Elftes Capitel

Zwischen zwei Ufern

Gegen acht Uhr Abends hüllte, wie es der Zustand des Himmels schon voraus sehen ließ, eine tiefe Finsterniß die ganze Umgebung ein. Da es jetzt Neumond war, stieg auch dieser nicht über den Horizont empor. Von der Mitte des Flusses aus konnte man die Ufer nicht erkennen. Die schroffen Felsen an den Seiten verschwammen in mäßiger Höhe mit den schwarzen, tief herabhängenden Wolken, welche kaum ihre Stelle wechselten. Von Zeit zu Zeit rauschte ein Windstoß von Osten her und schien in dem engen Thale der Angara zu ersterben.

Die Dunkelheit begünstigte nach der einen Seite gewiß das Vorhaben der Flüchtlinge. Patrouillirten auch die Wachposten der Tartaren längs der Ufer, so ließ sich doch annehmen, daß das Floß ungesehen von ihnen vorübergleiten werde. Ebenso wenig stand zu befürchten, daß die Belagerer stromaufwärts von Irkutsk den Fluß gesperrt haben sollten, da sie recht gut wußten, daß die Russen aus dem Süden der Provinz keine Hilfe zu erwarten hatten. In kurzer Zeit mußte freilich die Natur schon allein diese Flußsperre herstellen, wenn die Kälte die einzelnen Schollen fest aneinander löthete.

Am Bord des Flosses herrschte jetzt das tiefste Schweigen. Als man weiter in den Fluß eindrang, ließen sich auch die Stimmen der Pilger nicht mehr vernehmen. Sie beteten zwar noch immer, aber nur mit solch leisem Gemurmel, daß dasselbe am Ufer unmöglich gehört werden konnte. Auf der Plattform ausgestreckt unterbrachen auch die Körper der Flüchtlinge kaum die ebene Fläche des Wassers. Der alte Seemann, der sich jetzt am Vordertheile neben seinen Leuten aufhielt, begnügte sich, nur die Eisschollen zu vermeiden, was ohne Geräusch zu erreichen war.

Der Eisgang auf dem Flusse durfte sogar als sein weiterer günstiger Umstand betrachtet werden, so lange er dem Flosse nicht zum unübersteigbaren Hinderniß wurde. Wäre es überhaupt möglich gewesen, den Apparat ans dem freien Wasser des Flusses wahrzunehmen, so verdeckten ihn jetzt zum Theil die Schollen jeder Größe und Form und das Aneinanderprallen und Krachen derselben übertönte gleichzeitig jedes sonst vielleicht hörbare verdächtige Geräusch.

Nun wurde die Luft aber wirklich empfindlich kalt. Die Flüchtlinge, deren Schutz nur in wenigen Birkenzweigen bestand, litten sehr hart. Sie drängten sich dicht aneinander, um die Erniedrigung der äußeren Temperatur, welche während der Nacht bis auf 10° unter Null herabging, besser zu ertragen. Der schwache Wind, der über die schneebedeckten Berge im Osten herwehte, stach sie wie mit tausend Nadeln.

Michael Strogoff und Nadia ertrugen, auf dem Hintertheil des Flosses gelagert, diesen Zuwachs ihrer Leiden ohne jede Klage. Neben ihnen suchten Alcide Jolivet und Harry Blount dem ersten Angriff des sibirischen Winters nach Kräften Widerstand zu leisten. Weder die Einen noch die Andern sprachen ein Wort, nicht einmal heimlich. Die gegenwärtige Situation beschäftigte vollständig ihren Geist. Jeden Augenblick konnte ein Zwischenfall, eine Gefahr eintreten, vielleicht eine Katastrophe, welche Allen verderblich werden mußte.

Für einen Mann, der nun endlich so nahe daran ist, sein längst erstrebtes Ziel zu erreichen, verhielt sich Michael Strogoff auffallend ruhig. Auch in den schlimmsten Lagen hatte ihn seine Energie ja niemals verlassen. Er sah schon den Augenblick vor sich, wo es ihm endlich gestattet sein würde, an seine Mutter, an Nadia, an sich selbst zu denken! Er fürchtete nur noch eine einzige letzte Störung, das Floß möchte durch die Anhäufung von Schollen noch vor dem Eintreffen in Irkutsk aufgehalten werden. Er dachte nur hieran und war im Uebrigen vollkommen entschlossen, im Nothfalle noch durch ein letztes kühnes Wagstück seine Absicht durchzusetzen.

Nach mehreren Stunden der Ruhe hatte Nadia ihre physischen Kräfte wieder gewonnen, welche das Unglück wohl manchmal brechen konnte, ohne ihr jemals den Muth zu rauben. Sie dachte ebenfalls daran, daß Michael Strogoff nichts unversucht lassen werde, um seiner Pflicht nachzukommen, und daß sie bei der Hand sein müsse, ihn zu führen. Je mehr sie sich aber Irkutsk näherte, desto deutlicher trat ihr auch das Bild ihres Vaters vor das geistige Auge. Sie sah ihn in der belagerten Stadt, fern von Denen, die er liebte, jedoch – woran sie niemals zweifelte, – mit dem ganzen Feuer seines Patriotismus kämpfend gegen die feindlichen Angreifer. Half ihr jetzt der Himmel, so konnte sie in einigen Stunden in seinen Armen liegen, ihm die letzten Worte ihrer Mutter mitzutheilen, und dann sollte nichts sie wieder von ihm trennen. Endigte die Verbannung Wassili Fedor’s niemals, so wollte auch sie dieselbe mit ihm theilen. Doch gedachte sie ganz natürlich auch Dessen, dem sie es verdankte, ihren Vater überhaupt wieder zu sehen, ihres edelmüthigen Reisegefährten, ihres »Bruders«, der nach Vertreibung der Tartaren den Weg nach Moskau wieder einschlagen würde, um sie vielleicht nie wieder zu sehen! …

Alcide Jolivet und Harry Blount endlich beschäftigten sich nur mit dem einen Gedanken, daß die Situation höchst dramatisch sei und, gut in Scene gesetzt, einen ungemein interessanten Bericht abgeben müsse. Der Engländer dachte dabei an die Leser des Daily-Telegraph, der Franzose an die seiner Cousine Madeleine. Uebrigens konnten sie sich einer gewissen Erregtheit doch nicht ganz erwehren.

»Nun, desto besser, dachte Alcide Jolivet, man muß selbst bewegt sein, um Andere zu bewegen! Ich glaube, dieser Gedanke ist auch in irgend einem berühmten Verse ausgesprochen, aber, zum Teufel, ich erinnere mich nicht …«

Dabei suchte er mit seinen berühmten Reporteraugen immer das Dunkel zur Seite des Flusses zu durchdringen.

Dann und wann unterbrach ein greller Lichtschein die Finsterniß und zauberte ein phantastisches Bild der dunkeln Wälder hervor. Hier stand ein ganzer Wald in Flammen, dort verheerte das Feuer ein Dorf, immer die traurigen Wiederholungen der Schreckensbilder des Tages, nur daß diese gegen das Dunkel der Nacht desto auffallender contrastirten. Die Angara war dabei von einem Ufer bis zum andern erhellt. Die Eisschollen bildeten ebenso viele Spiegel, welche die Flammen in allen Winkeln und allen Farben wiedergaben, und deren Reflexe je nach der Bewegung der Strömung wechselten. Unter der Masse dieser schwimmenden Körper zog das Floß unbemerkt dahin.

Hier drohte also keine besondere Gefahr.

Aber eine ganz andere war im Anzuge. Diese konnten sie nicht vorhersehen und vorzüglich auf keine Weise abwenden. Alcide Jolivet erkannte sie ganz zufällig und zwar durch folgenden Umstand:

Auf der rechten Seite des Floßes liegend, ließ derselbe einmal seine Hand in’s Wasser hängen. Plötzlich erhielt er einen Eindruck, als wenn eine klebrige Substanz, etwa ein Mineralöl, seine Haut benetzte.

Alcide Jolivet nahm auch noch den Geruch zu Hilfe, – er konnte sich nicht täuschen. Das war eine Lage flüssiger Naphtha, welche auf der Oberfläche der Angara schwamm und mit der Strömung hinabtrieb.

Schwamm das Floß also wirklich ganz auf dieser Substanz, welche so ungemein leicht entzündlich ist? Woher rührte diese Naphtha? Hatte sie ein natürliches Phänomen an die Oberfläche der Angara geführt, oder sollte sie als Zerstörungsmittel dienen, durch das die Tartaren vielleicht Irkutsk in Brand zu setzen suchten? Eine Art der Kriegführung freilich, welche unter gesitteten Völkern nicht wohl vorkommen könnte.

Das waren die beiden Fragen, die Alcide Jolivet sich vorlegte, doch hielt er es für gerathen, von seiner Entdeckung nur Harry Blount Mittheilung zu machen, und Beide kamen auch überein, ihre Reisegefährten nicht unnöthig durch diese neue Gefahr zu ängstigen.

Bekanntlich ist der Boden Centralasiens wie ein Schwamm imprägnirt von flüssigen Kohlenwasserstoffen. Im Hafen von Baku, an der persischen Grenze, an der Halbinsel Abcheron, am Kaspisee, in Kleinasien, in China, in Yug-Hyan, in Birma dringen die Oelquellen zu Tausenden an die Oberfläche. Dort ist das »Oelgebiet«, ein Pendant zu dem Theile Nordamerikas, der diesen Namen wirklich trägt.

Bei gewissen religiösen Festen gießen die Eingebornen im Hafen zu Baku, welche Feueranbeter sind, flüssige Naphtha auf die Oberfläche des Meeres, die in Folge ihres geringeren specifischen Gewichtes darauf schwimmt. Hat sich die brennbare Schicht dann über das Wasser verbreitet, so zünden sie dieselbe mit Anbruch der Nacht an und bereiten sich auf diese Weise das unvergleichliche Schauspiel eines Oceans von Feuer, der sich mit dem Winde auf und niederbewegt.

Was aber in Baku eine Festlichkeit ist, das mußte zum Unheil auf den Wellen der Angara werden. Ob hier nun Feuer aus verbrecherischer Absicht oder aus Unvorsichtigkeit angezündet wurde, jedenfalls hätte es sich in einem Augenblicke bis über Irkutsk hinaus verbreitet.

Auf dem Floße selbst konnte man wohl vor jeder Unvorsichtigkeit sicher sein; desto mehr waren die verschiedenen Feuersbrünste an beiden Ufern der Angara zu fürchten, denn es genügte ja schon ein brennendes Holzstückchen, vielleicht ein bloßer Funke, den Naphthastrom in Flammen zu setzen.

Die Besorgnisse Harry Blount’s und Alcide Jolivet’s gegenüber dieser neuen Gefahr lassen sich wohl eher empfinden, als schildern. Erschien es nicht rathsamer, vorläufig an eines der Ufer zu gehen, dort sich auszuschiffen und eine Zeit lang zu warten? – Sie legten sich wohl diese Frage vor.

»Wie drohend die Gefahr auch sei, sagte Alcide Jolivet, jedenfalls weiß ich Einen, der sich nicht mit ausschiffen würde.«

Er spielte hiermit auf Michael Strogoff an.

Inzwischen schwamm das Floß schnell zwischen den Eisschollen hinab, die sich immer enger und enger zusammendrängten.

Bisher hatte man an den Uferabhängen der Angara noch nirgends tartarische Abtheilungen zu Gesicht bekommen, ein Beweis, daß das Floß deren Vorpostenkette noch nicht erreicht haben könne. Gegen zehn Uhr Abends glaubte Harry Blount jedoch eine Menge dunkler Gestalten wahrzunehmen, die sich auf den Eisschollen bewegten, und indem sie von der einen nach der andern sprangen, schnell näher herankamen.

»Tartaren!« dachte er.

Er schlich sich in die Nähe des alten Seemanns auf dem vorderen Theile und lenkte dessen Aufmerksamkeit auf jene verdächtigen Bewegungen.

Der Alte richtete seine scharfen Augen darauf.

»Das sind nur Wölfe, sagte er. Die sind mir lieber als die Tartaren. Doch werden wir uns zu vertheidigen suchen müssen, ohne dabei Geräusch zu machen.«

Wirklich mußten die Flüchtlinge nun auch noch einen Kampf aufnehmen gegen die wilden Bestien, welche der Hunger und die Kälte nach diesen Gegenden verschlagen hatte. Die Wölfe witterten das Floß, und bald fielen sie dasselbe an. Die Flüchtlinge mußten sich also, ohne von Feuerwaffen Gebrauch zu machen, zur Wehr setzen. Frauen und Kinder wurden in der Mitte des Floßes untergebracht, die Männer bewaffneten sich mit Stangen, Messern oder einfachen Stöcken und stellten sich bereit, die Angreifer heim zu schicken. Kein Ausruf ließ sich hören, nur das Geheul der Wölfe erschütterte die Luft.

Michael Strogoff hatte nicht unthätig bleiben wollen. Er streckte sich an der von den Raubthieren angegriffenen Seite des Floßes nieder, ergriff sein furchtbares Messer, und wußte dieses allemal, wenn ein Wolf in erreichbarer Nähe vorüberkam, demselben in den Hals zu stoßen. Harry Blount und Alcide Jolivet feierten ebenso wenig, wie ihre übrigen muthigen Begleiter. Das ganze Blutbad ging in tiefstem Schweigen vor sich, obgleich mehrere der Flüchtlinge ernsthafte Bißwunden davon trugen.

Der Kampf schien auch nicht so bald sein Ende zu erreichen. Die Lücken in der Bande der Wölfe füllten sich immer von Neuem und jedenfalls war die ganze Uferstrecke durch sie unsicher gemacht.

»Das hat auch gar kein Ende!« sagte Alcide Jolivet, während er den bluttriefenden Dolch schwang.

Eine halbe Stunde nach Beginn des Angriffs streiften die Wölfe noch immer in ganzen Banden über das Treibeis.

Die erschöpften Flüchtlinge erlahmten sichtlich. Der Kampf wendete sich zu ihrem Nachtheil. Eben stürzten zehn ungeheure, vor Wuth und Hunger rasende Wölfe mit feurigen Augen, die in der Dunkelheit wie glühende Kohlen leuchteten, auf die Plattform des Floßes. Ohne Zögern eilten Alcide Jolivet und Harry Blount auf diese zu, während Michael Strogoff sich denselben kriechend zu nähern suchte, als die Scene sich plötzlich veränderte.

Binnen wenigen Secunden hatten die Wölfe nicht nur das Floß, sondern auch die Eisschollen im Strome eiligst verlassen. Alle die schwarzen Gestalten verschwanden und zerstreuten sich offenbar in der Umgebung des rechten Flußufers.

Es rührte das daher, daß Wölfe nur in der Dunkelheit einen Kampf wagen, und jetzt die ganze Fläche der Angara plötzlich in hellem Lichte glänzte.

Es war der Wiederschein einer ausgedehnten Feuersbrunst. Der ganze Flecken Poschkafsk stand in hellen Flammen. Hier schwärmten also Tartaren umher, die ihr gewohntes Mordbrennerhandwerk trieben, und weiter flußabwärts die beiden Ufer besetzt hielten. Die Flüchtlinge traten jetzt in die gefährliche Zone ihrer nächtlichen Fahrt, und dabei lag die Hauptstadt noch dreißig Werst von ihnen entfernt.

Es war jetzt gegen halb zwölf Uhr Nachts. Das Floß glitt wieder versteckt zwischen den Eisschollen, von denen es sich kaum unterschied, dahin. Nur dann und wann flog ein heller Lichtschein über dasselbe hin. Auf der Plattform hingestreckt wagte keiner der Insassen eine Bewegung zu machen, die sie hätte verrathen können.

Die erwähnte Ortschaft brannte außerordentlich schnell nieder. Ihre aus Fichtenholz erbauten Häuser flackerten wie brennendes Harz empor. Gegen fünfzig derselben standen auf einmal in Flammen. Zu dem Knistern und Krachen der Feuersbrunst mischte sich das Gebrüll der Tartaren.

Der alte Seemann lenkte, indem er seine Stange an den größeren Eisschollen einsetzte, das Floß mehr nach der rechten Seite, so daß sie eine Entfernung von drei- bis vierhundert Fuß von dem durch den Brand erleuchteten Flußufer trennte.

Nichtsdestoweniger hätten die Flüchtlinge, auf die zuweilen ein greller Lichtschein fiel, wohl bemerkt werden müssen, wenn die Brandstifter nicht allzu eifrig mit der Zerstörung des Ortes beschäftigt gewesen wären. Jeder wird sich aber leicht die Besorgniß Alcide Jolivet’s und Harry Blount’s vorstellen können, wenn diese an den so flüchtigen Brennstoff dachten, auf dem das Floß noch immer schwamm.

Ganze Funkengarben sprühten aus den Häusern auf, welche ebenso vielen brennenden Schmelzöfen glichen. Mitten in den Rauchwirbeln stiegen diese Funken fünf- bis sechshundert Fuß hoch in die Luft empor. Am rechten Ufer selbst schienen die Bäume, im Widerscheine des röthlichen Lichtes, selbst in Flammen zu stehen. Nun reichte ja schon ein Funken hin, der auf die Angara niederfiel, die Feuersbrunst auch dem Strome mitzutheilen und Verderben bis zum andern Ufer zu tragen. Die Zerstörung des Floßes und der Tod seiner Insassen mußte dann die nothwendige Folge sein.

Zum Glück wehte der schwache Nachtwind nicht nach dieser Seite. Er blies fortwährend aus Osten und trieb die Flammen von dem linken Ufer ab. Möglicherweise konnten die Flüchtlinge also dieser entsetzlichen Gefahr entgehen.

Wirklich ließen sie die brennende Ortschaft bald hinter sich. Nach und nach erblaßte der Feuerschein, das Knistern und Krachen verstummte, und bald verschwand auch der letzte Schimmer hinter dem hohen Ufer der Angara, welche hier einen scharfen Bogen bildet.

So kam die Mitternacht heran. Die tiefe Finsterniß schützte wieder das Floß. An beiden Ufern trieben sich da und dort Tartaren umher. Man sah sie zwar nicht, hörte sie aber, übrigens glänzten auch die Feuer der äußersten Vorposten hell durch die Nacht.

Inzwischen machte es sich bei den immer mehr zusammen gedrängten Eisschollen nöthig, mit größter Vorsicht weiter zu fahren.

Der alte Seemann erhob sich und die Mujiks ergriffen ihre Stangen. Alle waren vollauf beschäftigt, da die Führung des Floßes immer schwieriger und das Bett des Flusses immer enger wurde.

Michael Strogoff war nach dem Vordertheile geschlichen.

Alcide Jolivet folgte ihm.

Beide vernahmen die zwischen dem alten Seemann und seinen Leuten gewechselten Worte.

»Achtung, dort rechts!

– Links drängen ein paar Schollen heran!

– Stoß‘ ab, fest mit der Stange!

– Vor Verlauf einer Stunde sitzen wir fest …

– Wenn Gott das will! sagte der alte Seemann. Gegen seinen Willen ist nichts zu thun.

– Hören Sie Jene? fragte Alcide Jolivet.

– Ja, erwiderte Michael Strogoff, aber Gott ist mit uns!«

Inzwischen ward die Situation immer ernster. Wurde das Floß wirklich aufgehalten, so gelangten die Flüchtlinge nicht nur nicht nach Irkutsk, sondern mußten jedenfalls auch ihr schwimmendes Transportmittel verlassen, das von den Eisschollen gedrückt bald unter ihnen in Stücke gehen würde. Dann drohten ja die aus Weidenzweigen bestehenden Bänder zu reißen, die von einander weichenden Fichtenstämme unter das Eis zu gerathen und den Unglücklichen wäre nichts anderes als Zuflucht verblieben, als die schwankenden Schollen selbst. Nach Anbruch des Tages hätten sie dann die Tartaren ohne Zweifel entdecken müssen, von deren Hand keine Gnade zu hoffen war.

Michael Strogoff kehrte nach dem Hintertheile, wo Nadia sich aufhielt, zurück. Er näherte sich derselben, faßte ihre Hand und legte ihr die oft wiederholte Frage vor: »Bist Du bereit, Nadia?« – welche sie wie immer mit

»Ich bin stets und zu Allem bereit!« beantwortete.

Noch einige Werst drängte sich das Floß zwischen dem Schollengewirr dahin. Verengerte sich die Angara noch mehr, so mußte sich ein Eisschutz bilden, der die Weiterbenutzung der Wasserstraße so gut wie unmöglich machte. Schon wurde die Bewegung offenbar eine langsamere. Jeden Augenblick fühlte man Stöße und sah, wie das Floß abwich. Hier mußte man sich vor dem vorspringenden Ufer in Acht nehmen, dort eine enge Durchfahrt passiren. Immer wiederholten sich unerwünschte Verzögerungen.

Nun dauerte die Nacht ja auch nur noch wenige Stunden. Erreichten die Flüchtlinge Irkutsk nicht vor fünf Uhr des Morgens, so konnten sie auch alle Hoffnung aufgeben, jemals hinein zu gelangen.

Gegen halb zwei Uhr stieß das Floß trotz aller Anstrengungen gegen einen compacten Eisschutz und blieb hier fest stehen. Die nachrückenden Schollen drängten es noch mehr an jenen an und machten es dadurch so unbeweglich fest, als ob es auf einer Klippe gescheitert wäre.

An dieser Stelle verengerte sich die Angara ungemein, so daß die Breite ihres Bettes nur noch die Hälfte der gewöhnlichen betrug. Hieraus erklärte sich diese Anhäufung von Schollen, welche allmälig mit einander verlötheten, sowohl durch den ganz beträchtlichen Druck, unter dem sie standen, als auch durch die Kälte, welche fühlbar zunahm. Fünfhundert Schritt weiter unten dehnte sich das Flußbett wieder aus, und hier trieben einzelne Schollen, die sich von Zeit zu Zeit von der Eisbank lösten, in der Richtung nach Irkutsk hin. Ohne diese Annäherung der Ufer hätte sich die Schollenwand nicht bilden können und das Floß wäre nach wie vor von der Strömung fortgetragen worden. Gegen den unglücklichen Zufall war aber nicht das Geringste zu thun, und die Flüchtlinge mußten eben auf jede Hoffnung verzichten, ihr ersehntes Ziel zu erreichen.

Im Besitze solcher Werkzeuge, wie sie die Wallfischfahrer gebrauchen, um sich Kanäle durch das Eisfeld zu brechen, hätten sie vielleicht gerade noch Zeit gehabt, das Hinderniß bis zu der wieder erweiterten Stelle des Stromes zu beseitigen. Aber keine Säge, keine Spitzhaue war zur Hand, um die von der Kälte granitartig verhärtete Kruste mit Aussicht auf Erfolg anzugreifen.

Was nun?

In diesem Augenblicke krachte eine Gewehrsalve am rechten Ufer der Angara. Ein ganzer Kugelregen war auf das Floß gerichtet. Man hatte die Armen also noch entdeckt. Diese Annahme fand dadurch ihre Bestätigung, daß es jetzt auch von dem linken Ufer her aufblitzte. Zwischen zwei Feuer gestellt dienten die Flüchtlinge als Zielpunkte der tartarischen Tirailleurs. Einige wurden auch verwundet, obgleich die Kugeln bei der herrschenden Dunkelheit nur durch Zufall trafen.

»Komm, Nadia«, raunte Michael Strogoff dem jungen Mädchen in’s Ohr.

Ohne den mindesten Einwand ergriff Nadia »bereit zu Allem« Michael Strogoffs Hand.

»Wir müssen jetzt die Eisbank übersteigen, flüsterte er, aber Keiner darf gewahr werden, daß wir das Floß verlassen!«

Nadia gehorchte. Michael Strogoff und sie glitten schnell, geschützt von der Finsterniß, welche nur da und dort das Feuer der Gewehre unterbrach, auf die Eisfläche.

Nadia kroch Michael Strogoff voraus. Wie ein Hagel schlugen die Kugeln rings um sie ein oder prallten an den Schollen ab. Die unebene Eisdecke mit ihren hervorstehenden scharfen Kanten und Spitzen riß ihnen die Hände auf, aber sie kamen doch vorwärts.

Zehn Minuten später erreichten sie die untere Grenze der Eiswand. Hier ward das Wasser der Angara wieder frei. Einige Schollen rissen sich hier und da von derselben los und schwammen nach der Stadt hinunter.

Nadia verstand Michael Strogoff’s Absichten. Sie fand eine Eisscholle, welche nur durch eine schmale Verbindung fest hing. »Komm«, sagte Nadia.

Beide legten sich auf das Eisstück, das sich nach einigem Schwanken von der Bank ablöste.

Jetzt begann es, dahin zu treiben. Das Bett des Flusses erweiterte sich, der Weg stand offen.

Michael Strogoff und Nadia hörten noch das Knallen der Gewehre, die Ausrufe der Verzweiflung, das Brüllen der Tartaren … Dann verstummten langsam diese Ausbrüche der entsetzlichen Angst und der teuflischen Freude.

»Unsre armen Gefährten!« seufzte Nadia.

Während einer Stunde trug die Strömung jene Eisscholle mit Michael Strogoff und Nadia schnell dahin. Jeden Augenblick hatten diese zu befürchten, daß sie unter ihnen in Stücke gehen könne. Von der stärksten Strömung ward sie nahezu in der Mitte der Wasserfläche erhalten, und doch handelte es sich darum, sie mehr nach der Seite zu leiten, wenn sie an einem der Quais in Irkutsk landen sollte.

Michael Strogoff lauschte, ohne ein Wort zu sprechen, gespannten Ohres. Niemals winkte ihm so nahe das Ziel. Er fühlte jetzt, daß er es erreichen werde! …

Um zwei Uhr Morgens schimmerte eine doppelte Reihe Lichter an dem dunklen Horizonte neben den beiden Ufern der Angara.

Zur Rechten rührte dieser Lichtschein von Irkutsk her, zur Linken von den Wachtfeuern des tartarischen Feldlagers.

Michael Strogoff war nur noch eine halbe Werst von der Stadt entfernt.

»Endlich!« murmelte er für sich.

Aber plötzlich stieß Nadia einen furchtbaren Schrei aus.

Bei diesem Aufschrei erhob sich Michael Strogoff auf der schwankenden Scholle. Seine Hand streckte sich nach der Angara hinauf. Sein von bläulichen Reflexen überstrahltes Gesicht nahm einen furchtbaren Ausdruck an, und dann rief er, als hätten sich seine Augen auf’s Neue dem Lichte erschlossen:

»Ach, also Gott selbst ist doch gegen uns!«