein in der Hand. Alles schwieg, um zu hören, was er sagen würde. Er trank auf die Gesundheit seines Generals Orloff, der ihm gegenüber am anderen Ende der Tafel saß. Er rief: »Möchtest du an dem Tage sterben, wo du reich sein wirst!«

Einstimmiger Beifall belohnte ihn, denn er lobte mit diesem Spruch Orloffs Freigebigkeit. Man hätte allerlei dagegen einwenden können, aber in lustiger Gesellschaft nimmt man es nicht so genau. Orloffs Antwort erschien mir weise, obwohl auch sie tartansch war; denn in ihr war ebenfalls vom Sterben die Rede. Er sprang auf, schwang ein volles Glas und rief: »Möchtest du nur von meiner Hand sterben!« Der Beifall war doppelt so stark und wollte nicht aufhören, denn er war der Gastgeber und der kommandierende General.

Der Witz der Russen ist kraftvoll; sie suchen keine Anmut, keine geschickte Wendung, sondern wollen nur genau und scharf treffen.

Voltaire hatte der Kaiserin seine Philosophie der Geschichte gesandt, die er für sie geschrieben und ihr mit sechs Zeilen gewidmet hatte. Einen Monat darauf kam zu Schiff eine Auflage von dreitausend Exemplaren an; diese verschwand in acht Tagen, denn alle Russen, die ein bißchen französisch konnten, wollten das Buch in der Tasche haben. Die Häupter der Voltairianer waren zwei sehr geistreiche, vornehme Herren, ein Stroganoff und ein Schuwaloff. Ich habe von dem ersten Verse gesehen, die denen seines vergötterten Vorbildes nichts nachgaben; zwanzig Jahre später sah ich von dem zweiten einen Dithyrambus, den Voltaire nicht verleugnet haben würde; aber der Gegenstand war gerade der Tod des großen Dichters, und das fand ich sehr seltsam; denn nie zuvor war eine solche Form auf Gegenstände der Trauer angewandt worden.

Zu jener Zeit kannte, lasen und rühmten in Rußland die Gebildeten und die militärischen Liebhaber nur den Philosophen von Ferney, und wenn sie alles gelesen hatten, was Voltaire veröffentlicht hatte, glaubten sie ebenso klug zu sein wie ihr Apostel. Sie kamen mir wie jene Zwerge vor, die sich für Riesen hielten, weil sie sich Stelzen angeschnallt hatten. Ich sagte ihnen, sie müßten die Bücher lesen, aus denen Voltaire sein Wissen geschöpft hätte; vielleicht würde es ihnen dann gelingen, noch gelehrter zu werden als er. Ich erinnere mich eines Weisen, der mir einmal in Rom sagte: »Hüten wir uns mit jemandem zu streiten, der nur ein einziges Buch gelesen hat.«

So waren die Russen zu jener Zeit; sind sie heute tiefer? Das vermag ich nicht zu entscheiden. Ich lernte in Dresden den Fürsten Biloselski kennen, der von seinem Gesandtenposten in Turin nach Rußland zurückkehrte. Der Fürst hat eine geometrische Darstellung der menschlichen Fassungsgabe gegeben; er analysierte die Metaphysik. Sein Werkchen gibt der Seele und der Vernunft ihren Platz, und je öfter ich es lese, desto herrlicher finde ich es. Schade, daß ein Atheist Mißbrauch damit treiben kann.

Graf Panin war Hofmeister des Thronfolgers Paul Petrowitsch. Er erzog seinen Schüler sehr hart; denn der junge Prinz, der von schroffem und verstecktem Charakter war, wagte nicht einmal, in der Oper bei einer Arie, die Luini sang, Beifall zu klatschen, wenn er nicht von seinem gestrengen Mentor die Erlaubnis dazu erhalten hatte.

Ich wurde Zeuge des folgenden Vorfalles:

Als der Kurier die Nachricht von dem plötzlichen Tode des Römischen Kaisers deutscher Nation, Franz des Ersten, brachte, war die Zarin in Zarsko Selo. Im Palast befand sich der gräfliche Hofmeister und Minister mit seinem erlauchten Zögling, der damals elf Jahre alt war. Der Kurier kam in der Mittagsstunde und übergab die Depesche dem Minister; dieser stand in der Mitte eines zahlreichen Kreises von Hofkavalieren, unter denen auch ich mich befand. Der kaiserliche Prinz stand zu seiner Rechten. Der Minister las die Depesche leise und sagte dann, ohne das Wort an einen Bestimmten zu richten »Da kommt eine wichtige Nachricht, der Kaiser des Römischen Reiches ist plötzlich gestorben.«

Hierauf wandte er sich zu Paul und fuhr fort: »Große Hoftrauer, die Eure Hoheit drei Monate länger tragen wird als Ihre Majestät die Kaiserin.«

»Warum denn?« fragte Paul.

»Weil Eure Hoheit als Herzog von Holstein das Recht hat, einen Sitz auf dem Reichstag einzunehmen – ein Vorrecht,« fügte er hinzu, indem er sich im Kreise umsah, »das Peter der Erste so sehr ersehnte und niemals erlangen konnte.«

Ich bemerkte, mit welcher Aufmerksamkeit Großfürst Paul auf die Worte seines Mentors hörte, und wie er die Freude zu verbergen suchte, die die letzte Erklärung in ihm erweckte. Diese Art der Belehrung gefiel mir sehr. Einem jungen Kopf Ideen zuwerfen und ihm selber die Mühe überlassen, sich damit abzufinden, das fand ich sehr geschickt und zugleich tief. Ich teilte meine Ansicht dem Fürsten von Lobkowitz mit, der neben mir stand, und dieser stimmte sehr eifrig in mein Lob ein. Fürst Lobkowitz war bei aller Welt beliebt. Man zog ihn seinem Vorgänger Esterhazy vor, und das wollte viel sagen, denn Fürst Esterhazy hatte am russischen Hofe gutes und schlechtes Wetter gemacht. Fürst Lobkowitz war mit seiner Heiterkeit und Liebenswürdigkeit die Seele aller Gesellschaften, die er besuchte. Er brachte der Gräfin Braun, der ersten Schönheit bei Hofe, sehr eifrig seine Huldigungen dar, und kein Mensch hielt ihn für unglücklich, obgleich andererseits niemand etwas Genaueres über sein Glück wußte.

Zwölf oder vierzehn Werst von Petersburg fand eine große Parade statt, der die Kaiserin mit allen ihren Hofdamen und Kavalieren beiwohnte. Die paar Dörfer, die in der Nähe lagen, hatten so wenige und noch dazu so erbärmliche Häuser, daß sie unmöglich eine Unterkunft bieten konnten. Trotzdem beschloß ich hinzufahren, hauptsächlich auch meiner Zaïra zu Gefallen, die sich viel auf die Ehre zugute tat, sich mit mir in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. Es sollten unter Melissinos Leitung Feuerwerke stattfinden; es war eine Mine gelegt worden, um ein Fort in die Luft zu sprengen; außerdem sollten zahlreiche Truppen in der weiten Ebene exerzieren. Dies alles versprach ein schönes Schauspiel. Ich fuhr in meinem Schlafwagen hin, der mir als Wohnung dienen konnte, wenn ich keine andere fand; übrigens befanden wir uns in der Jahreszeit, wo es keine Nächte gibt.

Um acht Uhr morgens kamen wir in dem Orte an, wo an diesem Tage die Manöver stattfinden sollten, die bis zum Mittag dauerten. Nach Schluß derselben fuhren wir vor ein Wirtshaus und ließen uns das Essen in unserem Wagen auftragen; denn das Haus war überfüllt.

Nach dem Essen bemühte mein Kutscher sich vergeblich, ein Nachtquartier zu finden. Da ich nicht nach Petersburg zurückfahren wollte, richteten wir uns darauf ein, in unserem Wagen zu biwakieren. Ebenso machte ich es die ganzen drei Tage hindurch und war auf diese Weise viel besser aufgehoben als andere, die für eine erbärmliche Unterkunft viel Geld ausgegeben hatten. Melissino sagte mir, die Zarin habe die Art, wie ich mir zu helfen gewußt, sehr vernünftig gefunden. Da ich der einzige war, der einen Schlafwagen, ein richtiges fahrendes Haus, besaß, so machte man mir in aller Form Besuche, und Zaïra strahlte vor Glück, die Honneurs machen zu dürfen.

Ich unterhielt mich während dieser drei Tage sehr viel mit dem Grafen Tott, dem Bruder des Tott, der damals im diplomatischen Dienste in Konstantinopel verwandt wurde, und den man den Baron Tott nannte. Wir hatten uns in Paris kennen gelernt und uns später im Haag getroffen, wo ich das Vergnügen gehabt hatte, ihm nützlich sein zu können. Er war mit Frau von Soltikoff, die er in Paris kennen gelernt hatte, und deren Liebhaber er war, nach Petersburg gekommen. Er wohnte bei ihr, ging zu Hofe und war bei jedermann beliebt. Er war sehr heiter, ein schöner Mann, besaß Geist und Bildung und alle Eigenschaften, die an einem Kavalier gefallen können.

Trotzdem ließ ihn zwei oder drei Jahre später die Kaiserin wegen der polnischen Unruhen aus Petersburg ausweisen. Man behauptete, er unterhalte eine Korrespondenz mit seinem Bruder, der damals an den Dardanellen die Arbeiten leitete, um die Durchfahrt der von Alexis Orloff befehligten Flotte zu verhindern. Was nach seiner Abreise aus Rußland aus ihm wurde, habe ich nicht erfahren. Er tat mir in Petersburg einen großen Gefallen, indem er mir fünfhundert Rubel lieh, zu deren Rückgabe ich noch keine Gelegenheit fand.

Ein venetianischer Kaufmann, Maruzzi, ein Grieche von Geburt, der sein Geschäft aufgegeben hatte, um als Kavalier zu leben, kam in jener Zeit nach Petersburg und wurde bei Hofe vorgestellt. Da er eine recht liebenswürdige Erscheinung war, fand er Zutritt zu allen großen Häusern. Die Kaiserin zeichnete ihn aus, weil sie ihr Auge auf ihn geworfen hatte, um ihn zu ihrem Geschäftsträger in Venedig zu machen. Er machte der Gräfin von Braun den Hof, aber er hatte Nebenbuhler, die ihn nicht fürchteten. So reich er war, er verstand sein Geld nicht auszugeben; und in Rußland ist noch mehr als in anderen Ländern der Geiz eine Sünde, womit die Frauen kein Erbarmen kennen.

Ich machte in jenen Tagen kleine Reisen nach Zarsko Selo, Peterhof und Kronstadt, denn man muß in einem fremden Lande alles sehen, wenn man sagen können will: ich bin dagewesen! Ich schrieb über mehrere Gegenstände, um eine Anstellung im Zivildienst zu erhalten. Ich reichte meine Arbeiten ein, und sie wurden auch der Kaiserin vorgelegt. Aber ich hatte keinen Erfolg damit. Man legt in Rußland nur auf Leute Wert, die man gerufen hat; wer von selber kommt, macht dort selten sein Glück. Darin kann ich übrigens den Russen nicht unrecht geben.