Fünfzehntes Kapitel.

Ein wenig Freundschaft, – etwas Gefühl, viel Liebe, und – eine Abrechnung.

Eine Nacht süßer Ruhe ließ mich erfrischt und mit einem Puls, der weniger Bewegung verrieth, als am vorhergehenden Tag. Ich erwachte früh, nahm ein Bad und ließ Kapitän Poke rufen, den Kaffee mit mir einzunehmen, ehe wir schieden. Es war nämlich am vorhergehenden Abend festgesetzt worden, er solle ohne Weitres nach Stonington. Mein alter Tischgenosse, Kollege, Mitabenteurer und Reisegefährte gehorchte schnell meinem Ruf, und ich gestehe, seine Gegenwart war mir ein Trost; ich sah nicht gerne alle die Gegenstände, die so unerklärlich wieder vor meinen Augen erschienen, unbelebt durch die Gegenwart eines Mannes, der so viele ernste Auftritte mit mir durchgemacht.

»Das war eine sehr seltsame Reise, Kapitän Poke,« bemerkte ich, nachdem der würdige Robbenfänger sechzehn Eier, eine Omelette, sieben Kotelettes und verschiedene Nebensachen verschlungen. »Denkt Ihr Euer Tagebuch heraus zu geben?«

»Ei, nach meiner Meinung, Sir John, je weniger wir von der Reise sprechen, desto besser.« »Und warum? Wir haben die Entdeckungen von Kolumbus, Cook, Vancouver und Hudson gehabt, warum auch nicht die von Kapitän Poke?«

»Die Wahrheit zu sagen, wir Robbenfänger sprechen nicht gern von unsern Jagdgründen, und diese Monikins, was sind sie nütze? Ihr Fell wenigstens ist fast nichts werth.«

»Rechnet Ihr ihre Philosophie und ihre Jurisprudenz für nichts? Ihr waret ja so nahe daran, durch die Axt des Henkers Euer Haupt zu verlieren, und verlort wirklich Euern Schweif.«

Noah legte seine Hand hinter ihn und suchte mit offenbarer Unruhe nach dem Sitz der Vernunft. Zufrieden, daß ihm kein Leid geschehen, steckte er sehr ruhig ein halbes Tabacksröllchen in seine sogenannte Vorrathstasche.

»Ihr gebt mir wohl dies schöne Model von unserm guten alten Wallroß, Kapitän?«

»Nehmt es um’s Himmels willen, Sir John, und Glück dazu! Ihr gebt mir einen ausgewachsenen, großen Schooner und macht Euch nur schlecht durch dieß Spielwerk bezahlt.«

»Es ist dem theuern alten Schiff so ähnlich wie eine Krähe der andern.«

»Es mag sein; ich habe nie ein Model gesehen, das nicht in etwas dem Original gleich war.«

»Nun, mein guter Schiffsgefährte, wir müssen uns trennen. Ihr wißt, ich muß gehen, die Dame zu besuchen, die bald mein Weib sein wird, und die Diligence wird Euch nach Havre mitnehmen, ehe ich zurückkehre.«

»Gott segne Euch, Sir John, Gott segne Euch!« Noah schneuzte seine Nase, bis sie wie ein Posthorn erschallte, und mir däuchte, seine kleinen Kohlen von Augen glänzten selbst mehr als gewöhnlich, von Thränen wahrscheinlich. »Ihr seid ein drolliger Seemann und kümmert Euch nicht mehr um’s Eis, als ein Füllen um den Reif. Ist aber auch der Mann am Steuer nicht immer wach, schläft doch das Herz selten.«

»Wenn ›Debby und Delly‹ gehörig zu Wasser, werdet Ihr mir das Vergnügen machen, es mich wissen zu lassen.«

»Rechnet darauf, Sir John. Ehe wir jedoch scheiden, hab‘ ich eine kleine Gunstbezeugung zu erbitten.«

»Nennt sie!«

Hier zog Noah eine Art Basrelief, in Holz geschnitten, aus der Tasche. Es stellte Neptun mit einer Harpune statt dem Dreizack bewaffnet dar. Der Kapitän behauptete nämlich immer, der Gott der Meere sollte nie den letztern führen, statt dessen sollte er entweder mit der ihm gegebenen Waffe oder mit einem Bootshaken bewaffnet sein. Rechts von Neptun stand ein Engländer, der einen Beutel mit Guineen hielt, und an der andern Seite war ein Frauenzimmer, die, wie ich hörte, die Göttin der Freiheit vorstellen sollte, eigentlich aber ein etwas geschmeicheltes Portrait von Mad. Poke war. Das Antlitz des Neptun sollte einige Aehnlichkeit mit ihrem Gemahl haben. Der Kapitän bat nun mit der Bescheidenheit, die die unzertrennliche Begleiterin des Verdienstes in den Künsten ist, um die Erlaubniß, eine Kopie dieser Figur auf den Schooner stellen zu dürfen. Es wäre kindisch gewesen, solch ein Kompliment zu verweigern, und mit Widerstreben reichte ich Noah die Hand, als die Stunde der Trennung gekommen. Der Robbenfänger umarmte mich fester und schien mehr sagen zu wollen, als Adieu.

»Ihr werdet bald einen Engel sehen, Sir John.«

»Wie, wißt Ihr etwas von Miß Etherington.«

»Ich müßte ja blind wie ein Maulwurf sein. Während unsrer Reise sah ich sie oft.«

»Das ist seltsam. Aber Ihr habt offenbar etwas auf dem Herzen, mein Freund, sprecht frei.«

»Nun denn, Sir John, sprecht von Allem zu dem theuern Wesen, nur nicht von unsrer Reise. Ich denke, sie ist noch nicht ganz vorbereitet, von all den Wundern zu hören, die wir sahen.«

Ich versprach, klug zu sein, und der Kapitän, mir herzlich die Hand schüttelnd, wünschte mir endlich Lebewohl. In seiner Art lagen einige rohe Züge von Gefühl, die gewisse Saiten meines Systems berührten, und so war er schon einige Minuten fort, ehe ich mich erinnerte, es sei Zeit in das Hotel zu gehen. Zu ungeduldig, auf den Wagen zu warten, durchflog ich die Straßen zu Fuß, in der Ueberzeugung, meine eigne wilde Eile werde die Zigzag-Bewegung eines Fiakers oder Kabriolets übertreffen.

Dr. Etherington kam mir an der Thür seines Zimmers entgegen und führte mich, ohne zu sprechen, in ein inneres Zimmer. Hier blieb er, mir einige Zeit mit väterlicher Besorgniß in’s Gesicht blickend.

»Sie erwartet Euch, Jack, und weiß, daß die Schelle Euch ankündete.«

»Um so besser, Sir; laßt uns keinen Augenblick verlieren, laßt mich eilen, mich Ihr zu Füßen werfen, Ihre Verzeihung zu erlangen.«

»Wofür, mein guter Junge?«

»Daß ich glaubte, irgend ein socialer Anhaltpunkt könnte dem gleichkommen, den der Mann in den nächsten, theuersten Banden der Erde hat.«

Der herrliche Mann lächelte, aber offenbar wünschte er meine Ungeduld zu mäßigen.

»Ihr habt jetzt schon jeden möglichen Anhalt in der Staatsgesellschaft, Sir John Goldenkalb,« antwortete er, und nahm die Miene an, welche menschliche Wesen übereingekommen sind, für würdevoll zu halten, »den nur ein vernünftiger Mann wünschen kann. Das Euch von Eurem verstorbenen Vater hinterlassene Vermögen erhebt Euch in dieser Hinsicht zu den Reichsten im Lande, und nun, da Ihr Baronet seid, wird Niemand Eure Ansprüche in Zweifel ziehen, in den Rath der Nation einzutreten. Es wäre vielleicht besser, wenn Eure Standeserhöhung ein oder zwei Jahrhunderte dem Anfang der Monarchie näher wäre, aber in diesem Zeitalter der Neuerungen müssen wir die Dinge nehmen, wie sie sind und nicht wie wir sie wünschten; wie die Franzosen sagen: on fait ce qu’on peut, on ne fait pas, ce qu’on veut.

Ich rieb mir die Stirne, denn der Doktor hatte zufällig einen in Verlegenheit bringenden Gedanken ausgesprochen.

»Nach Euern Princip, Sir, müßte die Gesellschaft mit ihrem Urgroßvater beginnen, um fähig zu sein, sich selbst zu regieren.«

»Verzeiht mir, Jack, wenn ich etwas Unangenehmes sagte, ohne Zweifel wird Alles im Himmel recht werden. Anna wird sich über unser Zögern beunruhigen.« Diese Erinnerung trieb jeden Gedanken an des Geistlichen sociales Anhaltpunkt-System ganz aus meinem Kopfe; es war übrigens, wie man sich erinnern wird, dem Anhaltpunkt-System meines verstorbenen Vorfahren ganz entgegengesetzt. Ich eilte voran und gab dadurch dem guten Geistlichen hinlänglich zu verstehen, daß er sich weiter nicht zu bemühen brauche, unser Gespräch auf etwas Anderes zu bringen. Als wir durch ein Vorzimmer gekommen, zeigte er nach einer Thür und zog sich zurück, nachdem er mich ermahnt, vorsichtig zu sein.

Meine Hand zitterte, als sie die Thürklinke berührte, aber diese gab nach. Anna stand mitten im Zimmer, (sie hatte meinen Schritt gehört), ein Bild weiblicher Liebenswürdigkeit, weiblicher Treue, weiblichen Gefühls, doch durch große Anstrengung Herrin ihrer Bewegung. auf Seite 384 folgt Seite 285. Ist hier die Seitenreihenfolge durcheinander – oder nur die Numerierung? Ob auch ihre reine Seele mir entgegen fliegen zu wollen schien, sie hielt offenbar diese Regung zurück, um nicht mit meinen Nerven zu scherzen.

»Theurer Jack!« und ihre sanfte, weiße, schöne, kleine Hand kam mir entgegen, als ich mich näherte.

»Anna, theuerste Anna!« Ich bedeckte die rosigen Finger mit tausend Küssen.

»Laßt uns ruhig und auch vernünftig zu sein versuchen, Jack!«

»Könnte ich denken, daß dieß Euch, die Ihr stets so besonnen, Mühe kosten würde?«

»Auch der sonst Besonnene mag so gut, als ein Anderer, von seinen Gefühlen überwältigt werden, wenn er auf einen alten Freund trifft.«

»Wie glücklich würde es mich machen, Euch weinen zu sehen.«

Als hätte sie nur auf diesen Wink gewartet, brach Anna in eine Fluth von Thränen aus. Ich erschrack; denn diese Ausbrüche wurden hysterisch und krampfhaft. Jene köstlichen Gefühle, die so lange in ihrem jungfräulichem Busen gefangen gehalten worden, hatten die Herrschaft über sie bekommen, und ich wurde für meine Selbstsucht gehörig durch einen kaum weniger heftigen Schrecken bestraft, als es die Ausbrüche ihres eignen Gefühls gewesen.

In Hinsicht der Vorfälle, Bewegungen, der Unterredung der nächsten halben Stunde bin ich nicht willens, sehr mittheilend zu sein. Anna war aufrichtig, ohne Rückhalt, und wenn ich nach den rosigen Tinten urtheilen durfte, die ihr süßes Gesicht bedeckten, nach der Weise, wie sie sich meinen schützenden Armen entwand, glaube ich hinzufügen zu müssen, daß sie sich für unbesonnen hielt, so ohne Rückhalt so aufrichtig gewesen zu sein.

»Wir können jetzt ruhiger mit einander reden, Jack,« begann das theuerste Wesen wieder, nachdem sie die Zeichen ihrer Bewegung von ihren Wangen getrocknet, »ruhiger, wenn auch mit mehr Gefühl.«

»Salomo’s Weisheit ist nicht halb so köstlich, als die Worte, die ich gehört, und was die Sphären-Musik anlangt –«

»So ist das eine Melodie, der sich die Engel nur erfreuen können.«

»Und seid Ihr nicht ein Engel?«

»Nein, Jack, nur ein armes, vertrauendes Mädchen, versehen mit den Neigungen und Schwächen ihres Geschlechts, die Ihr jetzt halten und leiten müßt. Wenn wir damit anfangen, uns diese übermenschliche Namen zu geben, möchten wir früher aus der Täuschung erwachen, als wenn wir erst uns nur für das halten, was wir wirklich sind. Ich lieb‘ Euch Eures gütigen, herrlichen, edlen Herzens wegen, Jack; diese poetischen Wesen aber sind mehr nur sprichwörtlich, weil sie gar kein Herz haben.«

Während Anna mild der Uebertreibung meiner Sprache Einhalt that, (nach einer zehnjährigen Ehe selbst darf ich nicht zugeben, daß der Gedanke übertrieben war), legte sie ihre kleine Sammthand wieder in meine und lächelte alle Strenge des Verweises hinweg.

»Eines Dings, denk‘ ich, mögt Ihr fest überzeugt sein, Theuerste,« begann ich wieder nach einem Augenblick Nachdenkens: »alle meine alten Ansichten über Expansion und Kontraktion haben sich gänzlich geändert. Ich hab‘ den Grundsatz des sozialen Anhaltspunkt-Systems bis auf’s Aeußerste getrieben, und kann gar nicht sagen, daß ich mit dem Erfolg zufrieden gewesen. In diesem Augenblick bin ich Besitzer von Aktien, über die halbe Welt zerstreut; weit entfernt, meine Mitmenschen all dieser Anhaltspunkte wegen mehr zu lieben, muß ich sehen, wie der Wunsch, den einen zu schützen, mich beständig zu Handlungen der Ungerechtigkeit gegen alle andre treibt. Es liegt etwas Falsches, glaube mir, Anna, in dem alten Dogma der Staats-Oekonomen.«

»Ich weiß wenig von diesen Dingen, lieber John; aber einer so Unwissenden, wie mir, schiene die beste Sicherheit für den rechten Gebrauch der Gewalt die, daß sie auf gerechten Grundsätzen beruhe.«

»Wenn sie sich geltend machen können, freilich. Die, welche behaupten, die Niedrigen und Unwissenden seien untauglich, ihre Ansichten über das Gemeinwohl auszusprechen, müssen zugeben, daß sie nur durch Gewalt unten gehalten werden können. Da nun Erkenntniß Macht ist, ist ihre erste Vorkehrung, sie unwissend zu erhalten, und dann führen sie gerade diese Unwissenheit mit allen ihren erniedrigenden Folgen als einen Beweis gegen deren Theilnahme an der Macht mit ihnen an. Ich denke, es kann kein sichrer Mittelweg zwischen einer freimüthigen Annahme der Principien – –«

»Ihr solltet Euch erinnern, lieber Goldenkalb, daß dies ein Gegenstand ist, von dem ich nur wenig verstehe; es sollte uns hinreichen, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, und wenn eine Aenderung nöthig, sollten wir sie mit Klugheit und gehöriger Rücksicht auf Gerechtigkeit zu bewerkstelligen suchen.«

Während Anna mich gütig von meinen Spekulationen zurückführte, hatte das süße Wesen ein ängstliches, peinliches Aussehen.

»Wahr, wahr!« erwiederte ich schnell; denn eine Welt hätte mich nicht reizen können, ihre Leiden einen Augenblick zu verlängern. »Ich bin thöricht und vergessen, so in einem solchen Augenblick zu sprechen; aber ich hab‘ zu viel gelitten, um mir gänzlich alte Theorien aus dem Sinn zu schlagen. Ich dachte wenigstens, es würde Euch angenehm sein, Anna, zu erfahren, daß ich in meinen Neigungen nicht mehr bei dem Ganzen mein Glück suche, und so um so geneigter bin, mich deßwegen an Eine zu wenden.«

»Unsere Nächsten wie uns selbst zu lieben, ist das letzte und höchste der göttlichen Gebote,« antwortete das theure Kind, tausend Mal lieblicher als jemals blickend; denn mein Schluß war weit entfernt, ihr zu mißfallen. »Ich weiß nicht, ob dieser Zweck dadurch zu erreichen ist, daß wir in unsrer Person so viele der Güter des Lebens vereinigen, wie möglich ist; aber ich denke, Jack, das Herz, das Einen treu liebt, wird auch um so eher gütige Gefühle gegen alle Andre hegen.«

Ich küßte die Hand, die sie mir gegeben, und wir sprachen dann etwas mehr wie Leute dieser Welt über unsre künftigen Schritte. Die Unterredung dauerte noch eine Stunde; da trat der gute Geistliche in’s Mittel, und schickte mich nach Hause, Vorbereitungen zu unsrer Rückkehr nach England zu treffen.

Eine Woche nachher waren wir wieder auf der alten Insel, Anna und ihr Vater gingen in’s Pfarrhaus, und mich ließ man in der Stadt, beschäftigt mit Advokaten, und Forschungen nach dem Gewinn oder Verlust meiner zahlreichen Aktien.

Ganz gegen die Erwartung Mancher, war ich bei den Meisten glücklich gewesen; im Ganzen sah ich mich durch die abenteuerlichen Schritte bereichert, und da solche Aussichten das Gewagte minderten, fand ich wenig Schwierigkeit, sie mit Vortheil wegzugeben. Die Summen daraus und die bedeutende Bilanz der Dividenden, die während meiner Abwesenheit gewachsen, blieben bei meinem Bankier, und ich suchte weitres Landeigenthum.

Ich kannte Annens Geschmack; so kaufte ich eine jener Stadtresidenzen, die auf St. James-Park gehen, wo der Anblick des grünen Buschwerks, der reizenden Felder beständig während der ihr so neuen Jahreszeit, eines Lond’ner Winters, oder von Ostern bis Sommer vor ihrem heitern Auge sein würde.

Ich hatte eine lange, freundliche Zusammenkunft mit Mylord Pledge, der noch im Ministerium war, so thätig, ganz so ehrbar, so logisch, so nützlich, wie immer. In der That, er war so ausgezeichnet in jener dritten Eigenschaft, daß ich mich wirklich einige Mal auf dem Spioniren ertappte, ob er wirklich ohne Schweif sei. Er gab mir die tröstliche Versicherung, er sei während meiner Abwesenheit im Parlament gut durchgekommen, und, wie er höflich hinzufügte, glaube nicht, daß ich vermißt worden. Wir brachten einige Präliminarien in’s Reine, wovon im nächsten Kapitel gesprochen werden soll, worauf ich denn auf den Flügeln der Liebe, – eigentlich in einer Postchaise mit Vieren, – nach dem Pfarrhaus eilte, zu dem süßesten, freundlichsten, lieblichsten, wahrsten Mädchen auf unsrer Insel, die so viele der süßen, freundlichen, lieblichen und wahren in sich einschließt.