Vierzehntes Kapitel.

Die erste Wache der Nacht war durch keinen Wechsel bezeichnet. Wilder hatte sich zu seinen Reisegefährtinnen begeben, heiter und mit jenem freudigen Wesen, das kein Seeoffizier ganz verbergen kann, wenn es ihm gelungen ist, sein Fahrzeug durch die Gefahren unbeschädigt hindurchzuführen, die ihm in der Nähe von Land in Menge drohen, und wenn kein Zweifel mehr ist, daß es sich nun auf der weiten, pfadlosen, unergründlichen Tiefe des Ozeans befinde. Keine Anspielung mehr auf das Gewagte der Fahrt, nein, er bemühte sich durch die tausend namenlosen Aufmerksamkeiten, die ihm vermöge seiner Stellung zu Gebote standen, alle Erinnerungen an das Vergangene wegzuscheuchen. Mistreß Wyllys gab sich auch seinem nicht zu verkennenden Bestreben, ihre Besorgnisse zu beschwichtigen, willig hin, und wer nicht wußte, was sich früher zwischen beiden zugetragen hatte, würde den kleinen, um die Abendmahlzeit versammelten Kreis für eine Gruppe zufriedener Reisenden gehalten haben, die, einander vollkommen verstehend und trauend, ihr Unternehmen unter den glücklichsten Vorbedeutungen beginnen.

Es war indessen ein Etwas in dem gedankenvollen Auge und der umwölkten Stirne der Gouvernante, wenn sie von Zeit zu Zeit den Blick auf unsern Abenteurer richtete, was nichts weniger als ein ruhiges Gemüt bezeichnete. Sie hörte seine munteren und, wegen der vielen Seeausdrücke, eigentümlichen Scherze mit einem zugleich nachsichtigen und traurigen Lächeln an, als riefe ihr seine jugendliche Heiterkeit, die sich in einem besonders drolligen, Seemännern eigenen Humor äußerte, wohlbekannte aber traurige Bilder vor die Seele. In Gertrauds Vergnügen war weniger bittere Mischung; ihr lachte die schöne Aussicht einer Heimat, mit einem geliebten und liebenden Vater, und bei jedem neuen Ruck des Schiffes kam es ihr vor, als sei nun wieder eine von den langweiligen Meilen, die sie solange von ihrem Vater getrennt hatten, glücklich besiegt.

Während dieser kurzen aber angenehmen Stunden erschien der Abenteurer, der auf eine so seltsame Weise den Beruf zum Kommando des Bristolers bekommen hatte, in einem neuen Lichte. War auch männliche Offenheit eines Matrosen der Hauptzug in seiner Unterhaltung, so war sie doch gemildert durch ein Zartgefühl, das aus eine höchst sorgfältige Erziehung schließen ließ.

Gar manchmal kämpfte Gertrauds schöner Mund vergebens gegen ein Lächeln an, das, von den weichen Lippen ausgehend, in den Grübchen ihrer Wangen spielte, und ein- oder zweimal, als der Humor Wilders plötzlich ihre junge Einbildungskraft durchkreuzte, durchbrach die Natur allen Zwang der Etikette, und das Mädchen überließ sich der unwiderstehlichen Neigung zur Fröhlichkeit.

Eine Stunde zwanglosen Umgangs auf einem Schiffe erweicht eher die starre, äußere Kruste, die die Welt um die besten menschlichen Gefühle zieht, als ganze Wochen der nichtssagenden, nichtsbedeutenden Zeremonien auf festem Lande. Wer zur See gewesen ist und diese Wahrheit nicht an sich erfahren hat, der tut wohl, in seine geselligen Eigenschaften einiges Mißtrauen zu setzen. Wenn sich der Mensch einsam auf dem Meere sieht, dann fühlt er am tiefsten und wahrsten, wie sehr sein Glück von seinen Mitgeschöpfen abhängig ist, dann werden ihm Gefühle heilig, mit denen er im Übermut des Überflusses freventlich spielte, dann gewährt ihm nichts erhebenderen Trost als das Mitgefühl menschlicher Wesen. Gemeinschaftliche Gefahr erzeugt gemeinschaftliche Teilnahme, mag es nun Personen oder Vermögen betreffen. Ein Psychologe dürfte vielleicht noch hinzufügen, daß auf der See ein jeder die Lage und das Schicksal des andern als den bloßen Anzeiger seiner eigenen Lage, seines eigenen Schicksals betrachte, und deswegen mehr Wert darauf zu legen scheine. Wenn dieser Schluß Wahrheit enthält, so müssen wir der Vorsehung danken, die Besseren unter den Menschen so geschaffen zu haben, daß dieses niedrige Gefühl in ihnen zu tief verborgen liegt, um entdeckt, um von der Person selbst bemerkt zu werden. Wenigstens gehörte niemand von den dreien, die die ersten Stunden des Abends um den Tisch in der Kajüte der Royal Carolina zubrachten, zu einer so selbstsüchtigen Klasse. Die Freiherzigkeit des Augenblicks schien die so ausgezeichnet zweideutige Art ihres früheren Umgangs ganz in Vergessenheit gebracht zu haben; oder vielmehr die Erinnerung an das Geheimnisvolle der Umstände und an die Teilnahme des jungen Mannes an ihrem Schicksal diente nur dazu, ihn den Damen noch interessanter zu machen.

Die Schiffsglocke hatte eben acht Uhr geschlagen, und der heisere, langanhaltende Ruf, der die schläfrigen Matrosen aufs Verdeck rief, erschallte, ehe die kleine Gesellschaft gewahr wurde, daß die Zeit schon so vorgerückt sei.

»Es ist die mittlere Wache«, sagte Wilder und lächelte über Gertraud, wie sie bei dem unbekannten Ton zusammenschreckte und aufhorchend dasaß, einem furchtsamen Reh ähnlich, wenn der Schall des Jägerhorns sein Ohr trifft. »Wir Seeleute sind nicht immer musikalisch, wie Sie hören können, meine Damen. Bei alledem aber klangen Ihnen die Töne des Rufenden bei weitem nicht so unmelodisch als gewissen Ohren auf diesem Schiffe.«

»Sie meinen die Schlafenden?« sagte Mistreß Wyllys.

»Ich meine die Wache unten, die zum Dienst gerufen wird. Der Matrose des Fockmasts kennt in dieser Welt nichts Süßeres als den Schlaf, weil er eben der ungewisseste aller seiner Genüsse ist. Der Kommandeur hingegen kennt keinen Gefährten, der verräterischer wäre.«

»Und warum ist dem Obern der Schlaf minder süß als dem gemeinen Matrosen?«

»Weil das Kissen, worauf sein Haupt ruht, Verantwortlichkeit heißt.«

»Sie sind sehr jung, Herr Wilder, für das Ihnen anvertraute Kommando.«

»Im Dienste zur See wird man früher alt als sonst.«

»So sollte man ihn lieber aufgeben!« – sagte Gertraud etwas hastig.

»Aufgeben!« erwiderte er und blickte sie, einen Augenblick innehaltend, fest an. »Ich kann ebenso leicht die Luft, die ich atme, aufgeben.«

»Gehören Sie Ihrem jetzigen Stande schon solange an?« nahm Mistreß Wyllys das Gespräch wieder auf, indem sich ihr Auge, das bisher sinnend auf Gertraud geruht hatte, auf Wilder wendete.

»Ich habe Ursache zu glauben, daß ich zur See geboren wurde.«

»Glauben! Wissen Sie denn nicht, wo Sie geboren sind?«

»Was dieses wichtige Ereignis im menschlichen Leben betrifft, so muß wohl ein jeder dem glauben, was ihm andere davon sagen, wissen kann er’s nicht«, sagte Wilder lächelnd. »Meine frühesten Erinnerungen verschmelzen sich mit dem Anblick des Meeres, so daß ich mich wirklich kaum zu den Landgeschöpfen zu rechnen wage.«

»Wenigstens sind Sie dann glücklich gewesen in Beziehung auf die, die über Ihre Erziehung und die Tage Ihrer Kindheit wachten.«

»Das bin ich!« antwortete er mit vielem Nachdruck, fuhr mit der flachen Hand flüchtig über die Stirn, stand dann auf und fügte traurig lächelnd hinzu: »Und nun zu meiner letzten Pflicht in den ersten vierundzwanzig Stunden. Fühlen Sie sich geneigt, einen Blick in die Nacht zu tun? Eine so erfahrene und mutige Seefahrerin sollte ihre Hängematte nicht eher aufsuchen, als bis sie sich vom Zustand des Wetters unterrichtet hat.«

Sie nahm seinen dargebotenen Arm an, und schweigend stiegen sie die Treppe der Kajüte hinan, beide scheinbar in Betrachtungen versunken. Die regsamere Gertraud folgte, und alle begaben sich auf die Schanze des Schiffes.

Die Nacht war weniger finster als nebelig. Der volle und glänzende Mond war zwar aufgegangen, allein er verfolgte am Abendhimmel seinen Pfad hinter düsteren Wolkenmassen, die viel zu dicht waren, als daß sie seine erborgten Strahlen hätten durchdringen können. Hier und dort nur brach sich ein einsamer Strahl Bahn durch einen minder dichten Dunstkörper und schimmerte auf dem Wasser gleich der bleichen Erleuchtung eines fernen Kerzenlichtes. Da der Wind straff von Osten blies, so schien der bewegte Spiegel der See mehr Licht auszustrahlen, als er erhielt; es folgten einander lange Linien weißen, gleißenden Schaumes, die, freilich nur auf Augenblicke der Oberfläche der Gewässer eine Helle gaben, die dem Himmel oben abging. Das Schiff neigte sich stark auf eine Seite hin, und jedesmal, wie es eine frische Woge durchschnitt, bildete sich ein weiter Halbkreis von Schaum vor ihm her, gleichsam als tanzte das Element vor seinem Pfade daher. Allein wenn auch die Zeit günstig war, der Wind nicht entschieden konträr, und der Himmel wohl düster, aber nicht drohend aussah, so lieh ein gewisses irres, »für den Blick eines Nichtmatrosen unnatürliches«, Licht der ganzen Szene das Ansehen der ödesten Verlassenheit.

Gertraud fuhr etwas in sich zusammen, als sie aufs Verdeck kam, ein Ton schauerlichen Entzückens entschlüpfte ihr unwillkürlich. Auf die dunkel wallenden Wogen am Horizont, wo jenes übernatürliche Leuchten am stärksten zu bemerken war, schaute auch Frau Wyllys hin und fühlte tief, wie sie sich so ganz in den Händen des Wesens befände, das die Wasser wie das Land erschaffen hat. Für Wilder hatte das Schauspiel nicht mehr Erregendes, als ein heiteres Himmelsgewölk für die auf dem Lande: er war des Anblicks zu gewohnt, um noch dadurch zur Andacht oder zum Entzücken hingerissen werden zu können. Aber anders war es mit seiner jungen und ein wenig zur Schwärmerei geneigten Reisegefährtin. Der Schauer des ersten Anblicks ging in die Flut der Bewunderung über, und sie rief:

»Eine monatlange Gefangenschaft in einem Schiffe wird überschwenglich belohnt durch einen einzigen solchen Anblick! Ach, Herr Wilder, Sie sind ein glücklicher Mensch, Sie können dieses Schauspiel genießen, so oft Sie wollen.«

»Ach ja, es ist recht angenehm, gewiß. Ich wollte, der Wind räumte um einen oder zwei Punkte! Dieser Himmel will mir nicht gefallen, jener nebelige Horizont auch nicht, und am allerwenigsten diese so schlaffe Kühlde nach Osten zu.«

»Das Schiff segelt sehr schnell«, erwiderte ruhig Mistreß Wyllys, als sie bemerkte, daß der junge Mann seine Gedanken unüberlegt laut werden ließ, und sich keine gute Wirkung davon auf ihre Pflegebefohlene versprach. »Wenn es so fort geht, so steht uns eine schnelle und glückliche Fahrt bevor.«

»Wahr!« rief Wilder, als wenn er erst jetzt ihre Gegenwart bemerkte, »wahr, sehr wahr, höchstwahrscheinlich! Earing, die Luft wird zu stark für die Segeltücher, beschlagt alle Bramsegel und braßt sie dichter beim Winde. Wenn der Wind so fortfährt Ost bei Süd, so können wir nicht schnell genug weiter hinaus ins Freie.«

Die Antwort des Offiziers drückte die Bereitwilligkeit und den Gehorsam aus, der Seeleuten gegen ihre Vorgesetzten eigen ist; einen Augenblick prüfte er, umherschauend, die Wetterzeichen und schritt alsdann zur Ausführung des Befehls. Während die Leute auf den Rahen die leichteren Segel zusammenschnürten, nahmen die Damen einen andern Platz ein, um dem jungen Kommandeur bei der Verrichtung seines Amtes nicht hinderlich zu sein. Allein diese Verrichtung war Wildern eine so gewöhnliche, daß sie seine Aufmerksamkeit nicht fesselte, und kaum hatte er den Befehl erteilt, so schien er sich dessen auch nicht mehr bewußt. Noch stand er auf demselben Fleck, wo er beim Heraufsteigen aus der Kajüte zuerst den Ozean und den Himmel erblickt hatte; noch war sein Blick wie angeheftet an den beiden Elementen, obgleich er den wechselnden Richtungen des Windes folgte, der zwar nicht stürmisch war, doch in heftigen und mürrischen Stößen auf die Segel eindrang. Nach langer ängstlicher Untersuchung murmelte er seine Gedanken vor sich hin und begann raschen Schrittes auf dem Verdeck auf und ab zu gehen, doch nicht ohne zuweilen plötzlich auf eine Sekunde innezuhalten, während er nach dem Punkte des Kompasses hinschaute, von woher die Windstöße kamen, als wenn er dem Wetter nicht ganz traute und gerne mir dem scharfen Blick die Hülle der Nacht durchdringen möchte, um irgendeine schmerzliche Ungewißheit los zu werden. Endlich hielt er bei einer jener raschen Wendungen, die er jedesmal am Ende seiner kurzen Spazierbahn zu machen pflegte, seine Schritte an. Mistreß Wyllys und Gertraud standen nahe genug, um in seinem ängstlich forschenden Gesicht lesen zu können. Sein Auge wandte sich plötzlich nach der entgegengesetzten Seite und weilte auf einem entfernten Punkt im Meere.

»Trauen Sie dem Wetter nicht?« fragte endlich die Gouvernante, als ihr sein langes, zögerndes Forschen von schlimmer Vorbedeutung schien.

»Wenn der Wind so wie jetzt steht, muß man sich nicht leewärts nach den Wetterzeichen umsehen«, war die Antwort.

»Was sehen Sie denn dort, das Ihre Blicke so sehr fesselt?«

Wilder erhob seinen Arm und wollte eben sprechen: dann ließ er ihn wieder sinken, drehte sich auf dem Absatz herum, murmelte etwas von »Täuschung« vor sich hin, und ging noch rascheren Schrittes als vorher auf und ab.

Seine Gefährtinnen beobachteten seine ungewöhnlichen, scheinbar unwillkürlichen Bewegungen mit Erstaunen und nicht ohne ein heimliches Regen des Entsetzens. Sie richteten nun die Blicke leewärts über die Ausdehnung des bewegten Meeres hin, konnten aber weiter nichts entdecken, als die sich überstürzenden Wogen, deren obere Umrisse von weißem Schaume der erstarrenden Wasserwüste ein noch öderes und schauerlicheres Ansehen gaben.

»Wir können nichts sehen«, sagte Gertraud, als Wilder wieder im Gehen innehielt und wie vorher ins Leere hineinstarrte.

»Schaut!« antwortete er, ihre Blicke mit dem Finger leitend. »Ist dort nichts?«

»Nichts.«

»Sie sehen aufs Meer. Hier, just wo das Himmelsgewölbe die Wasser berührt, längs jenem Streifen nebeligen Lichtes, wo sich die Wogen heben wie kleine Landhügel. Dort – jetzt fällt die Woge wieder, und mein Auge täuschte mich nicht. Beim Himmel! Es ist ein Schiff!«

»Ein Segel, ahoi!« rief eine Stimme aus dem Mastkorb, die in den Ohren unsers Abenteurers wie das Kreischen eines bösen über die See hinschwebenden Geistes tönte.

»Wes Weges?« wurde rasch gefragt.

»Hier auf unserer Leeseite, Sir«, schrie der Matrose oben, so laut er konnte. »Soviel ich erkenne, ist’s dicht beim Winde, das Schiff; eine ganze Stunde hat’s mehr einem Nebel als einem Schiffe gleich gesehen.«

»Jawohl, er hat recht,« brummte Wilder vor sich hin; »und doch ist’s seltsam, daß ein Schiff gerade dort sein sollte.«

»Und warum seltsamer, als daß wir hier sind?« fragte Frau Wyllys.

»Warum!« sagte der Jüngling, sie mit bewußtlosen Blicken anstarrend. »Es ist seltsam, daß es dort steht. Wollte Gott, es steuerte nordwärts.«

»Allein Sie erklären sich nicht. Sollen wir immer«, fuhr sie mit einem Lächeln fort, »nur Warnungen von Ihnen bekommen, ohne Gründe? Halten Sie uns eines Grundes so ganz unwürdig, oder jedes Verstehens über Seegegenstände für unfähig? Der Versuch ist Ihnen nicht gelungen, und Sie sind zu rasch in Ihrem Urteil. Stellen Sie uns einmal auf die Probe, vielleicht halten wir uns besser als Sie erwarten.«

Wilder lächelte leise und machte eine Verbeugung, als wenn er jetzt erst zur Besinnung käme, ließ sich aber auf keine Erklärung ein, sondern richtete wieder den Blick nach der Seite des Meeres, wo das fremde Segel sein sollte. Die Damen folgten seinem Beispiel, doch immer mit demselben schlechten Erfolge. Gertraud drückte ihren Verdruß darüber aus, und die weichen Töne der Klagenden sanken den Weg zum Gehör unseres Abenteurers.

»Sie sehen den Streifen bleichen Lichtes«, sagte er, den Finger über die See ausstreckend. »Die Wolken haben sich etwas gehoben dort, nun versperrt uns der Wasserstaub den Anblick. Sehen nicht die Spieren im Widerschein des Gewölks wie ein zartes Spinngewebe aus, und doch sehen Sie alle Verhältnisse und die drei Masten eines stattlichen Fahrzeuges.«

Unterstützt durch diese Leitung erschaute Gertraud endlich den kaum bemerkbaren Gegenstand, und es gelang ihr dann auch, den Blick ihrer Erzieherin auf den rechten Punkt hinzuleiten. Nichts als schillernde Umrisse waren noch sichtbar, von Wilder passend genug mit einem Spinngewebe verglichen.

»Es ist ganz gewiß ein Schiff!« sagte Frau Wyllys, »aber in sehr großer Ferne.«

»Hm! Wünschte wohl, sie wäre größer. Irgendwo, nur dort möchte ich das Schiff nicht sehen.«

»Und warum nicht dort? Haben Sie Ursache, zu befürchten, daß ein Feind an jenem Fleck auf uns lauert?«

»Nein, aber doch will mir seine Lage nicht gefallen. Wollte Gott, es liefe nordwärts!«

»Es ist irgendein Fahrzeug aus dem Hafen von Newport und steuert einer der königlichen Inseln in der Karaibischen See zu.«

»Nein,« sagte Wilder kopfschüttelnd; »kein Schiff von der Höhe von Neversink konnte mit dem jetzigen Winde jenen Punkt in der offenen See erreichen.«

»Ist’s vielleicht ein Schiff, das mit uns dieselbe Reise macht oder nach einer Bai der mittleren Kolonien geht?«

»Wäre das, so würde sein Pfad nicht so rätselhaft sein. Sieh! Der Fremde treibt im Winde.«

»Es ist vielleicht ein Kauffahrer oder Kreuzer, der von einem der genannten Orte herkommt.«

»Auch nicht. Dazu blies der Wind während der letzten achtundvierzig Stunden viel zuviel Nord.«

»Es ist ein Fahrzeug, das wir eingeholt haben und aus den Gewässern des Sundes von Long-Island kommt.«

»Das ist noch das einzige, was wir hoffen können«, murmelte Wilder mit halbunterdrückter Stimme.

Die Erzieherin hatte die obigen Vermutungen nur aufgestellt, um dem Befehlshaber der Carolina einige Auskunft zu entlocken, mit der er so hartnäckig an sich hielt. Allein jetzt hatte sie ihre ganze Sachkenntnis erschöpft und mußte entweder gerade herausrücken mit der Frage oder abwarten, bis es ihm beliebte, sich freiwillig näher zu erklären. Indes war Wilder in einem viel zu aufgeregten Gedankenzustande, um ihr zu erlauben, den Gegenstand überhaupt für jetzt zu verfolgen. Er berief nach einer kleinen Weile den Ersten der Wache zu sich, und sie berieten sich heimlich mehrere Minuten lang. Der unerschrockene, aber nichts weniger als scharfsichtige Seemann, der den zweiten Rang im Schiffe führte, konnte in der Erscheinung eines fremden Segels gerade an dem Orte, wo die blasse Luftgestalt des unbekannten Schiffes noch immer sichtbar blieb, nichts sonderlich Merkwürdiges finden und erklärte es ohne Anstand für einen ehrlichen Kauffahrer, der, wie sie, eine rechtmäßige Handelsreise mache. Sein Oberer schien indessen nicht derselben Ansicht zu sein, wie aus dem kurzen Gespräch, das sie wechselten, hervorging.

»Ist’s nicht ungewöhnlich, daß es gerade dort steht?« fragte Wilder, nachdem sie abwechselnd den schwachbemerkten Gegenstand mit einem vortrefflichen Nachtweiser näher erforscht hatten.

»Es wünscht offenbar mehr ins Freie, hierherzu,« erwiderte der nach seinem Buchstaben gehende Seemann, der für nichts als die bloße nautische Lage des Fremden Auge hatte: »und ein Dutzend Meilen weiter Ost, könnte in der Tat uns selbst nicht schaden. Hält der Wind so fort, Ostsüd, halb Süd, so tut uns das Freie, so weit es nur zu sehen ist, sehr not. Zwischen Hatteras und dem Golf blieb ich auch einmal festsitzen …«

»Aber sehen Sie denn nicht, daß es da steht, wo kein Fahrzeug stehen könnte oder sollte, es müßte denn mit uns genau von einem und demselben Ort herkommen?« unterbrach ihn Wilder. »Nichts, was aus irgendeinem Hafen, südlich von Newport, segelte, konnte so weit nordwärts bei solchem Winde; von der Kolonie York aber kann nichts, was nach Osten segeln will, so mit dem Vorderteil stehen, und will es südlich segeln, vollends nicht an jenem Punkte.«

Dem langsamen, aber gesunden Ideengang des ehrlichen Maaten war dieses Räsonnement, das dem Leser etwas unklar sein dürfte, deutlich genug; denn sein Kopf enthielt eine Art Seekarte, die er zu jeder Zeit mit klarer Unterscheidung zwischen den zweiunddreißig Winden und allen verschiedenen Punkten des Kompasses zu Rate ziehen konnte. Daher leuchtete nun, nach der erhaltenen Anleitung, seinem seemännischen Verstände bald ein, daß es mit den Folgerungen seines jungen Vorgesetzten doch wohl seine Richtigkeit haben könnte; und nicht lange, so ging er weiter noch als dieser, indem sich Verwunderung seiner stumpferen Urteilskraft bemächtigte.

»Ja wahrhaftig, ’s ist geradezu unnatürlich, daß der Wicht just dort stehen sollte!« erwiderte er mit bedächtigem Kopfschütteln; wollte aber damit weiter nichts sagen, als daß er es mit seinen Ideen von Seefahrerkunst nicht zusammenreimen konnte. »Ich sehe die Weisheit dessen, was Sie sagen, wohl ein, Herr Kapitän, und der Verstand steht mir dabei still. Es ist aber doch, aller moralischen Gewißheit nach, ein Schiff!«

»Das unterliegt keinem Zweifel; aber ein höchst sonderbar stationiertes Schiff!«

»Ich dublierte das Kap der Guten Hoffnung im Jahre 46,« fuhr der andere fort, »und sah ein Schiff liegen, da, auf unserer Windseite (dem Wicht dort just entgegengesetzt, da er leewärts von uns steht), aber dort sah ich ein Schiff eine ganze Stunde lang uns quer vor dem Kiel stehen, und ungeachtet, daß wir den Azimutalkompaß richteten, regte es sich nicht einen Schritt während der ganzen Zeit, Steuerbord oder Backbord, was bei dem schlechten Wetter, das wir hatten, wenigstens etwas Außergewöhnliches genannt werden konnte.«

»Es war merkwürdig!« erwiderte Wilder mit einem stieren Blick, der zur Genüge bewies, daß er sich mehr mit sich selbst unterhielt, als auf die Rede seines Gefährten acht gab.

»Matrosen erzählen, daß der fliegende Holländer auf der Höhe des Vorgebirges zu kreuzen pflege und oft von der Windseite her auf Fremde lossteure, als wolle er sie entern. Gar mancher königliche Kreuzer war, wie das Sprichwort geht, kaum vom süßen Schlafe aufgewacht, da sahen die Toppgasten oben einen Zweidecker, die Pfortgaten offen, die Batterien aufgepflanzt, in der Nacht auf sie zusegeln; indessen, dieses dort kann doch kein dem Holländer ähnliches Fahrzeug sein, indem es höchstens, wenn überhaupt ein Kreuzer, eine große Kriegsschaluppe ist.«

»Nein, nein,« sagte Wilder, »dieses ist auf keinen Fall der Holländer.«

»Das Fahrzeug zeigt gar keine Lichter, und was das anbetrifft, so hat es mir ein so nebeliges Aussehen, daß noch die Frage ist, ob es überhaupt ein Schiff sei. Fürs andere läßt sich der Holländer nur immer luvab sehen, hingegen liegt das seltsame Segel dort ganz auf unserer Leeseite!«

»Es ist kein Holländer«, sagte Wilder mir einem tiefen Atemzuge, wie einer, der sich von einer Geistesabwesenheit erholt. »Heda, im Mastkorb oben, hoi!«

Der angerufene Matrose erwiderte den Gruß auf die übliche Weise, wie denn überhaupt das kurze Gespräch, das folgte, eher aus einem Geschrei als aus artikulierten Worten bestand.

»Wie lange schon siehst du das fremde Segel?« war Wilders erste Frage.

»Ich komm‘ eben erst rauf; aber der Kamerad, den ich ablöste, sagte, schon über eine Stunde.«

»Und ist der andere, den du abgelöst hast, nicht runtergekommen? Oder was seh‘ ich dort leewärts auf dem Mast sitzen?«

»’s ist Robert Brace, Sir; er sagt, er könne nicht schlafen und wolle auf der Rahe sitzen bleiben und mir Gesellschaft leisten.«

»Schick‘ ihn herab, ich will ihn sprechen.«

Während der Zeit, daß der schlaflose Matrose am Tauwerk herunterstieg, verharrten die beiden Offiziere im Schweigen, und jeder schien ganz mit dem Nachdenken über das Vorgefallene beschäftigt.

»Und warum bist du nicht in deiner Hängematte«, sagte Wilder etwas rauh zu dem Matrosen, der eben infolge seiner Order auf die Schanze herabkam.

»Ich steuerte gerade nicht schlafwärts, Euer Gnaden, und da wollt‘ ich denn noch ein Stündchen droben zubringen.«

»Und warum bist du, der du so schon zwei Nachtwachen hast, so bereit, eine dritte freiwilligerweise zu tun?«

»Die Wahrheit zu gestehen, Herr, ich hab‘ einige schlimme Ahnungen, was diese Fahrt anbelangt, schon von dem Augenblick an, wo wir die Anker lichteten.«

Mistreß Wyllys und Gertraud, die dies Gespräch mit anhörten, traten bei den letzten Worten unwillkürlich näher, und lauschten mit ängstlicher Aufmerksamkeit.

»Hast auch deine Zweifel, Kerl?« rief der Kapitän etwas verächtlich. »Darf man fragen, was du hier an Bord gesehen hast, um dem Schiff nicht zu trauen?«

»Fragen ist erlaubt, Euer Gnaden,« erwiderte der Seemann und zerknitterte den Hut zwischen seinen Händen, die einen Griff hatten, so fest wie zwei eiserne Schrauben, »drum hoff‘ ich, Antworten auch. Seht, ich schlug ein Ruder in der Schute heut früh, die auf den Graubart Jagd machte, und ich müßte lügen, wenn ich sagte, daß mir die Art gefallen hätte, wie er uns entwischt ist. Zum andern hat das Schiff dort auf der Leeseite was, das mir den Kopf durchkreuzt wie ein Wurfanker, und ich gestehe, Euer Gnaden, ich würde wenig Fahrwasser zurücklegen im Schlafe, wenn ich’s auch in einer Hängematte versuchen wollt‘.«

»Wie lang ist’s her, daß du das Schiff entdecktest?« fragte Wilder streng.

»Ich will nicht schwören, daß es überhaupt ein wirkliches lebendiges Schiff ist, was ich entdeckt habe, Herr. Etwas hab‘ ich gesehen, vor Schlag sieben, und dort ist’s noch zu sehen, von jedermann, der Augen hat, geradeso hell und just so trüb wie vorher.«

»Und wie hat es gestanden, als du es zuerst sahest?«

»Mochte zwei oder drei Punkte mehr dwars abstehen als jetzt.«

»Dann segeln wir ihm vorüber!« schrie Wilder mit einer nicht zu verbergenden Freude.

»Nein, Euer Gnaden, nein. Sie vergessen, daß das Schiff dichter in den Wind hält, seit die Mitternachtswache abgelöst ist.«

»Wahr,« erwiderte sein junger Befehlshaber mit einem Tone getäuschter Hoffnung! »wahr, sehr wahr. Und hat es seine Richtung nicht geändert, seit du es entdecktest?«

»Nicht nach dem Kompaß, Herr. Jenes ist ein schnelles Boot, sonst könnt‘ es nimmermehr mit der Royal Carolina aushalten, noch dazu bei straffen Segeln, wo ein Schiff erst recht zeigt, was es kann, wie jedermann weiß.«

»Geh, mach, daß du in deine Hängematte kommst. Am Morgen können wir den Wicht vielleicht besser beobachten.«

»Und hör, Kerl!« schärfte ihm der zweite Offizier noch ein, der aufmerksam zugehört hatte, »daß du die Leute unten nicht wach hältst mit einer Erzählung so lang wie das kurze Kabeltau! Leg‘ dich schlafen, und laß die übrigen in Ruhe, die ein reines Gewissen haben.«

»Herr Earing,« sagte Wilder, als sich der Matrose zögernd nach seiner Hängematte zurückgezogen hatte, »wir wollen dem Schiffe eine andere Wendung geben und mehr Ostwind zu bekommen suchen, solange wir noch landfrei genug sind. Bleiben wir so, so steuern wir auf Hatteras zu. Überdies …«

»Ganz recht, Herr,« erwiderte der Maat, als sein Oberer stockte, »was Sie sagen: … Überdies, niemand kann voraussagen, wie lange eine Kühlde anhalten, oder von woher sie blasen mag.«

»Das ist’s, niemand kann für Wetter stehen. Die Leute sind noch kaum in ihren Hängematten; rufen Sie lieber alle auf einmal raus, ehe ihre Augen vom Schlafe schwer sind, und lassen Sie uns dann das Schiff umdrehen.«

Sogleich ließ der Gehilfe den wohlbekannten Ruf ertönen, der die Wache unten aufforderte, ihren Gefährten auf dem Verdeck zur Hilfe zu eilen; es geschah ohne Verzug. Nun kein vernehmbarer Laut, als die kurzen, gehorsamerregenden Kommandoworte aus Wilders Mund. Nicht länger nach dem Winde hin gedrückt, begann das Schiff ziemlich das Vorderteil aus den Wogen zu heben und so den Wind recht von der Seite zu bringen. Darauf, statt wie bisher, gegen die zahllosen Wogen anstemmend, und sie wie ein Wesen erklimmend, das sich schwer auf seinem Pfade fortarbeitet, fiel das Schiff in eine hohle See, und flog nun wie ein Renner, der, nachdem er eine Anhöhe überwunden, mit verdoppeltem Fluge den Weg dahinschießt. Einen Augenblick lang schien es, als wollte der Wind lunen, obgleich die langen Schaumräder der Wellen, die von beiden Seiten des Schiffes herabrollten, hinlänglich bewiesen, daß es leicht vor dem Winde einherschwamm. Noch einen Augenblick, so fingen die höchsten Spieren an, sich wieder nach Westen zu neigen, und das Schiff stieß gegen den Wind an, bis es wieder ebenso heftig wie zuvor, bald gegen die Wogen kämpfte, bald von ihnen herabstürzte. Als jede Rahe und jedes Segel gehörig gesetzt war, um der neuen Lage des Schiffes zu entsprechen, schaute sich Wilder ängstlich nach dem Fremden um. Eine Minute verging, ehe er genau den Punkt, wo er nun stehen mußte, ausfindig machen konnte; denn in einem solchen Chaos von Wasser, mit keinem andern Wegweiser als Urteilskraft, täuscht sich das Auge leicht, indem es an den näheren, ihm vertrauteren Gegenständen hängen bleibt.

»Der Fremde ist verschwunden!« sagte Earing mit einer Stimme, von der sich nicht leicht sagen ließ, was in ihr vorherrschte, das Befreitsein von einer Besorgnis oder zages Mißtrauen, daß doch nicht alles richtig sein möchte.

»Er muß doch auf dieser Seite sein; allein ich gestehe, ich kann ihn nicht sehen!«

»Ja, ja, Herr; gerade so soll der mitternächtliche Kreuzer am Vorgebirge der guten Hoffnung kommen und gehen. Es gibt Leute, die ihn in einen Nebel gehüllt gesehen haben, während rund umher der schönste Sternenhimmel glänzte, den sie je in einer südlichen Breite bemerkten. Aber das kann doch bei alledem der Holländer nicht sein, da es so viele lange Meilen von der Küste Nordamerikas bis zur Höhe des Kaps hin ist.«

»Hier liegt er; und beim Himmel, er hat schon gewendet!« schrie Wilder.

Die Wahrheit der eben von unserm jungen Abenteurer gemachten Behauptung fiel in der Tat jetzt jedem Seemanne in die Augen. Dieselben nebeligen, verjüngten Umrisse waren wie vorher auf dem hellen Hintergrunde des drohenden Horizontes zu bemerken und sahen den schwächeren Schatten nicht unähnlich, die die Täuschung einer Laterna magica auf eine lichtere Fläche hinzuzaubern pflegt. Aber den Matrosen, die die verschiedenen Linien an den Masten so genau unterscheiden können, war es klar genug, daß das fremde Schiff plötzlich und gewandt seinen Lauf geändert habe, und nun nicht mehr wie vorher, Südwest, sondern, wie sie selbst, seine Fahrt Nordost machte. Die Tatsache machte offenbar einen großen Eindruck auf alle; obgleich sich aus einer Prüfung der Ursachen eines jedweden ergeben hätte, daß diese von sehr verschiedener Gattung waren.

»Das Schiff hat wirklich gewendet!« rief Earing nach einer langen Pause voll Nachdenkens und mir einer Stimme, in der das Mißtrauen mit der Furcht um die Herrschaft stritt. »Solange ich die See befahre, habe ich noch nie ein Fahrzeug, einer solchen See von vorne trotzend, wenden gesehen. Der Wind muß es bei unserem letzten Hinschauen fürchterlich hin und her gerüttelt haben, sonst hätten wir es nicht aus den Augen verloren.«

»Einem muntern und leicht gehandhabten Schiff ist so was schon möglich,« sagte Wilder, »zumal wenn viele starke Hände darauf sind.«

»Fürwahr, die Hand Beelzebubs ist immer stark; ihm ist’s ein leichtes, das schwerfälligste Fahrzeug zum Segeln zu zwingen.«

»Herr Earing,« unterbrach ihn Wilder, »wir wollen vorspannen, soviel wir können, und versuchen, ob unsere Carolina diesen höhnenden Fremden nicht totsegeln kann. Setzen Sie das große Halstau zu und lassen Sie das Bramsegel los.«

Gern hätte der Gehilfe, dem dies nicht einleuchten wollte, Gegenvorstellungen gemacht, allein ihm fehlte der Mut dazu; in dem ruhigen, gemäßigten, dabei aber doch tiefen Ton des jungen Befehlshabers war ein gewisses Etwas, das ihm sagte, es sei zu gewagt, ihm zu widersprechen. Unrecht hatte er keineswegs, wenn er den eben erhaltenen Auftrag als einen solchen betrachtete, der nicht ohne Gefahr wäre. Schon bewegte sich das Schiff unter so vielen Segeln, als sich seiner Ansicht nach kaum mit der Klugheit vertrug, zumal bei einer solchen Stunde und so vielen am Horizont umher erscheinenden Vorzeichen von noch ungünstigerem Wetter. Die nötigen Orders wurden jedoch mit derselben Saumlosigkeit, wie sie Wilder erteilte, weiter befördert. Auch die Matrosen hatten schon angefangen, den Fremden näher ins Auge zu fassen und untereinander über dessen Erscheinung und Stellung dies und das zu schwatzen; sie vollzogen die Befehle mit einer Lebendigkeit, deren Ursprung wohl kein anderer war, als der geheime, von jedem einzelnen gehegte Wunsch, aus der gefährlichen Nachbarschaft loszukommen. Die Segel waren rasch eines nach dem andern beigesetzt; und nun stand ein jeder mit verschränkten Armen da und schaute fest und unverrückt hin auf den schattigen Punkt auf der Leeseite, um zu erspähen, was für Wirkung das Manöver haben würde.

Die Royal Carolina schien, wie die Mannschaft auf ihr, ein Gefühl zu haben, daß größere Schnelligkeit not tue. Beim Druck der großen Masse Leinwand, die eben ausgebreitet wurde, beugte sich das Schiff tiefer, so daß es auf dem Wasser, das auf der Leeseite fast bis zu den Speigaten ging, mehr zu liegen als zu segeln schien, während auf der andern Seite die schwarzen Planken und das polierte Kupfer mehrere Fuß breit entblößt lagen, obgleich oft bespült von den Wellen, die längs dem Schiff pfeilschnell und zürnend daherwogten, noch immer wie gewöhnlich mit leuchtendem Schaum behelmt. Die Stöße, wie das Fahrzeug gegen die Wogen ankämpfte, wurden von Augenblick zu Augenblick heftiger, und nach jedem Aufeinanderstoßen erhob sich eine durchsichtige Wolke Wasserstaubs, die endlich schimmernd aufs Verdeck herniederfiel, oder als glänzender Nebel vom Winde quer über die rollenden Gewässer leewärts gejagt wurde.

Mit aufgeregter Miene, dabei aber mit der ganzen Besonnenheit eines Seemanns beobachtete Wilder das Schiff. Ein- oder zweimal, als es bebte und in seinem fürchterlichen Anlauf gegen eine Woge so plötzlich innezuhalten schien, als wenn es gegen einen Felsen angelaufen wäre, öffnete er den Mund, um den Befehl zu geben, die Segel zu vermindern: doch immer schien der Blick auf das Nebelbild am westlichen Horizont seinen Vorsatz zu ändern. Gleich einem verzweifelten Abenteurer, der auf eine einzige Karte sein ganzes Vermögen gesetzt hat, schien er den Ausgang mit einer ebenso stolzen als unbesiegbaren Entschlossenheit abwarten zu wollen.

»Die Stenge dort biegt sich wie eine Peitsche«, murrte der besorgte Earing dicht an Wilders Seite.

»Mag sie doch brechen: wir haben genug Vorrat an Spieren, um ihre Stelle zu ersetzen«, war die Antwort.

»Ich habe noch immer gefunden, daß die Carolina Wasser zog, wenn sie über ihre Kräfte angestrengt wurde, durch schnelles Segeln gegen den Strom.«

»Wir haben Pumpen.«

»Sehr wahr; allein meiner geringen Meinung nach ist die Hoffnung eine vergebliche, ein Fahrzeug totzusegeln, worin der Teufel in Person kommandiert, wenn er es nicht ganz und gar allein handhabt.«

»Um dies zu wissen, Herr Earing, muß man erst den Versuch machen.«

»Wir hatten es mit dem Holländer auch versucht; und zwar nicht bloß, indem wir alle Segel ausbreiteten, sondern auch beim günstigsten Wind. Und was hat es geholfen? Da lag er bloß mit aufgespannten Treiber-, Klüver- und drei Bramsegeln; und wir, mit Leesegeln von unten bis oben bepackt, konnten seine Richtung nicht um einen Fuß ändern.«

»Man sieht den Holländer nie in einer nördlichen Breite.«

»Ich kann freilich das Gegenteil nicht behaupten,« erwiderte Earing mit einer Art von erzwungener Ergebung; »allein der, der jenen Vogel auf die Höhe des Kaps gesetzt hat, kann die Küstenfahrt leicht so vorteilbringend gefunden haben, daß ihn die Lust anwandelte, ein zweites Schiff in diese Gewässer zu schicken.«

Wilder gab keine Antwort. Entweder war er es müde, der abergläubischen Furcht seines Gehilfen zu Gefallen zu reden, oder sein Geist war mit dem Hauptgegenstand zu sehr beschäftigt, um bei etwas anderm verweilen zu können.

Wenn auch die Wogen, die sich dem Lauf des Bristoler Kauffahrteischiffes entgegensetzten, zahllos aufeinander folgten, und daher dessen Fortschritt sehr verzögerten, so hatte es sich doch eine Stunde Wegs durch das bewegte Element vorwärts gekämpft. Beim Herabstürzen von einer Woge zerteilte der Bug jedesmal eine Wassermasse, die mit jeglichem Augenblick an Größe und Heftigkeit zuzunehmen schien; und mehr als einmal war der kämpfende Rumpf des Schiffes nach vorn zu ganz begraben in einer Woge, die hinanzuklimmen oder zu zerteilen es gleich wenig imstande war.

Die Matrosen beobachteten genau die geringste Bewegung ihres Fahrzeugs. Stundenlang verließ auch nicht einer von ihnen das Verdeck. Die abergläubische Furcht, die den unaufgeklärten Geist des ersten Schiffsgehilfen gefangen hielt, hatte sich bald bis zu dem untersten Schiffsjungen hinab verbreitet. Sogar der Unfall, der ihren früheren Kommandeur betroffen, und die plötzliche und geheimnisvolle Art, wie der junge Offizier zuerst unter sie kam, der jetzt unter so schreckenerregenden Umständen mit einer auffallenden Festigkeit und Ruhe auf der Schanze auf und ab ging, trugen jetzt dazu bei, den fanatischen Eindruck zu steigern. Daß die Carolina so großen Druck der Segel in ihrer gegenwärtigen Lage ohne Schaden ertragen konnte, erhöhte die schon entflammte Verwunderung der Matrosen, und ehe noch Wilder mit sich ins reine gekommen war, welches Schiff wohl am meisten aushalten könne, seines oder jenes, das so unerklärlich am Horizont hing, war er selbst für seine eigene Mannschaft der Gegenstand unnatürlicher und empörender Vermutungen geworden.