14. Kapitel


14. Kapitel

Maß und Schrift

Die Kunst des Messens unterwirft dem Menschen die Welt; durch die Kunst des Schreibens hört seine Erkenntnis auf, so vergänglich zu sein, wie er selbst ist; sie beide geben dem Menschen, was die Natur ihm versagte, Allmacht und Ewigkeit. Es ist der Geschichte Recht und Pflicht, den Völkern auch auf diesen Bahnen zu folgen.

Um messen zu können, müssen vor allen Dingen die Begriffe der zeitlichen, räumlichen und Gewichtseinheit und des aus gleichen Teilen bestehenden Ganzen, das heißt die Zahl und das Zahlensystem entwickelt werden. Dazu bietet die Natur als nächste Anhaltspunkte für die Zeit die Wiederkehr der Sonne und des Mondes oder Tag und Monat, für den Raum die Länge des Mannesfußes, der leichter mißt als der Arm, für die Schwere diejenige Last, welche der Mann mit ausgestrecktem Arm schwebend auf der Hand zu wiegen (librare) vermag oder das „Gewicht“ (libra). Als Anhalt für die Vorstellung eines aus gleichen Teilen bestehenden Ganzen liegt nichts so nahe als die Hand mit ihren fünf oder die Hände mit ihren zehn Fingern, und hierauf beruht das Dezimalsystem. Es ist schon bemerkt worden, daß diese Elemente alles Zählens und Messens nicht bloß über die Trennung des griechischen und lateinischen Stammes, sondern bis in die fernste Urzeit zurückreichen. Wie alt namentlich die Messung der Zeit nach dem Monde ist, beweist die Sprache; selbst die Weise, die zwischen den einzelnen Mondphasen verfließenden Tage nicht von der zuletzt eingetretenen vorwärts, sondern von der zunächst zu erwartenden rückwärts zu zählen, ist wenigstens älter als die Trennung der Griechen und Lateiner. Das bestimmteste Zeugnis für das Alter und die ursprüngliche Ausschließlichkeit des Dezimalsystems bei den Indogermanen gewährt die bekannte Übereinstimmung aller indogermanischen Sprachen in den Zahlwörtern bis hundert einschließlich. Was Italien anlangt, so sind hier alle ältesten Verhältnisse vom Dezimalsystem durchdrungen: es genügt, an die so gewöhnliche Zehnzahl der Zeugen, Bürgen, Gesandten, Magistrate, an die gesetzliche Gleichsetzung von einem Rind und zehn Schafen, an die Teilung des Gaues in zehn Kurien und überhaupt die durchstehende Dekuriierung, an die Limitation, den Opfer- und Ackerzehnten, das Dezimieren, den Vornamen Decimus zu erinnern. Dem Gebiet von Maß und Schrift angehörige Anwendungen dieses ältesten Dezimalsystems sind zunächst die merkwürdigen italischen Ziffern. Konventionelle Zahlzeichen hat es noch bei der Scheidung der Griechen und Italiker offenbar nicht gegeben. Dagegen finden wir für die drei ältesten und unentbehrlichsten Ziffern, für ein, fünf, zehn, drei Zeichen, I, V oder A, X, offenbar Nachbildungen des ausgestreckten Fingers, der offenen und der Doppelhand, welche weder den Hellenen noch den Phönikern entlehnt, dagegen den Römern, Sabellern und Etruskern gemeinschaftlich sind. Es sind die Ansätze zur Bildung einer national italischen Schrift und zugleich Zeugnisse von der Regsamkeit des ältesten, dem überseeischen voraufgehenden binnenländischen Verkehrs der Italiker; welcher aber der italischen Stämme diese Zeichen erfunden und wer von wem sie entlehnt hat, ist natürlich nicht auszumachen. Andere Spuren des rein dezimalen Systems sind auf diesem Gebiet sparsam; es gehören dahin der Vorsus, das Flächenmaß der Sabeller von 100 Fuß ins Gevierte und das römische zehnmonatliche Jahr. Sonst ist im allgemeinen in denjenigen italischen Maßen, die nicht an griechische Festsetzungen anknüpfen und wahrscheinlich von den Italikern vor Berührung mit den Griechen entwickelt worden sind, die Teilung des „Ganzen“ (as) in zwölf „Einheiten“ (unciae) vorherrschend. Nach der Zwölfzahl sind eben die ältesten latinischen Priesterschaften, die Kollegien der Salier und Arvalen sowie auch die etruskischen Städtebünde geordnet. Die Zwölfzahl herrscht im römischen Gewichtsystem, wo das Pfund (libra), und im Längenmaß, wo der Fuß (pes) in zwölf Teile zerlegt zu werden pflegen; die Einheit des römischen Flächenmaßes ist der aus dem Dezimal- und Duodezimalsystem zusammengesetzte „Trieb“ (actus) von 120 Fuß ins GevierteUrsprünglich sind sowohl „actus“ Trieb, wie auch das noch häufiger vorkommende Doppelte davon, „iugerum“, Joch, wie unser „Morgen“ nicht Flächen-, sondern Arbeitsmaße und bezeichnen dieser das Tage-, jener das halbe Tagewerk, mit Rücksicht auf die namentlich in Italien scharf einschneidende Mittagsruhe des Pflügers.. Im Körpermaß mögen ähnliche Bestimmungen verschollen sein.

Wenn man erwägt, worauf das Duodezimalsystem beruhen, wie es gekommen sein mag, daß aus der gleichen Reihe der Zahlen so früh und allgemein neben der Zehn die Zwölf hervorgetreten ist, so wird die Veranlassung wohl nur gefunden werden können in der Vergleichung des Sonnen- und Mondlaufs. Mehr noch als an der Doppelhand von zehn Fingern ist an dem Sonnenkreislauf von ungefähr zwölf Mondkreisläufen zuerst dem Menschen die tiefsinnige Vorstellung einer aus gleichen Einheiten zusammengesetzten Einheit aufgegangen und damit der Begriff eines Zahlensystems, der erste Ansatz mathematischen Denkens. Die feste duodezimale Entwicklung dieses Gedankens scheint national italisch zu sein und vor die erste Berührung mit den Hellenen zu fallen.

Als nun aber der hellenische Handelsmann sich den Weg an die italische Westküste eröffnet hatte, empfanden zwar nicht das Flächen-, aber wohl das Längenmaß, das Gewicht und vor allem das Körpermaß, das heißt diejenigen Bestimmungen, ohne welche Handel und Wandel unmöglich ist, die Folgen des neuen internationalen Verkehrs. Der älteste römische Fuß ist verschollen; der, den wir kennen und der in frühester Zeit bei den Römern in Gebrauch war, ist aus Griechenland entlehnt und wurde neben seiner neuen römischen Einteilung in Zwölftel auch nach griechischer Art in vier Hand- (palmus) und sechzehn Fingerbreiten (digitus) geteilt. Ferner wurde das römische Gewicht in ein festes Verhältnis zu dem attischen gesetzt, welches in ganz Sizilien herrschte, nicht aber in Kyme – wieder ein bedeutsamer Beweis, daß der latinische Verkehr vorzugsweise nach der Insel sich zog; vier römische Pfund wurden gleich drei attischen Minen oder vielmehr das römische Pfund gleich anderthalb sizilischen Litren oder Halbminen gesetzt. Das seltsamste und buntscheckigste Bild aber bieten die römischen Körpermaße teils in den Namen, die aus den griechischen entweder durch Verderbnis (amphora, modius nach μέδιμνος congius aus χοεύς, hemina, cyathus) oder durch Übersetzung (acetabulum von οξύβαφον) entstanden sind, während umgekehrt ξέστης Korruption von sextarius ist; teils in den Verhältnissen. Nicht alle, aber die gewöhnlichen Maße sind identisch: für Flüssigkeiten der Congius oder Chus, der Sextarius, der Cyathus, die beiden letzteren auch für trockene Waren, die römische Amphora ist im Wassergewicht dem attischen Talent gleichgesetzt und steht zugleich im festen Verhältnisse zu dem griechischen Metretes von 3 : 2, zu dem griechischen Medimnos von 2 : 1. Für den, der solche Schrift zu lesen versteht, steht in diesen Namen und Zahlen die ganze Regsamkeit und Bedeutung jenes sizilisch-latinischen Verkehrs geschrieben.

Die griechischen Zahlzeichen nahm man nicht auf; wohl aber benutzte der Römer das griechische Alphabet, als ihm dies zukam, um aus den ihm unnützen Zeichen der drei Hauchbuchstaben die Ziffern 50 und 1000, vielleicht auch die Ziffer 100 zu gestalten. In Etrurien scheint man auf ähnlichem Wege wenigstens das Zeichen für 100 gewonnen zu haben. Später setzte sich wie gewöhnlich das Ziffersystem der beiden benachbarten Völker ins gleiche, indem das römische im wesentlichen in Etrurien angenommen ward.

In gleicher Weise ist der römische und wahrscheinlich überhaupt der italische Kalender, nachdem er sich selbständig zu entwickeln begonnen hatte, später unter griechischen Einfluß gekommen. In der Zeiteinteilung drängt sich die Wiederkehr des Sonnenauf- und -unterganges und des Neu- und Vollmondes am unmittelbarsten dem Menschen auf; demnach haben Tag und Monat, nicht nach zyklischer Vorberechnung, sondern nach unmittelbarer Beobachtung bestimmt, lange Zeit ausschließlich die Zeit gemessen. Sonnenauf- und -untergang wurden auf dem römischen Markte durch den öffentlichen Ausrufer bis in späte Zeit hinab verkündigt, ähnlich vermutlich einstmals an jedem der vier Mondphasentage die von da bis zum nächstfolgenden verfließende Tagzahl durch die Priester abgerufen. Man rechnete also in Latium und vermutlich ähnlich nicht bloß bei den Sabellern, sondern auch bei den Etruskern nach Tagen, welche, wie schon gesagt, nicht von dem letztverflossenen Phasentag vorwärts, sondern von dem nächsterwarteten rückwärts gezählt wurden; nach Mondwochen, die bei der mittleren Dauer von 7⅜ Tagen zwischen sieben- und achttägiger Dauer wechselten; und nach Mondmonaten, die gleichfalls bei der mittleren Dauer des synodischen Monats von 29 Tagen 12 Stunden 44 Minuten bald neunundzwanzig-, bald dreißigtägig waren. Eine gewisse Zeit hindurch ist den Italikern der Tag die kleinste, der Mond die größte Zeiteinteilung geblieben. Erst späterhin begann man Tag und Nacht in je vier Teile zu zerlegen, noch viel später der Stundenteilung sich zu bedienen; damit hängt auch zusammen, daß in der Bestimmung des Tagesanfangs selbst die sonst nächstverwandten Stämme auseinandergehen, die Römer denselben auf die Mitternacht, die Sabeller und die Etrusker auf den Mittag setzen. Auch das Jahr ist, wenigstens als die Griechen von den Italikern sich schieden, noch nicht kalendarisch geordnet gewesen, da die Benennungen des Jahres und der Jahresteile bei den Griechen und den Italikern völlig selbständig gebildet sind. Doch scheinen die Italiker schon in der vorhellenischen Zeit wenn nicht zu einer festen kalendarischen Ordnung, doch zur Aufstellung sogar einer doppelten größeren Zeiteinheit fortgeschritten zu sein. Die bei den Römern übliche Vereinfachung der Rechnung nach Mondmonaten durch Anwendung des Dezimalsystems, die Bezeichnung einer Frist von zehn Monaten als eines „Ringes“ (annus) oder eines Jahrganzen trägt alle Spuren des höchsten Altertums an sich. Später, aber auch noch in einer sehr frühen und unzweifelhaft ebenfalls jenseits der griechischen Einwirkung liegenden Zeit ist, wie schon gesagt wurde, das Duodezimalsystem in Italien entwickelt und, da es eben aus der Beobachtung des Sonnenlaufs als des Zwölffachen des Mondlaufs hervorgegangen ist, sicher zuerst und zunächst auf die Zeitrechnung bezogen worden; damit wird es zusammenhängen, daß in den Individualnamen der Monate – welche erst entstanden sein können, seit der Monat als Teil eines Sonnenjahres aufgefaßt wurde –, namentlich in den Namen des März und des Mai, nicht Italiker und Griechen, aber wohl die Italiker unter sich übereinstimmen. Es mag also das Problem, einen zugleich dem Mond und der Sonne entsprechenden praktischen Kalender herzustellen – diese in gewissem Sinne der Quadratur des Zirkels vergleichbare Aufgabe, die als unlösbar zu erkennen und zu beseitigen es vieler Jahrhunderte bedurft hat –, in Italien bereits vor der Epoche, wo die Berührungen mit den Griechen begannen, die Gemüter beschäftigt haben; indes diese rein nationalen Lösungsversuche sind verschollen. Was wir von dem ältesten Kalender Roms und einiger andern latinischen Städte wissen – über die sabellische und etruskische Zeitmessung ist überall nichts überliefert –, beruht entschieden auf der ältesten griechischen Jahresordnung, die der Absicht nach zugleich den Phasen des Mondes und den Sonnenfahrzeiten folgte und aufgebaut war auf der Annahme eines Mondumlaufs von 29½ Tagen, eines Sonnenumlaufs von 12½ Mondmonaten oder 368¾ Tagen und dem stetigen Wechsel der vollen oder dreißigtägigen und der hohlen oder neunundzwanzigtägigen Monate sowie der zwölf- und der dreizehnmonatlichen Jahre, daneben aber durch willkürliche Aus- und Einschaltungen in einiger Harmonie mit den wirklichen Himmelserscheinungen gehalten ward. Es ist möglich, daß diese griechische Jahrordnung zunächst unverändert bei den Latinern in Gebrauch gekommen ist; die älteste römische Jahrform aber, die sich geschichtlich erkennen läßt, weicht zwar nicht im zyklischen Ergebnis und ebenso wenig in dem Wechsel der zwölf- und der dreizehnmonatlichen Jahre, wohl aber wesentlich in der Benennung wie in der Abmessung der einzelnen Monate von ihrem Muster ab. Dies römische Jahr beginnt mit Frühlingsanfang; der erste Monat desselben und der einzige, der von einem Gott den Namen trägt, heißt nach dem Mars (Martius), die drei folgenden vom Sprossen (aprilis), Wachsen (maius) und Gedeihen (iunius), der fünfte bis zehnte von ihren Ordnungszahlen (quinctilis, sextilis, september, october, november, december), der elfte vom Anfangen (ianuarius, 1, 178), wobei vermutlich an den nach dem Mittwinter und der Arbeitsruhe folgenden Wiederbeginn der Ackerbestellung gedacht ist, der zwölfte und im gewöhnlichen Jahr der letzte vom Reinigen (februarius). Zu dieser im stetigen Kreislauf wiederkehrenden Reihe tritt im Schaltjahr noch ein namenloser „Arbeitsmonat“ (mercedonius) am Jahresschluß, also hinter dem Februar hinzu. Ebenso wie in den wahrscheinlich aus dem altnationalen herübergenommenen Namen der Monate ist der römische Kalender in der Dauer derselben selbständig: für die vier aus je sechs dreißig- und sechs neunundzwanzigtägigen Monaten und einem jedes zweite Jahr eintretenden, abwechselnd dreißig- und neunundzwanzigtägigen Schaltmonat zusammengesetzten Jahre des griechischen Zyklus (354 + 384 + 354 + 383 = 1475 Tage) sind in ihm gesetzt worden vier Jahre von je vier – dem ersten, dritten, fünften und achten – einunddreißig- und je sieben neunundzwanzigtägigen Monaten, ferner einem in drei Jahren acht-, in dem vierten neunundzwanzigtägigen Februar und einem jedes andere Jahr eingelegten siebenundzwanzigtägigen Schaltmonat (355 + 383 + 355 + 382 = 1475 Tage). Ebenso ging dieser Kalender ab von der ursprünglichen Einteilung des Monats in vier, bald sieben-, bald achttägige Wochen; er ließ die achttägige Woche ohne Rücksicht auf die sonstigen Kalenderverhältnisse durch die Jahre laufen, wie unsere Sonntage es tun, und setzte auf deren Anfangstage (noundinae) den Wochenmarkt. Er setzte daneben ein für allemal das erste Viertel in den einunddreißigtägigen Monaten auf den siebenten, in den neunundzwanzigtägigen auf den fünften, Vollmond in jenen auf den fünfzehnten, in diesen auf den dreizehnten Tag. Bei dem also fest geordneten Verlauf der Monate brauchte von jetzt ab allein die Zahl der zwischen dem Neumond und dem ersten Viertel liegenden Tage angekündigt zu werden; davon empfing der Tag des Neumonds den Namen des Rufetages (kalendae). Der Anfangstag des zweiten, immer achttägigen Zeitabschnitts des Monats wurde – der römischen Sitte gemäß, den Zieltag der Frist mit in dieselbe einzuzählen – bezeichnet als Neuntag (nonae). Der Tag des Vollmonds behielt den alten Namen idus (vielleicht Scheidetag). Das dieser seltsamen Neugestaltung des Kalenders zu Grunde liegende Motiv scheint hauptsächlich der Glaube an die heilbringende Kraft der ungeraden Zahl gewesen zu seinAus derselben Ursache sind sämtliche Festtage ungerade, sowohl die in jedem Monat wiederkehrenden (kalendae am 1., nonae am 5. oder 7., idus am 13. oder 15.) als auch, mit nur zwei Ausnahmen, die Tage der oben erwähnten 45 Jahresfeste. Dies geht so weit, daß bei mehrtägigen Festen dazwischen die geraden Tage ausfallen, also z. B. das der Carmentis am 11., 15. Januar, das Hainfest am 19., 21. Juli, die Gespensterfeier am 9., 11., 13. Mai begangen wird., und wenn er im allgemeinen an die älteste griechische Jahrform sich anlehnt, so tritt in seinen Abweichungen von dieser bestimmt der Einfluß der damals in Unteritalien übermächtigen, namentlich in Zahlenmystik sich bewegenden Lehren des Pythagoras hervor. Die Folge aber war, daß dieser römische Kalender, so deutlich er auch die Spur an sich trägt, sowohl mit dem Mond- wie mit dem Sonnenlauf harmonieren zu wollen, doch in der Tat mit dem Mondlauf keineswegs so übereinkam, wie wenigstens im ganzen sein griechisches Vorbild, den Sonnenfahrzeiten aber, eben wie der älteste griechische, nicht anders als mittels häufiger willkürlicher Ausschaltungen folgen konnte, und da man den Kalender schwerlich mit größerem Verstande gehandhabt als eingerichtet hat, höchst wahrscheinlich nur sehr unvollkommen folgte. Auch liegt in der Festhaltung der Rechnung nach Monaten oder, was dasselbe ist, nach zehnmonatlichen Jahren ein stummes, aber nicht mißzuverstehendes Eingeständnis der Unregelmäßigkeit und Unzuverlässigkeit des ältesten römischen Sonnenjahres. Seinem wesentlichen Schema nach wird dieser römische Kalender mindestens als allgemein latinisch angesehen werden können. Bei der allgemeinen Wandelbarkeit des Jahresanfangs und der Monatsnamen sind kleinere Abweichungen in der Bezifferung und den Benennungen mit der Annahme einer gemeinschaftlichen Grundlage wohl vereinbar; ebenso konnten bei jenem Kalenderschema, das tatsächlich von dem Mondumlauf absieht, die Latiner leicht zu ihren willkürlichen, etwa nach Jahrfesten abgegrenzten Monatlängen kommen, wie denn beispielsweise in den albanischen die Monate zwischen 16 und 36 Tagen schwanken. Wahrscheinlich also ist die griechische Trieteris von Unteritalien aus frühzeitig wenigstens nach Latium, vielleicht auch zu anderen italischen Stämmen gelangt und hat dann in den einzelnen Stadtkalendern weitere untergeordnete Umgestaltungen erfahren.

Zur Messung mehrjähriger Zeiträume konnte man sich der Regierungsjahre der Könige bedienen; doch ist es zweifelhaft, ob diese dem Orient geläufige Datierung in Griechenland und Italien in ältester Zeit vorgekommen ist. Dagegen scheint an die vierjährige Schaltperiode und die damit verbundene Schatzung und Sühnung der Gemeinde eine der griechischen Olympiadenzählung der Anlage nach gleiche Zählung der Lustren angeknüpft zu haben, die indes infolge der bald in der Abhaltung der Schatzungen einreißenden Unregelmäßigkeit ihre chronologische Bedeutung früh wieder eingebüßt hat.

Jünger als die Meßkunst ist die Kunst der Lautschrift. Die Italiker haben sowenig wie die Hellenen von sich aus eine solche entwickelt, obwohl in den italischen Zahlzeichen, etwa auch in dem uralt italischen und nicht aus hellenischem Einfluß hervorgegangenen Gebrauch des Losziehens mit Holztäfelchen, die Ansätze zu einer solchen Entwicklung gefunden werden können. Wie schwierig die erste Individualisierung der in so mannigfaltigen Verbindungen auftretenden Laute gewesen sein muß, beweist am besten die Tatsache, daß für die gesamte aramäische, indische, griechisch-römische und heutige Zivilisation ein einziges, von Volk zu Volk und von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanztes Alphabet ausgereicht hat und heute noch ausreicht; und auch dieses bedeutsame Erzeugnis des Menschengeistes ist gemeinsame Schöpfung der Aramäer und der Indogermanen. Der semitische Sprachstamm, in dem der Vokal untergeordneter Natur ist und nie ein Wort beginnen kann, erleichtert eben deshalb die Individualisierung des Konsonanten; weshalb denn auch hier das erste, der Vokale aber noch entbehrende Alphabet erfunden worden ist. Erst die Inder und die Griechen haben, jedes Volk selbständig und in höchst abweichender Weise, aus der durch den Handel ihnen zugeführten aramäischen Konsonantenschrift das vollständige Alphabet erschaffen durch Hinzufügung der Vokale, welche erfolgte durch die Verwendung von vier für die Griechen als Konsonantenzeichen unbrauchbarer Buchstaben für die vier Vokale a e i o und durch Neubildung des Zeichens für u, also durch Einführung der Silbe in die Schrift statt des bloßen Konsonanten, oder wie Palamedes bei Euripides sagt:

Heilmittel also ordnend der Vergessenheit
Fügt ich lautlos‘ und lautende in Silben ein
Und fand des Schreibens Wissenschaft den Sterblichen.

Dies aramäisch-hellenische Alphabet ist denn auch den Italikern zugebracht worden und zwar durch die italischen Hellenen, nicht aber durch die Ackerkolonien Großgriechenlands, sondern durch die Kaufleute etwa von Kyme oder Tarent, von denen es zunächst nach den uralten Vermittlungsstätten des internationalen Verkehrs in Latium und Etrurien, nach Rom und Caere gelangt sein wird. Das Alphabet, das die Italiker empfingen, ist keineswegs das älteste hellenische: es hatte schon mehrfache Modifikationen erfahren, namentlich den Zusatz der drei Buchstaben ξ φ χ und die Abänderung der Zeichen für υ γ λDie Geschichte des Alphabets bei den Hellenen besteht im wesentlichen darin, daß gegenüber dem Uralphabet von 23 Buchstaben, das heißt dem vokalisierten und mit dem u vermehrten phönikischen, die verschiedenartigsten Vorschläge zur Ergänzung und Verbesserung desselben gemacht worden sind und daß jeder dieser Vorschläge seine eigene Geschichte gehabt hat. Die wichtigsten dieser Vorschläge, die auch für die Geschichte der italischen Schrift im Auge zu behalten vor. Interesse ist, sind die folgenden.

  1. Einführung eigener Zeichen für die Laute ξ φ χ. Dieser Vorschlag ist so alt, daß mit einziger Ausnahme desjenigen der Inseln Thera, Melos und Kreta alle griechischen und schlechterdings alle aus dem griechischen abgeleiteten Alphabete unter dem Einfluß desselben stehen. Ursprünglich ging er wohl dahin, die Zeichen Χ ξι, Φ φι, Ψ χι dem Alphabet am Schluß anzufügen, und in dieser Gestalt hat er auf dem Festland von Hellas mit Ausnahme von Athen und Korinth und ebenso bei den sizilischen und italischen Griechen Annahme gefunden. Die kleinasiatischen Griechen dagegen und die der Inseln des Archipels, ferner auf dem Festland die Korinther scheinen, als dieser Vorschlag zu ihnen gelangte, für den Laut ~i bereits das fünfzehnte Zeichen des phönikischen Alphabets (Samech) Ξ im Gebrauch gehabt zu haben; sie verwendeten deshalb von den drei neuen Zeichen zwar das Φ auch für φι, aber das Χ nicht für ξι sondern für χι. Das dritte, ursprünglich für χι erfundene Zeichen ließ man wohl meistenteils fallen; nur im kleinasiatischen Festland hielt man es fest, gab ihm aber den Wert ψι. Der kleinasiatischen Schreibweise folgte auch Athen, nur daß hier nicht bloß das ψι, sondern auch das ξι nicht angenommen, sondern dafür wie früher der Doppelkonsonant geschrieben ward.
  2. Ebenso früh, wenn nicht noch früher, hat man sich bemüht, die naheliegende Verwechslung der Formen für i und s zu verhüten; denn sämtliche uns bekannte griechische Alphabete tragen die Spuren des Bestrebens, beide Zeichen anders und schärfer zu unterscheiden. Aber schon in ältester Zeit müssen zwei Änderungsvorschläge gemacht sein, deren jeder seinen eigenen Verbreitungskreis gefunden hat: entweder man verwendete für den Sibilanten, wofür das phönikische Alphabet zwei Zeichen, das vierzehnte (M) für sch und das achtzehnte (Σ) für s, darbot, statt des letzteren, lautlich angemesseneren vielmehr jenes – und so schrieb man in älterer Zeit auf den östlichen Inseln, in Korinth und Kerkyra und bei den italischen Achäern – oder man ersetzte das Zeichen des i durch einfachen Strich І, was bei weitem das Gewöhnlichere war und in nicht allzu später Zeit wenigstens insofern allgemein ward, als das gebrochene i 5 überall verschwand, wenngleich einzelne Gemeinden das s in der Form M auch neben dem І festhielten.
  3. Jünger ist die Ersetzung des leicht mit Γ γ zu verwechselnden λ Λ durch V, der wir in Athen und Böotien begegnen, während Korinth und die von Korinth abhängigen Gemeinden denselben Zweck dadurch erreichten, daß sie dem γ statt der haken- die halbkreisförmige Gestalt C gaben.
  4. Die ebenfalls der Verwechslung sehr ausgesetzten Formen für ρ Ρ p p und r P wurden unterschieden durch Umgestaltung des letzteren in R; welche jüngere Form nur den kleinasiatischen Griechen, den Kretern, den italischen Achäern und wenigen anderen Landschaften fremd geblieben ist, dagegen sowohl in dem eigentlichen wie in Großgriechenland und Sizilien weit überwiegt. Doch ist die ältere Form des r p hier nicht so früh und so völlig verschwunden wie die ältere Form des l; diese Neuerung fällt daher ohne Zweifel später.

Die Differenzierung des langen und kurzen e und des langen und kurzen o ist in älterer Zeit beschränkt geblieben auf die Griechen Kleinasiens und der Inseln des Ägäischen Meeres.

Alle diese technischen Verbesserungen sind insofern gleicher Art und geschichtlich von gleichem Wert, als eine jede derselben zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Orte aufgekommen ist und sodann ihren eigenen Verbreitungsweg genommen und ihre besondere Entwicklung gefunden hat. Die vortreffliche Untersuchung A. Kirchhoffs (Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets. Gütersloh 1863), welche auf die bisher so dunkle Geschichte des hellenischen Alphabets ein helles Licht geworfen und auch für die ältesten Beziehungen zwischen Hellenen und Italikern wesentliche Daten ergeben, namentlich die bisher ungewisse Heimat des etruskischen Alphabets unwiderleglich festgestellt hat, leidet insofern an einer gewissen Einseitigkeit, als sie auf einen einzelnen dieser Vorschläge verhältnismäßig zu großes Gewicht legt. Wenn überhaupt hier Systeme geschieden werden sollen, darf man die Alphabete nicht nach der Geltung des X als ξ oder als χ in zwei Klassen teilen, sondern wird man das Alphabet von 23 und das von 25 oder 26 Buchstaben und etwa in dem letzteren noch das kleinasiatisch-ionische, aus dem das spätere Gemeinalphabet hervorgegangen ist, und das gemeingriechische der älteren Zeit zu unterscheiden haben. Es haben aber vielmehr im Alphabet die einzelnen Landschaften sich den verschiedenen Modifikationsvorschlägen gegenüber wesentlich eklektisch verhalten und ist der eine hier, der andere dort rezipiert worden. Eben insofern ist die Geschichte des griechischen Alphabets so lehrreich, als sie zeigt, wie in Handwerk und Kunst einzelne Gruppen der griechischen Landschaften die Neuerungen austauschten, andere in keinem solchen Wechselverhältnis standen. Was insbesondere Italien betrifft, so ist schon auf den merkwürdigen Gegensatz der achäischen Ackerstädte zu den chalkidischen und dorischen mehr kaufmännischen Kolonien aufmerksam gemacht worden; in jenen sind durchgängig die primitiven Formen festgehalten, in diesen die verbesserten Formen angenommen, selbst solche, die von verschiedenen Seiten kommend sich gewissermaßen widersprechen, wie das C Y neben dem V l. Die italischen Alphabete stammen, wie Kirchhoff gezeigt hat, durchaus von dem Alphabet der italischen Griechen und zwar von dem chalkidisch-dorischen her; daß aber die Etrusker und die Latiner nicht die einen von den andern, sondern beide unmittelbar von den Griechen das Alphabet empfingen, setzt besonders die verschiedene Form des r außer Zweifel. Denn während von den vier oben bezeichneten Modifikationen des Alphabets, die die italischen Griechen überhaupt angehen (die fünfte blieb auf Kleinasien beschränkt), die drei ersten bereits durchgeführt waren, bevor dasselbe auf die Etrusker und Latiner überging, war die Differenzierung von p und r noch nicht geschehen, als dasselbe nach Etrurien kam, dagegen wenigstens begonnen, als die Latiner es empfingen, weshalb für r die Etrusker die Form R gar nicht kennen, dagegen bei den Faliskern und den Latinern mit der einzigen Ausnahme des Dresselschen Tongefäßes ausschließlich die jüngere Form begegnet.

Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buchstabenschatzes auf die Empfänger machte und wie lebhaft sie die in diesen unscheinbaren Zeichen schlummernde Macht ahnten, beweist ein merkwürdiges Gefäß aus einer vor Erfindung des Bogens gebauten Grabkammer von Caere, worauf das altgriechische Musteralphabet, wie es nach Etrurien kam, und daneben ein daraus gebildetes etruskisches Syllabarium, jenem des Palamedes vergleichbar, verzeichnet ist – offenbar eine heilige Reliquie der Einführung und der Akklimatisierung der Buchstabenschrift in Etrurien.

Nicht minder wichtig als die Entlehnung des Alphabets ist für die Geschichte dessen weitere Entwicklung auf italischem Boden, ja vielleicht noch wichtiger; denn hierdurch fällt ein Lichtstrahl auf den italienischen Binnenverkehr, der noch weit mehr im Dunkeln liegt als der Verkehr an den Küsten mit den Fremden. In der ältesten Epoche der etruskischen Schrift, in der man sich im wesentlichen des eingeführten Alphabets unverändert bediente, scheint der Gebrauch desselben sich auf die Etrusker am Po und in der heutigen Toskana beschränkt zu haben; dieses Alphabet ist alsdann, offenbar von Atria und Spina aus, südlich an der Ostküste hinab bis in die Abruzzen, nördlich zu den Venetern und später sogar zu den Kelten an und in den Alpen, ja jenseits derselben gelangt, sodaß die letzten Ausläufer desselben bis nach Tirol und Steiermark reichen. Die jüngere Epoche geht aus von einer Reform des Alphabets, welche sich hauptsächlich erstreckt auf die Einführung abgesetzter Zeilenschrift, auf die Unterdrückung des o, das man im Sprechen vom u nicht mehr zu unterscheiden wußte, und auf die Einführung eines neuen Buchstabens f, wofür dem überlieferten Alphabet das entsprechende Zeichen mangelte. Diese Reform ist offenbar bei den westlichen Etruskern entstanden und hat, während sie jenseits des Apennin keinen Eingang fand, dagegen bei sämtlichen sabellischen Stämmen, zunächst bei den Umbrern sich eingebürgert; im weiteren Verlaufe sodann hat das Alphabet bei jedem einzelnen Stamm, den Etruskern am Arno und um Capua, den Umbrern und Samniten seine besonderen Schicksale erfahren, häufig die Mediae ganz oder zum Teil verloren, anderswo wieder neue Vokale und Konsonanten entwickelt. Jene westetruskische Reform des Alphabets aber ist nicht bloß so alt wie die ältesten in Etrurien gefundenen Gräber, sondern beträchtlich älter, da das erwähnte, wahrscheinlich in einem derselben gefundene Syllabarium das reformierte Alphabet bereits in einer wesentlich modifizierten und modernisierten Gestalt gibt; und da das reformierte selbst wieder, gegen das primitive gehalten, relativ jung ist, so versagt sich fast der Gedanke dem Zurückgehen in jene Zeit, wo dies Alphabet nach Italien gelangte.

Erscheinen sonach die Etrusker als die Verbreiter des Alphabets im Norden, Osten und Süden der Halbinsel, so hat sich dagegen das latinische Alphabet auf Latium beschränkt und hier im ganzen mit geringen Veränderungen sich behauptet; nur fielen γ κ und ζ ς allmählich lautlich zusammen, wovon die Folge war, daß je eins der homophonen Zeichen (κ ζ) aus der Schrift verschwand. In Rom waren diese nachweislich schon vor dem Ende des vierten Jahrhunderts der Stadt beseitigtDies ist die 1, 227 angeführte Inschrift der Spange von Praeneste. Dagegen hat selbst schon auf der ficoronischen Kiste c den späteren Wert von κ. kennt sie nicht. Wer nun erwägt, daß in den ältesten Abkürzungen der Unterschied von γ c und κ k noch regelmäßig durchgeführt wirdWenn dies richtig ist, so muß die Entstehung der Homerischen Gedichte, wenn auch natürlich nicht gerade die der uns vorliegenden Redaktion, weit vor die Zeit fallen, in welche Herodot die Blüte des Homeros setzt (100 vor Rom 850); denn die Einführung des hellenischen Alphabets in Italien gehört wie der Beginn des Verkehrs zwischen Hellas und Italien selbst erst der nachhomerischen Zeit an.. Für das hohe Alter der Schreibkunst in Rom sprechen auch sonst zahlreiche und deutliche Spuren. Die Existenz von Urkunden aus der Königszeit ist hinreichend beglaubigt: so des Sondervertrags zwischen Gabii und Rom, den ein König Tarquinius, und schwerlich der letzte dieses Namens, abschloß, und der, geschrieben auf das Fell des dabei geopferten Stiers, in dem an Altertümern reichen, wahrscheinlich dem gallischen Brande entgangenen Tempel des Sancus auf dem Quirinal aufbewahrt ward; des Bündnisses, das König Servius Tullius mit Latium abschloß und das noch Dionysios auf einer kupfernen Tafel im Dianatempel auf dem Aventin sah – freilich wohl in einer nach dem Brand mit Hilfe eines latinischen Exemplars hergestellten Kopie, denn daß man in der Königszeit schon in Metall grub, ist nicht wahrscheinlich. Auf den Stiftungsbrief dieses Tempels beziehen sich noch die Stiftungsbriefe der Kaiserzeit als auf die älteste derartige römische Urkunde und das gemeinschaftliche Muster für alle. Aber schon damals ritzte man (exarare, scribere verwandt mit scrobesEbenso altsächsisch writan eigentlich reißen, dann schreiben. ) oder malte (linere, daher littera) auf Blätter (folium), Bast (liber) oder Holztafeln (tabula, albuni), später auch auf Leder und Leinen. Auf leinene Rollen waren die heiligen Urkunden der Samniten wie der anagninischen Priesterschaft geschrieben, ebenso die ältesten, im Tempel der Göttin der Erinnerung (Iuno moneta) auf dem Kapitol bewahrten Verzeichnisse der römischen Magistrate. Es wird kaum noch nötig sein, zu erinnern an das uralte Marken des Hutviehs (scriptura), an die Anrede im Senat „Väter und Eingeschriebene“ (patres conscripti), an das hohe Alter der Orakelbücher, der Geschlechtsregister, des albanischen und des römischen Kalenders. Wenn die römische Sage schon in der frühesten Zeit der Republik von Hallen am Markte spricht, in denen die Knaben und Mädchen der Vornehmen lesen und schreiben lernten, so kann das, aber muß nicht notwendig erfunden sein. Nicht die Unkunde der Schrift, vielleicht nicht einmal der Mangel an Dokumenten hat uns die Kunde der ältesten römischen Geschichte entzogen, sondern die Unfähigkeit der Historiker derjenigen Zeit, die zur Geschichtsforschung berufen war, die archivalischen Nachrichten zu verarbeiten, und ihre Verkehrtheit, für die älteste Epoche Schilderung von Motiven und Charakteren, Schlachtberichte und Revolutionserzählungen zu begehren und über deren Erfindung zu vernachlässigen, was die vorhandene schriftliche Überlieferung dem ernsten und entsagenden Forscher nicht verweigert haben würde.

Die Geschichte der italischen Schrift bestätigt also zunächst die schwache und mittelbare Einwirkung des hellenischen Wesens auf die Sabeller im Gegensatz zu den westlicheren Völkern. Daß jene das Alphabet von den Etruskern, nicht von den Römern empfingen, erklärt sich wahrscheinlich daraus, daß sie das Alphabet schon besaßen, als sie den Zug auf den Rücken des Apennin antraten, die Sabiner wie die Samniten also dasselbe schon vor ihrer Entlassung aus dem Mutterlande in ihre neuen Sitze mitbrachten. Andererseits enthält diese Geschichte der Schrift eine heilsame Warnung gegen die Annahme, welche die spätere, der etruskischen Mystik und Altertumströdelei ergebene römische Bildung aufgebracht hat und welche die neuere und neueste Forschung geduldig wiederholt, daß die römische Zivilisation ihren Keim und ihren Kern aus Etrurien entlehnt habe. Wäre dies wahr, so müßte hier vor allem eine Spur sich davon zeigen; aber gerade umgekehrt ist der Keim der latinischen Schreibkunst griechisch, ihre Entwicklung so national, daß sie nicht einmal das so wünschenswerte etruskische Zeichen für f sich angeeignet hatDas Rätsel, wie die Latiner dazu gekommen sind, das griechische dem v entsprechende Zeichen für das lautlich ganz verschiedene f zu verwenden, hat die Spange von Praeneste gelöst mit ihrem fhefhaked für fecit und damit zugleich die Herleitung des lateinischen Alphabets von den chalkidischen Kolonien Unteritaliens bestätigt. Denn in einer, demselben Alphabet angehörigen böotischen Inschrift findet sich in dem Worte fhekadamoe (Gustav Meyer, Griechische Grammatik, § 244 a. E.) dieselbe Lautverbindung, und ein aspiriertes v mochte allerdings dem lateinischen f lautlich sich nähern.. Ja wo Entlehnung sich zeigt, in den Zahlzeichen, sind es vielmehr die Etrusker, die von den Römern wenigstens das Zeichen für 50 übernommen haben.

Endlich ist es charakteristisch, daß in allen italischen Stämmen die Entwicklung des griechischen Alphabets zunächst in einer Verderbung desselben besteht. So sind die Mediae in den sämtlichen etruskischen Dialekten untergegangen, während die Umbrer γ d, die Samniten d, die Römer γ einbüßten und diesen auch d mit r zu verschmelzen drohte. Ebenso fielen den Etruskern schon früh o und u zusammen, und auch bei den Lateinern finden sich Ansätze derselben Verderbnis. Fast das Umgekehrte zeigt sich bei den Sibilanten; denn während der Etrusker die drei Zeichen z s sch festhält, der Umbrer zwar das letzte wegwirft, aber dafür zwei neue Sibilanten entwickelt, beschränkt sich der Samnite und der Falisker auf s und z gleich dem Griechen, der spätere Römer sogar auf s allein. Man sieht, die feineren Lautverschiedenheiten wurden von den Einführern des Alphabets, gebildeten und zweier Sprachen mächtigen Leuten, wohl empfunden; aber nach der völligen Lösung der nationalen Schrift von dem hellenischen Mutteralphabet fielen allmählich die Mediae und ihre Tenues zusammen und wurden die Sibilanten und Vokale zerrüttet, von welchen Lautverschiebungen oder vielmehr Lautzerstörungen namentlich die erste ganz ungriechisch ist. Die Zerstörung der Flexions- und Derivationsformen geht mit dieser Lautzerrüttung Hand in Hand. Die Ursache dieser Barbarisierung ist also im allgemeinen keine andere als die notwendige Verderbnis, welche an jeder Sprache fortwährend zehrt, wo ihr nicht literarisch und rationell ein Damm entgegengesetzt wird; nur daß von dem, was sonst spurlos vorübergeht, hier in der Lautschrift sich Spuren bewahrten. Daß diese Barbarisierung die Etrusker in stärkerem Maße erfaßte als irgendeinen der italischen Stämme, stellt sich zu den zahlreichen Beweisen ihrer minderen Kulturfähigkeit; wenn dagegen, wie es scheint, unter den Italikern am stärksten die Umbrer, weniger die Römer, am wenigsten die südlichen Sabeller von der gleichen Sprachverderbnis ergriffen wurden, so wird der regere Verkehr dort mit den Etruskern, hier mit den Griechen wenigstens mit zu dieser Erscheinung beigetragen haben.

15. Kapitel


15. Kapitel

Die Kunst

Dichtung ist leidenschaftliche Rede, deren bewegter Klang die Weise; insofern ist kein Volk ohne Poesie und Musik. Allein zu den poetisch vorzugsweise begabten Nationen gehörte und gehört die italienische nicht; es fehlt dem Italiener die Leidenschaft des Herzens, die Sehnsucht, das Menschliche zu idealisieren und das Leblose zu vermenschlichen, und damit das Allerheiligste der Dichtkunst. Seinem scharfen Blick, seiner anmutigen Gewandtheit gelingen vortrefflich die Ironie und der Novellenton, wie wir sie bei Horaz und bei Boccaccio finden, der launige Liebes- und Liederscherz, wie Catullus und die guten neapolitanischen Volkslieder ihn zeigen, vor allem die niedere Komödie und die Posse. Auf italischem Boden entstand in alter Zeit die parodische Tragödie, in neuer das parodische Heldengedicht. In der Rhetorik und Schauspielkunst vor allem tat und tut es den Italienern keine andere Nation gleich. Aber in den vollkommenen Kunstgattungen haben sie es nicht leicht über Fertigkeiten gebracht, und keine ihrer Literaturepochen hat ein wahres Epos und ein echtes Drama erzeugt. Auch die höchsten in Italien gelungenen literarischen Leistungen, göttliche Gedichte wie Dantes Commedia und Geschichtbücher wie Sallustius und Macchiavelli, Tacitus und Colletta sind doch von einer mehr rhetorischen als naiven Leidenschaft getragen. Selbst in der Musik ist in alter wie in neuer Zeit das eigentlich schöpferische Talent weit weniger hervorgetreten als die Fertigkeit, die rasch zur Virtuosität sich steigert und an der Stelle der echten und innigen Kunst ein hohles und herzvertrocknendes Idol auf den Thron hebt. Es ist nicht das innerliche Gebiet, insoweit in der Kunst überhaupt ein Innerliches und ein Äußerliches unterschieden werden kann, das dem Italiener als eigene Provinz anheimgefallen ist; die Macht der Schönheit muß, um voll auf ihn zu wirken, nicht im Ideal vor seine Seele, sondern sinnlich ihm vor die Augen gerückt werden. Darum ist er denn auch in den bauenden und bildenden Künsten recht eigentlich zu Hause und darin in der alten Kulturepoche der beste Schüler des Hellenen, in der neuen der Meister aller Nationen geworden.

Es ist bei der Lückenhaftigkeit unserer Überlieferung nicht möglich, die Entwicklung der künstlerischen Ideen bei den einzelnen Völkergruppen Italiens zu verfolgen; und namentlich läßt sich nicht mehr von der italischen Poesie reden, sondern nur von der Poesie Latiums. Die latinische Dichtkunst ist wie jede andere ausgegangen von der Lyrik oder vielmehr von dem ursprünglichen Festjubel, in welchem Tanz, Spiel und Lied noch in ungetrennter Einheit sich durchdringen. Es ist dabei bemerkenswert, daß in den ältesten Religionsgebräuchen der Tanz und demnächst das Spiel weit entschiedener hervortreten als das Lied. In dem großen Feierzug, mit dem das römische Siegesfest eröffnet ward, spielten nächst den Götterbildern und den Kämpfern die vornehmste Rolle die ernsten und die lustigen Tänzer: jene geordnet in drei Gruppen, der Männer, der Jünglinge und der Knaben, alle in roten Röcken mit kupfernem Leibgurt, mit Schwertern und kurzen Lanzen, die Männer überdies behelmt, überhaupt in vollem Waffenschmuck; diese in zwei Scharen geteilt, der Schafe in Schafpelzen mit buntem Überwurf, der Böcke nackt bis auf den Schurz mit einem Ziegenfell als Umwurf. Ebenso waren vielleicht die älteste und heiligste von allen Priesterschaften die „Springer“ und durften die Tänzer (ludii, ludiones) überhaupt bei keinem öffentlichen Aufzug und namentlich bei keiner Leichenfeier fehlen, weshalb denn der Tanz schon in alter Zeit ein gewöhnliches Gewerbe ward. Wo aber die Tänzer erscheinen, da stellen auch die Spielleute oder, was in ältester Zeit dasselbe ist, die Flötenbläser sich ein. Auch sie fehlen bei keinem Opfer, bei keiner Hochzeit und bei keinem Begräbnis, und neben der uralten öffentlichen Priesterschaft der Springer steht gleich alt, obwohl im Range bei weitem niedriger, die Pfeifergilde (collegium tibicinum, 1, 205), deren echte Musikantenart bezeugt wird durch das alte und selbst der strengen römischen Polizei zum Trotz behauptete Vorrecht, an ihrem Jahresfest maskiert und süßen Weines voll auf den Straßen sich herumzutreiben. Wenn also der Tanz als ehrenvolle Verrichtung, das Spiel als untergeordnete, aber notwendige Tätigkeit auftritt und darum öffentliche Genossenschaften für beide bestellt sind, so erscheint die Dichtung mehr als ein Zufälliges und gewissermaßen Gleichgültiges, mochte sie nun für sich entstehen oder dem Tänzer zur Begleitung seiner Sprünge dienen.

Den Römern galt als das älteste dasjenige Lied, das in der grünen Waldeseinsamkeit die Blätter sich selber singen. Was der „günstige Geist“ (faunus, von favere) im Haine flüstert und flötet, das verkünden die, denen es gegeben ist, ihm zu lauschen, den Menschen wieder in rhythmisch gemessener Rede (casmen, später carmen, von canere). Diesen weissagenden Gesängen der vom Gott ergriffenen Männer und Frauen (vates) verwandt sind die eigentlichen Zaubersprüche, die Besprechungsformeln gegen Krankheiten und anderes Ungemach und die bösen Lieder, durch welche man dem Regen wehrt und den Blitz herabruft oder auch die Saat von einem Feld auf das andere lockt; nur daß in diesen wohl von Haus aus neben den Wort- auch reine Klangformeln erscheinenSo gibt der ältere Cato (agr. 160) als kräftig gegen Verrenkungen den Spruch: hauat hauat hauat ista pista sista damia bodannaustra, der vermutlich seinem Erfinder ebenso dunkel war, wie er es uns ist. Natürlich finden sich daneben auch Wortformeln; so z. B. hilft es gegen Gicht, wenn man nüchtern eines andern gedenkt und dreimal neunmal, die Erde berührend und ausspuckend, die Worte spricht: „Ich denke dein, hilf meinen Füßen. Die Erde empfange das Unheil, Gesundheit sei mein Teil“ (terra pestem teneto, salus hic maneto. Varro rust. 1, 2, 27).. Fester überliefert und gleich uralt sind die religiösen Litaneien, wie die Springer und andere Priesterschaften sie sangen und tanzten und von denen die einzige bis auf uns gekommene, ein wahrscheinlich als Wechselgesang gedichtetes Tanzlied der Ackerbrüder zum Preise des Mars, wohl auch hier eine Stelle verdient:

Enos, Lases, iuvate!
Ne velue rue, Marmar, sins incurrere in pleores!
Satur fu, fere Mars! Timen sali! sta! berber!
Semunis alternei advocapit conctos!
Enos, Marmar, invato!
Triumpe!
Nos, Lares, iuvate! Ne veluem (= malam luem) ruem (= ruinam), Mamers, sinas incurrere in plures! Satur esto, fere Mars! In limen insili! sta! verbera (limen?)! Semones alterni advocate cunctos! Nos, Mamers, iuvato! Tripudia! Die ersten fünf Zeilen werden je dreimal, der Schlußruf fünfmal wiederholt. Die Übersetzung ist vielfach unsicher, besonders der dritten Zeile.

Die drei Inschriften des Tongefäßes vom Quirinal lauten: ioue sat deiuosqoi med mitat nei ted endo gosmis uirgo sied – asted noisi ope toitesiai pakariuois – duenos med feked (= onus me fecit) enmanom einom dze noine (wahrscheinlich = die noni) med malo statod. Sicher verständlich sind nur einzelne Wörter; bemerkenswert vor allem, daß Formen, die wir bisher nur als umbrische und oskische kannten, wie das Adjektiv pacer und die Partikel einom im Wert von et, hier wahrscheinlich doch als altlateinische uns entgegentreten.

 

Uns, Laren, helfet!

an die Götter

Nicht Sterben und Verderben, Mars, Mars,

 

laß einstürmen auf mehrere.

 

Satt sei, grauser Mars!

an die einzelnen

Auf die Schwelle springe! stehe! tritt sie!

Brüder

 

an alle

 

Brüder

Den Semonen, erst ihr, dann ihr, rufet zu, allen

an den Gott

Uns, Mars, Mars, hilf!

an die einzelnen

Springe!

Brüder

 

 

Das Latein dieses Liedes und der verwandten Bruchstücke der Baliarischen Gesänge, welche schon den Philologen der augustischen Zeit als die ältesten Urkunden ihrer Muttersprache galten, verhält sich zu dem Latein der Zwölf Tafeln etwa wie die Sprache der Nibelungen zu der Sprache Luthers; und wohl dürfen wir der Sprache wie dem Inhalt nach diese ehrwürdigen Litaneien den indischen Veden vergleichen.

Schon einer jüngeren Epoche gehören die Lob- und Schimpflieder an. Daß es in Latium der Spottlieder schon in alten Zeiten im Überfluß gab, würde sich aus dem Volkscharakter der Italiener abnehmen lassen, auch wenn nicht die sehr alten polizeilichen Maßnahmen dagegen es ausdrücklich bezeugten. Wichtiger aber wurden die Lobgesänge. Wenn ein Bürger zur Bestattung weggetragen ward, so folgte der Bahre eine ihm anverwandte oder befreundete Frau und sang ihm unter Begleitung eines Flötenspielers das Leichenlied (nenia). Desgleichen wurden bei dem Gastmahl von den Knaben, die nach der damaligen Sitte die Väter auch zum Schmaus außer dem eigenen Hause begleiteten, Lieder zum Lobe der Ahnen abwechselnd bald ebenfalls zur Flöte gesungen, bald auch ohne Begleitung bloß gesagt (assa voce canere). Daß auch die Männer bei dem Gastmahl der Reihe nach sangen, ist wohl erst spätere vermutlich den Griechen entlehnte Sitte. Genaueres wissen wir von diesen Ahnenliedern nicht; aber es versteht sich, daß sie schilderten und erzählten und insofern neben und aus dem lyrischen Moment der Poesie das epische entwickelten.

Andere Elemente der Poesie waren tätig in dem uralten, ohne Zweifel über die Scheidung der Stämme zurückreichenden Volkskarneval, dem lustigen Tanz oder der Satura (I, 44). Der Gesang wird dabei nie gefehlt haben; es lag aber in den Verhältnissen, daß bei diesen vorzugsweise an Gemeindefesten und den Hochzeiten aufgeführten und gewiß vorwiegend praktischen Späßen leicht mehrere Tänzer oder auch mehrere Tänzerscharen ineinander griffen und der Gesang eine gewisse Handlung in sich aufnahm, welche natürlich überwiegend einen scherzhaften und oft einen ausgelassenen Charakter trug. So entstanden hier nicht bloß die Wechsellieder, wie sie später unter dem Namen der fescenninischen Gesänge auftreten, sondern auch die Elemente einer volkstümlichen Komödie, die bei dem scharfen Sinn der Italiener für das Äußerliche und das Komische und bei ihrem Behagen an Gestenspiel und Verkleidung auf einen vortrefflich geeigneten Boden gepflanzt war.

Erhalten ist nichts von diesen Inkunabeln des römischen Epos und Drama. Daß die Ahnenlieder traditionell waren, versteht sich von selbst und wird zum Überfluß dadurch bewiesen, daß sie regelmäßig von Kindern vorgetragen wurden; aber schon zu des älteren Cato Zeit waren dieselben vollständig verschollen. Die Komödien aber, wenn man den Namen gestatten will, sind in dieser Epoche und noch lange nachher durchaus improvisiert worden. Somit konnte von dieser Volkspoesie und Volksmelodie nichts fortgepflanzt werden als das Maß, die musikalische und chorische Begleitung und vielleicht die Masken.

Ob es in ältester Zeit das gab, was wir Versmaß nennen, ist zweifelhaft; die Litanei der Arvalbrüder fügt sich schwerlich einem äußerlich fixierten metrischen Schema und erscheint uns mehr als eine bewegte Rezitation. Dagegen begegnet in späterer Zeit eine uralte Weise, das sogenannte saturnischeDer Name bezeichnet wohl nichts als das „Liedermaß“, insofern die sătura ursprünglich das beim Karneval gesungene Lied ist. Von demselben Stamm ist auch der Säegott Saeturnus oder Saiturnus, später Sāturnus benannt; sein Fest, die Saturnalien, ist allerdings eine Art Karneval, und es ist möglich, daß die Possen ursprünglich vorzugsweise an diesem aufgeführt wurden. Aber Beweise einer Beziehung der Satura zu den Saturnauen fehlen, und vermutlich gehört die unmittelbare Verknüpfung des versus sāturnius mit dem Gott Saturnus und die damit zusammenhängende Dehnung der ersten Silbe erst der späteren Zeit an. oder faunische Maß, welches den Griechen fremd ist und vermutlich gleichzeitig mit der ältesten latinischen Volkspoesie entstand. Das folgende, freilich einer weit späteren Zeit angehörende Gedicht mag von demselben eine Vorstellung geben.

Quod ré suá difeídens – ásperé afleícta
Paréns timéns heíc vóvit – vóto hóc soúto
Decumá factá poloúcta – leíbereís lubéntes
Donú danúnt –
Hércolei – m áxsumé – méreto
Semól te oránt se vóti – crébro cóndémnes

Was, Mißgeschick befürchtend – schwer betroffnem Wohlstand,
Sorgvoll der Ahn gelobt hier, – des Gelöbnis eintraf,
Zu Weih‘ und Schmaus den Zehnten – bringen gern die Kinder
Dem Hercoles zur Gabe – dar, dem hochverdienten;
Sie flehn zugleich dich an, daß – oft du sie erhörest.

In saturnischer Weise scheinen die Lob- wie die Scherzlieder gleichmäßig gesungen worden zu sein, zur Flöte natürlich und vermutlich so, daß namentlich der Einschnitt in jeder Zeile scharf angegeben ward, bei Wechselliedern hier auch wohl der zweite Sänger den Vers aufnahm. Es ist die saturnische Messung, wie jede andere im römischen und griechischen Altertum vorkommende, quantitativer Art, aber wohl unter allen antiken Versmaßen sowohl das am mindesten durchgebildete, da es außer anderen mannigfaltigen Lizenzen sich die Weglassung der Senkungen im weitesten Umfang gestattet, als auch das der Anlage nach unvollkommenste, indem diese einander entgegengesetzten iambischen und trochäischen Halbzeilen wenig geeignet sind, einen für höhere poetische Leistungen genügenden rhythmischen Bau zu entwickeln.

Die Grundelemente der volkstümlichen Musik und Choreutik Latiums, die ebenfalls in dieser Zeit sich festgestellt haben müssen, sind für uns verschollen; außer daß uns von der latinischen Flöte berichtet wird als einem kurzen und dünnen, nur mit vier Löchern versehenen, ursprünglich, wie der Name zeigt, aus einem leichten Tierschenkelknochen verfertigten musikalischen Instrument.

Daß endlich die späteren stehenden Charaktermasken der latinischen Volkskomödie oder der sogenannten Atellane: Maccus der Harlekin, Bucco der Vielfraß, Pappus der gute Papa, der weise Dossennus – Masken, die man so artig wie schlagend mit den beiden Bedienten, dem Pantalon und dem Dottore der italienischen Pulcinellkomödie verglichen hat –, daß diese Masken bereits der ältesten latinischen Volkskunst angehören, läßt sich natürlich nicht eigentlich beweisen; da aber der Gebrauch der Gesichtsmasken in Latium für die Volksbühne von unvordenklichem Alter ist, während die griechische Bühne in Rom erst ein Jahrhundert nach ihrer Begründung dergleichen Masken an nahm, da jene Atellanenmasken ferner entschieden italischen Ursprungs sind und da endlich die Entstehung wie die Durchführung improvisierter Kunstspiele ohne feste, dem Spieler seine Stellung im Stück ein für allemal zuweisende Masken nicht wohl denkbar ist, so wird man die festen Masken an die Anfänge des römischen Schauspiels anknüpfen oder vielmehr sie als diese Anfänge selbst betrachten dürfen.

Wenn unsere Kunde über die älteste einheimische Bildung und Kunst von Latium spärlich fließt, so ist es begreiflich, daß wir noch weniger wissen über die frühesten Anregungen, die hier den Römern von außen her zuteil wurden. In gewissem Sinn kann schon die Kunde der ausländischen, namentlich der griechischen Sprache hierher gezählt werden, welche letztere den Latinern natürlich im allgemeinen fremd war, wie dies schon die Anordnung hinsichtlich der Sibyllinischen Orakel beweist, aber doch unter den Kaufleuten nicht gerade selten gewesen sein kann; und dasselbe wird zu sagen sein von der eng mit der Kunde des Griechischen zusammenhängenden Kenntnis des Lesens und Schreibens. Indes die Bildung der antiken Welt ruhte weder auf der Kunde fremder Sprachen noch auf elementaren technischen Fertigkeiten; wichtiger als jene Mitteilungen wurden für die Entwicklung Latiums die musischen Elemente, die sie bereits in frühester Zeit von den Hellenen empfingen. Denn lediglich die Hellenen und weder Phöniker noch Etrusker sind es gewesen, welche in dieser Beziehung eine Einwirkung auf die Italiker übten; nirgends begegnet bei den letzteren eine musische Anregung, die auf Karthago oder Caere zurückwiese, und es darf wohl überhaupt die phönikische wie die etruskische den Bastard- und darum auch nicht weiterzeugenden Formen der Zivilisation zugezählt werdenDen Gebrauch der Leier im Ritual bezeugen Cic. De orat. 3, 51,197; Cic. Tusc. 4, 2, 4; Dion. Hal. 7, 72; App. Pun. 66 und die Inschrift Orelli 2448, vgl. 1803. Ebenso ward sie bei den Nenien angewandt (Varro bei Nonius unter nenia und praeficae). Aber das Leierspiel blieb darum nicht weniger unschicklich (Scipio bei Macr. Sat. 2, 10 und sonst); von dem Verbot der Musik im Jahre 639 wurden nur der „latinische Flötenspieler samt dem Sängern, nicht der Saitenspieler ausgenommen, und die Gäste bei dem Mahle sangen nur zur Flöte (Cato bei Cic. Tusc. 1, 2, 3; 4, 2, 3; Varro bei Nonius unter assa voce; Hor. carm. 4, 15, 30). Quintilian, der das Gegenteil sagt (inst. 1, 10, 20), hat, was Cicero (De orat. 3, 51) von den Götterschmäusen erzählt, ungenau auf Privatgastmähler übertragen.. Daß von dem Sagenschatz der Griechen bereits in dieser Zeit nach Latium floß, zeigt schon die bereitwillige Aufnahme der griechischen Bildwerke mit ihren durchaus auf dem poetischen Schaue der Nation ruhenden Darstellungen; und auch die altlatinischen Barbarisierungen der Persephone in Prosepna, des Bellerophontes in Melerpanta, des Kyklops in Codes, des Laomedon in Alumentus, des Ganymedes in Catamitus, des Neilos in Melus, der Semele in Stimula lassen erkennen, in wie ferner Zeit schon solche Erzählungen von Latinern vernommen und wiederholt worden sind. Endlich aber und vor allem kann das römische Haupt- und Stadtfest (ludi maximi, Romani) wo nicht seine Entstehung, doch seine spätere Einrichtung nicht wohl anders als unter griechischem Einfluß erhalten haben. Es ward als außerordentliche Dankfeier, regelmäßig auf Grund eines von dem Feldherrn vor der Schlacht getanen Gelübdes und darum gewöhnlich bei der Heimkehr der Bürgerwehr im Herbst, dem kapitolinischen Jupiter und den mit ihm zusammen hausenden Göttern ausgerichtet. Im Festzuge begab man sich nach dem zwischen Palatin und Aventin abgesteckten und mit einer Arena und Zuschauerplätzen versehenen Rennplatz: voran die ganze Knabenschaft Roms, geordnet nach den Abteilungen der Bürgerwehr zu Pferde und zu Fuß; sodann die Kämpfer und die früher beschriebenen Tänzergruppen, jede mit der ihr eigenen Musik; hierauf die Diener der Götter mit den Weihrauchfässern und dem anderen heiligen Gerät; endlich die Bahren mit den Götterbildern selbst. Das Schaufest selbst war das Abbild des Krieges, wie er in ältester Zeit gewesen, der Kampf zu Wagen, zu Roß und zu Fuß. Zuerst liefen die Streitwagen, deren jeder nach homerischer Art einen Wagenlenker und einen Kämpfer trug, darauf die abgesprungenen Kämpfer, alsdann die Reiter, deren jeder nach römischer Fechtart mit einem Reit- und einem Handpferd erschien (desultor); endlich maßen die Kämpfer zu Fuß, nackt bis auf einen Gürtel um die Hüften, sich miteinander im Wettlauf, im Ringen und im Faustkampf. In jeder Gattung der Wettkämpfe ward nur einmal und zwischen nicht mehr als zwei Kämpfern gestritten. Den Sieger lohnte der Kranz, und wie man den schlichten Zweig in Ehren hielt, beweist die gesetzliche Gestattung, ihm denselben, wenn er starb, auf die Bahre zu legen. Das Fest dauerte also nur einen Tag, und wahrscheinlich ließen die Wettkämpfe an diesem selbst noch Zeit genug für den eigentlichen Karneval, wobei denn die Tänzergruppen ihre Kunst und vor allem ihre Possen entfaltet haben mögen und wohl auch andere Darstellungen, zum Beispiel Kampfspiele der Knabenreiterei, ihren Platz fandenDas Stadtfest kann ursprünglich nur einen Tag gewährt haben, da es noch im sechsten Jahrhundert aus vier Tagen szenischer und einem Tag circensischer Spiele bestand (F. W. Ritschl, Parerga zu Plautus und Terentius. Leipzig 1845. Bd. 1, S. 313) und notorisch die szenischen Spiele erst später hinzugekommen sind. Daß in jeder Kampfgattung ursprünglich nur einmal gestritten ward, folgt aus Liv. 44, 9; wenn später an einem Spieltag bis zu fünfundzwanzig Wagenpaare nacheinander liefen (Varro bei Serv. georg. 3, 18), so ist das Neuerung. Daß nur zwei Wagen und ebenso ohne Zweifel nur zwei Reiter und zwei Ringer um den Preis stritten, folgt daraus, daß zu allen Zeiten in den römischen Wagenrennen nur so viel Wagen zugleich liefen, als es sogenannte Faktionen gab und dieser ursprünglich nur zwei waren, die weiße und die rote. Das zu den circensischen gehörende Reiterspiel der patrizischen Epheben, die sogenannte Troia, ward bekanntlich von Caesar wieder ins Leben gerufen; ohne Zweifel knüpfte es an den Aufzug der Knabenbürgerwehr zu Pferde, dessen Dionys (7, 72) gedenkt. . Auch die im ernsten Kriege gewonnenen Ehren spielten bei diesem Feste eine Rolle; der tapfere Streiter stellte an diesem Tage die Rüstungen der erschlagenen Gegner aus und trug ebenso wie der Sieger im Wettspiel den Kranz, mit dem die dankbare Gemeinde ihn geschmückt hatte.

Solcher Art war das römische Sieges- oder Stadtfest, und auch die übrigen öffentlichen Festlichkeiten Roms werden wir uns ähnlich, wenn auch in den Mitteln beschränkter vorzustellen haben. Bei der öffentlichen Leichenfeier traten regelmäßig Tänzer und daneben, wenn mehr geschehen sollte, noch Wettreiter auf, wo dann die Bürgerschaft durch den öffentlichen Ausrufer vorher besonders zu dem Begräbnis eingeladen ward.

Aber dieses mit den Sitten und den Übungen Roms so eng verwachsene Stadtfest trifft mit den hellenischen Volksfesten wesentlich zusammen: so vor allem in dem Grundgedanken der Vereinigung einer religiösen Feier und eines kriegerischen Wettkampfs; in der Auswahl der einzelnen Übungen, die bei dem Fest von Olympia nach Pindaros‘ Zeugnis von Haus aus im Laufen, Ringen, Faustkampf, Wagenrennen, Speer- und Steinwerfen bestanden; in der Beschaffenheit des Siegespreises, der in Rom so gut wie bei den griechischen Nationalfesten ein Kranz ist und dort wie hier nicht dem Lenker, sondern dem Besitzer des Gespannes zuteil wird; endlich in dem Hineinziehen allgemein patriotischer Taten und Belohnungen in das allgemeine Volksfest. Zufällig kann diese Übereinstimmung nicht sein, sondern nur entweder ein Rest uralter Volksgemeinschaft oder eine Folge des ältesten internationalen Verkehrs; für die letztere Annahme spricht die überwiegende Wahrscheinlichkeit. Das Stadtfest in der Gestalt, wie wir es kennen, ist keine der ältesten Einrichtungen Roms, da der Spielplatz selbst erst zu den Anlagen der späteren Königszeit gehört (I, 123); und so gut wie die Verfassungsreform damals unter griechischem Einfluß erfolgt ist (I, 109), kann gleichzeitig im Stadtfest eine ältere Belustigungsweise – der „Sprung“ (triumpus, 1, 44) und etwa das in Italien uralte und bei dem Fest auf dem Albaner Berg noch lange in Übung gebliebene Schaukeln – mit den griechischen Rennen verbunden und bis zu einem gewissen Grade durch dieselben verdrängt worden sein. Es ist ferner von dem ernstlichen Gebrauch der Streitwagen wohl in Hellas, aber nicht in Latium eine Spur vorhanden. Endlich ist das griechische Stadion (dorisch σπάδιον) als spatium mit der gleichen Bedeutung in sehr früher Zeit in die lateinische Sprache übergegangen und liegt sogar ein ausdrückliches Zeugnis dafür vor, daß die Römer die Pferde- und Wagenrennen von den Thurinern entlehnten, wogegen freilich eine andere Angabe sie aus Etrurien herleitet. Demnach scheinen die Römer außer den musikalischen und poetischen Anregungen auch den fruchtbaren Gedanken des gymnastischen Wettstreits den Hellenen zu verdanken.

Es waren also in Latium nicht bloß dieselben Grundlagen vorhanden, aus denen die hellenische Bildung und Kunst erwuchs, sondern es hat auch diese selbst in frühester Zeit mächtig auf Latium gewirkt. Die Elemente der Gymnastik besaßen die Latiner nicht bloß insofern, als der römische Knabe wie jeder Bauernsohn Pferde und Wagen regieren und den Jagdspieß führen lernte und als in Rom jeder Gemeindebürger zugleich Soldat war; sondern es genoß die Tanzkunst von jeher öffentlicher Pflege, und früh trat mit den hellenischen Wettkämpfen eine gewaltige Anregung hinzu. In der Poesie war die hellenische Lyrik und Tragödie aus ähnlichen Gesängen erwachsen, wie das römische Festlied sie darbot, enthielt das Ahnenlied die Keime des Epos, die Maskenposse die Keime der Komödie; und auch hier mangelte griechische Einwirkung nicht.

Um so merkwürdiger ist es, daß alle diese Samenkörner nicht aufgingen oder verkümmerten. Die körperliche Erziehung der latinischen Jugend blieb derb und tüchtig, aber fern von dem Gedanken einer künstlerischen Ausbildung des Körpers, wie die hellenische Gymnastik sie verfolgte. Die öffentlichen Wettkämpfe der Hellenen veränderten in Italien nicht gerade ihre Satzungen, aber ihr Wesen. Während sie Wettkämpfe der Bürger sein sollten und ohne Zweifel anfangs auch in Rom waren, wurden sie Wettkämpfe von Kunstreitern und Kunstfechtern; und wenn der Beweis freier und hellenischer Abstammung die erste Bedingung der Teilnahme an den griechischen Festspielen war, so kamen die römischen bald in die Hände von freigelassenen und fremden, ja selbst von unfreien Leuten. Folgeweise verwandelte sich der Umstand der Mitstreiter in ein Zuschauerpublikum, und von dem Kranz des Wettsiegers, den man mit Recht das Wahrzeichen von Hellas genannt hat, ist in Latium späterhin kaum die Rede.

Ähnlich erging es der Poesie und ihren Schwestern. Nur die Griechen und die Deutschen besitzen den freiwillig hervorsprudelnden Liederquell; aus der goldenen Schale der Musen sind auf Italiens grünen Boden eben nur wenige Tropfen gefallen. Zur eigentlichen Sagenbildung kam es nicht. Die italischen Götter sind Abstraktionen gewesen und geblieben und haben nie zu rechter persönlicher Gestaltung sich gesteigert oder, wenn man will, verdunkelt. Ebenso sind die Menschen, auch die größten und herrlichsten, dem Italiker ohne Ausnahme Sterbliche geblieben und wurden nicht wie in Griechenland in sehnsüchtiger Erinnerung und liebevoll gepflegter Überlieferung in der Vorstellung der Menge zu göttergleichen Heroen erhoben. Vor allem aber kam es in Latium nicht zur Entwicklung einer Nationalpoesie. Es ist die tiefste und herrlichste Wirkung der musischen Künste und vor allem der Poesie, daß sie die Schranken der bürgerlichen Gemeinden sprengen und aus den Stämmen ein Volk, aus den Völkern eine Welt erschaffen. Wie heutzutage in unserer und durch unsere Weltliteratur die Gegensätze der zivilisierten Nationen aufgehoben sind, so hat die griechische Dichtkunst das dürftige und egoistische Stammgefühl zum hellenischen Volksbewußtsein und dieses zum Humanismus umgewandelt. Aber in Latium trat nichts Ähnliches ein; es mochte Dichter in Alba und in Rom geben, aber es entstand kein latinisches Epos, nicht einmal, was eher noch denkbar wäre, ein latinischer Bauernkatechismus von der Art wie die Hesiodischen ‚Werke und Tage‘. Es konnte wohl das latinische Bundesfest ein musisches Nationalfest werden wie die Olympien und Isthmien der Griechen. Es konnte wohl an Albas Fall ein Sagenkreis anknüpfen, wie er um Ilions Eroberung sich spann, und jede Gemeinde und jedes edle Geschlecht Latiums seine eigenen Anfänge darin wiederfinden oder hineinlegen. Aber weder das eine noch das andere geschah und Italien blieb ohne nationale Poesie und Kunst.

Was hieraus mit Notwendigkeit folgt, daß die Entwicklung der musischen Künste in Latium mehr ein Eintrocknen als ein Aufblühen war, das bestätigt, auch für uns noch unverkennbar, die Überlieferung. Die Anfänge der Poesie eignen wohl überall mehr den Frauen als den Männern; Zaubergesang und Totenlied gehören vorzugsweise jenen und nicht ohne Grund sind die Liedesgeister, die Casmenen oder Camenen und die Carmentis Latiums, wie die Musen von Hellas weiblich gefaßt worden. Aber in Hellas kam die Zeit, wo der Dichter die Sangfrau ablöste und Apollon an die Spitze der Musen trat; Latium hat keinen nationalen Gott des Gesanges und die ältere lateinische Sprache keine Bezeichnung für den DichterVates ist wohl zunächst der Vorsänger (denn so wird der vates der Salier zu fassen sein) und nähert sich dann im älteren Sprachgebrauch dem griechischen προφήτης: es ist ein dem religiösen Ritual angehörendes Wort und hat, auch als es später vom Dichter gebraucht ward, immer den Nebenbegriff des gotterfüllten Sängers, des Musenpriesters, behalten.. Die Liedesmacht ist hier unverhältnismäßig schwächer aufgetreten und rasch verkümmert. Die Übung musischer Künste hat sich hier früh teils auf Frauen und Kinder, teils auf zünftige und unzünftige Handwerker beschränkt. Daß die Klagelieder von den Frauen, die Tischlieder von den Knaben gesungen wurden, ist schon erwähnt worden; auch die religiösen Litaneien wurden vorzugsweise von Kindern ausgeführt. Die Spielleute bildeten ein zünftiges, die Tänzer und die Klagefrauen (praeficae) unzünftige Gewerbe. Wenn Tanz, Spiel und Gesang in Hellas stets blieben, was sie auch in Latium ursprünglich gewesen waren, ehrenvolle und dem Bürger wie seiner Gemeinde zur Zier gereichende Beschäftigungen, so zog sich in Latium der bessere Teil der Bürgerschaft mehr und mehr von diesen eitlen Künsten zurück, und um so entschiedener, je mehr die Kunst sich öffentlich darstellte und je mehr sie von den belebenden Anregungen des Auslandes durchdrungen war. Die einheimische Flöte ließ man sich gefallen, aber die Lyra blieb geächtet; und wenn das nationale Maskenspiel zugelassen ward, so schien das ausländische Ringspiel nicht bloß gleichgültig, sondern schändlich. Während die musischen Künste in Griechenland immer mehr Gemeingut eines jeden einzelnen und aller Hellenen zusammen werden und damit aus ihnen eine allgemeine Bildung sich entwickelt, schwinden sie in Latium allgemach aus dem allgemeinen Volksbewußtsein, und indem sie zu in jeder Beziehung geringen Handwerken herabsinken, kommt hier nicht einmal die Idee einer der Jugend mitzuteilenden, allgemein nationalen Bildung auf. Die Jugenderziehung blieb durchaus befangen in den Schranken der engsten Häuslichkeit. Der Knabe wich dem Vater nicht von der Seite und begleitete ihn nicht bloß mit dem Pfluge und der Sichel auf das Feld, sondern auch in das Haus des Freundes und in den Sitzungssaal, wenn der Vater zu Gaste oder in den Rat geladen war. Diese häusliche Erziehung war wohl geeignet, den Menschen ganz dem Hause und ganz dem Staate zu bewahren; auf der dauernden Lebensgemeinschaft zwischen Vater und Sohn und auf der gegenseitigen Scheu des werdenden Menschen vor dem fertigen und des reifen Mannes vor der Unschuld der Jugend beruhte die Festigkeit der häuslichen und staatlichen Tradition, die Innigkeit des Familienbandes, überhaupt der gewichtige Ernst (gravitas) und der sittliche und würdige Charakter des römischen Lebens. Wohl war auch diese Jugenderziehung eine jener Institutionen schlichter und ihrer selbst kaum bewußter Weisheit, die ebenso einfach sind wie tief; aber über der Bewunderung, die sie erweckt, darf es nicht übersehen werden, daß sie nur durchgeführt werden konnte und nur durchgeführt ward durch die Aufopferung der eigentlichen individuellen Bildung und durch völligen Verzicht auf die so reizenden wie gefährlichen Gaben der Musen.

Über die Entwicklung der musischen Künste bei den Etruskern und Sabellern mangelt uns so gut wie jede KundeDaß die Atellanen und Fescenninen nicht der kampanischen und etruskischen, sondern der latinischen Kunst angehören, wird seiner Zeit gezeigt werden.. Es kann höchstens erwähnt werden, daß auch in Etrurien die Tänzer (histri, histriones) und die Flötenspieler (subulones) früh und wahrscheinlich noch früher als in Rom aus ihrer Kunst ein Gewerbe machten und nicht bloß in der Heimat, sondern auch in Rom um geringen Lohn und keine Ehre sich öffentlich produzierten. Bemerkenswerter ist es, daß an dem etruskischen Nationalfest, welches die sämtlichen Zwölfstädte durch einen Bundespriester ausrichteten, Spiele wie die des römischen Stadtfestes gegeben wurden; indes die dadurch nahegelegte Frage, inwieweit die Etrusker mehr als die Latiner zu einer nationalen, über den einzelnen Gemeinden stehenden musischen Kunst gelangt sind, sind wir zu beantworten nicht mehr imstande. Anderseits mag wohl in Etrurien schon in früherer Zeit der Grund gelegt sein zu der geistlosen Ansammlung gelehrten, namentlich theologischen und astrologischen Plunders, durch den die Tusker späterhin, als in dem allgemeinen Verfall die Zopfgelehrsamkeit zur Blüte kam, mit den Juden, Chaldäern und Ägyptern die Ehre teilten, als Urquell göttlicher Weisheit angestaunt zu werden.

Womöglich noch weniger wissen wir von sabellischer Kunst; woraus natürlich noch keineswegs folgt, daß sie der der Nachbarstämme nachgestanden hat. Vielmehr läßt sich nach dem sonst bekannten Charakter der drei Hauptstämme vermuten, daß an künstlerischer Begabung die Samniten den Hellenen am nächsten, die Etrusker ihnen am fernsten gestanden haben mögen; und eine gewisse Bestätigung dieser Annahme gewährt die Tatsache, daß die bedeutendsten und eigenartigsten unter den römischen Poeten, wie Naevius, Ennius, Lucilius, Horatius, den samnitischen Landschaften angehören, wogegen Etrurien in der römischen Literatur fast keine anderen Vertreter hat als den Arretiner Maecenas, den unleidlichsten aller herzvertrockneten und worteverkräuselnden Hofpoeten, und den Volaterraner Persius, das rechte Ideal eines hoffärtigen und mattherzigen, der Poesie beflissenen Jungen.

Die Elemente der Baukunst sind, wie dies schon angedeutet ward, uraltes Gemeingut der Stämme. Den Anfang aller Tektonik macht das Wohnhaus; es ist dasselbe bei Griechen und Italikern. Von Holz gebaut und mit einem spitzen Stroh- oder Schindeldach bedeckt, bildet es einen viereckigen Wohnraum, welcher durch die mit dem Regenloch im Boden korrespondierende Deckenöffnung (cavum aedium) den Rauch entläßt und das Licht einführt. Unter dieser „schwarzen Decke“ (atrium) werden die Speisen bereitet und verzehrt; hier werden die Hausgötter verehrt und das Ehebett wie die Bahre aufgestellt; hier empfängt der Mann die Gäste und sitzt die Frau spinnend im Kreise ihrer Mägde. Das Haus hatte keinen Flur, insofern man nicht den unbedeckten Raum zwischen der Haustür und der Straße dafür nehmen will, welcher seinen Namen vestibulum, das ist der Ankleideplatz, davon erhielt, daß man im Hause im Untergewand zu gehen pflegte und nur, wenn man hinaustrat, die Toga umwarf. Auch eine Zimmereinteilung mangelte, außer daß um den Wohnraum herum Schlaf- und Vorratskammern angebracht werden konnten; und an Treppen und aufgesetzte Stockwerke ist noch weniger zu denken.

Ob und wieweit aus diesen Anfängen eine national-italische Tektonik hervorging, ist kaum zu entscheiden, da die griechische Einwirkung schon in der frühesten Zeit hier übermächtig eingegriffen und die etwa vorhandenen volkstümlichen Anfänge fast ganz überwuchert hat. Schon die älteste italische Baukunst, welche uns bekannt ist, steht nicht viel weniger unter dem Einfluß der griechischen als die Tektonik der augustischen Zeit. Die uralten Gräber von Caere und Alsium sowie wahrscheinlich auch das älteste unter den kürzlich aufgedeckten praenestinischen sind ganz wie die Thesauren von Orchomenos und Mykenae durch übereinandergeschobene, allmählich einspringende und mit einem großen Deckstein geschlossene Steinlagen überdacht gewesen. In derselben Weise ist ein sehr altertümliches Gebäude an der Stadtmauer von Tusculum gedeckt, und ebenso gedeckt war ursprünglich das Quellhaus (tullianum) am Fuße des Kapitols, bis des darauf gesetzten Gebäudes wegen die Spitze abgetragen ward. Die nach demselben System angelegten Tore gleichen sich völlig in Arpinum und in Mykenae. Der Emissar des Albaner Sees hat die größte Ähnlichkeit mit dem des Kopaischen. Die sogenannten kyklopischen Ringmauern kommen in Italien, vorzugsweise in Etrurien, Umbrien, Latium und der Sabina häufig vor und gehören der Anlage nach entschieden zu den ältesten Bauwerken Italiens, obwohl der größte Teil der jetzt vorhandenen wahrscheinlich erst viel später, einzelne sicher erst im siebenten Jahrhundert der Stadt aufgeführt worden sind. Sie sind, eben wie die griechischen, bald ganz roh aus großen unbearbeiteten Felsblöcken mit dazwischen eingeschobenen kleineren Steinen, bald quadratisch in horizontalen LagenDieser Art sind die Servianischen Mauern gewesen. Sie bestehen teils aus einer Verstärkung der Hügelabhänge durch vorgelegte bis zu vier Metern starke Futtermauern, teils in den Zwischenräumen, vor allem am Viminal und Quirinal, wo vom Esquilinischen bis zum Collinischen Tore die natürliche Verteidigung fehlte, aus einem Erdwall, welcher nach außen durch eine ähnliche Futtermauer abgeschlossen wird. Auf diesen Futtermauern ruhte die Brustwehr. Ein Graben, nach zuverlässigen Berichten der Alten 30 Fuß tief und 100 Fuß breit, zog sich vor dem Wall hin, zu dem die Erde aus eben diesem Graben genommen war. Die Brustwehr hat sich nirgends erhalten; von den Futtermauern sind in neuerer Zeit ausgedehnte Überreste zum Vorschein gekommen. Die Tuffblöcke derselben sind im länglichen Rechteck behauen, durchschnittlich 60 Zentimeter (= 2 röm. Fuß) hoch und breit, während die Länge von 70 Zentimetern bis zu drei Metern wechselt, und ohne Anwendung von Mörtel, abwechselnd mit den Lang- und mit den Schmalseiten nach außen, in mehreren Reihen nebeneinander geschichtet.

Der im Jahre 1862 in der Villa Negroni aufgedeckte Teil des Servianischen Walls am Viminalischen Tor ruht auf einem Fundament gewaltiger Tuffblöcke von drei bis vier Metern Höhe und Breite, auf welchem dann aus Blöcken von demselben Material und derselben Größe, wie sie bei der Mauer sonst verwandt waren, die Außenmauer sich erhob. Der dahinter aufgeschüttete Erdwall scheint auf der oberen Fläche eine Breite bis zu etwa dreizehn Metern oder reichlich 40 röm. Fuß, die ganze Mauerwehr mit Einrechnung der Außenmauer von Quadern eine Breite bis zu fünfzehn Metern oder 50 röm. Fuß gehabt zu haben. Die Stücke aus Peperinblöcken, welche mit eisernen Klammern verbunden sind, sind erst bei späteren Ausbesserungsarbeiten hinzugekommen.

Den Servianischen wesentlich gleichartig sind die in der Vigna Nussiner am Abhang des Palatins nach der Kapitolseite und an anderen Punkten des Palatin aufgefundenen Mauern, die von Jordan (Topographie der Stadt Rom im Altertum. Bd. 2. Berlin 1885, S. 173) wahrscheinlich mit Recht für Überreste der Burgmauer des palatinischen Rom erklärt worden sind.

Die bildenden und zeichnenden Künste sind jünger als die Architektur; das Haus muß erst gebaut sein, ehe man daran geht, Giebel und Wände zu schmücken. Es ist nicht wahrscheinlich, daß diese Künste in Italien schon während der römischen Königszeit recht in Aufnahme gekommen sind; nur in Etrurien, wo Handel und Seeraub früh große Reichtümer konzentrierten, wird die Kunst oder, wenn man lieber will, das Handwerk in frühester Zeit Fuß gefaßt haben. Die griechische Kunst, wie sie auf Etrurien gewirkt hat, stand, wie ihr Abbild beweist, noch auf einer sehr primitiven Stufe und es mögen wohl die Etrusker in nicht viel späterer Zeit von den Griechen gelernt haben, in Ton und Metall zu arbeiten, als diejenige war, in der sie das Alphabet von ihnen entlehnten. Von etruskischer Kunstfertigkeit dieser Epoche geben die Silbermünzen von Populonia, fast die einzigen mit einiger Sicherheit dieser Epoche zuzuweisenden Arbeiten, nicht gerade einen hohen Begriff; doch mögen von den etruskischen Bronzewerken, welche die späteren Kunstkenner so hoch stellten, die besten eben dieser Urzeit angehört haben, und auch die etruskischen Terrakotten können nicht ganz gering gewesen sein, da die ältesten in den römischen Tempeln aufgestellten Werke aus gebrannter Erde, die Bildsäule des kapitolinischen Jupiter und das Viergespann auf seinem Dache, in Veii bestellt worden waren und die großen derartigen Aufsätze auf den Tempeldächern überhaupt bei den späteren Römern als „tuscanische Werke“ gingen.

Dagegen war bei den Italikern, nicht bloß bei den sabellischen Stämmen, sondern selbst bei den Latinern, das eigene Bilden und Zeichnen in dieser Zeit noch erst im Entstehen. Die bedeutendsten Kunstwerke scheinen im Auslande gearbeitet worden zu sein. Der angeblich in Veii verfertigten Tonbilder wurde schon gedacht; daß in Etrurien verfertigte und mit etruskischen Inschriften versehene Bronzearbeiten wenn nicht in Latium überhaupt, doch mindestens in Praeneste gangbar waren, haben die neuesten Ausgrabungen bewiesen. Das Bild der Diana in dem römisch-latinischen Bundestempel auf dem Aventin, welches als das älteste Götterbild in Rom galtWenn Varro (bei Aug. civ. 4, 31, vgl. Plut. Num. 8) sagt, daß die Römer mehr als 170 Jahre die Götter ohne Bilder verehrt hätten, so denkt er offenbar an dies uralte Schnitzbild, welches nach der konventionellen Chronologie zwischen 176 und 219 (578 und 535) der Stadt dediziert und ohne Zweifel das erste Götterbild war, dessen Weihung die dem Varro vorliegenden Quellen erwähnten. Vgl. oben 1, 230., glich genau dem massaliotischen der ephesischen Artetuis und war vielleicht in Elea oder Massalia gearbeitet. Es sind fast allein die seit alter Zeit in Rom vorhandenen Zünfte der Töpfer, Kupfer- und Goldschmiede, welche das Vorhandensein eigenen Bildens und Zeichnens daselbst beweisen; von ihrem Kunststandpunkt aber ist es nicht mehr möglich, eine konkrete Vorstellung zu gewinnen.

Versuchen wir aus den Archiven ältester Kunstüberlieferung und Kunstübung geschichtliche Resultate zu gewinnen, so ist zunächst offenbar, daß die italische Kunst ebenso wie italisches Maß und italische Schrift nicht unter phönikischem, sondern ausschließlich unter hellenischem Einfluß sich entwickelt hat. Es ist nicht eine einzige unter den italischen Kunstrichtungen, die nicht in der altgriechischen Kunst ihr bestimmtes Musterbild fände, und insofern hat die Sage ganz recht, wenn sie die Verfertigung der bemalten Tonbilder, ohne Zweifel der ältesten Kunstart, in Italien zurückführt auf die drei griechischen Künstler: den „Bildner“, „Ordner“ und „Zeichner“, Eucheir, Diopos und Eugrammos, obwohl es mehr als zweifelhaft ist, daß diese Kunst zunächst von Korinth und zunächst nach Tarquinii kam. Von unmittelbarer Nachahmung orientalischer Muster findet sich ebensowenig eine Spur als von einer selbständig entwickelten Kunstform; wenn die etruskischen Steinschneider an der ursprünglich ägyptischen Käfer- oder Skarabäenform festhielten, so sind doch auch die Skarabäen in Griechenland in sehr früher Zeit nachgeschnitten worden, wie denn ein solcher Käferstein mit sehr alter griechischer Inschrift sich in Aegina gefunden hat, und können also den Etruskern recht wohl durch die Griechen zugekommen sein. Von dem Phöniker mochte man kaufen; man lernte nur von dem Griechen.

Auf die weitere Frage, von welchem griechischen Stamm den Etruskern die Kunstmuster zunächst zugekommen sind, läßt sich eine kategorische Antwort nicht geben; doch bestehen bemerkenswerte Beziehungen zwischen der etruskischen und der ältesten attischen Kunst. Die drei Kunstformen, die in Etrurien wenigstens späterhin in großer, in Griechenland nur in sehr beschränkter Ausdehnung geübt worden sind, die Grabmalerei, die Spiegelzeichnung und die Steinschneidekunst, sind bis jetzt auf griechischem Boden einzig in Athen und Aegina beobachtet worden. Der tuskische Tempel entspricht genau weder dem dorischen noch dem ionischen; aber in den wichtigsten Unterscheidungsmomenten, in dem um die Cella herumgeführten Säulengang sowie in der Unterlegung eines besonderen Postaments unter jede einzelne Säule, folgt der etruskische Stil dem jüngeren ionischen; und eben der noch vom dorischen Element durchdrungene ionisch-attische Baustil steht in der allgemeinen Anlage unter allen griechischen dem tuskischen am nächsten. Für Latium mangelt es so gut wie ganz an sicheren kunstgeschichtlichen Verkehrsspuren; wenn aber, wie sich dies ja genau genommen von selbst versteht, die allgemeinen Handels- und Verkehrsbeziehungen auch für die Kunstmuster entscheidend gewesen sind, so kann mit Sicherheit angenommen werden, daß die kampanischen und sizilischen Hellenen wie im Alphabet so auch in der Kunst die Lehrmeister Latiums gewesen sind; und die Analogie der aventinischen Diana mit der ephesischen Artemis widerspricht dem wenigstens nicht. Daneben war denn natürlich die ältere etruskische Kunst auch für Latium Muster. Den sabellischen Stämmen ist wie das griechische Alphabet so auch die griechische Bau- und Bildkunst wenn überhaupt doch nur durch Vermittlung der westlicheren italischen Stämme nahegetreten.

Wenn aber endlich über die Kunstbegabung der verschiedenen italischen Nationen ein Urteil gefällt werden soll, so ist schon hier ersichtlich, was freilich in den späteren Stadien der Kunstgeschichte noch bei weitem deutlicher hervortritt, daß die Etrusker wohl früher zur Kunstübung gelangt sind und massenhafter und reicher gearbeitet haben, dagegen ihre Werke hinter den latinischen und sabellischen an Zweckrichtigkeit und Nützlichkeit nicht minder wie an Geist und Schönheit zurückstehen. Es zeigt sich dies allerdings für jetzt nur noch in der Architektur. Der ebenso zweckmäßige wie schöne polygone Mauerbau ist in Latium und dem dahinterliegenden Binnenland häufig, in Etrurien selten und nicht einmal Caeres Mauern sind aus vieleckigen Blöcken geschichtet. Selbst in der auch kunstgeschichtlich merkwürdigen religiösen Hervorhebung des Bogens und der Brücke in Latium ist es wohl erlaubt, die Anfänge der späteren römischen Aquädukte und römischen Konsularstraßen zu erkennen. Dagegen haben die Etrusker den hellenischen Prachtbau wiederholt, aber auch verdorben, indem sie die für den Steinbau festgestellten Gesetze nicht durchaus geschickt auf den Holzbau übertrugen und durch das tief hinabgehende Dach und die weiten Säulenzwischenräume ihrem Gotteshaus, mit einem alten Baumeister zu reden, „ein breites, niedriges, sperriges und schwerfälliges Ansehen“ gegeben haben. Die Latiner haben aus der reichen Fülle der griechischen Kunst nur sehr weniges ihrem energisch realistischen Sinne kongenial gefunden, aber was sie annahmen, der Idee nach und innerlich sich angeeignet und in der Entwicklung des polygonen Mauerbaus vielleicht ihre Lehrmeister übertroffen; die etruskische Kunst ist ein merkwürdiges Zeugnis handwerksmäßig angeeigneter und handwerksmäßig festgehaltener Fertigkeiten, aber so wenig wie die chinesische ein Zeugnis auch nur genialer Rezeptivität. Wie man sich auch sträuben mag, so gut wie man längst aufgehört hat, die griechische Kunst aus der etruskischen abzuleiten, wird man sich auch noch entschließen müssen, in der Geschichte der italischen Kunst die Etrusker aus der ersten in die letzte Stelle zu versetzen.

1. Kapitel


1. Kapitel

Einleitung

Rings um das mannigfaltig gegliederte Binnenmeer, das tief einschneidend in die Erdfeste den größten Busen des Ozeans bildet und, bald durch Inseln oder vorspringende Landfesten verengt, bald wieder sich in beträchtlicher Breite ausdehnend, die drei Teile der Alten Welt scheidet und verbindet, siedelten in alten Zeiten Völkerstämme sich an, welche, ethnographisch und sprachgeschichtlich betrachtet, verschiedenen Rassen angehörig, historisch ein Ganzes ausmachen. Dies historische Ganze ist es, was man nicht passend die Geschichte der alten Welt zu nennen pflegt, die Kulturgeschichte der Anwohner des Mittelmeers, die in ihren vier großen Entwicklungsstadien an uns vorüberfährt: die Geschichte des koptischen oder ägyptischen Stammes an dem südlichen Gestade, die der aramäischen oder syrischen Nation, die die Ostküste einnimmt und tief in das innere Asien hinein bis an den Euphrat und Tigris sich ausbreitet, und die Geschichte des Zwillingsvolkes der Hellenen und der Italiker, welche die europäischen Uferlandschaften des Mittelmeers zu ihrem Erbteil empfingen. Wohl knüpft jede dieser Geschichten an ihren Anfängen an andere Gesichts- und Geschichtskreise an; aber jede auch schlägt bald ihren eigenen abgesonderten Gang ein. Die stammfremden oder auch stammverwandten Nationen aber, die diesen großen Kreis umwohnen, die Berber und Neger Afrikas, die Araber, Perser und Inder Asiens, die Kelten und Deutschen Europas, haben mit jenen Anwohnern des Mittelmeers wohl auch vielfach sich berührt, aber eine eigentlich bestimmende Entwicklung doch weder ihnen gegeben noch von ihnen empfangen; und soweit überhaupt Kulturkreise sich abschließen lassen, kann derjenige als eine Einheit gelten, dessen Höhepunkt die Namen Theben, Karthago, Athen und Rom bezeichnen. Es haben jene vier Nationen, nachdem jede von ihnen auf eigener Bahn zu einer eigentümlichen und großartigen Zivilisation gelangt war, in mannigfaltigster Wechselbeziehung zueinander alle Elemente der Menschennatur scharf und reich durchgearbeitet und entwickelt, bis auch dieser Kreis erfüllt war, bis neue Völkerschaften, die bis dahin das Gebiet der Mittelmeerstaaten nur wie die Wellen den Strand umspült hatten, sich über beide Ufer ergossen und, indem sie die Südküste geschichtlich trennten von der nördlichen, den Schwerpunkt der Zivilisation verlegten vom Mittelmeer an den Atlantischen Ozean. So scheidet sich die alte Geschichte von der neuen nicht bloß zufällig und chronologisch; was wir die neue Geschichte nennen, ist in der Tat die Gestaltung eines neuen Kulturkreises, der in mehreren seiner Entwicklungsepochen wohl anschließt an die untergehende oder untergegangene Zivilisation der Mittelmeerstaaten wie diese an die älteste indogermanische, aber auch wie diese bestimmt ist, eine eigene Bahn zu durchmessen und Völkerglück und Völkerleid im vollen Maße zu erproben: die Epochen der Entwicklung, der Vollkraft und des Alters, die beglückende Mühe des Schaffens in Religion, Staat und Kunst, den bequemen Genuß erworbenen materiellen und geistigen Besitzes, vielleicht auch dereinst das Versiegen der schaffenden Kraft in der satten Befriedigung des erreichten Zieles. Aber auch dieses Ziel wird nur ein vorläufiges sein; das großartigste Zivilisationssystem hat seine Peripherie und kann sie erfüllen, nimmer aber das Geschlecht der Menschen, dem, so wie es am Ziele zu stehen scheint, die alte Aufgabe auf weiterem Felde und in höherem Sinne neu gestellt wird.

Unsere Aufgabe ist die Darstellung des letzten Akts jenes großen weltgeschichtlichen Schauspiels, die alte Geschichte der mittleren unter den drei Halbinseln, die vom nördlichen Kontinent aus sich in das Mittelmeer erstrecken. Sie wird gebildet durch die von den westlichen Alpen aus nach Süden sich verzweigenden Gebirge. Der Apennin streicht zunächst in südöstlicher Richtung zwischen dem breiteren westlichen und dem schmalen östlichen Busen des Mittelmeers, an welchen letzteren hinantretend er seine höchste, kaum indes zu der Linie des ewigen Schnees hinansteigende Erhebung in den Abruzzen erreicht. Von den Abruzzen aus setzt das Gebirge sich in südlicher Richtung fort, anfangs ungeteilt und von beträchtlicher Höhe; nach einer Einsattlung, die eine Hügellandschaft bildet, spaltet es sich in einen flacheren südöstlichen und einen steileren südlichen Höhenzug und schließt dort wie hier mit der Bildung zweier schmaler Halbinseln ab. Das nördlich zwischen Alpen und Apennin bis zu den Abruzzen hinab sich ausbreitende Flachland gehört geographisch und bis in sehr späte Zeit auch historisch nicht zu dem südlichen Berg- und Hügelland, demjenigen Italien, dessen Geschichte uns hier beschäftigt. Erst im siebenten Jahrhundert Roms wurde das Küstenland von Sinigaglia bis Rimini, erst im achten das Potal Italien einverleibt; die alte Nordgrenze Italiens sind also nicht die Alpen, sondern der Apennin. Dieser steigt von keiner Seite in steiler Kette empor, sondern breit durch das Land gelagert und vielfache, durch mäßige Pässe verbundene Täler und Hochebenen einschließend gewährt er selbst den Menschen eine wohl geeignete Ansiedelungsstätte, und mehr noch gilt dies von dem östlich, südlich und westlich an ihn sich anschließenden Vor- und Küstenland. Zwar an der östlichen Küste dehnt sich, gegen Norden von dem Bergstock der Abruzzen geschlossen und nur von dem steilen Rücken des Garganus inselartig unterbrochen, die apulische Ebene in einförmiger Fläche mit schwach entwickelter Küsten- und Strombildung aus. An der Südküste aber zwischen den beiden Halbinseln, mit denen der Apennin endigt, lehnt sich an das innere Hügelland eine ausgedehnte Niederung, die zwar an Häfen arm, aber wasserreich und fruchtbar ist. Die Westküste endlich, ein breites, von bedeutenden Strömen, namentlich dem Tiber, durchschnittenes, von den Fluten und den einst zahlreichen Vulkanen in mannigfaltigster Tal- und Hügel-, Hafen- und Inselbildung entwickeltes Gebiet, bildet in den Landschaften Etrurien, Latium und Kampanien den Kern des italischen Landes, bis südlich von Kampanien das Vorland allmählich verschwindet und die Gebirgskette fast unmittelbar von dem Tyrrhenischen Meere bespült wird. Überdies schließt, wie an Griechenland der Peloponnes, so an Italien die Insel Sizilien sich an, die schönste und größte des Mittelmeers, deren gebirgiges und zum Teil ödes Innere ringsum, vor allem im Osten und Süden, mit einem breiten Saume des herrlichsten, großenteils vulkanischen Küstenlandes umgürtet ist; und wie geographisch die sizilischen Gebirge die kaum durch den schmalen „Riß“ (Ρήγιον) der Meerenge unterbrochene Fortsetzung des Apennins sind, so ist auch geschichtlich Sizilien in älterer Zeit ebenso entschieden ein Teil Italiens wie der Peloponnes von Griechenland, der Tummelplatz derselben Stämme und der gemeinsame Sitz der gleichen höheren Gesittung. Die italische Halbinsel teilt mit der griechischen die gemäßigte Temperatur und die gesunde Luft auf den mäßig hohen Bergen und im ganzen auch in den Tälern und Ebenen. In der Küstenentwicklung steht sie ihr nach; namentlich fehlt das Inselreiche Meer, das die Hellenen zur seefahrenden Nation gemacht hat. Dagegen ist Italien dem Nachbarn überlegen durch die reichen Flußebenen und die fruchtbaren und kräuterreichen Bergabhänge, wie der Ackerbau und die Viehzucht ihrer bedarf. Es ist wie Griechenland ein schönes Land, das die Tätigkeit des Menschen anstrengt und belohnt und dem unruhigen Streben die Bahnen in die Ferne, dem ruhigen die Wege zu friedlichem Gewinn daheim in gleicher Weise eröffnet. Aber wenn die griechische Halbinsel nach Osten gewendet ist, so ist es die italische nach Westen. Wie das epirotische und akarnanische Gestade für Hellas, so sind die apulischen und messapischen Küsten für Italien von untergeordneter Bedeutung; und wenn dort diejenigen Landschaften, auf denen die geschichtliche Entwicklung ruht, Attika und Makedonien, nach Osten schauen, so sehen Etrurien, Latium und Kampanien nach Westen. So stehen die beiden so eng benachbarten und fast verschwisterten Halbinseln gleichsam voneinander abgewendet; obwohl das unbewaffnete Auge von Otranto aus die akrokeraunischen Berge erkennt, haben Italiker und Hellenen sich doch früher und enger auf jeder andern Straße berührt als auf der nächsten über das Adriatische Meer. Es war auch hier wie so oft in den Bodenverhältnissen der geschichtliche Beruf der Völker vorgezeichnet: die beiden großen Stämme, auf denen die Zivilisation der Alten Welt erwuchs, warfen ihre Schatten wie ihren Samen der eine nach Osten, der andere nach Westen.

Es ist die Geschichte Italiens, die hier erzählt werden soll, nicht die Geschichte der Stadt Rom. Wenn auch nach formalem Staatsrecht die Stadtgemeinde von Rom es war, die die Herrschaft erst über Italien, dann über die Welt gewann, so läßt sich doch dies im höheren geschichtlichen Sinne keineswegs behaupten und erscheint das, was man die Bezwingung Italiens durch die Römer zu nennen gewohnt ist, vielmehr als die Einigung zu einem Staate des gesamten Stammes der Italiker, von dem die Römer wohl der gewaltigste, aber doch nur ein Zweig sind.

Die italische Geschichte zerfällt in zwei Hauptabschnitte: in die innere Geschichte Italiens bis zu seiner Vereinigung unter der Führung des latinischen Stammes und in die Geschichte der italischen Weltherrschaft. Wir werden also darzustellen haben des italischen Volksstammes Ansiedelung auf der Halbinsel; die Gefährdung seiner nationalen und politischen Existenz und seine teilweise Unterjochung durch Völker anderer Herkunft und älterer Zivilisation, durch Griechen und Etrusker; die Auflehnung der Italiker gegen die Fremdlinge und deren Vernichtung oder Unterwerfung; endlich die Kämpfe der beiden italischen Hauptstämme, der Latiner und der Samniten, um die Hegemonie auf der Halbinsel und den Sieg der Latiner am Ende des vierten Jahrhunderts vor Christi Geburt oder des fünften der Stadt Rom. Es wird dies den Inhalt der beiden ersten Bücher bilden. Den zweiten Abschnitt eröffnen die Punischen Kriege; er umfaßt die reißend schnelle Ausdehnung des Römerreiches bis an und über Italiens natürliche Grenzen, den langen Status quo der römischen Kaiserzeit und das Zusammenstürzen des gewaltigen Reiches. Dies wird im dritten und den folgenden Büchern erzählt werden.

2. Kapitel


2. Kapitel

Die ältesten Einwanderungen in Italien

Keine Kunde, ja nicht einmal eine Sage erzählt von der ersten Einwanderung des Menschengeschlechts in Italien; vielmehr war im Altertum der Glaube allgemein, daß dort wie überall die erste Bevölkerung dem Boden selbst entsprossen sei. Indes die Entscheidung über den Ursprung der verschiedenen Rassen und deren genetische Beziehungen zu den verschiedenen Klimaten bleibt billig dem Naturforscher überlassen; geschichtlich ist es weder möglich noch wichtig festzustellen, ob die älteste bezeugte Bevölkerung eines Landes daselbst autochthon oder selbst schon eingewandert ist.

Wohl aber liegt es dem Geschichtsforscher ob, die sukzessive Völkerschichtung in dem einzelnen Lande darzulegen, um die Steigerung von der unvollkommenen zu der vollkommneren Kultur und die Unterdrückung der minder kulturfähigen oder auch nur minder entwickelten Stämme durch höher stehende Nationen soweit möglich rückwärts zu verfolgen. Italien indes ist auffallend arm an Denkmälern der primitiven Epoche und steht in dieser Beziehung in einem bemerkenswerten Gegensatz zu anderen Kulturgebieten. Den Ergebnissen der deutschen Altertumsforschung zufolge muß in England, Frankreich, Norddeutschland und Skandinavien, bevor indogermanische Stämme hier sich ansässig machten, ein Volk vielleicht tschudischer Rasse gewohnt oder vielmehr gestreift haben, das von Jagd und Fischfang lebte, seine Geräte aus Stein, Ton oder Knochen verfertigte und mit Tierzähnen und Bernstein sich schmückte, des Ackerbaues aber und des Gebrauchs der Metalle unkundig war. In ähnlicher Weise ging in Indien der indogermanischen eine minder kulturfähige dunkelfarbige Bevölkerung vorauf. In Italien aber begegnen weder Trümmer einer verdrängten Nation, wie im keltisch-germanischen Gebiet die Finnen und Lappen und die schwarzen Stämme in den indischen Gebirgen sind, noch ist daselbst bis jetzt die Verlassenschaft eines verschollenen Urvolkes nachgewiesen worden, wie sie die eigentümlich gearteten Gerippe, die Mahlzeit- und Grabstätten der sogenannten Steinepoche des deutschen Altertums zu offenbaren scheinen. Es ist bisher nichts zum Vorschein gekommen, was zu der Annahme berechtigt, daß in Italien die Existenz des Menschengeschlechts älter sei als die Bebauung des Ackers und das Schmelzen der Metalle; und wenn wirklich innerhalb der Grenzen Italiens das Menschengeschlecht einmal auf der primitiven Kulturstufe gestanden hat, die wir den Zustand der Wildheit zu nennen pflegen, so ist davon doch jede Spur schlechterdings ausgelöscht.

Die Elemente der ältesten Geschichte sind die Völkerindividuen, die Stämme. Unter denen, die uns späterhin in Italien begegnen, ist von einzelnen, wie von den Hellenen, die Einwanderung, von anderen, wie von den Brettiern und den Bewohnern der sabinischen Landschaft, die Denationalisierung geschichtlich bezeugt. Nach Ausscheidung beider Gattungen bleiben eine Anzahl Stämme übrig, deren Wanderungen nicht mehr mit dem Zeugnis der Geschichte, sondern höchstens auf aprioristischem Wege sich nachweisen lassen und deren Nationalität nicht nachweislich eine durchgreifende Umgestaltung von außen her erfahren hat; diese sind es, deren nationale Individualität die Forschung zunächst festzustellen hat. Wären wir dabei einzig angewiesen auf den wirren Wust der Völkernamen und der zerrütteten, angeblich geschichtlichen Überlieferung, welche aus wenigen brauchbaren Notizen zivilisierter Reisender und einer Masse meistens geringhaltiger Sagen, gewöhnlich ohne Sinn für Sage wie für Geschichte zusammengesetzt und konventionell fixiert ist, so müßte man die Aufgabe als eine hoffnungslose abweisen. Allein noch fließt auch für uns eine Quelle der Überlieferung, welche zwar auch nur Bruchstücke, aber doch authentische gewährt; es sind dies die einheimischen Sprachen der in Italien seit unvordenklicher Zeit ansässigen Stämme. Ihnen, die mit dem Volke selbst geworden sind, war der Stempel des Werdens zu tief eingeprägt, um durch die nachfolgende Kultur gänzlich verwischt zu werden. Ist von den italischen Sprachen auch nur eine vollständig bekannt, so sind doch von mehreren anderen hinreichende Überreste erhalten, um der Geschichtsforschung für die Stammverschiedenheit oder Stammverwandtschaft und deren Grade zwischen den einzelnen Sprachen und Völkern einen Anhalt zu gewähren.

So lehrt uns die Sprachforschung drei italische Urstämme unterscheiden, den iapygischen, den etruskischen und den italischen, wie wir ihn nennen wollen, von welchen der letztere in zwei Hauptzweige sich spaltet: das latinische Idiom und dasjenige, dem die Dialekte der Umbrer, Marser, Volsker und Samniten angehören.

Von dem iapygischen Stamm haben wir nur geringe Kunde. Im äußersten Südosten Italiens, auf der messapischen oder kalabrischen Halbinsel, sind Inschriften in einer eigentümlichen verschollenen SpracheMan hat, freilich auf überhaupt wenig und am wenigsten für eine Tatsache von solcher Bedeutung zulängliche sprachliche Vergleichungspunkte hin, eine Verwandtschaft zwischen der iapygischen Sprache und der heutigen albanesischen angenommen. Sollte diese Stammverwandtschaft sich bestätigen und sollten anderseits die Albanesen – ein ebenfalls indogermanischer und dem hellenischen und italischen gleichstehender Stamm – wirklich ein Rest jener hellenobarbarischen Nationalität sein, deren Spuren in ganz Griechenland und namentlich in den nördlichen Landschaften hervortreten, so würde diese vorhellenische Nationalität damit als auch voritalisch nachgewiesen sein; Einwanderung der Iapyger in Italien über das Adriatische Meer hin würde daraus zunächst noch nicht folgen.. Die Lücke ist indes nicht sehr empfindlich; denn nur weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Beginn unserer Geschichte schon im Untergehen begriffene Volksstamm. Der wenig widerstandsfähige, leicht in andere Nationalitäten sich auflösende Charakter der iapygischen Nation paßt wohl zu der Annahme, welche durch ihre geographische Lage wahrscheinlich gemacht wird, daß dies die ältesten Einwanderer oder die historischen Autochthonen Italiens sind. Denn unzweifelhaft sind die ältesten Wanderungen der Völker alle zu Lande erfolgt; zumal die nach Italien gerichteten, dessen Küste zur See nur von kundigen Schiffern erreicht werden kann und deshalb noch in Homers Zeit den Hellenen völlig unbekannt war. Kamen aber die früheren Ansiedler über den Apennin, so kann, wie der Geolog aus der Schichtung der Gebirge ihre Entstehung erschließt, auch der Geschichtsforscher die Vermutung wagen, daß die am weitesten nach Süden geschobenen Stämme die ältesten Bewohner Italiens sein werden; und eben an dessen äußerstem südöstlichen Saume begegnen wir der iapygischen Nation.

Die Mitte der Halbinsel ist, soweit unsere zuverlässige Überlieferung zurückreicht, bewohnt von zwei Völkern oder vielmehr zwei Stämmen desselben Volkes, dessen Stellung in dem indogermanischen Volksstamm sich mit größerer Sicherheit bestimmen läßt, als dies bei der iapygischen Nation der Fall war. Wir dürfen dies Volk billig das italische heißen, da auf ihm die geschichtliche Bedeutung der Halbinsel beruht; es teilt sich in die beiden Stämme der Latiner einerseits, anderseits der Umbrer mit deren südlichen Ausläufern, den Marsern und Samniten und den schon in geschichtlicher Zeit von den Samniten ausgesandten Völkerschaften. Die sprachliche Analyse der diesen Stämmen angehörenden Idiome hat gezeigt, daß sie zusammen ein Glied sind in der indogermanischen Sprachenkette, und daß die Epoche, in der sie eine Einheit bildeten, eine verhältnismäßig späte ist. Im Lautsystem erscheint bei ihnen der eigentümliche Spirant f, worin sie übereinstimmen mit den Etruskern, aber sich scharf scheiden von allen hellenischen und hellenobarbarischen Stämmen, sowie vom Sanskrit selbst. Die Aspiraten dagegen, die von den Griechen durchaus und die härteren davon auch von den Etruskern festgehalten werden, sind den Italikern ursprünglich fremd und werden bei ihnen vertreten durch eines ihrer Elemente, sei es durch die Media, sei es durch den Hauch allein f oder h. Die feineren Hauchlaute s, w, j, die die Griechen soweit möglich beseitigen, sind in den italischen Sprachen wenig beschädigt erhalten, ja hie und da noch weiter entwickelt worden. Das Zurückziehen des Akzents und die dadurch hervorgerufene Zerstörung der Endungen haben die Italiker zwar mit einigen griechischen Stämmen und mit den Etruskern gemein, jedoch in stärkerem Grad als jene, in geringerem als diese angewandt; die unmäßige Zerrüttung der Endungen im Umbrischen ist sicher nicht in dem ursprünglichen Sprachgeist begründet, sondern spätere Verderbnis, welche sich in derselben Richtung wenngleich schwächer auch in Rom geltend gemacht hat. Kurze Vokale fallen in den italischen Sprachen deshalb im Auslaut regelmäßig, lange häufig ab; die schließenden Konsonanten sind dagegen im Lateinischen und mehr noch im Samnitischen mit Zähigkeit festgehalten worden, während das Umbrische auch diese fallen läßt. Damit hängt es zusammen, daß die Medialbildung in den italischen Sprachen nur geringe Spuren zurückgelassen hat und dafür ein eigentümliches, durch Anfügung von r gebildetes Passiv an die Stelle tritt; ferner daß der größte Teil der Tempora durch Zusammensetzungen mit den Wurzeln es und fu gebildet wird, während den Griechen neben dem Augment die reichere Ablautung den Gebrauch der Hilfszeitwörter großenteils erspart. Während die italischen Sprachen wie der äolische Dialekt auf den Dual verzichteten, haben sie den Ablativ, der den Griechen verlorenging, durchgängig, großenteils auch den Lokativ erhalten. Die strenge Logik der Italiker scheint Anstoß daran genommen zu haben, den Begriff der Mehrheit in den der Zweiheit und der Vielheit zu spalten, während man die in den Beugungen sich ausdrückenden Wortbeziehungen mit großer Schärfe festhielt. Eigentümlich italisch und selbst dem Sanskrit fremd ist die in den Gerundien und Supinen vollständiger als sonst irgendwo durchgeführte Substantivierung der Zeitwörter.

Diese aus einer reichen Fülle analoger Erscheinungen ausgewählten Beispiele genügen, um die Individualität des italischen Sprachstammes jedem anderen indogermanischen gegenüber darzutun und zeigen denselben zugleich sprachlich wie geographisch als nächsten Stammverwandten der Griechen; der Grieche und der Italiker sind Brüder, der Kelte, der Deutsche und der Slave ihnen Vettern. Die wesentliche Einheit aller italischen wie aller griechischen Dialekte und Stämme unter sich muß früh und klar den beiden großen Nationen selbst aufgegangen sein; denn wir finden in der römischen Sprache ein uraltes Wort rätselhaften Ursprungs, Graius oder Graicus, das jeden Hellenen bezeichnet, und ebenso bei den Griechen die analoge Benennung Οπικός, die von allen, den Griechen in älterer Zeit bekannten latinischen und samnitischen Stämmen, nicht aber von Iapygern oder Etruskern gebraucht wird.

Innerhalb des italischen Sprachstammes aber tritt das Lateinische wieder in einen bestimmten Gegensatz zu den umbrisch-samnitischen Dialekten. Allerdings sind von diesen nur zwei, der umbrische und der samnitische oder oskische Dialekt, einigermaßen, und auch diese nur in äußerst lückenhafter und schwankender Weise bekannt; von den übrigen Dialekten sind die einen, wie der volskische und der marsische, in zu geringen Trümmern auf uns gekommen, um sie in ihrer Individualität zu erfassen oder auch nur die Mundarten selbst mit Sicherheit und Genauigkeit zu klassifizieren, während andere, wie der sabinische, bis auf geringe, als dialektische Eigentümlichkeiten im provinzialen Latein erhaltene Spuren völlig untergegangen sind. Indes läßt die Kombination der sprachlichen und der historischen Tatsachen daran keinen Zweifel, daß diese sämtlichen Dialekte dem umbrisch-samnitischen Zweig des großen italischen Stammes angehört haben, und daß dieser, obwohl dem lateinischen Stamm weit näher als dem griechischen verwandt, doch auch wieder von ihm aufs bestimmteste sich unterscheidet. Im Fürwort und sonst häufig sagte der Samnite und der Umbrer p, wo der Römer q sprach – so pis für quis; ganz wie sich auch sonst nahverwandte Sprachen scheiden, zum Beispiel dem Keltischen in der Bretagne und Wales p, dem Gälischen und Irischen k eigen ist. In den Vokalen erscheinen die Diphthonge im Lateinischen und überhaupt den nördlichen Dialekten sehr zerstört, dagegen in den südlichen italischen Dialekten sie wenig gelitten haben; womit verwandt ist, daß in der Zusammensetzung der Römer den sonst so streng bewahrten Grundvokal abschwächt, was nicht geschieht in der verwandten Sprachengruppe. Der Genetiv der Wörter auf a ist in dieser wie bei den Griechen as, bei den Römern in der ausgebildeten Sprache ae; der der Wörter auf us im Samnitischen eis, im Umbrischen es, bei den Römern ei; der Lokativ tritt bei diesen im Sprachbewußtsein mehr und mehr zurück, während er in den andern italischen Dialekten in vollem Gebrauch blieb; der Dativ des Plural auf bus ist nur im Lateinischen vorhanden. Der umbrisch-samnitische Infinitiv auf um ist den Römern fremd, während das oskisch-umbrische, von der Wurzel es gebildete Futur nach griechischer Art (her-est wie λέγ-σω) bei den Römern fast, vielleicht ganz verschollen und ersetzt ist durch den Optativ des einfachen Zeitworts oder durch analoge Bildungen von fuo (ama-bo). In vielen dieser Fälle, zum Beispiel in den Kasusformen, sind die Unterschiede indes nur vorhanden für die beiderseits ausgebildeten Sprachen, während die Anfänge zusammenfallen. Wenn also die italische Sprache neben der griechischen selbständig steht, so verhält sich innerhalb jener die lateinische Mundart zu der umbrisch-samnitischen etwa wie die ionische zur dorischen, während sich die Verschiedenheiten des Oskischen und des Umbrischen und der verwandten Dialekte etwa vergleichen lassen mit denen des Dorismus in Sizilien und in Sparta.

Jede dieser Spracherscheinungen ist Ergebnis und Zeugnis eines historischen Ereignisses. Es läßt sich daraus mit vollkommener Sicherheit erschließen, daß aus dem gemeinschaftlichen Mutterschoß der Völker und der Sprachen ein Stamm ausschied, der die Ahnen der Griechen und der Italiker gemeinschaftlich in sich schloß; daß aus diesem alsdann die Italiker sich abzweigten und diese wieder in den westlichen und östlichen Stamm, der östliche noch später in Umbrer und Osker auseinander gingen.

Wo und wann diese Scheidungen stattfanden, kann freilich die Sprache nicht lehren, und kaum darf der verwegene Gedanke es versuchen, diesen Revolutionen ahnend zu folgen, von denen die frühesten unzweifelhaft lange vor derjenigen Einwanderung stattfanden, welche die Stammväter der Italiker über die Apenninen führte. Dagegen kann die Vergleichung der Sprachen, richtig und vorsichtig behandelt, von demjenigen Kulturgrade, auf dem das Volk sich befand, als jene Trennungen eintraten, ein annäherndes Bild und damit uns die Anfänge der Geschichte gewähren, welche nichts ist als die Entwicklung der Zivilisation. Denn es ist namentlich in der Bildungsepoche die Sprache das treue Bild und Organ der erreichten Kulturstufe; die großen technischen und sittlichen Revolutionen sind darin wie in einem Archiv aufbewahrt, aus dessen Akten die Zukunft nicht versäumen wird, für jene Zeiten zu schöpfen, aus welchen alle unmittelbare Überlieferung verstummt ist.

Während die jetzt getrennten indogermanischen Völker einen gleichsprachigen Stamm bildeten, erreichten sie einen gewissen Kulturgrad und einen diesem angemessenen Wortschatz, den als gemeinsame Ausstattung in konventionell festgestelltem Gebrauch alle Einzelvölker übernahmen, um auf der gegebenen Grundlage selbständig weiter zu bauen. Wir finden in diesem Wortschatz nicht bloß die einfachsten Bezeichnungen des Seins, der Tätigkeiten, der Wahrnehmungen wie sum, do, pater, das heißt den ursprünglichen Widerhall des Eindrucks, den die Außenwelt auf die Brust des Menschen macht, sondern auch eine Anzahl Kulturwörter nicht bloß ihren Wurzeln nach, sondern in einer gewohnheitsmäßig ausgeprägten Form, welche Gemeingut des indogermanischen Stammes und weder aus gleichmäßiger Entfaltung noch aus späterer Entlehnung erklärbar sind. So besitzen wir Zeugnisse für die Entwicklung des Hirtenlebens in jener fernen Epoche in den unabänderlich fixierten Namen der zahmen Tiere: sanskritisch gâus ist lateinisch bos, griechisch βούς; sanskritisch avis ist lateinisch ovis, griechisch όις; sanskritisch açvas, lateinisch equus, griechisch ίππος; sanskritisch hansas, lateinisch anser, griechisch χήν; sanskritisch âtis, griechisch νήσσα, lateinisch anas; ebenso sind pecus, sus, porcus, taurus, canis sanskritische Wörter. Also schon in dieser fernsten Epoche hatte der Stamm, auf dem von den Tagen Homers bis auf unsere Zeit die geistige Entwicklung der Menschheit beruht, den niedrigsten Kulturgrad der Zivilisation, die Jäger- und Fischerepoche, überschritten und war zu einer wenigstens relativen Stetigkeit der Wohnsitze gelangt. Dagegen fehlt es bis jetzt an sicheren Beweisen dafür, daß schon damals der Acker gebaut worden ist. Die Sprache spricht eher dagegen als dafür. Unter den lateinisch-griechischen Getreidenamen kehrt keiner wieder im Sanskrit mit einziger Ausnahme von ζέα, das sprachlich dem sanskritischen yavas entspricht, übrigens im Indischen die Gerste, im Griechischen den Spelt bezeichnet. Es muß nun freilich zugegeben werden, daß diese von der wesentlichen Übereinstimmung der Benennungen der Haustiere so scharf abstechende Verschiedenheit in den Namen der Kulturpflanzen eine ursprüngliche Gemeinschaft des Ackerbaues noch nicht unbedingt ausschließt; in primitiven Verhältnissen ist die Übersiedelung und Akklimatisierung der Pflanzen schwieriger als die der Tiere, und der Reisbau der Inder, der Weizen- und Speltbau der Griechen und Römer, der Roggen- und Haferbau der Germanen und Kelten könnten an sich wohl alle auf einen gemeinschaftlichen ursprünglichen Feldbau zurückgehen. Aber auf der andern Seite ist die den Griechen und Indern gemeinschaftliche Benennung einer Halmfrucht doch höchstens ein Beweis dafür, daß man vor der Scheidung der Stämme die in Mesopotamien wildwachsenden Gersten- und SpeltkörnerNordwestlich von Anah am rechten Euphratufer fanden sich zusammen Gerste, Weizen und Spelt im wilden Zustande (Alphonse de Candolle, Géographie botanique raisonnée. Paris 1855. Bd. 2, S. 934). Dasselbe, daß Gerste und Weizen in Mesopotamien wild wachsen, sagt schon der babylonische Geschichtschreiber Berosos (bei Georgios Synkellos p. 50 Bonn.). sammelte und aß, nicht aber dafür, daß man schon Getreide baute. Wenn sich hier nach keiner Seite hin eine Entscheidung ergibt, so führt dagegen etwas weiter die Beobachtung, daß eine Anzahl der wichtigsten hier einschlagenden Kulturwörter im Sanskrit zwar auch, aber durchgängig in allgemeinerer Bedeutung vorkommen: agras ist bei den Indern überhaupt Flur, kûrnu ist das Zerriebene, aritram ist Ruder und Schiff, venas das Anmutige überhaupt, namentlich der anmutende Trank. Die Wörter also sind uralt; aber ihre bestimmte Beziehung auf die Ackerflur (ager), auf das zu mahlende Getreide (granum, Korn), auf das Werkzeug, das den Boden furcht wie das Schiff die Meeresfläche (aratrum), auf den Saft der Weintraube (vinum) war bei der ältesten Teilung der Stämme noch nicht entwickelt; es kann daher auch nicht wundernehmen, wenn die Beziehungen zum Teil sehr verschieden ausfielen und zum Beispiel von dem sanskritischen kûrnu sowohl das zum Zerreiben bestimmte Korn als auch die zerreibende Mühle, gotisch quairnus, litauisch girnôs ihre Namen empfingen. Wir dürfen darnach als wahrscheinlich annehmen, daß das indogermanische Urvolk den Ackerbau noch nicht kannte, und als gewiß, daß, wenn es ihn kannte, er doch noch in der Volkswirtschaft eine durchaus untergeordnete Rolle spielte; denn wäre er damals schon gewesen, was er später den Griechen und Römern war, so hätte er tiefer der Sprache sich eingeprägt, als es geschehen ist.

Dagegen zeugen für den Häuser- und Hüttenbau der Indogermanen sanskritisch dam(as), lateinisch domus, griechisch δόμος; sanskritisch vêças, lateinisch vicus, griechisch οίκος; sanskritisch dvaras, lateinisch fores, griechisch θύρα; ferner für den Bau von Ruderbooten die Namen des Nachens – sanskritisch nâus, griechisch ναύς, lateinisch navis – und des Ruders – sanskritisch aritram, griechisch ερετμός, lateinisch remus, tri-res-mis; für den Gebrauch der Wagen und die Bändigung der Tiere zum Ziehen und Fahren sanskritisch akshas (Achse und Karren), lateinisch axis, griechisch άξων, αμ-αξα; sanskritisch iugam, lateinisch iugum, griechisch ζυγόν. Auch die Benennungen des Kleides – sanskritisch vastra, lateinisch vestis, griechisch εςθής – und des Nähens und Spinnens – sanskritisch siv, lateinisch suo; sanskritisch nah, lateinisch neo, griechisch νήθω – sind in allen indogermanischen Sprachen die gleichen. Von der höheren Kunst des Webens läßt dies dagegen nicht in gleicher Weise sich sagenWenn das lateinische vieo, vimen, demselben Stamm angehört wie unser weben und die verwandten Wörter, so muß das Wort, noch als Griechen und Italiker sich trennten, die allgemeine Bedeutung flechten gehabt haben, und kann diese erst später, wahrscheinlich in verschiedenen Gebieten unabhängig voneinander, in die des Webens übergegangen sein. Auch der Leinbau, so alt er ist, reicht nicht bis in diese Zeit zurück, denn die Inder kennen die Flachspflanze wohl, bedienen sich ihrer aber bis heute nur zur Bereitung des Leinöls. Der Hanf ist den Italikern wohl noch später bekannt geworden als der Flachs; wenigstens sieht cannabis ganz aus wie ein spätes Lehnwort.. Dagegen ist wieder die Kunde von der Benutzung des Feuers zur Speisenbereitung und des Salzes zur Würzung derselben uraltes Erbgut der indogermanischen Nationen und das gleiche gilt sogar von der Kenntnis der ältesten zum Werkzeug und zum Zierat von dem Menschen verwandten Metalle. Wenigstens vom Kupfer (aes) und Silber (argentum), vielleicht auch vom Gold kehren die Namen wieder im Sanskrit, und diese Namen sind doch schwerlich entstanden, bevor man gelernt hatte, die Erze zu scheiden und zu verwenden; wie denn auch sanskritisch asis, lateinisch ensis auf den uralten Gebrauch metallener Waffen hinleitet.

Nicht minder reichen in diese Zeiten die Fundamentalgedanken zurück, auf denen die Entwicklung aller indogermanischen Staaten am letzten Ende beruht: die Stellung von Mann und Weib zueinander, die Geschlechtsordnung, das Priestertum des Hausvaters und die Abwesenheit eines eigenen Priesterstandes sowie überhaupt einer jeden Kastensonderung, die Sklaverei als rechtliche Institution, die Rechtstage der Gemeinde bei Neumond und Vollmond. Dagegen die positive Ordnung des Gemeinwesens, die Entscheidung zwischen Königtum und Gemeindeherrlichkeit, zwischen erblicher Bevorzugung der Königs- und Adelsgeschlechter und unbedingter Rechtsgleichheit der Bürger gehört überall einer späteren Zeit an. Selbst die Elemente der Wissenschaft und der Religion zeigen Spuren ursprünglicher Gemeinschaft.

Die Zahlen sind dieselben bis hundert (sanskritisch çatam, ékaçatam, lateinisch centum, griechisch ε-κατόν, gotisch hund); der Mond heißt in allen Sprachen davon, daß man nach ihm die Zeit mißt (mensis). Wie der Begriff der Gottheit selbst (sanskritisch devas, lateinisch deus, griechisch θεός) gehören zum gemeinen Gut der Völker auch manche der ältesten Religionsvorstellungen und Naturbilder. Die Auffassung zum Beispiel des Himmels als des Vaters, der Erde als der Mutter der Wesen, die Festzüge der Götter, die in eigenen Wagen auf sorgsam gebahnten Gleisen von einem Orte zum andern ziehen, die schattenhafte Fortdauer der Seele nach dem Tode sind Grundgedanken der indischen wie der griechischen und römischen Götterlehre. Selbst einzelne der Götter vom Ganges stimmen mit den am Ilissos und am Tiber verehrten bis auf die Namen überein – so ist der Uranos der Griechen der Varunas, so der Zeus, Jovis pater, Diespiter der Djâus pitâ der Veden. Auf manche rätselhafte Gestalt der hellenischen Mythologie ist durch die neuesten Forschungen über die ältere indische Götterlehre ein ungeahntes Licht gefallen. Die altersgrauen geheimnisvollen Gestalten der Erinnyen sind nicht hellenisches Gedicht, sondern schon mit den ältesten Ansiedlern aus dem Osten eingewandert. Das göttliche Windspiel Saramâ, das dem Herrn des Himmels die goldene Herde der Sterne und Sonnenstrahlen behütet und ihm die Himmelskühe, die nährenden Regenwolken zum Melken zusammentreibt, das aber auch die frommen Toten treulich in die Welt der Seligen geleitet, ist den Griechen zu dem Sohn der Saramâ, dem Saramêyas oder Hermeias geworden, und die rätselhafte, ohne Zweifel auch mit der römischen Cacussage zusammenhängende hellenische Erzählung von dem Raub der Rinder des Helios erscheint nun als ein letzter unverstandener Nachklang jener alten sinnvollen Naturphantasie.

Wenn die Aufgabe, den Kulturgrad zu bestimmen, den die Indogermanen vor der Scheidung der Stämme erreichten, mehr der allgemeinen Geschichte der alten Welt angehört, so ist es dagegen speziell Aufgabe der italischen Geschichte, zu ermitteln, soweit es möglich ist, auf welchem Stande die graecoitalische Nation sich befand, als Hellenen und Italiker sich voneinander schieden. Es ist dies keine überflüssige Arbeit; wir gewinnen damit den Anfangspunkt der italischen Zivilisation, den Ausgangspunkt der nationalen Geschichte.

Alle Spuren deuten dahin, daß, während die Indogermanen wahrscheinlich ein Hirtenleben führten und nur etwa die wilde Halmfrucht kannten, die Graecoitaliker ein korn-, vielleicht sogar schon ein weinbauendes Volk waren. Dafür zeugt nicht gerade die Gemeinschaft des Ackerbaues selbst, die im ganzen noch keineswegs einen Schluß auf alle Völkergemeinschaft rechtfertigt. Ein geschichtlicher Zusammenhang des indogermanischen Ackerbaus mit dem der chinesischen, aramäischen und ägyptischen Stämme wird schwerlich in Abrede gestellt werden können; und doch sind diese Stämme den Indogermanen entweder stammfremd oder doch zu einer Zeit von ihnen getrennt worden, wo es sicher noch keinen Feldbau gab. Vielmehr haben die höher stehenden Stämme vor alters wie heutzutage die Kulturgeräte und Kulturpflanzen beständig getauscht; und wenn die Annalen von China den chinesischen Ackerbau auf die unter einem bestimmten König in einem bestimmten Jahr stattgefundene Einführung von fünf Getreidearten zurückführen, so zeichnet diese Erzählung im allgemeinen wenigstens die Verhältnisse der ältesten Kulturepoche ohne Zweifel richtig. Gemeinschaft des Ackerbaus wie Gemeinschaft des Alphabets, der Streitwagen, des Purpurs und andern Geräts und Schmuckes gestattet weit öfter einen Schluß auf alten Völkerverkehr als auf ursprüngliche Volkseinheit. Aber was die Griechen und Italiker anlangt, so darf bei den verhältnismäßig wohlbekannten Beziehungen dieser beiden Nationen zueinander die Annahme, daß der Ackerbau, wie Schrift und Münze, erst durch die Hellenen nach Italien gekommen sei, als völlig unzulässig bezeichnet werden. Anderseits zeugt für den engsten Zusammenhang des beiderseitigen Feldbaus die Gemeinschaftlichkeit aller ältesten hierher gehörigen Ausdrücke: ager αγρός, aro aratrum αρόω άροτρον, ligo neben λαχαίνω, hortus χόρτος, hordeum κριθή, milium μελίνη, rapa ραφανίς, malva μαλάχη, vinum οίνος, und ebenso das Zusammentreffen des griechischen und italischen Ackerbaus in der Form des Pfluges, der auf altattischen und römischen Denkmälern ganz gleich gebildet vorkommt, in der Wahl der ältesten Kornarten: Hirse, Gerste, Spelt, in dem Gebrauch, die Ähren mit der Sichel zu schneiden und sie auf der glattgestampften Tenne durch das Vieh austreten zu lassen, endlich in der Bereitungsart des Getreides: puls πόλτος, pinso πτίσσω, mola μύλη, denn das Backen ist jüngeren Ursprungs, und wird auch deshalb im römischen Ritual statt des Brotes stets der Teig oder Brei gebraucht. Daß auch der Weinbau in Italien über die älteste griechische Einwanderung hinausgeht, dafür spricht die Benennung „Weinland“ (Οινοτρία), die bis zu den ältesten griechischen Anländern hinaufzureichen scheint. Danach muß der Übergang vom Hirtenleben zum Ackerbau oder, genauer gesprochen, die Verbindung des Feldbaus mit der älteren Weidewirtschaft stattgefunden haben, nachdem die Inder aus dem Mutterschoß der Nationen ausgeschieden waren, aber bevor die Hellenen und die Italiker ihre alte Gemeinsamkeit aufhoben. Übrigens scheinen, als der Ackerbau aufkam, die Hellenen und Italiker nicht bloß unter sich, sondern auch noch mit anderen Gliedern der großen Familie zu einem Volksganzen verbunden gewesen zu sein; wenigstens ist es Tatsache, daß die wichtigsten jener Kulturwörter zwar den asiatischen Gliedern der indogermanischen Völkerfamilien fremd, aber den Römern und Griechen mit den keltischen sowohl als mit den deutschen, slawischen, lettischen Stämmen gemeinsam sindSo finden sich aro aratrum wieder in dem altdeutschen aran (pflügen, mundartlich eren), erida, im slawischen orati, oradlo, im litauischen arti, arimnas, im keltischen ar, aradar. So steht neben ligo unser Rechen, neben hortus unser Garten, neben mola unsere Mühle, slawisch mlyn, litauisch malunas, keltisch malirr.

Allen diesen Tatsachen gegenüber wird man es nicht zugeben können, daß es eine Zeit gegeben wo die Griechen in allen hellenischen Gauen nur von der Viehzucht gelebt haben. Wenn nicht Grund-, sondern Viehbesitz in Hellas wie in Italien der Ausgangs- und Mittelpunkt alles Privatvermögens ist, so beruht dies nicht darauf, daß der Ackerbau erst später aufkam, sondern daß er anfänglich nach dem System der Feldgemeinschaft betrieben ward. Überdies versteht es sich von selbst, daß eine reine Ackerbauwirtschaft vor Scheidung der Stämme noch nirgends bestanden haben kann, sondern, je nach der Lokalität mehr oder minder, die Viehzucht damit sich in ausgedehnterer Weise verband, als dies später der Fall war.

Wie der Ackerbau selbst beruhen auch die Bestimmungen der Flächenmaße und die Weise der Limitation bei beiden Völkern auf gleicher Grundlage; wie denn das Bauen des Bodens ohne eine wenn auch rohe Vermessung desselben nicht gedacht werden kann. Der oskische und umbrische Vorsus von 100 Fuß ins Gevierte entspricht genau dem griechischen Plethron. Auch das Prinzip der Limitation ist dasselbe. Der Feldmesser orientiert sich nach einer der Himmelsgegenden und zieht also zuerst zwei Linien von Norden nach Süden und von Osten nach Westen, in deren Schneidepunkt (templum, τέμενος von τέμνω) er steht, alsdann in gewissen festen Abständen den Hauptschneidelinien parallele Linien, wodurch eine Reihe rechtwinkeliger Grundstücke entsteht, deren Ecken die Grenzpfähle (termini, in sizilischen Inschriften τέρμονες, gewöhnlich όροι) bezeichnen. Diese Limitationsweise, die wohl auch etruskisch, aber schwerlich etruskischen Ursprungs ist, finden wir bei den Römern, Umbrern, Samniten, aber auch in sehr alten Urkunden der tarentinischen Herakleoten, die sie wahrscheinlich ebensowenig von den Italikern entlehnt haben als diese sie von den Tarentinern, sondern es ist altes Gemeingut. Eigentümlich römisch und charakteristisch ist erst die eigensinnige Ausbildung des quadratischen Prinzips, wonach man selbst, wo Fluß und Meer eine natürliche Grenze machten, diese nicht gelten ließ, sondern mit dem letzten vollen Quadrat das zum Eigen verteilte Land abschloß.

Aber nicht bloß im Ackerbau, sondern auch auf den übrigen Gebieten der ältesten menschlichen Tätigkeit ist die vorzugsweise enge Verwandtschaft der Griechen und Italiker unverkennbar. Das griechische Haus, wie Homer es schildert, ist wenig verschieden von demjenigen, das in Italien beständig festgehalten ward; das wesentliche Stück und ursprünglich der ganze innere Wohnraum des lateinischen Hauses ist das Atrium, das heißt das schwarze Gemach mit dem Hausaltar, dem Ehebett, dem Speisetisch und dem Herd, und nichts anderes ist auch das homerische Megaron mit Hausaltar und Herd und schwarzberußter Decke. Nicht dasselbe läßt sich von dem Schiffbau sagen. Der Rudernachen ist altes indogermanisches Gemeingut; der Fortschritt zu Segelschiffen aber gehört der graecoitalischen Periode schwerlich an, da es keine nicht allgemein indogermanische und doch von Haus aus den Griechen und Italikern gemeinsame Seeausdrücke gibt. Dagegen wird wieder die uralte italische Sitte der gemeinschaftlichen Mittagsmahlzeiten der Bauern, deren Ursprung der Mythus an die Einführung des Ackerbaues anknüpft, von Aristoteles mit den kretischen Syssitien verglichen; und auch darin trafen die ältesten Römer mit den Kretern und Lakonen zusammen, daß sie nicht, wie es später bei beiden Völkern üblich ward, auf der Bank liegend, sondern sitzend die Speisen genossen. Das Feuerzünden durch Reiben zweier verschiedenartiger Hölzer ist allen Völkern gemein; aber gewiß nicht zufällig treffen Griechen und Italiker zusammen in den Bezeichnungen der beiden Zündehölzer, des „Reibers“ (τρύπανον, terebra) und der „Unterlage“ (στόρευς εσχάρα, tabula, wohl von tendere, τέταμαι). Ebenso ist die Kleidung beider Völker wesentlich identisch, denn die Tunika entspricht völlig dem Chiton, und die Toga ist nichts als ein bauschigeres Himation; ja selbst in dem so veränderlichen Waffenwesen ist wenigstens das beiden Völkern gemein, daß die beiden Hauptangriffswaffen Wurfspeer und Bogen sind, was römischerseits in den ältesten Wehrmannsnamen (pilumniarquites) deutlich sich aussprichtUnter den beiderseits ältesten Waffennamen werden kaum sicher verwandte aufgezeigt werden können: lancea, obwohl ohne Zweifel mit λόγχη zusammenhängend, ist als römisches Wort jung und vielleicht von den Deutschen oder Spaniern entlehnt. und der ältesten nicht eigentlich auf den Nahkampf berechneten Fechtweise angemessen ist. So geht bei den Griechen und Italikern in Sprache und Sitte zurück auf dieselben Elemente alles, was die materiellen Grundlagen der menschlichen Existenz betrifft; die ältesten Aufgaben, die die Erde an den Menschen stellt, sind einstmals von beiden Völkern, als sie noch eine Nation ausmachten, gemeinschaftlich gelöst worden.

Anders ist es in dem geistigen Gebiet. Die große Aufgabe des Menschen, mit sich selbst, mit seinesgleichen und mit dem Ganzen in bewußter Harmonie zu leben, läßt so viele Lösungen zu, als es Provinzen gibt in unsers Vaters Reich; und auf diesem Gebiet ist es, nicht auf dem materiellen, wo die Charaktere der Individuen und der Völker sich scheiden. In der graecoitalischen Periode müssen die Anregungen noch gefehlt haben, welche diesen innerlichen Gegensatz hervortreten machten; erst zwischen den Hellenen und den Italikern hat jene tiefe geistige Verschiedenheit sich offenbart, deren Nachwirkung noch bis auf den heutigen Tag sich fortsetzt. Familie und Staat, Religion und Kunst sind in Italien wie in Griechenland so eigentümlich, so durchaus national entwickelt worden, daß die gemeinschaftliche Grundlage, auf der auch hier beide Völker fußten, dort und hier überwuchert und unsern Augen fast ganz entzogen ist. Jenes hellenische Wesen, das dem Einzelnen das Ganze, der Gemeinde die Nation, dem Bürger die Gemeinde aufopferte, dessen Lebensideal das schöne und gute Sein und nur zu oft der süße Müßiggang war, dessen politische Entwicklung in der Vertiefung des ursprünglichen Partikularismus der einzelnen Gaue und später sogar in der innerlichen Auflösung der Gemeindegewalt bestand, dessen religiöse Anschauung erst die Götter zu Menschen machte und dann die Götter leugnete, das die Glieder entfesselte in dem Spiel der nackten Knaben und dem Gedanken in aller seiner Herrlichkeit und in aller seiner Furchtbarkeit freie Bahn gab; und jenes römische Wesen, das den Sohn in die Furcht des Vaters, die Bürger in die Furcht des Herrschers, sie alle in die Furcht der Götter bannte, das nichts forderte und nichts ehrte als die nützliche Tat und jeden Bürger zwang, jeden Augenblick des kurzen Lebens mit rastloser Arbeit auszufüllen, das die keusche Verhüllung des Körpers schon dem Buben zur Pflicht machte, in dem, wer anders sein wollte als die Genossen, ein schlechter Bürger hieß, in dem der Staat alles war und die Erweiterung des Staates der einzige nicht verpönte hohe Gedanke – wer vermag diese scharfen Gegensätze in Gedanken zurückzuführen auf die ursprüngliche Einheit, die sie beide umschloß und beide vorbereitete und erzeugte? Es wäre törichte Vermessenheit, diesen Schleier lüften zu wollen; nur mit wenigen Andeutungen soll es versucht werden, die Anfänge der italischen Nationalität und ihre Anknüpfung an eine ältere Periode zu bezeichnen, um den Ahnungen des einsichtigen Lesers nicht Worte zu leihen, aber die Richtung zu weisen.

Alles, was man das patriarchalische Element im Staate nennen kann, ruht in Griechenland wie in Italien auf denselben Fundamenten. Vor allen Dingen gehört hierher die sittliche und ehrbare Gestaltung des gesellschaftlichen LebensSelbst im einzelnen zeigt sich diese Übereinstimmung, z. B. in der Bezeichnung der rechten Ehe als der „zur Gewinnung rechter Kinder abgeschlossenen“ (γάμος επί παίδων γνησίων αρότω – matrimonium liberorum quaerendorum causa)., welche dem Manne die Monogamie gebietet und den Ehebruch der Frau schwer ahndet und welche in der hohen Stellung der Mutter innerhalb des häuslichen Kreises die Ebenbürtigkeit beider Geschlechter und die Heiligkeit der Ehe anerkennt. Dagegen ist die schroffe und gegen die Persönlichkeit rücksichtslose Entwicklung der eheherrlichen und mehr noch der väterlichen Gewalt den Griechen fremd und italisches Eigen; die sittliche Untertänigkeit hat erst in Italien sich zur rechtlichen Knechtschaft umgestaltet. In derselben Weise wurde die vollständige Rechtlosigkeit des Knechts, wie sie im Wesen der Sklaverei lag, von den Römern mit erbarmungsloser Strenge festgehalten und in allen ihren Konsequenzen entwickelt; wogegen bei den Griechen früh tatsächliche und rechtliche Milderungen stattfanden und zum Beispiel die Sklavenehe als ein gesetzliches Verhältnis anerkannt ward.

Auf dem Hause beruht das Geschlecht, das heißt die Gemeinschaft der Nachkommen desselben Stammvaters; und von dem Geschlecht ist bei den Griechen wie den Italikern das staatliche Dasein ausgegangen. Aber wenn in der schwächeren politischen Entwicklung Griechenlands der Geschlechtsverband als korporative Macht dem Staat gegenüber sich noch weit in die historische Zeit hinein behauptet hat, erscheint der italische Staat sofort insofern fertig, als ihm gegenüber die Geschlechter vollständig neutralisiert sind und er nicht die Gemeinschaft der Geschlechter, sondern die Gemeinschaft der Bürger darstellt. Daß dagegen umgekehrt das Individuum dem Geschlecht gegenüber in Griechenland weit früher und vollständiger zur innerlichen Freiheit und eigenartigen Entwicklung gediehen ist als in Rom, spiegelt sich mit großer Deutlichkeit in der bei beiden Völkern durchaus verschiedenartigen Entwicklung der ursprünglich doch gleichartigen Eigennamen. In den älteren griechischen tritt der Geschlechtsname sehr häufig adjektivisch zum Individualnamen hinzu, während umgekehrt noch die römischen Gelehrten es wußten, daß ihre Vorfahren ursprünglich nur einen, den späteren Vornamen führten. Aber während in Griechenland der adjektivische Geschlechtsname früh verschwindet, wird er bei den Italikern, und zwar nicht bloß bei den Römern, zum Hauptnamen, so daß der eigentliche Individualname, das Praenomen, sich ihm unterordnet. Ja es ist, als sollte die geringe und immer mehr zusammenschwindende Zahl und die Bedeutungslosigkeit der italischen, besonders der römischen Individualnamen, verglichen mit der üppigen und poetischen Fülle der griechischen, uns wie im Bilde zeigen, wie dort die Nivellierung, hier die freie Entwicklung der Persönlichkeit im Wesen der Nation lag.

Ein Zusammenleben in Familiengemeinden unter Stammhäuptern, wie man es für die graecoitalische Periode sich denken mag, mochte den späteren italischen wie hellenischen Politien ungleich genug sehen, mußte aber dennoch die Anfänge der beiderseitigen Rechtsbildung notwendig bereits enthalten. Die „Gesetze des Königs Italus“, die noch in Aristoteles‘ Zeiten angewendet wurden, mögen diese beiden Nationen wesentlich gemeinsamen Institutionen bezeichnen. Frieden und Rechtsfolge innerhalb der Gemeinde, Kriegsstand und Kriegsrecht nach außen, ein Regiment des Stammhauptes, ein Rat der Alten, Versammlungen der waffenfähigen Freien, eine gewisse Verfassung müssen in denselben enthalten gewesen sein. Gericht (crimen, κρίνειν), Buße (poena, ποινή), Wiedervergeltung (talio, ταλάω τλήναι) sind graecoitalische Begriffe. Das strenge Schuldrecht, nach welchem der Schuldner für die Rückgabe des Empfangenen zunächst mit seinem Leibe haftet, ist den Italikern und zum Beispiel den tarentinischen Herakleoten gemeinsam. Die Grundgedanken der römischen Verfassung – Königtum, Senat und eine nur zur Bestätigung oder Verwerfung der von dem König und dem Senat an sie gebrachten Anträge befugte Volksversammlung – sind kaum irgendwo so scharf ausgesprochen wie in Aristoteles‘ Bericht über die ältere Verfassung von Kreta. Die Keime zu größeren Staatenbünden in der staatlichen Verbrüderung oder gar der Verschmelzung mehrerer bisher selbständiger Stämme (Symmachie, Synoikismos) sind gleichfalls beiden Nationen gemein. Es ist auf diese Gemeinsamkeit der Grundlagen hellenischer und italischer Politie um so mehr Gewicht zu legen, als dieselbe sich nicht auch auf die übrigen indogermanischen Stämme mit erstreckt; wie denn zum Beispiel die deutsche Gemeindeordnung keineswegs wie die der Griechen und Italiker von dem Wahlkönigtum ausgeht. Wie verschieden aber die auf dieser gleichen Basis in Italien und in Griechenland aufgebauten Politien waren und wie vollständig der ganze Verlauf der politischen Entwicklung jeder der beiden Nationen als Sondergut angehörtNur darf man natürlich nicht vergessen, daß ähnliche Voraussetzungen überall zu ähnlichen Institutionen führen. So ist nichts so sicher, als daß die römischen Plebejer erst innerhalb des römischen Gemeinwesens erwuchsen, und doch finden sie überall ihr Gegenbild, wo neben einer Bürger- eine Insassenschaft sich entwickelt hat. Daß auch der Zufall hier sein neckendes Spiel treibt, versteht sich von selbst., wird die weitere Erzählung darzulegen haben.

Nicht anders ist es in der Religion. Wohl liegt in Italien wie in Hellas dem Volksglauben der gleiche Gemeinschatz symbolischer und allegorisierter Naturanschauungen zugrunde; auf diesem ruht die allgemeine Analogie zwischen der römischen und der griechischen Götter- und Geisterwelt, die in späteren Entwicklungsstadien so wichtig werden sollte. Auch in zahlreichen Einzelvorstellungen, in der schon erwähnten Gestalt des Zeus-Diovis und der Hestia-Vesta, in dem Begriff des heiligen Raumes (τέμενος, templum), in manchen Opfern und Zeremonien, stimmten die beiderseitigen Kulte nicht bloß zufällig überein. Aber dennoch gestalteten sie sich in Hellas wie in Italien so vollständig national und eigentümlich, daß selbst von dem alten Erbgut nur weniges in erkennbarer Weise und auch dieses meistenteils unverstanden oder mißverstanden bewahrt ward. Es konnte nicht anders sein; denn wie in den Völkern selbst die großen Gegensätze sich schieden, welche die graecoitalische Periode noch in ihrer Unmittelbarkeit zusammengehalten hatte, so schied sich auch in ihrer Religion Begriff und Bild, die bis dahin nur ein Ganzes in der Seele gewesen waren. Jene alten Bauern mochten, wenn die Wolken am Himmel hin gejagt wurden, sich das so ausdrücken, daß die Hündin der Götter die verscheuchten Kühe der Herde zusammentreibe; der Grieche vergaß es, daß die Kühe eigentlich die Wolken waren, und machte aus dem bloß für einzelne Zwecke gestatteten Sohn der Götterhündin den zu allen Diensten bereiten und geschickten Götterboten. Wenn der Donner in den Bergen rollte, sah er den Zeus auf dem Olymp die Keile schwingen; wenn der blaue Himmel wieder auflächelte, blickte er in das glänzende Auge der Tochter des Zeus, Athenaia; und so mächtig lebten ihm die Gestalten, die er sich geschaffen, daß er bald in ihnen nichts sah als vom Glanze der Naturkraft strahlende und getragene Menschen und sie frei nach den Gesetzen der Schönheit bildete und umbildete. Wohl anders, aber nicht schwächer offenbarte sich die innige Religiosität des italischen Stammes, der den Begriff festhielt und es nicht litt, daß die Form ihn verdunkelte. Wie der Grieche, wenn er opfert, die Augen zum Himmel aufschlägt, so verhüllt der Römer sein Haupt; denn jenes Gebet ist Anschauung und dieses Gedanke. In der ganzen Natur verehrt er das Geistige und Allgemeine; jedem Wesen, dem Menschen wie dem Baum, dem Staat wie der Vorratskammer, ist der mit ihm entstandene und mit ihm vergehende Geist zugegeben, das Nachbild des Physischen im geistigen Gebiet; dem Mann der männliche Genius, der Frau die weibliche Juno, der Grenze der Terminus, dem Wald der Silvanus, dem kreisenden Jahr der Vertumnus, und also weiter jedem nach seiner Art. Ja es wird in den Handlungen der einzelne Moment der Tätigkeit vergeistigt; so wird beispielsweise in der Fürbitte für den Landmann angerufen der Geist der Brache, des Ackerns, des Furchens, Säens, Zudeckens, Eggens und so fort bis zu dem des Einfahrens, Rufspeicherns und des Öffnens der Scheuer; und in ähnlicher Weise wird Ehe, Geburt und jedes andere physische Ereignis mit heiligem Leben ausgestattet. Je größere Kreise indes die Abstraktion beschreibt, desto höher steigt der Gott und die Ehrfurcht der Menschen; so sind Jupiter und Juno die Abstraktionen der Männlichkeit und der Weiblichkeit, Dea Dia oder Ceres die schaffende, Minerva die erinnernde Kraft, Dea bona oder, bei den Samniten, Dea cupra die gute Gottheit. Wie den Griechen alles konkret und körperlich erschien, so konnte der Römer nur abstrakte, vollkommen durchsichtige Formeln brauchen; und warf der Grieche den alten Sagenschatz der Urzeit deshalb zum größten Teil weg, weil in deren Gestalten der Begriff noch zu durchsichtig war, so konnte der Römer ihn noch weniger festhalten, weil ihm die heiligen Gedanken auch durch den leichtesten Schleier der Allegorie sich zu trüben schienen. Nicht einmal von den ältesten und allgemeinsten Mythen, zum Beispiel der den Indern, Griechen und selbst den Semiten geläufigen Erzählung von dem nach einer großen Flut übriggebliebenen gemeinsamen Stammvater des gegenwärtigen Menschengeschlechts, ist bei den Römern eine Spur bewahrt worden. Ihre Götter konnten nicht sich vermählen und Kinder zeugen wie die hellenischen; sie wandelten nicht ungesehen unter den Sterblichen und bedurften nicht des Nektars. Aber daß sie dennoch in ihrer Geistigkeit, die nur der platten Auffassung platt erscheint, die Gemüter mächtig und vielleicht mächtiger faßten als die nach dem Bilde des Menschen geschaffenen Götter von Hellas, davon würde, auch wenn die Geschichte schwiege, schon die römische, dem Worte wie dem Begriffe nach unhellenische Benennung des Glaubens, die „Religio“, das heißt die Bindung, zeugen. Wie Indien und Iran aus einem und demselben Erbschatz jenes die Formenfülle seiner heiligen Epen, dieses die Abstraktionen des Zendavesta entwickelte, so herrscht auch in der griechischen Mythologie die Person, in der römischen der Begriff, dort die Freiheit, hier die Notwendigkeit.

Endlich gilt, was von dem Ernst des Lebens, auch von dessen Nachbild in Scherz und Spiel, welche ja überall, und am meisten in der ältesten Zeit des vollen und einfachen Daseins, den Ernst nicht ausschließen, sondern einhüllen. Die einfachsten Elemente der Kunst sind in Latium und in Hellas durchaus dieselben: der ehrbare Waffentanz, der „Sprung“ (triumpus, θρίαμβος, δι-θύραμβος); der Mummenschanz der „vollen Leute“ (σάτυροι, satura), die, in Schaf- und Bockfelle gehüllt, mit ihren Späßen das Fest beschließen; endlich das Instrument der Flöte, das den feierlichen wie den lustigen Tanz mit angemessenen Weisen beherrscht und begleitet. Nirgends vielleicht tritt so deutlich wie hier die vorzugsweise enge Verwandtschaft der Hellenen und der Italiker zu Tage; und dennoch ist die Entwicklung der beiden Nationen in keiner anderen Richtung so weit auseinandergegangen. Die Jugendbildung blieb in Latium gebannt in die engen Schranken der häuslichen Erziehung; in Griechenland schuf der Drang nach mannigfaltiger und doch harmonischer Bildung des menschlichen Geistes und Körpers die von der Nation und von den Einzelnen als ihr bestes Gut gepflegten Wissenschaften der Gymnastik und der Paedeia. Latium steht in der Dürftigkeit seiner künstlerischen Entwicklung fast auf der Stufe der kulturlosen Völker; in Hellas ist mit unglaublicher Raschheit aus den religiösen Vorstellungen der Mythos und die Kulturfigur und aus diesen jene Wunderwelt der Poesie und der Bildnerei erwachsen, derengleichen die Geschichte nicht wieder aufzuzeigen hat. In Latium gibt es im öffentlichen wie im Privatleben keine anderen Mächte als Klugheit, Reichtum und Kraft; den Hellenen war es vorbehalten, die beseligende Übermacht der Schönheit zu empfinden, in sinnlich idealer Schwärmerei dem schönen Knabenfreunde zu dienen und den verlorenen Mut in den Schlachtliedern des göttlichen Sängers wiederzufinden.

So stehen die beiden Nationen, in denen das Altertum sein Höchstes erreicht hat, ebenso verschieden wie ebenbürtig nebeneinander. Die Vorzüge der Hellenen vor den Italikern sind von allgemeinerer Faßlichkeit und von hellerem Nachglanz; aber das tiefe Gefühl des Allgemeinen im Besondern, die Hingebung und Aufopferungsfähigkeit des Einzelnen, der ernste Glaube an die eigenen Götter ist der reiche Schatz der italischen Nation. Beide Völker haben sich einseitig entwickelt und darum beide vollkommen; nur engherzige Armseligkeit wird den Athener schmähen, weil er seine Gemeinde nicht zu gestalten verstand wie die Fabier und Valerier, oder den Römer, weil er nicht bilden lernte wie Pheidias und dichten wie Aristophanes. Es war eben das Beste und Eigenste des griechischen Volkes, was es ihm unmöglich machte, von der nationalen Einheit zur politischen fortzuschreiten, ohne doch die Politie zugleich mit der Despotie zu vertauschen. Die ideale Welt der Schönheit war den Hellenen alles und ersetzte ihnen selbst bis zu einem gewissen Grade, was in der Realität ihnen abging; wo immer in Hellas ein Ansatz zu nationaler Einigung hervortritt, beruht dieser nicht auf den unmittelbar politischen Faktoren, sondern auf Spiel und Kunst: nur die olympischen Wettkämpfe, nur die Homerischen Gesänge, nur die Euripideische Tragödie hielten Hellas in sich zusammen. Entschlossen gab dagegen der Italiker die Willkür hin um der Freiheit willen und lernte dem Vater gehorchen, damit er dem Staate zu gehorchen verstände. Mochte der Einzelne bei dieser Untertänigkeit verderben und der schönste menschliche Keim darüber verkümmern; er gewann dafür ein Vaterland und ein Vaterlandsgefühl, wie der Grieche es nie gekannt hat, und errang allein unter allen Kulturvölkern des Altertums bei einer auf Selbstregiment ruhenden Verfassung die nationale Einheit, die ihm endlich über den zersplitterten hellenischen Stamm und über den ganzen Erdkreis die Botmäßigkeit in die Hand legte.

Vorrede zu der zweiten Auflage


Vorrede zu der zweiten Auflage

Die neue Auflage der ‚Römischen Geschichte‘ weicht von der früheren beträchtlich ab. Am meisten gilt dies von den beiden ersten Büchern, welche die ersten fünf Jahrhunderte des römischen Staats umfassen. Wo die pragmatische Geschichte beginnt, bestimmt und ordnet sie durch sich selbst Inhalt und Form der Darstellung; für die frühere Epoche sind die Schwierigkeiten, welche die Grenzlosigkeit der Quellenforschung und die Zeit- und Zusammenhanglosigkeit des Materials dem Historiker bereiten, von der Art, daß er schwerlich andern und gewiß sich selber nicht genügt. Obwohl der Verfasser des vorliegenden Werkes mit diesen Schwierigkeiten der Forschung und der Darstellung ernstlich gerungen hat, ehe er dasselbe dem Publikum vorlegte, so blieb dennoch notwendig, hier noch viel zu tun und viel zu bessern. In diese Auflage ist eine Reihe neu angestellter Untersuchungen, zum Beispiel über die staatsrechtliche Stellung der Untertanen Roms, über die Entwicklung der dichtenden und bildenden Künste, ihren Ergebnissen nach aufgenommen worden. Überdies wurden eine Menge kleinerer Lücken ausgefüllt, die Darstellung durchgängig schärfer und reichlicher gefaßt, die ganze Anordnung klarer und übersichtlicher gestellt. Es sind ferner im dritten Buche die inneren Verhältnisse der römischen Gemeinde während der Karthagischen Kriege nicht, wie in der ersten Ausgabe, skizzenhaft, sondern mit der durch die Wichtigkeit wie die Schwierigkeit des Gegenstandes gebotenen Ausführlichkeit behandelt worden.

Der billig Urteilende und wohl am ersten der, welcher ähnliche Aufgaben zu lösen unternommen hat, wird es sich zu erklären und also zu entschuldigen wissen, daß es solcher Nachholungen bedurfte. Auf jeden Fall hat der Verfasser es dankbar anzuerkennen, daß das öffentliche Urteil nicht jene leicht ersichtlichen Lücken und Unfertigkeiten des Buches betont, sondern vielmehr wie den Beifall so auch den Widerspruch auf dasjenige gerichtet hat, darin es abgeschlossen und fertig war.

Im übrigen hat der Verfasser das Buch äußerlich bequemer einzurichten sich bemüht. Die Varronische Zählung nach Jahren der Stadt ist im Texte beibehalten; die Ziffern am RandeKarte und Register sind hier weggelassen., da anderweitige Obliegenheiten es dem Verfasser unmöglich machen, das Werk so rasch, wie er es wünschte, zu fördern.

Breslau, im November 1856

Die Änderungen, welche der Verfasser in dem zweiten und dritten Bande dieses Werkes bei der abermaligen Herausgabe zu machen veranlaßt gewesen ist, sind zum größeren Teil hervorgegangen aus den neu aufgefundenen Fragmenten des Licinianus, welche er durch die zuvorkommende Gefälligkeit des Herausgebers, Herrn Karl Pertz, bereits vor ihrem Erscheinen in den Aushängebogen hat einsehen dürfen und die zu unserer lückenhaften Kunde der Epoche von der Schlacht bei Pydna bis auf den Aufstand des Lepidus manche nicht unwichtige Ergänzung, freilich auch manches neue Rätsel hinzugefügt haben.

Breslau, im Mai 1857

Die dritte (vierte, fünfte, sechste, siebente, achte und neunte) Auflage wird man im ganzen von den vorhergehenden nicht beträchtlich abweichend finden. Kein billiger und sachkundiger Beurteiler wird den Verfasser eines Werkes, wie das vorliegende ist, verpflichtet erachten, für dessen neue Auflagen jede inzwischen erschienene Spezialuntersuchung auszunutzen, das heißt zu wiederholen. Was inzwischen aus fremden oder aus eigenen, seit dem Erscheinen der zweiten Auflage angestellten Forschungen sich dem Verfasser als versehen oder verfehlt ergeben hat, ist wie billig berichtet worden; zu einer Umarbeitung größerer Abschnitte hat sich keine Veranlassung dargeboten. Eine Ausführung über die Grundlagen der römischen Chronologie im vierzehnten Kapitel des dritten Buches ist späterhin in umfassender und dem Stoffe angemessener Weise in einer besonderen Schrift (‚Die römische Chronologie bis auf Caesar‘. Zweite Auflage. Berlin 1859) vorgelegt und deshalb hier jetzt auf die kurze Darlegung der Ergebnisse von allgemein geschichtlicher Wichtigkeit eingeschränkt worden. Im übrigen ist die Einrichtung nicht verändert.

Berlin, am 1. Februar 1861; am 29. Dezember 1864; am 11. April 1868; am 4. August 1874; am 21. Juli 1881; am 15. August 1887; am 1. Oktober 1902.

9. Kapitel


9. Kapitel

Die Etrusker

Im schärfsten Gegensatz zu den latinischen und den sabellischen Italikern wie zu den Griechen steht das Volk der Etrusker oder, wie sie sich selber nannten, der RasenDahin gehören z. B. Inschriften caeritischer Tongefäße wie: minice θumamimaθumaramlisiaeipurenaieθeeraisieepanamineθunastavhelefu oder: mi ramuθas kaiufinaia. . Durch Abwerfen der vokalischen konsonantischen Endungen und durch Abschwächen oder Ausstoßen der Vokale ward dies weiche und klangvolle Idiom allmählich in eine unerträglich harte und rauhe Sprache verwandeltSo Maecenas, Porsena, Vivenna, Caecina, Spurinna. Der Vokal in der vorletzten Silbe ist ursprünglich lang, wird aber infolge der Zurückziehung des Akzents auf die Anfangssilbe häufig verkürzt und sogar ausgestoßen. So finden wir neben Porsēna, auch Porsĕna, neben Caecina Ceicne. kehrt wieder in der auch in italischen, besonders sabellischen Geschlechtsnamen häufigen Endung enus, wie denn die etruskischen Namen Maecenas und Spurinna den römischen Maecius und Spurius genau entsprechen. Eine Reihe von Götternamen, die auf etruskischen Denkmälern oder bei Schriftstellern als etruskische vorkommen, sind dem Stamme und zum Teil auch der Endung nach so durchaus lateinisch gebildet, daß, wenn diese Namen wirklich von Haus aus etruskisch sind, die beiden Sprachen eng verwandt gewesen sein müssen: so Usil (Sonne und Morgenröte, verwandt mit ausum, aurum, aurora, sol), Minerva (menervare), Lasa (lascivus), Neptunus, Voltumna. Indes da diese Analogien erst aus den späteren politischen und religiösen Beziehungen zwischen Etruskern und Latinern und den dadurch veranlaßten Ausgleichungen und Entlehnungen herrühren können, so stoßen sie noch nicht das Ergebnis um, zu dem die übrigen Wahrnehmungen hinführen, daß die tuskische Sprache von den sämtlichen griechisch-italischen Idiomen mindestens so weit abstand wie die Sprache der Kelten und der Slaven. So wenigstens klang sie den Römern; „tuskisch und gallisch“ sind Barbarensprachen, „oskisch und volskisch“ Bauernmundarten. Wenn aber die Etrusker dem griechisch-italischen Sprachstamm fernstanden, so ist es bis jetzt ebensowenig gelungen, sie einem andern bekannten Stamme anzuschließen. Auf die Stammesverwandtschaft mit dem etruskischen sind die verschiedenartigsten Idiome, bald mit der einfachen, bald mit der peinlichen Frage, aber alle ohne Ausnahme vergeblich befragt worden; selbst mit dem baskischen, an das den geographischen Verhältnissen nach noch am ersten gedacht werden könnte, haben entscheidende Analogien sich nicht herausgestellt. Ebensowenig deuten die geringen Reste, die von der liturgischen Sprache in Orts- und Personennamen auf uns gekommen sind, auf Zusammenhang mit den Tuskern. Nicht einmal die verschollene Nation, die auf den Inseln des tuskischen Meeres, namentlich auf Sardinien, jene rätselhaften Grabtürme, Nurhagen genannt, zu Tausenden aufgeführt hat, kann füglich mit der etruskischen in Verbindung gebracht werden, da im etruskischen Gebiet kein einziges gleichartiges Gebäude vorkommt. Höchstens deuten einzelne, wie es scheint, ziemlich zuverlässige Spuren darauf hin, daß die Etrusker im allgemeinen den Indogermanen beizuzählen sind. So ist namentlich mi im Anfang vieler älterer Inschriften sicher εμί, ειμί und findet die Genetivform konsonantischer Stämme veneruf, rafuvuf im Altlateinischen genau sich wieder, entsprechend der alten sanskritischen Endung as. Ebenso hängt der Name des etruskischen Zeus Tina oder Tinia wohl mit dem sanskritischen dina = Tag zusammen wie Ζάν mit dem gleichbedeutenden diwan. Aber selbst dies zugegeben erscheint das etruskische Volk darum kaum weniger isoliert. „Die Etrusker“, sagt schon Dionysios, „stehen keinem Volke gleich an Sprache und Sitte“; und weiter haben auch wir nichts zu sagen.

Ebensowenig läßt sich bestimmen, von wo die Etrusker nach Italien eingewandert sind; und hiermit ist nicht viel verloren, da diese Wanderung auf jeden Fall der Kinderzeit des Volkes angehört und dessen geschichtliche Entwicklung in Italien beginnt und endet. Indes ist kaum eine Frage eifriger verhandelt worden als diese, nach jenem Grundsatz der Archäologen, vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder wißbar noch wissenswert ist, „nach der Mutter der Hekabe“, wie Kaiser Tiberius meinte. Da die ältesten und bedeutendsten etruskischen Städte tief im Binnenlande liegen, ja unmittelbar am Meer keine einzige namhafte etruskische Stadt begegnet außer Populonia, von dem wir aber eben sicher wissen, daß es zu den alten Zwölf Städten nicht gehört hat; da ferner in geschichtlicher Zeit die Etrusker von Norden nach Süden sich bewegen, so sind sie wahrscheinlich zu Lande nach der Halbinsel gekommen; wie denn auch die niedere Kulturstufe, auf der wir sie zuerst finden, mit einer Einwanderung über das Meer sich schlecht vertragen würde. Eine Meerenge überschritten schon in frühester Zeit die Völker gleich einem Strom; aber eine Landung an der italischen Westküste setzt ganz andere Bedingungen voraus. Danach muß die ältere Heimat der Etrusker west- oder nordwärts von Italien gesucht werden. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß die Etrusker über die rätischen Alpen nach Italien gekommen sind, da die ältesten in Graubünden und Tirol nachweisbaren Ansiedler, die Räter, bis in die historische Zeit etruskisch redeten und auch ihr Name auf den der Rasen anklingt; sie können freilich Trümmer der etruskischen Ansiedlungen am Po, aber wenigstens ebenso gut auch ein in den älteren Sitzen zurückgebliebener Teil des Volks sein.

Mit dieser einfachen und naturgemäßen Auffassung aber tritt in grellen Widerspruch die Erzählung, daß die Etrusker aus Asien ausgewanderte Lyder seien. Sie ist sehr alt: schon bei Herodot findet sie sich und kehrt dann in zahllosen Wandlungen und Steigerungen bei den Späteren wieder, wenngleich einzelne verständige Forscher, wie zum Beispiel Dionysios, sich nachdrücklich dagegen erklärten und darauf hinwiesen, daß in Religion, Gesetz, Sitte und Sprache zwischen Lydern und Etruskern auch nicht die mindeste Ähnlichkeit sich zeige. Es ist möglich, daß ein vereinzelter kleinasiatischer Piratenschwarm nach Etrurien gelangt ist und an dessen Abenteuer diese Märchen anknüpfen; wahrscheinlicher aber beruht die ganze Erzählung auf einem bloßen Quiproquo. Die italischen Etrusker oder die Turs-ennae – denn diese Form scheint die ursprüngliche und der griechischen Τυρ-σηνοί, Τυρρηνοί, der umbrischen Turs-ci, den beiden römischen Tusci Etrusci zu Grunde zu liegen – begegneten sich in dem Namen ungefähr mit dem lydischen Volke der Τορρηβοί oder auch wohl Τυρρ-ηνοί, so genannt von der Stadt Τύρρα; und diese offenbar zufällige Namensvetterschaft scheint in der Tat die einzige Grundlage jener durch ihr hohes Alter reicht besser gewordenen Hypothese und des ganzen babylonischen Turmes darauf aufgeführter Geschichtsklitterungen zu sein. Indem man mit dem lydischen Piratenwesen den alten etruskischen Seeverkehr verknüpfte und endlich noch – zuerst nachweislich tut es Thukydides – die torrhebischen Seeräuber mit Recht oder Unrecht zusammenwarf mit dem auf allen Meeren plündernden und hausenden Flibustiervolk der Pelasger, entstand eine der heillosesten Verwirrungen geschichtlicher Überlieferung. Die Tyrrhener bezeichnen bald die lydischen Torrheber – so in den ältesten Quellen, wie in den Homerischen Hymnen; bald als Tyrrhener-Pelasger oder auch bloß Tyrrhener die pelasgische Nation; bald endlich die italischen Etrusker, ohne daß die letzteren mit den Pelasgern oder den Torrhebern je sich nachhaltig berührt oder gar die Abstammung mit ihnen gemein hätten.

Von geschichtlichem Interesse ist es dagegen zu bestimmen, was die nachweislich ältesten Sitze der Etrusker waren und wie sie von dort aus sich weiter bewegten. Daß sie vor der großen keltischen Invasion in der Landschaft nördlich vom Padus saßen, östlich an der Etsch grenzend mit den Venetern illyrischen (albanesischen?) Stammes, westlich mit den Ligurern, ist vielfach beglaubigt; vornehmlich zeugt dafür der schon erwähnte rauhe etruskische Dialekt, den noch in Livius‘ Zeit die Bewohner der rätischen Alpen redeten, sowie das bis in späte Zeit tuskisch gebliebene Mantua. Südlich vom Padus und an den Mündungen dieses Flusses mischten sich Etrusker und Umbrer, jener als der herrschende Stamm, dieser als der ältere, der die alten Kaufstädte Atria und Spina gegründet hatte, während Felsina (Bologna) und Ravenna tuskische Anlagen scheinen. Es hat lange gewährt, ehe die Kelten den Padus überschritten; womit es zusammenhängt, daß auf dem rechten Ufer desselben das etruskische und umbrische Wesen weit tiefere Wurzeln geschlagen hat als auf dem früh aufgegebenen linken. Doch sind überhaupt die Landschaften nördlich vom Apennin zu rasch von einer Nation an die andere gelangt, als daß eine dauerhafte Volksentwicklung sich hier hätte gestalten können.

Weit wichtiger für die Geschichte wurde die große Ansiedelung der Tusker in dem Lande, das heute noch ihren Namen trägt. Mögen auch Ligurer oder Umbrer hier einstmals gewohnt haben, so sind doch ihre Spuren durch die etruskische Okkupation und Zivilisation so gut wie vollständig ausgetilgt worden. In diesem Gebiet, das am Meer von Pisae bis Tarquinii reicht und östlich vom Apennin abgeschlossen wird, hat die etruskische Nationalität ihre bleibende Stätte gefunden und mit großer Zähigkeit bis in die Kaiserzeit hinein sich behauptet. Die Nordgrenze des eigentlich tuskischen Gebietes machte der Arnus; das Gebiet von da nordwärts bis zur Mündung der Macra und dem Apennin war streitiges Grenzland, bald ligurisch, bald etruskisch, und größere Ansiedlungen gediehen deshalb daselbst nicht. Die Südgrenze bildete anfangs wahrscheinlich der Ciminische Wald, eine Hügelkette südlich von Viterbo, späterhin der Tiberstrom; es ward schon oben angedeutet, daß das Gebiet zwischen dem Ciminischen Gebirg und dem Tiber mit den Städten Sutrium, Nepete, Falerii, Veii, Caere erst geraume Zeit später als die nördlicheren Distrikte, möglicherweise erst im zweiten Jahrhundert Roms, von den Etruskern eingenommen zu sein scheint und daß die ursprüngliche italische Bevölkerung sich hier, namentlich in Falerii, wenn auch in abhängigem Verhältnis behauptet haben muß.

Seitdem der Tiberstrom die Markscheide Etruriens gegen Umbrien und Latium bildete, mag hier im ganzen ein friedliches Verhältnis eingetreten sein und eine wesentliche Grenzverschiebung nicht stattgefunden haben, am wenigsten gegen die Latiner. So lebendig in den Römern das Gefühl lebte, daß der Etrusker ihnen fremd, der Latiner ihr Landsmann war, so scheinen sie doch vom rechten Ufer her weit weniger Überfall und Gefahr befürchtet zu haben als zum Beispiel von den Stammesverwandten in Gabii und Alba; natürlich, denn dort schützte nicht bloß die Naturgrenze des breiten Stromes, sondern auch der für Roms merkantile und politische Entwicklung folgenreiche Umstand, daß keine der mächtigeren etruskischen Städte unmittelbar am Fluß lag wie am latinischen Ufer Rom. Dem Tiber am nächsten waren die Veienter, und sie waren es auch, mit denen Rom und Latium am häufigsten in ernste Konflikte gerieten, namentlich um den Besitz von Fidenae, welches den Veientern auf dem linken Tiberufer, ähnlich wie auf dem rechten den Römern das Ianiculum, als eine Art Brückenkopf diente und bald in den Händen der Latiner, bald in denen der Etrusker sich befand. Dagegen mit dem etwas entfernteren Caere war das Verhältnis im ganzen weit friedlicher und freundlicher, als es sonst unter Nachbarn in solchen Zeiten vorzukommen pflegt. Es gibt wohl schwankende und in die graueste Fernzeit gerückte Sagen von Kämpfen zwischen Latium und Caere, wie denn der caeritische König Mezentius über die Latiner große Siege erfochten und denselben einen Weinzins auferlegt haben soll; aber viel bestimmter als der einstmalige Fehdestand erhellt aus der Tradition ein vorzugsweise enges Verhältnis zwischen den beiden uralten Mittelpunkten des Handels- und Seeverkehrs in Latium und in Etrurien. Sichere Spuren von einem Vordringen der Etrusker über den Tiber hinaus auf dem Landweg mangeln überhaupt. Zwar werden in dem großen Barbarenheer, das Aristodemos im Jahre 230 (524) der Stadt unter den Mauern von Kyme vernichtet, die Etrusker in erster Reihe genannt; indes selbst wenn man diese Nachricht als bis ins einzelne glaubwürdig betrachtet, folgt daraus nur, daß die Etrusker an einem großen Plünderzuge teilnahmen. Weit wichtiger ist es, daß südwärts vom Tiber keine auf dem Landweg gegründete etruskische Ansiedlung nachweisbar ist und daß namentlich von einer ernstlichen Bedrängung der latinischen Nation durch die Etrusker gar nichts wahrgenommen wird. Der Besitz des Ianiculum und der beiden Ufer der Tibermündung blieb den Römern, soviel wir sehen, unangefochten. Was die Übersiedlungen etruskischer Gemeinschaften nach Rom anlangt, so findet sich ein vereinzelter, aus tuskischen Annalen gezogener Bericht, daß eine tuskische Schar, welche Caelius Vivenna von Volsinii und nach dessen Untergang der treue Genosse desselben, Mastarna, angeführt habe, von dem letzteren nach Rom geführt worden sei. Es mag dies zuverlässig sein, wenngleich die Herleitung des Namens des caelischen Berges von diesem Caelius offenbar eine Philologenerfindung ist und nun gar der Zusatz, daß dieser Mastarna in Rom König geworden sei unter dem Namen Servius Tullius, gewiß nichts ist als eine unwahrscheinliche Vermutung solcher Archäologen, die mit dem Sagenparallelismus sich abgaben. Auf etruskische Ansiedlungen in Rom deutet weiter das „Tuskerquartier“ unter dem Palatin.

Auch das kann schwerlich bezweifelt werden, daß das letzte Königsgeschlecht, das über die Römer geherrscht hat, das der Tarquinier, aus Etrurien entsprossen ist, sei es nun aus Tarquinii, wie die Sage will, sei es aus Caere, wo das Familiengrab der Tarchnas vor kurzem aufgefunden worden ist; auch der in die Sage verflochtene Frauenname Tanaquil oder Tanchvil ist unlateinisch, dagegen in Etrurien gemein. Allein die überlieferte Erzählung, wonach Tarquinius der Sohn eines aus Korinth nach Tarquinii übergesiedelten Griechen war und in Rom als Metöke einwanderte, ist weder Geschichte noch Sage und die geschichtliche Kette der Ereignisse offenbar hier nicht bloß verwirrt, sondern völlig zerrissen. Wenn aus dieser Überlieferung überhaupt etwas mehr entnommen werden kann als die nackte und im Grunde gleichgültige Tatsache, daß zuletzt ein Geschlecht tuskischer Abkunft das königliche Szepter in Rom geführt hat, so kann darin nur liegen, daß diese Herrschaft eines Mannes tuskischer Herkunft über Rom weder als eine Herrschaft der Tusker oder einer tuskischen Gemeinde über Rom, noch umgekehrt als die Herrschaft Roms über Südetrurien gefaßt werden darf. In der Tat ist weder für die eine noch für die andere Annahme irgendein ausreichender Grund vorhanden; die Geschichte der Tarquinier spielt in Latium, nicht in Etrurien, und soweit wir sehen, hat während der ganzen Königszeit Etrurien auf Rom weder in der Sprache noch in Gebräuchen einen wesentlichen Einfluß geübt oder gar die ebenmäßige Entwicklung des römischen Staats oder des latinischen Bundes unterbrochen.

Die Ursache dieser relativen Passivität Etruriens gegen das latinische Nachbarland ist wahrscheinlich teils zu suchen in den Kämpfen der Etrusker mit den Kelten am Padus, den diese vermutlich erst nach der Vertreibung der Könige in Rom überschritten, teils in der Richtung der etruskischen Nation auf Seefahrt und Meer- und Küstenherrschaft, womit zum Beispiel die kampanischen Ansiedelungen entschieden zusammenhängen und wovon im folgenden Kapitel weiter die Rede sein wird.

Die tuskische Verfassung beruht gleich der griechischen und latinischen auf der zur Stadt sich entwickelnden Gemeinde. Die frühe Richtung der Nation aber auf Schiffahrt, Handel und Industrie scheint rascher, als es sonst in Italien der Fall gewesen ist, hier eigentlich städtische Gemeinwesen ins Leben gerufen zu haben; zuerst von allen italischen Städten wird in den griechischen Berichten Caere genannt. Dagegen finden wir die Etrusker im ganzen minder kriegstüchtig und kriegslustig als die Römer und Sabeller; die unitalische Sitte, mit Söldnern zu fechten, begegnet hier sehr früh. Die älteste Verfassung der Gemeinden muß in den allgemeinen Grundzügen Ähnlichkeit mit der römischen gehabt haben; Könige oder Lucumonen herrschten, die ähnliche Insignien, also wohl auch ähnliche Machtfülle besaßen wie die römischen; Vornehme und Geringe standen sich schroff gegenüber; für die Ähnlichkeit der Geschlechterordnung bürgt die Analogie des Namensystems, nur daß bei den Etruskern die Abstammung von mütterlicher Seite weit mehr Beachtung findet als im römischen Recht. Die Bundesverfassung scheint sehr lose gewesen zu sein. Sie umschloß nicht die gesamte Nation, sondern es waren die nördlichen und die kampanischen Etrusker zu eigenen Eidgenossenschaften vereinigt ebenso wie die Gemeinden des eigentlichen Etrurien; jeder dieser Bünde bestand aus zwölf Gemeinden, die zwar eine Metropole, namentlich für den Götterdienst, und ein Bundeshaupt oder vielmehr einen Oberpriester anerkannten, aber doch im wesentlichen gleichberechtigt gewesen zu sein scheinen und zum Teil wenigstens so mächtig, daß weder eine Hegemonie sich bilden noch die Zentralgewalt zur Konsolidierung gelangen konnte. Im eigentlichen Etrurien war die Metropole Volsinii; von den übrigen Zwölfstädten desselben kennen wir durch sichere Überlieferung nur Perusia, Vetulonium, Volci und Tarquinii. Es ist indes ebenso selten, daß die Etrusker wirklich gemeinschaftlich handeln, als das Umgekehrte selten ist bei der latinischen Eidgenossenschaft; die Kriege führt regelmäßig eine einzelne Gemeinde, die von ihren Nachbarn wen sie kann ins Interesse zieht, und wenn ausnahmsweise der Bundeskrieg beschlossen wird, so schließen sich dennoch sehr häufig einzelne Städte aus – es scheint den etruskischen Konföderationen mehr noch als den ähnlichen italischen Stammbünden von Haus aus an einer festen und gebietenden Oberleitung gefehlt zu haben.

Bis zur Abschaffung des römischen Königtums


Bis zur Abschaffung des römischen Königtums

Bis zur Abschaffung des römischen Königtums

Τά παλαίστερα σαφώς μέν ευρείν διά χρόνου πλήθος αδύνατα ήν. Εκ δέ τεκμηρίων ων επί μακρότατον σκοπούντί μοι πιστεύσαι ξυμβαίνει ου μεγάλα νομίζω γενέσθαι, ούτε κατά τούς πολέμους οίτε ες τά άλλα.

Die älteren Begebenheiten ließen sich wegen der Länge der Zeit nicht genau erforschen; aber aus Zeugnissen, die sich mir bei der Prüfung im großen Ganzen als verläßlich erwiesen, glaube ich, daß sie nicht erheblich waren, weder in bezug auf die Kriege noch sonst.

(Thukydides)

10. Kapitel


10. Kapitel

Die Hellenen in Italien. Seeherrschaft der Tusker und Karthager

Nicht auf einmal wird es hell in der Völkergeschichte des Altertums; und auch hier beginnt der Tag im Osten. Während die italische Halbinsel noch in tiefes Werdegrauen eingehüllt liegt, ist in den Landschaften am östlichen Becken des Mittelmeers bereits eine nach allen Seiten hin reich entwickelte Kultur ans Licht getreten; und das Geschick der meisten Völker, in den ersten Stadien der Entwicklung an einem ebenbürtigen Bruder zunächst den Meister und Herrn zu finden, ist in hervorragendem Maße auch den Völkern Italiens zuteil geworden. Indes lag es in den geographischen Verhältnissen der Halbinsel, daß eine solche Einwirkung nicht zu Lande stattfinden konnte. Von der Benutzung des schwierigen Landwegs zwischen Italien und Griechenland in ältester Zeit findet sich nirgends eine Spur. In das transalpinische Land freilich mochten von Italien aus schon in unvordenklich ferner Zeit Handelsstraßen führen: die älteste Bernsteinstraße erreichte von der Ostsee aus das Mittelmeer an der Pomündung – weshalb in der griechischen Sage das Delta des Po als Heimat des Bernsteins erscheint –, und an diese Straße schloß sich eine andere quer durch die Halbinsel über den Apennin nach Pisa führende an; aber Elemente der Zivilisation konnten von dort her den Italikern nicht zukommen. Es sind die seefahrenden Nationen des Ostens, die nach Italien gebracht haben, was überhaupt in früher Zeit von ausländischer Kultur dorthin gelangt ist.

Das älteste Kulturvolk am Mittelmeergestade, die Ägypter, fuhren noch nicht über Meer und haben daher auch auf Italien nicht eingewirkt. Ebensowenig aber kann dies von den Phönikern behauptet werden. Allerdings waren sie es, die von ihrer engen Heimat am äußeren Ostrand des Mittelmeers aus zuerst unter allen bekannten Stämmen auf schwimmenden Häusern in dasselbe, anfangs des Fisch- und Muschelfangs, bald auch des Handels wegen, sich hinauswagten, die zuerst den Seeverkehr eröffneten und in unglaublich früher Zeit das Mittelmeer bis zu seinem äußersten westlichen Ende befuhren. Fast an allen Gestaden desselben erscheinen vor den hellenischen phönikische Seestationen: wie in Hellas selbst, auf Kreta und Kypros, in Ägypten, Libyen und Spanien, so auch im italischen Westmeer. Um ganz Sizilien herum, erzählt Thukydides, hatten, ehe die Griechen dorthin kamen, oder wenigstens, ehe sie dort in größerer Anzahl sich festsetzten, die Phöniker auf den Landspitzen und Inselchen ihre Faktoreien gegründet, des Handels wegen mit den Eingeborenen, nicht um Land zu gewinnen. Allein anders verhält es sich mit dem italischen Festland. Von phönikischen Niederlassungen daselbst ist bis jetzt nur eine einzige mit einiger Sicherheit nachgewiesen worden, eine punische Faktorei bei Caere, deren Andenken sich bewahrt hat teils in der Benennung der kleinen Ortschaft an der caeritischen Küste Punicum, teils in dem zweiten Namen der Stadt Caere selbst, Agylla, welcher nicht, wie man fabelt, von den Pelasgern herrührt, sondern phönikisch ist und die „Rundstadt“ bezeichnet, wie eben vom Ufer aus gesehen Caere sich darstellt. Daß diese Station und was von ähnlichen Gründungen es an den Küsten Italiens noch sonst gegeben haben mag, auf jeden Fall weder bedeutend noch von langem Bestande gewesen ist, beweist ihr fast spurloses Verschwinden; aber es liegt auch nicht der mindeste Grund vor, sie für älter zu halten als die gleichartigen hellenischen Ansiedlungen an denselben Gestaden. Ein unverächtliches Anzeichen davon, daß wenigstens Latium die kanaanitischen Männer erst durch Vermittlung der Hellenen kennengelernt hat, ist ihre latinische, der griechischen entlehnte Benennung der Pöner. Vielmehr führen alle ältesten Beziehungen der Italiker zu der Zivilisation des Ostens entschieden nach Griechenland; und es läßt sich das Entstehen der phönikischen Faktorei bei Caere, ohne auf die vorhellenische Periode zurückzugehen, sehr wohl aus den späteren wohlbekannten Beziehungen des caeritischen Handelsstaats zu Karthago erklären. In der Tat lag, wenn man sich erinnert, daß die älteste Schiffahrt wesentlich Küstenfahrt war und blieb, den Phönikern kaum eine Landschaft am Mittelmeer so fern wie der italische Kontinent. Sie konnten ihn nur entweder von der griechischen Westküste oder von Sizilien aus erreichen; und es ist sehr glaublich, daß die hellenische Seefahrt früh genug aufblühte, um den Phönikern in der Befahrung der Adriatischen wie der Tyrrhenischen See zuvorzukommen. Ursprünglichen unmittelbaren Einfluß der Phöniker auf die Italiker anzunehmen, ist deshalb kein Grund vorhanden; auf die späteren Beziehungen der phönikischen Seeherrschaft im westlichen Mittelmeer zu den italischen Anwohnern der Tyrrhenischen See wird die Darstellung zurückkommen.

Allem Anschein nach sind es also die hellenischen Schiffer gewesen, die zuerst unter den Anwohnern des östlichen Beckens des Mittelmeers die italischen Küsten befuhren. Von den wichtigen Fragen indes, aus welcher Gegend und zu welcher Zeit die griechischen Seefahrer dorthin gelangt sind, läßt nur die erstere sich mit einiger Sicherheit und Vollständigkeit beantworten. Es war das äolische und ionische Gestade Kleinasiens, wo zuerst der hellenische Seeverkehr sich großartig entfaltete und von wo aus den Griechen wie das Innere des Schwarzen Meeres so auch die italischen Küsten sich erschlossen. Der Namen des Ionischen Meeres, welcher den Gewässern zwischen Epirus und Sizilien geblieben ist, und der der Ionischen Bucht, mit welchem Namen die Griechen früher das Adriatische Meer bezeichneten, haben das Andenken an die einstmalige Entdeckung der Süd- und Ostküste Italiens durch ionische Seefahrer bewahrt. Die älteste griechische Ansiedlung in Italien, Kyme, ist dem Namen wie der Sage nach eine Gründung der gleichnamigen Stadt an der anatolischen Küste. Nach glaubwürdiger hellenischer Überlieferung waren es die kleinasiatischen Phokäer, die zuerst von den Hellenen die entferntere Westsee befuhren. Bald folgten auf den von den Kleinasiaten gefundenen Wegen andere Griechen nach: Ionier von Naxos und von Chalkis auf Euböa, Achäer, Lokrer, Rhodier, Korinther, Megarer, Messener, Spartaner. Wie nach der Entdeckung Amerikas die zivilisierten Nationen Europas wetteiferten, dorthin zu fahren und dort sich niederzulassen; wie die Solidarität der europäischen Zivilisation den neuen Ansiedlern inmitten der Barbaren deutlicher zum Bewußtsein kam als in ihrer alten Heimat, so war auch die Schiffahrt nach dem Westen und die Ansiedelung im Westland kein Sondergut einer einzelnen Landschaft oder eines einzelnen Stammes der Griechen, sondern Gemeingut der hellenischen Nation; und wie sich zu Nordamerikas Schöpfung englische und französische, holländische und deutsche Ansiedlungen gemischt und durchdrungen haben, so ist auch das griechische Sizilien und „Großgriechenland“ aus den verschiedenartigsten hellenischen Stammschaften oft ununterscheidbar zusammengeschmolzen. Doch lassen sich, außer einigen mehr vereinzelt stehenden Ansiedlungen, wie die der Lokrer mit ihren Pflanzstädten Hipponion und Medama und die erst gegen Ende dieser Periode gegründete Niederlassung der Phokäer Hyele (Velia, Elea) sind, im ganzen drei Hauptgruppen unterscheiden: die unter dem Namen der chalkidischen Städte zusammengefaßte ursprünglich ionische, zu der in Italien Kyme mit den übrigen griechischen Niederlassungen am Vesuv und Rhegion, in Sizilien Zankle (später Messana), Naxos, Katane, Leontini, Himera zählen; die achäische, wozu Sybaris und die Mehrzahl der großgriechischen Städte sich rechneten, und die dorische, welcher Syrakus, Gela, Akragas, überhaupt die Mehrzahl der sizilischen Kolonien, dagegen in Italien nur Taras (Tarentum) und dessen Pflanzstadt Herakleia angehören. Im ganzen überwiegt in der Einwanderung die ältere hellenische Schicht der Ionier und der vor der dorischen Einwanderung im Peloponnes ansässigen Stämme; von den Dorern haben sich vorzugsweise nur die Gemeinden gemischter Bevölkerung, wie Korinth und Megara, die rein dorischen Landschaften dagegen nur in untergeordnetem Grade beteiligt; natürlich, denn die Ionier waren ein altes Handels- und Schiffervolk, die dorischen Stämme aber sind erst verhältnismäßig spät von ihren binnenländischen Bergen in die Küstenlandschaften hinabgestiegen und zu allen Zeiten dem Seeverkehr ferner geblieben. Sehr bestimmt treten die verschiedenen Einwanderergruppen auseinander, besonders in ihrem Münzfuß. Die phokäischen Ansiedler prägen nach dem in Asien herrschenden babylonischen Fuß. Die chalkidischen Städte folgen in ältester Zeit dem aeginäischen, das heißt dem ursprünglich im ganzen europäischen Griechenland vorherrschenden und zwar zunächst derjenigen Modifikation desselben, die wir dort auf Euböa wiederfinden. Die achäischen Gemeinden münzen auf korinthische, die dorischen endlich auf diejenige Währung, die Solon im Jahre 160 Roms (594) in Attika eingeführt hatte, nur daß Taras und Herakleia sich in wesentlichen Stücken vielmehr nach der Währung ihrer achäischen Nachbarn richten als nach der der sizilischen Dorer.

Die Zeitbestimmung der früheren Fahrten und Ansiedlungen wird wohl für immer in tiefes Dunkel eingehüllt bleiben. Zwar eine gewisse Folge darin tritt auch für uns noch unverkennbar hervor. In der ältesten Urkunde der Griechen, welche, wie der älteste Verkehr mit dem Westen, den kleinasiatischen Ioniern eignet, in den Homerischen Gesängen reicht der Horizont noch kaum über das östliche Becken des Mittelmeers hinaus. Vom Sturm in die westliche See verschlagene Schiffer mochten von der Existenz eines Westlandes und etwa noch von dessen Meeresstrudeln und feuerspeienden Inselbergen die Kunde nach Kleinasien heimgebracht haben; allein zu der Zeit der Homerischen Dichtung mangelte selbst in derjenigen griechischen Landschaft, welche am frühesten mit dem Westland in Verkehr trat, noch jede zuverlässige Kunde von Sizilien und Italien; und die Märchenerzähler und Dichter des Ostens konnten, wie seinerzeit die okzidentalischen den fabelhaften Orient, ungestört die leeren Räume des Westens mit ihren luftigen Gestalten erfüllen. Bestimmter treten schon in den Hesiodischen Gedichten die Umrisse Italiens und Siziliens hervor; sie kennen aus beiden einheimische Namen von Völkerschaften, Bergen und Städten; doch ist ihnen Italien noch eine Inselgruppe. Dagegen in der gesamten nachhesiodischen Literatur erscheint Sizilien und selbst das gesamte Gestade Italiens als den Hellenen wenigstens im allgemeinen bekannt. Ebenso läßt die Reihenfolge der griechischen Ansiedlungen mit einiger Sicherheit sich bestimmen. Als die älteste namhafte Ansiedlung im Westland galt offenbar schon dem Thukydides Kyme; und gewiß hat er nicht geirrt. Allerdings lag dem griechischen Schiffer mancher Landungsplatz näher; allein vor den Stürmen wie vor den Barbaren war keiner so geschützt wie die Insel Ischia, auf der die Stadt ursprünglich lag; und daß solche Rücksichten vor allem bei dieser Ansiedlung leiteten, zeigt selbst die Stelle noch, die man später auf dem Festland dazu ausersah, die steile, aber geschützte Felsklippe, die noch heute den ehrwürdigen Namen der anatolischen Mutterstadt trägt. Nirgends in Italien sind denn auch die Örtlichkeiten der kleinasiatischen Märchen mit solcher Festigkeit und Lebendigkeit lokalisiert wie in der kymäischen Landschaft, wo die frühesten Westfahrer, jener Sagen von den Wundern des Westens voll, zuerst das Fabelland betraten und die Spuren der Märchenwelt, in der sie zu wandeln meinten, in den Sirenenfelsen und dem zur Unterwelt führenden Aornossee zurückließen. Wenn ferner in Kyme zuerst die Griechen Nachbarn der Italiker wurden, so erklärt es sich sehr einfach, weshalb der Name desjenigen italischen Stammes, der zunächst um Kyme angesessen war, der Name der Opiker, von ihnen noch lange Jahrhunderte nachher für sämtliche Italiker gebraucht ward. Es ist ferner glaublich überliefert, daß die massenhafte hellenische Einwanderung in Unteritalien und Sizilien von der Niederlassung auf Kyme durch einen beträchtlichen Zwischenraum getrennt war und daß bei jener Einwanderung wieder die Ionier von Chalkis und von Naxos vorangingen und Naxos auf Sizilien die älteste aller durch eigentliche Kolonisierung in Italien und Sizilien gegründeten Griechenstädte ist, worauf dann die achäischen und dorischen Kolonisationen erst später erfolgt sind.

Allein es scheint völlig unmöglich, für diese Reihe von Tatsachen auch nur annähernd sichere Jahreszahlen festzustellen. Die Gründung der achäischen Stadt Sybaris im Jahre 33 (721) und die der dorischen Stadt Taras im Jahre 46 Roms (708) mögen die ältesten Daten der italischen Geschichte sein, deren wenigstens ungefähre Richtigkeit als ausgemacht angesehen werden kann. Um wieviel aber die Ausführung der älteren ionischen Kolonien jenseits dieser Epoche zurückliege, ist ebenso ungewiß wie das Zeitalter der Entstehung der Hesiodischen und gar der Homerischen Gedichte. Wenn Herodot das Zeitalter Homers richtig bestimmt hat, so war Italien den Griechen ein Jahrhundert vor der Gründung Roms (850) noch unbekannt; indes jene Ansetzung ist wie alle anderen der Lebenszeit Homers kein Zeugnis, sondern ein Schluß, und wer die Geschichte der italischen Alphabete sowie die merkwürdige Tatsache erwägt, daß den Italikern das Griechenvolk bekannt ward, bevor der hellenische Stammname aufgekommen war, und die Italiker ihre Bezeichnung der Hellenen von dem in Hellas früh verschollenen Stamm der Grai oder Graeci entlehntenOb der Name der Graeker ursprünglich aus dem epirotischen Binnenland und der Gegend von Dodone haftet oder vielmehr den früher vielleicht bis an das Westmeer reichenden Ätolern eigen war, mag dahingestellt bleiben; er muß in ferner Zeit einem hervorragenden Stamm oder Komplex von Stämmen des eigentlichen Griechenlands eigen gewesen und von diesen auf die gesamte Nation übergegangen sein. In den Hesiodischen Eöen erscheint er als älterer Gesamtname der Nation, jedoch mit offenbarer Absichtlichkeit beiseite geschoben und dem hellenischen untergeordnet, welcher letztere bei Homer noch nicht, wohl aber, außer bei Hesiod, schon bei Archilochos um das Jahr 50 Roms (704) auftritt und recht wohl noch bedeutend früher aufgekommen sein kann (M. L. Duncker, Geschichte des Altertums. Berlin 1852-57. Bd. 3, S. 18, 556). Also bereits vor dieser Zeit waren die Italiker mit den Griechen soweit bekannt, daß jener in Hellas früh verschollene Name bei ihnen als Gesamtname der griechischen Nation blieb, auch als diese selbst andere Wege ging. Es ist dabei nur in der Ordnung, daß den Ausländern die Zusammengehörigkeit der hellenischen Stämme früher und deutlicher zum Bewußtsein gekommen ist als diesen selbst, und daher die Gesamtbenennung hier schärfer sich fixierte als dort, nicht minder, daß dieselbe nicht gerade den wohlbekannten nächstwohnenden Hellenen entnommen ward. Wie man es damit vereinigen will, daß noch ein Jahrhundert vor der Gründung Roms Italien den kleinasiatischen Griechen völlig unbekannt war, ist schwer abzusehen. Von dem Alphabet wird unten die Rede sein; es ergibt dessen Geschichte vollkommen die gleichen Resultate. Man wird es vielleicht verwegen nennen, auf solche Beobachtungen hin die Herodotische Angabe über das Zeitalter Homers zu verwerfen; aber ist es etwa keine Kühnheit, in Fragen dieser Art der Überlieferung zu folgen?, wird geneigt sein, den frühesten Verkehr der Italiker mit den Griechen um ein bedeutendes höher hinaufzurücken.

Die Geschichte der italischen und sizilischen Griechen ist zwar kein Teil der italischen; die hellenischen Kolonisten des Westens blieben stets im engsten Zusammenhang mit der Heimat und hatten teil an den Nationalfesten und Rechten der Hellenen. Doch ist es auch für Italien wichtig, den verschiedenen Charakter der griechischen Ansiedlungen daselbst zu bezeichnen und wenigstens gewisse Grundzüge hervorzuheben, durch die der verschiedenartige Einfluß der griechischen Kolonisierung auf Italien wesentlich bedingt worden ist.

Unter allen griechischen Ansiedlungen die intensivste und in sich am meisten geschlossene war diejenige, aus der der Achäische Städtebund hervorging, welchen die Städte Siris, Pandosia, Metabus oder Metapontion, Sybaris mit seinen Pflanzstädten Poseidonia und Laos, Kroton, Kaulonia, Temesa, Terina und Pyxus bildeten. Diese Kolonisten gehörten, im großen und ganzen genommen, einem griechischen Stamm an, der an seinem eigentümlichen, dem dorischen nächst verwandten Dialekt sowie nicht minder, anstatt des sonst allgemein in Gebrauch gekommenen jüngeren Alphabets, lange Zeit an der altnationalen hellenischen Schreibweise festhielt, und der seine besondere Nationalität den Barbaren wie den andern Griechen gegenüber in einer festen bündischen Verfassung bewahrte. Auch auf diese italischen Achäer läßt sich anwenden, was Polybios von der achäischen Symmachie im Peloponnes sagt: „nicht allein in eidgenössischer und freundschaftlicher Gemeinschaft leben sie, sondern sie bedienen sich auch gleicher Gesetze, gleicher Gewichte, Maße und Münzen sowie derselben Vorsteher, Ratmänner und Richter“.

Dieser Achäische Städtebund war eine eigentliche Kolonisation. Die Städte waren ohne Häfen – nur Kroton hatte eine leidliche Reede – und ohne Eigenhandel; der Sybarite rühmte sich, zu ergrauen zwischen den Brücken seiner Lagunenstadt, und Kauf und Verkauf besorgten ihm Milesier und Etrusker. Dagegen besaßen die Griechen hier nicht bloß die Küstensäume, sondern herrschten von Meer zu Meer in dem „Wein-“ und „Rinderland“ (Οινοτρία, Ιταλία) oder der „großen Hellas“; die eingeborene ackerbauende Bevölkerung mußte in Klientel oder gar in Leibeigenschaft ihnen wirtschaften und zinsen. Sybaris – seiner Zeit die größte Stadt Italiens – gebot über vier barbarische Stämme und fünfundzwanzig Ortschaften und konnte am andern Meer Laos und Poseidonia gründen; die überschwenglich fruchtbaren Niederungen des Krathis und Bradanos warfen den Sybariten und Metapontinern überreichen Ertrag ab – vielleicht ist hier zuerst Getreide zur Ausfuhr gebaut worden. Von der hohen Blüte, zu welcher diese Staaten in unglaublich kurzer Zeit gediehen, zeugen am lebendigsten die einzigen auf uns gekommenen Kunstwerke dieser italischen Achäer: ihre Münzen von strenger, altertümlich schöner Arbeit – überhaupt die frühesten Denkmäler von Kunst und Schrift in Italien, deren Prägung erweislich im Jahre 174 der Stadt (580) bereits begonnen hatte. Diese Münzen zeigen, daß die Achäer des Westens nicht bloß teilnahmen an der eben um diese Zeit im Mutterlande herrlich sich entwickelnden Bildnerkunst, sondern in der Technik demselben wohl gar überlegen waren; denn statt der dicken, oft nur einseitig geprägten und regelmäßig schriftlosen Silberstücke, welche um diese Zeit in dem eigentlichen Griechenland wie bei den italischen Dorern üblich waren, schlugen die italischen Achäer mit großer und selbständiger Geschicklichkeit aus zwei gleichartigen, teils erhaben teils vertieft geschnittenen Stempeln große dünne, stets mit Aufschrift versehene Silbermünzen, deren sorgfältig vor der Falschmünzerei jener Zeit – Plattierung geringen Metalls mit dünnen Silberblättern – sich schützende Prägweise den wohlgeordneten Kulturstaat verrät.

Dennoch trug diese schnelle Blüte keine Frucht. In der mühelosen, weder durch kräftige Gegenwehr der Eingeborenen noch durch eigene schwere Arbeit auf die Probe gestellten Existenz versagte sogar den Griechen früh die Spannkraft des Körpers und des Geistes. Keiner der glänzenden Namen der griechischen Kunst und Literatur verherrlicht die italischen Achäer, während Sizilien deren unzählige, auch in Italien das chalkidische Rhegion den Ibykos, das dorische Tarent den Archytas nennen kann; bei diesem Volk, wo stets sich am Herde der Spieß drehte, gedieh nichts von Haus aus als der Faustkampf. Tyrannen ließ die strenge Aristokratie nicht aufkommen, die in den einzelnen Gemeinden früh ans Ruder gekommen war und im Notfall an der Bundesgewalt einen sicheren Rückhalt fand: wohl aber drohte die Verwandlung der Herrschaft der Besten in eine Herrschaft der Wenigen, vor allem, wenn die bevorrechteten Geschlechter in den verschiedenen Gemeinden sich untereinander verbündeten und gegenseitig sich aushalfen. Solche Tendenzen beherrschten die durch den Namen des Pythagoras bezeichnete solidarische Verbindung der „Freunde“, sie gebot, die herrschende Klasse „gleich den Göttern zu verehren“, die dienende „gleich den Tieren zu unterwerfen“, und rief durch solche Theorie und Praxis eine furchtbare Reaktion hervor, welche mit der Vernichtung der pythagoreischen „Freunde“ und mit der Erneuerung der alten Bundesverfassung endigte. Allein rasende Parteifehden, Massenerhebungen der Sklaven, soziale Mißstände aller Art, praktische Anwendung unpraktischer Staatsphilosophie, kurz alle Übel der entsittlichten Zivilisation hörten nicht auf, in den achäischen Gemeinden zu wüten, bis ihre politische Macht darüber zusammenbrach.

Es ist danach nicht zu verwundern, daß für die Zivilisation Italiens die daselbst angesiedelten Achäer minder einflußreich gewesen sind als die übrigen griechischen Niederlassungen. über die politischen Grenzen hinaus ihren Einfluß zu erstrecken, lag diesen Ackerbauern ferner als den Handelsstaaten; innerhalb ihres Gebiets verknechteten sie die Eingeborenen und zertraten die Keime einer nationalen Entwicklung, ohne doch den Italikern durch vollständige Hellenisierung eine neue Bahn zu eröffnen. So ist in Sybaris und Metapont, in Kroton und Poseidonia das griechische Wesen, das sonst allen politischen Mißgeschicken zum Trotz sich lebenskräftig zu behaupten wußte, schneller, spur- und ruhmloser verschwunden als in irgendeinem anderen Gebiet, und die zwiesprachigen Mischvölker, die späterhin aus den Trümmern der eingeborenen Italiker und der Achäer und den jüngeren Einwanderern sabellischer Herkunft hervorgingen, sind zu rechtem Gedeihen ebensowenig gelangt. Indes, diese Katastrophe gehört der Zeit nach in die folgende Periode.

Anderer Art und von anderer Wirkung auf Italien waren die Niederlassungen der übrigen Griechen. Auch sie verschmähten den Ackerbau und Landgewinn keineswegs; es war nicht die Weise der Hellenen, wenigstens seit sie zu ihrer Kraft gekommen waren, sich im Barbarenland nach phönikischer Art an einer befestigten Faktorei genügen zu lassen. Aber wohl waren alle diese Städte zunächst und vor allem des Handels wegen begründet und darum denn auch, ganz abweichend von den achäischen, durchgängig an den besten Häfen und Landungsplätzen angelegt. Die Herkunft, die Veranlassung und die Epoche dieser Gründungen waren mannigfach verschieden; dennoch bestand zwischen ihnen eine gewisse Gemeinschaft – so in dem allen jenen Städten gemeinsamen Gebrauch gewisser moderner Formen des AlphabetsSo zum Beispiel heißt es auf einem kymäischen Tongefäß Ταταίες εμί λέυqθος. Fόσ δ’άν με κλέφσει θύφλος έσται., von Haus aus den weichen ionischen Dialekt sprachen. Für die Entwicklung Italiens sind diese Niederlassungen in sehr verschiedenem Grade wichtig geworden; es genügt hier, derjenigen zu gedenken, welche entscheidend in die Schicksale der Stämme Italiens eingegriffen haben, des dorischen Tarent und des ionischen Kyme.

Den Tarentinern ist unter allen hellenischen Ansiedlungen in Italien die glänzendste Rolle zugefallen. Der vortreffliche Hafen, der einzige gute an der ganzen Südküste, machte ihre Stadt zum natürlichen Entrepôt für den süditalienischen Handel, ja sogar für einen Teil des Verkehrs auf dem Adriatischen Meer. Der reiche Fischfang in dem Meerbusen, die Erzeugung und Verarbeitung der vortrefflichen Schafwolle sowie deren Färbung mit dem Saft der tarentinischen Purpurschnecke, die mit der tyrischen wetteifern konnte – beide Industrien hierher eingebürgert aus dem kleinasiatischen Miletos –, beschäftigten Tausende von Händen und fügten zu dem Zwischen- noch den Ausfuhrhandel hinzu. Die in größerer Menge als irgendwo sonst im griechischen Italien und ziemlich zahlreich selbst in Gold geschlagenen Münzen sind noch heute redende Beweise des ausgebreiteten und lebhaften tarentinischen Verkehrs. Schon in dieser Epoche, wo Tarent noch mit Sybaris um den ersten Rang unter den unteritalischen Griechenstädten rang, müssen seine ausgedehnten Handelsverbindungen sich angeknüpft haben; indes auf eine wesentliche Erweiterung ihres Gebietes nach Art der achäischen Städte scheinen die Tarentiner nie mit dauerndem Erfolg ausgegangen zu sein.

Wenn also die östlichste der griechischen Ansiedlungen in Italien rasch und glänzend sich emporhob, so gediehen die nördlichsten derselben am Vesuv zu bescheidnerer Blüte. Hier waren von der fruchtbaren Insel Aenaria (Ischia) aus die Kymäer auf das Festland hinübergegangen und hatten auf einem Hügel hart am Meere eine zweite Heimat erbaut, von wo aus der Hafenplatz Dikäarchia (später Puteoli), und weiter die „Neustadt“ Neapolis gegründet wurden. Sie lebten, wie überhaupt die chalkidischen Städte in Italien und Sizilien, nach den Gesetzen, welche Charondas von Katane (um 100 650) festgestellt hatte, in einer demokratischen, jedoch durch hohen Zensus gemäßigten Verfassung, welche die Macht in die Hände eines aus den Reichsten erlesenen Rates von Mitgliedern legte – eine Verfassung, die sich bewährte und im ganzen von diesen Städten Usurpatoren wie Pöbeltyrannei fern hielt. Wir wissen wenig von den äußeren Verhältnissen dieser kampanischen Griechen. Sie blieben, sei es aus Zwang oder aus freier Wahl, mehr noch als die Tarentiner beschränkt auf einen engen Bezirk; indem sie von diesem aus nicht erobernd und unterdrückend gegen die Eingeborenen auftraten, sondern friedlich mit ihnen handelten und verkehrten, erschufen sie sich selbst eine gedeihliche Existenz und nahmen zugleich den ersten Platz unter den Missionaren der griechischen Zivilisation in Italien ein.

Wenn zu beiden Seiten der rheginischen Meerenge teils auf dem Festlande die ganze südliche und die Westküste bis zum Vesuv, teils die größere östliche Hälfte der sizilischen Insel griechisches Land war, so gestalteten dagegen auf der italischen Westküste nordwärts vom Vesuv und auf der ganzen Ostküste die Verhältnisse sich wesentlich anders. An dem dem Adriatischen Meer zugewandten italischen Gestade entstanden griechische Ansiedlungen nirgends; womit die verhältnismäßig geringere Anzahl und untergeordnete Bedeutung der griechischen Pflanzstädte auf dem gegenüberliegenden illyrischen Ufer und den zahlreichen demselben vorliegenden Inseln augenscheinlich zusammenhängt. Zwar wurden auf dem Griechenland nächsten Teil dieser Küste zwei ansehnliche Kaufstädte, Epidamnos oder Dyrrhachion (jetzt Durazzo; 127 587) und Apollonia (bei Avlona; um 167 627) noch während der römischen Königsherrschaft gegründet; aber weiter nördlich ist, mit Ausnahme etwa der nicht bedeutenden Niederlassung auf Schwarzkerkyra (Curzola; um 174? 580) keine alte griechische Ansiedlung nachzuweisen. Es ist noch nicht hinreichend aufgeklärt, warum die griechische Kolonisierung so dürftig gerade nach dieser Seite hin auftrat, wohin doch die Natur selbst die Hellenen zu weisen schien und wohin in der Tat seit ältester Zeit von Korinth und mehr noch von der nicht lange nach Rom (um 44 710) gegründeten Ansiedlung auf Kerkyra (Korfu) aus ein Handelszug bestand, dessen Entrepôts auf der italischen Küste die Städte an der Pomündung, Spina und Atria, waren. Die Stürme der Adriatischen See, die Unwirtlichkeit wenigstens der illyrischen Küsten, die Wildheit der Eingeborenen reichen offenbar allein nicht aus, um diese Tatsache zu erklären. Aber für Italien ist es von den wichtigsten Folgen gewesen, daß die von Osten kommenden Elemente der Zivilisation nicht zunächst auf seine östlichen Landschaften einwirkten, sondern erst aus den westlichen in diese gelangten. Selbst in den Handelsverkehr teilte sich mit Korinth und Kerkyra die östlichste Kaufstadt Großgriechenlands, das dorische Tarent, das durch den Besitz von Hydrus (Otranto) den Eingang in das Adriatische Meer auf der italischen Seite beherrschte. Da außer den Häfen an der Pomündung an der ganzen Ostküste nennenswerte Emporien in jener Zeit nicht bestanden – Ankons Aufblühen fällt in weit spätere Zeit und noch später das Emporkommen von Brundisium –, ist es wohl begreiflich, daß die Schiffer von Epidamnos und Apollonia häufig in Tarent löschten. Auch auf dem Landwege verkehrten die Tarentiner vielfach mit Apulien; auf sie geht zurück, was sich von griechischer Zivilisation im Südosten Italiens vorfindet. Indes fallen in diese Zeit davon nur die ersten Anfänge; der Hellenismus Apuliens entwickelte sich erst in einer späteren Epoche.

Daß dagegen die Westküste Italiens auch nördlich vom Vesuv in ältester Zeit von den Hellenen befahren worden ist und auf den Inseln und Landspitzen hellenische Faktoreien bestanden, läßt sich nicht bezweifeln. Wohl das älteste Zeugnis dieser Fahrten ist die Lokalisierung der Odysseussage an den Küsten des Tyrrhenischen MeeresDie ältesten griechischen Schriften, in denen uns diese tyrrhenische Odysseussage erscheint, sind die Hesiodische ‚Theogonie‘ in einem ihrer jüngeren Abschnitte und sodann die Schriftsteller aus der Zeit kurz vor Alexander, Ephoros, aus dem der sogenannte Skymnos geflossen ist, und der sogenannte Skylax. Die erste dieser Quellen gehört einer Zeit an, wo Italien den Griechen noch als Inselgruppe galt, und ist also sicher sehr alt; und es kann danach die Entstehung dieser Sagen im ganzen mit Sicherheit in die römische Königszeit gesetzt werden.. Wenn man in den Liparischen Inseln die des Äolos wiederfand, wenn man am Lacinischen Vorgebirge die Insel der Kalypso, am Misenischen die der Sirenen, am Circeischen die der Kirke wies, wenn man das ragende Grab des Elpenor in dem steilen Vorgebirge von Tarracina erkannte, wenn bei Caieta und Formiae die Lästrygonen hausen, wenn die beiden Söhne des Odysseus und der Kirke, Agrios, das heißt der Wilde, und Latinos, im „innersten Winkel der heiligen Inseln“ die Tyrrhener beherrschen oder in einer jüngeren Fassung Latinus der Sohn des Odysseus und der Kirke, Auson der Sohn des Odysseus und der Kalypso heißt, so sind das alte Schiffmärchen der ionischen Seefahrer, welche der lieben Heimat auf der Tyrrhenischen See gedachten, und dieselbe herrliche Lebendigkeit der Empfindung, wie sie in dem ionischen Gedicht von den Fahrten des Odysseus waltet, spricht auch noch aus der frischen Lokalisierung derselben Sage bei Kyme selbst und in dem ganzen Fahrbezirk der kymäischen Schiffer.

Andere Spuren dieser ältesten Fahrten sind die griechischen Namen der Insel Aethalia (Ilva, Elba), die nächst Aenaria zu den am frühesten von Griechen besetzten Plätzen zu gehören scheint, und vielleicht auch des Hafenplatzes Telamon in Etrurien; ferner die beiden Ortschaften an der caeritischen Küste Pyrgi (bei S. Severa) und Alsion (bei Palo), wo nicht bloß die Namen unverkennbar auf griechischen Ursprung deuten, sondern auch die eigentümliche, von den caeritischen und überhaupt den etruskischen Stadtmauern sich wesentlich unterscheidende Architektur der Mauern von Pyrgi. Aethalia, „die Feuerinsel“, mit ihren reichen Kupfer- und besonders Eisengruben mag in diesem Verkehr die erste Rolle gespielt und hier die Altsiedlung der Fremden wie ihr Verkehr mit den Eingeborenen seinen Mittelpunkt gehabt haben; um so mehr als das Schmelzen der Erze auf der kleinen und nicht waldreichen Insel ohne Verkehr mit dem Festland nicht geschehen konnte. Auch die Silbergruben von Populonia auf der Elba gegenüberliegenden Landspitze waren vielleicht schon den Griechen bekannt und von ihnen in Betrieb genommen.

Wenn die Fremden, wie in jenen Zeiten immer, neben dem Handel auch dem See- und Landraub obliegend, ohne Zweifel es nicht versäumten, wo die Gelegenheit sich bot, die Eingeborenen zu brandschatzen und sie als Sklaven fortzuführen, so übten auch die Eingeborenen ihrerseits das Vergeltungsrecht aus; und daß die Latiner und Tyrrhener dies mit größerer Energie und besserem Glück getan haben als ihre süditalischen Nachbarn, zeigen nicht bloß jene Sagen an, sondern vor allem der Erfolg. In diesen Gegenden gelang es den Italikern, sich der Fremdlinge zu erwehren und nicht bloß Herren ihrer eigenen Kaufstädte und Kaufhäfen zu bleiben oder doch bald wieder zu werden, sondern auch Herren ihrer eigenen See. Dieselbe hellenische Invasion, welche die süditalischen Stämme erdrückte und denationalisierte, hat die Völker Mittelitaliens, freilich sehr wider den Willen der Lehrmeister, zur Seefahrt und zur Städtegründung angeleitet. Hier zuerst muß der Italiker das Floß und den Nachen mit der phönikischen und griechischen Rudergaleere vertauscht haben. Hier zuerst begegnen große Kaufstädte, vor allem Caere im südlichen Etrurien und Rom am Tiber, die, nach den italischen Namen wie nach der Lage in einiger Entfernung vom Meere zu schließen, eben wie die ganz gleichartigen Handelsstädte an der Pomündung, Spina und Atria, und weiter südlich Ariminum, sicher keine griechischen, sondern italische Gründungen sind. Den geschichtlichen Verlauf dieser ältesten Reaktion der italischen Nationalität gegen fremden Eingriff darzulegen sind wir begreiflicherweise nicht imstande; wohl aber läßt es noch sich erkennen, was für die weitere Entwicklung Italiens von der größten Bedeutung ist, daß diese Reaktion in Latium und im südlichen Etrurien einen andern Gang genommen hat als in der eigentlichen tuskischen und den sich daran anschließenden Landschaften.

Schon die Sage setzt in bezeichnender Weise dem „wilden Tyrrhener“ den Latiner entgegen und dem unwirtlichen Strande der Volsker das friedliche Gestade an der Tibermündung. Aber nicht das kann hiermit gemeint sein, daß man die griechische Kolonisierung in einigen Landschaften Mittelitaliens geduldet, in andern nicht zugelassen hätte. Nordwärts vom Vesuv hat überhaupt in geschichtlicher Zeit nirgends eine unabhängige griechische Gemeinde bestanden, und wenn Pyrgi dies einmal gewesen ist, so muß es doch schon vor dem Beginn unserer Überlieferung in die Hände der Italiker, das heißt der Caeriten zurückgekehrt sein. Aber wohl ward in Südetrurien, in Latium und ebenso an der Ostküste der friedliche Verkehr mit den fremden Kaufleuten geschützt und gefördert, was anderswo nicht geschah. Vor allem merkwürdig ist die Stellung von Caere. „Die Caeriten“, sagt Strabon, „galten viel bei den Hellenen wegen ihrer Tapferkeit und Gerechtigkeit, und weil sie, so mächtig sie waren, des Raubes sich enthielten.“ Nicht der Seeraub ist gemeint, den der caeritische Kaufmann wie jeder andere sich gestattet haben wird; sondern Caere war eine Art von Freihafen für die Phöniker wie für die Griechen. Wir haben der phönikischen Station – später Punicum genannt – und der beiden von Pyrgi und Alsion bereits gedacht; diese Häfen waren es, die zu berauben die Caeriten sich enthielten, und ohne Zweifel war es eben dies, wodurch Caere, das nur eine schlechte Reede besitzt und keine Gruben in der Nähe hat, so früh zu hoher Blüte gelangt ist und für den ältesten griechischen Handel noch größere Bedeutung gewonnen hat als die von der Natur zu Emporien bestimmten Städte der Italiker an den Mündungen des Tiber und des Po. Die hier genannten Städte sind es, welche in uraltem religiösen Verkehr mit Griechenland erscheinen. Der erste unter allen Barbaren, der den olympischen Zeus beschenkte, war der tuskische König Arimnos, vielleicht ein Herr von Ariminum. Spina und Caere hatten in dem Tempel des delphischen Apollon wie andere mit dem Heiligtum in regelmäßigem Verkehr stehende Gemeinden ihre eigenen Schatzhäuser; und mit der ältesten caeritischen und römischen Überlieferung ist das delphische Heiligtum sowohl wie das kymäische Orakel verflochten. Diese Städte, wo die Italiker friedlich schalteten und mit dem fremden Kaufmann freundlich verkehrten, wurden vor allen reich und mächtig und wie für die hellenischen Waren so auch für die Keime der hellenischen Zivilisation die rechten Stapelplätze.

Anders gestalteten sich die Verhältnisse bei den „wilden Tyrrhenern“. Dieselben Ursachen, die in der latinischen und in den vielleicht mehr unter etruskischer Suprematie stehenden als eigentlich etruskischen Landschaften am rechten Tiberufer und am unteren Po zur Emanzipierung der Eingeborenen von der fremden Seegewalt geführt hatten, entwickelten in dem eigentlichen Etrurien, sei es aus anderen Ursachen, sei es infolge des verschiedenartigen, zu Gewalttat und Plünderung hinneigenden Nationalcharakters, den Seeraub und die eigene Seemacht. Man begnügte sich hier nicht, die Griechen aus Aethalia und Populonia zu verdrängen; auch der einzelne Kaufmann ward, wie es scheint, hier nicht geduldet, und bald durchstreiften sogar etruskische Kaper weithin die See und machten den Namen der Tyrrhener zum Schrecken der Griechen – nicht ohne Ursache galt diesen der Enterhaken als eine etruskische Erfindung und nannten die Griechen das italische Westmeer das Meer der Tusker. Wie rasch und ungestüm diese wilden Korsaren, namentlich im Tyrrhenischen Meere, um sich griffen, zeigt am deutlichsten ihre Festsetzung an der latinischen und kampanischen Küste. Zwar behaupteten im eigentlichen Latium sich die Latiner und am Vesuv sich die Griechen; aber zwischen und neben ihnen geboten die Etrusker in Antium wie in Surrentum. Die Volsker traten in die Klientel der Etrusker ein; aus ihren Waldungen bezogen diese die Kiele ihrer Galeeren, und wenn dem Seeraub der Antiaten erst die römische Okkupation ein Ende gemacht hat, so begreift man es wohl, warum den griechischen Schiffern das Gestade der südlichen Volsker das laestrygonische hieß. Die hohe Landspitze von Sorrent, mit dem noch steileren, aber hafenlosen Felsen von Capri eine rechte, inmitten der Buchten von Neapel und Salern in die Tyrrhenische See hinausschauende Korsarenwarte, wurde früh von den Etruskern in Besitz genommen. Sie sollen sogar in Kampanien einen eigenen Zwölfstädtebund gegründet haben und etruskisch redende Gemeinden haben hier noch in vollkommen historischer Zeit im Binnenlande bestanden; wahrscheinlich sind diese Ansiedlungen mittelbar ebenfalls aus der Seeherrschaft der Etrusker im kampanischen Meer und aus ihrer Rivalität mit den Kymäern am Vesuv hervorgegangen. Indes beschränkten die Etrusker sich keineswegs auf Raub und Plünderung. Von ihrem friedlichen Verkehr mit griechischen Städten zeugen namentlich die Gold- und Silbermünzen, die wenigstens vom Jahre 200 der Stadt (550) an die etruskischen Städte, besonders Populonia, nach griechischem Muster und auf griechischen Fuß geschlagen haben; daß dieselben nicht den großgriechischen, sondern vielmehr attischen, ja kleinasiatischen Stempeln nachgeprägt wurden, ist übrigens wohl auch ein Fingerzeig für die feindliche Stellung der Etrusker zu den italischen Griechen. In der Tat befanden sie sich für den Handel in der günstigsten Stellung und in einer weit vorteilhafteren als die Bewohner von Latium. Von Meer zu Meer wohnend geboten sie am westlichen über den großen italischen Freihafen, am östlichen über die Pomündung und das Venedig jener Zeit, ferner über die Landstraße, die seit alter Zeit von Pisa am Tyrrhenischen nach Spina am Adriatischen Meere führte, dazu in Süditalien über die reichen Ebenen von Capua und Nola. Sie besaßen die wichtigsten italischen Ausfuhrartikel, das Eisen von Aethalia, das volaterranische und kampanische Kupfer, das Silber von Populonia, ja den von der Ostsee ihnen zugeführten Bernstein. Unter dem Schutze ihrer Piraterie, gleichsam einer rohen Navigationsakte, mußte ihr eigener Handel emporkommen; und es kann ebensowenig befremden, daß in Sybaris der etruskische und milesische Kaufmann konkurrierten, als daß aus jener Verbindung von Kaperei und Großhandel der maß- und sinnlose Luxus entsprang, in welchem Etruriens Kraft früh sich selber verzehrt hat.

Wenn also in Italien die Etrusker und, obgleich in minderem Grade, die Latiner den Hellenen abwehrend und zum Teil feindlich gegenüberstanden, so griff dieser Gegensatz gewissermaßen mit Notwendigkeit in diejenige Rivalität ein, die damals Handel und Schiffahrt auf dem Mittelländischen Meere vor allem beherrschte: in die Rivalität der Phöniker und der Hellenen. Es ist nicht dieses Orts, im einzelnen darzulegen, wie während der römischen Königszeit diese beiden großen Nationen an allen Gestaden des Mittelmeeres, in Griechenland und Kleinasien selbst, auf Kreta und Kypros, an der afrikanischen, spanischen und keltischen Küste miteinander um die Oberherrschaft rangen; unmittelbar auf italischem Boden wurden diese Kämpfe nicht gekämpft, aber die Folgen derselben doch auch in Italien tief und nachhaltig empfunden. Die frische Energie und die universellere Begabung des jüngeren Nebenbuhlers war anfangs überall im Vorteil; die Hellenen entledigten sich nicht bloß der phönikischen Faktoreien in ihrer europäischen und asiatischen Heimat, sondern verdrängten die Phöniker auch von Kreta und Kypros, faßten Fuß in Ägypten und Kyrene und bemächtigten sich Unteritaliens und der größeren östlichen Hälfte der sizilischen Insel. Überall erlagen die kleinen phönikischen Handelsplätze der energischeren griechischen Kolonisation. Schon ward auch im westlichen Sizilien Selinus (126 628) und Akragas (174 580) gegründet, schon von den kühnen kleinasiatischen Phokäern die entferntere Westsee befahren, an dem keltischen Gestade Massalia erbaut (um 150 600) und die spanische Küste erkundet. Aber plötzlich, um die Mitte des zweiten Jahrhunderts, stockt der Fortschritt der hellenischen Kolonisation: und es ist kein Zweifel, daß die Ursache dieses Stockens der Aufschwung war, den gleichzeitig, offenbar infolge der von den Hellenen dem gesamten phönikischen Stamme drohenden Gefahr, die mächtigste ihrer Städte in Libyen, Karthago nahm. War die Nation, die den Seeverkehr auf dem Mittelländischen Meere eröffnet hatte, durch den jüngeren Rivalen auch bereits verdrängt aus der Alleinherrschaft über die Westsee, dem Besitze beider Verbindungsstraßen zwischen dem östlichen und dem westlichen Becken des Mittelmeeres und dem Monopol der Handelsvermittlung zwischen Orient und Okzident, so konnte doch wenigstens die Herrschaft der Meere westlich von Sardinien und Sizilien noch für die Orientalen gerettet werden; und an deren Behauptung setzte Karthago die ganze, dem aramäischen Stamme eigentümliche zähe und umsichtige Energie. Die phönikische Kolonisierung wie der Widerstand der Phöniker nahmen einen völlig anderen Charakter an. Die älteren phönikischen Ansiedlungen, wie die sizilischen, welche Thukydides schildert, waren kaufmännische Faktoreien; Karthago unterwarf sich ausgedehnte Landschaften mit zahlreichen Untertanen und mächtigen Festungen. Hatten bisher die phönikischen Niederlassungen vereinzelt den Griechen gegenübergestanden, so zentralisierte jetzt die mächtige libysche Stadt in ihrem Bereiche die ganze Wehrkraft ihrer Stammverwandten mit einer Straffheit, der die griechische Geschichte nichts Ähnliches an die Seite zu stellen vermag. Vielleicht das wichtigste Moment aber dieser Reaktion für die Folgezeit ist die enge Beziehung, in welche die schwächeren Phöniker, um der Hellenen sich zu erwehren, zu den Eingeborenen Siziliens und Italiens traten. Als Knidier und Rhodier um das Jahr 175 (579) im Mittelpunkt der phönikischen Ansiedlungen auf Sizilien bei Lilybäon sich festzusetzen versuchten, wurden sie durch die Eingeborenen – Elymer von Segeste – und Phöniker wieder von dort vertrieben. Als die Phokäer um 217 (537) sich in Alalia (Aleria) auf Korsika Caere gegenüber niederließen, erschien, um sie von dort zu vertreiben, die vereinigte Flotte der Etrusker und der Karthager, hundertundzwanzig Segel stark; und obwohl in dieser Seeschlacht – einer der ältesten, die die Geschichte kennt – die nur halb so starke Flotte der Phokäer sich den Sieg zuschrieb, so erreichten doch die Karthager und Etrusker, was sie durch den Angriff bezweckt hatten: die Phokäer gaben Korsika auf und ließen lieber an der weniger ausgesetzten lukanischen Küste in Hyele (Velia) sich nieder. Ein Traktat zwischen Etrurien und Karthago stellte nicht bloß die Regeln über Wareneinfuhr und Rechtsfolge fest, sondern schloß auch ein Waffenbündnis (συμμαχία) ein, von dessen ernstlicher Bedeutung eben jene Schlacht von Alalia zeugt. Charakteristisch ist es für die Stellung der Caeriten, daß sie die phokäischen Gefangenen auf dem Markt von Caere steinigten und alsdann, um den Frevel zu sühnen, den delphischen Apoll beschickten.

Latium hat dieser Fehde gegen die Hellenen sich nicht angeschlossen; vielmehr finden sich in sehr alter Zeit freundliche Beziehungen der Römer zu den Phokäern in Hyele wie in Massalia, und die Ardeaten sollen sogar gemeinschaftlich mit den Zakynthiern eine Pflanzstadt in Spanien, das spätere Saguntum gegründet haben. Doch haben die Latiner noch viel weniger sich auf die Seite der Hellenen gestellt; dafür bürgen sowohl die engen Beziehungen zwischen Rom und Caere als auch die Spuren alten Verkehrs zwischen den Latinern und den Karthagern. Der Stamm der Kanaaniten ist den Römern durch Vermittlung der Hellenen bekannt geworden, da sie, wie wir sahen, ihn stets mit dem griechischen Namen genannt haben; aber daß sie weder den Namen der Stadt KarthagoDer Name Afri, schon Ennius und Cato geläufig – man vergleiche Scipio Africanus –, ist gewiß ungriechisch, höchst wahrscheinlich stammverwandt mit dem der Hebräer. von den Griechen entlehnt haben, daß tyrische Waren bei den älteren Römern mit dem ebenfalls die griechische Vermittlung ausschließenden Namen der sarranischen bezeichnet werdenSarranisch heißen den Römern seit alter Zeit der tyrische Purpur und die tyrische Flöte, und auch als Beiname ist Sarranus wenigstens seit dem Hannibalischen Krieg in Gebrauch. Der bei Ennius und Plautus vorkommende Stadtname Sarra ist wohl aus Sarranus, nicht unmittelbar aus dem einheimischen Namen Sor gebildet. Die griechische Form Tyrus, Tyrius möchte bei den Römern nicht vor Afranius (bei Festus p. 355 M.) vorkommen. Vgl. F. K. Movers, Die Phönicier. Bonn/Berlin 1840-56. Bd. 2, 1, S. 174., beweist ebenso wie die späteren Verträge den alten und unmittelbaren Handelsverkehr zwischen Latium und Karthago.

Der vereinigten Macht der Italiker und Phöniker gelang es in der Tat, die westliche Hälfte des Mittelmeeres im wesentlichen zu behaupten. Der nordwestliche Teil von Sizilien mit den wichtigen Häfen Soloeis und Panormos an der Nordküste, Motye an der Afrika zugewandten Spitze blieb im unmittelbaren oder mittelbaren Besitz der Karthager. Um die Zeit des Kyros und Kroesos, eben als der weise Bias die Ionier zu bestimmen suchte, insgesamt aus Kleinasien auswandernd in Sardinien sich niederzulassen (um 200 554), kam ihnen dort der karthagische Feldherr Malchus zuvor und bezwang einen bedeutenden Teil der wichtigen Insel mit Waffengewalt; ein halbes Jahrhundert später erscheint das ganze Gestade Sardiniens in unbestrittenem Besitz der karthagischen Gemeinde. Korsika dagegen mit den Städten Alalia und Nikäa fiel den Etruskern zu und die Eingeborenen zinsten an diese von den Produkten ihrer armen Insel, dem Pech, Wachs und Honig. Im Adriatischen Meer ferner sowie in den Gewässern westlich von Sizilien und Sardinien herrschten die verbündeten Etrusker und Karthager. Zwar gaben die Griechen den Kampf nicht auf. Jene von Lilybäon vertriebenen Rhodier und Knidier setzten auf den Inseln zwischen Sizilien und Italien sich fest und gründeten hier die Stadt Lipara (175 579). Massalia gedieh trotz seiner Isolierung und monopolisierte bald den Handel von Nizza bis nach den Pyrenäen. An den Pyrenäen selbst ward von Lipara aus die Pflanzstadt Rhoda (jetzt Rosas) angelegt und auch in Saguntum sollen Zakynthier sich angesiedelt, ja selbst in Tingis (Tanger) in Mauretanien griechische Dynasten geherrscht haben. Aber mit dem Vorrücken war es denn doch für die Hellenen vorbei; nach Akragas‘ Gründung sind ihnen bedeutende Gebietserweiterungen am Adriatischen wie am westlichen Meer nicht mehr gelungen, und die spanischen Gewässer wie der Atlantische Ozean blieben ihnen verschlossen. Jahr aus Jahr ein fochten die Liparäer mit den tuskischen „Seeräubern“, die Karthager mit den Massalioten, den Kyrenäern, vor allem den griechischen Sikelioten; aber nach keiner Seite hin ward ein dauerndes Resultat erreicht und das Ergebnis der Jahrhunderte langen Kämpfe war im ganzen die Aufrechterhaltung des Status quo.

So hatte Italien, wenn auch nur mittelbar, den Phönikern es zu danken, daß wenigstens die mittleren und nördlichen Landschaften nicht kolonisiert wurden, sondern hier, namentlich in Etrurien, eine nationale Seemacht ins Leben trat. Es fehlt aber auch nicht an Spuren, daß die Phöniker es schon der Mühe wert fanden, wenn nicht gegen die latinischen, doch wenigstens gegen die seemächtigeren etruskischen Bundesgenossen diejenige Eifersucht zu entwickeln, die aller Seeherrschaft anzuhaften pflegt: der Bericht über die von den Karthagern verhinderte Aussendung einer etruskischen Kolonie nach den Kanarischen Inseln, wahr oder falsch, offenbart die hier obwaltenden rivalisierenden Interessen.

Kapitel VII


Das griechische Europa

Kapitel VII

Mit der allgemeinen geistigen Entwicklung der Hellenen hatte die politische ihrer Republiken sich nicht im Gleichgewicht gehalten oder vielmehr die Überschwenglichkeit jener hatte, wie die allzu volle Blüte den Kelch sprengt, keinem einzelnen Gemeinwesen verstattet, diejenige Ausdehnung und Stetigkeit zu gewinnen, welche für die staatliche Ausgestaltung vorbedingend ist. Die Kleinstaaterei der einzelnen Städte oder Städtebünde mußte in sich verkümmern oder den Barbaren verfallen; nur der Panhellenismus verbürgte wie den Fortbestand der Nation so ihre Weiterentwicklung gegenüber den stammfremden Umwohnern. Er ward verwirklicht durch den Vertrag, den König Philipp von Makedonien, der Vater Alexanders, in Korinth mit den Staaten von Hellas abschloß. Es war dies dem Namen nach ein Bundesvertrag, in der Tat die Unterwerfung der Republiken unter die Monarchie, aber eine Unterwerfung, welche nur dem Ausland gegenüber sich vollzog, indem die unumschränkte Feldherrnschaft gegen den Nationalfeind von fast allen Städten des griechischen Festlandes dem makedonischen Feldherrn übertragen, sonst ihnen die Freiheit und die Autonomie gelassen ward, und es war, wie die Verhältnisse lagen, dies die einzig mögliche Realisierung des Panhellenismus und die im wesentlichen für die Zukunft Griechenlands maßgebende Form. Philipp und Alexander gegenüber hat sie Bestand gehabt, wenn auch die hellenischen Idealisten wie immer das realisierte Ideal als solches anzuerkennen sich sträubten. Als dann Alexanders Reich zerfiel, war es wie mit dem Panhellenismus selbst, so auch mit der Einigung der griechischen Städte unter der monarchischen Vormacht vorbei und rieben diese in Jahrhunderten ziellosen Ringens ihre letzte geistige und materielle Macht auf, hin- und hergezogen zwischen der wechselnden Herrschaft der übermächtigen Monarchien und vergeblichen Versuchen unter dem Schutz des Haders derselben den alten Partikularismus zu restaurieren.

Als dann die mächtige Republik des Westens in den bisher einigermaßen gleichgewogenen Kampf der Monarchien des Ostens eintrat und bald sich mächtiger als jeder der dort miteinander ringenden griechischen Staaten erwies, erneuerte sich mit der festen Vormachtstellung auch die panhellenische Politik. Hellenen im vollen Sinn des Wortes waren weder die Makedonier noch die Römer; es ist nun einmal der tragische Zug der griechischen Entwicklung, daß das attische Seereich mehr eine Hoffnung als eine Wirklichkeit war und das Einigungswerk nicht aus dem eigenen Schoß der Nation hat hervorgehen dürfen. Wenn in nationaler Hinsicht die Makedonier den Griechen näher standen als die Römer, so war das Gemeinwesen Roms den hellenischen politisch bei weitem mehr wahlverwandt als das makedonische Erbkönigtum. Was aber die Hauptsache ist, die Anziehungskraft des griechischen Wesens ward von den römischen Bürgern wahrscheinlich nachhaltiger und tiefer empfunden als von den Staatsmännern Makedoniens, eben weil jene ihm ferner standen als diese. Das Begehren, sich wenigstens innerlich zu hellenisieren, der Sitte und der Bildung, der Kunst und der Wissenschaft von Hellas teilhaftig zu werden, auf den Spuren des großen Makedoniers Schild und Schwert der Griechen des Ostens sein und diesen Osten nicht italisch, sondern hellenisch weiter zivilisieren zu dürfen, dieses Verlangen durchdringt die späteren Jahrhunderte der römischen Republik und die bessere Kaiserzeit mit einer Macht und einer Idealität, welche fast nicht minder tragisch ist als jenes nicht zum Ziel gelangende politische Mühen der Hellenen. Denn auf beiden Seiten wird Unmögliches erstrebt: dem hellenischen Panhellenismus ist die Dauer versagt und dem römischen Hellenismus der Vollgehalt. Indes hat er darum nicht weniger die Politik der römischen Republik wie die der Kaiser wesentlich bestimmt. Wie sehr auch die Griechen, namentlich im letzten Jahrhundert der Republik, den Römern es bewiesen, daß ihre Liebesmühe eine verlorene war, es hat dies weder an der Mühe noch an der Liebe etwas geändert. Die Griechen Europas waren von der römischen Republik zu einer einzigen nach dem Hauptlande Makedonien benannten Statthalterschaft zusammengefaßt worden. Wenn diese mit dem Beginn der Kaiserzeit administrativ aufgelöst ward, so wurde damals gleichzeitig dem gesamten griechischen Namen eine religiöse Gemeinschaft verliehen, die sich anschloß an die alte des Gottesfriedens wegen eingeführte und dann zu politischen Zwecken mißbrauchte delphische Amphiktionie. Unter der römischen Republik war dieselbe im wesentlichen auf die ursprünglichen Grundlagen zurückgeführt worden: Makedonien sowohl wie Ätolien, die sich beide usurpatorisch eingedrängt hatten, wurden wieder ausgeschieden und die Amphiktionie umfaßte abermals nicht alle, aber die meisten Völkerschaften Thessaliens und des eigentlichen Griechenlands. Augustus veranlaßte die Erstreckung des Bundes auf Epirus und Makedonien und machte ihn dadurch im wesentlichen zum Vertreter des hellenischen Landes in dem weiteren dieser Epoche allein angemessenen Sinne. Eine bevorzugte Stellung nahmen in diesem Verein neben dem altheiligen Delphi die beiden Städte Athen und Nikopolis ein, jene die Capitale des alten, diese nach Augustus Absicht die des neuen kaiserlichen Hellenentums. Diese neue Amphiktionie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Landesversammlung der drei Gallien; in ähnlicher Weise wie für diese der Kaiseraltar bei Lyon war der Tempel des pythischen Apollon der religiöse Mittelpunkt der griechischen Provinzen. Indes während jenem daneben eine geradezu politische Wirksamkeit zugestanden hat, so besorgten die Amphiktionen dieser Epoche außer der eigentlich religiösen Feier lediglich die Verwaltung des delphischen Heiligtums und seiner immer noch beträchtlichen Einkünfte. Wenn ihr Vorsteher sich in späterer Zeit die »Helladarchie« zuschreibt, so ist diese Herrschaft über Griechenland lediglich ein idealer Begriff. Immer aber bleibt die offizielle Konservierung der griechischen Nationalität ein Kennzeichen der Haltung, welche das neue Kaisertum gegen dieselbe einnimmt, und seines den republikanischen weit überbietenden Philhellenismus.

Hand in Hand mit der sakralen Einigung der europäischen Griechen ging die administrative Auflösung der griechisch-makedonischen Statthalterschaft der Republik. An der Teilung der Reichsverwaltung unter Kaiser und Senat hing sie nicht, da dieses gesamte Gebiet und nicht minder die vorliegenden Donaulandschaften bei der ursprünglichen Teilung dem Senat zugewiesen wurden; ebensowenig haben militärische Rücksichten hier eingegriffen, da die ganze Halbinsel bis hinauf zur thrakischen Grenze, als gedeckt teils durch diese Landschaft, teils durch die Besatzungen an der Donau, immer dem befriedeten Binnenlande zugerechnet worden ist. Wenn der Peloponnes und das attisch-böotische Festland damals seinen eigenen Prokonsul erhielt und von Makedonien getrennt ward, was wohl schon Cäsar beabsichtigt haben mag, so war dabei, neben der allgemeinen Tendenz, die senatorischen Statthalterschaften nicht zu groß zu nehmen, vermutlich die Rücksicht maßgebend, das rein hellenische Gebiet von dem halbhellenischen zu scheiden. Die Grenze der Provinz Achaia war anfänglich der Öta, und auch nachdem die Ätoler später dazu gelegt worden, ist sie nicht hinausgegangen über den Acheloos und die Thermopylen.

Diese Ordnungen betrafen die Landschaft im ganzen. Wir wenden uns zu der Stellung, welche den einzelnen Stadtgemeinden unter der römischen Herrschaft gegeben ward.

Die ursprüngliche Absicht der Römer, die Gesamtheit der griechischen Stadtgemeinden in ähnlicher Weise an das eigene Gemeinwesen anzuschließen, wie dies mit den italischen geschehen war, hatte infolge des Widerstandes, auf den diese Einrichtungen trafen, insbesondere infolge der Auflehnung des achäischen Bundes im J. 608 und des Abfalls der meisten Griechenstädte zu König Mithradates im J. 666 wesentliche Einschränkungen erfahren. Die Städtebünde, das Fundament aller Machtentwicklung in Hellas wie in Italien, und von den Römern anfänglich akzeptiert, waren sämtlich, namentlich der wichtigste der Peloponnesier oder, wie er sich nannte, der Achäer, aufgelöst und die einzelnen Städte angehalten worden, ihr Gemeinwesen für sich zu ordnen. Es wurden ferner für die einzelnen Gemeindeverfassungen von der Vormacht gewisse allgemeine Normen aufgestellt und nach diesem Schema dieselben in antidemokratischer Tendenz reorganisiert. Nur innerhalb dieser Schranken blieb der einzelnen Gemeinde die Autonomie und die eigene Magistratur. Es blieben ihr auch die eigenen Gerichte; aber daneben stand der Grieche von Rechts wegen unter den Ruten und Beilen des Prätors und wenigstens konnte wegen eines jeden Vergehens, das als Auflehnung gegen die Vormacht sich betrachten ließ, von den römischen Beamten auf Geldbuße oder Ausweisung oder auch Lebensstrafe erkannt werden. Die Gemeinden besteuerten sich selbst; aber sie hatten durchgängig eine bestimmte, im ganzen wie es scheint nicht hochgegriffene Summe nach Rom zu entrichten. Besatzungen wurden nicht so, wie einst in makedonischer Zeit, in die Städte gelegt, da die in Makedonien stehenden Truppen nötigenfalls in der Lage waren, auch in Griechenland einzuschreiten. Aber schwerer als die Zerstörung Thebens auf dem Andenken Alexanders lastet auf der römischen Aristokratie die Schleifung Korinths. Die übrigen Maßregeln, wie gehässig und erbitternd sie auch teilweise waren, namentlich als von der Fremdherrschaft oktroyiert, mochten im ganzen genommen unvermeidlich sein und vielfach heilsam wirken; sie waren die unvermeidliche Palinodie der ursprünglichen zum Teil recht unpolitischen römischen Politik des Verzeihens und Verziehens gegenüber den Hellenen. Aber in der Behandlung Korinths hatte sich der kaufmännische Egoismus in unheimlicher Weise mächtiger erwiesen als alles Philhellenentum. Bei allem dem war der Grundgedanke der römischen Politik, die griechischen Städte dem italischen Städtebund anzugliedern, nie vergessen worden; gleich wie Alexander niemals Griechenland hat beherrschen wollen wie Illyrien und Ägypten, so haben auch seine römischen Nachfolger das Untertanenverhältnis nie vollständig auf Griechenland angewandt und schon in republikanischer Zeit von dem strengen Recht des den Römern aufgezwungenen Krieges wesentlich nachgelassen. Insbesondere geschah dies gegenüber Athen. Keine griechische Stadt hat vom Standpunkt der römischen Politik aus so schwer gegen Rom gefehlt wie diese; ihr Verhalten im mithradatischen Kriege hätte bei jedem andern Gemeinwesen unvermeidlich die Schleifung herbeigeführt. Aber vom philhellenischen Standpunkt aus freilich war Athen das Meisterstück der Welt und es knüpften sich an dasselbe für die vornehme Welt des Auslandes ähnliche Neigungen und Erinnerungen wie für unsere gebildeten Kreise an Pforta und an Bonn; dies überwog damals wie früher. Athen hat nie unter den Beilen des römischen Statthalters gestanden und niemals nach Rom gesteuert, hat immer mit Rom beschworenes Bündnis gehabt und nur außerordentlicher- und wenigstens der Form nach freiwilligerweise den Römern Beihilfe gewährt. Die Kapitulation nach der sullanischen Belagerung führte wohl eine Änderung der Gemeindeverfassung herbei, aber das Bündnis ward erneuert, ja sogar alle auswärtigen Besitzungen zurückgegeben; selbst die Insel Delos, welche, als Athen zu Mithradates übertrat, sich losgemacht und als selbständiges Gemeinwesen konstituiert hatte und zur Strafe für ihre Treue gegen Rom von der pontischen Flotte ausgeraubt und zerstört worden war. – Mit ähnlicher Rücksicht, und wohl auch zum guten Teil seines großen Namens wegen, ist Sparta behandelt worden. Auch einige andere Städte der später zu nennenden befreiten Gemeinden hatten diese Stellung bereits unter der Republik. Wohl kamen dergleichen Ausnahmen in jeder römischen Provinz vor; aber dem griechischen Gebiet ist dies von Haus aus eigen, daß eben die beiden namhaftesten Städte desselben außerhalb des Untertanenverhältnisses standen und dieses demnach nur die geringeren Gemeinwesen traf.

Auch für die untertänigen Griechenstädte traten schon unter der Republik Milderungen ein. Die anfänglich untersagten Städtebünde lebten allmählich wieder auf, insbesondere die kleineren und machtlosen, wie der böotische, sehr bald; mit der Gewöhnung an die Fremdherrschaft schwanden die oppositionellen Tendenzen, welche ihre Aufhebung herbeigeführt hatten, und ihre enge Verknüpfung mit dem sorgfältig geschonten althergebrachten Kultus wird ihnen weiter zugute gekommen sein, wie denn schon bemerkt worden ist, daß die römische Republik die Amphiktionie in ihren ursprünglichen nicht politischen Funktionen wieder herstellte und schützte. Gegen das Ende der republikanischen Zeit scheint die Regierung den Böotern sogar gestattet zu haben, mit den kleinen nördlich angrenzenden Landschaften und der Insel Euböa eine Gesamtverbindung einzugehen. – Den Schlußstein der republikanischen Epoche macht die Sühnung der Schleifung Korinths durch den größten aller Römer und aller Philhellenen, den Diktator Cäsar, und die Erneuerung des Sternes von Hellas in der Form einer selbständigen Gemeinde römischer Bürger, der neuen »julischen Ehre«.

Diese Verhältnisse fand das eintretende Kaiserregiment in Griechenland vor, und diese Wege ist es weiter gegangen. Die von dem unmittelbaren Eingreifen der Provinzialregierung und von der Steuerzahlung an das Reich befreiten Gemeinden, denen die Kolonien der römischen Bürger in vieler Hinsicht gleichstehen, begreifen weitaus den größten und besten Teil der Provinz Achaia, im Peloponnes Sparta, mit seinem zwar geschmälerten, aber doch jetzt wieder die nördliche Hälfte Lakoniens umfassenden Gebiet, immer noch das Gegenbild Athens sowohl in den versteinerten altfränkischen Institutionen wie in der wenigstens äußerlich bewahrten Ordnung und Haltung; ferner die achtzehn Gemeinden der freien Lakonen, die südliche Hälfte der lakonischen Landschaft, einst spartanische Untertanen, nach dem Kriege gegen Nabis von den Römern als selbständiger Städtebund organisiert und von Augustus gleich Sparta mit der Freiheit beliehen; endlich in der Landschaft der Achäer außer Dyme, das schon von Pompeius mit Piratenkolonisten belegt worden war und dann durch Cäsar neue römische Ansiedler empfangen hatte, vor allem Paträ, aus einem herabgekommenen Flecken von Augustus, seiner für den Handel günstigen Lage wegen, teils durch Zusammenziehung der umliegenden kleinen Ortschaften, teils durch Ansiedlung zahlreicher italischer Veteranen zu der volkreichsten und blühendsten Stadt der Halbinsel umgeschaffen und als römische Bürgerkolonie konstituiert, unter die auch auf der gegenüberliegenden lokrischen Küste Naupaktos (italienisch Lepanto) gelegt ward. Auf dem Isthmos war Korinth, wie es einst das Opfer der Gunst seiner Lage geworden war, so jetzt nach seiner Wiederherstellung, ähnlich wie Karthago, rasch emporgekommen und die gewerb- und volkreichste Stadt Griechenlands, überdies der regelmäßige Sitz der Regierung. Wie die Korinther die ersten Griechen gewesen waren, welche die Römer als Landsleute anerkannt hatten durch Zulassung zu den isthmischen Spielen, so leitete dieselbe Stadt jetzt, obgleich römische Bürgergemeinde, dieses hohe griechische Nationalfest. Auf dem Festlande gehörten zu den befreiten Distrikten nicht bloß Athen mit seinem ganz Attika und zahlreiche Inseln des Ägäischen Meeres umfassenden Gebiet, sondern auch Tanagra und Thespiä, damals die beiden ansehnlichsten Städte der böotischen Landschaft, ferner Platää; in Phokis Delphi, Abä, Elateia, sowie die ansehnlichste der lokrischen Städte Amphissa. Was die Republik begonnen hatte, das vollendete Augustus in der eben dargelegten wenigstens in den Hauptzügen von ihm festgestellten und auch später im wesentlichen festgehaltenen Ordnung. Wenngleich die dem Prokonsul unterworfenen Gemeinden der Provinz der Zahl nach gewiß und vielleicht auch nach der Gesamtbevölkerung überwogen, so sind in echt philhellenischem Geiste die durch materielle Bedeutung oder durch große Erinnerungen ausgezeichnetsten Städte Griechenlands befreite.

Weiter, als in dieser Richtung Augustus gegangen war, ging der letzte Kaiser des claudischen Hauses, einer vom Schlage der verdorbenen Poeten und insofern allerdings ein geborener Philhellene. Zum Dank für die Anerkennung, die seine künstlerischen Leistungen in dem Heimatlande der Musen gefunden hatten, sprach Nero, wie einst Titus Flamininus und wieder in Korinth bei den isthmischen Spielen, die sämtlichen Griechen des römischen Regiments ledig, frei von Tributen und gleich den Italikern keinem Statthalter untertan. Sofort entstanden in ganz Griechenland Bewegungen, welche Bürgerkriege gewesen sein würden, wenn diese Leute mehr hätten fertig bringen können als Schlägereien; und nach wenigen Monaten stellte Vespasian mit der trockenen Bemerkung, daß die Griechen verlernt hätten frei zu sein, die Provinzialverfassung wieder her, so weit sie reichte.

Die Rechtsstellung der befreiten Gemeinden blieb im wesentlichen dieselbe wie unter der Republik. Soweit nicht römische Bürger in Frage kamen, behielten sie die volle Justizhoheit; nur scheinen die allgemeinen Bestimmungen über die Appellationen an den Kaiser einer- und die Senatsbehörden andererseits auch die freien Städte eingeschlossen zu haben. Vor allem behielten sie die volle Selbstbestimmung und Selbstverwaltung. Athen zum Beispiel hat in der Kaiserzeit das Prägerecht geübt, ohne je einen Kaiserkopf auf seine Münzen zu setzen, und auch auf spartanischen Münzen der ersten Kaiserzeit fehlt derselbe häufig. In Athen blieb auch die alte Rechnung nach Drachmen und Obolen, nur daß freilich die örtliche attische Drachme dieser Zeit nichts als lokale Scheidemünze war und dem Wert nach als Obol der attischen Reichsdrachme oder des römischen Denars kursierte. Selbst die formale Ausübung des Rechts über Krieg und Frieden war in einzelnen Verträgen dergleichen Staaten gewahrt. Zahlreiche der italischen Gemeindeordnung völlig widerstreitende Institutionen blieben bestehen, wie der jährliche Wechsel der Ratsmitglieder und die Tagegelder dieser und der Geschworenen, welche wenigstens in Rhodos noch in der Kaiserzeit gezahlt worden sind. Selbstverständlich übte die römische Regierung nichtsdestoweniger auf die Konstituierung auch der befreiten Gemeinden fortwährend einen maßgebenden Einfluß. So ist zum Beispiel die athenische Verfassung, sei es am Ausgang der Republik, sei es durch Cäsar oder Augustus, in der Weise modifiziert worden, daß nicht mehr jedem Bürger, sondern, wie nach römischer Ordnung, nur bestimmten Beamten das Recht zustand, einen Antrag an die Bürgerschaft zu bringen; und unter der großen Zahl der bloß figurierenden Beamten wurde einem einzigen, dem Strategen, die Geschäftsleitung in die Hand gelegt. Sicher sind auf diesem Wege noch mancherlei weitere Reformen durchgeführt worden, deren Eintreten in dem abhängigen wie unabhängigen Griechenland wir überall erkennen, ohne daß Zeit und Anlaß der Reform sich bestimmen läßt. So ist das Recht oder vielmehr das Unrecht der Asyle, welche als Überreste einer rechtlosen Zeit jetzt fromme Schlupfwinkel für schlechte Schuldner und Verbrecher geworden waren, gewiß auch in dieser Provinz, wenn nicht beseitigt, so doch eingeschränkt worden. Das Institut der Proxenie, ursprünglich eine unseren ausländischen Konsulaten vergleichbare zweckmäßige Einrichtung, aber durch die Verleihung voller bürgerlicher Rechte und oft auch noch des Privilegiums der Steuerfreiheit an den befreundeten Ausländer besonders bei der Ausdehnung, in der es gewährt ward, politisch bedenklich, ist durch die römische Regierung, wie es scheint, erst im Anfang der Kaiserzeit beseitigt worden; wofür dann nach italischer Weise das mit dem Steuerwesen sich nicht berührende inhaltlose Stadtpatronat an die Stelle trat. Endlich hat die römische Regierung, als Inhaberin der obersten Souveränität über diese abhängigen Republiken ebenso wie über die Klientelfürsten, immer es als ihr Recht betrachtet und geübt, die freie Verfassung im Fall des Mißbrauchs aufzuheben und die Stadt in eigene Verwaltung zu nehmen. Indes teils der beschworene Vertrag, teils die Machtlosigkeit dieser nominell verbündeten Staaten hat diesen Verträgen eine größere Stabilität gegeben, als sie in dem Verhältnis zu den Klientelfürsten wahrgenommen wird.

Wenn den befreiten Gemeinden Achaias ihre bisherige Rechtsstellung unter dem Kaisertum blieb, so hat Augustus denen der Provinz, welchen die Freiheit nicht gewährt war oder ward, eine neue und bessere Rechtsstellung verliehen. Wie er in der reorganisierten delphischen Amphiktionie den Griechen Europas einen gemeinsamen Mittelpunkt gegeben hatte, gestattete er auch den sämtlichen Städten der Provinz Achaia, soweit sie unter römischer Verwaltung standen, sich als Gesamtverband zu konstituieren und jährlich in Argos, der bedeutendsten Stadt des unfreien Griechenlands, zur Landesversammlung zusammenzutreten. Damit wurde der nach dem achäischen Kriege aufgelöste achäische Bund nicht bloß rekonstituiert, sondern ihm auch die früher erwähnte erweiterte böotische Vereinigung eingefügt. Wahrscheinlich ist eben durch die Zusammenlegung dieser beiden Gebiete die Abgrenzung der Provinz Achaia herbeigeführt worden. Der neue Verband der Achäer, Böoter, Lokrer, Phokier, Dorer und Euböer oder, wie er gewöhnlich gleich wie die Provinz bezeichnet wird, der Verband der Achäer hat vermutlich weder mehr noch weniger Rechte gehabt als die sonstigen Provinziallandtage des Kaiserreichs. Eine gewisse Kontrolle der römischen Beamten wird dabei beabsichtigt gewesen und werden darum auch die dem Prokonsul nicht unterstellten Städte, wie Athen und Sparta, von demselben ausgeschlossen worden sein. Daneben wird diese Tagsatzung, wie alle ähnlichen, hauptsächlich in dem gemeinschaftlichen, das ganze Land umfassenden Kultus den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit gefunden haben. Aber wenn in den übrigen Provinzen dieser Landeskult überwiegend an Rom anknüpfte, so wurde der Landtag von Achäa vielmehr ein Brennpunkt des Hellenismus und sollte es vielleicht werden. Schon unter den julischen Kaisern betrachtete er sich als den rechten Vertreter der griechischen Nation und legte seinem Vorstand den Namen des Helladarchen bei, sich selbst sogar den der Panhellenen. Die Versammlung entfernte sich also von ihrer provinzialen Grundlage, und ihre bescheidenen administrativen Befugnisse traten in den Hintergrund.

Diese Panhellenen nannten sich mißbräuchlich also und wurden von der Regierung nur toleriert. Aber Hadrian schuf wie ein neues Athen, so auch ein neues Hellas. Unter ihm durften die Vertreter der sämtlichen autonomen oder nichtautonomen Städte der Provinz Achaia in Athen sich als das vereinigte Griechenland, als die Panhellenen konstituieren. Die in besseren Zeiten oft geträumte und nie erreichte nationale Einigung war damit geschaffen, und was die Jugend gewünscht, das besaß das Alter in kaiserlicher Fülle. Freilich politische Befugnisse erhielt das neue Panhellenion nicht; aber was Kaisergunst und Kaisergold gewähren konnte, daran war kein Mangel. Es erhob sich in Athen der Tempel des neuen Zeus Panhellenios und glänzende Volksfeste und Spiele wurden mit dieser Stiftung verbunden, deren Ausrichtung dem Kollegium der Panhellenen zustand, und zwar zunächst dem Priester des Hadrian als des stiftenden lebendigen Gottes. Einen der Akte, welche dieselben alljährlich begingen, war das dem Zeus Befreier dargebrachte Opfer in Platää zum Gedächtnis der hier im Kampf gegen die Perser gefallenen Hellenen am Jahrestag der Schlacht, dem 4. Bödromion; dies zeichnet seine Tendenz. Noch deutlicher zeigt dieselbe sich darin, daß Griechenstädten außerhalb Hellas, welche der nationalen Gemeinschaft würdig erschienen, von der Versammlung in Athen ideale Bürgerbriefe des Hellenismus ausgestellt wurden.

Wenn die Kaiserherrschaft in dem ganzen weiten Reich die Verwüstungen eines zwanzigjährigen Bürgerkrieges vorfand und vielerorts die Folgen desselben niemals völlig verwunden wurden, so ist wohl kein Gebiet davon so schwer betroffen worden wie die griechische Halbinsel. Das Schicksal hatte es so gefügt, daß die drei großen Entscheidungsschlachten dieser Epoche, Pharsalos, Philippi, Aktion auf ihrem Boden oder an ihrer Küste geschlagen wurden; und die militärischen Operationen, welche bei beiden Parteien dieselben einleiteten, hatten ihre Opfer von Menschenleben und Menschenglück hier vor allem gefordert. Noch dem Plutarch erzählte sein Ältervater, wie die Offiziere des Antonius die Bürger von Chäroneia gezwungen hätten, da sie Sklaven und Lasttiere nicht mehr besaßen, ihr letztes Getreide auf den eigenen Schultern nach dem nächsten Hafenort zu schleppen zur Verschiffung für das Heer; und wie dann, als eben der zweite Transport abgehen sollte, die Nachricht von der aktischen Schlacht wie eine erlösende Freudenbotschaft eingetroffen sei. Das erste, was nach diesem Siege Cäsar tat, war die Verteilung der in seine Gewalt geratenen feindlichen Getreidevorräte unter die hungernde Bevölkerung Griechenlands. Dieses schwerste Maß des Leidens traf auf vorzugsweise schwache Widerstandskraft. Schon mehr als ein Jahrhundert vor der aktischen Schlacht hatte Polybios ausgesprochen, daß über ganz Griechenland in seiner Zeit Unfruchtbarkeit der Ehen und Einschwinden der Bevölkerung gekommen sei, ohne daß Seuchen oder schwere Kriege das Land betroffen hätten. Nun hatten diese Geißeln in furchtbarer Weise sich eingestellt; und Griechenland blieb verödet für alle Folgezeit. Im ganzen Römerreich, meint Plutarch, sei infolge der verwüstenden Kriege die Bevölkerung zurückgegangen, am meisten aber in Griechenland, das jetzt nicht imstande sei, aus den besseren Kreisen der Bürgerschaften die 3000 Hopliten zu stellen, mit denen einst die kleinste der griechischen Landschaften Megara bei Platää gestritten hatte. Cäsar und Augustus haben versucht, dieser auch für die Regierung erschreckenden Entvölkerung durch Entsendung italischer Kolonisten aufzuhelfen, und in der Tat sind die beiden blühendsten Städte Griechenlands eben diese Kolonien; die späteren Regierungen haben solche Entsendungen nicht wiederholt. Zu der anmutigen euboischen Bauernidylle des Dion von Prusa bildet den Hintergrund eine entvölkerte Stadt, in der zahlreiche Häuser leer stehen, die Herden am Rathaus und am Stadtarchiv weiden, zwei Drittel des Gebietes aus Mangel an Händen unbestellt liegen; und wenn dies der Erzähler als Selbsterlebtes berichtet, so schildert er damit sicher zutreffend die Zustände zahlreicher kleiner griechischer Landstädte in der Zeit Traians. »Theben in Böotien«, sagt Strabon in der augustischen Zeit, »ist jetzt kaum noch ein stattliches Dorf zu nennen, und mit Ausnahme von Tanagra und Thespiä gilt dasselbe von sämtlichen böotischen Städten.« Aber nicht bloß der Zahl nach schwanden die Menschen zusammen, auch der Schlag verkam. Schöne Frauen gibt es wohl noch, sagt einer der feinsten Beobachter um das Ende des 1. Jahrhunderts, aber schöne Männer sieht man nicht mehr; die olympischen Sieger der neueren Zeit erscheinen verglichen mit den älteren niedrig und gemein, zum Teil freilich durch die Schuld der Künstler, aber hauptsächlich weil sie eben sind wie sie sind. Die körperliche Ausbildung der Jugend ist in diesem gelobten Lande der Epheben und Athleten in einer Ausdehnung gefördert worden, als ob es der Zweck der Gemeindeverfassung sei, die Knaben zu Turnern und die Männer zu Boxern zu erziehen; aber wenn keine Provinz so viele Ringkünstler besaß, so stellte auch keine so wenig Soldaten zur Reichsarmee. Selbst aus dem athenischen Jugendunterricht, der in älterer Zeit das Speerwerfen, das Bogenschießen, die Geschützbedienung, das Ausmarschieren und das Lagerschlagen einschloß, verschwindet jetzt dieses Soldatenspiel der Knaben. Die griechischen Städte des Reiches werden überhaupt bei der Aushebung so gut wie gar nicht berücksichtigt, sei es, weil diese Rekruten physisch untauglich erschienen, sei es, weil dieses Element im Heere bedenklich erschien; es war ein kaiserlicher Launscherz, daß der karrikierte Alexander, Severus Antoninus, die römische Armee für den Kampf gegen die Perser durch einige Lochen Spartiaten verstärkte. Was für die innere Ordnung und Sicherheit überhaupt geschah, muß von den einzelnen Gemeinden ausgegangen sein, da römische Truppen in der Provinz nicht standen; Athen zum Beispiel unterhielt Besatzung auf der Insel Delos und wahrscheinlich lag eine Milizabteilung auch auf der Burg. In den Krisen des 3. Jahrhunderts haben der Landsturm von Elateia und derjenige von Athen die Kostoboker und die Goten tapfer zurückgeschlagen und in würdigerer Weise als die Enkel der Kämpfer von Thermopylä in Caracallas Perserkrieg haben in dem gotischen die Enkel der Marathonsieger ihren Namen zum letztenmal in die Annalen der alten Geschichte eingezeichnet. Aber wenn auch dergleichen Vorgänge davon abhalten müssen, die Griechen dieser Epoche schlechtweg zu dem verkommenen Gesindel zu werfen, so hat das Sinken der Bevölkerung an Zahl wie an Kraft auch in der besseren Kaiserzeit stetig angehalten, bis dann seit dem Ende des 2. Jahrhunderts die diese Landschaften ebenfalls schwer heimsuchenden Seuchen, die namentlich die Ostküste treffenden Einfälle der Land- und Seepiraten, endlich das Zusammenbrechen der Reichsgewalt in der gallienischen Zeit das chronische Leiden zur akuten Katastrophe steigerten.

In ergreifender Weise tritt das Sinken von Hellas und treten die Stimmungen, die dasselbe bei den Besten hervorrief, uns entgegen in der Ansprache, die einer von diesen, der Bithyner Dion um die Zeit Vespasians an die Rhodier richtete. Diese galten nicht mit Unrecht als die trefflichsten unter den Hellenen. In keiner Stadt war besser für die niedere Bevölkerung gesorgt und trug diese Fürsorge mehr den Stempel nicht des Almosens, sondern des Arbeitgebens. Als nach dem großen Bürgerkriege Augustus im Orient alle Privatschulden klaglos machte, wiesen allein die Rhodier die bedenkliche Vergünstigung zurück. War auch die große Epoche des rhodischen Handels vorüber, so gab es dort immer noch zahlreiche blühende Geschäfte und vermögende Häuser. Aber viele Mißstände waren auch hier eingerissen, und deren Abstellung fordert der Philosoph, nicht so sehr, wie er sagt, um der Rhodier willen als um der Hellenen insgemein. »Einst ruhte die Ehre von Hellas auf vielen und viele mehrten seinen Ruhm, ihr, die Athener, die Lakedämonier, Theben, eine Zeitlang Korinth, in ferner Zeit Argos. Nun aber ist es mit den anderen nichts; denn einige sind gänzlich heruntergekommen und zerstört, andere führen sich wie ihr wißt und sind entehrt und ihres alten Ruhmes Zerstörer. Ihr seid übrig; ihr allein seid noch etwas und werdet nicht völlig verachtet; denn wie es jene treiben, wären längst alle Hellenen tiefer gesunken als die Phryger und die Thraker. Wie wenn ein großes und reiches Geschlecht auf zwei Augen steht, und was dieser letzte des Hauses sündigt, alle Vorfahren mit entehrt, so stehet ihr in Hellas. Glaubt nicht die ersten der Hellenen zu sein; ihr seid die einzigen. Sieht man auf jene erbärmlichen Schandbuben, so werden selbst die großen Geschicke der Vergangenheit unbegreiflich; die Steine und die Städtetrümmer zeigen deutlicher den Stolz und die Größe von Hellas als diese nicht einmal mysischer Ahnen würdigen Nachfahren; und besser als den von diesen bewohnten ist es den Städten ergangen, welche in Trümmern liegen, denn deren Andenken bleibt in Ehren und ihr wohl erworbener Ruhm unbefleckt – besser die Leiche verbrennen als sie faulend liegen lassen.«

Man wird diesem hohen Sinn eines Gelehrten, welcher die kleine Gegenwart an der großen Vergangenheit maß und, wie dies nicht ausbleiben kann, jene mit widerwilligen Augen, diese in der Verklärung des Dagewesenseins anschaute, nicht zu nahe treten mit dem Hinweis darauf, daß die alte gute hellenische Sitte damals und noch lange nachher denn doch nicht bloß in Rhodos zu finden, vielmehr in vieler Hinsicht noch allerorts lebendig war. Die innerliche Selbständigkeit, das wohl berechtigte Selbstgefühl der immer noch an der Spitze der Zivilisation stehenden Nation ist bei aller Schmiegsamkeit des Untertanen- und aller Demut des Parasitentums den Hellenen auch dieser Zeit nicht abhanden gekommen. Die Römer entlehnen die Götter von den alten Hellenen und die Verwaltungsform von den Alexandrinern; sie suchen sich der griechischen Sprache zu bemächtigen und die eigene in Maß und Stil zu hellenisieren. Die Hellenen auch der Kaiserzeit tun nicht das gleiche; die nationalen Gottheiten Italiens, wie Silvanus und die Laren, werden in Griechenland nicht verehrt und keiner griechischen Stadtgemeinde ist es je in den Sinn gekommen, die von ihrem Polybios als die beste gefeierte politische Ordnung bei sich einzuführen. Insofern die Kenntnis des Lateinischen für die höhere wie die niedere Ämterlaufbahn bedingend war, haben die Griechen, die diese betraten, sich dieselbe angeeignet; denn wenn es auch praktisch nur dem Kaiser Claudius einfiel, den Griechen, die kein Lateinisch verstanden, das römische Bürgerrecht zu entziehen, so war allerdings die wirkliche Ausübung der mit diesem verknüpften Rechte und Pflichten nur dem möglich, der der Reichssprache mächtig war. Aber von dem öffentlichen Leben abgesehen ist nie in Griechenland so lateinisch gelernt worden wie in Rom griechisch; Plutarchos, der schriftstellerisch die beiden Reichshälften gleichsam vermählte, und dessen Parallelbiographien römischer und griechischer berühmter Männer vor allem durch diese Nebeneinanderstellung sich empfahlen und wirkten, verstand nicht sehr viel mehr lateinisch als Diderot russisch, und beherrschte wenigstens, wie er selbst sagt, die Sprache nicht; die des Lateinischen wirklich mächtigen griechischen Literaten waren entweder Beamte, wie Appianus und Cassius Dion, oder Neutrale, wie König Juba. In der Tat war Griechenland in sich selbst weit weniger verändert als in seiner äußeren Stellung. Das Regiment von Athen war recht schlecht, aber auch in der Zeit von Athens Größe war es gar nicht musterhaft gewesen. »Es ist«, sagt Plutarchos, »derselbe Volksschlag, dieselben Unruhen, der Ernst und der Scherz, die Anmut und die Bosheit wie bei den Vorfahren.« Auch diese Epoche weist in dem Leben des griechischen Volkes noch einzelne Züge auf, die seines zivilisatorischen Prinzipats würdig sind. Die Fechterspiele, die von Italien aus sich überall hin, namentlich auch nach Kleinsasien und Syrien verbreiteten, haben am spätesten von allen Landschaften in Griechenland Eingang gefunden; längere Zeit beschränkten sie sich auf das halb italische Korinth, und als die Athener, um hinter diesen nicht zurückzustehen, sie auch bei sich einführten, ohne auf die Stimme eines ihrer Besten zu hören, der sie fragte, ob sie nicht zuvor dem Gotte des Erbarmens einen Altar setzen möchten, da wandten manche der Edelsten unwillig sich weg von der sich selber entehrenden Vaterstadt. In keinem Lande der antiken Welt sind die Sklaven mit solcher Humanität behandelt worden wie in Hellas; nicht das Recht, aber die Sitte verbot dem Griechen seine Sklaven an einen nichtgriechischen Herrn zu verkaufen und verbannte somit aus dieser Landschaft den eigentlichen Sklavenhandel. Nur hier finden wir in der Kaiserzeit bei den Bürgerschmäusen und den Ölspenden an die Bürgerschaft auch die unfreien Leute mit bedacht. Nur hier konnte ein unfreier Mann, wie Epiktetos unter Traian, in seiner mehr als bescheidenen äußeren Existenz in dem epirotischen Nikopolis mit angesehenen Männern senatorischen Standes in der Weise verkehren wie Sokrates mit Kritias und Alkibiades, so daß sie seiner mündlichen Belehrung wie Schüler dem Meister lauschten und die Gespräche aufzeichneten und veröffentlichten. Die Milderungen der Sklaverei durch das Kaiserrecht gehen wesentlich zurück auf den Einfluß der griechischen Anschauungen zum Beispiel bei Kaiser Marcus, der zu jenem nikopolitanischen Sklaven wie zu seinem Meister und Muster emporsah. Unübertrefflich schildert der Verfasser eines unter den lukianischen erhaltenen Dialogs das Verhalten des seinen athenischen Stadtbürgers in seinen engen Verhältnissen gegenüber dem vornehmen und reichen reisenden Publikum zweifelhafter Bildung oder auch unzweifelhafter Roheit: wie man es dem reichen Ausländer abgewöhnt, im öffentlichen Bade mit einem Heer von Bedienten aufzuziehen, als ob er seines Lebens in Athen nicht ohnehin sicher und nicht Frieden im Lande sei, wie man es ihm abgewöhnt, auf der Straße mit dem Purpurgewand sich zu zeigen, indem die Leute sich freundlich erkundigen, ob es nicht das seiner Mama sei. Er zieht die Parallele zwischen römischer und athenischer Existenz: dort die beschwerlichen Gastereien und die noch beschwerlicheren Bordelle, die unbequeme Bequemlichkeit der Bedientenschwärme und des häuslichen Luxus, die Lästigkeiten der Liederlichkeit, die Qualen des Ehrgeizes, all das Übermaß, die Vielfältigkeit, die Unruhe des hauptstädtischen Treibens; hier die Anmut der Armut, die freie Rede im Freundeskreis, die Muße für geistigen Genuß, die Möglichkeit des Lebensfriedens und der Lebensfreude – »wie konntest du«, fragt ein Grieche in Rom den andern, »das Licht der Sonne, Hellas und sein Glück und seine Freiheit um dieses Gedränges willen verlassen?« In diesem Grundakkord begegnen sich alle feiner und reiner organisierten Naturen dieser Epoche; eben die besten Hellenen mochten nicht mit den Römern tauschen. Kaum gibt es etwas gleich Erfreuliches in der Literatur der Kaiserzeit wie Dios schon erwähnte euboische Idylle: sie schildert die Existenz zweier Jägerfamilien im einsamen Walde, deren Vermögen acht Ziegen sind, eine Kuh ohne Hörn und ein schönes Kalb, vier Sicheln und drei Jagdspeere, welche weder von Geld noch von Steuern etwas wissen, und die dann, vor die tobende Bürgerversammlung der Stadt gestellt, von dieser schließlich unbehelligt entlassen werden zum Freuen und zum Freien. Die reale Durchführung dieser poetisch verklärten Lebensauffassung ist Plutarchos von Chäroneia, einer der anmutigsten und belesensten und nicht minder einer der wirksamsten Schriftsteller des Altertums. Einer vermögenden Familie jener kleinen böotischen Landstadt entsprossen und erst daheim, dann in Athen und in Alexandreia in die volle hellenische Bildung eingeführt, auch durch seine Studien und vielfältige persönliche Beziehungen sowie durch Reisen in Italien mit römischen Verhältnissen wohl vertraut, verschmähte er es nach der üblichen Weise der begabten Griechen in den Staatsdienst zu treten oder die Professorenlaufbahn einzuschlagen; er blieb seiner Heimat treu, mit der trefflichen Frau und den Kindern und mit den Freunden und Freundinnen des häuslichen Lebens im schönsten Sinne des Wortes genießend, sich bescheidend mit den Ämtern und Ehren, die sein Böotien ihm zu bieten vermochte, und mit dem mäßigen angeerbten Vermögen. In diesem Chäroneer drückt der Gegensatz der Hellenen und der Hellenisierten sich aus; ein solches Griechentum war weder in Smyrna möglich noch in Antiocheia; es gehörte zum Boden wie der Honig vom Hymettos. Es gibt genug mächtigere Talente und tiefere Naturen, aber schwerlich einen zweiten Schriftsteller, der mit so glücklichem Maß sich in das Notwendige mit Heiterkeit zu finden und so wie er den Stempel seines Seelenfriedens und seines Lebensglückes seinen Schriften aufzuprägen gewußt hat.

Die Selbstbeherrschung des Hellenismus kann auf dem Boden des öffentlichen Lebens sich nicht in der Reinheit und Schönheit offenbaren wie in der stillen Heimstatt, nach der die Geschichte und sie nach der Geschichte glücklicherweise nicht fragt. Wenden wir uns den öffentlichen Verhältnissen zu, so ist mehr vom Mißregiment als vom Regiment zu berichten sowohl der römischen Regierung wie der griechischen Autonomie. An gutem Willen fehlte es dort insofern nicht, als der römische Philhellenismus die Kaiserzeit noch viel entschiedener beherrscht als die republikanische. Er äußert sich überall im großen wie im kleinen, in der Fortführung der Hellenisierung der östlichen Provinzen und der Anerkennung der doppelten offiziellen Reichssprache wie in den höflichen Formen, in welchen die Regierung auch mit der kleinsten griechischen Gemeinde verkehrt und ihre Beamten zu verkehren anhält. Auch haben es die Kaiser an Gaben und Bauten zugunsten dieser Provinz nicht fehlen lassen; und wenn auch das meiste der Art nach Athen kam, so baute doch Hadrian eine große Wasserleitung zum besten von Korinth, Pius die Heilanstalt von Epidauros. Aber die rücksichtsvolle Behandlung der Griechen insgemein und die besondere Huld, welche dem eigentlichen Hellas von der kaiserlichen Regierung zuteil wurde, weil es in gewissem Sinn gleich wie Italien als Mutterland galt, sind weder dem Regiment noch der Landschaft recht zum Vorteil ausgeschlagen. Der jährliche Wechsel der Oberbeamten und die schlaffe Kontrolle der Zentralstelle ließen alle senatorischen Provinzen, soweit das Statthalterregiment reichte, mehr den Druck als den Segen einheitlicher Verwaltung empfinden, und diese doppelt bei ihrer Kleinheit und ihrer Armut. Noch unter Augustus selbst machten diese Mißstände sich in dem Grade geltend, daß es eine der ersten Regierungshandlungen seines Nachfolgers war, sowohl Griechenland wie Makedonien in eigene Verwaltung zu nehmen, wie es hieß, vorläufig, in der Tat auf die ganze Dauer seiner Regierung. Es war sehr konstitutionell, aber vielleicht nicht eben so weise, daß Kaiser Claudius, als er zur Gewalt gelangte, die alte Ordnung wieder herstellte. Seitdem hat es dann bei dieser sein Bewenden gehabt und ist Achaia nicht von ernannten, sondern von erlosten Beamten verwaltet worden, bis diese Verwaltungsform überhaupt abkam.

Aber bei weitem übler noch stand es um die von dem Statthalterregiment eximierten Gemeinden Griechenlands. Die Absicht, diese Gemeinwesen zu begünstigen durch die Befreiung vom Tribut und Aushebung wie nicht minder durch die möglichst geringe Beschränkung der Rechte des souveränen Staates, hat wenigstens in vielen Fällen zu dem Gegenteil geführt. Die innere Unwahrheit der Institutionen rächte sich.

Zwar bei den weniger bevorrechteten oder besser verwalteten Gemeinden mag die kommunale Autonomie ihren Zweck erfüllt haben; wenigstens vernehmen wir nicht, daß es mit Sparta, Korinth, Paträ besonders übel bestellt gewesen sei. Aber Athen war nicht geschaffen, sich selbst zu verwalten und bietet das abschreckende Bild eines von der Obergewalt verhätschelten und finanziell wie sittlich verkommenen Gemeinwesens. Von Rechts wegen hätte dasselbe in blühendem Zustande sich befinden müssen. Wenn es den Athenern mißlang, die Nation unter ihrer Hegemonie zu vereinigen, so ist diese Stadt doch die einzige Griechenlands wie Italiens gewesen, welche die landschaftliche Einigung vollständig durchgeführt hat; ein eigenes Gebiet, wie es die Attike ist, von etwa 40 Quadratmeilen, der doppelten Größe der Insel Rügen, hat keine Stadt des Altertums sonst besessen. Aber auch außerhalb Attikas blieb ihnen, was sie besaßen, sowohl nach dem mithradatischen Kriege durch Sullas Gnade wie nach der pharsalischen Schlacht, in der sie auf Seiten des Pompeius gestanden hatten, durch die Gnade Cäsars – er fragte sie nur, wie oft sie noch sich selber zugrunde richten und dann durch den Ruhm ihrer Vorfahren retten lassen wollten. Der Stadt gehörte immer noch nicht bloß das ehemals haliartische Gebiet in Böotien, sondern auch an ihrer eigenen Küste Salamis, der alte Ausgangspunkt ihrer Seeherrschaft, im Thrakischen Meer die einträglichen Inseln Skyros, Lemnos und Imbros sowie im Ägäischen Delos; freilich war diese Insel seit dem Ende der Republik nicht mehr das zentrale Emporium des Handels mit dem Osten, nachdem der Verkehr sich von da weg nach den Häfen der italischen Westküste gezogen hatte, und es war dies für die Athener ein unersetzlicher Verlust. Von den weiteren Verleihungen, die sie Antonius abzuschmeicheln gewußt hatten, nahm ihnen Augustus, gegen den sie Partei ergriffen hatten, allerdings Ägina und Eretria auf Euböa, aber die kleineren Inseln des Thrakischen Meeres, Ikos Peparethos Skiathos, ferner Keos vor der sunischen Landspitze durften sie behalten; und Hadrian gab ihnen weiter den besten Teil der großen Insel Kephallenia im Ionischen Meer. Erst durch den Kaiser Severus, der ihnen nicht wohlwollte, wurde ihnen ein Teil dieser auswärtigen Besitzungen entzogen. Hadrian gewährte ferner den Athenern die Lieferung eines gewissen Quantums von Getreide auf Kosten des Reiches und erkannte durch die Erstreckung dieses bisher der Reichshauptstadt vorbehaltenen Privilegiums Athen gleichsam an als eine der Reichsmetropolen. Nicht minder wurde das segensreiche Institut der Alimentarstiftungen, dessen Italien sich seit Traian erfreute, von Hadrian auf Athen ausgedehnt und das dazu erforderliche Kapital sicher aus seiner Schatulle den Athenern geschenkt. Eine Wasserleitung, die er ebenfalls seinem Athen widmete, wurde erst nach seinem Tode von Pius vollendet. Dazu kam der Zusammenfluß der Reisenden und der Studierenden und die in immer steigender Zahl von den römischen Großen und den auswärtigen Fürsten der Stadt verliehenen Stiftungen. Dennoch war die Gemeinde in stetiger Bedrängnis. Mit dem Bürgerrecht wurde nicht bloß das überall übliche Geschäft auf Nehmen und Geben, sondern förmlich und offenkundig Schacher getrieben, so daß Augustus mit einem Verbot dagegen einschritt. Einmal über das andere beschloß der Rat von Athen diese oder jene seiner Inseln zu verkaufen, und nicht immer fand sich ein opferwilliger Reicher gleich dem Julius Nikanor, der unter Augustus den bankerotten Athenern die Insel Salamis zurückkaufte und dafür von dem Rat derselben den Ehrentitel des »neuen Themistokles« sowie, da er auch Verse machte, nebenbei den des »neuen Homer« und mit den edlen Ratsherren zusammen von dem Publikum den wohlverdienten Hohn erntete. Die prachtvollen Bauten, mit denen Athen fortfuhr sich zu schmücken, erhielt es ohne Ausnahme von den Fremden, unter anderen von den reichen Königen Antiochos von Kommagene und Herodes von Judäa, vor allen aber von dem Kaiser Hadrian, der eine völlige »Neustadt« (novae Athenae) am Ilisos anlegte und außer zahllosen anderen Gebäuden, darunter dem schon erwähnten Panhellenion, das Wunder der Welt, den von Peisistratos begonnenen Riesenbau des Olympieion mit seinen 120 zum Teil noch stehenden Säulen, den größten von allen, die heute aufrecht sind, sieben Jahrhunderte nach seinem Beginn in würdiger Weise abschloß. Selbst hatte diese Stadt kein Geld nicht bloß für ihre Hafenmauern, die jetzt allerdings entbehrlich waren, sondern nicht einmal für den Hafen. Zu Augustus Zeit war der Peiräeus ein geringes Dorf von wenigen Häusern, nur besucht wegen der Meisterwerke der Malerei in den Tempelhallen. Handel und Industrie gab es in Athen fast nicht mehr, oder für die Bürgerschaft insgemein wie für den einzelnen Bürger nur ein einziges blühendes Gewerbe, den Bettel. Auch blieb es nicht bei der Finanzbedrängnis. Die Welt hatte wohl Frieden, aber nicht die Straßen und Plätze von Athen. Noch unter Augustus hat ein Aufstand in Athen solche Verhältnisse angenommen, daß die römische Regierung gegen die Freistadt einschreiten mußte; und wenn auch dieser Vorgang vereinzelt steht, so gehörten Aufläufe auf der Gasse wegen der Brotpreise und aus anderen geringfügigen Anlässen in Athen zur Tagesordnung. Viel besser wird es in zahlreichen anderen Freistädten nicht ausgesehen haben, von denen weniger die Rede ist. Einer solchen Bürgerschaft die Kriminaljustiz unbeschränkt in die Hand zu geben, war kaum zu verantworten; und doch stand dieselbe den zu internationaler Föderation zugelassenen Gemeinden, wie Athen und Rhodos, von Rechts wegen zu. Wenn der athenische Areopag in augustischer Zeit sich weigerte, einen wegen Fälschung verurteilten Griechen auf die Verwendung eines vornehmen Römers hin von der Strafe zu entbinden, so wird er in seinem Recht gewesen sein; aber daß die Kyzikener unter Tiberius römische Bürger einsperrten, unter Claudius gar die Rhodier einen römischen Bürger ans Kreuz schlugen, waren auch formale Rechtsverletzungen, und ein ähnlicher Vorgang hat unter Augustus den Thessalern ihre Autonomie gekostet. Übermut und Übergriff wird durch die Machtlosigkeit nicht ausgeschlossen, nicht selten von den schwachen Schutzbefohlenen eben daraufhin gewagt. Bei aller Achtung für große Erinnerungen und beschworene Verträge mußten doch jeder gewissenhaften Regierung diese Freistaaten nicht viel minder als ein Bruch in die allgemeine Rechtsordnung erscheinen, wie das noch viel altheiligere Asylrecht der Tempel.

Schließlich griff die Regierung durch und stellte die freien Städte hinsichtlich ihrer Wirtschaft unter die Oberaufsicht von Beamten kaiserlicher Ernennung, die allerdings zunächst als außerordentliche Kommissarien »zur Korrektur der bei den Freistädten eingerissenen Übelstände« charakterisiert werden und davon späterhin die Bezeichnung Korrektoren als titulare führen. Die Anfänge derselben lassen sich bis in die traianische Zeit verfolgen; als stehende Beamte finden wir sie in Achaia im 3. Jahrhundert. Diese neben den Prokonsuln fungierenden vom Kaiser bestellten Beamten finden in keinem Teil des römischen Reiches so früh sich ein und sind in keinem so früh ständig geworden wie in dem halb aus Freistädten bestehenden Achaia.

Das an sich wohlberechtigte und durch die Haltung der römischen Regierung wie vielleicht noch mehr durch die des römischen Publikums genährte Selbstgefühl der Hellenen, das Bewußtsein des geistigen Primats rief daselbst einen Kultus der Vergangenheit ins Leben, der sich zusammensetzt aus dem treuen Festhalten an den Erinnerungen größerer und glücklicherer Zeiten und dem barocken Zurückdrehen der gereiften Zivilisation auf ihre zum Teil sehr primitiven Anfänge. Zu den ausländischen Kulten, wenn man absieht von dem schon früher durch die Handelsverbindungen eingebürgerten Dienst der ägyptischen Gottheiten, namentlich der Isis, haben die Griechen im eigentlichen Hellas sich durchgehend ablehnend verhalten; wenn dies von Korinth am wenigsten gilt, so ist dies auch die am wenigsten griechische Stadt von Hellas. Die alte Landesreligion schützt nicht der innige Glaube, von dem diese Zeit sich längst gelöst hatte; aber die heimische Weise und das Gedächtnis der Vergangenheit haften vorzugsweise an ihr und darum wird sie nicht bloß mit Zähigkeit festgehalten, sondern sie wird auch, zum guten Teil durch gelehrte Repristination, im Laufe der Zeit immer starrer und altertümlicher, immer mehr ein Sonderbesitz der Studierten. – Ähnlich verhält es sich mit dem Kultus der Stammbäume, in welchem die Hellenen dieser Zeit ungemeines geleistet und die adelstolzesten Römer weit hinter sich gelassen haben. In Athen spielt das Geschlecht der Eumolpiden eine hervorragende Rolle bei der Reorganisierung des eleusinischen Festes unter Marcus. Dessen Sohn Commodus verlieh dem Haupt des Geschlechtes der Keryken das römische Bürgerrecht, und aus demselben stammt der tapfere und gelehrte Athener, der, fast wie Thukydides, mit den Goten schlug und dann den Gotenkrieg beschrieb. Des Marcus Zeitgenosse, der Professor und Konsular Herodes Atticus gehörte eben diesem Geschlechte an und sein Hofpoet singt von ihm, daß dem hochgeborenen Athener, dem Nachkommen des Hermes und der Kekropstochter Herse, der rote Schuh des römischen Patriziats wohl angestanden habe, während einer seiner Lobredner in Prosa ihn als Äakiden feiert und zugleich als Abkömmling von Miltiades und Kimon. Aber auch Athen wurde hierin noch weit überboten von Sparta; mehrfach begegnen Spartiaten, die sich der Herkunft von den Dioskuren, dem Herakles, dem Poseidon und des seit vierzig und mehr Generationen in ihrem Hause erblichen Priestertums dieser Altvordern berühmen. Es ist charakteristisch für dieses Adeltum, daß es sich hauptsächlich erst mit dem Ende des 2. Jahrhunderts einstellt; die Heraldiker, welche diese Geschlechtstafeln entwarfen, werden für die Beweisstücke weder in Athen noch in Sparta die Goldwage angewandt haben. – Dieselbe Tendenz zeigt sich in der Behandlung der Sprache oder vielmehr der Dialekte. Während in dieser Zeit in den sonstigen griechisch redenden Ländern und auch in Hellas im gewöhnlichen Verkehr das sogenannte gemeine, im wesentlichen aus der attischen Mundart heraus verschliffene Griechisch vorherrscht, strebt die Schriftsprache dieser Epoche nicht bloß nach der Beseitigung der eingerissenen Sprachfehler und Neuerungen, sondern vielfach werden dialektische Besonderheiten dem Sprachgebrauch entgegen wieder aufgenommen und hier, wo er am wenigsten berechtigt war, der alte Partikularismus in scheinhafter Weise zurückgeführt. Den Standbildern, welche die Thespier den Musen im Hain des Helikon setzten, wurden auf gut böotisch die Namen Orania und Thalea beigeschrieben, während die dazugehörigen Epigramme, verfaßt von einem Poeten römischen Namens, sie auf gut ionisch Uranie und Thaleie nannten und die nichtgelehrten Böoter, wenn sie sie kannten, sie nannten wie alle anderen Griechen Urania und Thaleia. Von den Spartanern vor allem ist darin Unglaubliches geleistet und nicht selten mehr für den Schatten des Lykurgos als für die zur Zeit lebenden Älier und Aurelier geschrieben worden. Daneben kommt der korrekte Gebrauch der Sprache in dieser Zeit auch in Hellas allmählich ins Schwanken; Archaismen und Barbarismen gehen in den Dokumenten der Kaiserzeit häufig friedlich nebeneinander her. Athens sehr mit Fremden gemischte Bevölkerung hat in dieser Hinsicht sich zu keiner Zeit besonders ausgezeichnet, und obwohl die städtischen Urkunden sich verhältnismäßig rein halten, macht doch seit Augustus die allgemein einreißende Sprachverderbnis auch hier sich fühlbar. Die strengen Grammatiker der Zeit haben ganze Bücher gefüllt mit den Sprachschnitzern, die der ebenerwähnte vielgefeierte Rhetor Herodes Atticus und die übrigen berühmten Schulredner des 2. Jahrhunderts sich zu Schulden kommen ließen, ganz abgesehen von der verzwickten Künstelei und der manierierten Pointierung ihrer Rede. Die eigentliche Verwilderung aber in Sprache und Schrift reißt in Athen und ganz Griechenland, eben wie in Rom, ein mit Septimius Severus.

Die Schadhaftigkeit der hellenischen Existenz lag in der Beschränktheit ihres Kreises: es mangelte dem hohen Ehrgeiz an dem entsprechenden Ziel und darum überwucherte die niedere und erniedrigende Ambition. Auch in Hellas fehlte es nicht an einheimischen Familien von großem Reichtum und bedeutendem Einfluß. Das Land war wohl im ganzen arm, aber es gab doch Häuser von ausgedehntem Grundbesitz und altbefestigtem Wohlstand. In Sparta zum Beispiel hat das des Lachares von Augustus bis wenigstens in die hadrianische Zeit eine Stellung eingenommen, welche tatsächlich von dem Fürstentum nicht allzuweit abstand. Den Lachares hatte Antonius wegen Erpressung hinrichten lassen. Dafür war dessen Sohn Eurykles einer der entschiedensten Parteigänger Augusts und einer der tapfersten Kapitäne in der entscheidenden Seeschlacht, der fast den besiegten Feldherrn persönlich zum Gefangenen gemacht hätte; er empfing von dem Sieger unter anderen reichen Gaben als Privateigentum die Insel Kythere (Cerigo). Später spielte er eine hervorragende und bedenkliche Rolle nicht bloß in seinem Heimatland, über welches er eine dauernde Vorstandschaft ausgeübt haben muß, sondern auch an den Höfen von Jerusalem und Cäsarea, wobei das dem Spartiaten von den Orientalen gezollte Ansehen nicht wenig mitwirkte. Deswegen von dem Kaisergericht mehrfach zur Verantwortung gezogen, wurde er schließlich verurteilt und ins Exil gesandt; aber der Tod entzog ihn rechtzeitig den Folgen des Urteilsspruches, und sein Sohn Lakon trat in das Vermögen und wesentlich auch, wenngleich in vorsichtiger Form, in die Machtstellung des Vaters ein. Ähnlich stand in Athen das Geschlecht des oft genannten Herodes; wir können dasselbe aufsteigend durch vier Generationen bis in die Zeit Cäsars zurückverfolgen, und über des Herodes Großvater ist, ähnlich wie über den Spartaner Eurykles, wegen seiner übergreifenden Machtstellung in Athen die Konfiskation verhängt worden. Die ungeheuren Latifundien, welche der Enkel in seiner armen Heimat besaß, die zu Grabzwecken seiner Lustknaben verwendeten weiten Flächen erregten den Unwillen selbst der römischen Statthalter. Derartige mächtige Familien gab es vermutlich in den meisten Landschaften von Hellas, und wenn sie auf dem Landtag der Provinz in der Regel entschieden, so waren sie auch in Rom nicht ohne Verbindungen und Einfluß. Aber obwohl diejenigen rechtlichen Schranken, welche den Gallier und den Alexandriner noch nach erlangtem Bürgerrecht vom Reichssenat ausschlossen, diesen vornehmen Griechen schwerlich entgegenstanden, vielmehr unter den Kaisern diejenige politische und militärische Laufbahn, welche dem Italiker sich darbot, von Rechts wegen dem Hellenen gleichfalls offen stand, so sind dieselben doch tatsächlich erst in später Zeit und in beschränktem Umfang in den Staatsdienst eingetreten, zum Teil wohl, weil die römische Regierung der früheren Kaiserzeit die Griechen als Ausländer ungern zuließ, zum Teil, weil diese selbst die mit dem Eintritt in diese Laufbahn verknüpfte Übersiedlung nach Rom scheuten und es vorzogen, statt einer mehr unter den vielen Senatoren daheim die ersten zu sein. Erst des Lachares Urenkel Herklanos ist in traianischer Zeit und in der Familie des Herodes wahrscheinlich zuerst dessen Vater um dieselbe Zeit in den römischen Senat eingetreten. – Die andere Laufbahn, welche erst in der Kaiserzeit sich auftat, der persönliche Dienst des Kaisers, gab wohl im günstigen Fall Reichtum und Einfluß und ist auch früher und häufiger von den Griechen betreten worden; aber da die meisten und wichtigsten dieser Stellungen an den Offizierdienst geknüpft waren, scheint auch für diese längere Zeit ein faktischer Vorzug der Italiker bestanden zu haben und war der gerade Weg auch hier den Griechen einigermaßen verlegt. In untergeordneten Stellungen sind Griechen am kaiserlichen Hofe von jeher und in großer Anzahl verwendet worden und auf Umwegen oftmals zu Vertrauen und Einfluß gelangt; aber dergleichen Persönlichkeiten kamen mehr aus den hellenisierten Landschaften als aus Hellas selbst und am wenigsten aus den besseren hellenischen Häusern. Für die legitime Ambition des jungen Mannes von Herkunft und Vermögen gab es, wenn er ein Grieche war, im römischen Kaiserreich nur beschränkten Spielraum.

Es blieb ihm die Heimat, und in dieser für das gemeine Wohl tätig zu sein, war allerdings Pflicht und Ehre. Aber es waren sehr bescheidene Pflichten und noch viel bescheidenere Ehren. »Eure Aufgabe«, sagt Dion weiter seinen Rhodiern, »ist eine andere als die der Vorfahren war. Sie konnten ihre Tüchtigkeit nach vielen Seiten hin entwickeln, nach dem Regiment streben, den Unterdrückten beistehen, Bundesgenossen gewinnen, Städte gründen, kriegen und siegen; von allem dem vermögt ihr nichts mehr zu tun. Es bleibt euch die Führung des Hauswesens, die Verwaltung der Stadt, die Verleihung von Ehren und Auszeichnungen mit Wahl und Maß, der Sitz im Rat und im Gericht, der Gottesdienst und die Feier der Feste; in allem diesem könnt ihr euch vor andern Städten auszeichnen. Auch das ist nichts Geringes, die anständige Haltung, die Sorgfalt für Haar und Bart, der gesetzte Gang auf der Straße, so daß bei euch selbst die anders gewöhnten Fremden sich es abgewöhnen zu rennen, die schickliche Tracht, sogar, wenn es auch lächerlich erscheinen mag, der schmale und knappe Purpursaum, die Ruhe im Theater, das Maßhalten im Klatschen: das alles macht die Ehre eurer Stadt, und mehr als in euren Häfen und Mauern und Docks zeigt sich hierin das gute alte hellenische Wesen und erkennt hierin auch der Barbar, der den Namen der Stadt nicht weiß, daß er in Griechenland ist und nicht in Syrien oder Kilikien.« Das traf alles zu; aber wenn es jetzt nicht mehr von dem Bürger erlangt ward, für die Vaterstadt zu sterben, so war doch die Frage nicht ohne Berechtigung, ob es noch der Mühe wert sei für diese Vaterstadt zu leben. Es gibt von Plutarchos eine Auseinandersetzung über die Stellung der griechischen Gemeindebeamten zu seiner Zeit, worin er mit der ihm eigenen Billigkeit und Umsicht diese Verhältnisse erörtert. Die alte Schwierigkeit, die gute Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu führen mittels der Majoritäten der unsicheren, launenhaften, oft mehr den eigenen Vorteil als den des Gemeinwesens bedenkenden Bürgerschaft oder auch der sehr zahlreichen Ratsversammlung – die athenische zählte in der Kaiserzeit erst 600, dann 500, später 750 Stadträte – bestand wie früher so auch jetzt; es ist die Pflicht des tüchtigen Beamten, zu verhindern, daß das »Volk« nicht dem einzelnen Bürger Unrecht tut, nicht das Privatvermögen unerlaubterweise an sich zieht, nicht das Gemeindegut unter sich verteilt – Aufgaben, die dadurch nicht leichter werden, daß der Beamte kein Mittel dafür hat als die verständige Ermahnung und die Kunst des Demagogen, daß ihm ferner geraten wird, in kleinen Dingen nicht allzu spröde zu sein und wenn bei einem Stadtfest eine mäßige Spende an die Bürgerschaft in Antrag kommt, es nicht solcher Kleinigkeit wegen mit den Leuten zu verderben. Im übrigen aber hatten die Verhältnisse sich völlig verändert, und es muß der Beamte in die gegenwärtigen sich schicken lernen. Vor allem hat er die Machtlosigkeit der Hellenen, sich selbst wie den Mitbürgern jeden Augenblick gegenwärtig zu halten. Die Freiheit der Gemeinde reicht so weit die Herrscher sie gestatten, und ein Mehr würde auch wohl vom Übel sein. Wenn Perikles die Amtstracht anlegte, so rief er sich zu, nicht zu vergessen, daß er über Freie und Griechen herrsche; heute hat der Beamte sich zu sagen, daß er unter einem Herrscher herrsche, über eine den Prokonsuln und den kaiserlichen Prokuratoren untergebene Stadt, daß er nichts sein könne und dürfe als das Organ der Regierung, daß ein Federstrich des Statthalters genüge, um jedes seiner Dekrete zu vernichten. Darum ist es die erste Pflicht eines guten Beamten, sich mit den Römern in gutes Einvernehmen zu setzen und womöglich einflußreiche Verbindungen in Rom anzuknüpfen, damit diese der Heimat zugute kommen. Freilich warnt der rechtschaffene Mann eindringlich vor der Servilität; nötigenfalls soll der Beamte mutig dem schlechten Statthalter entgegentreten, und als die höchste Leistung erscheint die entschlossene Vertretung der Gemeinde in solchen Konflikten in Rom vor dem Kaiser. In bezeichnender Weise tadelt er scharf diejenigen Griechen, die – ganz wie in den Zeiten des achäischen Bundes – bei jedem örtlichen Hader die Intervention des römischen Statthalters herbeiführen, und mahnt dringend die Gemeindeangelegenheiten lieber innerhalb der Gemeinde zu erledigen, als durch Appellation sich nicht so sehr der Oberbehörde als den bei ihr tätigen Sachwaltern und Advokaten in die Hände zu liefern. Alles dieses ist verständig und patriotisch, so verständig und so patriotisch wie einstmals die Politik des Polybios, auf die auch ausdrücklich hingewiesen wird. In dieser Epoche des völligen Weltfriedens, wo es weder einen Griechen- noch einen Barbarenkrieg irgendwo gibt, wo die städtischen Kommandos, die städtischen Friedensschlüsse und Bündnisse lediglich der Geschichte angehören, war der Rath sehr am Platze, Marathon und Platää den Schulmeistern zu überlassen und nicht die Köpfe der Ekklesia mit dergleichen großen Worten zu erhitzen, vielmehr in dem engen Kreise der noch gestatteten freien Bewegung sich zu bescheiden. Aber die Welt gehört nicht dem Verstände, sondern der Leidenschaft. Der hellenische Bürger konnte auch jetzt noch gegen das Vaterland seine Pflicht tun; aber für den rechten politischen nach Großem ringenden Ehrgeiz, für die perikleische und alkibiadische Leidenschaft war in diesem Hellas, vom Schreibtisch etwa abgesehen, nirgends ein Raum, und in der Lücke wucherten die Giftkräuter, die da, wo das hohe Streben erstickt ist, die Menschenbrust versehren und das Menschenherz vergiften.

Darum ist Hellas auch das Mutterland der heruntergekommenen inhaltlosen Ambition, unter den vielen schweren Schäden der sinkenden antiken Zivilisation vielleicht des am meisten allgemeinen und sicher eines der verderblichsten. Dabei stehen in erster Reihe die Volksfeste mit ihrer Preiskonkurrenz. Die olympischen Wettkämpfe stehen dem jugendlichen Volk der Hellenen wohl an; das allgemeine Turnerfest der griechischen Stämme und Städte und der nach dem Spruch der »Hellasrichter« dem tüchtigsten Wettläufer aus den Zweigen des Ölbaumes geflochtene Kranz ist der unschuldige und einfache Ausdruck der Zusammengehörigkeit der jungen Nation. Aber die politische Entwicklung hatte bald über diese Morgenröte hinausgeführt. Schon in den Tagen des athenischen Seebundes und gar erst der Alexandermonarchie war jenes Hellenenfest ein Anachronismus, ein im Mannesalter fortgeführtes Kinderspiel; daß der Besitzer jenes Ölkranzes wenigstens sich und seinen Mitbürgern als Inhaber des nationalen Primats galt, kam ungefähr darauf hinaus, wie wenn man in England die Sieger der Studentenregatten mit Pitt und Beaconsfield in eine Linie stellen wollte. Die Ausdehnung der hellenischen Nation durch Kolonisierung und Hellenisierung fand in ihrer idealen Einheit und realen Zerfahrenheit in diesem traumhaften Reich des Olivenkranzes ihren rechten Ausdruck; und die griechische Realpolitik der Diadochenzeit hat sich denn auch um dasselbe wie billig wenig bekümmert. Aber als die Kaiserzeit in ihrer Weise den panhellenischen Gedanken aufnahm und die Römer in die Rechte und die Pflichten der Hellenen eintraten, da blieb oder ward für das römische Allhellas Olympia das rechte Symbol; erscheint doch unter Augustus der erste römische Olympionike, und zwar kein geringerer als Augustus‘ Stiefsohn, der spätere Kaiser Tiberius. Das nicht reinliche Ehebündnis, welches das Allhellenentum mit dem Dämon des Spieles einging, machte aus diesen Festen eine ebenso mächtige und dauernde wie im allgemeinen und besonders für Hellas schädliche Institution. Die gesamte hellenische und hellenisierende Welt beteiligte sich daran, sie beschickend und sie nachahmend; überall sprangen ähnliche für die ganze griechische Welt bestimmte Feste aus dem Boden und die eifrige Anteilnahme der breiten Massen, das allgemeine Interesse für den einzelnen Wettkämpfer, der Stolz des Siegers nicht bloß, sondern seines Anhangs und seiner Heimat ließen fast vergessen, um welche Dinge eigentlich gestritten ward. Die römische Regierung ließ diesem Wetturnen und den sonstigen Wettkämpfen nicht bloß freien Lauf, sondern beteiligte das Reich an denselben; das Recht der feierlichen Einholung des Siegers in seine Heimatstadt hing in der Kaiserzeit nicht von dem Belieben der betreffenden Bürgerschaft ab, sondern wurde den einzelnen Spielinstituten durch kaiserliches Privilegium verliehen und in diesem Fall auch die dem Sieger zustehende jährliche Pension (σίτσηις) auf die Reichskasse übernommen, die bedeutenderen Spielinstitute also geradezu als Reichseinrichtungen behandelt. Dieses Spielwesen erfaßte wie das Reich selbst so alle Provinzen; immer aber war das eigentliche Griechenland der ideale Mittelpunkt solcher Kämpfe und Siege, hier ihre Heimat am Alpheios, hier der Sitz der ältesten Nachbildungen, der noch der großen Zeit des hellenischen Namens angehörigen und von ihren klassischen Dichtern verherrlichten Pythien, Isthmien und Nemeen, nicht minder einer Anzahl jüngerer, aber reich ausgestatteter ähnlicher Feste, der Eurykleen, die der obenerwähnte Herr von Sparta unter Augustus gegründet, der athenischen Panathenäen, der von Hadrian mit kaiserlicher Munifizenz dotierten ebenfalls in Athen gefeierten Panhellenien. Man durfte sich verwundern, daß die ganze Welt des weiten Reiches sich um diese Turnfeste zu drehen schien, aber nicht darüber, daß an diesem seltsamen Zauberbecher vor allem die Hellenen sich berauschten, und daß das politische Stilleben, das ihre besten Männer ihnen anempfahlen, durch die Kränze und die Statuen und die Privilegien der Festsieger in schädlichster Weise verwirrt ward.

Einen ähnlichen Weg gingen die städtischen Institutionen, allerdings im ganzen Reich, aber wiederum vorzugsweise in Hellas. Als es dort noch große Ziele und einen Ehrgeiz gab, hatte in Hellas, eben wie in Rom, die Bewerbung um die Gemeindeämter und die Gemeindeehren den Mittelpunkt des politischen Wetteifers gebildet und neben vielem Leeren, Lächerlichen, Bösartigen auch die tüchtigsten und edelsten Leistungen hervorgerufen. Jetzt war der Kern verschwunden, die Schale geblieben; in Panopeus im Phokischen standen zwar die Häuser ohne Dach und wohnten die Bürger in Hütten, aber es war noch eine Stadt, ja ein Staat, und bei dem Aufzug der phokischen Gemeinden fehlten die Panopeer nicht. Diese Städte trieben mit ihren Ämtern und Priestertümern, mit den Belobigungsdekreten durch Heroldsruf und den Ehrensitzen bei den öffentlichen Versammlungen, mit dem Purpurgewand und dem Diadem, mit den Statuen zu Fuß und zu Roß ein Eitelkeits- und Geldgeschäft schlimmer als der kleinste Duodezfürst der neueren Zeit mit seinen Orden und Titeln. Es wird ja auch in diesen Vorgängen das wirkliche Verdienst und die ehrliche Dankbarkeit nicht gefehlt haben; aber durchgängig war es ein Handel auf Geben und Nehmen oder, mit Plutarch zu reden, ein Geschäft wie zwischen der Courtisane und ihren Kunden. Wie heutzutage die private Munifizenz im Positiv den Orden und im Superlativ den Adel bewirkt, so verschaffte sie damals den priesterlichen Purpur und die Bildsäule auf dem Markt; und nicht ungestraft treibt der Staat mit seinen Ehren Falschmünzerei. In der Massenhaftigkeit derartiger Prozeduren und der Roheit ihrer Formen stehen die heutigen Leistungen hinter denen der alten Welt beträchtlich zurück, wie natürlich, da die durch den Staatsbegriff nicht genügend gebändigte scheinhafte Autonomie der Gemeinde auf diesem Gebiet ungehindert schaltete und die dekretierenden Behörden durchgängig die Bürgerschaften oder die Räte von Kleinstädten waren. Die Folgen waren nach beiden Seiten verderblich: die Gemeindeämter wurden mehr nach der Zahlungsfähigkeit als nach der Tüchtigkeit der Bewerber vergeben; die Schmause und Spenden machten die Beschenkten nicht reicher und den Schenker oftmals arm; an dem Zunehmen der Arbeitsscheu und dem Vermögensverfall der guten Familie trägt diese Unsitte ihren vollgemessenen Anteil. Auch die Wirtschaft der Gemeinden selbst litt schwer unter dem Umsichgreifen der Adulation. Zwar waren die Ehren, mit welchen die Gemeinde dem einzelnen Wohltäter dankte, großenteils nach demselben verständigen Prinzip der Billigkeit bemessen, welches heutzutage die ähnlichen dekorativen Vergünstigungen beherrscht; und wo das nicht der Fall war, fand häufig der Wohltäter sich bereit zum Beispiel die ihm zu setzende Bildsäule selber zu bezahlen. Aber nicht dasselbe gilt von den Ehrenbezeugungen, welche die Gemeinde vornehmen Ausländern, vor allem den Statthaltern und den Kaisern wie den Gliedern des kaiserlichen Hauses erwies. Die Richtung der Zeit auf Wertschätzung auch der inhaltlosen und obligaten Huldigung beherrschte den kaiserlichen Hof und die römischen Senatoren nicht so wie die Kreise des kleinstädtischen Ehrgeizes, aber doch auch in sehr fühlbarer Weise; und selbstverständlich wuchsen die Ehren und die Huldigungen einmal im Laufe der Zeit durch die ihnen eigene Vernutzung, und ferner in demselben Maß, wie die Geringhaltigkeit der regierenden oder an der Regierung beteiligten Persönlichkeiten. Begreiflicherweise war in dieser Hinsicht das Angebot immer stärker als die Nachfrage und diejenigen, die solche Huldigungen richtig würdigten, um davon verschont zu bleiben, genötigt sie abzuwehren, was im einzelnen Fall oft genug, aber konsequenterweise selten geschehen zu sein scheint – für Tiberius darf die geringe Anzahl der ihm errichteten Bildsäulen vielleicht unter seinen Ruhmestiteln verzeichnet werden. Die Ausgaben für Ehrendenkmäler, die oft weit über die einfache Statue hinausgingen, und für Ehrengesandtschaften sind ein Krebsschaden gewesen und immer mehr geworden an dem Gemeindehaushalt aller Provinzen. Aber keine wohl hat im Verhältnis zu ihrer geringen Leistungsfähigkeit so große Summen unnütz aufgewandt wie die Provinz von Hellas, das Mutterland wie der Festsieger- so auch der Gemeindeehren, und in einem Prinzipat in dieser Zeit unübertroffen, in dem der Bedientendemut und untertänigen Huldigung. Daß die wirtschaftlichen Zustände Griechenlands nicht günstig waren, braucht kaum noch besonders ausgeführt zu werden. Das Land, im ganzen genommen, ist nur von mäßiger Fruchtbarkeit, die Ackerfluren von beschränkter Ausdehnung, der Weinbau auf dem Kontinent nicht von hervorragender Bedeutung, mehr die Kultur der Olive. Da die Brüche des berühmten Marmors, des glänzend weißen attischen wie des grünen karystischen, wie die meisten übrigen zum Domanialbesitz gehörten, kam deren Ausbeutung durch die kaiserlichen Sklaven der Bevölkerung wenig zugute. – Die gewerbfleißigste der griechischen Landschaften war die der Achäer, wo die seit langem bestehende Fabrikation von Wollenstoffen sich behauptete und in der wohl bevölkerten Stadt Paträ zahlreiche Spinnereien den feinen elischen Flachs zu Kleidern und Kopfnetzen verarbeiteten. Die Kunst und das Kunsthandwerk blieben auch jetzt noch vorzugsweise den Griechen, und von den Massen besonders pentelischen Marmors, welche die Kaiserzeit verbraucht hat, muß ein nicht geringer Teil an Ort und Stelle verarbeitet worden sein. Überwiegend aber übten die Griechen beide im Ausland; von dem früher so bedeutenden Export des griechischen Kunstgewerbes ist in dieser Zeit wenig die Rede. Den regsten Verkehr hatte die Stadt der beiden Meere, Korinth, die allen Hellenen gemeinsame, stets von Fremden wimmelnde Metropole, wie ein Redner sie bezeichnet. In den beiden römischen Kolonien Korinth und Paträ, und außerdem in dem stets von schauenden und lernenden Ausländern gefüllten Athen konzentrierte sich das größere Bankiergeschäft der Provinz, welches in der Kaiserzeit wie in der republikanischen zum großen Teil in den Händen dort ansässiger Italiker lag. Auch in Plätzen zweiten Ranges, wie in Argos, Elis, Mantineia im Peloponnes, bilden die ansässigen römischen Kaufleute eigene neben der Bürgerschaft stehende Genossenschaften. Im allgemeinen lag in Achaia Handel und Verkehr darnieder, namentlich seit Rhodos und Delos aufgehört hatten Stapelplätze für den Zwischenverkehr zwischen Asien und Europa zu sein und dieser sich nach Italien gezogen hatte. Die Piraterie war gebändigt und auch die Landstraßen wohl leidlich sicher; aber damit kehrte die alte glückliche Zeit noch nicht zurück. Der Verödung des Peiräeus wurde schon gedacht; es war ein Ereignis, wenn eines der großen ägyptischen Getreideschiffe sich einmal dorthin verirrte. Nauplia, der Hafen von Argos, nach Paträ der bedeutendsten Küstenstadt des Peloponnes, lag ebenso wüst. – Dem entspricht es, daß für die Straßen dieser Provinz in der Kaiserzeit so gut wie nichts geschehen ist; römische Meilensteine haben sich nur in der nächsten Nähe von Paträ und von Athen gefunden und auch diese gehören den Kaisern aus dem Ende des 3. und dem 4. Jahrhundert; offenbar haben die früheren Regierungen darauf verzichtet, hier Kommunikationen herzustellen. Nur Hadrian unternahm es, wenigstens die so wichtige wie kurze Landverbindung zwischen Korinth und Megara über den schlimmen skironischen Klippenpaß durch gewaltige ins Meer geworfene Dämme zu einer fahrbaren Straße zu machen. – Der seit langem verhandelte Plan, die korinthische Landenge zu durchstechen, den der Diktator Cäsar aufgefaßt hatte, ist späterhin erst von Kaiser Gaius, dann von Nero in Angriff genommen worden. Letzterer hat sogar bei seinem Aufenthalt in Griechenland persönlich zu dem Kanal den ersten Stich getan und eine Reihe von Monaten hindurch 6000 jüdische Kriegsgefangene an demselben arbeiten lassen. Bei den in unseren Tagen wieder aufgenommenen Durchsticharbeiten sind bedeutende Reste dieser Bauten zum Vorschein gekommen, welche zeigen, daß die Arbeiten ziemlich weit vorgeschritten waren, als man sie abbrach, wahrscheinlich nicht infolge der einige Zeit nachher im Westen ausbrechenden Revolution, sondern weil man hier, eben wie bei dem ähnlichen ägyptischen Kanal, infolge des irrigerweise vorausgesetzten verschiedenen Höhestandes der beiden Meere bei Vollendung des Kanals den Untergang der Insel Ägina und weiteres Unheil befürchtete. Freilich würde dieser Kanal, wenn er vollendet worden wäre, wohl den Verkehr zwischen Asien und Italien abgekürzt haben, aber Griechenland selbst nicht vorwiegend zugute gekommen sein.

Daß die Landschaften nördlich von Hellas, Thessalien und Makedonien und wenigstens seit Traian auch Epirus in der Kaiserzeit administrativ von Griechenland getrennt wurden, ist schon bemerkt worden. Von diesen hat die kleine epirotische Provinz, die von einem kaiserlichen Statthalter zweiten Ranges verwaltet wurde, sich niemals von der Verwüstung erholt, welche im Verlauf des dritten makedonischen Krieges über sie ergangen war.

Das bergige und arme Binnenland besaß keine namhafte Stadt und eine dünn gesäte Bevölkerung. Die nicht minder verödete Küste war Augustus zu heben bemüht durch eine doppelte Städteanlage, durch die Vollendung der schon von Cäsar beschlossenen Kolonie römischer Bürger in Buthrotum Kerkyra gegenüber, die indes zu keiner rechten Blüte gelangte, und durch die Gründung der griechischen Stadt Nikopolis an eben der Stelle, wo vor der aktischen Entscheidungsschlacht das Hauptquartier gestanden hatte, an dem südlichsten Punkte von Epirus, anderthalb Stunden nördlich von Prevesa, nach Augustus Absicht zugleich ein dauerndes Denkmal des großen Seesieges und der Mittelpunkt neu aufblühenden hellenischen Lebens. Diese Gründung ist in ihrer Art als römische neu.

An Ambrakias Statt und des amphilochischen Argos.
an Thyreions und an Anaktorions Statt,
auch an Leukas Statt und was von Städten noch ringsum
rasend des Ares Speer weiter zu Boden gestreckt,
gründet die Siegsstadt Cäsar, die heilige, also dem König
Phöbos Apollon mit ihr dankend den aktischen Sieg.

Diese Worte eines gleichzeitigen griechischen Dichters sprechen einfach aus, was Augustus hier getan hat: das ganze umliegende Gebiet, das südliche Epirus, die gegenüberliegende Landschaft Akarnanien mit der Insel Leukas, selbst einen Teil von Ätolien vereinigte er zu einem Stadtgebiet und siedelte die in den dort vorhandenen verkümmernden Ortschaften noch übrigen Bewohner über nach der neuen Stadt Nikopolis, der gegenüber auf dem akarnanischen Ufer der alte Tempel des aktischen Apollon in prachtvoller Weise erneuert und erweitert ward. Eine römische Stadt ist nie in dieser Weise gegründet worden; dies ist der Synökismos der Alexandriden. Ganz in derselben Weise haben König Kassandros die makedonischen Städte Thessalonike und Kassandreia, Demetrios der Städtebezwinger die thessalische Stadt Demetrias, Lysimachos die Stadt Lysimacheia auf dem thrakischen Chersones aus einer Anzahl umliegender ihrer Selbständigkeit entkleideter Ortschaften zusammengelegt. Dem griechischen Charakter der Gründung entsprechend sollte Nikopolis nach der Absicht seines Stifters eine griechische Großstadt werden. Sie erhielt Freiheit und Autonomie wie Athen und Sparta und sollte, wie bereits angegeben ward, in der das gesamte Hellas vertretenden Amphiktionie den fünften Teil der Stimmen führen und zwar, wie Athen, ohne mit anderen Städten zu wechseln. Das neue aktische Apolloheiligtum war völlig nach dem Muster von Olympia eingerichtet, mit einem Vierjahrfest, das selbst den Namen des olympischen neben dem eigenen führte, gleichen Rang und gleiche Privilegien, auch seine Aktiaden wie jenes seine Olympiaden hatte; die Stadt Nikopolis verhielt sich dazu wie die Stadt Elis zu dem olympischen Tempel. Sorgfältig ward bei der städtischen Einrichtung sowohl wie bei der religiösen Ordnung alles eigentlich Italische vermieden, so nahe es lag, die mit der Reichsbegründung so innig verknüpfte Siegesstadt in römischer Weise zu gestalten. Wer die augustischen Ordnungen in Hellas im Zusammenhang erwägt und namentlich diesen merkwürdigen Schlußstein, wird sich der Überzeugung nicht verschließen können, daß Augustus eine Reorganisation von Hellas unter dem Schutz des römischen Prinzipats ausführbar geglaubt hat und hat ausführen wollen. Die Örtlichkeit wenigstens war dafür wohl gewählt, da es damals, vor der Gründung von Paträ, an der ganzen griechischen Westküste keine größere Stadt gab. Aber was Augustus im Anfang seiner Alleinherrschaft hoffen mochte, hat er nicht erreicht, vielleicht selbst schon späterhin aufgegeben, als er Paträ die Form der römischen Kolonie gab. Nikopolis blieb, wie die ausgedehnten Ruinen und die zahlreichen Münzen beweisen, verhältnismäßig bevölkert und blühend, aber seine Bürger scheinen weder im Handel und Gewerbe noch anderweitig hervorragend eingegriffen zu haben. Das nördliche Epirus, welches, ähnlich wie das angrenzende zu Makedonien gelegte Illyricum, zum größeren Teil von albanesischen Völkerschaften bewohnt war und nicht unter Nikopolis gelegt ward, ist in der Kaiserzeit in seinen einigermaßen noch heute fortbestehenden primitiven Verhältnissen verblieben. »Epirus und Illyricum«, sagt Strabon, »ist zum großen Teil eine Einöde; wo sich Menschen finden, wohnen sie in Dörfern und in Trümmern früherer Städte; auch das« – im mithradatischen Kriege von den Thrakern verwüstete – »Orakel von Dodona ist erloschen wie das übrige alles.«

Thessalien, an sich eine rein hellenische Landschaft so gut wie Ätolien und Akarnanien, war in der Kaiserzeit administrativ von der Provinz Achaia getrennt und stand unter dem Statthalter von Makedonien. Was von Nordgriechenland gilt, trifft auch auf Thessalien zu. Die Freiheit und Autonomie, welche Cäsar den Thessalern allgemein zugestanden oder vielmehr nicht entzogen hatte, scheint ihnen wegen Mißbrauchs von Augustus genommen worden zu sein, so daß späterhin nur Pharsalos diese Rechtsstellung behalten hat; römische Kolonisten sind in der Landschaft nicht angesiedelt worden. Ihren besonderen Landtag in Larisa behielt sie, und auch die städtische Selbstverwaltung ist, wie den abhängigen Griechen in Achaia, so den Thessalern geblieben. Thessalien ist weitaus die fruchtbarste Landschaft der ganzen Halbinsel und führte noch im 4. Jahrhundert Getreide aus; nichtsdestoweniger sagt Dion von Prusa, daß auch der Peneios durch wüstes Land fließe, und es ist in der Kaiserzeit in dieser Landschaft nur in sehr geringem Umfang gemünzt worden. Um die Herstellung von Landstraßen haben Hadrian und Diokletian sich bemüht, aber auch, so viel wir sehen, von den römischen Kaisern sie allein.

Makedonien als römischer Verwaltungsbezirk der Kaiserzeit ist, verglichen mit dem Makedonien der Republik, wesentlich verkleinert. Allerdings reicht es wie dieses von Meer zu Meer, indem die Küste sowohl des Ägäischen Meeres von der zu Makedonien gehörigen Landschaft Thessalien an bis zur Mündung des Nestos (Mesta), wie auch die des Adriatischen vom Aoos bis zum Drilon (Drin) diesem Distrikt zugerechnet wurden; das letztere Gebiet, nicht eigentlich makedonisches, sondern illyrisches Land, aber schon in republikanischer Zeit dem Statthalter Makedoniens zugewiesen, ist auch in der Kaiserzeit bei der Provinz geblieben. Aber daß Griechenland südlich vom Öta davon getrennt ward, wurde schon gesagt. Die Nordgrenze gegen Mösien und die Ostgrenze gegen Thrakien blieben zwar insofern unverändert, als die Provinz in der Kaiserzeit so weit reichte, wie auch das eigentliche Makedonien der Republik gereicht hatte, das heißt nördlich etwa bis zum Tal des Erigon, östlich bis zum Flusse Nestos; aber wenn in republikanischer Zeit die Dardaner und die Thraker und sämtliche dem makedonischen Gebiet benachbarte Völkerschaften des Nordens und des Nordostens in ihren friedlichen wie in ihren kriegerischen Berührungen mit diesem Statthalter zu tun hatten und insofern gesagt werden konnte, daß die makedonische Grenze so weit reiche wie die römischen Lanzen, so gebot der makedonische Statthalter der Kaiserzeit nur über den ihm angewiesenen nirgends mehr mit halb oder ganz unabhängigen Nachbarn grenzenden Bezirk. Da der Grenzschutz zunächst auf das in römische Botmäßigkeit gelangte Thrakerreich und bald auf den Statthalter der neuen Provinz Mösien überging, so wurde der von Makedonien seines Kommandos von vornherein enthoben. Es ist auch auf makedonischem Boden in der Kaiserzeit kaum gefochten worden; nur die barbarischen Dardaner am oberen Axios (Vardar) brandschatzten zuweilen noch die friedliche Nachbarprovinz. Auch von örtlichen Auflehnungen wird aus dieser Provinz nichts berichtet.

Von den südlicheren griechischen Landschaften entfernt sich diese nördlichste sowohl in dem nationalen Fundament wie in der Stufe der Zivilisation. Wenn die eigentlichen Makedonier an dem Unterlauf des Haliakmon (Vistritza) und des Axios (Vardar) bis zum Strymon ein ursprünglich griechischer Stamm sind, dessen Verschiedenheit von den südlicheren Hellenen für die gegenwärtige Epoche keine Bedeutung mehr hat, und wenn die hellenische Kolonisation beide Küsten in ihren Kreis hineingezogen hat, im Westen mit Apollonia und Dyrrhachion, im Osten namentlich mit den Ortschaften der Halbinsel Chalkidike, so ist dagegen das Binnenland der Provinz von einem Gewimmel ungriechischer Völker erfüllt, das von den heutigen Zuständen auf dem gleichen Gebiet mehr in seinen Elementen als in seinem Ergebnis sich unterschieden haben wird. Nachdem die bis in diese Gegend vorgedrungenen Kelten, die Skordisker von den Feldherren der römischen Republik zurückgedrängt worden waren, teilten sich in das innere Makedonien insbesondere illyrische Stämme im Westen und Norden, thrakische im Osten. Von beiden ist schon früher gesprochen worden; hier kommen sie nur insofern in Betracht, als die griechische Ordnung, wenigstens die städtische, bei diesen Stämmen wohl wie in der früheren so auch in der Kaiserzeit nur in beschränktem Maße eingeführt worden ist. Überall ist ein energischer Zug städtischer Entwicklung nie durch das makedonische Binnenland gegangen, die entlegeneren Landschaften sind wenigstens der Sache nach kaum über die Dorfwirtschaft hinausgekommen. – Die griechische Politik selbst ist in diesem Königsland nicht so wie in dem eigentlichen Hellas aus sich selber erwachsen, sondern durch die Fürsten eingeführt worden, die mehr Hellenen waren als ihre Untertanen. Welche Gestalt sie gehabt hat, ist wenig bekannt; doch läßt die in Thessalonike, Edessa, Lete gleichmäßig wiederkehrende anderswo nicht begegnende Stadtvorstandschaft der Politarchen auf eine merkliche und ja auch an sich wahrscheinliche Verschiedenheit der makedonischen Stadtverfassung von der sonst in Hellas üblichen schließen. Die griechischen Städte, welche die Römer vorfanden, haben ihre Organisation und ihre Rechte behalten, die bedeutendste derselben Thessalonike auch die Freiheit und die Autonomie. Er bestand ein Bund und ein Landtag κοινον, der makedonischen Städte, ähnlich wie in Achaia und Thessalien. Erwähnung verdient als ein Zeugnis für die nachwirkende Erinnerung der alten großen Zeit, daß noch in der Mitte des 3. Jahrhunderts nach Christus der Landtag von Makedonien und einzelne makedonische Städte Münzen geprägt haben, auf denen der Kopf und der Name des regierenden Kaisers durch den Alexanders des Großen ersetzt sind. Die ziemlich zahlreichen Kolonien römischer Bürger, welche Augustus in Makedonien eingerichtet hat, Byllis unweit Apollonia, Dyrrachium am Adriatischen Meer, an der andern Küste Dium, Pella, Cassandrea, in dem eigentlich thrakischen Gebiet Philippi, sind sämtlich ältere griechische Städte, welche nur eine Anzahl Neubürger und eine andere Rechtsstellung erhielten, und zunächst ins Leben gerufen durch das Bedürfnis, die ausgedienten italischen Soldaten, für die in Italien selbst kein Platz mehr war, in einer zivilisierten und nicht stark bevölkerten Provinz unterzubringen. Auch die Gewährung des italischen Rechts erfolgte gewiß nur, um den Veteranen die Ansiedlung im Ausland zu vergolden. Daß ein Hineinziehen Makedoniens in die italische Kulturentwicklung niemals beabsichtigt ward, dafür zeugt, von allem andern abgesehen, daß Thessalonike griechisch und die Hauptstadt des Landes blieb. Daneben gedieh Philippi, eigentlich eine der nahen Goldbergwerke wegen angelegte Grubenstadt, von den Kaisern begünstigt als Stätte der die Monarchie definitiv begründenden Schlacht und wegen der zahlreichen an derselben beteiligten und nachher dort angesiedelten Veteranen. Römische nichtkoloniale Gemeindeverfassung hat bereits in der ersten Kaiserzeit Stobi erhalten, die schon erwähnte nördlichste Grenzstadt Makedoniens gegen Mösien am Einfluß des Erigon in den Axios, kommerziell wie militärisch eine wichtige Position und vermutlich schon in makedonischer Zeit zu griechischer Politik gelangt. In wirtschaftlicher Hinsicht ist für Makedonien auch unter den Kaisern von Staats wegen wenig geschehen; wenigstens tritt eine besondere Fürsorge derselben für diese nicht unter ihrer eigenen Verwaltung stehende Provinz nirgends hervor. Um die schon unter der Republik angelegte Militärstraße quer durch das Land von Dyrrachium nach Thessalonike, eine der wichtigsten Verkehrsadern des ganzen Reiches, haben sich, so viel wir wissen, erst die Kaiser des 3. Jahrhunderts, zuerst Severus Antoninus, wieder bemüht; die ihr anliegenden Städte Lychnidos am Ochrida-See und Herakleia Lynkestis (Bitolia) haben nie viel bedeutet. Dennoch war Makedonien wirtschaftlich besser bestellt als Griechenland. Es übertrifft dasselbe weitaus an Fruchtbarkeit; wie noch heute die Provinz von Thessalonike relativ gut bebaut und wohlbevölkert ist, so wird auch in der Reichsbeschreibung aus Constantius Zeit, allerdings als Konstantinopel schon bestand, Makedonien zu den besonders wohlhabenden Bezirken gerechnet. Wenn für Achaia und Thessalien unsere die römische Aushebung betreffenden Dokumente schlechthin versagen, so ist dagegen Makedonien dabei, namentlich auch für die Kaisergarde, in bedeutendem Umfang, stärker als die meisten griechischen Landschaften in Anspruch genommen worden, wobei freilich die Gewöhnung der Makedonier an den regelmäßigen Kriegsdienst und ihre vorzügliche Qualifikation für denselben, wohl auch die relativ geringe Entwicklung des städtischen Wesens in dieser Provinz in Anschlag zu bringen sind. Thessalonike, die Metropole der Provinz und deren volkreichste und gewerbreichste Stadt dieser Zeit, gleichfalls in der Literatur mehrfach vertreten, hat auch in der politischen Geschichte durch den tapferen Widerstand, den seine Bürger in den schrecklichen Zeiten der Goteneinfälle den Barbaren entgegensetzten, sich einen Ehrenplatz gesichert.

Wenn Makedonien ein halb griechisches, so war Thrakien ein nichtgriechisches Land. Von dem großen, aber für uns verschollenen thrakischen Stamm ist früher (S. 189) gesprochen worden. In seinen Bereich ist der Hellenismus lediglich von außen gelangt; und es wird nicht überflüssig sein, zunächst rückblickend darzulegen, wie oft der Hellenismus an die Pforten der südlichsten Landschaft, welche dieser Stamm inne hatte und die wir noch nach ihm nennen, bis dahin gepocht und wie wenig er bis dahin im Binnenland erreicht hatte, um deutlich zu machen, was Rom hier nachzuholen blieb und was es nachgeholt hat. Zuerst Philippos, der Vater Alexanders, unterwarf Thrakien und gründete nicht bloß Kalybe in der Nähe von Byzantion, sondern im Herzen des Landes die Stadt, die seitdem seinen Namen trägt. Alexander, auch hier der Vorläufer der römischen Politik, gelangte an und über die Donau und machte diesen Strom zur Nordgrenze seines Reiches; die Thraker in seinem Heere haben bei der Unterwerfung Asiens nicht die letzte Rolle gespielt. Nach seinem Tode schien der Hellespont einer der großen Mittelpunkte der neuen Staatenbildung, das weite Gebiet von dort bis an die Donau die nördliche Hälfte eines griechischen Reiches werden zu sollen, der Residenz des ehemaligen Statthalters von Thrakien Lysimachos, der auf dem thrakischen Chersones neu gegründeten Stadt Lysimacheia eine ähnliche Zukunft zu winken wie den Residenzen der Marschälle von Syrien und Ägypten. Indes es kam dazu nicht; die Selbständigkeit dieses Reiches überdauerte den Fall seines ersten Herrschers (473 [281 v. Chr.]) nicht. In dem Jahrhundert, welches von da bis auf die Begründung der Vormachtstellung Roms im Orient verging, versuchten bald die Seleukiden, bald die Ptolemäer, bald die Attaliden die europäischen Besitzungen des Lysimachos in ihre Gewalt zu bringen, aber sämtlich ohne dauernden Erfolg. Das Reich von Tylis im Hämus, welches die Kelten nicht lange nach dem Alexanders ungefähr gleichzeitig mit ihrer bleibenden Niederlassung in Kleinasien im mösisch-thrakischen Gebiet gegründet hatten, vernichtete die Saat griechischer Zivilisation in seinem Bereich und erlag selber während des hannibalischen Krieges den Angriffen der Thraker, die diese Eingedrungenen bis auf den letzten Mann ausrotteten. Seitdem gab es in Thrakien eine führende Macht überhaupt nicht; die zwischen den griechischen Küstenstädten und den Fürsten der einzelnen Stämme bestehenden Verhältnisse, die ungefähr denen vor Alexander entsprechen mochten, erläutert die Schilderung, die Polybios von der bedeutendsten dieser Städte gibt: wo die Byzantier gesäet haben, da ernten die thrakischen Barbaren und es hilft gegen diese weder das Schwert noch das Geld; schlagen die Bürger einen der Fürsten, so fallen dafür drei andere in ihr Gebiet und kaufen sie einen ab, so verlangen fünf mehr den gleichen Jahrzins. Dem Bestreben der späteren makedonischen Herrscher, in Thrakien wieder festen Fuß zu fassen und namentlich die griechischen Städte der Südküste in ihre Gewalt zu bringen, traten die Römer entgegen, teils um Makedoniens Machtentwicklung überhaupt niederzuhalten, teils um nicht die wichtige nach dem Orient führende »Königsstraße«, diejenige, auf der Xerxes nach Griechenland, die Scipionen gegen Antiochos marschierten, in ihrer ganzen Ausdehnung in makedonische Hand kommen zu lassen. Schon nach der Schlacht bei Kynoskephalä wurde die Grenzlinie ungefähr so gezogen, wie sie seitdem geblieben ist. Öfter versuchten die beiden letzten makedonischen Herrscher, sich dennoch in Thrakien sei es geradezu festzusetzen, sei es dessen einzelne Fürsten durch Verträge an sich zu knüpfen; der letzte Philippos hat sogar Philippopolis abermals gewonnen und Besatzung hineingelegt, die die Odrysen freilich bald wieder vertrieben. Zu dauernder Festsetzung gelangte weder er noch sein Sohn, und die nach der Auflösung Makedoniens den Thrakern von Rom eingeräumte Selbständigkeit zerstörte, was dort etwa von hellenischen Anfängen noch übrig sein mochte. Thrakien selbst wurde zum Teil schon in republikanischer, entschiedener in der Kaiserzeit römisches Lehnsfürstentum, dann im J. 46 n. Chr. römische Provinz; aber die Hellenisierung des Landes war nicht hinausgekommen über den Saum griechischer Pflanzstädte, welcher in frühester Zeit sich auch um diese Küste gelegt hatte, und im Laufe der Zeit eher gesunken als gestiegen. So mächtig und bleibend die makedonische Kolonisation den Osten ergriffen, so schwach und vergänglich hat sie Thrakien berührt; Philipp und Alexander selbst scheinen die Ansiedlungen in diesem Lande widerwillig vorgenommen und gering geschätzt zu haben. Bis weit in die Kaiserzeit hinein ist das Land den Eingeborenen, sind die an der Küste übriggebliebenen fast alle heruntergekommenen Griechenstädte ohne griechisches Hinterland geblieben.

Dieser von der makedonischen Grenze an bis zum taurischen Chersonesos sich erstreckende Kranz hellenischer Städte ist sehr ungleich geflochten. Im Süden ist er dicht geschlossen von Abdera an bis nach Byzantion an den Dardanellen; doch hat keine dieser Städte in späterer Zeit eine hervorragende Bedeutung gehabt mit Ausnahme von Byzantion, das durch die Fruchtbarkeit seines Gebietes, die einträgliche Thunfischerei, die ungemein günstige Handelslage, den Gewerbefleiß und die durch die exponierte Lage nur gesteigerte und gestählte Tüchtigkeit seiner Bürger auch den schwersten Zeiten der hellenischen Anarchie zu trotzen gewußt hatte. Bei weitem dürftiger hatte die Ansiedlung sich an der Westküste des Schwarzen Meeres entwickelt; an der später zur römischen Provinz Thrakien gehörigen war nur Mesembria von einiger Bedeutung, an der später mösischen Odessos (Varna) und Tomis (Küstendsche). Jenseits der Donaumündung und der römischen Reichsgrenze an dem Nordgestade des Pontus lagen mitten im Barbarenland Tyra und Olbia; weiterhin machten die alten und großen griechischen Kaufstädte in der heutigen Krim Herakleia oder Chersonesos und Pantikapäon einen stattlichen Schlußstein. Alle diese Ansiedlungen genossen des römischen Schutzes, seit die Römer überhaupt die Vormacht auf dem griechisch-asiatischen Kontinent geworden waren, und der starke Arm, der das eigentliche hellenische Land oft schwer traf, verhinderte hier wenigstens Katastrophen wie die Zerstörung von Lysimacheia. Die Beschützung dieser Griechen gehörte in republikanischer Zeit zu den Obliegenheiten teils des Statthalters von Makedonien, teils des von Bithynien, seit auch dies römisch war; Byzantion ist später bei Bithynien geblieben. Im übrigen ging in der Kaiserzeit nach Einrichtung der Statthalterschaft von Mösien und später derjenigen von Thrakien die Schutzleistung auf diese über.

Schutz und Gunst gewährte diesen Griechen Rom von jeher; aber um die Ausdehnung des Hellenismus hat weder die Republik noch die frühere Kaiserzeit sich bemüht. Nachdem Thrakien römisch geworden war, ist es in Landkreise eingeteilt worden; und bis fast an das Ende des 1. Jahrhunderts ist dort keine Stadtanlage zu verzeichnen mit Ausnahme zweier Pflanzstädte des Claudius und des Vespasianus, Apri im Binnenland nicht weit von Perinthos und Deultus an der nördlichsten Küste. Domitian hat damit begonnen, griechische Stadtverfassung im Binnenland einzuführen, zuerst für die Landeshauptstadt Philippopolis. Unter Traianus erhielten eine Reihe anderer thrakischer Ortschaften das gleiche Stadtrecht: Topeiros unweit Abdera, Nikopolis am Nestos, Plotinopolis am Hebros, Pautalia bei Köstendil, Serdica jetzt Sofia, Augusta Traiana bei Alt-Zagora, ein zweites Nikopolis am nördlichen Abhang des Hämus, außerdem an der Küste Traianopolis an der Hebrosmündung; ferner unter Hadrian Adrianopolis, das heutige Adrianopel. Alle diese Städte waren nicht Kolonien von Ausländern, sondern nach dem von Augustus in dem epirotischen Nikopolis aufgestellten Muster zusammengefaßte griechisch organisierte Politien; es war eine Zivilisierung und Hellenisierung der Provinz von oben herab. Ein thrakischer Landtag bestand seitdem in Philippopolis ebenso wie in den eigentlich griechischen Landschaften. Dieser letzte Trieb des Hellenismus ist nicht der schwächste. Das Land ist reich und anmutig – eine Münze der Stadt Pautalia preist den vierfachen Segen der Ähren, der Trauben, des Silbers und des Goldes; und Philippopolis sowie das schöne Tal der Tundja sind die Heimat der Rosenzucht und des Rosenöls – und die Kraft des thrakischen Schlages war nicht gebrochen. Es entwickelte sich hier eine dichte und wohlhabende Bevölkerung; der starken Aushebung in Thrakien wurde schon gedacht und in der Tätigkeit der städtischen Münzstätten stehen für diese Epoche wenige Gebiete Thrakien gleich. Als Philippopolis im J. 251 den Goten erlag, soll es hunderttausend Einwohner gezählt haben. Auch die energische Parteinahme der Byzantier für den Kaiser des griechischen Ostens Pescennius Niger und der mehrjährige Widerstand, den die Stadt noch nach dessen Untergang dem Sieger entgegenstellte, zeigen die Mittel und den Mut dieser thrakischen Städter. Wenn die Byzantier auch hier unterlagen und sogar eine Zeitlang ihr Stadtrecht einbüßten, so sollte bald die durch den Aufschwung des thrakischen Landes sich vorbereitende Zeit eintreten, wo Byzantion das neue hellenische Rom und die Hauptresidenz des umgewandelten Reiches ward.

In der benachbarten Provinz Untermösien hat sich, freilich in geringerem Maße, eine ähnliche Entwicklung vollzogen. Die griechischen Küstenstädte, deren Metropole wenigstens in römischer Zeit Tomis war, wurden, wahrscheinlich bei Konstituierung der römischen Provinz Mösien, zusammengefaßt als »Fünfstädtebund des linken Ufers des Schwarzen Meeres« oder, wie er auch sich nennt, »der Griechen«, das heißt der Griechen dieser Provinz. Später ist als sechste Stadt die unweit der Küste an der thrakischen Grenze von Traian angelegte und gleich den thrakischen griechisch geordnete Stadt Markianopolis diesem Bund angeschlossen worden. Daß die Lagerstädte am Donauufer und überhaupt die im Binnenland von Rom ins Leben gerufenen Ortschaften nach italischem Muster eingerichtet wurden, ist früher bemerkt worden; Untermösien ist die einzige durch die Sprachgrenze durchschnittene römische Provinz, indem der tomitanische Städtebund dem griechischen, die Donaustädte wie Durostorum und Öscus dem lateinischen Sprachgebiet angehören. Im übrigen gilt von diesem mösischen Städtebund wesentlich das gleiche, was über Thrakien bemerkt ward. Wir haben eine Schilderung von Tomis aus den letzten Jahren des Augustus, freilich von einem dahin zur Strafe Verbannten, aber sicher im wesentlichen getreu. Die Bevölkerung besteht zum größeren Teil aus Geten und Sarmaten; sie tragen, wie die Daker auf der Traianssäule, Pelze und Hosen, langes flatterndes Haar und den Bart ungeschoren, erscheinen auf der Straße zu Pferde und mit dem Bogen bewaffnet, den Köcher auf der Schulter, das Messer im Gürtel. Die wenigen Griechen, die unter ihnen sich finden, haben die barbarische Sitte angenommen mit Einschluß der Hosen und wissen ebenso gut oder besser getisch als griechisch sich auszudrücken; der ist verloren, der sich nicht auf getisch verständlich machen kann und kein Mensch versteht ein Wort lateinisch. Vor den Toren hausen räuberische Scharen der verschiedensten Völker und ihre Pfeile fliegen nicht selten über die schützende Stadtmauer; wer seinen Acker zu bestellen wagt, der tut es mit Lebensgefahr und pflügt bewaffnet – war doch um die Zeit von Cäsars Diktatur bei dem Zuge des Burebista die Stadt den Barbaren in die Hände gefallen und wenige Jahre, bevor jener Verbannte nach Tomis kam, während der dalmatisch-pannonischen Insurrektion über diese Gegend abermals die Kriegsfurie hingebraust. Zu diesen Erzählungen passen die Münzen und die Inschriften derselben Stadt insofern wohl, als die Metropole des linkspontischen Städtebundes in der vorrömischen Zeit kein Silber geschlagen hat, was manche andere dieser Städte taten, und daß überhaupt Münzen wie Inschriften aus der Zeit vor Traian nur vereinzelt begegnen. Aber im 2. und 3. Jahrhundert ist sie umgewandelt und kann ziemlich mit demselben Recht eine Gründung Traians heißen wie das ebenfalls rasch zu bedeutender Entwicklung gelangte Markianopolis. Die früher erwähnte Sperrung in der Dobrudscha diente zugleich als Schutzmauer für die Stadt Tomis. Hinter dieser blühten daselbst Handel und Schifffahrt auf. Es gab in der Stadt eine Genossenschaft alexandrinischer Kaufleute mit ihrer eigenen Serapiskapelle; in munizipaler Freigebigkeit und munizipaler Ambition steht die Stadt hinter keiner griechischen Mittelstadt zurück; zweisprachig ist sie auch jetzt noch, aber in der Weise, daß neben der auf den Münzen immer festgehaltenen griechischen Sprache hier an der Grenze der beiden Reichssprachengebiete auch die lateinische vielfach selbst auf öffentlichen Denkmälern angewendet wird.

Jenseits der Reichsgrenze zwischen der Donaumündung und der Krim hatte der griechische Kaufmann die Küste wenig besiedelt; es gab hier nur zwei namhafte griechische Städte, beide von Miletos aus in ferner Zeit gegründet, Tyra an der Mündung des gleichnamigen Flusses, des heutigen Dnjestr, und Olbia an dem Busen, in welchen der Borysthenes (Dnjepr) und der Hypanis (Bug) fallen. Die verlorene Stellung dieser Hellenen unter den sie umdrängenden Barbaren in der Diadochenzeit sowohl wie während der Vorherrschaft der römischen Republik ist früher geschildert worden. Die Kaiser brachten Hilfe. Im J. 56, also in dem musterhaften Anfang der neronischen Regierung ist Tyra zur Provinz Mösien gezogen worden. Von dem entfernteren Olbia besitzen wir eine Schilderung aus traianischer Zeit: die Stadt blutete noch aus ihren alten Wunden; die elenden Mauern umschlossen gleich elende Häuser und das damals bewohnte Quartier füllte einen kleinen Teil des alten ansehnlichen Stadtringes, von dem einzelne übriggebliebene Türme weit hinaus auf dem wüsten Felde standen; in den Tempeln gab es kein Götterbild, das nicht die Spuren der Barbarenfäuste trug; die Bewohner hatten ihr Hellenentum nicht vergessen, aber sie trugen und schlugen sich nach Art der Skythen, mit denen sie täglich im Gefecht lagen. Ebensooft wie mit griechischen nennen sie sich mit skythischen Namen, das heißt mit denen der den Iraniern verwandten sarmatischen Stämme; ja im Königshause selbst ward Sauromates ein gewöhnlicher Name. Ihr Fortbestehen selbst hatten diese Städte wohl weniger der eigenen Kraft zu danken als dem guten Willen oder vielmehr dem eigenen Interesse der Eingeborenen. Die an dieser Küste sitzenden Völkerschaften waren weder imstande, den auswärtigen Handel aus eigenen Emporien zu führen, noch mochten sie ihn entbehren; in den hellenischen Küstenstädten kauften sie Salz, Kleidungsstücke, Wein und die zivilisierten Fürsten schützten einigermaßen die Fremden gegen die Angriffe der eigentlichen Wilden. Die früheren Regenten Roms müssen Bedenken getragen haben, den schwierigen Schutz dieser entlegenen Niederlassung zu übernehmen; dennoch sandte Pius, als die Skythen sie wieder einmal belagerten, ihnen römische Hilfstruppen und zwang die Barbaren, Frieden zu bieten und Geißeln zu stellen. Durch Severus, von dem an Olbia Münzen mit dem Bildnis der römischen Herrscher schlug, muß die Stadt dem Reiche geradezu einverleibt worden sein. Selbstverständlich erstreckte sich diese Annektierung nur auf die Stadtgebiete selbst und ist nie daran gedacht worden, die barbarischen Umwohner Tyras und Olbias unter das römische Szepter zu bringen. Es ist schon bemerkt worden, daß diese Städte die ersten waren, welche, vermutlich unter Alexander († 235), dem beginnenden Gotensturm erlagen.

Wenn auf dem Kontinent im Norden des Pontus die Griechen sich nur spärlich angesiedelt hatten, so war die große aus dieser Küste vorspringende Halbinsel, die traurische Chersonesos, die heutige Krim, seit langem zum großen Teil in ihren Händen. Getrennt durch die Gebirge, welche die Taurier innehatten, waren die beiden Mittelpunkte der griechischen Niederlassung auf ihr, am westlichen Ende die dorische freie Stadt Herakleia oder Chersonesos (Sevastopol), am östlichen das Fürstentum von Pantikapäon oder Bosporus (Kertsch). König Mithradates hatte auf der Höhe seiner Macht beide vereinigt und hier sich ein zweites Nordreich gegründet, das dann nach dem Zusammenbruch seiner Herrschaft als einziger Überrest derselben seinem Sohn und Mörder Pharnakes verblieb. Als dieser während des Krieges zwischen Cäsar und Pompeius versuchte, die väterliche Herrschaft in Kleinasien wieder zu gewinnen, hatte Cäsar ihn besiegt und ihn auch des bosporanischen Reiches verlustig erklärt. In diesem hatte inzwischen der von Pharnakes daselbst zurückgelassene Statthalter Asandros dem König den Gehorsam aufgekündigt, in der Hoffnung, durch diesen Cäsar erwiesenen Dienst selbst das Königtum zu erlangen. Als Pharnakes nach der Niederlage in sein bosporanisches Reich zurückkam, bemächtige er zwar zunächst sich wieder seiner Hauptstadt, unterlag aber schließlich und fiel tapfer fechtend in der letzten Schlacht, als Soldat wenigstens seinem Vater nicht ungleich. Um die Nachfolge stritten Asandros, der tatsächlich Herr des Landes war, und Mithradates von Pergamon, ein tüchtiger Offizier Cäsars, den dieser mit dem bosporanischen Fürstentum belehnt hatte; beide suchten zugleich Anlehnung an die bisher im Bosporus herrschende Dynastie und den großen Mithradates, indem Asandros sich mit der Tochter des Pharnakes Dynamis vermählte, Mithradates, einem pergamenischen Bürgerhaus entsprossen, ein Bastardsohn des großen Mithradates Eupator zu sein behauptete, sei es nun, daß dieses Gerede die Auswahl bestimmte, sei es, daß es zur Rechtfertigung der Auswahl in Umlauf gesetzt ward. Da Cäsar selbst zunächst durch wichtigere Aufgaben in Anspruch genommen war, so entschieden zwischen dem legitimen und dem illegitimen Cäsarianer die Waffen, und zwar wieder zugunsten des letzteren; Mithradates fiel im Gefecht und Asandros blieb Herr im Bosporus. Er vermied es anfänglich, ohne Zweifel, weil ihm die Bestätigung des Lehnherrn fehlte, sich den Königsnamen beizulegen und begnügte sich mit dem auch von den älteren Fürsten von Pantikapäon geführten Archontentitel; aber bald, wahrscheinlich noch von Cäsar selbst, erwirkte er die Bestätigung seiner Herrschaft und den königlichen Titel. Bei seinem Tode (737/38 [17/16 v. Chr.]) hinterließ er sein Reich der Gemahlin Dynamis. So stark war immer noch die Macht der Erbfolge und des mithradatischen Namens, daß sowohl ein gewisser Scribonianus, der zunächst Asandros Stelle einzunehmen versuchte, wie nach ihm der König Polemon von Pontus, dem Augustus das bosporanische Reich zusprach, mit der Übernahme der Herrschaft ein Ehebündnis mit der Dynamis verbanden; überdies behauptete jener selber ein Enkel des Mithradates zu sein, während König Polemon bald nach dem Tode der Dynamis eine Enkelin des Antonius und somit eine Verwandte des Kaiserhauses heiratete. Nach seinem frühen Tode – er fiel im Kampfe gegen die Aspurgianer an der asiatischen Küste – folgten seine unmündigen Kinder ihm nicht und auch seinem gleichnamigen Enkel, den Kaiser Gaius trotz seines Knabenalters im J. 38 in die beiden Fürstentümer seines Vaters wieder einsetzte, blieb das bosporanische nicht lange. An seiner Stelle berief Kaiser Claudius einen wirklichen oder angeblichen Nachkommen des Mithradates Eupator, und diesem Hause ist, wie es scheint, das Fürstentum von da an verblieben.

Während im römischen Staat sonst das Klientelfürstentum nach dem Ausgang der ersten Dynastie schwindet und seit Traianus das Prinzip des unmittelbaren Regiments im ganzen Umfang des römischen Reiches durchgeführt ist, bestand das bosporanische Königtum unter römischer Oberherrschaft bis in das 4. Jahrhundert hinein. Erst nachdem der Schwerpunkt des Reiches nach Konstantinopel verlegt war, ging dieser Staat in das Hauptreich auf, um dann bald von diesem aufgegeben und wenigstens zum größeren Teil die Beute der Hunnen zu werden. Indes ist der Bosporus der Sache nach mehr eine Stadt als ein Königreich gewesen und geblieben und hat mehr Ähnlichkeit mit den Stadtbezirken von Tyra und Olbia als mit den Königreichen Kappadokien und Numidien. Auch hier haben die Römer nur die hellenische Stadt Pantikapäon geschützt und Grenzerweiterung und Unterwerfung des Binnenlandes so wenig erstrebt wie in Tyra und Olbia. Zu dem Gebiet des Fürsten von Pantikapäon gehörten zwar die griechischen Ansiedlungen von Theudosia auf der Halbinsel selbst und Phanagoria (Taman) auf der gegenüberliegenden asiatischen Küste, aber Chersonesos nicht oder nur etwa wie Athen zum Sprengel des Statthalters von Achaia. Die Stadt hatte von den Römern die Autonomie erhalten und sah in dem Fürsten den nächsten Beschützer, nicht den Landesherrn; sie hat auch in der Kaiserzeit als freie Stadt niemals weder mit Königs- noch mit Kaiserstempeln geprägt. Auf dem Kontinent stand nicht einmal die Stadt, welche die Griechen Tanais nennen, ein lebhaftes Emporium an der Mündung des Don, aber schwerlich eine griechische Gründung, dauernd unter der Botmäßigkeit der römischen Lehnsfürsten. Von den mehr oder minder barbarischen Stämmen auf der Halbinsel selbst und an der europäischen und asiatischen Küste südlich vom Tanais befanden sich wohl nur die nächsten in festem Abhängigkeitsverhältnis.

Das Gebiet von Pantikapäon war zu ausgedehnt und besonders für den kaufmännischen Verkehr zu wichtig, um wie Olbia und Tyra der Verwaltung wechselnder Gemeindebeamten und eines weitentfernten Statthalters überlassen zu werden; deshalb wurde es erblichen Fürsten anvertraut, was weiter sich dadurch empfahl, daß es nicht geraten scheinen mochte, die mit dieser Landschaft verknüpften Verhältnisse zu den Umwohnern unmittelbar auf das Reich zu übertragen. Als Griechenfürsten haben die des bosporanischen Hauses, trotz ihre achämenidischen Stammbaumes und ihrer achämenidischen Jahreszählung, sich durchaus empfunden und ihren Ursprung nach gut hellenischer Art auf Herakles und die Eumolpiden zurückgeführt. Die Abhängigkeit dieser Griechen von Rom, der königlichen in Pantikapäon wie der republikanischen in Chersonesos, war durch die Natur der Dinge gegeben, und nie haben sie daran gedacht, gegen den schützenden Arm des Reiches sich aufzulehnen; wenn einmal unter Kaiser Claudius die römischen Truppen gegen einen unbotmäßigen Fürsten des Bosporus marschieren mußten, so hat dagegen diese Landschaft selbst in der entsetzlichen Verwirrung in der Mitte des 3. Jahrhunderts, welche vorzugsweise sie traf, von dem Reich, auch von dem zerfallenden niemals gelassen. Die wohlhabenden Kaufstädte, inmitten eines barbarischen Völkergewoges militärischen Schutzes dauernd bedürftig, hielten an Rom wie die Vorposten an dem Hauptheer. Die Besatzung ist wohl hauptsächlich in dem Lande selbst aufgestellt worden, und sie zu schaffen und zu führen war ohne Zweifel die Hauptaufgabe des Königs des Bosporus. Die Münzen, welche wegen der Investitur eines solchen geschlagen wurden, zeigen wohl den curulischen Sessel und die sonstigen bei solcher Belehnung üblichen Ehrengeschenke, aber daneben auch Schild, Helm, Degen, Streitaxt und das Schlachtroß; es war kein Friedensamt, das dieser Fürst überkam. Auch blieb der erste derselben, den Augustus bestellte, im Kampf mit den Barbaren, und von seinen Nachfolgern stritt zum Beispiel König Sauromates, des Rhömetalkes Sohn, in den ersten Jahren des Severus mit den Sirakern und den Skythen – vielleicht nicht ganz ohne Grund hat er seine Münzen mit den Taten des Herkies bezeichnet. Auch zur See hatte er tätig zu sein, vor allem das auf dem Schwarzen Meer nie aufhörende Piratenwesen niederzuhalten: jenem Sauromates wird gleichfalls nachgerühmt, daß er die Taurier zur Ordnung gebracht und die Piraterie gebändigt habe. Indes lagen auf der Halbinsel auch römische Truppen, vielleicht eine Abteilung der pontischen Flotte, sicher ein Detachement der mösischen Armee; bei geringer Zahl zeigte doch ihre Anwesenheit den Barbaren, daß der gefürchtete Legionär auch hinter diesen Griechen stand. Noch in anderer Weise schützte sie das Reich; wenigstens in späterer Zeit sind den Fürsten des Bosporus regelmäßig Geldsummen aus der Reichskasse gezahlt worden, deren sie auch insofern bedurften, als das Abkaufen der feindlichen Einfälle durch stehende Jahrgelder hier, in dem nicht unmittelbaren Reichslande, wahrscheinlich noch früher stehend geworden ist als anderswo.

Daß die Zentralisierung des Regiments auch diesem Fürsten gegenüber zur Anwendung kam, und er nicht viel anders zu dem römischen Cäsar stand wie der Bürgermeister von Athen, tritt vielfach hervor; Erwähnung verdient, daß König Asandros und die Königin Dynamis Goldmünzen mit ihrem Namen und ihrem Bildnis schlugen, dagegen dem König Polemon und seinen nächsten Nachfolgern wohl die Goldprägung blieb, da dieses Gebiet sowie die anwohnenden Barbaren seit langem ausschließlich an Goldcourant gewöhnt waren, aber sie veranlaßt wurden, ihre Goldstücke mit dem Namen und dem Bilde des regierenden Kaisers zu versehen. Ebenfalls seit Polemon ist der Fürst dieses Landes zugleich der Oberpriester auf Lebenszeit des Kaisers und des kaiserlichen Hauses. Im übrigen behielten die Verwaltung und das Hofwesen die unter Mithradates eingeführten Formen nach dem Muster des persischen Großkönigtums, obwohl der Geheimschreiber (άρχιγραμματεύς) und der Oberkammerdiener (άρχικοιτωνείτης) des Hofes von Pantikapäon zu den vornehmen Hofbeamten der Großkönige sich verhielten wie der Römerfeind Mithradates Eupator zu seinem Nachkommen Tiberius Julius Eupator, der wegen seines Anrechts an die bosporanische Krone in Rom vor Kaiser Pius Recht nahm.

Wertvoll blieb dieses nordische Griechenland für das Reich wegen der Handelsbeziehungen. Wenn auch dieselben in dieser Epoche wohl weniger bedeuteten als in älterer Zeit, so ist doch der Kaufmannverkehr sehr rege geblieben. In der augustischen Zeit brachten die Stämme der Steppe Sklaven und Felle, die Kaufleute der Zivilisation Bekleidungsstücke, Wein und andere Luxusartikel nach Tanais; in noch höherem Maße war Phanagoria die Niederlage für den Export der Einheimischen, Pantikapäon für den Import der Griechen. Jene Wirren im Bosporus in der claudischen Zeit waren für die Kaufleute von Byzanz ein schwerer Schlag. Daß die Goten ihre Piratenfahrten im 3. Jahrhundert damit begannen, die bosporanischen Rheder zu unfreiwilliger Hilfeleistung zu pressen, wurde schon erwähnt. Wohl infolge dieses den barbarischen Nachbarn selbst unentbehrlichen Verkehrs haben die Bürger von Chersonesos noch nach dem Wegziehen der römischen Besatzungen sich behauptet und konnten späterhin, als in justinianischer Zeit die Macht des Reiches sich auch nach dieser Richtung hin noch einmal geltend machte, als Griechen in das griechische Reich zurücktreten.

Kapitel VIII


Kleinasien

Kapitel VIII

Die große Halbinsel, welche die drei Meere, das Schwarze, das Ägäische und Mittelländische an drei Seiten bespülen und die gegen Osten mit dem eigentlichen asiatischen Kontinent zusammenhängt, wird, insoweit sie zum Grenzgebiet des Reiches gehört, in dem nächsten das Euphratgebiet und die römisch-parthischen Beziehungen behandelnden Abschnitt betrachtet werden. Hier sollen die Friedensverhältnisse namentlich der westlichen Landschaften unter dem Kaiserregiment dargelegt werden.

Die ursprüngliche oder doch vorgriechische Bevölkerung dieser weiten Strecke hat sich vielerorts in bedeutendem Umfang bis in die Kaiserzeit hinein behauptet. Dem früher erörterten thrakischen Stamme hat sicher der größte Teil von Bithynien gehört; Phrygien, Lydien, Kilikien, Kappadokien zeigen sehr mannigfaltige und schwer zu lösende Überreste älterer Sprachepochen, die vielfach in die römische Zeit hinabreichen; fremdartige Götter-, Menschen- und Ortsnamen begegnen überall. Aber so weit unser Blick reicht, dem freilich das tiefere Eindringen hier selten gewährt ist, erscheinen diese Elemente nur weichend und schwindend, wesentlich als Negation der Zivilisation oder, was hier damit uns wenigstens zusammenzufallen dünkt, der Hellenisierung. Es wird am geeigneten Platz auf einzelne Gruppen dieser Kategorie zurückzukommen sein; für die geschichtliche Entwicklung Kleinasiens in der Kaiserzeit gibt es daselbst nur zwei aktive Nationalitäten, die beiden zuletzt eingewanderten, in den Anfängen der geschichtlichen Zeit die Hellenen und während der Wirren der Diadochenzeit die Kelten.

Die Geschichte der kleinasiatischen Hellenen, soweit sie ein Teil der römischen ist, ist früher dargelegt worden. In der fernen Zeit, wo die Küsten des Mittelmeeres zuerst befahren und besiedelt wurden und die Welt anfing, unter die vorgeschrittenen Nationen auf Kosten der zurückgebliebenen aufgeteilt zu werden, hatte die Hochflut der hellenischen Auswanderung sich zwar über alle Ufer des Mittelländischen Meeres, aber doch nirgend hin, selbst nicht nach Italien und Sizilien in so breitem Strom ergossen wie über das inselreiche Ägäische Meer und die nahe hafenreiche liebliche Küste Vorderasiens. Die vorderasiatischen Griechen hatten dann selbst vor allen übrigen sich tätig an der weiteren Welteroberung beteiligt, von Miletos aus die Küsten des Schwarzen Meeres, von Phokäa und Knidos aus die der Westsee besiedeln helfen. In Asien ergriff die hellenische Zivilisation wohl die Bewohner des Binnenlandes, die Myser, Lydier, Karer, Lykier und selbst die persische Großmacht blieb von ihr nicht unberührt. Aber die Hellenen selber besaßen nichts als den Küstensaum, höchstens mit Einschluß des unteren Laufes der größeren Flüsse, und die Inseln. Kontinentale Eroberung und eigene Landmacht vermochten sie hier gegenüber den mächtigen einheimischen Fürsten nicht zu gewinnen; auch lud das hochgelegene und großenteils wenig kulturfähige Binnenland Kleinasiens nicht so wie die Küsten zur Ansiedlung ein und die Verbindungen dieser mit dem Innern sind schwierig. Wesentlich infolgedessen brachten es die asiatischen Hellenen noch weniger als die europäischen zur inneren Einigung und zur eigenen Großmacht und lernten früh die Fügsamkeit gegenüber den Herren des Kontinents. Der national-hellenische Gedanke kam ihnen erst von Athen; die wurden dessen Bundesgenossen nur nach dem Siege und blieben es nicht in der Stunde der Gefahr. Was Athen diesen Schutzbefohlenen der Nation hatte leisten wollen und nicht hatte leisten können, das vollbrachte Alexander; Hellas mußte er besiegen, Kleinasien sah in dem Eroberer nur den Befreier. Alexanders Sieg sicherte in der Tat nicht bloß das asiatische Hellenentum, sondern öffnete ihm eine weite fast ungemessene Zukunft; die Besiedlung des Kontinents, welche im Gegensatz der bloß litoralen dieses zweite Stadium der hellenischen Welteroberung bezeichnet, ergriff auch Kleinasien in bedeutendem Umfang. Doch von den Knotenpunkten der neuen Staatenbildung kam keiner nach den alten Griechenstädten der Küste. Die neue Zeit forderte wie überhaupt neue Gestaltung, so vor allem auch neue Städte, zugleich griechische Königsresidenzen und Mittelpunkte bisher ungriechischer und dem Griechentum zuzuführender Bevölkerungen. Die große staatliche Entwicklung bewegt sich um die Städte königlicher Gründung und königlichen Namens, Thessalonike, Antiocheia, Alexandreia. Mit ihren Herren hatten die Römer zu ringen; den Besitz Kleinasiens gewannen sie fast durchaus, wie man von Verwandten oder Freunden ein Landgut erwirbt, durch Vermächtnis im Testament; und wie schwer auf den also gewonnenen Landschaften zeitweise das römische Regiment gelastet hat, der Stachel der Fremdherrschaft trat hier nicht hinzu. Eine nationale Opposition hat wohl der Achämenide Mithradates den Römern in Kleinasien entgegengestellt und das römische Mißregiment die Hellenen in seine Arme getrieben; aber diese selbst haben nie etwas Ähnliches unternommen. Darum ist von diesem großen, reichen, wichtigen Besitz in politischer Hinsicht wenig zu berichten; um so weniger, als in betreff der nationalen Beziehungen der Hellenen überhaupt zu den Römern das in dem vorhergehenden Abschnitt Bemerkte wesentlich auch für die kleinasiatischen Geltung hat.

Die römische Verwaltung Kleinasiens wurde nie in systematischer Weise geordnet, sondern die einzelnen Gebiete so, wie sie zum Reich kamen, ohne wesentliche Veränderung der Grenzen als römische Verwaltungsbezirke eingerichtet. Die Staaten, welche König Attalos III. von Pergamon den Römern vermacht hatte, bilden die Provinz Asia; die ebenfalls durch Erbgang ihnen zugefallenen des Königs Nikomedes die Provinz Bithynien; das dem Mithradates Eupator abgenommene Gebiet die mit Bithynien vereinigte Provinz Pontus. Kreta wurde bei Gelegenheit des großen Piratenkrieges von den Römern besetzt; Kyrene, das gleich hier mit erwähnt werden mag, nach dem letzten Willen seines Herrschers von ihnen übernommen. Derselbe Rechtstitel gab der Republik die Insel Kypros; hinzu kam hier die notwendige Unterdrückung der Piraterie. Diese hatte auch zu der Bildung der Statthalterschaft Kilikien den Grund gelegt; vollständig kam das Land an Rom durch Pompeius mit Syrien zugleich und beide sind während des 1. Jahrhunderts gemeinschaftlich verwaltet worden. All dieser Länderbesitz war bereits von der Republik erworben. In der Kaiserzeit traten eine Anzahl Gebiete hinzu, welche früher nur mittelbar zum Reich gehört hatten: im J. 729 d. St. = 25 v. Chr. das Königreich Galatien, mit welchem ein Teil Phrygiens, Lykaonien, Pisidien, Pamphylien vereinigt worden war; im J. 747 = 7 v. Chr. die Herrschaft des Königs Deiotarus Kastors Sohn, welche Gangra in Paphlagonien und wahrscheinlich auch Amaseia und andere benachbarte Orte umfaßte; im J. 17 n. Chr. das Königreich Kappadokien; im J. 43 das Gebiet der Konföderation der lykischen Städte; im J. 63 das nordöstliche Kleinasien vom Tal des Iris bis zur armenischen Grenze; Klein-Armenien und einige kleinere Fürstentümer in Kilikien wahrscheinlich durch Vespasian. Damit war die unmittelbare Reichsverwaltung in ganz Kleinasien durchgeführt. Lehnsfürstentümer blieben nur der taurische Bosporus, von dem schon die Rede war, und Groß-Armenien, von dem der nächste Abschnitt handeln wird.

Als bei dem Eintreten des Kaiserregiments die administrative Scheidung zwischen ihm und dem des Reichsrats getroffen ward, kam das gesamte kleinasiatische Gebiet, soweit es damals unmittelbar unter dem Reiche stand, an den letzteren; die Insel Kypros, die anfangs unter kaiserliche Verwaltung gelangt war, ging ebenfalls wenige Jahre später an den Senat über. So entstanden hier die vier senatorischen Statthalterschaften Asia, Bithynia und Pontus, Kypros, Kreta und Kyrene. Unter kaiserlicher Verwaltung stand anfangs nur Kilikien als Teil der syrischen Provinz. Aber die später in unmittelbare Reichsverwaltung gelangten Gebiete wurden hier wie im ganzen Reich unter kaiserliche Statthalter gelegt; so ward noch unter Augustus aus den binnenländischen Landschaften des galatischen Reiches die Provinz Galatien gebildet und die Küstenlandschaft Pamphylien einem anderen Statthalter überwiesen, welchem letzteren unter Claudius weiter Lykien unterstellt ward. Ferner ward Kappadokien kaiserliche Statthalterschaft unter Tiberius. Auch blieb natürlich Kilikien, als es eigene Statthalter erhielt, unter kaiserlicher Verwaltung. Abgesehen davon, daß Hadrian die wichtige Provinz Bithynien und Pontus gegen die unbedeutende lykisch-pamphylische eintauschte, blieb diese Ordnung in Kraft, bis gegen das Ende des 3. Jahrhunderts die senatorische Mitverwaltung überhaupt bis auf geringe Überreste beseitigt ward. Die Grenze ward in der ersten Kaiserzeit durchaus durch die Lehnsfürstentümer gebildet; nach deren Einziehung berührte die Reichsgrenze, von Kyrene abgesehen, unter allen diesen Verwaltungsbezirken nur der kappadokische, insofern diesem damals auch die nordöstliche Grenzlandschaft bis hinauf nach Trapezunt zugeteilt war; und auch diese Statthalterschaft grenzte nicht mit dem eigentlichen Ausland, sondern im Norden mit den abhängigen Völkerschaften am Phasis, weiterhin mit dem von Rechts wegen und einigermaßen auch tatsächlich zum Reiche gehörigen Lehnskönigtum Armenien.

Um von den Zuständen und der Entwicklung Kleinasiens in den drei ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung eine Vorstellung zu gewinnen, soweit dies bei einem aus unserer unmittelbaren geschichtlichen Überlieferung gänzlich ausfallenden Lande möglich ist, wird bei dem konservativen Charakter des römischen Provinzialregiments an die älteren Gebietsteilungen und die Vorgeschichte der einzelnen Landschaften anzuknüpfen sein.

Die Provinz Asia ist das alte Reich der Attaliden, Vorderasien bis nördlich zur bithynischen, südlich zur lykischen Grenze; die anfangs davon abgetrennten östlichen Striche, das große Phrygien, waren schon in republikanischer Zeit wieder dazu geschlagen worden, und die Provinz reichte seitdem bis an die Landschaft der Galater und die pisidischen Gebirge. Auch Rhodus und die übrigen kleineren Inseln des Ägäischen Meeres gehörten zu diesem Sprengel. Die ursprüngliche hellenische Ansiedlung hatte außer den Inseln und der eigentlichen Küste auch die unteren Täler der größeren Flüsse besetzt; Magnesia am Sipylos im Hermostal, das andere Magnesia und Tralles im Tal des Mäandros waren schon vor Alexander als griechische Städte gegründet oder doch griechische Städte geworden; die Karer, Lyder, Myser wurden früh wenigstens zu Halbhellenen. Die eintretende Griechenherrschaft fand in den Küstenlandschaften nicht viel zu tun; Smyrna, das vor Jahrhunderten von den Barbaren des Binnenlandes zerstört worden war, erhob sich damals aus seinen Trümmern, um rasch wieder einer der ersten Sterne des glänzenden kleinasiatischen Städteringes zu werden; und wenn der Wiederaufbau von Ilion an dem Grabhügel Hektors mehr ein Werk der Pietät als der Politik war, so war die Anlage der Alexandreia an der Küste der Troas von bleibender Bedeutung. Pergamon im Tal des Kaikos blühte auf als Residenz der Attaliden.

In dem großen Werk der Hellenisierung des Binnenlandes dieser Provinz wetteiferten, Alexanders Intentionen entsprechend, alle hellenischen Regierungen, Lysimachos, die Seleukiden, die Attaliden. Die einzelnen Gründungen sind aus unserer Überlieferung noch mehr verschwunden als die Kriegsläufte der gleichen Epoche; wir sind hauptsächlich angewiesen auf die Namen und die Beinamen der Städte; aber auch diese genügen, um die allgemeinen Umrisse dieser Jahrhunderte hindurch sich fortsetzenden und dennoch homogenen und zielbewußten Tätigkeit zu erkennen. Eine Reihe binnenländischer Ortschaften, Stratonikeia in Karien, Peltä, Blaundos, Dokimeion, Kadoi in Phrygien, die Mysomakedonier im Bezirk von Ephesos, Thyateira, Hyrkania, Nakrasa im Hermosgebiet, die Askylaken im Bezirk von Adramytion werden in Urkunden oder sonstigen glaubwürdigen Zeugnissen als Makedonierstädte bezeichnet; und diese Erwähnungen sind so zufälliger Art und die Ortschaften teilweise so unbedeutend, daß die gleiche Bezeichnung sicher auf eine große Anzahl anderer Niederlassungen in dieser Gegend sich erstreckt hat und wir schließen dürfen auf eine ausgedehnte, wahrscheinlich mit dem Schutz Vorderasiens gegen die Galater und Pisidier zusammenhängende Ansiedelung griechischer Soldaten in den bezeichneten Gegenden. Wenn ferner die Münzen der ansehnlichen phrygischen Stadt Synnada mit ihrem Stadtnamen den der Ioner und der Dorer sowie den des gemeinen Zeus (Ζευσ πανδημοσ) verbinden, so muß einer der Alexandriden die Griechen insgemein aufgefordert haben, hier sich niederzulassen; und auch dies beschränkte sich gewiß nicht auf diese einzelne Stadt. Die zahlreichen Städte hauptsächlich des Binnenlandes, deren Namen auf die Königshäuser der Seleukiden oder der Attaliden zurückgehen oder die sonst griechisch benannt sind, sollen hier nicht aufgeführt werden; es befinden sich namentlich unter den sicher von den Seleukiden gegründeten oder reorganisierten Städten mehrere der in späterer Zeit blühendsten und gesittetsten des Binnenlandes, zum Beispiel im südlichen Phrygien Laodikeia und vor allem Apameia, das alte Kelänä an der großen Heerstraße von der Westküste Kleinasiens zum mittleren Euphrat, schon in persischer Zeit das Entrepot für diesen Verkehr und unter Augustus nach Ephesos die bedeutendste Stadt der Provinz Asia. Wenn auch nicht jede Beilegung eines griechischen Namens mit Ansiedlung griechischer Kolonisten verbunden gewesen sein wird, so werden wir doch einen beträchtlichen Teil dieser Ortschaften den griechischen Pflanzstädten beizählen dürfen. Aber auch die städtischen Ansiedlungen nichtgriechischen Ursprungs, die die Alexandriden vorfanden, lenkten von selber in die Bahnen der Hellenisierung ein, wie denn die Residenz des persischen Statthalters Sardes noch von Alexander selbst als griechisches Gemeinwesen geordnet, ward. – Diese städtische Entwicklung war vollzogen, als die Römer die Herrschaft über Vorderasien antraten; sie selber haben sie nicht in intensiver Weise gefördert. Daß eine große Anzahl der Stadtgemeinden in der östlichen Hälfte der Provinz ihre Jahre von dem der Stadt 670 (84 v. Chr.) zählen, kommt daher, daß damals nach Beendigung des mithradatischen Krieges diese Bezirke durch Sulla unter unmittelbar römische Verwaltung kamen; Stadtrecht haben diese Ortschaften nicht erst damals erhalten. Augustus hat die Stadt Parium am Hellespont und die schon erwähnte Alexandreia in Troas mit Veteranen seiner Armee besetzt und beiden die Rechte der römischen Bürgergemeinden beigelegt; letztere ist seitdem in dem griechischen Asien eine italische Insel gewesen wie Korinth in Griechenland und Berytos in Syrien. Aber dies war nichts als Soldatenversorgung; von eigentlicher Städtegründung in der römischen Provinz Asien unter den Kaisern ist wenig die Rede. Unter den nicht zahlreichen nach Kaisern benannten Städten daselbst ist vielleicht nur von Sebaste und Tiberiupolis, beide in Phrygien, und von Hadrianoi an der bithynischen Grenze kein älterer Stadtname nachzuweisen. Hier, in der Berglandschaft zwischen dem Ida und dem Olymp, hauste Kleon in der Triumviralzeit, ein gewisser Tilliboros unter Hadrian, beide halb Räuberhauptleute, halb Volksfürsten, von denen jener selbst in der Politik eine Rolle gespielt hat; in dieser Freistatt der Verbrecher war die Gründung einer geordneten Stadtgemeinde durch Hadrian allerdings eine Wohltat. Sonst blieb in dieser Provinz, mit ihren fünfhundert Stadtgemeinden der städtereichsten des ganzen Staates, in dieser Hinsicht wohl nicht mehr viel zu stiften übrig, höchstens etwas zu teilen, das heißt die faktisch zu einer Stadtgemeinde sich entwickelnden Flecken aus dem früheren Gemeindeverbande zu lösen und selbständig zu machen, wie wir einen Fall der Art in Phrygien unter Constantin I. nachweisen können. Aber von der eigentlichen Hellenisierung waren die abgelegenen Gebiete noch weit entfernt, als das römische Regiment begann; insbesondere in Phrygien behauptete sich die vielleicht der armenischen gleichartige Landessprache. Wenn aus dem Fehlen griechischer Münzen und griechischer Inschriften nicht mit Sicherheit auf das Fehlen der Hellenisierung geschlossen werden darf, so weist doch die Tatsache, daß die phrygischen Münzen fast durchaus der römischen Kaiserzeit, die phrygischen Inschriften der großen Mehrzahl nach der späteren Kaiserzeit angehören, daraufhin, daß in die entlegenen und der Zivilisation schwer zugänglichen Gegenden der Provinz Asia die hellenische Gesittung soweit überhaupt, überwiegend erst unter den Kaisern den Weg fand. Zu unmittelbarem Eingreifen der Reichsverwaltung bot dieser im stillen sich vollziehende Prozeß wenig Gelegenheit, und Spuren solchen Eingreifens vermögen wir nicht nachzuweisen. Freilich war Asia eine senatorische Provinz, und daß dem Senatsregiment jede Initiative abging, mag auch hier in Betracht kommen.

Syrien und mehr noch Ägypten gehen auf in ihren Metropolen; die Provinz Asien und Kleinasien überhaupt hat keine einzelne Stadt aufzuweisen gleich Antiocheia und Alexandreia, sondern sein Gedeihen ruht auf den zahlreichen Mittelstädten. Die Einteilung der Städte in drei Klassen, welche sich unterscheiden im Stimmrecht auf dem Landtag, in der Repartition der von der ganzen Provinz aufzubringenden Leistungen, selbst in der Zahl der anzustellenden Stadtärzte und städtischen Lehrer, ist vorzugsweise diesen Landschaften eigen. Auch die städtischen Rivalitäten, die in Kleinasien so energisch und zum Teil so kindisch, gelegentlich auch so gehässig hervortreten, wie zum Beispiel der Krieg zwischen Severus und Niger in Bithynien eigentlich ein Krieg der beiden rivalisierenden Kapitalen Nikomedeia und Nikäa war, gehören zum Wesen zwar der hellenischen Politien überhaupt, insbesondere aber der kleinasiatischen. Des Wetteifers um die Kaisertempel werden wir weiterhin gedenken; in ähnlicher Weise war die Rangfolge der städtischen Deputationen bei den gemeinschaftlichen Festen in Kleinasien eine Lebensfrage – Magnesia am Mäander nennt sich auf den Münzen die »siebente Stadt von Asia« – und vor allem der erste Platz war ein so begehrter, daß die Regierung schließlich sich dazu verstand, mehrere erste Städte zuzulassen. Ähnlich ging es mit der Metropolenbezeichnung. Die eigentliche Metropole der Provinz war Pergamon, die Residenz der Attaliden und der Sitz des Landtags. Aber Ephesos, die faktische Hauptstadt der Provinz, wo der Statthalter verpflichtet war, sein Amt anzutreten, und das auch dieses »Landungsrechts« auf seinen Münzen sich berühmt, Smyrna, mit dem ephesischen Nachbar in steter Rivalität und dem legitimen Erstenrecht der Ephesier zum Trotz auf den Münzen sich nennend »die erste an Größe und Schönheit«, das uralte Sardeis, Kyzikos und andere mehr strebten nach dem gleichen Ehrenrechte. Mit diesen ihren Quängeleien, wegen deren regelmäßig der Senat und der Kaiser angegangen wurden, den »griechischen Dummheiten«, wie man in Rom zu sagen pflegte, waren die Kleinasiaten der stehende Verdruß und das stehende Gespött der vornehmen Römer.

Nicht auf der gleichen Höhe wie das Attalidenreich befand sich Bithynien. Die ältere griechische Kolonisierung hatte sich hier lediglich auf die Küste beschränkt. In der hellenistischen Epoche hatten anfangs die makedonischen Herrscher, später die völlig deren Wege wandelnde einheimische Dynastie neben der im ganzen wohl auf Umnennung hinauslaufenden Einrichtung der Küstenorte einigermaßen auch das Binnenland erschlossen, namentlich durch die beiden glücklich gediehenen Anlagen von Nikäa (Isnik) und Prusa am Olymp (Brussa); von der ersteren wird hervorgehoben, daß die ersten Ansiedler von guter makedonischer und hellenischer Herkunft gewesen seien. Aber in der Intensität der Hellenisierung stand das Reich des Nikomedes weit zurück hinter dem des Bürgerfürsten von Pergamon; insonderheit das östliche Binnenland kann vor Augustus nur wenig besiedelt gewesen sein. Dies ward in der Kaiserzeit anders. In augustischer Zeit baute ein glücklicher Räuberhauptmann, der sich zur Ordnung bekehrte, an der galatischen Grenze die gänzlich herabgekommene Ortschaft Gordiu Kome unter dem Namen Juliopolis wieder auf; in derselben Gegend sind die Städte Bithynion-Claudiopolis und Krateia-Flaviopolis wahrscheinlich im Laufe des i. Jahrhunderts zu griechischem Stadtrecht gelangt. Überhaupt hat in Bithynien der Hellenismus unter der Kaiserzeit einen mächtigen Aufschwung genommen und der derbe thrakische Schlag der Eingeborenen gab ihm eine gute Grundlage. Daß unter den in großer Anzahl bekannten Schriftsteinen dieser Provinz nicht mehr als vier der vorrömischen Zeit angehören, wird nicht allein daraus erklärt werden können, daß die städtische Ambition erst unter den Kaisern großgezogen worden ist. In der Literatur der Kaiserzeit gehören eine Anzahl der besten und von der wuchernden Rhetorik am wenigsten erfaßten Schriftsteller, wie der Philosoph Dion von Prusa, die Historiker Memnon von Herakleia, Arrhianos aus Nikomedeia, Cassius Dion von Nikäa, nach Bithynien.

Die östliche Hälfte der Südküste des Schwarzen Meeres, die römische Provinz Pontus, hat zur Grundlage denjenigen Teil des Reiches Mithradats, den Pompeius sofort nach dem Siege in unmittelbaren Besitz nahm. Die zahlreichen kleinen Fürstentümer, welche im paphlagonischen Binnenland und östlich davon bis zur armenischen Grenze Pompeius gleichzeitig vergab, wurden nach kürzerem oder längerem Bestand bei ihrer Einziehung teils derselben Provinz zugelegt, teils zu Galatien oder Kappadokien geschlagen. Das ehemalige Reich des Mithradates war sowohl von dem älteren wie von dem jüngeren Hellenismus bei weitem weniger als die westlichen Landschaften berührt worden. Als die Römer dieses Gebiet mittelbar oder unmittelbar in Besitz nahmen, gab es griechisch geordnete Städte dort strenggenommen nicht; Amaseia, die alte Residenz der pontischen Achämeniden und immer ihre Grabstadt, war dies nicht; die beiden alten griechischen Küstenstädte Amisos und das einst über das Schwarze Meer gebietende Sinope waren königliche Residenzen geworden, und auch den wenigen von Mithradates angelegten Ortschaften, zum Beispiel Eupatoria, wird schwerlich griechische Politie gegeben worden sein. Hier aber war, wie schon früher ausgeführt ward, die römische Eroberung zugleich die Hellenisierung; Pompeius organisierte die Provinz in der Weise, daß er die elf Hauptortschaften derselben zu Städten machte und unter sie das Gebiet verteilte. Allerdings ähnelten diese künstlich geschaffenen Städte mit ihren ungeheuren Bezirken – der von Sinope hatte an der Küste eine Ausdehnung von 16 deutschen Meilen und grenzte am Halys mit dem amisenischen – mehr den keltischen Gauen als den eigentlich hellenischen und italischen Stadtgemeinden. Aber es wurden doch damals Sinope und Amisos in ihre alte Stellung wieder eingesetzt und andere Städte im Binnenland, wie Pompeiupolis, Nikopolis, Megalopolis, das spätere Sebasteia, ins Leben gerufen. Sinope erhielt durch den Diktator Cäsar das Recht der römischen Kolonie und ohne Zweifel auch italische Ansiedler. Wichtiger für die römische Verwaltung ward Trapezus, eine alte Kolonie von Sinope; die Stadt, die im J. 63 zur Provinz Kappadokien geschlagen ward, war wie der Standort der römischen Pontusflotte so auch gewissermaßen die Operationsbasis für das Truppenkorps dieser Provinz, das einzige in ganz Kleinasien.

Das binnenländische Kappadokien war seit der Einrichtung der Provinzen Pontus und Syrien in römischer Gewalt; über die Einziehung desselben im Anfang der Regierung des Tiberius, welche zunächst veranlaßt ward durch den Versuch Armeniens, sich der römischen Lehnsherrschaft zu entwinden, wird in dem folgenden Abschnitt zu berichten sein. Der Hof und was unmittelbar damit zusammenhing, hatte sich hellenisiert, etwa so, wie die deutschen Höfe des 18. Jahrhunderts sich dem französischen Wesen zuwandten. Die Hauptstadt Käsareia, das alte Mazaka, gleich dem phrygischen Apameia, eine Zwischenstelle des großen Verkehrs zwischen den Häfen der Westküste und den Euphratländern und in römischer Zeit wie noch heute eine der blühendsten Handelsstädte Kleinasiens, war auf Pompeius‘ Veranlassung nach dem mithradatischen Kriege nicht bloß wieder aufgebaut, sondern wahrscheinlich damals auch mit Stadtrecht nach griechischer Art ausgestattet worden. Kappadokien selbst war im Anfang der Kaiserzeit schwerlich mehr griechisch als Brandenburg und Pommern unter Friedrich dem Großen französisch. Als das Land römisch ward, zerfiel es nach den Angaben des gleichzeitigen Strabon nicht in Stadtbezirke, sondern in zehn Ämter, von denen nur zwei Städte hatten, die schon genannte Hauptstadt und Tyana; und diese Ordnung ist hier im großen und ganzen so wenig verändert worden wie in Ägypten, wenn auch einzelne Ortschaften späterhin griechisches Stadtrecht empfingen, zum Beispiel Kaiser Marcus aus dem kappadokischen Dorf, in dem seine Gemahlin gestorben war, die Stadt Faustinopolis machte. Griechisch freilich sprachen die Kappadokier jetzt; aber die Studierenden aus Kappadokien hatten auswärts viel zu leiden wegen ihres groben Akzents und ihrer Fehler in Aussprache und Betonung, und wenn sie attisch reden lernten, fanden die Landsleute ihre Sprache affektiert. Erst in der christlichen Zeit gaben die Studiengenossen des Kaisers Julian, Gregorios von Nazianzos und Basilios von Käsareia dem kappadokischen Namen einen besseren Klang.

Die lykischen Städte in ihrem abgeschlossenen Berglande öffneten ihre Küste der griechischen Ansiedlung nicht, aber schlossen sich darum doch nicht gegen den hellenischen Einfluß ab. Lykien ist die einzige kleinasiatische Landschaft, in welcher die frühe Zivilisierung die Landessprache nicht beseitigt hat, und welche, fast wie die Römer, in griechisches Wesen einging, ohne sich äußerlich zu hellenisieren. Es bezeichnet ihre Stellung, daß die lykische Konföderation als solche dem attischen Seebund sich angeschlossen und an die athenische Vormacht ihren Tribut entrichtet hat. Die Lykier haben nicht bloß ihre Kunst nach hellenischen Mustern geübt, sondern wohl auch ihr politische Ordnung früh in gleicher Weise geregelt. Die Umwandlung des einst Rhodos untertänigen, aber nach dem dritten makedonischen Krieg unabhängig gewordenen Städtebundes in eine römische Provinz, welche wegen des endlosen Haders unter den Verbündeten von Kaiser Claudius verfügt ward, wird das Vordringen des Hellenismus gefördert haben; im Verlauf der Kaiserzeit sind dann die Lykier vollständig zu Griechen geworden. Die pamphylischen Küstenstädte, wie Aspendos und Perge, griechische Gründungen der ältesten Zeit, später sich selbst überlassen und unter günstigen Verhältnissen gedeihlich entwickelt, hatten das älteste Hellenentum in einer Weise sei es konserviert, sei es aus sich heraus eigenartig gestaltet, daß die Pamphylier nicht viel weniger als die benachbarten Lykier in Sprache und Schrift als selbständige Nation gelten konnten. Als dann Asien den Hellenen gewonnen ward, fanden sie allmählich den Rückweg wie in die gemeine griechische Zivilisation so auch in die allgemeine politische Ordnung. Die Herren in dieser Gegend wie an der benachbarten kilikischen Küste waren in hellenistischer Zeit teils die Ägypter, deren Königshaus verschiedenen Ortschaften in Pamphylien und Kilikien den Namen gegeben hat, teils die Seleukiden, nach denen die bedeutendste Stadt Westkilikiens Seleukeia am Kalykadnos heißt, teils die Pergamener, von deren Herrschaft Attaleia (Adalia) in Pamphylien zeugt. Dagegen hatten die Völkerschaften in den Gebirgen Pisidiens, Isauriens und Westkilikiens bis auf den Beginn der Kaiserzeit ihre Unabhängigkeit der Sache nach behauptet. Hier ruhten die Fehden nie. Nicht bloß zu Lande hatten die zivilisierten Regierungen stets mit den Pisidiern und ihren Genossen zu schaffen, sondern es betrieben dieselben namentlich von dem westlichen Kilikien aus, wo die Gebirge unmittelbar an das Meer treten, noch eifriger als den Landraub das Gewerbe der Piraterie. Als bei dem Verfall der ägyptischen Seemacht die Südküste Kleinasiens völlig zur Freistatt der Seeräuber ward, traten die Römer ein und richteten die Provinz Kilikien, welche die pamphylische Küste mit umfaßte oder doch umfassen sollte, der Unterdrückung des Seeraubes wegen ein. Aber was sie taten zeigte mehr, was hätte geschehen sollen, als daß wirklich etwas erreicht ward; die Intervention erfolgte zu spät und zu unstetig. Wenn auch einmal ein Schlag gegen die Korsaren geführt ward und römische Truppen selbst in die isaurischen Gebirge eindrangen und tief im Binnenland die Piratenburgen brachen, zu rechter dauernder Festsetzung in diesen von ihr widerwillig annektierten Distrikten kam die römische Republik nicht. Hier blieb dem Kaisertum noch alles zu tun übrig. Antonius, wie er den Orient übernahm, beauftragte einen tüchtigen galatischen Offizier, den Amyntas mit der Unterwerfung der widerspenstigen pisidischen Landschaft, und als dieser sich bewährte, machte er denselben zum König von Galatien, der militärisch bestgeordneten und schlagfertigsten Landschaft Kleinasiens, und erstreckte zugleich sein Regiment von da bis zur Südküste, also auf Lykaonien, Pisidien, Isaurien, Pamphylien und Westkilikien, während die zivilisierte Osthälfte Kilikiens bei Syrien blieb. Auch als Augustus nach der aktischen Schlacht die Herrschaft im Orient antrat, ließ er den keltischen Fürsten in seiner Stellung. Derselbe machte auch wesentliche Fortschritte sowohl in der Unterdrückung der schlimmen in den Schlupfwinkeln des westlichen Kilikiens hausenden Korsaren wie auch in der Ausrottung der Landräuber, tötete einen der schlimmsten dieser Raubherren, den Herrn von Derbe und Laranda im südlichen Lykaonien Antipatros, baute in Isauria sich seine Residenz und schlug die Pisidier nicht bloß hinaus aus dem angrenzenden phrygischen Gebiet, sondern fiel in ihr eigenes Land ein und nahm im Herzen desselben Kremna. Aber nach einigen Jahren (729 d. St. [25 v.Chr.]) verlor er das Leben auf einem Zug gegen einen der westkilikischen Stämme, die Homonadenser; nachdem er die meisten Ortschaften genommen hatte und ihr Fürst gefallen war, kam er um durch einen von dessen Gattin gegen ihn gerichteten Anschlag. Nach dieser Katastrophe übernahm Augustus selbst das schwere Geschäft der Pazifikation des inneren Kleinasiens. Wenn er dabei, wie schon bemerkt ward, das kleine pamphylische Küstenland einem eigenen Statthalter zuwies und es von Galatien trennte, so ist dies offenbar deswegen geschehen, weil das zwischen der Küste und der galatisch-lykaonischen Steppe liegende Gebirgsland so wenig botmäßig war, daß die Verwaltung des Küstengebietes nicht füglich von Galatien aus geführt werden konnte. Römische Truppen wurden nach Galatien nicht gelegt; doch wird das Aufgebot der kriegerischen Galater mehr zu bedeuten gehabt haben als bei den meisten Provinzialen. Auch hatten, da das westliche Kilikien damals unter Kappadokien gelegt ward, die Truppen dieses Lehnsfürsten sich an der Arbeit zu beteiligen. Die Züchtigung zunächst der Homonadenser führte die syrische Armee aus; der Statthalter Publius Sulpicius Quirinius rückte einige Jahre später in ihr Gebiet, schnitt ihnen die Zufuhr ab und zwang sie, sich in Masse zu unterwerfen, worauf sie in die umliegenden Ortschaften verteilt und ihr ehemaliges Gebiet wüst gelegt wurde. Ähnliche Züchtigungen erfuhren in den J. 36 und 52 die Kliten, ein anderer in dem westlichen Kilikien näher an der Küste sitzender Stamm; da sie dem von Rom ihnen gesetzten Lehnsfürsten den Gehorsam verweigerten und das Land wie die See brandschatzten und da die sogenannten Landesherren mit ihnen nicht fertig werden konnten, kamen beide Male die Reichstruppen aus Syrien herbei, um sie zu unterwerfen. Diese Nachrichten haben sich zufällig erhalten; sicher sind zahlreiche ähnliche Vorgänge verschollen. – Aber auch im Wege der Besiedlung griff Augustus die Pazifikation dieser Landschaft an. Die hellenistischen Regierungen hatten dieselbe zuzusagen isoliert, nicht bloß an der Küste überall Fuß behalten oder gefaßt, sondern auch im Nordwesten eine Reihe von Städten gegründet, an der phrygischen Grenze Apollonia angeblich von Alexander selbst angelegt, Seleukeia Siderus und Antiocheia, beide aus der Seleukidenzeit, ferner in Lykaonien Laodikeia Katakekaumene und die wohl auch in der gleichen Zeit entstandene Hauptstadt dieser Landschaft Ikonion. Aber in dem eigentlichen Bergland findet sich keine Spur hellenistischer Niederlassung; und noch weniger hat der römische Senat sich an diese schwierige Aufgabe gemacht. Augustus tat es; hier, und nur hier im ganzen griechischen Osten, begegnet eine Reihe von Kolonien römischer Veteranen, offenbar bestimmt, dieses Gebiet der friedlichen Ansiedlung zu erobern. Von den ebengenannten älteren Ansiedlungen wurde Antiocheia mit Veteranen belegt und römisch reorganisiert, neu angelegt in Lykaonien Parlais und Lystra, in Pisidien selbst das schon genannte Kremna sowie weiter südlich Olbasa und Komama. Die späteren Regierungen setzten die begonnene Arbeit nicht mit gleicher Energie fort; doch wurde unter Claudius das eiserne Seleukeia Pisidiens zum claudischen gemacht, ferner im westkilikischen Binnenland Claudiopolis und nicht weit davon, vielleicht gleichzeitig, Germanicopolis ins Leben gerufen, auch Ikonion, in Augustus‘ Zeit ein kleiner Ort, zu bedeutender Entwicklung gebracht. Die neugegründeten Städte blieben freilich unbedeutende, schränkten aber doch den Spielraum der freien Gebirgsbewohner in namhafter Weise ein, und der Landfriede muß endlich auch hier seinen Einzug gehalten haben. Sowohl die Ebene und die Bergterrassen Pamphyliens wie die Bergstädte Pisidiens selbst, zum Beispiel Selge und Sagalassos, waren während der Kaiserzeit gut bevölkert und das Gebiet sorgfältig angebaut; die Reste mächtiger Wasserleitungen und auffallend großer Theater, sämtlich Anlagen aus der römischen Kaiserzeit, zeigen zwar nur handwerksmäßige Technik, aber Spuren eines reich entwickelten friedlichen Gedeihens. Ganz freilich ward die Regierung des Raubwesens in diesen Landschaften niemals Herr, und wenn in der früheren Kaiserzeit die Heimsuchungen sich in mäßigen Grenzen hielten, traten die Banden hier in den Wirren des 3. Jahrhunderts abermals als kriegführende Macht auf. Sie gehen jetzt unter dem Namen der Isaurer und haben ihren hauptsächlichen Sitz in den Gebirgen Kilikiens, von wo aus sie Land und Meer brandschatzen. Erwähnt werden sie zuerst unter Severus Alexander. Daß sie unter Gallienus ihren Räuberhauptmann zum Kaiser ausgerufen haben, wird eine Fabel sein; aber allerdings wurde unter Kaiser Probus ein solcher namens Lydios, der lange Zeit Lykien und Pamphylien geplündert hatte, in der römischen Kolonie Kremna, die er besetzt hatte, nach langer hartnäckiger Belagerung durch eine römische Armee bezwungen. In späterer Zeit finden wir um ihr Gebiet einen Militärkordon gezogen und einen eigenen kommandierenden General für die Isaurer bestellt. Ihre wilde Tapferkeit hat sogar denen von ihnen, welche bei dem byzantinischen Hof Dienste nehmen mochten, eine Zeitlang eine Stellung daselbst verschafft, wie die Makedonier sie am Hofe der Ptolemäer besessen hatten; ja einer aus ihrer Mitte, Zenon, ist als Kaiser von Byzanz gestorben.

Die Landschaft Galatien endlich, in ferner Zeit die Hauptstätte der orientalischen Herrschaft über Vorderasien und in den berühmten Felsskulpturen des heutigen Boghazköi, einst der Königsstadt Pteria, die Erinnerungen einer fast verschollenen Herrlichkeit bewahrend, war im Laufe der Jahrhunderte in Sprache und Sitte eine keltische Insel inmitten der Fluten der Ostvölker geworden und ist dies in der inneren Organisation auch in der Kaiserzeit geblieben. Die drei keltischen Völkerschaften, welche bei der großen Wanderung der Nation um die Zeit des Krieges zwischen Pyrrhos und den Römern in das innere Kleinasien gelangt waren und hier, wie im Mittelalter die Franken im Orient, zu einem festgegliederten Soldatenstaat sich zusammengeschlossen und nach längerem Schweifen dies- und jenseits des Halys ihre definitiven Sitze genommen hatten, hatten längst die Zeiten hinter sich, wo sie von dort aus Kleinasien brandschatzten und mit den Königen von Asia und Pergamon im Kampfe lagen, falls sie nicht als Söldner ihnen dienten; auch sie waren an der Übermacht der Römer zerschellt und ihnen in Asien nicht minder botmäßig geworden wie ihre Landsleute im Potal und an der Rhone und Seine. Aber trotz ihres mehrhundertjährigen Verweilens in Kleinasien trennte immer noch eine tiefe Kluft diese Okzidentalen von den Asiaten. Es war nicht bloß, daß sie ihre Landessprache und ihre Volksart festhielten, daß immer noch die drei Gaue jeder von seinen vier Erbfürsten regiert wurden und die von allen gemeinschaftlich beschickte Bundesversammlung in dem heiligen Eichenhain als höchste Behörde dem galatischen Lande vorstand, auch nicht, daß die ungebändigte Roheit wie die kriegerische Tüchtigkeit sie von Nachbarn zum Nachteil wie zum Vorteil unterschied; dergleichen Gegensätze zwischen Kultur und Barbarei gab es in Kleinasien auch sonst, und die oberflächliche und äußere Hellenisierung, wie die Nachbarschaft, die Handelsbeziehungen, der von den Einwanderern übernommene phrygische Kultus, das Söldnertum sie im Gefolge hatten, wird in Galatien nicht viel später eingetreten sein als zum Beispiel in dem benachbarten Kappadokien. Der Gegensatz ist anderer Art: die keltische und die hellenische Invasion haben in Kleinasien konkurriert und zu dem nationalen Gegensatz ist der Stachel der rivalisierenden Eroberung hinzugetreten. Scharf trat dies zutage in der mithradatischen Krise: dem Mordbefehl des Mithradates gegen die Italiker ging zur Seite die Niedermetzelung des gesamten galatischen Adels und dementsprechend haben in den Kriegen gegen den orientalischen Befreier der Hellenen die Römer keinen treueren Bundesgenossen gehabt als die Galater Kleinasiens. Darum war der Erfolg der Römer auch der ihrige und gab der Sieg ihnen in den Angelegenheiten Kleinasiens eine Zeitlang eine führende Stellung. Das alte Vierfürstentum wurde, es scheint durch Pompeius, abgeschafft. Einer der neuen Gaufürsten, der in den mithradatischen Kriegen sich am meisten bewährt hatte, Deiotarus, brachte außer seinem eigenen Gebiete Kleinarmenien und andere Stücke des ehemaligen mithradatischen Reiches an sich und ward auch den übrigen galatischen Fürsten ein unbequemer Nachbar und der mächtigste unter den kleinasiatischen Dynasten. Nach dem Siege Cäsars, dem er feindlich gegenüber gestanden hatte, und den er auch durch die gegen Pharnakes geleistete Hilfe nicht für sich zu gewinnen vermochte, wurden ihm die mit oder ohne Einwilligung der römischen Regierung gewonnenen Besitzungen größtenteils wieder entzogen; der Cäsarianer Mithradates von Pergamon, welcher von mütterlicher Seite dem galatischen Königshaus entsprossen war, erhielt das meiste von dem, was Deiotarus verlor und wurde ihm sogar in Galatien selbst an die Seite gestellt. Aber nachdem dieser kurz darauf im taurischen Chersones sein Ende gefunden hatte und auch Cäsar selbst nicht lange nachher ermordet worden war, setzte Deiotarus sich ungeheißen wieder in den Besitz des Verlorenen, und da er der jedesmal im Orient vorherrschenden römischen Partei sich ebenso zu fügen verstand wie sie rechtzeitig zu wechseln, starb er hochbejahrt im J. 714 (40 v. Chr.) als Herr von ganz Galatien. Seine Nachkommen wurden mit einer kleinen Herrschaft in Paphlagonien abgefunden; sein Reich, noch erweitert gegen Süden hin durch Lykaonien und alles Land bis zur pamphylischen Küste, kam, wie schon gesagt ward, im J. 718 (36 v. Chr.) durch Antonius an Amyntas, welcher schon in Deiotarus‘ letzten Jahren als dessen Sekretär und Feldherr das Regiment geführt zu haben scheint und als solcher vor der Schlacht von Philippi den Übergang von den republikanischen Feldherrn zu den Triumvirn bewirkt hatte. Seine weiteren Schicksale sind schon erzählt. An Klugheit und Tapferkeit seinem Vorgänger ebenbürtig, diente er erst dem Antonius, dann dem Augustus als hauptsächliches Werkzeug für die Pazifikation des noch nicht untertänigen kleinasiatischen Gebietes, bis er hier im J. 729 (25 v. Chr.) seinen Tod fand. Mit ihm endigte das galatische Königtum und verwandelte sich dasselbe in die römische Provinz Galatien. – Gallogräker heißen die Bewohner desselben bei den Römern schon in der letzten Zeit der Republik; sie sind, fügt Livius hinzu, ein Mischvolk, wie sie heißen, und aus der Art geschlagen. Auch mußte ein guter Teil derselben von den älteren phrygischen Bewohnern dieser Landschaften abstammen. Mehr noch fällt ins Gewicht, daß die eifrige Götterverehrung in Galatien und das dortige Priestertum mit den sakralen Institutionen der europäischen Kelten nichts gemein hat; nicht bloß die große Mutter, deren heiliges Symbol die Römer der hannibalischen Zeit von den Tolistobogiern erbaten und empfingen, ist phrygischer Art, sondern auch deren Priester gehörten zum Teil wenigstens dem galatischen Adel an. Dennoch war noch in der römischen Provinz in Galatien die innere Ordnung überwiegend die keltische. Daß noch unter Pius in Galatien die dem hellenischen Recht fremde strenge väterliche Gewalt bestand, ist ein Beweis dafür aus dem Kreise des Privatrechtes. Auch in den öffentlichen Verhältnissen gab es in dieser Landschaft immer noch nur die drei alten Gemeinden der Tektosagen, der Tolistobogier, der Trokmer, die wohl ihren Namen die der drei Hauptörter Ankyra, Pessinus und Tauion beisetzen, aber wesentlich doch nichts sind als die wohlbekannten gallischen Gaue, die des Hauptortes ja auch nicht entbehren. Wenn bei den Kelten Asiens die Auffassung der Gemeinde als Stadt früher als bei den europäischen das Übergewicht gewinnt und der Name Ankyra rascher den der Tectosagen verdrängt als in Europa der Name Burdigala den der Bituriger, dort Ankyra sogar als Vorort der gesammten Landschaft sich die »Mutterstadt« (μητροπολισ) nennt, so zeigt dies allerdings, wie das ja auch nicht anders sein konnte, die Einwirkung der griechischen Nachbarschaft und den beginnenden Assimilationsprozeß, dessen einzelne Phasen zu verfolgen die uns gebliebene oberflächliche Kunde nicht gestattet. Die keltischen Namen halten sich bis in die Zeit des Tiberius, nachher erscheinen sie nur vereinzelt in den vornehmen Häusern. Daß die Römer seit Einrichtung der Provinz wie in Gallien nur die lateinische, so in Galatien neben dieser nur die griechische Sprache im Geschäftsverkehr zuließen, versteht sich von selbst. Wie es früher damit gehalten ward, wissen wir nicht, da vorrömische Schriftmaler in dieser Landschaft überhaupt nicht begegnen. Als Umgangssprache hat die keltische sich auch in Asien mit Zähigkeit behauptet; doch gewann allmählich das Griechische die Oberhand. Im 4. Jahrhundert war Ankyra eines der Hauptzentren der griechischen Bildung; »die kleinen Städte in dem griechischen Galatien«, sagt der bei Vorträgen für das gebildete Publikum grau gewordene Literat Themistios, »können sich ja freilich mit Antiocheia nicht messen; aber die Leute eignen die Bildung sich eifriger an als die richtigen Hellenen, und wo sich der Philosophenmantel zeigt, hängen sie an ihm wie das Eisen am Magnet.« Dennoch mag bis in eben diese Zeit namentlich jenseits des Halys bei den offenbar viel später hellenisierten Trokmern sich in den niederen Kreisen die Volkssprache gehalten haben. Es ist schon erwähnt worden, daß nach dem Zeugnis des vielgewanderten Kirchenvaters Hieronymus noch am Ende des 4. Jahrhunderts der asiatische Galater die gleiche, wenn auch verdorbene Sprache redete, welche damals in Trier gesprochen ward. Daß als Soldaten die Galater, wenn sie auch, mit den Okzidentalen keinen Vergleich aushielten, doch weit brauchbarer waren als die griechischen Asiaten, dafür zeugt sowohl die Legion, welche König Deiotarus aus seinen Untertanen nach römischem Muster aufgestellt hatte und die Augustus mit dem Reiche übernahm und in die römische Armee unter dem bisherigen Namen einreihte, wie auch daß bei der orientalischen Rekrutierung der Kaiserzeit die Galater ebenso vorzugsweise herangezogen wurden wie im Okzident die Bataver.

Den außereuropäischen Hellenen gehören ferner noch die beiden großen Eilande des östlichen Mittelmeers Kreta und Kypros an sowie die zahlreichen des Inselmeeres zwischen Griechenland und Kleinasien; auch die kyrenäische Pentapolis an der gegenüberliegenden afrikanischen Küste ist durch die umliegende Wüste von dem Binnenlande so geschieden, daß sie jenen griechischen Inseln einigermaßen gleichgestellt werden kann. Indes der allgemeinen geschichtlichen Auffassung fügen diese Elemente der ungeheuren unter dem Szepter der Kaiser vereinigten Ländermasse wesentlich neue Züge nicht hinzu. Die kleineren Inseln, früher und vollständiger hellenisiert als der Kontinent, gehören ihrem Wesen nach mehr zum europäischen Griechenland als zum kleinasiatischen Kolonialgebiet; wie denn des hellenischen Musterstaates Rhodos bei jenem schon mehrfach gedacht worden ist. In dieser Epoche werden die Inseln hauptsächlich genannt, insofern es in der Kaiserzeit üblich ward, Männer aus den besseren Ständen zur Strafe nach denselben zu verbannen. Man wählte, wo der Fall besonders schwer war, die Klippen wie Gyaros und Donussa; aber auch Andros, Kythnos, Amorgos, einst blühende Zentren griechischer Kultur, waren jetzt Strafplätze, während in Lesbos und Samos nicht selten vornehme Römer und selbst Glieder des kaiserlichen Hauses freiwillig längeren Aufenthalt nahmen. Kreta und Kypros, deren alter Hellenismus unter der persischen Herrschaft oder auch in völliger Isolierung die Fühlung mit der Heimat verloren hatte, ordneten sich, Kypros als Dependenz Ägyptens, die kretischen Städte autonom, in der hellenistischen und später in der römischen Epoche nach den allgemeinen Formen der griechischen Politie. In den kyrenäischen Städten überwog das System der Lagiden; wir finden in ihnen nicht bloß, wie in den eigentlich griechischen, die hellenischen Bürger und Metöken, sondern es stehen neben beiden, wie in Alexandreia die Ägypter, die »Bauern«, das heißt die eingeborenen Afrikaner, und unter den Metöken bilden, wie ebenfalls in Alexandreia, die Juden eine zahlreiche und privilegierte Klasse.

Den Griechen insgemein hat auch das römische Kaiserregiment niemals eine Vertretung gewährt. Die augustische Amphiktionie beschränkte sich, wie wir sahen, auf die Hellenen in Achaia, Epirus und Makedonien. Wenn die hadrianischen Panhellenen in Athen sich als die Vertretung der sämtlichen Hellenen gerierten, so haben sie doch in die übrigen griechischen Provinzen nur insofern übergegriffen, als sie einzelnen Städten in Asia sozusagen das Ehren-Hellenentum dekretierten; und daß sie dies taten, zeigt erst recht, daß die auswärtigen Griechengemeinden in jene Panhellenen keineswegs einbegriffen sind. Wenn in Kleinasien von Vertretung oder Vertretern der Hellenen die Rede ist, so ist damit in den vollständig hellenisch geordneten Provinzen Asia und Bithynia der Landtag und der Landtagsvorsteher dieser Provinzen gemeint, insofern diese aus den Deputierten der zu einer jeden derselben gehörigen Städte hervorgehen und diese sämtlich griechische Politien sind; oder es werden in der nichtgriechischen Provinz Galatien die neben dem galatischen Landtag stehenden Vertreter der in Galatien verweilenden Griechen als Griechenvorsteher bezeichnet.

Der städtischen Konföderation hatte die römische Regierung in Kleinasien keine Veranlassung, besondere Hindernisse entgegenzustellen. In römischer wie in vorrömischer Zeit haben neun Städte der Troas gemeinschaftlich religiöse Verrichtungen vollzogen und gemeinschaftliche Feste gefeiert. Die Landtage der verschiedenen kleinasiatischen Provinzen, welche hier wie in dem gesamten Reich als feste Einrichtung von Augustus ins Leben gerufen sein werden, sind von denen der übrigen Provinzen an sich nicht verschieden. Doch hat diese Institution sich hier in eigenartiger Weise entwickelt oder vielmehr denaturiert. Mit dem nächsten Zweck dieser Jahresversammlungen der städtischen Deputierten einer jeden Provinz die Wünsche derselben dem Statthalter oder der Regierung zur Kenntnis zu bringen und überhaupt als Organ dieser Provinz zu dienen, verband sich hier zuerst die jährliche Festfeier für den regierenden Kaiser und das Kaisertum überhaupt: Augustus gestattete im J. 725 (29 v. Chr.) den Landtagen von Asia und Bithynien, an ihren Versammlungsorten Pergamon und Nikomedeia ihm Tempel zu errichten und göttliche Ehre zu erweisen. Diese neue Einrichtung dehnte sich bald auf das ganze Reich aus, und die Verschmelzung der sakralen Institution mit der administrativen wurde ein leitender Gedanke der provinzialen Organisation der Kaiserzeit. Aber in Priester- und Festpomp und städtischen Rivalitäten hat diese Einrichtung doch nirgends sich so entwickelt wie in der Provinz Asia und analog in den übrigen kleinasiatischen Provinzen und nirgends also neben und über die munizipale sich eine provinziale Ambition mehr noch der Städte als der Individuen gestellt, wie sie in Kleinasien das gesamte öffentliche Leben beherrscht. Der von Jahr zu Jahr in der Provinz bestellte Hohepriester άρχιερεύς (archiereus) des neuen Tempels ist nicht bloß der vornehmste Würdenträger der Provinz, sondern es wird auch in der ganzen Provinz das Jahr nach ihm bezeichnet. Das Fest- und Spielwesen nach dem Muster der olympischen Feier, welches bei den Hellenen allen, wie wir sahen, mehr und mehr um sich griff, knüpfte in Kleinasien überwiegend an die Feste und Spiele des provinzialen Kaiserkultus an. Die Leitung derselben fiel dem Landtagspräsidenten, in Asia dem Asiarchen, in Bithynien dem Bithyniarchen und so weiter zu, und nicht minder trug er hauptsächlich die Kosten des Jahrfestes, obwohl ein Teil derselben, wie die übrigen dieses so glänzenden wie loyalen Gottesdienstes, durch freiwillige Gaben und Stiftungen gedeckt oder auch auf die einzelnen Städte repartiert wurden. Daher waren diese Präsidenturen nur reichen Leuten zugänglich; die Wohlhabenheit der Stadt Tralleis wird dadurch bezeichnet, daß an Asiarchen – der Titel blieb auch nach Ablauf des Amtjahres – es nie daselbst fehle, die Geltung des Apostels Paulus in Ephesos durch seine Verbindung mit verschiedenen dortigen Asiarchen. Trotz der Kosten war dies eine viel umworbene Ehrenstellung, nicht wegen der daran geknüpften Privilegien, zum Beispiel der Befreiung von der Vormundschaft, sondern wegen ihres äußeren Glanzes; der festliche Einzug in die Stadt, im Purpurgewand und den Kranz auf dem Haupt, unter Vortritt der das Rauchfaß schwingenden Prozessionsknaben, war im Horizont der Kleinasiaten, was bei den Hellenen der Ölzweig von Olympia. Mehrfach rühmt sich dieser oder jener vornehme Asiate nicht bloß selber Asiarch gewesen zu sein, sondern auch von Asiarchen abzustammen. Wenn sich dieser Kultus anfänglich auf die Provinzialhauptstädte beschränkte, so sprengte die munizipale Ambition, die namentlich in der Provinz Asia unglaubliche Verhältnisse annahm, sehr bald diese Schranken. Hier wurde schon im J. 23 dem damals regierenden Kaiser Tiberius sowie seiner Mutter und dem Senat ein zweiter Tempel von der Provinz dekretiert und nach langem Hader der Städte durch Beschluß des Senats in Smyrna errichtet. Die anderen größeren Städte folgten bei späteren Gelegenheiten nach. Hatte bis dahin die Provinz wie nur einen Tempel, so auch nur einen Vorsteher und einen Oberpriester gehabt, so mußten jetzt nicht bloß so viele Oberpriester bestellt werden, als es Provinzialtempel gab, sondern es wurden auch, da die Leitung des Tempelfestes und die Ausrichtung der Spiele nicht dem Oberpriester, sondern dem Landesvorsteher zustand und es den rivalisierenden Großstädten hauptsächlich um die Feste und Spiele zu tun war, sämtlichen Oberpriestern zugleich der Titel und das Recht der Vorsteherschaft gegeben, so daß wenigstens in Asia die Asiarchie und das Oberpriestertum der Provinzialtempel zusammenfielen. Damit traten der Landtag und die bürgerlichen Geschäfte, von welchen die Institution ihren Ausgang genommen hatte, in den Hintergrund; der Asiarch war bald nichts mehr als der Ausrichter eines an die göttliche Verehrung der gewesenen und des gegenwärtigen Kaisers angeknüpften Volksfestes, weshalb denn auch die Gemahlin desselben, die Asiarchin, sich an der Feier beteiligen durfte und eifrig beteiligte.

Auch eine praktische und in Kleinasien durch das hohe Ansehen dieser Institution gesteigerte Bedeutung mag das provinziale Oberpriestertum für den Kaiserkultus gehabt haben durch die damit verknüpfte religiöse Oberaufsicht. Nachdem der Landtag den Kaiserkultus einmal beschlossen und die Regierung eingewilligt hatte, folgten selbstverständlich die städtischen Vertretungen nach; in Asia hatten bereits unter Augustus wenigstens alle Vororte der Gerichtssprengel ihr Cäsareum und ihr Kaiserfest. Recht und Pflicht des Oberpriesters war es, in seinem Sprengel die Ausführung dieser provinzialen und munizipalen Dekrete und die Übung des Kultus zu überwachen; was dies zu bedeuten hatte, erläutert die Tatsache, daß der freien Stadt Kyzikos in Asia unter Tiberius die Autonomie unter anderem auch darum aberkannt ward, weil sie den dekretierten Bau des Tempels des Gottes Augustus hatte liegen lassen – vielleicht eben, weil sie als freie Stadt nicht unter dem Landtag stand. Wahrscheinlich hat sogar diese Oberaufsicht, obwohl sie zunächst dem Kaiserkultus galt, sich auf die Religionsangelegenheiten überhaupt erstreckt. Als dann der alte und der neue Glaube im Reiche um die Herrschaft zu ringen begannen, ist deren Gegensatz wohl zunächst durch das provinziale Oberpriestertum zum Konflikt geworden. Diese aus den vornehmen Provinzialen von dem Landtag der Provinz bestellten Priester waren durch ihre Traditionen wie durch ihre Amtspflichten weit mehr als die Reichsbeamten berufen und geneigt, auf Vernachlässigung des anerkannten Gottesdienstes zu achten und, wo Abmahnung nicht half, da sie selber eine Strafgewalt nicht hatten, die nach bürgerlichem Recht strafbare Handlung bei den Orts- oder den Reichsbehörden zur Anzeige zu bringen und den weltlichen Arm zu Hilfe zu rufen, vor allem den Christen gegenüber die Forderungen des Kaiserkultus geltend zu machen. In der späteren Zeit schreiben die altgläubigen Regenten diesen Oberpriestern sogar ausdrücklich vor, selbst und durch die ihnen unterstellten städtischen Priester die Kontraventionen gegen die bestehende Glaubensordnung zu ahnden und weisen denselben genau die Rolle zu, welche unter den Kaisern des neuen Glaubens der Metropolit und seine städtischen Bischöfe einnehmen. Wahrscheinlich hat hier nicht die heidnische Ordnung die christlichen Institutionen kopiert, sondern umgekehrt die siegende christliche Kirche ihr hierarchisches Rüstzeug dem feindlichen Arsenal entnommen. Alles dies galt, wie bemerkt, für das ganze Reich; aber die sehr praktischen Konsequenzen der provinzialen Regulierung des Kaiserkultus, die religiöse Aufsichtführung und die Verfolgung der Andersgläubigen, sind vorzugsweise in Kleinasien gezogen worden.

Neben dem Kaiserkultus fand auch die eigentliche Gottesverehrung in Kleinasien in bevorzugter Weise ihre Statt und namentlich alle ihre Auswüchse eine Freistatt. Das Unwesen der Asyle und der Wunderkuren hatte ganz besonders hier seinen Sitz. Unter Tiberius wurde die Beschränkung der ersteren vom römischen Senat angeordnet; der Heilgott Asklepios tat nirgends mehr und größere Wunder als in seiner vielgeliebten Stadt Pergamon, die ihn geradezu als Zeus Asklepios verehrte und ihre Blüte in der Kaiserzeit zum guten Teil ihm verdankte. Die wirksamsten Wundertäter der Kaiserzeit, der später kanonisierte Kappadokier Apollonios von Tyana, sowie der paphlagonische Drachenmann Alexandras von Abonuteichos sind Kleinasiaten. Wenn das allgemeine Verbot der Assoziationen, wie wir sehen werden, in Kleinasien mit besonderer Strenge durchgeführt ward, so wird die Ursache wohl hauptsächlich in den religiösen Verhältnissen zu suchen sein, die den Mißbrauch solcher Vereinigungen dort besonders nahelegten.

Die öffentliche Sicherheit ruhte im wesentlichen auf dem Lande selbst. In der früheren Kaiserzeit stand, abgesehen von dem das östliche Kilikien einschließenden syrischen Kommando, in ganz Kleinasien nur ein Detachement von 5000 Mann Auxiliartruppen, die in der Provinz Galatien garnisonierten, nebst einer Flotte von 40 Schiffen; es war dies Kommando bestimmt, teils die unruhigen Pisidier niederzuhalten, teils die nordöstliche Reichsgrenze zu decken und die Küste des Schwarzen Meeres bis zur Krim unter Aufsicht zu halten. Vespasian brachte diese Truppe auf den Stand eines Armeekorps von zwei Legionen und legte deren Stäbe in die Provinz Kappadokien an den oberen Euphrat. Außer diesen für die Grenzhut bestimmten Mannschaften gab es damals namhafte Garnisonen in Vorderasien nicht; in der kaiserlichen Provinz Lykien und Pamphylien zum Beispiel stand eine einzige Kohorte von 500 Mann, in den senatorischen Provinzen höchstens einzelne aus der kaiserlichen Garde oder aus den benachbarten Kaiserprovinzen zu speziellen Zwecken abkommandierte Soldaten. Wenn dies einerseits für den inneren Frieden dieser Provinzen auf das nachdrücklichste zeugt und den ungeheuren Abstand der kleinasiatischen Bürgerschaften von den ewig unruhigen Hauptstädten Syriens und Ägyptens deutlich vor Augen führt, so erklärt es andererseits die schon in anderer Verbindung hervorgehobene Stabilität des Räuberwesens in dem durchaus gebirgigen und im Innern zum Teil öden Lande, namentlich an der mysisch-bithynischen Grenze und in den Bergtälern Pisidiens und Isauriens. Eigentliche Bürgerwehren gab es in Kleinasien nicht. Trotz des Florierens der Turnanstalten für Knaben, Jünglinge und Männer blieben die Hellenen dieser Zeit in Asia so unkriegerisch wie in Europa. Man beschränkte sich darauf, für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit städtische Eirenarchen, Friedensmeister zu kreieren und ihnen eine Anzahl zum Teil berittener städtischer Gensdarmen zur Verfügung zu stellen, gedungene Mannschaften von geringem Ansehen, welche aber doch brauchbar gewesen sein müssen, da Kaiser Marcus es nicht verschmähte, bei dem bitteren Mangel an gedienten Leuten während des Markomannenkrieges diese kleinasiatischen Stadtsoldaten in die Reichstruppen einzureihen.

Die Justizpflege sowohl der städtischen Behörden wie der Statthalter ließ auch in dieser Epoche vieles zu wünschen übrig; doch bezeichnet das Eintreten der Kaiserherrschaft darin eine Wendung zum Besseren. Das Eingreifen der Reichsgewalt hatte unter der Republik sich auf die strafrechtliche Kontrolle der Reichsbeamten beschränkt und diese besonders in späterer Zeit schwächlich und parteiisch geübt oder vielmehr nicht geübt. Jetzt wurden nicht bloß in Rom die Zügel schärfer angezogen, indem die strenge Beaufsichtigung der eigenen Beamten von dem einheitlichen Militärregiment unzertrennlich war und auch der Reichssenat zu schärferer Überwachung der Amtspflege seiner Mandatare veranlaßt wurde, sondern es wurde jetzt möglich, die Mißgriffe der Provinzialgerichte im Wege der neu eingeführten Appellation zu beseitigen oder auch, wo unparteiisches Gericht in der Provinz nicht erwartet werden konnte, den Prozeß nach Rom vor das Kaisergericht zu ziehen. Beides kam auch den senatorischen Provinzen zugute und ist allem Anschein nach überwiegend als Wohltat empfunden worden.

Wie bei den Hellenen Europas, so ist in Kleinasien die römische Provinz wesentlich ein Komplex städtischer Gemeinden. Wie in Hellas werden auch hier die überkommenen Formen der demokratischen Politie im allgemeinen festgehalten, die Beamten zum Beispiel auch ferner von den Bürgerschaften gewählt, überall aber wird der bestimmende Einfluß in die Hände der Begüterten gelegt und dem Belieben der Menge sowie dem ernstlichen politischen Ehrgeiz kein Spielraum gestattet. Unter den Beschränkungen der munizipalen Autonomie ist den kleinasiatischen Städten eigentümlich, daß den schon erwähnten Eirenarchen, den städtischen Polizeimeister, späterhin der Statthalter aus einer von dem Rat der Stadt aufgestellten Liste von zehn Persopen ernannte. Die Regierungskuratel der städtischen Finanzverwaltung, die kaiserliche Bestellung eines nicht der Stadt selbst angehörigen Vermögenspflegers ( curator rei publicae, λογιοτησ), dessen Konsens die städtischen Behörden bei wichtigeren Vermögenshandlungen einzuholen haben, ist niemals allgemein, sondern nach Bedürfnis für diese oder jene Stadt angeordnet worden, in Kleinasien aber entsprechend der Bedeutung seiner städtischen Entwicklung besonders früh, das heißt seit dem Anfang des 2. Jahrhunderts, und besonders umfassend eingetreten. Wenigstens im 3. Jahrhundert mußten auch hier wie anderswo sonstige wichtige Beschlüsse der Gemeindeverwaltung dem Statthalter zur Bestätigung unterbreitet werden. Uniformierung der Gemeindeverfassung hat die römische Regierung nirgends und am wenigstens in den hellenischen Landschaften durchgeführt; auch in Kleinasien herrschte darin große Mannigfaltigkeit und vermutlich vielfach das Belieben der einzelnen Bürgerschaften, obwohl für die derselben Provinz angehörigen Gemeinden das eine jede Provinz organisierende Gesetz allgemeine Normen vorschrieb. Was der Art von Institutionen als in Kleinasien verbreitet und vorherrschend diesem Landesteil eigentümlich angesehen werden kann, trägt keinen politischen Charakter, sondern ist nur etwa für die sozialen Verhältnisse bezeichnend, wie die über ganz Kleinasien verbreiteten Verbände teils der älteren, teils der jüngeren Bürger, die Gerusia und die Neoi, Ressourcen für die beiden Altersklassen mit entsprechenden Turnplätzen und Festen. Autonome Gemeinden gab es in Kleinasien von Haus aus bei weitem weniger als in dem eigentlichen Hellas und namentlich die bedeutendsten kleinasiatischen Städte haben diese zweifelhafte Auszeichnung niemals gehabt oder doch früh verloren, wie Kyzikos unter Tiberius, Samos durch Vespasian. Kleinasien war eben altes Untertanengebiet und unter den persischen wie unter den hellenischen Herrschern an monarchische Ordnung gewöhnt; weniger als in Hellas führte hier unnützes Erinnern und unklares Hoffen hinaus über den beschränkten munizipalen Horizont der Gegenwart und nicht vieles der Art störte den friedlichen Genuß des unter den bestehenden Verhältnissen möglichen Lebensglückes.

Solchen Lebensglückes gab es in Kleinasien unter dem römischen Kaiserregiment die Fülle. »Keine Provinz von allen«, sagt ein in Smyrna unter den Antoninen lebender Schriftsteller, »hat so viele Städte aufzuweisen wie die unsrige und keine solche wie unsere größten. Ihr kommen zugute die reizende Gegend, die Gunst des Klimas, die mannigfaltigen Produkte, die Lage im Mittelpunkt des Reiches, ein Kranz ringsum befriedeter Völker, die gute Ordnung, die Seltenheit der Verbrechen, die milde Behandlung der Sklaven, die Rücksicht und das Wohlwollen der Herrscher.« Asia hieß, wie schon gesagt ward, die Provinz der fünfhundert Städte, und wenn das wasserlose zum Teil nur zur Weide geeignete Binnenland Phrygiens, Lykaoniens, Galatiens, Kappadokiens auch in jener Zeit nur dünn bevölkert war, stand die übrige Küste hinter Asia nicht weit zurück. Die dauernde Blüte der kulturfähigen Landschaften Kleinasiens erstreckt sich nicht bloß auf die Städte glänzenden Namens, wie Ephesos, Smyrna, Laodikeia, Apameia; wo immer ein von der Verwüstung der anderthalb Jahrtausende, die uns von jener Zeit trennen, vergessener Winkel des Landes sich der Forschung erschließt, da ist das erste und das mächtigste Gefühl das Entsetzen, fast möchte man sagen die Scham über den Kontrast der elenden und jammervollen Gegenwart mit dem Glück und dem Glanz der vergangenen Römerzeit.

Auf einer abgelegenen Bergspitze unweit der lykischen Küste, da wo nach der griechischen Fabel die Chimära hauste, lag das alte Kragos, wahrscheinlich nur aus Balken und Lehmziegeln gebaut und darum spurlos verschwunden bis auf die zyklopische Festungsmauer am Fuß des Hügels. Unter der Kuppe breitet ein anmutiges fruchtbares Tal sich aus, mit frischer Alpenluft und südlicher Vegetation, umgeben von wald- und wildreichen Bergen. Als unter Kaiser Claudius Lykien Provinz ward, verlegte die römische Regierung die Bergstadt, das »grüne Kragos« des Horaz, in diese Ebene; auf dem Marktplatz der neuen Stadt Sidyma stehen noch die Reste des viersäuligen dem Kaiser damals gewidmeten Tempels und einer stattlichen Säulenhalle, welche ein von dort gebürtiger als Arzt zu Vermögen gelangter Bürger in seiner Vaterstadt baute. Statuen der Kaiser und verdienter Mitbürger schmückten den Markt; es gab in der Stadt einen Tempel ihrer Schutzgötter, der Artemis und des Apollon, Bäder, Turnanstalten (γυμνάσια) für die ältere wie für die jüngere Bürgerschaft; von den Toren zogen sich an der Hauptstraße, die steil am Gebirge hinab nach dem Hafen Kalabatia führte, zu beiden Seiten Reihen hin von steinernen Grabmonumenten, stattlicher und kostbarer als die Pompeiis und großenteils noch aufrecht, während die vermutlich wie die der Altstadt aus vergänglichem Material gebauten Häuser verschwunden sind. Auf den Stand und die Art der einstmaligen Bewohner gestattet einen Schluß ein kürzlich dort aufgefundener wahrscheinlich unter Commodus gefaßter Gemeindebeschluß über die Konstituierung der Ressource für die älteren Bürger; dieselbe wurde zusammengesetzt aus hundert zur Hälfte dem Stadtrath, zur Hälfte der übrigen Bürgerschaft entnommenen Mitgliedern, darunter nicht mehr als drei Freigelassene und ein Bastardkind, alle übrigen in rechter Ehe erzeugt und zum Teil nachweislich alten und wohlhabenden Bürgerhäusern angehörig. Einzelne dieser Familien sind zum römischen Bürgerrecht gelangt, eine sogar in den Reichssenat. Aber auch im Ausland blieb dieses senatorische Haus sowohl wie verschiedene aus Sidyma gebürtige auswärts und selbst am kaiserlichen Hof beschäftigte Ärzte der Heimat eingedenk und mehrere derselben haben ihr Leben daselbst beschlossen; einer dieser angesehenen Stadtbürger hat in einem nicht gerade vortrefflichen, aber sehr gelehrten und sehr patriotischen Elaborat die Legenden der Stadt und die sie betreffenden Weissagungen zusammengefaßt und diese Memorabilien öffentlich aufstellen lassen. Dies Kragos-Sidyma stimmte auf dem Landtag der kleinen lykischen Provinz nicht unter den Städten erster Klasse, war ohne Theater, ohne Ehrentitel und ohne jene allgemeinen Feste, die in der damaligen Welt die Großstadt bezeichnen, auch nach der Auffassung der Alten eine kleine Provinzialstadt und durchaus eine Schöpfung der römischen Kaiserzeit. Aber im ganzen Vilajet Aidin ist heute kein Binnenort, der für zivilisierte Existenz auch nur entfernt diesem Bergstädtchen, wie es war, an die Seite gestellt werden könnte. Was in diesem abgeschiedenen Fleck noch heute lebendig vor Augen steht, das ist in einer ungezählten Menge anderer Städte unter der verwüstenden Menschenhand bis auf geringe Reste oder auch spurlos verschwunden. Einen gewissen Überblick dieser Fülle gewährt die den Städten in Kupfer freigegebene Münzprägung der Kaiserzeit: keine Provinz kann in der Zahl der Münzstätten und der Mannigfaltigkeit der Darstellungen sich auch nur von weitem mit Asia messen.

Freilich fehlt diesem Aufgehen aller Interessen in der heimatlichen Kleinstadt die Kehrseite so wenig in Kleinasien wie bei den europäischen Griechen. Was über deren Gemeindeverwaltung gesagt ist, gilt in der Hauptsache auch hier. Der städtischen Finanzwirtschaft, die sich ohne rechte Kontrolle weiß, fehlt Stetigkeit und Sparsamkeit und oft selbst die Ehrlichkeit; bei den Bauten werden bald die Kräfte der Stadt überschritten, bald auch das Nötigste unterlassen; die kleineren Bürger gewöhnen sich an die Spenden der Stadtkasse oder der vermögenden Leute, an das freie Öl in den Bädern, an Bürgerschmäuse und Volksbelustigungen aus fremder Tasche, die guten Häuser an die Klientel der Menge mit ihren demütigen Huldigungen, ihren Bettelintriguen, ihren Spaltungen; Rivalitäten bestehen wie zwischen Stadt und Stadt, so in jeder Stadt zwischen den einzelnen Kreisen und den einzelnen Häusern; die Bildung von Armenvereinen und von freiwilligen Feuerwehren, wie sie im Okzident überall bestanden, wagt die Regierung in Kleinasien nicht einzuführen, weil das Faktionswesen hier sich jeder Assoziation sofort bemächtigt. Der stille See wird leicht zum Sumpf und das Fehlen des großen Wellenschlags der allgemeinen Interessen ist auch in Kleinasien deutlich zu spüren.

Kleinasien, insbesondere Vorderasien, war eines der reichsten Gebiete des großen Römerstaates. Wohl hatte das Mißregiment der Republik, die dadurch hervorgerufenen Katastrophen der mithradatischen Zeit, dann das Piratenunwesen, endlich die vieljährigen Bürgerkriege, welche finanziell wenige Provinzen so schwer betroffen hatten wie diese, die Vermögensverhältnisse der Gemeinden und der Einzelnen daselbst so vollständig zerrüttet, daß Augustus zu dem äußersten Mittel der Niederschlagung aller Schuldforderungen griff; auch machten mit Ausnahme der Rhodier alle Asiaten von diesem gefährlichen Heilmittel Gebrauch. Aber das wieder eintretende Friedensregiment glich vieles aus. Nicht überall – die Inseln des Ägäischen Meeres zum Beispiel haben sich nie seitdem wieder erholt –, aber in den meisten Orten waren, schon als Augustus starb, die Wunden wie die Heilmittel vergessen, und in diesem Zustand blieb das Land drei Jahrhunderte bis auf die Epoche der Gotenkriege. Die Summen, zu welchen die Städte Kleinasiens angesetzt waren und die sie selbst, allerdings unter Kontrolle des Statthalters, zu repartieren und aufzubringen hatten, bildeten eine der bedeutendsten Einnahmequellen der Reichskasse. Wie die Steuerlast sich zu der Leistungsfähigkeit der Besteuerten verhielt, vermögen wir nicht zu konstatieren; eigentliche dauernde Überbürdung aber verträgt sich nicht mit den Zuständen, in denen wir das Land bis gegen die Mitte des 3. Jahrhunderts finden. Mehr vielleicht noch die Schlaffheit des Regiments als absichtliche Schonung mag die fiskalische Beschränkung des Verkehrs und die nicht bloß für den Besteuerten unbequeme Anziehung der Steuerschraube in Schranken gehalten haben. Bei großen Kalamitäten, namentlich bei den Erdbeben, welche unter Tiberius zwölf blühende Städte Asias, vor allem Sardes, unter Pius eine Anzahl karischer und lykischer und die Inseln Kos und Rhodos entsetzlich heimsuchten, trat die Privat- und vor allem die Reichshilfe mit großartiger Freigebigkeit ein und spendete den Kleinasiaten den vollen Segen des Großstaates, die Samtverbürgung aller für alle. Der Wegebau, den die Römer bei der ersten Einrichtung der Provinz Asia durch Manius Aquillius in Angriff genommen hatten, ist in der Kaiserzeit in Kleinasien nur da ernstlich gefördert worden, wo größere Besatzungen standen, namentlich in Kappadokien und dem benachbarten Galatien, seit Vespasian am mittleren Euphrat Legionslager eingerichtet hatte. In den übrigen Provinzen ist dafür nicht viel geschehen, zum Teil ohne Zweifel infolge der Schlaffheit des senatorischen Regiments; wo immer hier Wege von Staats wegen gebaut wurden, geschah es auf kaiserliche Anordnung. – Diese Blüte Kleinasiens ist nicht das Werk einer Regierung von überlegener Einsicht und energischer Tatkraft. Die politischen Einrichtungen, die gewerblichen und kommerziellen Anregungen, die literarische und künstlerische Initiative gehören in Kleinasien durchaus den alten Freistädten oder den Attaliden. Was die römische Regierung dem Lande gegeben hat, war wesentlich der dauernde Friedensstand und die Duldung des Wohlstandes im Innern, die Abwesenheit derjenigen Regierungsweisheit, die jedes gesunde Paar Arme und jedes ersparte Geldstück betrachtet als ihren unmittelbaren Zwecken von Rechts wegen verfallen – negative Tugenden keineswegs hervorragender Persönlichkeiten, aber oftmals dem gemeinen Gedeihen ersprießlicher als die Großtaten der selbstgesetzten Vormünder der Menschheit. Der Wohlstand Kleinasiens beruhte in schönem Gleichgewicht ebenso auf der Bodenkultur wie auf der Industrie und dem Handel. Die Gunst der Natur ist insbesondere den Küstenlandschaften in reichstem Maße zuteil geworden, und vielfach zeigt es sich, mit wie emsigem Fleiß auch unter schwierigeren Verhältnissen, zum Beispiel in dem felsigen Tal des Eurymedon in Pamphylien von den Bürgern von Selge, jedes irgend brauchbare Bodenstück ausgenutzt ward. Die Erzeugnisse der kleinasiatischen Industrie sind zu zahlreich und zu mannigfaltig, um bei den einzelnen zu verweilen; erwähnt mag werden, daß die ungeheuren Triften des Binnenlandes mit ihren Schaf- und Ziegenherden Kleinasien zum Hauptland der Wollindustrie und der Weberei überhaupt gemacht haben – es genügt zu erinnern an die milesische und die galatische, das ist die Angorawolle, die attalischen Goldstickereien, die nach nervischer, das heißt flandrischer Art in den Fabriken des phrygischen Laodikeia gefertigten Tuche. Daß in Ephesos fast ein Aufstand ausgebrochen wäre, weil die Goldschmiede von dem neuen Christenglauben Beschädigung ihres Absatzes von Heiligenbildern befürchteten, ist bekannt. In Philadelpheia, einer bedeutenden Stadt Lydiens, kennen wir von den sieben Quartieren die Namen zweier: es sind die der Wollenweber und der Schuster. Wahrscheinlich tritt hier zutage, was bei den übrigen Städten unter älteren und vornehmeren Namen sich versteckt, daß die bedeutenderen Städte Asias durchgängig nicht bloß eine Menge Handwerker, sondern auch eine zahlreiche Fabrikbevölkerung in sich schlossen. Der Geld- und Handelsverkehr ruhte in Kleinasien hauptsächlich auf der eigenen Produktion. Der große ausländische Import und Export Syriens und Ägyptens war hier in der Hauptsache ausgeschlossen, wenn auch aus den östlichen Ländern mancherlei Artikel, zum Beispiel durch die galatischen Händler eine beträchtliche Zahl von Sklaven nach Kleinasien eingeführt wurden. Aber wenn die römischen Kaufleute hier wie es scheint in jeder großen und kleinen Stadt, selbst in Orten wie Ilion und Assos in Mysien, Prymnessos und Traianupolis in Phrygien in solcher Zahl zu finden waren, daß ihre Vereine neben der Stadtbürgerschaft bei öffentlichen Akten sich zu beteiligen pflegen; wenn in Hierapolis im phrygischen Binnenland ein Fabrikant (ερλαστεσ) auf sein Grab schreiben ließ, daß er zweiundsiebzigmal in seinem Leben um Cap Malea nach Italien gefahren sei und ein römischer Dichter den Kaufmann der Hauptstadt schildert, welcher nach dem Hafen eilt, um den Geschäftsfreund aus dem nicht weit von Hierapolis entfernten Kibyra nicht in die Hände von Konkurrenten fallen zu lassen, so öffnet sich damit ein Einblick in ein reges gewerbliches und kaufmännisches Treiben nicht bloß in den Häfen. Von dem stetigen Verkehr mit Italien zeugt auch die Sprache; unter den in Kleinasien gangbar gewordenen lateinischen Wörtern rühren nicht wenige aus solchem Verkehr her, wie denn in Ephesos sogar die Gilde der Wollenweber sich lateinisch benennt. Lehrer aller Art und Ärzte kamen nach Italien und den übrigen Ländern lateinischer Zunge vorzugsweise von hier und gewannen nicht bloß oftmals bedeutendes Vermögen, sondern brachten dies auch in ihre Heimat zurück; unter denen, welchen die Städte Kleinasiens Bauwerke oder Stiftungen verdanken, nehmen die reich gewordenen Ärzte und Literaten einen hervorragenden Platz ein. Endlich die Auswanderung der großen Familien nach Italien hat Kleinasien weniger und später betroffen als den Okzident; aus Vienna und Narbo siedelte man leichter nach der Hauptstadt des Reiches über als aus den griechischen Städten und auch die Regierung war in früherer Zeit nicht eben geneigt, die vornehmen Munizipalen Kleinasiens an den Hof zu ziehen und sie in die römische Aristokratie einzuführen.

Wenn wir absehen von der wunderbaren Frühblüte, in welcher das ionische Epos und die äolische Lyrik, die Anfänge der Geschichtsschreibung und der Philosophie, der Plastik und der Malerei an diesen Gestaden keimten, so war in der Wissenschaft wie in der Kunstübung die große Zeit Kleinasiens die der Attaliden, welche die Erinnerung jener noch größeren Epoche treulich pflegte. Wenn Smyrna seinem Bürger Homeros göttliche Verehrung erwies, auch Münzen auf ihn schlug und nach ihm nannte, so drückt sich darin die Empfindung aus, die ganz Ionien und ganz Kleinasien beherrschte, daß die göttliche Kunst überhaupt in Hellas und im besonderen in Ionien auf die Erde niedergestiegen sei. Wie früh und in welchem Umfang für den Elementarunterricht in diesen Gegenden öffentlich gesorgt worden ist, veranschaulicht ein denselben betreffender Beschluß der Stadt Teos in Lydien. Danach soll, nachdem die Kapitalschenkung eines reichen Bürgers die Stadt dazu instand gesetzt hat, in Zukunft neben dem Turninspektor (γυμνασιάρχης) weiter das Ehrenamt eines Schulinspektors (παιδονόμος) eingerichtet werden. Ferner sollen mit Besoldung angestellt werden drei Schreiblehrer mit Gehalten, je nach den drei Klassen, von 600, 550 und 500 Drachmen, damit im Schreiben sämtliche freie Knaben und Mädchen unterwiesen werden können; ebenfalls zwei Turnmeister mit je 500 Drachmen Gehalt, ein Musiklehrer mit Gehalt von 700 Drachmen, welcher die Knaben der beiden letzten Schuljahre und die aus der Schule entlassenen Jünglinge im Lautenschlagen und Zitherspielen unterweist, ein Fechtlehrer mit 300 und ein Lehrer für Bogenschießen und Speerwerfen mit 25o Drachmen Besoldung. Die Schreib- und der Musiklehrer sollen jährlich im Rathaus ein öffentliches Examen der Schüler abhalten. Das ist das Kleinasien der Attalidenzeit; aber die römische Republik hat deren Arbeit nicht fortgesetzt. Sie ließ ihre Siege über die Galater nicht durch den Meißel verewigen und die pergamenische Bibliothek kam kurz vor der aktischen Schlacht nach Alexandreia; viele der besten Keime sind in der Verwüstung der mithradatischen und der Bürgerkriege zugrunde gegangen. Erst in der Kaiserzeit regenerierte sich mit dem Wohlstande Kleinasiens wenigstens äußerlich die Pflege der Kunst und vor allem der Literatur. Einen eigentlichen Primat, wie ihn als Universitätsstadt Athen besaß, im Kreise der wissenschaftlichen Forschung Alexandria, für Schauspiel und Ballett die leichtfertige Hauptstadt Syriens, kann keine der zahlreichen Städte Kleinasiens nach irgendeiner Richtung hin in Anspruch nehmen; aber die allgemeine Bildung ist wahrscheinlich nirgends weiter verbreitet und eingreifender gewesen. Den Lehrern und den Ärzten Befreiung von den mit Kosten verbundenen städtischen Ämtern und Aufträgen zu gewähren, muß in Asia früh üblich geworden sein; an diese Provinz ist der Erlaß des Kaisers Pius gerichtet, welcher, um der für die städtischen Finanzen offenbar sehr beschwerlichen Exemption Schranken zu setzen, Maximalzahlen dafür vorschreibt, zum Beispiel den Städten erster Klasse gestattet, bis zu zehn Ärzten, fünf Lehrmeistern der Rhetorik und fünf der Grammatik diese Immunität zu gewähren. Daß in dem Literatentum der Kaiserzeit Kleinasien in erster Reihe steht, beruht auf dem Rhetoren- oder, nach dem späterhin üblichen Ausdruck, dem Sophistenwesen der Epoche, das wir Neueren uns nicht leicht vergegenwärtigen. An die Stelle der Schriftstellerei, die ziemlich aufgehört hat, etwas zu bedeuten, ist der öffentliche Vortrag getreten, von der Art etwa unserer heutigen Universitäts- und akademischen Reden, ewig sich neu erzeugend und nur ausnahmsweise gelagert, einmal gehört und beklatscht und dann auf immer vergessen. Den Inhalt gibt häufig die Gelegenheit, der Geburtstag des Kaisers, die Ankunft des Statthalters, jedes öffentliche oder private analoge Ereignis; noch häufiger wird ohne jede Veranlassung ins Blaue hinein über alles geredet, was nicht praktisch und nicht lehrhaft ist. Politische Rede gibt es für diese Zeit überhaupt nicht, nicht einmal im römischen Senat. Die Gerichtsrede ist den Griechen nicht mehr der Zielpunkt der Redekunst, sondern steht neben der Rede um der Rede willen als vernachlässigte und plebejische Schwester, zu der sich ein Meister jener gelegentlich einmal herabläßt. Der Poesie, der Philosophie, der Geschichte wird entnommen, was sich gemeinplätzig behandeln läßt, während sie alle selbst überhaupt wenig und am wenigsten in Kleinasien gepflegt und noch weniger geachtet neben der reinen Wortkunst und von ihr durchseucht verkümmern. Die große Vergangenheit der Nation betrachten diese Redner sozusagen als ihr Sondergut; sie verehren und behandeln den Homer einigermaßen wie die Rabbiner die Bücher Moses, und auch in der Religion befleißigen sie sich eifrigster Orthodoxie. Getragen werden diese Vorträge durch alle erlaubten und unerlaubten Hilfsmittel des Theaters, die Kunst der Gestikulation und der Modulation der Stimme, die Pracht des Rednerkostüms, die Kunstgriffe des Virtuosentums, das Faktionswesen, die Konkurrenz, die Claque. Dem grenzenlosen Selbstgefühl dieser Wortkünstler entspricht die lebhafte Teilnahme des Publikums, welche derjenigen für die Rennpferde nur wenig nachsteht, und der völlig nach Theaterart dieser Teilnahme gegebene Ausdruck; und die Stetigkeit, womit dergleichen Exhibitionen in den größeren Orten den Gebildeten vorgeführt werden, fügt sie, ebenfalls wie das Theater, überall in die städtischen Lebensgewohnheiten ein. Wenn vielleicht an den Eindruck, welchen in unseren bewegtesten Großstädten die obligaten Reden ihrer gelehrten Körperschaften hervorrufen, sich dies untergegangene Phänomen für unser Verständnis einigermaßen anknüpfen läßt, so fehlt doch in den heutigen Verhältnissen ganz, was in der Alten Welt weit die Hauptsache war: das didaktische Moment und die Verknüpfung des zwecklosen öffentlichen Vortrags mit dem höheren Jugendunterricht. Wenn dieser heute, wie man sagt, den Knaben der gebildeten Klasse zum Professor der Philologie erzieht, so erzog er ihn damals zum Professor der Eloquenz, und zwar dieser Eloquenz. Denn die Schulung lief mehr und mehr darauf hinaus, dem Knaben die Fertigkeit beizubringen eben solche Vorträge, wie sie eben geschildert wurden, selber, womöglich in beiden Sprachen, zu halten und wer mit Nutzen den Kursus absolviert hatte, beklatschte in den analogen Leistungen die Erinnerung an die eigene Schulzeit. Diese Produktion umspannt zwar den Orient wie den Okzident; aber Kleinasien steht voran und gibt den Ton an. Als in der augustischen Zeit die Schulrhetorik in dem lateinischen Jugendunterricht der Hauptstadt Fuß faßte, waren die Hauptträger neben Italienern und Spaniern zwei Kleinasiaten, Arellius Fuscus und Cestius Pius. Ebendaselbst, wo die ernsthafte Gerichtsrede sich in der besseren Kaiserzeit neben diesem Parasiten behauptete, weist ein geistvoller Advokat der flavischen Zeit auf die ungeheure Kluft hin, welche den Niketes von Smyrna und die andern in Ephesos und Mytilene beklatschten Redeschulmeister von Äschines und Demosthenes trennt. Bei weitem die meisten und namhaftesten der gefeierten Rhetoren dieser Art sind von der Küste Vorderasiens. Wie sehr für die Finanzen der kleinasiatischen Städte die Schulmeisterlieferung für das ganze Reich ins Gewicht fiel, ist schon bemerkt worden. Im Laufe der Kaiserzeit steigt die Zahl und die Geltung dieser Sophisten beständig und mehr und mehr gewinnen sie Boden auch im Okzident. Die Ursache davon liegt zum Teil wohl in der veränderten Haltung der Regierung, die im 2. Jahrhundert, insbesondere seit der nicht so sehr hellenisierenden als übel kosmopolitisierenden hadrianischen Epoche, sich weniger ablehnend gegen das griechische und das orientalische Wesen verhielt als im ersten; hauptsächlich aber in der immer zunehmenden Verallgemeinerung der höheren Bildung und der rasch sich vermehrenden Zahl der Anstalten für den höheren Jugendunterricht. Es gehört also die Sophistik allerdings besonders nach Kleinasien und besonders in das Kleinasien des 2. und 3. Jahrhunderts; nur darf in diesem Literatenprimat keine spezielle Eigentümlichkeit dieser Griechen und dieser Epoche oder gar eine nationale Besonderheit gefunden werden. Die Sophistik sieht sich überall gleich, in Smyrna und Athen wie in Rom und Karthago; die Eloquenzmeister wurden verschickt wie die Lampenformen und das Fabrikat überall in gleicher Weise, nach Verlangen griechisch oder lateinisch, hergestellt, die Fabrikation dem Bedarf entsprechend gesteigert. Aber freilich lieferten diejenigen griechischen Landschaften, die an Wohlstand und Bildung voranstanden, diesen Exportartikel in bester Qualität und in größter Quantität; von Kleinasien gilt dies für die Zeiten Sullas und Ciceros nicht minder wie für die Hadrians und der Antonine.

Indes ist auch hier nicht alles Schatten. Eben diese Landschaften besitzen zwar nicht unter den professionellen Sophisten, aber doch unter den Literaten anderer Richtung, die auch noch dort verhältnismäßig zahlreich sich finden, die besten Vertreter des Hellenismus, welche diese Epoche überhaupt aufweist, den Lehrer der Philosophie Dion von Prusa in Bithynien unter Vespasian und Traian und den Mediziner Galenos aus Pergamon, kaiserlichen Leibarzt am Hofe des Marcus und des Severus. Bei Galenos erfreut namentlich die seine Weise des Welt- und des Hofmanns in Verbindung mit einer allgemeinen literarischen und philosophischen Bildung, wie sie bei den Ärzten dieser Zeit überhaupt häufig hervortritt. An Reinheit der Gesinnung und Klarheit über die Lage der Dinge gibt der Bithyner Dion dem Gelehrten von Chäronea nichts nach, an Gestaltungskraft, an Feinheit und Schlagfertigkeit der Rede, an ernstem Sinn bei leichter Form, an praktischer Energie ist er ihm überlegen. Die besten seiner Schriften, die Phantasien von dem idealen Hellenen vor der Erfindung der Stadt und des Geldes, die Ansprache an die Rhodier, die einzigen übriggebliebenen Vertreter des echten Hellenismus, die Schilderung der Hellenen seiner Zeit in der Verlassenheit von Olbia wie in der Üppigkeit von Nikomedeia und von Tarsos, die Mahnungen an den einzelnen zu ernster Lebensführung und an alle zu einträchtigem Zusammenhalten sind, das beste Zeugnis dafür, daß auch von dem kleinasiatischen Hellenismus der Kaiserzeit das Wort des Dichters gilt: untergehend sogar ist’s immer dieselbe Sonne.