Kapitel 4

 

Monatelang führte Antonio ein planloses Wanderleben. Es brachte ihn endlich in die Nähe von Florenz. Sehnsucht nach dem Meister und ein unaussprechliches, zaghaftes Bangen vor dem Wiedersehen kämpften in ihm einen qualvollen Kampf. Ratlos trieb er sich in der Umgegend herum und stieg eines Tages zum Kloster der Mönche von Oliveto Maggiore empor. Da lag vor ihm, die seine zweite Heimat gewesen, und mit heißer Liebe begrüßte er sie: »Florentia! Deinen Namen aussprechen ist Wonne der Stimme, ihn hören ist Wohllaut dem Ohr. Florentia, du Zaubermächtige! Hundertjähriger Frieden hat dich geboren, der Krieg war deine Amme, Heroen, Künstler und Weise haben dich erzogen. In weicher Umarmung umfängt dich der rauhe Apennin, auf seinen Kuppen strahlt der Sonnenschein, und sein Glanz spiegelt sich wider in den Gemütern deiner Kinder. An Launen reich wie sie, trag oder wild, schmeichelnd oder zerstörend, durchgleitet – durchbraust dich dein Arno auf seinem Wege vom Gebirge zum Meer. Die dunklen Wälder von Vallombrosa bilden den samtenen Hintergrund zu deiner Marmorpracht.«

Er blickte lange sinnend hinab zur Stadt der Blumen und der Kunst, der Üppigkeit und der Askese, der Bluttaten und der Liebe, in der sein Schicksal sich vorbereitet hatte. Sein armes, kleines Menschenschicksal. Am nächsten Morgen stahl er sich noch vor den frühesten Betern in die Kirche del Carmine und betrat die Brancacci-Kapelle. An ihren Wänden ragten die ehrwürdigen, vertrauten Gestalten, und Segen war, eine erhabene Rührung, was ihm in der Seele taute vor seines Meisters gebenedeiter Kunst. Da waren ihre unsterblichen Früchte, da prangte Masaccios letztes, vollkommenstes Werk: der von seinen Jüngern umgebene Heiland, der Petrus befiehlt, den Fährmannslohn aus dem Bauche des Fisches zu nehmen. Petrus gehorcht, und Zuversicht, Zweifel, Spannung äußern sich in den Gebärden und Mienen der Apostel. Einer steht da, den der Heiligenschein nicht umschimmert, seine Züge sind wie aus Erz geformt, wie gehämmert. In ruhigem Glanze leuchten die dunkeln Augen, den schmalen Mund umzieht ein Schatten ein unterdrücktes herbes Wort scheint auf seinen Lippen gestorben. Es ist der Meister in seiner Hoheit, seiner Güte, seinem Ernst. Der wohlbekannte Mantel aus grobem Mönchstuch hüllt ihn ein, und jede Falte dieses Mantels lebt und spricht zu seinem Schüler.

Masaccio hatte ihn getragen, als er nach Ariccia gekommen war. Die Stunde mit ihrem Entzücken und ihrem Leid erwachte wieder in der Erinnerung Antonios, und er sagte sich, daß er doch nichts auf Erden bewundert und verehrt hatte wie diesen Reichsten und Ärmsten, diesen König in der Kunst und Enterbten im Leben. Unwiderstehlich riß es ihn zu ihm hin. Der oft gegangene Weg lag vor ihm, er eilte. So lange hatte er unentschlossen gesäumt, nun schien ihm plötzlich eine Sekunde unschätzbar, die ihn dem Meister näher brachte.

Ich habe Eure Erwartungen getäuscht, wollte er zu ihm sprechen. Duldet mich dennoch bei Euch. Laßt mich als Handlanger im tiefen Schatten stehen neben Euerm hellen Lichte.

Wie der Anblick der Heimat war ihm der des alten Pisanohauses zwischen den Steineichen am Fuße des Monte Oliveto. Wie ein geliebtes Greisenangesicht grüßten ihn die verwitterten Mauern. Er pochte an die Tür, doch niemand kam, kein Laut ließ sich hören. Umsonst auch rief er zur Loggia hinauf. Die Laden der Fenster waren geschlossen, alles war wie ausgestorben. Nun lief er um das Haus herum in den Garten. Da regte es sich im Gebüsch, runde, gelbe Augen leuchteten aus dem Dunkel; einige der Lieblingskatzen Pulcherias kamen hervorgeglitten. Sie lauerten, warteten und sprangen auf einmal alle dem schmalen Pfade zu, der zum Gitterpförtchen führte.

Sie kommt! ihre Pflegerin kommt, dachte Antonio und eilte ihnen nach und – stand vor Teresina, der Nachfolgerin Cencettas. Aus dem benachbarten, dem Hause ihres Vaters, des Panzerschmieds, war sie getreten und trug eine Schüssel mit Futter, zu der die Katzen gierig emporschmachteten.

Die jungen Leute begrüßten einander freudig, als aber Antonio nach dem Meister und nach Monna Pulcheria fragte, wurde Teresina sehr betrübt und sagte zögernd und leise: »Sie sind fort.«

»Sie sind fort?« wiederholte er bestürzt. »Wohin?«

»Das weiß man nicht und darf es nicht wissen … Sie sind entflohen.«

»Entflohen … Vor wem?«

»Vor den Gläubigern des armen Meisters, ja, ja! Sie ließen ihm keine Ruhe mehr. Seine Geschwister machten Schulden auf seinen Namen, und er und Monna Pulcheria sollten aushelfen. Halfen auch, solange sie konnten, zuletzt aber konnten sie nicht mehr. Zu arg war, was die trieben in Castel San Giovanni … Hat sich nicht der Jacopo, der Affe, ein Wams machen lassen aus grünem Samt mit gelben Schlitzen … Und der Meister, der übergute! noch gelacht. – Aber bald ist das Lachen ihm vergangen … Platz, du Grobian!« unterbrach sie sich und stieß mit dem Fuße eine Tigerkatze, die sich gar zu breit machte, von der Schüssel weg, »laß den anderen auch etwas! – Glaubt mir oder nicht«, begann sie wieder, während Antonio, wie vom Blitz gerührt, kein Wort über die Lippen brachte. »Es ist, wie ich Euch sage. Schulden gemacht, um die der Familie zu bezahlen, und, was die Leute ihm schuldig waren für seine Bilder, nicht eingetrieben, vergessen ganz einfach. Da kommt ein Maler an den Bettelstab, sagt mein Vater, wenn er auch noch so viele Bestellungen hat. Und der Meister hat immer neue angenommen, kaum gegessen, kaum geschlafen – und ausgesehen! Nur noch Haut und Knochen, das Gesicht wie von einem Toten … Ihr könnt mir glauben oder nicht.«

»Ich glaube Euch ja alles, Teresina!« erwiderte Antonio. »Entflohen wie ein Missetäter, der Gottbegnadete! Aus Florenz, das ihm Unsterbliches verdankt … Und sie?« stieß er mit einem Schrei hervor. »Ist sie bei ihm? Sagt! Ist sie bei ihm? Ihr wißt, wen ich meine.«

»Ich weiß – die Ihr geliebt habt und die der arme Meister auch geliebt hat. – O wie sehr!«

»Das meint Ihr, Teresina?… Großer Gott, das meint Ihr?«

»Wie soll ich es nicht meinen? Ich war allein da, als er nach Hause kam zu ungewohnter Stunde – Ihr könnt mir glauben oder nicht –, von einer bösen Ahnung heimgetrieben. ›Wo ist Margherita?‹ fragte er, und ich gab ihm zur Antwort: ›Wo soll sie sein? Auf ihrer Stube wird sie sein. – Seht nach …‹ Nun, Messere, sie war nicht auf ihrer Stube, war im ganzen Hause nicht … Sie war fort, und man brauchte nicht erst zu fragen mit wem.«

Teresina stockte. Der Ausdruck von Antonios Augen schreckte sie.

»Weiter, weiter! Der erste Schluck des Gifttranks ist getan, hinunter den Rest!«

»Der Cesare, der Neffe des Fortebraccio, dem der große Condottiere seinen Namen vererbt hat und seine Wildheit, der Cesare hat sie entführt.«

»So? Der – der Bandenhauptmann?…«

»Er sieht Euch ähnlich zum Verkennen. Legt eine Rüstung an, und jeder Mensch hält Euch für ihn. Jeder! jeder! Und daß es auch Margherita so ergangen ist – das war das Unglück.«

»Weiter! weiter!« rief Antonio noch einmal.

»Wir stehen auf der Loggia, ich, sie und Monna Pulcheria, und er kommt dahergeritten mit einem großen Troß, und ihn erblicken und ihm die Arme entgegenbreiten war für Margherita eins. ›Antonio!‹ schreit sie ganz glückselig. ›Mein Antonio!…‹ Der Braccio sein Pferd angehalten mit einem Riß, daß es sich hoch aufbäumt, und zu ihr hinaufgelacht, laut und frech: ›Antonio bin ich nicht, aber der Eure will ich werden, und wenn ich Florenz darüber in Asche legen müßte!‹«

»Teresina, Teresina!« stöhnte Antonio, von den widersprechendsten Empfindungen gequält. »Ihr möchtet mir jetzt Balsam einträufeln, nachdem Ihr mir Gift gereicht … Umsonst! umsonst! Ich fühle nur das Brennen des Giftes … Teresina, mich hat sie verlassen, verstoßen – an den Rottenführer hat sie sich weggeworfen.«

Teresina schüttelte den Kopf. »Sie hat sich? Nichts hat sie sich! Der Braccio ist im Bunde mit dem Teufel … Nur die Dummen zweifeln daran«, schlug sie kurzweg den Einwand, den er machte, aus dem Felde. »Der Teufel führt ihm jede zu, die er haben will.«

»Da hätte er’s bequem, hätte nicht erst gebraucht mit dem Brande von Florenz zu drohen.«

»Es ist, wie es ist«, entschied sie. »Da wird eben der Satan aus ihm geredet haben.«

Antonio hatte die Spitze seines Stabes in die Erde gebohrt und den Kopf tief auf die Brust gepreßt: »Was ist jetzt mit ihr?« fragte er, vor sich hinstarrend, und zuckte nicht, blieb regungslos und wie versteinert, als er vernahm, daß Margherita, wie man höre, herrlich und in Freuden mit Cesare Braccio lebe in Rom und in Montone und daß Braccio, der sonst nie weniger als ein halbes Dutzend Liebchen auf einmal gehabt, sich mit ihr allein begnüge und ihr zu Füßen liege wie ein gezähmter Löwe.

»Wer weiß, vielleicht heiratet er sie, und wir tanzen noch auf ihrer Hochzeit, Teresina«, sagte Antonio, und dabei klang Verzweiflung aus seiner Stimme. Die Augen Teresinas füllten sich mit Tränen, und sie jammerte: »Hätte ich doch geschwiegen, jetzt reut mich jedes Wort!«

Er tröstete sie: »Erfahren mußte ich’s. Besser, es geschah durch Euch als durch einen plumpen Gesellen, der mich verhöhnt und den ich erschlagen hätte. Der bloße Gedanke daran treibt zur Wut«, brach er aus, ermannte sich und streckte ihr die Hand hin. »Eines noch sagt mir. Wohin haben der Meister und sein Mütterchen sich gewendet? Ich will sie aufsuchen und ihnen eine Stütze sein; meine Arme sind noch stark.«

Da vertraute ihm Teresina an, was sie ihrem eigenen Vater verschwieg, daß Masaccio und Pulcheria den Weg nach Rom genommen hätten.

Ihre Bitte, wenigstens zu kurzer Rast in ihr Elternhaus zu treten, schlug er ab. Die Vorstellung, daß er einem Bekannten aus früherer Zeit begegnen könne, erweckte ihm Grauen. So gab ihm denn Teresina das Geleite eine Strecke längs des Arno und ließ ihre Beredsamkeit wie ein munteres Quellchen sprudeln. Unendlich viele Grüße gab sie ihm mit für den Herrn und für die Frau, und ja nicht versäumen möge er, ihnen zu bestellen, wie viele Stimmen schon laut geworden über die Schande, die es sei für Florenz, daß der große Maler habe fliehen müssen um ein paar hundert Goldgulden willen. Und daß die Colomba vier wunderschöne Junge bekommen, sollte er der Monna Pulcheria melden und ganz gewiß sie und den Meister zur baldigen Rückkehr mahnen. Im Triumphe würden sie eingeholt werden, das könne er ihr glauben oder nicht.

Tag um Tag, Woche um Woche verrann. Antonio hatte Rom, von dem er bisher nicht mehr gekannt als den Weg von der Porta San Giovanni nach San Clemente, in dem Wahne betreten, daß ihn nur noch Tage, wenige vielleicht, von dem Augenblick trennten, in dem er seinen Meister wiederfinden werde. Bald mußte er einsehen, wie kindisch diese Zuversicht gewesen war.

Im Kloster von San Clemente, wo er zuerst nach Masaccio gefragt hatte, wußten die Mönche nichts von ihm. Sie entsannen sich des jungen Künstlers, der zuerst an der Seite seines Lehrers Masolino, später allein mit so heiligem Eifer an dem Stolz ihrer Kirche, den Fresken der Katharinenkapelle, gemalt, und konnten kaum glauben, daß er in Rom sei und seine Bilder nicht besucht haben sollte. Auch Antonio erschien das unmöglich, und so kam er denn immer wieder nach San Clemente zurück, nachdem er die Siebenhügelstadt nach allen Richtungen durchstreift hatte. Die Hoffnung, mit Maso Guidi endlich doch bei den Werken seiner Jugend zusammenzutreffen, verließ ihn nicht.

In einem der nahe vom Kolosseum aus seinen Trümmerstürzen erbauten Häuser hatte Antonio sich eingemietet. Der Barbier Lorenzo, sein Wirt, bekam ihn selten zu Gesicht. Immer war die Nacht angebrochen, bevor er heimkehrte, immer fand der grauende Morgen ihn auf der Wanderung. Nach wenigen Stunden der Rast scheuchte ein Schreckensgedanke ihn auf: Du schläfst, versäumst die Zeit, und dein Meister stirbt.

Manchmal glaubte er eine Spur der Verschwundenen entdeckt zu haben und verfolgte sie unverdrossen, bis sie sich als falsch erwies. Manchmal auch geschah’s, daß die Angst und die Sehnsucht, die ihn umherjagten, von einem mächtigen Eindruck überwältigt, schwiegen. Der hielt ihn fest und ließ ihn sich selbst und das Teuerste vergessen. Woran das Herz hängen, was lieben, was bewundern angesichts der alles Große bedrohenden, alles verschlingenden Vernichtung?

Von den verödeten Hügeln, von den Gewölben der Diokletiansthermen, von der Trümmerwelt des Palatins hinab schweifte Antonios Blick über »die Stadt«, über ihre versunkenen Tempel, ihre durch Söldnerbanden geschändeten Kirchen, ihre unter Sümpfen und üppigem Pflanzenwuchs verschwundenen Foren. In Steinbrüche verwandelt die Denkmäler einer Vergangenheit voll unsterblichen Ruhms, in Festungen ihre Riesengrabstätten und die Triumphbogen, auf denen einst die Quadrigen der Weltbesieger prangten. Am Fuße des Kapitols, rauchend und gähnend, die Kalkgruben, in denen Portiken und Säulen, Architrave und Statuen verschwanden.

Mit einer bis zu physischem Schmerze gesteigerten Seelenpein sah Antonio dem Zerstörungswerke zu: Jahrhunderte werden kommen, und kunstbegnadete Menschen werden leben und schaffen, nie und niemals aber etwas an Schönheit dem Gleiches, was da versinkt!

Eine schmerzvolle Entrüstung verdüsterte die Seele des einsamen Mannes, der umherirrte auf fieberdurchseuchten Stätten, von Gefahren umringt. Er hatte gelernt, nicht mehr unbewaffnet aus dem Hause zu treten. Im Gewirr der Gassen, die überall noch die Spuren der letzten Plünderungen und Brandstiftungen trugen, war die Sicherheit nicht größer als auf öden Pfaden. Antonio bestand mit Strolchen und Räubern manchen Kampf, in dem er nur seinem kalten Mute den Sieg verdankte. Die Gleichgültigkeit gegen das Leben erhielt ihm das Leben. Es kam vor, daß ihn der Zufall am nächsten Tage mit seinen Angreifern in einer Kirche zusammenführte. Dort lagen sie vor einem Gnadenbilde auf ihrem Angesicht, und lächelnd fragte er sich: Flehen sie um Vergebung ihres letzten Mordanschlages oder um besseres Gelingen des nächsten?

Eines Morgens gelangte er nach San Giovanni in Laterano, seit einem halben Jahrtausend Mutter und Haupt aller Kirchen. Erdbeben und Feuer hatten sie zerstört, und die aber und abermals neu erstandene, von der Hand Giottos mit Malereien geschmückte war, deckenlos, jeder Unbill preisgegeben, zerfallen, und bis an den Hochaltar hin hatten Schafe geweidet. Nun erhob sie sich stolzer denn je als Hüterin der Apostelhäupter und ragte herrlich und beherrschend auf ihrem Hügel. Feierliche Heiligenbilder hoben sich auf ihrer Fassade von goldenem Hintergrunde ab. Die Schöpfer der weithin leuchtenden Gemälde standen auf dem Gerüste und legten die letzte Hand an ihr prangendes Werk.

Der eine war Pisanello, der andere Gentile da Fabriano.

Ja, du dort oben im weißen Malerkittel! Da schwelgte er im Genusse seines großen Könnens, der ihm gesagt hatte: Nehmt Dienst bei einem Condottiere … Werden wie einer von denen! dachte Antonio, als ein Trupp Söldner Francesco Sforzas, bewaffnet und reich gekleidet, durch das Stadttor geschritten kam. Leicht angetrunken, hoffärtiger als je eine Fürstlichkeit, stießen sie mit den Füßen von sich, was ihnen im Wege war: die Müßiggänger, die Vagabunden, die in Scharen um die Kirche lagerten, die Bettler und Krüppel, die ihre Gebreste in der warmen Frühlingssonne pflegten. Einige Bravi, von denen wohl jeder sich so manches in hohem Auftrag ausgeführten Mordes rühmen durfte, kamen ihnen entgegen.

Aus den Reihen dieser Leute ertönte immer lauter, immer frecher, unter beifälligem Gelächter wiederholt, ein Liedchen, das aus Florenz herübergeflogen war:

 

Non vale un quattrino

Papa Martino

 

Plötzlich hielten sie inne. Ihre übermütige Lustigkeit wich einer kläglichen Bestürzung. Einer von ihnen hatte sich umgesehen und deutete auf einen Zug Berittener, der die Straße von Santa Maria Maggiore langsam heraufgekommen war. Seine Anführer konnten die Melodie, nach der die Spottverse gesungen wurden, leicht unterschieden haben. Und der erste von ihnen, der hinter zwei Lanzenträgern im roten Mantel, das dunkle Angesicht von breitgerandetem Hut beschattet, auf schneeweißem, rotgezäumtem Maultiere ritt, war der Königspapst selbst, der große Oddo Colonna. Im Gefolge des Wiederherstellers des Kirchenstaates befanden sich Abgeordnete der besiegten Städte und Angehörige der Adelsgeschlechter, die, teils unterworfen, teils versöhnt, sich der Herrschaft der dreifachen Krone gebeugt hatten.

Man kannte die Empfindlichkeit des Papstes gegen die Hohngesänge, die ihm mitten im Jubel der Feierlichkeiten bei seinem Einzuge in Florenz mißtönend ans Ohr geklungen. Schrecken ergriff, da er nun herannahte, die Sänger und ihr dankbares Publikum. Alle warfen sich zur Erde, am demütigsten, die am lautesten gewesen waren. Der Blick des Heiligen Vaters glitt verächtlich über sie hinweg, um mit Wohlgefallen auf dem Bilderschmuck des zweiten Zion zu ruhen, und segnend erhob er die Rechte, als die Maler bei seinem Anblick auf dem Gerüste niederknieten.

 

Antonios geringe Barschaft war aufgebraucht, er suchte Arbeit und fand sie bei seinem Hausherrn, dem der Sinn nach einem schönen, deutungsreichen Schilde stand. Bald sah er sich darauf als der Wundertäter dargestellt, der den geschundenen Marsyas mit balsamgetränkten Händen heilt. Das Werk errang Erfolg und verschaffte dem Antonio neue Bestellungen. Sie trugen ihm Lob und Geld und die Ehre ein, zum Bannermaler erhoben zu werden. Er malte einen Hirsch in Weiß für die siebente und einen Löwenkopf in Rot für die dreizehnte Region. Als die Zeit der Karnevalsfeste herannahte, war er damit beschäftigt, die Loggia einer Weinschenke in der Nähe des Monte Testaccio mit Schildereien zu versehen. Die Züge der Masken, der Stier- und Ringkämpfer kamen da vorbei und sollten durch den Anblick der farbigen Pracht überrascht werden. Trotz der Kühle und des umwölkten Himmels hatten sich Gäste eingefunden und saßen im Freien, trinkend und plaudernd, an Tischen vor dem Hause.

Antonio führte eben die letzten Striche an einer rohen Darstellung der Zirkusspiele, als er plötzlich innehielt und verhaltenen Atems lauschte. Am Eingang unter der Loggia wurde ein Wortwechsel geführt zwischen zweien, die über ungleiche Stimmittel verfügten: dem Wirte und einer, wie es schien, alten, schwachen Frau.

»Packt Euch zum Teufel!« schrie der Wirt. »Nicht einen Tropfen bekommt Ihr mehr. Wo ist das Geld für meine zwei Fiasconi, Säuferin?«

»O Messere, es ist nicht für mich«, war die demütige Antwort, »und um Euer Geld braucht Euch nicht bange zu sein, ich schicke es Euch. Nicht einen Bajocco sollt Ihr verlieren. Helft mir nur das eine Mal aus … Es ist gewiß das letztemal.«

Antonios Herz klopfte heftig. Jetzt eiskalt, jetzt siedendheiß überlief es ihn. Er schwang sich über die Brüstung der Loggia und kam mit einem mächtigen Satze auf dem Boden an in dem Augenblick, als der Wirt eine alte Frau in flatterndem Mäntelchen unsanft über die Schwelle drängte.

Ein Faustschlag traf ihn, der ihn ein paar Schritte weit zurückwarf; die alte Frau aber wurde, ehe sie sich’s versah, von zwei kräftigen Armen umfangen. Wie ein jubelnder Vater sein wiedergefundenes Kind, hob Antonio Monna Pulcheria hoch empor und jauchzte und schluchzte, außer sich vor Rührung und Entzücken: »Mütterchen, mein liebes Mütterchen!«

Und sie konnte nicht sprechen, sie weinte auch nicht. Sie sah nur still zu ihm hinauf, als sie wieder festen Grund unter ihren Füßen fühlte, und streichelte sanft und zärtlich seine Hände.

Die Männer lachten, die Frauen lächelten dem guten Sohne zu, der sich so überschwenglich über sein Mütterchen freute. Er sah und wußte nichts von dem, was um ihn her vorging.

»Und der Meister?« fragte er, »ist er da?«

»Noch da, was sterblich an ihm ist … Der Geist schon im Entfliehen in eine andere Welt«, erwiderte Pulcheria.

 

Von Verfolgungswahn ergriffen, hatte Masaccio mit krankhafter Heftigkeit jeden Versuch Pulcherias vereitelt, ihm in seiner Bedrängnis Hilfe zu schaffen. Es wäre leicht gewesen. Der Weg zum kunstsinnigen Papst stand einem Masaccio offen. Aber der bloße Gedanke, daß er ihn betreten solle, brachte den Menschenscheuen in zitternde Aufregung.

Pulcheria sprach ihm zu: »Du brauchst nicht selbst zu gehen, ich gehe an deiner Statt. Ich fürchte keinen, vor den ich als Abgesandte Maso Guidis trete.«

»Da müßtet Ihr Euch doch ausweisen können«, sagte er. »Ich gebe Euch ein Bild mit, zwei Bilder. Das der Muttergottes, das beinahe fertig ist, und das des Heiligen Vaters selbst. Ich habe ihn gut gesehen, gleich nach unserer Ankunft, als er in Sankt Peter so aufmerksam der Predigt Bernardinos von Siena zuhörte, und eine Skizze von ihm gemacht.«

Sie mußte ihm schwören, daß sie hinter seinem Rücken keinen Schritt für ihn tun wolle, bevor er seine Bilder vollendet habe. Und der vom Tode schon gestreifte Mann hielt sich an die Arbeit, malte mit schwindender Kraft, bis er fieberglühend, irreredend an der Staffelei zusammenbrach.

Ein kleiner Geldbetrag, den Pulcheria zu erwarten hatte, blieb aus. Der benachbarte Wirt, bei dem sie bisher ihren und ihres Kranken bescheidenen Lebensunterhalt gefunden, verlor die Geduld, als die pünktliche Zahlerin säumig zu werden begann.

Nun war mit einem Schlage alles verändert. Antonios Guthaben überstieg hundertfach den Betrag des kleinen Anlehens, mit dem das Mütterchen in der Schuld des Wirtes stand.

Unweit des Hauses, in dem seit Tagen Antonio seiner Beschäftigung nachging, waren die Flüchtlinge bei armen Leuten eingemietet. Dort fand der Schüler seinen Meister wieder. Kümmerlich gebettet lag er in einer fast leeren Stube im Halbschlaf tödlicher Ermattung. Von allem, was von Stunde an für ihn geschah, kam ihm nichts mehr zum Bewußtsein. Seine Lebensflamme war aufgezehrt, aber verklärend spiegelten ihre letzten Funken sich in seinen Zügen, und aus diesen sprach ein Frieden, den der große Künstler früher nicht gekannt hatte. Die Gestalten, an denen Masaccio, als er sie schuf, nur die Mängel gesehen, umschwebten ihn jetzt in ihrer Schönheit. Er winkte sie heran, er richtete Worte der Verheißung an sie: »Ihr seid und werdet sein. Und wenn ihr dem Menschenauge bis auf die schwächste Spur entschwindet, wenn die Mauern, die euch tragen, in Staub zerfallen, dennoch werdet ihr leben. In denen, die nach euch kommen, wird der Atem eures Geistes leben.«

Er schien sich aufrichten zu wollen, Antonio umfaßte ihn, hob ihn empor und lehnte den Kopf des Sterbenden an seine Brust. Sein Blick suchte nach einem Blick des Meisters, einem kleinsten Zeichen des Erkennens. Umsonst; der Meister sah nur die Spiegelbilder seines eigenen Innern. Offenbarung war, was er durch sie empfing. Seine Augen öffneten sich weit und starrten ins Leere, das sich für ihn mit Erscheinungen füllte. »Du -Margherita!« flüsterte er. »Ist einem zweiten das Wunderwerk gelungen … Du, Margherita!… Schön wie damals – aber jetzt als Himmelskönigin. An deine Brust geschmiegt das Kind mit den Prophetenaugen. Göttliches Kind, dein Sehen ist ein Schauen. Du weißt: das Leiden kommt – die du liebst und erlösest, werden dich geißeln und mit Dornen krönen … Aber dort …« Er bog sich zurück, seine Glieder streckten sich, »das Weltgericht … Ihr müßt Rechenschaft geben, ihr müßt!… Er kommt, er steht wie ein Fels in Gewittern. Die Heiligen, die Märtyrer erschaudern. Unerbittlicher, wen richtest du? Die da stürzen? Die da fliegen?… Herr, Herr! für zeitliche Schuld die ewige Strafe? Die Posaunen deiner Engel, die himmlischen Gesänge übertönen den Verzweiflungsschrei der Verdammten nicht … O ungeheures, o mehr als Menschenwerk … Nein, nein!« rief er plötzlich und versuchte die matte Hand beschwörend zu erheben, »weicht nicht zurück, ihr Meinen! Auch vor dieser Größe nicht. Sie ist nicht euer Widerspruch, zermalmt euch nicht. Eure höchste Entfaltung ist sie, Wegweiser ihr!« Seine schweren Lider sanken, er seufzte tief und wonnig auf. Antonio legte ihn sachte auf das Kissen zurück.

Sein Sterben war wie das Sterben eines Kindes. Als holder Traumgott erschien der Tod und küßte ihn auf die reinen Lippen. Es dauerte lange, bis sein Jünger endlich begriff, daß sich das furchtbare Wunder so sanft vollziehen konnte, daß alles vorüber war und daß kein Wunsch, keine Liebe, keine Macht dieser edlen Hülle eines Unsterblichen auch nur einen Atemzug abzuringen vermochte. Er brach in wildes Schluchzen aus und wollte sich über die Leiche werfen.

Pulcheria wehrte ihn ab. Da sah er sie an. Sie bot ein erschütterndes Bild stummen, in sich gekehrten Leides.

»Daß Ihr weinen würdet, Mütterchen«, sprach Antonio, »könnt Ihr nicht weinen?«

»Es ist mir nicht gegeben. Ich möchte auch nicht«, erwiderte sie und kniete am Sterbelager nieder. »Laß uns ihm danken, der meinem Maso des Ende eines Begnadeten schenkte.«

 

Vor dem Hause, in das der Tod mit majestätischem Ernst getreten, machten sie Ernst aus dem Spiele. Der Senat zog in Pomp nach dem Monte Testaccio, wo der Gonfaloniere die Fahne der Stadt aufzupflanzen und damit das Zeichen zur Eröffnung des Karnevals mit seinen rohen Ergötzlichkeiten zu geben hatte. Trommelwirbel und Trompetengeschmetter verkündeten das Nahen des Zuges. Vierzig junge Edelleute, reich gekleidet und für die Stierkämpfe ausgerüstet, ritten an seiner Spitze. Diener folgten ihnen, und ihr Putz überstrahlte noch den der Herren. Und das Volk von Rom, kaum erstanden aus tiefstem Elend und tiefster Not, belohnte die zur Befriedigung seiner Schaulust entfaltete Pracht durch jubelnde Zurufe und verhöhnte und bewarf mit Steinen die Kavaliere, die sich ihm nicht zu Dank geschmückt hatten.

Der wüste Lärm, in dem der Pöbel schwelgte, drang zum Sterbezimmer hinauf, kam aber den beiden, die dort standen, in den Anblick ihres Toten versunken, nicht zum Bewußtsein.

 

Am dritten Tage fand Antonio sich wieder in San Clemente ein. Er kam, eine Ruhestätte für seinen entschlafenen Meister im Frieden des Klosters zu erbitten. Sie wurde gewährt, und die Mönche schickten vier Laienbrüder, die Leiche einzuholen. Sie hoben den Sarg, in dem Masaccio ruhte, auf ihre Schultern, Pulcheria und Antonio folgten; ein weiter Weg lag vor ihnen. Von dem Platze am Fuße des Scherbenberges, den die Hufe der Rosse und der gehetzten Tiere zerstampft hatten, wandten sie sich der Cestius-Pyramide zu. Sie ragte dunkel aus sumpfigem Grunde. Die Sonne, die im Scheitel stand, ließ einzelne Stellen zwischen den Wucherpflanzen wie bunte Spiegel schimmern. Über zerstörte Burgen, vorbei an den ehrwürdigen Mauern von San Saba und Santa Prisca flog der Blick und ruhte erlabt auf den Bergen, die in unwandelbarer Lieblichkeit die Stätte ruheloser Kämpfe und wilder Verheerungen umschlossen.

Auf dem Wege zum Kolosseum kam eine lärmende Rotte Angetrunkener den stillen Wanderern entgegen. Männer und Dirnen in eklen Verkleidungen, von johlender Straßenjugend begleitet. Einige Anführer der Bande glaubten in dem kleinen Trauerzuge eine Faschingsposse vor sich zu haben.

»Wen tragt ihr da?« rief ein langer Bengel in Arlecchino-Maske, »den Bräutigam dieser jungen Braut?« Er deutete auf Pulcheria. »Weint nicht, schöne Jungfrau, ich wecke ihn mit meiner Pritsche. Setzt nieder eure Scatola!« befahl er den Trägern, und die Weiber riefen mit Gelächter: »Setzt nieder! setzt nieder!«

Die frechsten hingen sich den Laienbrüdern an die Arme, ein dicker Buffone begann am Sarge zu rütteln. Antonio stieß ihn zurück; für und wider ihn bildeten sich Parteien.

»Ruhe! Ruhe!« riefen einige, »es ist Ernst.« Aber schon war es zum Handgemenge gekommen. Der Arlecchino stellte einem der Brüder ein Bein, der stolperte, der Sarg mußte niedergelassen werden. Antonio schützte ihn mit seinem Leibe. Der Lärm war ohrenbetäubend, der Kampf immer heftiger geworden, schon gab’s blutige Köpfe. Da trat plötzlich Waffenstillstand ein. Ein neues Schauspiel fesselte die Aufmerksamkeit des erregten Gesindels.

Man sah eine Schar zerlumpter Männer, Weiber, Kinder und hörte sie schreien: »Geld! Geld!«

Sie liefen neben und hinter einem selten geschauten Prachtstück, einer Karosse, her, umringten sie, bettelten, drohten. Die Arme hoben sich mit flehender, mit heischender Gebärde, gierige Augen funkelten zu den Glücklichen hinauf, die im Wagen saßen, jung, schön, fröhlich. Die Kutsche rollte langsam im Trabe zweier herrlicher andalusischer Rappen, die schnaubten, Schaum umherspritzten und bei jedem Aufschlag ihrer Hufe den Boden wie etwas Verächtliches von sich zu stoßen schienen. Es glänzten die Beschläge der Geschirre und die vergoldeten Schnitzereien an den Stangen des purpurnen Baldachins, es glitzerten die Tressen der Pagen, die auf den Wagentritten standen.

Nun – ein aus dem Innern dringender Befehl. Die Karosse stand mitten im Schwarm des Pöbels, der sie verfolgte, der Masken und Possenreißer. Die Pagen sprangen ab. Lustig und kräftig geschleudert, flogen Hunderte von Münzen in die Menge, die wie rasend über sie herfiel. Männer und Frauen warfen sich auf den Boden, balgten sich, fluchten und kreischten. Einer suchte dem andern seinen Fund abzuringen. Der Streit wurde bitterer, hitziger, als ein neuer Münzenregen niederging.

Antonio benützte den Augenblick, schlang den Arm schützend um Pulcheria und winkte den Trägern, den Sarg aufzunehmen. Sie hoben ihn, und er gab einen dumpfen Ton. Ein schweres Geldstück war gegen ihn angeflogen. Pulcheria wandte sich mit Ekel.

Empört, mit donnernder Stimme, rief Antonio: »Achtung vor der Leiche Masaccios!«

Da drang aus dem Wagen ein Schrei zu ihm. In der Karosse hatte sich eine Frau erhoben. Selig überrascht, hangend und bangend, im Begriff, ihm entgegenzustürzen, starrte sie ihn an.

Und er bäumte sich auf, seine Augen rollten, auf seine Lippen trat eine Verwünschung. Wie von einer grellen Flamme beleuchtet, glühte sein Angesicht. Abwehrend und dräuend ballte er die Faust.

Man sah die Frau in der Karosse zusammenbrechen … Ein kurzer, rasch erteilter Befehl. Die Pagen sprangen auf, das schimmernde Gefährt entschwand wie eine schöne Vision.

Die Armen und die Masken rauften noch um die Spenden, die der Überfluß ausgestreut, während die Träger des Sarges Masaccios und die zwei, die ihm folgten, sich längst wieder in Bewegung gesetzt hatten.

»Antonio, lieber Sohn«, sprach Pulcheria endlich nach tiefem, lastendem Schweigen, »das war Margherita. Hast du gehört, wie sie aufschrie, und gesehen, wie sie zu uns strebte? Zu uns armen Leuten zog es sie zurück aus ihrem Reichtum und ihrem Glanz.«

»Mütterchen«, stieß Antonio hervor. »Mütterchen!« Mit verzweifelter Anstrengung rang er den Zorn nieder, der in ihm kochte: »Sprecht nicht, um Gottes willen sprecht nicht!«

Im Kloster herrschte große Aufregung, als sie dort ankamen. Vor einer Stunde war der Kaufherr Pietro Peruzzi aus Florenz eingetroffen, um Maso Guidi aufzusuchen. Wie Antonio hatte auch er zuerst in San Clemente nach ihm gefragt und mit leidvoller Bestürzung die Nachricht von seinem Tode empfangen.

Sobald die Flucht des Meisters bekannt geworden, war auch niemand im Zweifel über ihren Grund. Der Unmut gegen die Reichen, die von den Verlegenheiten, in denen Guidi sich befand, gewußt und ihnen nicht abgeholfen hatten, äußerte sich laut. Peruzzi empfand die Schmach bitterer als andere. Im Grunde sparsam, galt er doch gern für großmütig und strebte eifrig nach dem Rufe eines Mäzen. Als nun sogar eine Botschaft des Papstes anlangte, der Masaccio zu sich berief, beschloß Peruzzi die Fahrt nach Rom. Reisende Handelsleute, die den Meister dort gesehen, hatten von seiner augenscheinlichen Dürftigkeit erzählt und von der Scheu, mit der er ihnen auswich, als sie Miene machten, ihn anzureden.

Peruzzi war schon völlig in der schönen Rolle des Erretters eines berühmten Künstlers aus der Not des Lebens aufgegangen, als er die Demütigung erfuhr, zu spät gekommen zu sein und vor dem unwiederbringlich Versäumten zu stehen.

Ergriffen betrachtete er den armen Sarg, der die Reste des großen Malers barg, und mit tiefem Schuldgefühl im Herzen schloß er sich dem Grabgeleite an.

Pulcheria Pisano hatte kein Wort des Vorwurfs zu ihm gesagt, und mit innigster Ehrfurcht erfüllte ihn der Anblick der kleinen, alten Frau, die im Innersten gebrochen und äußerlich doch so standhaft ihr Um und Auf in die Erde senken sah. Er empfand es als eine Gnade, als sie ihm vertraute, daß ihr Tommaso zwei Bilder hinterlassen hatte, die für den Papst bestimmt waren. Freudig erklärte er sich bereit, sie mit Gold aufzuwiegen, wenn ihm das Glück gegönnt würde, ihr Überbringer sein zu dürfen. Er übernahm auch die Sorge, mit den Gläubigern des Meisters abzurechnen.

Nachdem alles geordnet war, was Masaccios zeitliche Ehre betraf, widmete Pulcheria ihre Aufmerksamkeit dem, was seine ewige Ehre ausmachte. Sie betete in der Katharinen-Kapelle mit so heiterer Frömmigkeit an Antonios Seite, daß er von neuem fragte: »Müßt Ihr nicht weinen, Mütterchen, rühren Euch diese Bilder nicht?«

»Sie rühren mich«, erwiderte sie, »aber ich muß nur, was ich will – und ich will die Werke, die mein Maso in Hellsichtigkeit schuf, nicht durch einen Tränenschleier sehen. Blick empor zu der Heiligen – deiner ersten Liebe! Zwischen den stacheligen Rädern, die sie zerfleischen sollen, steht sie unversehrt. Verstehst du, was das heißt? An ihrer Seelenreinheit stumpfen sich die Stacheln irdischer Leiden ab.«

»Was nun, Mütterchen?« fragte Antonio, als er sich endlich zum Aufbruch anschickte. »Bleiben wir in Rom? Wollt Ihr das Grab des teuren Meisters hüten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Dazu bin ich selbst dem Grabe zu nahe. Ich gehe heim, im Hause der Pisano zu sterben.«

»Soll ich Euch geleiten, Mütterchen?«

»Das sollst du nicht. Ich reise mit Peruzzi; es ist abgemacht. Er möchte mir jetzt die Hände unter die Füße legen. Jajetzt … Wir müssen Abschied nehmen, denn auch du sollst heim.«

»Wohin sollt ich da?« fragte er. »Ich habe kein Heim.«

»Doch!« Ihre Hand legte sich sanft auf seine Rechte. »In Ariccia lebt, wie sie sagen in Armut, ein alter Mann, der deine Mutter geliebt hat und gütig für sie war bis zu ihrer letzten Stunde. Zu ihm zurückzukehren, um die Not von ihm fernzuhalten und seinen Fluch von deinem Haupte zu lösen, wäre dir das allzu schwer?«

»Mir wird gar nichts mehr schwer, Mütterchen«, antwortete er mit einem traurigen Lächeln. »Es mag ja sein, mag der alte Mann die Genugtuung haben zu sehen, daß aus mir nichts geworden ist, daß ich wiederkomme als der, der ich gegangen bin.«

Als sie die Kapelle verließen, kniete ein Weib auf der Schwelle, der Kleidung nach ein Weib aus dem Volke. Sie hatte das dunkle Schleiertuch um die Stirn und um die Wangen geschlungen und beugte sich bis zur Erde, als Pulcheria und Antonio an ihr vorübergingen. Dann stand sie auf und folgte ihnen von weitem.

 

Tag für Tag kam Pietro Venesco in seine Werkstatt, warf ein Stück Lehm auf die Drehscheibe und ging unlustig an die Arbeit. Er hätte sie auch sparen können, der Vorräte waren genug, Abnehmer gab es wenige. Eben nur noch für den gewöhnlichen Hausgebrauch wurde die Ware, die der alte Mann herstellte, gut genug gefunden. Er war sich dessen bewußt, und es lähmte ihn. Stundenlang konnte er dasitzen, die Hände im Schoß, und seine Gedanken den gewohnten Ringeltanz aufführen lassen. Sie riefen ihm die Leidensjahre zurück, in denen sein Weib sich in stillem Gram um den Sohn verzehrt hatte … O der furchtbaren Stunde, in der die Lippen der Sterbenden den Namen des Sohnes gehaucht, in der ihre brechenden Augen noch sehnsüchtig nach ihm ausgeschaut hatten … O des Verfluchten, der die Mutter in Trostlosigkeit und Armut sterben ließ, indes er sich in seinem Ruhme sonnte und in Reichtum schwelgte.

Fenderigo war’s, der Kunstenthusiast und Neuigkeitskrämer, der die Kunde aus Rom mitgebracht, daß Antonio in Florenz unglaublichen Erfolg errungen hatte. Kaufherren und Edelleute bezahlten seine Bilder mit den höchsten Preisen, Kardinäle überhäuften ihn mit Aufträgen; man sprach davon, daß ihn der Papst demnächst nach Rom bescheiden werde.

Der Barbier war am Tage, an dem er mit dieser Freudenbotschaft von Haus zu Haus lief, der Held des Städtchens Ariccia. Nicht nur, daß man dem stillen und sanftmütigen Antonio alles Gute gönnte, man gönnte auch dem borstigen Venesco einige Widerwärtigkeit. Beschämt werde er nun eingestehen müssen, daß er unrecht gehabt hatte mit seiner Mißachtung des Talentes Antonios. In jeder Art, von der katzenfreundlichsten bis zur derbsten, wurde ihm beigebracht, was man von ihm erwartete. Aus jedem Gruß, den Bekannte ihm boten, konnte er ihre Schadenfreude herausfühlen.

Er floh die Menschen, die nur noch verstanden, ihm weh zu tun, er vergrub sich in die Einsamkeit seiner Werkstätte. Den kleinen Haushalt bestellte ihm Cencetta und ließ sich’s auch angelegen sein, für seine Unterhaltung zu sorgen. Am meisten und liebsten erzählte sie von ihren Freiern. Das waren Leute! Diese Ungeduld, dieser Ungestüm, sie konnte nur staunen, wie viele ihrer waren. Und wenn sie dann fragte: »Staunt Ihr nicht auch, Padrone?« irrte doch manchmal ein Lächeln über sein vergrämtes Gesicht, und er antwortete: »Ich nicht, nein.«

Das Gerücht, daß Antonio demnächst in Ariccia eintreffen werde, tauchte von Zeit zu Zeit aus unbekannter Tiefe auf und versetzte den Töpfermeister jedesmal in angstvolle Empörung. Cencetta beschwichtigte ihn: »Vornehmen wird er sich die Reise, ja, o ja! Er wird auch von ihr sprechen wie von etwas Ausgemachtem. Aber – diese Künstler! Die muß man nur kennen, wie ich ihrer in Florenz genug gekannt habe. Da kriegen sie auf einmal das Heimweh, fluchen und seufzen, bilden sich ein, sie müssen alles liegen und stehen lassen und nur heim, nur heim!… Es wird aber nichts daraus, sie haben ja nie Zeit. Verschieben die Reise von einem Jahr zum andern und sterben in der Werkstatt.«

»Daß er stirbt, erlebe ich nicht«, sagte dann Venesco und betete: Möge er nicht kommen! Herrgott, nur das eine erspare mir!

Und nun begab es sich an einem Vorfrühlingsmorgen, daß Venesco zum Werktisch trat und am gegenüberliegenden Fenster Antonio auf seinem alten Platze sitzen sah. Er stand auf, als sich der Blick des Vaters mit finsterem Entsetzen auf ihn richtete, und trat heran, sonnverbrannt, in schlechten Kleidern.

»Du – du?« stammelte der Greis nach langem, erdrückendem Schweigen. »Was willst du?«

Eine gequetschte, bebende Stimme, die er kaum noch erkannte, antwortete ihm: »Ich will wieder Euer Geselle sein, wenn Ihr mich annehmt.«

So war denn nichts aus ihm geworden! So war das Traumbild von Künstlerruhm und Künstlerglück zerronnen, so behielt Venesco recht. Er hatte seine heißersehnte Rache und konnte seinem armen Weibe noch in die Grube nachrufen, daß der Sohn sich nicht ungestraft an ihr versündigt. Ein Triumphgefühl schwellte sein Herz, es gab eine Gerechtigkeit, sein Fluch hatte sie heraufbeschworen.

Diese erste, aber völlige Genugtuung wurde dem alten Manne am Ende seines herben Lebens zuteil.

Dem verzeihen, der sie so spät gebracht, konnte er nicht, aber er duldete ihn neben sich.

 

Beim Meßopfer am nächsten Sonntag war die Andacht der Kirchenbesucher sehr gestört. Die Mädchen und Frauen stießen einander verstohlen an, blinzelten und guckten. Da stand ja der Antonio leibhaftig wieder unter dem Verkündigungsengel und sah ihm ähnlicher denn je. Und daß er nicht so albern siegreich dreinblickte wie der, sondern furchtbar ernst und traurig, kam seiner Schönheit nur zugute.

Er hätte wieder in hundert Mädchenaugen lesen können:

Wenn du um mich freist, bekommst du keinen Korb. Er freite aber nicht, er kümmerte sich nicht einmal soviel wie früher um das Treiben des jungen Weibervolkes. Cencetta war die einzige, mit der er verkehrte, und wenn man sie fragte: »Wovon sprecht ihr denn?« erwiderte sie mit großer Wichtigkeit: »Von meinen Verehrern.«

Eine ausführliche Antwort konnte auch die geschickteste Fragerin ihr nicht abgewinnen. Die allgemeine Neugier blieb auf die schmale Kost der Vermutungen angewiesen. Daß zwischen Antonios Abreise und seiner Heimkehr allerlei wundersame Erlebnisse lagen, war außer Zweifel. Jahrelang erhielt sich die Sage, daß er ein großer Maler gewesen, ein sündhaftes Bild gemalt habe und, vom Bannstrahl bedroht, von Reue gefoltert, zu seinem Handwerk zurückgekehrt sei.

Und dies war wirklich der Fall.

Bald nach seiner Ankunft hatte er einige Schalen, mißglückte Versuche aus längst vergangener Zeit, von dem Borde genommen, auf dem sie stehengeblieben waren, und dabei in einer Ecke, beschädigt und verstaubt, einen alten Bekannten gefunden, den Krug, dem er die Form eines Silenkopfes gegeben. Ein häßlicher Geselle, der betrunkene Halbgott, aber ein Bild der Lebenslust. Aus diesen zusammengekniffenen Augen, diesem breiten Munde lachte Antonio die naive Schaffenswonne seiner Jugend an. Unbekannt mit den Schönheitsgesetzen, also durch keines gebunden, hatte er in glückseligem Hervorbringen geschwelgt, in freier, jubelnder Eingebung.

O verlernen! Wissen ist Tod für den, dem die Kraft fehlt, es sich zu unterwerfen. Wieder sein wie einst! Kneten, bilden, bemalen in kindlicher Unschuld und kindlicher Verwegenheit, spielen, und spielend – vergessen.

Es war Frühlingszeit. Der Lenz des Südens brannte sein farbenblitzendes Feuerwerk ab. Unter dem sonnigen Himmel, von lauen Lüften zärtlich umkost, prangte die Erde in Schönheit und Duft. Die Pfirsichbäume und die Palmen blühten, über und über schmückten sich die Zweige der Liebesbäume mit zarten fliederblauen Glocken. Rubinrot leuchteten die aufgesprungenen Knospen der Granaten aus dem Blätterdunkel ihres Gesträuchs. Wie Sterne und Flammen erschimmerten auf den Wiesen Narzissen und Violen. Weiße und gelbe und rote Rosen rankten an den Schäften der Zypressen, der Steineichen, der Pinien empor, bedeckten wuchernd Hecken und Gemäuer.

Antonios Herz schwoll vor wehmütigem Entzücken. Inmitten dieses überquellenden Reichtums, wie arm fühlte er sich, wie zurückgesetzt! Er war unlängst in Subiaco gewesen und hatte vor dem Dornenstrauch gestanden, der, einst von wundertätiger Hand berührt, nach Jahrhunderten noch Frühling um Frühling heilbringende Rosen trägt. Das geschah für dich, du Unbewußter, dachte er, und für mich Denkenden, Fühlenden und Ringenden gab’s nur ein Erblühen, für meinen Schaffenstrieb nur eine unter den Stacheln der Werdensqual entstandene, in Qualen wieder vernichtete Frucht.

Aus Florenz war ein Brief von Pulcheria Pisano angelangt, der ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Endlich, hieß es darin, wird das verdorrte Gras, das der Schnitter übersah zur Zeit der Mahd, zu Staub werden. Du erhältst Botschaft, teurer Sohn, sobald alles vorüber ist, durch eine, die uns sehr lieb gewesen ist. Nur dessen sollst du dich erinnern und die nicht ungehört von dir weisen, die meine Abschiedsgrüße bringt.

Nun erwachte er jeden Morgen, schlief jeden Abend mit dem Gedanken ein: Wäre sie schon dagewesen, wär’s vorüber. Dann erst würde für ihn das Stück Leben völlig abgeschlossen sein, das er in der Fremde durchgemacht hatte. Gar oft wollte es ihm wie ein Traum erscheinen. War das in Wirklichkeit er gewesen, den Masaccio allen Schülern vorgezogen hatte, der das Unerreichbare angestrebt, das Unvergleichliche geschaffen, die Liebe eines hohen Weibes genossen, von fürstlichem Glanz umgeben, sich der Gesellschaft erlesener Menschen erfreut? War das er, der nun wieder eine Schale geformt, wie sie zu Hunderten aus den Werkstätten von Faenza hervorgingen, und sich ihrer freute, er, der das einzige hatte hervorbringen wollen? Er war aufgestanden, hielt sie von sich, betrachtete sie, und sie gefiel ihm; und doch hätte er weinen mögen, daß sie ihm gefiel und daß er ein Genügen an ihrer Herstellung fand.

Über den blendenden Fleck, den der Sonnenschein durchs Straßenfenster auf den Boden warf, glitt ein Schatten. Bald darauf pochte es an der Tür, und die er erwartet hatte, Margherita, trat ein. Wegmüde und blaß, in ihrer alten Tracht der Frauen von Fontana. Das schwarzsamtene Mieder war zu weit geworden, der Rock schlotterte an ihr herab. Sie hatte das dunkle Schleiertuch sorglos um den Kopf und um den Hals gewunden und war noch königlich schön in dieser stolzen Vernachlässigung. Die Spuren des Leidens, der schwere Ernst in ihren Zügen rührten ihn nicht; nur Zorn und Schmerz flammten in ihm auf. Die Erinnerung an alles, was er durch sie gelitten hatte, packte ihn, umklammerte ihn wie mit eisernen Griffen. Wild und feindselig war der Blick, mit dem er sie anfunkelte und sie festbannte auf die Stelle, die sie beim ersten Schritt betreten.

»Ich komme nicht aus eigenem Antrieb«, sprach sie, und ihre Stimme hatte einen ruhigen, merkwürdig harten Ton. »Ich komme, weil Pulcheria Pisano es gewünscht hat und weil man den letzten Wunsch einer Sterbenden erfüllen muß.«

»Weil man den letzten Wunsch einer Sterbenden erfüllen muß«, wiederholte er halb abgewendet. »Ihr wißt einen, der das nicht getan hat, meint Ihr?«

Sie sah ihn mit großen Augen an, sie verstand ihn nicht gleich. Plötzlich geriet sie in Bestürzung und sagte hastig: »Das habe ich nicht gemeint, bei der heiligen Madonna, nein!«

Er war auf sie zugeschritten. Übte sie denn immer noch ihre unüberwindliche Anziehungskraft auf ihn aus? Liebte er sie denn noch? Bewunderte er sie noch? Nein! überredete er sich. Mochte der sie bewundern, der sie nicht gekannt hatte in der tauklaren Reinheit ihrer Mädchenjahre, in ihrer herrlichen Blüte. Mochte der sie lieben, der nicht wußte oder doch vergaß, daß sie die Genossin eines ausschweifenden Kondottiere gewesen. Was Antonios ganzes Wesen in Aufruhr versetzte, ihn mit rieselnden Gluten durchdrang, war noch derselbe Haß, der ihm die Hand geführt, als er das letzte Bild seines Triptychons malte.

»Bestellt Eure Botschaft!« rief er aus, nahm sich zusammen und setzte ruhiger und beinahe bittend hinzu: »Und geht.«

Sie war nicht aus der Fassung gebracht, nicht überrascht, sie schien den Empfang gefunden zu haben, den sie erwartet hatte: »Pulcheria Pisano hat mir befohlen, zu Euch zu gehen und Euch alles zu sagen, wie ich ihr alles gesagt habe und wie es war.«

»Mir alles zu sagen?… Alles – von Euch?«

Sie nickte und lehnte sich mit einer Schulter an die Wand. »Alles. Einmal, schon früher, hat sie es mir befohlen, und kurz bevor ihr liebes Leben erlosch, befahl sie es abermals. In die Hand habe ich es ihr schwören müssen, daß ich es tun werde.« Margherita seufzte, ihre Lippen zitterten leise. »Ich muß Euch alles sagen, es ist ihr Wille.«

»Ist es auch der meine, Euch anzuhören?« fuhr er heraus, und ein Blitz des Mißtrauens schoß aus seinen Augen. »Seid Ihr sicher, Glauben bei mir zu finden?«

Nun verriet sich in ihrer Miene doch ein großes Staunen. »Ja – wenn Ihr mir nicht glaubt …« versetzte sie nach einer Pause, »dann muß ich nur wieder fort, und Pulcheria wird mir verzeihen.« Sie raffte sich auf, stand frei und gerade und schien erleichtert aufzuatmen. Etwas von der naiven Sicherheit ihrer früheren Jahre regte sich in ihr. »Eines nur hört, und das werdet Ihr mir glauben: Pulcheria Pisano hat Euch im Sterben noch innig und liebreich gesegnet.«

Mit einem raschen Schritte wandte sie sich zur Tür.

Da fiel Antonios Blick auf ihren ausgetretenen, geflickten Schuh. Zugleich entsann er sich eines anderen, eines wunderhübschen, roten, und des Fußes, der ihn getragen und sich in übermütiger Fröhlichkeit vorgestreckt, und der Stimme, die gesagt hatte: »Ich weiß, wer mir immer Freude zu machen sucht und mir Bänder schenkt und Ketten und schöne rote Schuhe.« Ein silberhelles Lachen klang aus traumhaft weiter Ferne hold und köstlich an sein Ohr … Er sah sich an der Seite einer Vielgeliebten auf dem Wege zum schimmernden Dom, und die Welt und sein Herz und die Augen der Vielgeliebten waren voll Sonnenschein …

»Bleibt!« rief er plötzlich und deutete auf einen Stuhl neben dem Eingang. »Was hat Euch die Sterbende mir zu sagen befohlen?«

Margherita seufzte. So war das Schwere, dem sie entronnen zu sein glaubte, ihr nicht erlassen. Sie setzte sich und faltete die Hände auf ihrem Schoße: »Was ich ihr selbst gesagt habe, damals, als ich zu ihr kam … Ihr wißt! Tut nicht, als ob Ihr nicht wüßtet.« Ihre anfangs kaum vernehmbare Stimme befestigte sich, in ihren Klang stahl sich etwas von dem schmerzhaften Trotz eines gekränkten Kindes. »Ihr wißt, wer damals auf der Schwelle der Sankt Katharinen-Kapelle kniete, als Ihr mit Monna Pulcheria heraustratet. Ihr wißt, wer Euch damals von weitem folgte … Ihr könnt Euch denken, wer zu ihr gekommen ist, nachdem Ihr fortgegangen waret … Alles könnt Ihr Euch denken, wenn Ihr nur wollt … Wie mir gewesen ist, als ich Euren Schrei gehört habe und Euch gesehen habe und den Sarg … und Pulcheria in ihrem Mäntelchen … Oh, das besonders! ganz besonders – das! Und noch jetzt, wenn ich daran denke … Ihr habe ich es nicht gesagt, denn sie hielt etwas auf ihr Mäntelchen … Euch aber sage ich: ganz besonders – das! Sie, so arm – und wie sie humpelte hinter dem Sarg, in dem ihr Liebstes lag, und ich – in goldgestickten Kleidern!…« Sie schloß die Augen, lehnte den Kopf zurück, Fieberfrost schüttelte sie. »Wie eine Schlangenhaut, scheußlich gleißend, sind sie mir vorgekommen … Erst als ich sie in Fetzen von mir gerissen hatte, ist mir wieder ein bißchen wohl geworden … und dann bei ihr …« – sie atmete leichter und wie befreit von einer gräßlich beklemmenden Erinnerung –, »als ich ihr habe dienen dürfen.«

»Euch ist wohl geworden?« fragte er spöttisch. »Ohne Euern Liebhaber? Wie kann das sein?«

»Er war mein Liebhaber nicht mehr.«

»So war’s ein anderer.«

»Nein.«

Antonio wollte widersprechen, sah ihr ins Gesicht – und schwieg.

»Kein anderer. Als Braccio an unserer Loggia vorüberritt, da habe ich ihm die Arme entgegengestreckt, ja! Da habe ich geglaubt, Ihr seid’s, Ihr kommt in einer Verkleidung … Da war ich ihm ausgeliefert.«

»Wenn er mir nicht ähnlich gesehen hätte, würdet Ihr ihm widerstanden haben?«

»Das weiß ich nicht. Der Braccio ist wie der Sturm, er fragt nicht: Willst du? Er will und nimmt.«

»Und wenn er heute wiederkommen und wieder sagen würde: Ich will, müßtet Ihr wieder zu ihm!«

»Jetzt nicht mehr. Mir hat zu oft vor ihm gegraut.«

Die Überzeugung, mit der sie sprach, durchdrang auch ihn. Aber sie durfte ihn nicht für überzeugt halten, sie durfte nur seinen Unglauben und seine Geringschätzung erfahren: »Gegraut hat Euch vor ihm, der Euch alles brachte, wonach Ihr Euch von jeher gesehnt, bei dem Ihr Euer Glück gefunden habt?«

»Es war kein Glück«, erwiderte sie langsam und völlig verständnislos für seine bittere Ironie. »Ich habe der heiligen Muttergottes gedankt, als seine Küsse anfingen weniger heiß zu werden.«

»Schweigt!« herrschte er ihr zu und wand sich in Qualen. »Schweigt!… Seine Küsse … Oh …!«

Sie erhob die Augen. Rätselhaft erschien er ihr. »Was kann Euch jetzt noch daran liegen?« fragte sie.

»Was mir daran …« Er lachte wild auf, rückwirkende Eifersucht zerfleischte sein Herz. Eine rasende Versuchung ergriff ihn, die einstige Geliebte an sich zu reißen, zu küssen, zu töten und mit ihr zu sterben. Ein Schritt nur trennte ihn von ihr, er sah in ihre dunkeln, so seltsam ruhigen Augen, die ihn verstanden, die sprachen: Tu’s! Du nimmst mir nichts, wenn du mir das Leben nimmst. Nun stand er wieder ringend, unentschlossen. Er wußte selbst nicht, wie die Frage ihm auf die Lippen trat: »Ihr habt den doch bitter gehaßt, der Euch nicht Marchesa Montanini werden ließ?«

»Irrtum!« erwiderte sie in ihrer müden Gelassenheit. »Gesegnet habe ich ihn. Ich habe auch immer gewußt, daß Ihr mich vor ihm retten würdet und daß ich mich nicht selbst vor ihm zu retten brauchen würde – in den Arno.«

»Auch das soll ich Euch glauben?«

»Wie Ihr wollt. Zwingen kann ich Euch nicht dazu. Es ist auch ganz gleich. Die Botschaft Pulcherias habe ich Euch bestellt. Und nun -« sie stand auf …

»Nun sagt mir noch«, stammelte er hastig, »waret Ihr allein bei ihr in ihrer letzten Stunde?«

»Pietro Peruzzi war da und Fra Angelico und Fra Filippo Lippi. Das Pisanohaus fällt der Malergilde zu. Darüber sprachen sie.«

»Fra Filippo! So ist er wirklich Priester geworden. Ein schlechter Priester, aber ein guter Maler.«

»Ja, o ja!«

»Und ich – bin wieder Töpferlehrling. Seht Euch um.«

Sie tat, wie ihr geheißen, sah die Schüsseln und Schalen, die auf seinem Werktisch standen, und naive Bewunderung erheiterte ihr ernstes Gesicht. »Kein Lehrling«, sagte sie, »das ist ja schön.«

»Schön – Ihr findet wirklich?«

Derselbe Gedanke lebte in beiden auf. Der Gedanke an den Morgen, an dem sie zu ihm gekommen war, zu trösten, und in Entzücken geraten war über sein Bild Die Neugierigen auf der Piazza Santa Maria Novella, und wie er sie in die Arme geschlossen hatte und wie er aus ihrem Kusse und sie aus dem seinen die Fülle des Glückes getrunken.

Sie hatte seitdem das Leben und alle irdischen Freuden kennengelernt, aber nie eine Regung, die auch nur von fern der Seligkeit jenes Augenblicks vergleichbar gewesen wäre. Und die einander das Köstlichste verdankten, hatten einander am wehesten getan und nichts mehr vor sich als die Trennung.

»Lebt wohl«, sagte Margherita. »Meine Reisegefährten wollen in Ariccia nur eine Stunde haltmachen. Die Zeit ist um. Lebt wohl, Antonio.« Ohne umzublicken, schritt sie dem Ausgange zu.

»Lebt wohl, sagt Ihr?« rief er ihr nach, »und reicht mir nicht einmal die Hand?«

Sie kehrte um und blieb stehen und fragte: »Würdet Ihr meine Hand denn berühren?«

Es griff ihm ans Herz. So tief verachtet fühlte sie sich, zu so scheuem Zweifel getrieben?

Da war sie gekommen, ihr Bekenntnis abzulegen. Ohne Reue – was hatte sie zu bereuen? Ohne Zweck – was hatte sie zu hoffen? und wollte nun wieder fort, und Antonio, der das Wiedersehen gefürchtet hatte, blickte schaudernd in die Leere, die ihr Scheiden hinterlassen werde. O Pulcheria, du Kluge! dachte er, du wußtest, was du tatest, als du sie mir gesandt, die unschuldig Schuldige, die noch in Untreue Getreue. Halb besiegt, kämpfte er aber noch und sprach gewürgt und rauh: »Wohin wollt Ihr?«

»Nach Velletri. Monna Pulcheria hat mich dem Schutze ihrer Verwandten, der Oberin des Klosters, empfohlen.«

»Nach Velletri – weil der Weg über Ariccia führt und Ihr Euch bei mir aufhalten solltet?«

»Ich habe es getan.«

»Und wollt nun fort? Und gebt Euch keine Rechenschaft davon, warum Pulcheria Euch zu mir schickte und wollte, daß Ihr mir alles sagen solltet, alles von Euch?«

»Sie dachte vielleicht …« Margherita sann nach, zuckte die Achseln und setzte nach einer Weile ratlos hinzu: »Ich weiß nicht, was sie dachte.« Ihre Hände glitten herab, ihr Haupt neigte sich, Antonio sah ihre gesenkten Lider sich röten.

Mitleidige und heiße Zärtlichkeit wallte in ihm empor und riß alle Dämme nieder, die er gegen den Glutstrom der höchsten und tiefsten Leidenschaft seines Lebens aufgerichtet. Ihm war alles gestorben, er hatte seine Kunst und seinen Ehrgeiz begraben und seine Liebe in das Gewand des Hasses gehüllt. Aber die verkleidete Göttin hatte darin fortgelebt und trat nun hervor, siegreich und unsterblich. Sein Hohn erschien ihm töricht, seine Grausamkeit frevelhaft.

»Margherita!« rief er, und all sein niedergepreßtes Gefühl klang aus seiner Stimme und stürmte und liebkoste.

Ein leiser, zagender Jubelton antwortete ihm. Wie plötzlich befreit von einem tödlichen Banne staunte die Geliebte ihn glückselig an. Zwei Erlöste hielten einander umfangen und sprachen zugleich: »Kannst du mir verzeihen?«