Fünfundzwanzigstes Kapitel.

»Segel ho!« war in der wenig besuchten See, wo der Korsar lag, ein Ruf, der im Busen seiner Mannschaft jeden langsamern Herzensschlag belebte. Viele Wochen waren nun, nach ihrer Berechnungsweise, mit den schwärmerischen und profitlosen Plänen ihres Obern vollkommen nutzlos zugebracht worden. Sie waren keineswegs in einer Laune, um die unabänderlichen Bestimmungen des Geschickes, die das Bristoler Kauffahrteischiff ihrem Netze entführte, mit in Anschlag zu bringen; für diese rohen Naturen war es genug, daß ihnen der reiche Fang einmal entgangen war. Ohne sich erst auf Untersuchung der Ursachen dieses Verlustes einzulassen, suhlten sie sich nur zu sehr geneigt, den unschuldigen Offizier, dem ein Fahrzeug anvertraut war, daß sie schon als ihre Prise betrachteten, ihre getäuschten Erwartungen schwer entgelten zu lassen. Jetzt also zeigte sich endlich eine Gelegenheit, den Verlust zu vergüten. Das fremde Segel war im Begriff, in einer Gegend der See mit ihnen handgemein zu werden, wo Hilfe eine so gut wie vergebliche Hoffnung war, und wo die Freibeuter Zeit genug hatten, jeden errungenen Sieg bis zum Äußersten zu benutzen. Jeder von den Schiffsgenossen schien eine Idee von diesen Vorteilen zu haben; und wie die Worte vom Maste bis zu den Rahen, von den Rahen bis aufs Verdeck hinabtönten, wurden sie von mehr als fünfzig Stimmen wiederholt, bis sie wie ein heiteres, vieltöniges Echo in den abgelegensten, innersten Teilen des Schiffes widerhallten.

Der rote Freibeuter selbst bezeugte mehr als gewöhnliches Vergnügen bei dieser Aussicht auf eine Prise. Ihm entging keineswegs, daß irgendeine glänzende oder gewinnbringende Tat auszuführen unumgänglich notwendig sei, um die erregten Gemüter seiner Leute zu beschwichtigen; und lange Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß er die Zügel der Mannszucht niemals straffer spannen durfte, als in solchen Augenblicken, die offenbar die Ausübung seines persönlichen hohen Mutes und die Anwendung seiner vollendeten Kenntnisse erforderten. Er schritt daher zu den Leuten in den Vorderraum mit einem nicht mehr von Zurückhaltung umwölkten Gesicht, sprach mit mehreren, indem er sie beim Namen anredete, ja, verschmähte es nicht, sie um ihre Meinungen über das Segel in der Ferne zu befragen. Auf diese Weise wußte er ihnen stillschweigend die Versicherung beizubringen, daß ihr neuliches meuterisches Betragen nicht gerügt werden sollte; und nun ließ er Wildern, den General und einen oder zwei von den anderen höheren Offizieren zu sich aufs Verdeck der Hütte entbieten, wo sie sich alle anschickten, mit Hilfe eines halben Dutzends vortrefflicher Ferngläser genauere und zuverlässigere Beobachtungen anzustellen.

Eine geraume Weile wurde jetzt in stiller, angestrengter Untersuchung zugebracht. Der Himmel war frei von Wolken, der Wind frisch, ohne stürmisch zu sein, die See ging in langen, gleichmäßigen und keineswegs hohen Wellen, kurz, alle Umstände vereinigten sich, sofern eine solche Vereinigung auf dem rastlosen Ozean nur möglich ist, nicht nur, um ihr Spähen zu unterstützen, sondern auch die Evolutionen zu begünstigen, von denen es mit jedem Augenblicke wahrscheinlicher wurde, daß sie unumgänglich nötig sein und bald erfolgen würden.

»Es ist ein Schiff!« rief der Rover, der erste, der das Fernrohr vom Auge nahm und das Ergebnis seines langen und genauen Forschens verkündete.

»Es ist ein Schiff!« widerhallte es von dem Munde des Generals, der, trotz der Gewalt, die er gewöhnlich über seine Gesichtszüge besaß, ein lebendiges Aufglänzen der Freude nicht ganz unterdrücken konnte.

»Ein vollständig aufgetakeltes Schiff!« setzte ein dritter hinzu, indem er ebenfalls das Glas vom Auge nahm und das grimmige Lächeln des Soldaten erwiderte.

»So viele stolze Segelbäume führen gewiß keine Kleinigkeit«, nahm ihr Kommandeur das Wort wieder auf. »Sie haben ein Schiff von Wert unter sich. – Doch Sie sagen ja nichts, Herr Wilder! Wofür halten Sie es?«

»Für ein Schiff von mehr als gewöhnlicher Größe«, erwiderte unser Abenteurer, der, obgleich er bis jetzt geschwiegen hatte, weit davon entfernt war, bei seiner Untersuchung geringeres Interesse als die übrigen zu fühlen – »Trügt mich mein Fernglas … oder …«

»Oder was, Sir?«

»Mir ist es schon bis zum Anfang seiner großen Untersegel sichtbar.«

»Sie sehen es wie ich. Es ist ein stattliches Schiff, das seine Rahesegeltaue leicht handhabt und aufgesetzt hat, was nur immer ziehen will. Und seine Richtung ist gerade auf uns zu. Seine unteren Segel sind innerhalb dieser letzten fünf Minuten aufgezogen worden.«

»Das dacht‘ ich mir auch. Aber …«

»Aber was, Sir? Es kann nur geringem Zweifel unterliegen, daß es Nord bei Ost einsetzt. Wohlan, da es so gütig ist, uns die Mühe des Jagdmachens zu ersparen, so brauchen wir uns um so weniger mit unseren Bewegungen zu beeilen. Mag es herankommen! Wie gefällt Ihnen das Avancieren des Fremden, General?«

»Nicht sehr militärisch, aber außerordentlich lockend! Man kann ihm die Goldbergwerke schon an den Bramsegeln ansehen.«

»Und Sie, meine Herren, sehen Sie ebenfalls die Manier einer Galione an seinen oberen Segeln?«

»Es ist nichts Unvernünftiges in der Annahme«, antwortete einer der Subalternen. »Es heißt, die Dons machen oft die Fahrt durch diese Gewässer, um uns Herren, die wir mit selbstausgestellten Kaperbriefen segeln, nicht sprechen zu müssen.«

»Ah! Ein Don ist Euch ein Fürst der Erde? Aus purer Liebe schon muß man ihm die goldene Bürde leichter machen, damit der Segler nicht drunter sinke, wie die römische Matrone unter der Wucht der Sabinerschilde. Nicht wahr, Herr Wilder, Sie können nichts von jener goldenen Schönheit an dem Fremden entdecken?«

»Es ist ein schweres Schiff!« »Um so wahrscheinlicher führt es eine edle Fracht. Sie sind neu, Sir, in diesem unserem lustigen Handwerk, sonst würden Sie wissen, daß Größe eine Eigenschaft ist, die wir immer an den uns Besuchenden vorzüglich schätzen. Führen sie königliche Flaggen, so überlassen wir ihnen nach geschehener Begrüßung Zeit, über den oft langen Weg zwischen Löffel und Mund ihre Betrachtungen anzustellen: und sind sie mit keinem gefährlicheren Metall angestaut, als dem aus den Minen von Potosi, so segeln sie in der Regel um so schneller, nachdem sie ein paar Stunden in unserer Gesellschaft zugebracht haben.«

»Hängt der Fremde nicht Signale aus?« – fragte Wilder gedankenvoll.

»Sieht er uns so bald schon? – Es gehört eine aufmerksame Wache dazu, ein Fahrzeug, das nur seine Stabsegel los hat, aus solcher Ferne zu entdecken. Wer so auf seiner Hut ist, der führt ganz gewiß eine kostbare Ladung.«

Es folgte eine Pause, während der alle, dem Beispiele Wilders folgend, die Fernrohre von neuem ansetzten und nach dem Fremden schauten. Die Meinungen fielen verschieden aus: einige bestätigten, andere bezweifelten den Umstand von ausgehängten Signalen. Der Rover selbst beobachtete scharf und anhaltend, äußerte aber keine Meinung.

»Wir haben uns die Augen abgemüdet, so daß uns die Gesichtsgegenstände ineinanderschillern«, sagte er endlich. »Ich habe es von Nutzen gefunden, frische Organe zu Hilfe zu rufen, wenn die meinigen mir den Dienst versagten. Komm her, Junge«, fuhr er fort, indem er einen Mann anredete, der auf der Hütte unweit des Flecks, wo die Gruppe von Offizieren stand, mit einem künstlichen Stück Matrosenarbeit beschäftigt war. »Komm her: sag‘ mir, was du an dem Segel hier, vom südwestlichen Bord aus, entdeckst?«

Der Mann, der wegen seiner Geschicklichkeit zur Ausführung dieses Auftrags gewählt wurde, war kein anderer als Scipio. Er legte seine Mütze aufs Verdeck mit einer Ehrfurcht, die noch tiefer war, als der Seemann in der Regel gegen seine Oberen bezeigt, dann hielt er mit der einen Hand das Glas vors rechte Auge, während er mit der anderen Hand das linke bedeckte. Aber kaum hatte er mit dem schwankenden Instrumente den fernen Gegenstand getroffen, so ließ er es sinken und heftete den Blick mit einer Art von verblüffter Verwunderung auf Wilder.

»Hast du das Segel gesehen?« fragte der Rover.

»Herr, ihn kann sehen mit dem Aug‘ nackt.«

»Gut, aber was entdeckst du daran mit Hilfe des Fernrohrs?«

»Er ein Schiff is, Sir.«

»Wahr. Welche Richtung?«

»Er die Steuerbordsegel auf hat, Sir.«

»Auch wahr. Hat er aber Signale aufgezogen?«

»Er die drei neue Stück Tücher in die große Bramsegel hat, Sir.«

»Um so besser für ihn, wenn seine Segel hübsch ausgebessert sind. Hast du aber seine Flaggen gesehen?«

»Er Flaggen keine zeigen tut, Herr.«

»Das dacht‘ ich mir auch. Geh‘ wieder in den Vorderraum, Junge – halt – man kommt oft auf die Wahrheit, indem man sie da sucht, wo man sie nicht vermutet. Welche Größe glaubst du, hat das fremde Schiff?«

»Er just siebenhundertundfünfzig Tonnen, Herr.«

»Was ist das, die Zunge Ihres Negers, Herr Wilder, ist genau wie das Winkelmaß eines Zimmermanns. Der Kerl gibt die Größe eines Schiffes, dessen Rumpf noch gar nicht zu sehen ist, gerade so absprechend und bestimmt an, wie es nur immer von einem königlichen Zolleinnehmer geschehen könnte, nachdem er das Schiff amtlich gemessen hätte.«

»Sie werden die Unwissenheit des Schwarzen berücksichtigen; Menschen in seinem unglücklichen Zustande sind selten geschickt, Fragen zu beantworten.«

»Unwissenheit!« wiederholte der Rover und schoß den unruhigen Blick mit einer ihm eigentümlichen Schnelligkeit bald auf den einen, bald auf den anderen und dann auf den am Horizont emporsteigenden Gegenstand: »Ich weiß nicht; der Mensch sieht nicht aus als ob er zweifelte. – Und du glaubst, seine Lastfähigkeit sei durchaus nicht größer und nicht geringer, als du angegeben hast?«

Die großen dunklen Augen Scipios rollten abwechselnd von seinem neuen Obern auf seinen früheren Herrn, während seine Seelenvermögen in eine unauflösbare Verwirrung geraten zu sein schienen. Doch diese Ungewißheit dauerte nur einen Augenblick. Kaum las er den finstern Zorn, der sich auf Wilders gefurchter Stirn zusammenzog, so trat an die Stelle der Zuversichtlichkeit, womit er seine vorige Meinung ausgesprochen hatte, ein Blick von so hartnäckiger Zurückhaltung, daß man alle Hoffnung aufgeben mußte, ihn durch gute oder böse Worte jemals wieder auch nur zu dem Schein eigenen Denkens zu vermögen.

»Ich verlange zu wissen, ob der Fremde nicht ein Dutzend Tonnen größer oder kleiner sein könne, als du genannt hast?« fuhr der Rover fort, als er fand, daß er auf seine erste Frage wahrscheinlich nicht sobald eine Antwort erhalten würde.

»Er just is, wie Herr wünscht«, erwiderte Scipio.

»Nun, dann wünsche ich, daß er tausend Tonnen groß sei; um so reicher wäre die Prise.«

»Ich ihn halte gerade für Dausent, Sir.«

»Ein nettes Schiff von dreihundert, mit Gold angefüllt, wäre zwar auch nicht zu verachten.«

»Er aussieht sehr wie ein Dreihunderter.«

»Mir scheint es eine Brigg zu sein.«

»Ich ihn auch für einen Brick halte, Sir.« »Kann am Ende auch sein, daß der Fremde ein Schoner ist, mit vielen hohen und leichten Segeln.«

»Ein Schuner oft ein Bramsegel führt«, erwiderte der Schwarze, entschlossen, sich durchaus in alles, was der andere sagte, zu fügen.

»Wer weiß, ob es überhaupt ein Segel ist! He, da vorne! Es kann nicht schaden, über einen so wichtigen Gegenstand mehr als eine Meinung anzuhören. Heda, im Vorderraume, Ihr, schickt einmal vom Vormars den Matrosen, namens Fid, aufs Hüttendeck herab. Ihre Begleiter, Herr Wilder, sind so verständig und so treu, daß es Sie nicht wundernehmen muß, wenn mich etwas mehr als gebührlich nach ihrer Belehrung verlangt.«

Wilder drückte die Lippen zusammen, und der Rest der Gruppe bezeigte nicht wenig Erstaunen. Diese waren indes schon zu lange an die Kapricen ihres Kommandeurs gewöhnt, und jener zu weise, als daß sie in einem Augenblicke, wo seine Reizbarkeit die höchste Spitze erstiegen zu haben schien, Einrede für ratsam erachtet hätten. Indessen dauerte es nicht lange, bis der Toppgast erschien, worauf der Kommandant das Schweigen brach und also fortfuhr:

»Du hältst es also für zweifelhaft, Scipio, ob’s überhaupt ein Segel ist?«

»Er g’wiß nichts is als so ’n Ding, das wegfliegt«, erwiderte der hartnäckige Schwarze.

»Ihr hört, was Euer Freund, der Neger sagte, Herr Fid; er glaubt, der Gegenstand dort, leewärts, der so schnell zu Gesicht steigt, sei gar kein Segel.«

Da der Toppgast keinen hinlänglichen Grund sah, sein Erstaunen über diese närrische Meinung zu verbergen, so legte er es mit allen den Verschönerungen an den Tag, die dem Individuum, von dem wir sprechen, bei jeder lebhaften Gemütsbewegung so natürlich waren. Nachdem er einen kurzen Blick nach der Richtung des fremden Schiffes hin getan hatte, um sich zu überzeugen, daß auch wirklich keine Täuschung vorhanden sei, wendete er die Augen mit großem Unwillen aus Scipio, als wollte er die Ehre der Kameradschaft durch einige Geringschätzung der Unwissenheit des Kameraden selbst retten.

»Und was zum Teufel ist es denn, du Guinea? Eine Kirche?«

»Ich glaube er ’ne Kirche is«, wiederholte der beifällige Schwarze wie ein Echo.

»Gott steh‘ dem schwarzhäutigen Narren bei! Ew. Gnaden ist bekannt, daß das Gewissen in Afrika ganz verflucht verwahrlost wird, und werden den Neger nicht zu hart beurteilen, wegen eines kleinen Schnitzers, den er vielleicht in bezug auf seine Religion machen tut. Aber der Kerl ist ein ausgemachter Seemann und sollte ein Bramsegel von einem Turmknopfe unterscheiden können. Sieh, Siv, zur Ehre deiner Freunde, wenn dich dein eigener Stolz nicht rührt, sag‘ Seiner…«

»Ist schon gut!« unterbrach ihn der Rover. »Nehmt Ihr das Fernglas, und gebt Euer eigenes Dafürhalten über das Segel vor uns.«

Fid machte einen langen Kratzfuß und tiefen Bückling zum Dank für das Kompliment; hierauf legte er seinen kleinen teerleinwandenen Hut aufs Hüttendeck und setzte gemächlich, und wie er sich schmeichelte, kennermäßig seine Person in Positur zu der verlangten Operation. Der Toppgast schaute weit anhaltender, wahrscheinlich also auch viel genauer als der ihm befreundete Schwarze. Statt jedoch gleich mit seinem Gutachten herauszuplatzen, senkte er, nachdem sein Auge müde war, das Glas und zugleich auch den Kopf und stand da in der Stellung eines Menschen, dem sich ein Gegenstand von großer Wichtigkeit zum Nachdenken plötzlich aufdrängt. Während dieses Denkprozesses passierte das Tabakskraut in seinem Munde mit ungewöhnlicher Schnelligkeit von Wange zu Wange; die eine Hand steckte er quer in die Weste, gleichsam als wolle er alle seine Seelenkräfte bei einer ganz außerordentlichen inneren Anstrengung zum Beistand aufrufen.

»Ich warte auf Eure Meinung«, nahm der ihm zusehende Kommandeur seine Rede wieder auf, als er glaubte, die Pause sei lang genug gewesen, um selbst das Urteil eines Richard Fid zur Reife zu bringen,

»Wollen Ew. Gnaden mir bloß sagen, was das heut wohl für ein Tag im Monat ist, und, wenn’s angeht, zugleich auch den Tag der Woche, wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht.«

Seine beiden Fragen wurden ohne Verzug beantwortet.

»Wir hatten den Wind Ost zum Süd am ersten Tag der Fahrt, dann setzte er nachts um und blies schußweise Nordwest, wo er sich hielt, mag sein eine Woche lang. Drauf kam ein irländischer Orkan, gerade von oben herunter, einen Tag: dann sind wir in diese Passatwinde hier hineingeraten, die all die Zeit über so unabänderlich angehalten haben wie ein Schiffskaplan bei einer Bowle Punsch.«

Hier schloß der Toppgast seinen Monolog, um den Tabak wieder in Bewegung zu setzen, indem es ihm nicht gelingen wollte, den Kau- und Sprechprozeß zu vereinbaren.

»Nun, was hältst du von dem Fremden?« fragte der Rover etwas ungeduldig.

»’s ist keine Kirche, soviel ist gewiß, Ew. Gnaden«, sagte Fid mit großer Bestimmtheit.

»Läßt er Signale flattern?«

»Er spricht vielleicht durch seine Flaggen, aber zu wissen, was er eigentlich sagen wollen tut, dazu gehört ein größerer Gelehrter als Richard Fid. Soviel ich sehen kann, hat er drei neue Stücke Leinwand in seinem großen Oberbramsegel, aber kein Flaggentuch.«

»Das Schiff ist glücklich, daß sein Segeltuch so gut imstande ist. Herr Wilder, sehen auch Sie die dunkleren Stücke Leinwand, von denen die Rede ist?«

»Es ist allerdings Leinwand, die man versucht wird, für später aufgezogen zu halten, als die übrige. Ich glaube, ich habe sie vorher, als die Sonne auf das Segel schien, aus Irrtum für Signale genommen.«

»Dann sieht man uns noch nicht, und wir können noch eine Zeitlang ruhig vor Anker bleiben, obgleich wir den Vorteil voraushaben, daß wir dem Fremden Fuß vor Fuß, bis zu den neuen Tüchern in seinem Bramsegel hinauf messen können.«

Der Ton, in dem der Rover sprach, war seltsam zwischen Satire und Argwohn geteilt. Eine ungeduldige Bewegung, die er nun machte, zeigte den beiden Matrosen an, daß sie die Hütte verlassen sollten. Als er sich wieder allein mit seinen Offizieren sah, die sprachlos und voller Ehrfurcht da standen, wandte er sich zu ihnen und setzte seine Rede auf eine Weise fort, die zugleich ernst und begütigend war:

»Meine Herren, unsere Muße hat ein Ende; das Glück hat uns wieder in den Pfad regsamer Tätigkeit geführt. Ob das Schiff vor uns genau siebenhundertundfünfzig Tonnen groß sei, ist mehr als ich zu behaupten imstande bin, aber etwas gibt es, was jeder Seemann wissen kann. Aus der Art, wie dessen obere Rahen gebraßt sind, an ihrem Ebenmaß, endlich an der Wucht von Leinwand, die es im Winde führt, erkenne und erkläre ich, daß es ein Kriegsschiff ist. Ist irgend jemand anderer Meinung? Herr Wilder sprechen Sie.«

»Ich fühle die Wahrheit aller Ihrer Gründe und stimme Ihnen bei.«

Das finstere Mißtrauen, das sich während des vorhergehenden Auftritts auf der Stirn des Rover verbreitet hatte, hellte sich um einen Schatten auf, als er die unumwundene, offene Aussage seines ersten Leutnants hörte.

»Sie glauben also, daß es eine königliche Flagge führe! Diese männliche Festigkeit in Ihrer Antwort gefällt mir. Der nächste Punkt, den wir nun zu überlegen haben, ist: Sollen wir uns mit dem Schiff in ein Gefecht einlassen?«

Nicht so leicht war es, auch auf diese Frage eine bestimmte Antwort zu geben. Jeder Offizier wollte erst in den Augen seiner Kameraden deren Meinung lesen, ehe er selbst eine gab; daher hielt es der Kommandeur für gut, seine Anfrage persönlicher zu stellen:

»Wohlan, General, hier ist ein Punkt, der sich ganz besonders für Ihre Weisheit eignet. Sollen wir einer königlichen Flagge den Kampf anbieten? Oder die Flügel ausbreiten und uns davonmachen?«

»Auf die Retirade sind meine Hunde nicht einexerziert. Geben Sie ihnen jedes andere Stück Arbeit, und ich verbürge mich dafür, daß sie standhalten.«

»Sollen wir uns aber in ein Wagnis einlassen, ohne hinlänglichen Grund dazu?«

»Der Spanier schickt seine Goldbarren oft unter der Larve eines bewaffneten Kreuzers nach Hause«, bemerkte einer der Subalternen, dem selten ein Risiko behagte, das keine Aussicht auf eine verhältnismäßige Beute darbot. »Lassen Sie uns dem Fremden erst den Puls fühlen; führt er noch etwas außer seinen Kanonen, so wird er es verraten durch seine Abgeneigtheit, uns zu sprechen; ist er aber arm, so werden wir ihn kampflustig finden wie einen halbsatten Tiger.«

»Ihr Rat ist vernünftig, Brace, er soll berücksichtigt werden. So gehen Sie also, meine Herren, jeder an seinen Posten. Die halbe Stunde, die es noch dauern wird, ehe der Rumpf des fremden Schiffes zu Gesichte steigt, wollen wir dazu anwenden, daß wir unsere Kardeelen in Ordnung bringen und die Kanonen visitieren. Da kein Beschluß zur Schlacht gefaßt ist, so lassen Sie alles Nötige so ausführen, daß nichts von unserer Vorbereitung zu merken ist. Meine Leute dürfen nichts sehen, was sie auf den Gedanken bringen könnte, daß wir einen schon gefaßten Beschluß wieder fahren ließen.«

Er winkte, und die Gruppe zerstreute sich, indem sich ein jeder zur Besorgung eines Teils der Vorbereitung anschickte, der seinem Posten im Schiffe anheimfiel. Wilder war im Begriff, sich mit den übrigen zu entfernen, als ihn sein Oberer zu sich winkte, so daß beide allein auf der Hütte blieben.

»Die Eintönigkeit unserer Lebensweise, Herr Wilder, wird nun wahrscheinlich eine Unterbrechung erleiden«, fing der Rover an, nachdem er zuvor um sich geschaut hatte, ob sie allein wären. »Ich habe von Ihrem Mut und Ihrer Ausdauer genug gesehen, um überzeugt zu sein, sollte der Zufall mich außerstand setzen, die Schicksale dieser Menschen zu leiten, daß meine Autorität in feste und geschickte Hände fallen wird.«

»Wenn uns ein Unfall treffen sollte, so hoffe ich, der Ausgang werde Ihre Erwartungen nicht täuschen.«

»Ich habe Vertrauen, Sir: und wo ein tapferer Mann sein Vertrauen setzt, da ist er zur Hoffnung berechtigt, es werde nicht gemißbraucht werden. Hab‘ ich recht?«

»Ich sehe die Richtigkeit Ihrer Worte ein.«

»Ach, Wilder, ich wünschte, wir hätten uns früher gekannt. Doch was nützt fruchtloses Bedauern! Ihre Kerle da haben ein scharfes Gesicht, daß sie jene Segeltücher so bald unterscheiden konnten.«

»Die Bemerkung war von der Art, wie sie sich von Leuten dieser Klasse erwarten ließ: Sie aber waren der erste, der die feineren Unterscheidungen entdeckte, die das Schiff als einen königlichen Kreuzer bezeichnen.«

»Und dann die siebenhundertundfünfzig Tonnen des Schwarzen! – Das heißt doch wirklich seine Meinung mit großer Bestimmtheit geben!«

»Es ist die Eigenschaft der Unwissenheit, positiv zu sein.«

»Sehr wahr. Richten Sie doch einmal den Blick auf den Fremden, und sagen Sie mir, wie geschwind er herankommt.«

Wilder gehorchte, offenbar froh, von einem Gespräch befreit zu sein, das ihn vielleicht in Verlegenheit gesetzt hätte. Lange schaute er, bevor er das Glas senkte; während der Pause sprach sein Kommandeur keine Silbe. Als sich Wilder nun aber zu ihm wendete, um das Resultat seiner Beobachtung zu geben, begegnete er einem auf sein Gesicht gehefteten Blick, der bis in sein Innerstes dringen zu wollen schien. Hoch errötend, vielleicht wegen des Argwohns, den ein solcher Blick verriet, schloß Wilder die zum Sprechen schon halb geöffneten Lippen.

»Und das Schiff?« fragte Rover mit tiefer Betonung.

»Das Schiff zeigt schon seine unteren großen Segel; noch einige Minuten, so können wir den Rumpf sehen.«

»Ein schnelles Fahrzeug; es ist geradezu auf uns gerichtet.«

»Ich glaube nicht. Es liegt mit dem Vorderteil mehr nach Osten zu.«

»Von diesem Umstand muß ich mir doch selbst Gewißheit verschaffen. Sie haben recht,« fuhr er fort, nachdem er auf das sich nähernde Segelgewölk hingeblickt hatte; »Sie haben ganz recht. Wir sind noch immer unentdeckt. Vorne da! Nehmt das Vorstagsegel dort herunter; wir wollen das Schiff mit bloßen Rahen im Gleichgewicht halten. Nun mag er alle seine Augen zusammennehmen und gucken; sie müssen scharf sein, wenn sie diese nackten Stangen aus solcher Ferne erblicken wollen.«

Ohne eine weitere Erwiderung zu machen, gab unser Abenteurer seinen Beifall zu dem Gesagten durch ein bloßes Kopfnicken zu erkennen. Drauf setzten sie ihr Auf- und Abgehen innerhalb des beschränkten Raumes des Hüttendecks fort, ohne daß einer oder der andere besondere Neigung zeigte, das Gespräch zu erneuern.

»Wir sind ganz gut auf die Alternative, zu fechten oder zu fliehen, gerüstet«, bemerkte endlich der Rover, indem er einen Überblick über die Vorbereitungen tat, die, ohne äußeres Aufsehen zu erregen, von dem Augenblicke an, wo sich die Offiziere an ihre Posten zurückbegeben hatten, in Gang gesetzt worden. »Ich will Ihnen nur gestehen, Wilder, daß es mir Freude macht, zu glauben, der verwegene Narr dort führe das stolze Patent des Deutschen, der die Krone Britanniens trägt. Ist er uns so sehr überlegen, daß es Tollkühnheit wäre, uns im Kampfe mit ihm messen zu wollen, so will ich ihm wenigstens Hohn sprechen; sollte sich’s aber zeigen, daß wir ihm gewachsen sind, wie schön, den heiligen Georg ins Wasser herabflattern zu sehen! Würde Ihnen der Anblick nicht Freude machen?«

»Ich hatte den Wahn, daß Leute unsres Handwerks die bloße Ehre Albernen überließen, und keinen Schlag täten, dessen Echo nicht von einem kostbarern Metall als bloßem Stahl zurücktönt.«

»So urteilt die Welt von uns: ich meinesteils aber möchte lieber den Stolz der Kreaturen des Königs Georg demütigen können, als die Schlüssel zu seinem Schatz erringen! – Habe ich recht, General?« setzte er hinzu, als sich dieser näherte. »Habe ich recht, wenn ich behaupte, daß es eine herrliche Freude ist, eine königliche Flagge dem Spiel der Wogen preiszugeben?«

»Wir kämpfen um den Sieg«, erwiderte der Haudegen. »Ich bin jede Minute schlagfertig.«

»Prompt und entschieden, wie’s einem Soldaten ziemt. Sagen Sie mir doch, angenommen, das Glück oder der Zufall, oder die Vorsehung – welcher von diesen Mächten Sie nun einmal als Führerin huldigen mögen – stellte Ihnen die Wahl unter den Lebensgenüssen frei, welchem Genuß würden Sie, als dem höchsten, den Vorzug geben, General?«

Der Soldat überlegte einen Augenblick, ehe er antwortete:

»Ich habe mir oft gedacht: Könntest du über die Dinge auf Erden gebieten, du würdest, unterstützt von einem Dutzend deiner wackersten Hunde, den Eingang der Höhle angreifen, in die der Schneiderbursch, der sogenannte Aladdin, eintrat.«

»Der Wunsch eines echten Freibeuters! An den bezauberten Bäumen würden dann nicht lange die goldenen Früchte prangen. Doch wäre der Sieg nicht sehr ruhmbringend, da die Waffen der Kämpfenden in nichts als Beschwörungen und Zauberformeln bestehen. Gilt Ihnen die Ehre nichts?«

»Hm! Um Ehre habe ich die Hälfte eines ziemlich langen Lebens gefochten; am Ende aller meiner Fährlichkeiten fand ich mich geradeso federleicht als beim Anfang. Nein, nein! Die Ehre und ich haben Abschied voneinander genommen; es müßte denn die sein, als Eroberer aus dem Kampfe hervorzugehen. Ich hasse allerdings eine Niederlage; aber die bloße Ehre des Sieges kann man zu jeder Zeit wohlfeil von mir haben.«

»Lassen Sie es gut sein. Der Dienst bleibt der Sache nach so ziemlich derselbe, mögen Sie Ihre Beweggründe hernehmen woher Sie wollen. – Was ist das! Wer hat sich unterstanden, das Bramsegel da oben loszulassen?«

Die heftige Veränderung in der Stimme des Rovers machte alle, die ihn hörten, zittern. Jeder einzelne Ton drückte tiefen, bittern und drohenden Unwillen aus, und jeglicher richtete den Blick hinauf, um zu sehen, auf wessen unglückliches Haupt das Gewicht des furchtbaren Zorns seines Befehlshabers fallen würde. Da nichts den Augen im Wege war, als entblößte Rahen und angestraffte Taue, so überzeugten sich alle in einem und demselben Moment von der Wahrheit der Sache. Fid stand auf der Spitze der Spiere, die zu dem ihm angewiesenen Gebiete im Schiffe gehörte, und das genannte Segel, an allen seinen Kardeelen los, flatterte hoch und weit in den Wind hinein. Das laute Rauschen der Leinwand mußte sein Ohr betäubt haben; denn statt auf jenen tiefen, mächtigen Ruf des Kommandeurs zu hören, stand er da, versunken in der Anschauung seines Werkes, und schien sich nicht im geringsten zu kümmern, was die unter ihm dazu sagen würden. Allein ein zweiter Ruf erschallte in viel zu fürchterlichen Tönen, als daß er selbst vom schwerhörenden Ohr des Delinquenten unbeachtet bleiben konnte.

»Auf wessen Befehl wagtest du dies Segel loszulassen?« schrie der Rover hinaus.

»Auf Befehl Sr. Majestät des Windes, Ew. Gnaden; der beste Seemann muß nachgeben, wenn eine Bö die Oberhand gewinnt.«

»Schnür‘ es an! hiß es auf, und schnür‘ es an!« rief der aufgebrachte Anführer. »Rollt mir’s zusammen, und schickt den Kerl herab, der sich erfrechte, in diesem Schiffe eine andere Macht anzuerkennen als meine, und wäre es auch die eines Orkans.«

Ein Dutzend behender Toppgasten stiegen in die Höhe, dem Fid zu helfen. Nach einer Minute war das stark bewegte Segeltuch eingeholt und Richard unterwegs nach der Hütte. Während dieses kurzen Zwischenraumes war die Stirn des Korsaren finster und zürnend, wie die schwarze Oberfläche des Elements, auf dem er hauste, unter dem einherbrausenden Sturm. Wildern, der seinen neuen Kommandeur noch nie in solcher Aufregung gesehen hatte, wurde bange um das Schicksal seines alten Gefährten, und wie dieser sich näherte, trat auch er dichter heran, um Fürbitte für ihn zu tun, sollten die Umstände eine solche Dazwischenkunft unumgänglich notwendig machen.

»Und wie kommt das?« fragte der strenge und zornige Anführer den Delinquenten. »Wie kommt’s, daß du, den ich erst so kürzlich zu beloben Ursache hatte, es wagen darfst, ein Segel in einem Moment loszulassen, wo es von Wichtigkeit ist, daß das Schiff vor Topp und Takel stehe?«

»Ew. Gnaden werden zugeben, daß dem gescheitesten Mann zuweilen der Verstand durch die Finger schlüpft, warum also nicht ein Stückchen Leinwand?« antwortete gelassen der Delinquent. »Wenn ich die Beschlagsseising etwas zu locker an die Rahe anholte, so ist’s ’n Vergehen, für das zu büßen ich bereit bin.«

»Wahr gesprochen, du sollst den Fehler teuer büßen. Bringt ihn nach der Laufplanke und laßt ihn mit der Peitsche Bekanntschaft machen.«

»Ist keine neue Bekanntschaft, Ew. Gnaden, sintemalen wir schon früher aufeinandergestoßen sind, und zwar bei Gelegenheiten, derentwegen ich Ursache hatte, mein Haupt zu verbergen; hier aber sind’s vielleicht bloß viel Hiebe und wenig Schande.«

»Darf ich eine Fürbitte für den Fehlenden tun?« unterbrach Wilder angelegentlich und hastig. »Er macht oft dumme Streiche, allein wenn es ihm ebensowenig an Kenntnissen als an gutem Willen gebräche, so würde er selten fehlen.«

»Verlieren Sie kein Wort darüber, Master Harry«, versetzte der Freibeuter mit einem sonderbaren Seitenblick. »Das Segel flatterte allerliebst, es ist zu spät, es leugnen zu wollen; und so muß das Faktum wahrscheinlich aus den Rücken von Richard Fid aufgetragen werden, wie man irgendeinen andern Unfall ins Logbuch einzutragen pflegt.«

»Ich wünschte, er könnte Pardon erhalten. Ich getraue mir, in seinem Namen das Versprechen zu tun, daß es sein letztes Vergehen sein soll.«

»Mag’s vergessen sein«, erwiderte Rover, mächtig gegen seinen Zorn ankämpfend. »Ich will in einem Augenblicke wie dem gegenwärtigen unsere Eintracht dadurch nicht stören, daß ich Ihnen, Herr Wilder, eine so kleine Bitte abschlage; indes darf ich Ihnen nicht erst sagen, was für üble Folgen eine solche Vernachlässigung herbeiführen konnte. Geben Sie mir das Fernglas; ich will doch sehen, ob das flatternde Segel den Augen des Fremden entgangen ist.«

Der Toppgast warf einen verstohlenen aber triumphierenden Blick auf Wilder, der ihm rasch zuwinkte, sich zu entfernen, und seinem Kommandeur wieder an die Seite trat, um gemeinschaftlich mit ihm die Untersuchung fortzusetzen.