16. Kapitel

Verfluchter, doppelt verfluchter Schöpfer! Warum mußte ich auch leben? Warum erlosch damals nicht der Funke, den du leichtfertig und frevelhaft entfachtest? Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich nicht verzweifelte, sondern daß die Gefühle der Wut und der Rachsucht überwogen. Ich hätte am liebsten das Haus und seine Inwohner vernichtet und mich an deren Todesangst und Schmerzgeheul ergötzt.

Als es Nacht wurde verließ ich mein Asyl und wanderte in den Wald. Und nun, da ich die Entdeckung nicht mehr fürchtete, machte ich meinem Weh in lautem Brüllen Luft. Ich war wie ein wildes Tier, das die Stäbe seines Käfigs zerbrochen hat. Ich rannte wie ein Stück Wild durch den Wald und zerstörte alles, was mir in den Weg kam. Es war eine entsetzliche Nacht, die ich da draußen verbrachte. Die eiskalten Sterne funkelten, als wollten sie mich verhöhnen, und die Bäume schüttelten ihre nackten Arme über mir. Zuweilen ertönte der Schrei eines Vogels durch die Stille. Alles war ruhig und friedlich außer mir selbst, denn ich trug, wie der böse Feind, eine ganze Hölle in meiner Brust. Und da ich nirgends Liebe finden konnte, so sehnte ich mich danach, Zerstörung und Verwüstung rings um mich zu verbreiten und mich dann, auf den Trümmern sitzend, darüber zu freuen.

Aber diese Gefühle waren zu mächtig, als daß sie von allzulanger Dauer hätten sein können; ich war auch körperlich zu sehr ermüdet. Ich sank auf den feuchten Boden nieder und grübelte über mein Elend nach. Unter den Millionen Menschen war nicht einer, auch nicht einer, der mir geholfen oder auch nur Mitleid mit mir gehabt hätte, und ich sollte gegen meine Feinde mild und gut sein? Nein! In diesem Augenblick erklärte ich dem ganzen verruchten Geschlecht Krieg bis aufs Messer, und besonders dem, der mich gebildet und an all dem unsäglichen Leid Schuld trug.

Nach Sonnenaufgang hörte ich Menschenstimmen in der Nähe des Hauses und ich wußte, daß ich diesen Tag wohl nicht mehr in meinen Schuppen würde zurückkehren können. Ich versteckte mich deshalb in ein wirres Dickicht und beschloß, die kommenden Stunden mich ganz der Betrachtung meiner Lage hinzugeben.

Der helle Sonnenschein und die reine Luft gaben mir einigermaßen wieder das Gefühl der Ruhe. Und wenn ich mir so überlegte, was in de Laceys Hause vorgefallen war, konnte ich mir den Vorwurf nicht ersparen, daß ich zu voreilig mit meinen Schlüssen gewesen war. Jedenfalls hatte ich recht unklug gehandelt. Offenbar hatte die Unterhaltung mit mir dem alten Manne gefallen und es hätte gar keine Eile gehabt, mich den Blicken der Jungen auszusetzen. Ich hätte erst versuchen sollen, den alten de Lacey an mich zu fesseln und mich dann den jungen Leuten zu entdecken, wenn sie genügend auf mein Kommen vorbereitet waren. Aber ich meinte, daß der Fehler wieder gut zu machen wäre, und beschloß nach reiflicher Überlegung, zu dem Hause zurückzukehren, den Alten aufzusuchen und ihn durch meine eindringlichen Worte mir geneigt zu machen.

Diese Gedanken beruhigten mich und am Nachmittag versank ich in tiefen Schlaf. Friedliche Träume wollten mir allerdings nicht nahen, dazu war mein Blut noch zu erregt. Die schrecklichen Bilder des vorhergehenden Tages schwebten mir immer noch vor Augen. Ich sah, wie die Frauen flüchteten und Felix mich vom Vater wegriß. Ich erwachte, von Grauen geschüttelt. Da es schon Nacht geworden war, kroch ich aus meinem Versteck und begab mich auf die Nahrungssuche.

Nachdem ich meinen Hunger gestillt, lenkte ich meine Schritte auf wohlbekannten Pfaden zu dem Hause de Laceys. Dort war es still. Ich kroch in den Schuppen und erwartete mit Bangen die Stunde, zu der die Familie sich gewöhnlich zu erheben pflegte. Diese Stunde war nun längst vorüber. Die Sonne stieg höher und höher, aber von den Hausbewohnern ließ sich niemand blicken. Ich zitterte an allen Gliedern und die bange Frage quälte mich, ob denn da kein Unglück geschehen sei. Im Hause war es finster und nicht das geringste Geräusch war zu vernehmen. Die Ungewißheit verursachte mir gräßliche Qualen.

Plötzlich kamen zwei Landleute des Weges. Sie blieben vor dem Hause stehen und begannen, heftig gestikulierend, eine aufgeregte Unterhaltung. Ich konnte sie nicht verstehen, da sie sich in der Sprache des Landes unterhielten, die ja eine ganz andere war, als die meiner Freunde. Einige Zeit später kam Felix mit einem Begleiter. Ich war darüber sehr erstaunt, denn ich wußte, daß er das Haus heute noch nicht verlassen hatte, und konnte es kaum erwarten, aus seinem Gespräche zu erfahren, was da eigentlich vorgegangen sei.

»Bedenkt Ihr denn nicht,« sagte sein Begleiter zu ihm, »daß Ihr die Miete für drei Monate umsonst zu zahlen habt und außerdem aller Eurer Gartenfrüchte verlustig geht? Ich will mich nicht ungerecht bereichern und bitte Euch, noch ein paar Tage die Sache zu überlegen.«

»Es ist ganz zwecklos,« erwiderte Felix, »wir können nie und nimmermehr dieses Haus bewohnen. Das Leben meines Vaters ist seit jenem schrecklichen Ereignis, von dem ich Euch berichtet, in äußerster Gefahr, und mein Weib und meine Schwester haben sich noch nicht von ihrem Entsetzen erholt. Ich bitte Euch, nicht weiter in mich zu dringen. Ergreift wieder Besitz von Eurem Eigentum und laßt uns von diesem Platze fliehen.«

Felix zitterte an allen Gliedern, während er so sprach. Er und sein Begleiter begaben sich in das Innere des Hauses. Ganz kurze Zeit blieben sie darin und gingen dann zusammen fort. Seitdem habe ich niemand mehr von der Familie de Lacey gesehen.

Den Rest des Tages verbrachte ich in meinem Schuppen und gab mich der tiefsten Verzweiflung und dumpfem Schmerze hin. Meine Beschützer waren fort und hatten so das einzige Band zerrissen, das mich an die Welt fesselte. Es war das erste Mal, daß Gefühle der Rachsucht und des Hasses in meiner Brust Raum fanden, und ich gab mir keine Mühe sie zu unterdrücken. Ich ließ mich von dem Strome tragen, der mich zu Verbrechen und Mord hinführte. Der Gedanke an meine Freunde, an die milde Stimme des Greises, die schönen Augen Agathes und an den Liebreiz Safies verdrängte immer wieder auf kurze Zeit meine bösartigen Gefühle. Aber wenn ich mir überlegte, daß sie mich vertrieben, mich geschlagen hatten, dann kehrte die Wut wieder, eine maßlose Wut; und da kein menschliches Wesen da war, an dem ich meine Raserei hätte austoben können; stürzte ich mich auf Unbelebtes. Als es Nacht wurde schleppte ich alles Brennbare, dessen ich habhaft werden konnte, in der Nähe des Hauses zusammen und zerstörte im Garten jede Spur der pflegenden Menschenhand. Dann wartete ich, bis der Mond unterging, um mein Werk zu vollenden.

Ein frischer Wind kam aus dem nächtlichen Walde und zerstreute die Wolken, die am Himmel hingen. Ich ergriff einen trockenen Ast, zündete ihn an und tanzte dann wie ein Toller um das dem Verderben geweihte Haus. Immer wieder blickte ich nach dem westlichen Horizont, hinter dem der Mond schon zum Teil versunken war. Und als der glutrote Ball gänzlich untergetaucht war, warf ich mit lautem Schrei den Brand in die aufgehäufte Streu. Prasselnd schlugen die Flammen auf, umfluteten bald das ganze Gebäude und leckten, gepeitscht vom rauschenden Winde, mit ihren spitzen, zerstörenden Zungen an den Wänden hinauf.

Ich wartete nur so lange, bis ich erkannt hatte, daß keine Macht der Erde auch nur das Geringste noch zu retten vermochte, und verkroch mich dann in den Tiefen des Waldes.

Die weite Welt lag nun wieder vor mir, aber wohin sollte ich meine Schritte lenken? Jedenfalls wollte ich weit, weit fort von der Stätte meines Mißgeschickes, denn für mich, den Ausgestoßenen und Gehaßten, war es ja gleich, welches Land mich aufnahm. Schließlich aber dachte ich an dich. Ich wußte aus deinen Papieren, daß du mein Erzeuger, mein Schöpfer seist, und wem konnte ich mich wohl mit mehr Vertrauen nähern als dem, der mir das Leben gegeben? Der Unterricht, den Felix an Safie erteilt hatte, hatte sich auch auf Geographie erstreckt, und so hatte ich erfahren, welche Lage die Länder der Erde zu einander einnahmen. Ich hatte in deinen Aufzeichnungen gelesen, daß deine Heimatstadt Genf sei, und beschloß, zunächst dorthin die Wanderung anzutreten.

Es war sehr schwer für mich, mich zurechtzufinden. Ich kannte weder die Namen der Städte und Ortschaften, die ich zu passieren hatte, und durfte auch nicht damit rechnen, von einem menschlichen Wesen unterwegs Auskunft zu erhalten. Aber ich wußte ja, daß ich immer nach Südwesten zu gehen hätte, und die Sonne war meine Führerin. Du warst der Einzige, von dem ich noch Hülfe erwarten konnte, wenn ich auch gegen dich nichts empfand als den bittersten Haß. Herzloser! Grausamer! Du hast mich mit Gefühlen und Empfindungen ausgestattet und dann warfst du mich auf die Straße, jedermann zum Spott und Entsetzen. Von dir allein hatte ich Mitleid und Hülfe zu erwarten und du allein konntest mir das geben, was ich von jedem anderen Wesen in Menschengestalt umsonst gefordert hätte.

Meine Reise war lang und Schweres hatte ich zu erdulden. Die Jahreszeit war schon weit fortgeschritten, als ich dem Erdenfleck, wo ich so lange gehaust, den Rücken wandte. Ich wanderte nur zur Nachtzeit, um keinem Menschen zu begegnen. Die Natur hatte sich schon zur Ruhe begeben und die Sonne hatte keine Kraft mehr. Regen und Schnee fielen nieder und die Bäche waren zu Eis erstarrt. Die Erde war hart, kalt und nackt und bot nichts, um mein müdes Haupt hinzulegen. O Erde, wie oft habe ich dir geflucht und dem, der mich schuf! Meine natürliche Gutmütigkeit war dahin und hatte sich in Gift und Galle verwandelt. Je näher ich deiner Heimat kam, desto heißer erwachte die Sehnsucht nach furchtbarer Rache. Schnee und Eis hielten meinen Schritt nicht auf. Im großen und ganzen war es wohl nur Zufall, daß ich mich zurechtfand. Mein Wunsch, dir gegenüberzutreten, ward immer heftiger und beschleunigte meine Schritte, und jedes Hindernis, das sich mir in den Weg stellte, gab meiner Wut und meinem Zorn nur noch mehr Nahrung. Und ein Abenteuer, das ich erlebte, als ich die Schweizer Grenze erreichte – es war schon wieder warm geworden und die Erde hatte ihr grünes Kleid angelegt – war besonders geeignet, meine Bitterkeit und meine Wut aufs höchste zu steigern.

Wie ich schon erwähnte, pflegte ich nur des Nachts zu wandern und des Tages zu ruhen, um ungesehen zu bleiben. Eines Morgens aber entschloß ich mich doch, meinen Weg weiter fortzusetzen, da er, wie ich bemerkte, durch dichtes Holz führte, so daß ich das Antlitz des Tages nicht zu scheuen hatte. Es war ein herrlicher Frühlingstag und selbst ich empfand wohltuend den warmen Sonnenschein und die milde Luft. Und ich fühlte sogar Freude und Behagen, die ich in mir vollkommen gestorben wähnte. Halb überrascht davon, gab ich mich ihrem Zauber hin und wagte es, meine Einsamkeit und Häßlichkeit vergessend, glücklich zu sein. Lindernde Tränen rannen mir die Wangen herab und ich erhob dankend meinen Blick zu der lachenden Sonne, die das Wunder in mir gewirkt hatte.

Ich wand mich vorsichtig auf den Waldwegen dahin, bis ich an eine Schlucht kam, durch die ein wilder Bach dahinbrauste. Die Uferbäume hingen ihre sprossenden Zweige in die klare, frische Flut. Ich blieb einen Augenblick stehen, um mir zu überlegen, wie ich weiter käme als ich Stimmen vernahm. Rasch verbarg ich mich unter einem dichten Baum. Kaum war das geschehen, als ein junges Mädchen in vollem Laufe dahereilte. Sie lachte laut und herzlich, als spotte sie eines Verfolgers. Sie lief dann am Ufer entlang. Plötzlich glitt sie aus und stürzte in die Fluten. Ich sprang aus meinem Versteck ihr nach und brachte sie mit großer Mühe aufs Trockene. Sie war bewußtlos und ich bemühte mich, sie wieder ins Leben zurückzurufen, als sich ein Landmann näherte, wahrscheinlich der, vor dem sie geflohen war. Kaum hatte er mich erblickt, so drang er schon auf mich ein, riß das Mädchen aus meinen Armen und zog sich eilig mir ihr tiefer ins Gehölz zurück. Ich rannte ihm nach, warum weiß ich heute noch nicht. Als der Mann bemerkte, daß ich ihm folgte, riß er seine Flinte von der Schulter, zielte auf mich und schoß. Ich sank zu Boden und sah meinen Gegner gerade noch im dichten Walde verschwinden.

Das also war der Lohn für das Gute, was ich getan! Ich hatte einen Menschen vor dem sicheren Tode gerettet; dafür hatte ein Geschoß mein Fleisch durchbohrt und einen Knochen zerschmettert. Die Schmerzen, die meine Wunde verursachte, ließen mich rasch die frohen Gefühle vergessen, die ich noch kurz vorher gehegt, und in mir erwachte wieder eine höllische Wut, die meine Zähne knirschend aufeinanderpreßte. Gepeinigt von gräßlichen Schmerzen schwor ich dem ganzen verhaßten Geschlecht der Menschen ewige Rache.

Einige Wochen führte ich ein elendes Dasein in den Wäldern, bemüht, meine Wunde zu kurieren. Die Kugel war in die Schulter eingedrungen und ich wußte nicht, saß sie da noch fest oder war sie hindurchgegangen. Jedenfalls hatte ich keine Möglichkeit sie zu entfernen. Am meisten schmerzte es mich, daß es Undank und Ungerechtigkeit waren, denen ich diese Leiden zu verdanken hatte. Mein Wunsch nach Rache, nach furchtbarer, tödlicher Rache wuchs von Tag zu Tag. Umsonst wollte ich diese Kränkungen und Qualen nicht erduldet haben.

Es dauerte einige Wochen, bis meine Wunde geheilt war; dann setzte ich meine Wanderung fort. Auch die liebliche Sonne und das milde Wehen des Frühlingswindes waren nicht mehr imstande, die Glut meiner Rachegefühle zu besänftigen. Alles Liebliche schien mir wie ein Hohn, der mich mit Verzweiflung erfüllte und mich nur noch mehr fühlen ließ, daß ich nicht zur Freude auf dieser Erde war.

Allmählich näherte ich mich meinem ersehnten Ziele. Nach etwa zwei Monaten hatte ich Genf erreicht.

Es war Abend, als ich ankam, und ich suchte mir sogleich ein Versteck, in dem ich darüber nachdachte, wie ich mich dir am besten bemerkbar machen könnte. Ich litt Hunger und Durst und war viel zu müde und elend, um mich an dem schönen Abend und der Pracht des Sonnenunterganges zu erfreuen.

Ein wohltuender Schlummer hatte sich meiner bemächtigt und mich von meinen qualvollen Gedanken erlöst, als ich plötzlich wieder aufgeschreckt wurde. Ein hübsches Kind kam auf den Platz zugelaufen, wo ich mich verborgen hielt. Als ich es erblickte, tauchte in mir eine Idee auf. Das Kind war noch ohne Vorurteil und hatte noch zu kurz gelebt, um meine Mißgestalt als etwas Schreckliches aufzufassen. Wenn es mir also gelänge, den Kleinen zu ergreifen und ihn mir als Genossen und Freund heranzuziehen, würde mein Dasein nicht mehr so traurig und ich nicht mehr so allein sein auf der Erde.

Ich ergriff deshalb den Knaben, als er an meinem Versteck vorbeiging, und zog ihn an mich. Kaum hatte er mich erblickt, schlug er die Hände vor das Gesicht und stieß einen schrillen Schrei aus. Ich riß ihm die Hände mit Gewalt von den Augen und sagte: »Mein Kind, was soll das bedeuten? Ich will dir nichts tun; höre mich an!«

Doch er wehrte sich aus Leibeskräften. »Laß mich, du Ungeheuer!« schrie er. »Du häßlicher Mann! Du willst mich auffressen und mich in Stücke zerreißen, du bist ein Menschenfresser laß mich, oder ich sage es Papa!«

»Aber, mein Liebling, du wirst deinen Vater nie wieder sehen, du kommst mit mir.«

»Du greulicher Mensch, laß mich. Papa ist Richter. Er heißt Frankenstein. Er wird dich bestrafen. Du mußt mich loslassen!«

»Frankenstein heißt du? Dann gehörst du also zu meinen Feinden, zu dem, dem ich ewige Rache geschworen. Du wirst mein erstes Opfer sein.«

Das Kind wehrte sich verzweifelt und schleuderte mir Schimpfnamen ins Gesicht, daß mein Herz erstarrte. Ich drückte ihm die Kehle zu, um es zum Schweigen zu bringen, und im nächsten Augenblick taumelte es tot zu meinen Füßen nieder.

Ich sah auf mein Opfer und mein Herz klopfte in höllischem Triumph. Ich klatschte in die Hände und rief: »Auch ich kann Verzweiflung säen; meine Feinde sind nicht unverletzlich. Dieser Mord wird ihnen nahe gehen und mit tausend anderen Dingen werde ich sie quälen und vernichten.«

Ich blickte noch einmal auf den kleinen Leichnam und sah an seinem Halse etwas Glitzerndes hängen. Ich griff danach. Es war das Bildnis eines wunderschönen Weibes, dessen Liebreiz mich trotz meiner Wut bestrickte. Einige Augenblicke starrte ich auf die dunklen Augen, die von langen Wimpern beschattet wurden, und auf die frischen, roten Lippen. Ich wußte, daß ich für immer des Glückes entbehren mußte, das solch liebliche Geschöpfe gewähren, und daß das reizende Gesicht, hätte die Trägerin mich sehen können, im nächsten Augenblick den Ausdruck der Angst und des Ekels angenommen hätte.

Brauche ich dir zu sagen, daß dieser Gedanke meinen Zorn von neuem anstachelte? Ich wundere mich selbst, daß ich nicht, anstatt meinen Schmerz durch lautes Brüllen hinauszuschreien, mich auf die Menschheit stürzte, um sie zu vernichten.

Ich verließ die Stelle, auf der der Mord geschehen war, und suchte nach einem anderen Versteck, wo ich vor Entdeckung sicher war. Ich kam zu einem Stall, der mir leer schien. Als ich eintrat, erblickte ich ein Mädchen, das auf einem Strohhaufen schlief. Sie war jung und schön, wenn auch nicht so schön wie das Weib, dessen Bild ich noch in der Hand trug. Aber sie blühte in der ganzen Schönheit und Frische der Jugend. Hier lag eines der beglückenden Geschöpfe, beglückend für alle außer mir. Ich beugte mich über sie und flüsterte: »Wach auf, Süße, dein Liebster ist da, dein Liebster, der sein Leben dafür gäbe, um einen Liebesblick aus deinen Augen zu empfangen, – wach auf.«

Die Schläferin bewegte sich und ein Schauer überrieselte meinen Leib. Sollte ich sie wirklich wecken? Sie hätte jedenfalls bei meinem Anblick furchtbar geschrieen und man hätte den Mörder gefaßt. Der Gedanke machte mich rasend; nicht ich sollte leiden, sondern sie. Ich habe den Mord begangen, weil ich das für immer missen mußte, was sie zu gewähren hatte. Sie selbst ist an meinem Verbrechen mitschuldig und soll die gerechte Strafe dafür erleiden! Aus Felix‘ Unterricht an seine Geliebte hatte ich von den blutigen Gesetzen der Menschen erfahren und wußte, wie ich Unheil säen konnte. Ich steckte der Schläferin vorsichtig das Porträt in eine ihrer Kleidertaschen, und als sie sich bewegte, floh ich.

Einige Tage trieb ich mich noch in der Umgebung des Platzes umher, wo sich das alles ereignet hatte. Ich wußte nicht, sollte ich es noch versuchen mit dir zusammenzukommen oder meinem elenden Dasein ein Ende bereiten. Schließlich suchte ich Zuflucht in diesen Bergen und durchstreifte ihre tiefsten Schluchten, verzehrt von einer brennenden Leidenschaft, die nur du allein befriedigen kannst. Du wirst diesen Platz nicht verlassen, ehe du mir versprochen hast, meine Bitte zu erfüllen. Ich bin allein und unglücklich. Mit Menschen werde ich nie verkehren können, das habe ich gesehen; aber ein Wesen, das ebenso häßlich und mißgestaltet ist wie ich, wird mir seine Neigung nicht versagen. Meine Genossin muß von derselben Art sein wie ich und dieselben Mängel haben. Dieses Wesen mußt du mir schaffen.

17. Kapitel

Der Dämon schwieg und heftete seine furchtbaren Augen auf mich, meine Antwort erwartend. Ich war so erstaunt und erschreckt, daß ich zuerst gar nicht imstande war, die Tragweite seines Wunsches zu ermessen. Er fuhr fort:

»Du mußt mir ein Weib schaffen, mit dem ich zusammen leben kann. Du allein kannst das und ich fordere es von dir; es ist mein Recht, das du mir nicht versagen darfst.«

Der letzte Teil seiner Erzählung hatte in mir wieder den Haß gegen ihn erweckt, der bei der Schilderung seiner Erlebnisse mit der Familie de Lacey etwas eingeschlummert war und sogar einem gewissen Gefühl der Teilnahme Platz gemacht hatte, dann aber brach ich wütend los:

»Das werde ich nicht, und keine Qual wird je ein Zugeständnis aus mir herauspressen. Du kannst mich verstümmeln und töten, du kannst mich zum elendesten der Menschen machen, aber du wirst es nie so weit bringen, daß ich in meinen eigenen Augen wie ein Schurke dastehe. Ich soll ein solches Wesen schaffen, damit ihr vereint eure verruchte Bosheit auf die Welt loslassen könnt? Aus meinen Augen! Meine Antwort hast du. Martere mich, aber glaube nicht, daß ich deinen Wunsch erfülle.«

»Du bist im Irrtum«, erwiderte der Dämon. »Und anstatt dir zu drohen, bitte ich dich, meinen Vernunftgründen dein Ohr zu leihen. Ich bin nur schlecht, weil ich elend bin. Verfolgen und hassen mich nicht alle, die mich erblicken? Du, mein Schöpfer, du würdest mich frohlockend in Stücke reißen. Sage mir, warum soll ich mit den Menschen mehr Mitleid haben als sie mit mir? Du würdest dich keines Mordes schuldig fühlen, wenn du mich, das Werk deiner Hände, in eine dieser Eisspalten werfen und zerschmettern könntest. Soll ich jemand achten, der mich verachtet? Glaube mir, wenn jemand sich entschließen könnte, gut gegen mich zu sein, ich würde es ihm mit Tränen der Dankbarkeit in den Augen danken und ihm alles Gute tun, was in meiner Macht stünde. Aber das wird ja nie geschehen; die menschlichen Sinne bilden unüberwindliche Hindernisse. Doch gedenke ich nicht, mich ohne weiteres zu fügen. Ich will mich für das Erlittene rächen. Wenn ich nicht Liebe einflößen kann, dann will ich Furcht und Entsetzen verbreiten. Und ganz besonders dir, meinem Schöpfer, meinem Erzfeind, schwöre ich unauslöschlichen Haß. Hüte dich! Ich will an deinem Verderben arbeiten und nicht enden, ehe ich dich so unglücklich gemacht, daß du der Stunde deiner Geburt fluchst.«

Teuflische Wut leuchtete aus seinen Augen, als er dies sagte. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer unbeschreiblich schrecklichen Grimasse; aber rasch beherrschte er sich und fuhr ruhiger fort:

»Doch ich hatte ja die Absicht, vernünftig mit dir zu reden. Diese Leidenschaftlichkeit hat keinen Zweck, denn du bist dir ja doch nicht im klaren, daß du alles verschuldet hast. Ein einziger Mensch nur sollte mir sein Wohlwollen beweisen, und um dieses Einen willen würde ich Frieden schließen mit seinem ganzen Geschlecht. Aber ich will nicht in Träumen schwelgen, die doch nie zur Wirklichkeit werden. Was ich von dir fordere ist gerechtfertigt und bescheiden. Ich verlange ein Wesen, das von mir geschlechtlich verschieden, aber ebenso häßlich ist wie ich. Es ist nur wenig, was ich von dir erbitte, aber es ist mir genug. Wahr ist ja, daß wir Ungeheuer sind, die mit der Welt nichts zu schaffen haben; aber umso lieber werden wir einander sein. Wir werden kein glückliches Leben führen, aber wir werden niemand etwas zu Leide tun. O mein Schöpfer, tu mir das zu Liebe; ich will dir für diese eine Wohltat unbegrenzt dankbar sein. Laß mich sehen, daß wenigstens ein lebendes Wesen Mitleid mit mir hat und schlage mir meine Bitte nicht ab.«

Ich war erschüttert; dabei graute mir vor dem Gedanken an die etwaigen Folgen meiner Zustimmung. Aber ich fühlte, daß in seinen Worten eine gewisse Logik lag. Aus seiner Erzählung und aus den Gefühlen, die er mir geoffenbart, konnte ich entnehmen, daß er ursprünglich ein zartes Innenleben besaß. Schuldete ich ihm nicht, nachdem ich ihn einmal geschaffen, auch all das Glück, das ich ihm bescheren konnte? Er merkte, daß ich schwankte, und fuhr fort:

»Wenn du tust, um was ich dich bitte, sollst weder du noch irgend ein anderes menschliches Wesen fürderhin noch etwas von mir hören. Ich will in die weiten Urwälder Südamerikas gehen. Meine Nahrung ist nicht die blutige der Menschen. Ich vernichte nicht Lämmer und Ziegen, um meinen Hunger zu stillen; Nüsse und Beeren genügen mir. Da meine Genossin ebenso beschaffen sein wird wie ich, wird auch sie mit der gleichen Nahrung vorlieb nehmen. Wir werden uns unser Lager aus trockenen Blättern bereiten und die Sonne wird uns ebenso warm scheinen wie den Menschen. Das Bild, das ich dir von unserem künftigen Leben entwarf, ist gewiß ein friedliches und harmloses, und nur in verbohrter Grausamkeit und starrem Eigensinn kannst du mir die Gewährung meiner Bitte versagen. Erbarmungslos warst du bisher gegen mich, aber nun sehe ich deine Augen in einem Schimmer von Mitgefühl leuchten. Laß diesen Augenblick nicht vorübergehen, ohne mir zu versprechen, daß du das tun wirst, um was ich dich bat.«

»Du hast mir ja allerdings versprochen, mit deiner Genossin die Wohnstätten der Menschen zu fliehen und dich in jenen Gegenden niederzulassen, wo nur die Tiere der Wildnis deine Wege kreuzen. Aber wer gibt mir Gewißheit, daß du, der du dich doch so sehr nach der Liebe der Menschen sehnst, es in deinem Asyl aushalten wirst? Du wirst zurückkehren und dich wieder den Menschen zu nähern versuchen und wieder auf ihre Abneigung stoßen. Dein Haß wird von neuem auflodern und du wirst dann nicht mehr allein sein bei deinem Zerstörungswerke. Und das darf nicht sein; gib dir keine Mühe mehr, ich darf nicht ja sagen.«

»Wie unverlässig sind doch eure Gefühle! Eben noch warst du fast gewonnen und nun verschließest du dich plötzlich wieder meinen Bitten. Ich schwöre dir bei der Erde die mich trägt, bei dir selbst, mein Schöpfer, daß ich mit meiner Genossin weit, weit fortgehen werde von den Plätzen, wo Menschen wohnen. Mein Haß wird dann verlöschen, wenn ich einmal nur Wohlwollen gegen mich sehe. Mein Leben wird in Ruhe dahinfließen, und wenn ich sterben muß, dann kann ich dankbar dessen gedenken, der mich geschaffen.«

Seine Worte hatten eine merkwürdige Wirkung. Er tat mir leid und ich hatte das Bedürfnis ihm zu helfen. Aber wenn ich ihn ansah, diese sprechende und wandelnde Fleischmasse, dann ergriff Ekel und Entsetzen mein Herz. Ich versuchte diese Gefühle der Abneigung zu unterdrücken. Dann sagte ich mir, daß ich ihn ja nicht zu lieben brauchte, aber die Verpflichtung hätte, ihn nach meinen Kräften glücklich zu machen. Und es war ja wenig genug, was er forderte.

»Du hast geschworen, niemand mehr etwas zu Leide zu tun,« sagte ich. »Aber hast du denn nicht schon so viel Bosheit gezeigt, daß ich dir mit Recht mißtrauen darf? Kann das nicht eine Vorspiegelung sein, um deine Grausamkeiten nur noch in erhöhtem Maße ausüben zu können?«

»Was soll das heißen? Ich will nicht mit mir scherzen lassen, sondern ich verlange eine strikte Antwort. Wenn ich nicht Liebe finde, ist Haß und Verbrechen mein gutes Recht. Liebe allein vermag das Schlimme, das in mir lauert, zu verhüten, und ich werde ein Geschöpf werden, von dessen Existenz niemand eine Ahnung hat. Meine Verbrechen sind nur Früchte der verhaßten Einsamkeit und meine Tugenden werden dann zur vollen Geltung kommen, wenn ich mit einem Anderen mein Leben teilen kann. Ich werde mit einem fühlenden Wesen zusammen sein und meine Existenz wird ein Glied bilden in der Kette der Existenzen und Ereignisse, wie ich es mir erhofft.«

Ich dachte noch eine Zeitlang über alles nach, was er mir erzählt hatte, und erwog das Für und Wider. Ich war mir klar, daß sein ursprünglich gutmütiges Wesen durch die schlechte Behandlung von Seiten aller, die ihm begegneten, verdorben worden war. Und in meinen Erwägungen spielten seine außergewöhnliche Kraft und die Drohungen, die er ausgestoßen, eine bestimmende Rolle. Ein Wesen, das, wie er, in den Eishöhlen der Gletscher wohnen und sich vor allen Verfolgungen in die unzugänglichsten Schroffen der Gebirge flüchten konnte, durfte nicht unterschätzt werden. Nach längerem Zögern stand dann mein Entschluß fest, mit Rücksicht auf ihn selbst und besonders meine Mitmenschen seinen Wunsch zu erfüllen. Ich wandte mich zu ihm und sagte:

»Ich werde also deinen Willen tun. Aber du mußt mir feierlich versprechen, daß du Europa und überhaupt jede von Menschen bewohnte Gegend sofort verläßt, sobald ich dir das Weib übergebe, das dir in die Verbannung folgen soll.«

»Ich schwöre es dir bei der Sonne, bei dem blauen Himmel und bei der heißen Glut, die in meinem Herzen lodert, daß du mich nimmer sehen sollst, wenn du mein Flehen erhört hast. Geh heim und beginne mit der Arbeit. Ich werde mit Sehnsucht ihren Fortschritt beobachten und erst dann mich wieder bei dir sehen lassen, wenn das Werk vollendet ist.«

Nachdem er das gesagt, eilte er davon, so rasch er konnte, weil er vielleicht eine Sinnesänderung bei mir befürchtete. Er sprang in großen Sätzen zu Tal und verschwand bald in den Schrunden des Eismeeres.

Seine Erzählung hatte den ganzen Tag in Anspruch genommen und die Sonne näherte sich schon dem Horizont, als er mich verließ. Ich wußte, daß ich mich sehr zu beeilen hatte, wenn ich noch vor Einbruch völliger Dunkelheit das Tal erreichen wollte. Aber mein Herz war schwer und meine Schritte langsam. Meine Kniee schmerzten beim Hinuntersteigen auf dem schmalen, gewundenen Gebirgspfad und meine Gedanken beschäftigten sich unaufhörlich mit den seltsamen Ereignissen des Tages. Es war schon Nacht geworden, als ich zu einer Ruhebank neben einer Quelle kam. Ich ließ ich dort nieder, um ein wenig zu rasten. Die Wolken zogen eilends am Himmel dahin und zwischen ihnen blickten freundlich die Sterne. Dunkle Fichten, zwischen denen da und dort zerbrochene Stämme am Boden lagen, erhoben sich vor mir in die klare Nachtluft. Eine feierliche Ruhe herrschte rings um mich und ich fieberte fast vor Erregung. Bitterlich weinend rang ich die Hände und rief aus: »O, ihr Sterne und Wolken und Winde, ihr seid nur da, um mich zu verhöhnen. Wenn ihr wirklich Mitleid mit mir habt, dann raubt mir Gefühl und Gedächtnis; laßt mich zu Nichts werden. Aber wenn ihr das nicht könnt, dann laßt mich allein, ganz allein!«

Wilde Gedanken waren es, die mir mein Elend eingab. Ich kann es gar nicht sagen, wie das Glitzern der ewigen Sterne auf mich einwirkte, und auf jedes leise Säuseln des Windes lauschte ich angstvoll und gespannt, als sei es das Brausen eines glühenden Sirocco, der mich hinwegfegen wollte.

Der Morgen dämmerte herauf, als ich Chamounix erreichte. Ich hielt mich nicht mehr auf, sondern setzte gleich meinen Weg nach Genf fort. Meine Gefühle lasteten mit furchtbarer Schwere auf mir. So kehrte ich heim und begrüßte meine Familie. Mein verstörtes und wildes Aussehen erschreckte sie. Aber ich gab auf alle Fragen keine Antwort; ich konnte nicht sprechen, denn ich stand wie unter einem unheimlichen Banne. Mir war, als hätte ich kein Recht mehr auf ihre Liebe, als dürfte ich nimmer ihrer Gesellschaft froh werden. Und ich liebte sie doch so sehr; nur um sie zu retten hatte ich beschlossen, mich der abstoßenden Arbeit noch einmal hinzugeben. Alles andere war mir wie ein Traum, und nur der Gedanke an das Grauenvolle, was mir bevorstand, starrte mich an wie ein Medusenhaupt.

18. Kapitel

Tag um Tag, Woche um Woche verflossen nach meiner Ankunft in Genf, und immer fand ich den Mut nicht, an mein Werk zu gehen. Ich fürchtete mich vor dem verhaßten Dämon, war aber nicht imstande, das Grauen zu überwinden, das ich gegen die mir aufgezwungene Arbeit empfand. Ich hatte unterdessen erfahren, daß ein englischer Philosoph Studien gemacht hatte, deren Kenntnis für das Gelingen meines Werkes wesentlich war, und hoffte ich von meinem Vater die Erlaubnis zu erhalten, zu diesem Zwecke England zu besuchen. Ich klammerte mich an jede Gelegenheit, die Sache hinauszuschieben, und zögerte den ersten Schritt zur Erfüllung meines Versprechens zu tun. An mir selbst hatte sich eine wesentliche Änderung vollzogen. Mein Gesundheitszustand, der bisher nicht der beste gewesen war, war bedeutend günstiger und mein Gemüt war wieder heiterer geworden, wenn mich nicht gerade die Erinnerung an mein unseliges Vorhaben quälte. Mein Vater schien diese Veränderung mit Freuden zu bemerken und sann auf Mittel, meine trüben Gedanken, die hier und da wiederkehrten und wie düstere Schatten sich vor mein kommendes Glück stellten, gänzlich zu vertreiben. In diesen Augenblicken der Niedergeschlagenheit suchte ich in vollkommenster Einsamkeit meine Zuflucht. Ich verbrachte ganze Tage allein in einem Boote auf dem See, sah dem Fluge der Wolken zu und lauschte dem leisen Plätschern der Wellen am Kiel. Die frische Luft und der warme Sonnenschein verfehlten auch nie ihre Wirkung auf mein Gemüt und ich konnte dann bei meiner Heimkehr die Begrüßung der Meinen immer mit leichterem Herzen und mit froherem Sinne entgegennehmen.

Als ich wieder einmal von einem solchen Ausflug zurückkehrte, nahm mich mein Vater auf die Seite und sagte:

»Ich habe mit großer Freude gemerkt, mein lieber Sohn, daß dein früherer Frohsinn zurückkehrt und du wieder der wirst, der du einst warst. Und dennoch bist du noch immer nicht ganz glücklich und meidest unsere Gesellschaft. Längere Zeit konnte ich mir keinen Grund dafür denken. Gestern aber kam mir eine Idee, und wenn etwas daran ist, so beschwöre ich dich, es mir zu gestehen. Rücksichtnahme in dieser Sache ist gar nicht angebracht, sondern würde nur noch mehr Unheil über uns bringen.«

Ich zitterte bei dieser Einleitung, und mein Vater fuhr fort:

»Ich muß dir ja gestehen, lieber Viktor, daß ich deine Verbindung mit unserer lieben Elisabeth stets als die Krönung unseres Glücks anzusehen pflegte, als die Freude meines herannahenden Alters. Ihr habt einander von frühester Jugend an gern gehabt, habt mit einander gelernt und scheint nach Anlagen und Geschmack wie für einander bestimmt. Aber so blind sind wir Menschen. Das, was ich für das beste hielt, um meine Zukunftspläne zu fördern, war vielleicht am meisten geeignet ihnen entgegenzuarbeiten. Du hast sie jedenfalls nur als Schwester lieben gelernt und hegst gar nicht den Wunsch, sie als deine Frau zu besitzen. Ich glaube eher, daß du eine andere liebgewonnen hast und daß dich der Kampf deiner Liebe gegen die von dir bereits übernommene Pflicht so elend macht.«

»Du befindest dich im Irrtum, lieber Vater. Ich liebe Elisabeth herzlich und aufrichtig. Ich habe nie ein Weib kennen gelernt, das meine Bewunderung und Zuneigung so erregt hätte, wie es Elisabeth tut. Der Gedanke an meine Zukunft hängt eng mit dem an meine Verbindung mit ihr zusammen.«

»Das, was du mir sagst, macht mir mehr Freude, als ich sie seit langem empfunden. Wenn es so ist, dann werden wir sicherlich glücklich werden, wenn auch über der Gegenwart noch die düsteren Schatten der jüngsten Ereignisse lagern. Der Kummer hat uns alle so in seinen Bann gezogen, daß ich mit allen Mitteln ihn zu zerstreuen suchen muß. Sage mir also, ob du gegen die baldige Hochzeit etwas einzuwenden hast. Die unseligen Ereignisse lassen mich vorzeitig alt und schwach werden; und wenn ich das Glück noch erleben soll, darfst du nicht mehr lange zögern, es sei denn, daß irgendwelche Dispositionen bestehen, die dir zunächst die Heirat noch unerwünscht erscheinen lassen. Nicht als ob ich dich drängen wollte. Nimm meine Worte so auf, wie sie gemeint sind, und antworte mir frei und offen.«

Ich hatte meinem Vater schweigend zugehört und war lange nicht imstande, irgendetwas zu erwidern. In rasender Eile schossen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf und ich war unfähig, zu einem endgültigen Entschluß zu kommen. Die Idee meiner sofortigen Verbindung mit Elisabeth mußte mir unter den obwaltenden Verhältnissen natürlich Sorge und Unbehagen einflößen. Ich war durch ein feierliches Versprechen gebunden, das noch nicht eingelöst war, aber auch nicht gebrochen werden durfte. Oder wenn ich dies dennoch wagte, was stand alles mir und meinen Lieben bevor? Konnte ich das Freudenfest begehen mit der furchtbaren Last, die mir den Nacken beugte und mich zu Boden drückte? Ich mußte zuerst meiner Verpflichtung nachkommen und den Dämon mit seiner Genossin weit in die Welt hinausgesandt haben, ehe ich daran denken konnte, in der ersehnten Verbindung den lang entbehrten Frieden zu finden.

Ich überlegte, ob es notwendig sei, selbst nach England zu reisen, oder ob es genüge, brieflich mit jenem Philosophen in Verbindung zu treten, dessen Entdeckungen für das Gelingen meines Werkes von Bedeutung war. Die letztere Art, mir die gewünschten Aufschlüsse zu verschaffen, erschien mir ungenügend und langwierig; außerdem hatte ich eine unüberwindliche Scheu davor, die gräßliche Arbeit in meines Vaters Hause vorzunehmen, wo ich tagtäglich mit meinen Lieben zusammen war. Ich wußte, daß tausend kleine Zufälligkeiten mein Geheimnis aufdecken konnten und daß meinen Angehörigen all die Erregungen und Gemütsbewegungen nicht entgehen würden, die meine grauenerregende Beschäftigung unbedingt im Gefolge haben mußte. Es war also unumgänglich nötig fortzugehen, um mein Versprechen zu erfüllen. Wenn ich einmal angefangen hatte, dann ging es ja rasch vorwärts und ich konnte ruhig und zufrieden in den Schoß meiner Familie zurückkehren. Denn dann war auch der unheimliche Dämon über alle Berge oder aber – das wäre mir das Liebste gewesen – er war durch irgend einen Zufall vernichtet worden und ich meiner Sklaverei für immer ledig.

Das waren die Gesichtspunkte, die mir die Antwort an meinen Vater diktierten. Ich äußerte den Wunsch, vorher noch England besuchen zu dürfen. Ich verbarg ja meine wahren Beweggründe sorgfältig, wußte aber mein Anliegen doch so dringend vorzubringen, daß mein Vater sich einverstanden erklärte. Er freute sich, daß ich nach einer so langen Periode tiefster Schwermut, die bereits an Irrsinn grenzte, wieder die Kraft gefunden hatte, eine solche Reise zu planen, und gab der Hoffnung Ausdruck, daß die immer wechselnden Bilder und die mannigfachen Zerstreuungen imstande sein würden, mich gänzlich wiederherzustellen.

Wie lange ich fortbleiben wollte, blieb vollkommen mir überlassen; man hielt einige Monate, höchstens aber ein Jahr für ausreichend. In seiner großen Güte hatte mein Vater auch schon für einen Reisegenossen gesorgt. Ohne mich vorher zu benachrichtigen, hatte er in Übereinstimmung mit Elisabeth es so eingerichtet, daß Clerval in Straßburg mit mir zusammentraf. Allerdings störte das insofern meine Pläne, als ich mir zur Erfüllung meiner Aufgabe vollkommene Ungestörtheit gewünscht hätte. Jedenfalls konnte im Anfang meiner Reise die Anwesenheit meines Freundes keine Störung bedeuten und hatte das Gute, daß mir über manche Stunde trüben Nachgrübelns hinweggeholfen wurde. Und dann war ja Henry ein Schutz gegen Einmischung meines Feindes. Würde dieser nicht mein Alleinsein öfters benützt haben, um mir seine verhaßte Gesellschaft aufzudrängen, um mich anzuspornen und die Fortschritte meiner Arbeit zu kontrollieren?

Es stand also fest, daß ich nach England reisen sollte, und ebenso fest stand es, daß ich sofort nach meiner Rückkehr Elisabeth heimführte. Mein Vater war nicht mehr so jung, um Verzögerungen gleichmütig hinzunehmen. Es wartete meiner die Entschädigung für all das Unbeschreibliche, was ich erlitten, und in den Armen meines Weibes durfte ich dann meiner drückenden Sklaverei vergessen.

Während ich meine Reisevorbereitungen traf, erfüllte mich der Gedanke mit Angst und Sorge, daß ich meine Lieben den Angriffen des unbekannten Feindes überließ, der vielleicht durch meine Abreise gereizt, deren Gründe er nicht wußte, sich an mir würde rächen wollen. Andererseits hatte er mir versprochen, mir überallhin zu folgen. Sollte er vor einer Reise nach England zurückschrecken? Der Gedanke daran war an sich schrecklich, aber es lag für mich eine gewisse Beruhigung darin, da ich ihn aus der Nähe der Meinen gerückt wußte. Ich mochte gar nicht daran denken, daß das Gegenteil meiner Kombinationen eintreten könnte. Jedenfalls ließ ich mich von der Eingebung des Augenblicks leiten, die mir überzeugend zuflüsterte, daß der Dämon mir folgen und meine Familie unbehelligt lassen werde.

Es war in den letzten Tagen des September, als ich aufs neue mein Vaterhaus verließ. Die Reise war mein eigener Wille gewesen und deshalb fügte sich Elisabeth darein. Aber sie litt unter dem Gedanken, daß ich, fern von ihr, wieder eine Beute des Kummers und des Grames werden könnte. Ihre Idee war es gewesen, mir Clerval als Reisebegleiter zuzugesellen, denn wo eines Mannes Verstand schon lange zu Ende ist, findet eine kluge Frau immer noch Wege. Sie flehte mich an, recht rasch wieder heimzukehren, und sagte mir dann mit tränenerstickter Stimme Lebewohl.

Ich stieg in den Wagen, der mich entführen sollte. Ich vergaß, wohin ich ging, und ließ gleichgültig alles über mich ergehen. Das Einzige, was mir noch einfiel, war die Anordnung, daß meine chemischen Apparate eingepackt und mir nachgesandt werden sollten. In trauriges Nachdenken versunken durchfuhr ich die herrliche Gebirgslandschaft; meine Augen waren starr und nicht fähig, irgend welche Eindrücke zu vermitteln. Ich dachte nur an das Ziel meiner Reise und das Werk, das meiner wartete.

Einige Tage vergingen so in trostloser Gleichgültigkeit. Endlich erreichte ich Straßburg, woselbst ich zwei Tage auf Clerval zu warten hatte. Und er kam. Aber was für ein Unterschied bestand zwischen und beiden. Er freute sich der Natur und war glücklich, wenn er die Sonne glühend untergehen oder sie rosig emporsteigen sah. Er machte mich auf die wechselnden Farben in der Landschaft und am Himmel aufmerksam. »Nun weiß ich, wie schön das Leben ist! Und ich freue mich dieses Lebens!« rief er aus. »Aber du, lieber Frankenstein, warum siehst du so traurig und besorgt in die Welt?« Tatsächlich erfüllten mich quälende Gedanken und ich hatte keinen Sinn für das Aufleuchten des Abendsterns oder das goldige Blinken der Sonne in den Wellen des Rheins.

11. Kapitel

»Mit Mühe nur erinnere ich mich der ersten Zeit, nachdem ich entstanden war. Alles, was sich in jener Zeit ereignete, ist mir unklar und verschleiert. Eine Menge unbestimmter Gefühle bemächtigte sich meiner, meine sämtlichen Sinne traten zugleich in Aktion und es bedurfte längerer Erfahrung, bis ich sie auseinander zu halten vermochte. Ich erinnere mich, daß helles Licht auf mich eindrang, so daß ich die Augen schließen mußte. Dann wurde es dunkel um mich und ich fürchtete mich. Als ich dann die Augen wieder öffnete, war es so hell wie zuvor. Ich setzte mich in Bewegung und stieg auf die Straße hinab. Da war es nun wieder ganz anders. Vorher hatten mich undurchsichtige Grenzen umgeben, die ich weder körperlich noch auch mit den Augen durchdringen konnte; draußen aber bemerkte ich, daß ich mich ungehindert zu bewegen vermochte. Das Licht tat mir allmählich weh und zugleich belästigte mich die große Hitze. Ich suchte deshalb einen Platz aus, wo ich mich im Schatten ausruhen konnte. Es war dies ein Wald in der Nähe von Ingolstadt, und hier ließ ich mich am Ufer eines Baches nieder und ruhte, bis mich Hunger und Durst auftrieben. Ich verzehrte Beeren, die ich an Sträuchern oder am Boden fand. Dann stillte ich meinen Durst mit dem Wasser des Baches und legte mich wieder schlafen.

Es war finster, als ich erwachte. Ich fror und hatte ein drückendes Gefühl des Alleinseins. Ehe ich dein Haus verließ, hatte ich mich, da mir kalt war, mit einigen Kleidern behängt, aber sie waren völlig ungenügend, um mich vor dem Tau der Nacht zu schützen. Ich war ein armes, elendes, bedauernswertes Geschöpf. Ich wußte nichts, ich verstand nicht, mich all des Unangenehmen zu erwehren, das von allen Seiten auf mich eindrang. So setzte ich mich nieder und weinte.

Unterdessen kam am Himmel ein mildes Licht heraufgestiegen und ich empfand Freude darüber. Ich sprang auf und erblickte eine glänzende Scheibe, die über den Bäumen stand. Wie ein Wunder starrte ich sie an. Ich bewegte mich langsam und vorsichtig, aber dann bemerkte ich, daß sie mir auf meinem Wege leuchtete. Ich begab mich wieder auf die Suche nach Beeren. Es war noch kalt und unter einem Baume fand ich etwas Schutz. Bestimmte Gefühle hatte ich nicht, alles war noch ganz konfus. Ich fühlte Licht und Dunkelheit, ich empfand Hunger und Durst; unendliche Geräusche füllten mir die Ohren und allerlei Gerüche drangen mir in die Nase. Das Einzige, was ich genau unterscheiden konnte, war der Mond, den ich mit einem gewissen Vergnügen betrachtete.

Mehrere Tage und Nächte waren vergangen und der Mond hatte schon bedeutend abgenommen, als ich allmählich imstande war, meine Empfindungen auseinander zu halten. Ich sah den klaren Bach, der mich mit Wasser versorgte, und die Bäume, die mir mit ihrem Laub Schatten und Schutz gaben. Mit Freude entdeckte ich, daß ein liebliches Geräusch, das mir unter Tags fast unausgesetzt an die Ohren schlug, von kleinen, geflügelten Wesen herrührte. Oftmals versuchte ich ihren Gesang nachzuahmen, aber es war mir unmöglich. Oft auch bemühte ich mich, meinen Gefühlen in meiner Weise Ausdruck zu geben. Da ich aber nur harte, unartikulierte Laute zuwege brachte, erschrak ich und schwieg.

Unterdessen hatte der Mond aufgehört, in den Nächten zu scheinen, und war dann wieder als kleine Sichel am Himmel aufgetaucht. Ich aber weilte immer noch im Walde. Meine Sinne hatten sich während dieser Zeit geschärft und jeder Tag brachte mir neue Anregungen. Meine Augen hatten sich an das Licht gewöhnt und gelernt, die Gegenstände in ihrer richtigen Form zu erkennen. Ich konnte einen Käfer von einer Pflanze und die Pflanzen wieder unter sich unterscheiden. Ich hatte entdeckt, daß der Sperling nur rauhe, häßliche Laute zur Verfügung hat, während der Gesang der Nachtigall oder der Drossel mir Entzücken verursachte.

Eines Tages, als mich die Kälte umhertrieb, fand ich ein Feuer, das irgendwelche wandernden Bettler sich im Walde angezündet haben mochten, und freute mich der Wärme, die es ausstrahlte. In meiner Freude steckte ich meine Hand in die Glut, zog sie aber mit einem Aufschrei wieder zurück. Wie seltsam, dachte ich nur, daß ein und dieselbe Ursache so verschiedene Wirkungen haben kann. Ich untersuchte das brennende Material und erkannte zu meiner Wonne, daß es gewöhnliches Holz war. Ich sammelte eilends ein paar Zweige, aber sie waren feucht und wollten nicht brennen. Das tat mir sehr leid und ich setzte mich sinnend ans Feuer und sah ihm zu. Indessen war das Holz, das ich in der Nähe niedergelegt, trocken geworden und war von selbst in Brand geraten. Ich dachte darüber nach und eine Untersuchung der Zweige belehrte mich über die Gründe dieser Erscheinung. Ich machte mich deshalb daran, Holz einzusammeln und stapelte es mir auf, um immer mit recht viel Feuer versehen zu sein. Als es Nacht wurde, fürchtete ich mich vor dem Einschlafen, da ich Angst hatte, das Feuer könne unterdessen erlöschen. Ich deckte es deshalb sorgfältig mit trockenen Zweigen und Blättern zu und legte dann feuchtes Holz darauf. Dann streckte ich mich auf dem Boden aus und versank in Schlaf.

Als ich am Morgen wach wurde, war es mein Erstes, nach dem Feuer zu sehen. Ich deckte es ab und ein leichter Wind fachte es alsbald wieder zu hellen Flammen an. Auch dies beobachtete ich und zog eine Lehre daraus. Ich konstruierte mir einen Fächer aus Zweigen und benützte ihn zum Anfachen der Glut, wenn sie zu erlöschen drohte. Nach Einbruch der Dunkelheit bereitete es mir eine Freude zu sehen, daß das Element nicht nur Wärme, sondern auch Licht verbreitete. Und auch für die Zubereitung meiner Nahrung sollte es mir von Nutzen sein. Denn einige der Speiseabfälle, die die Fremden zurückgelassen hatten, waren durch das Feuer geröstet worden und schmeckten mir besser als die Beeren, die ich bisher von den Sträuchern gepflückt. Ich versuchte deshalb, meine Nahrung in der gleichen Weise zu behandeln, indem ich sie in die Flamme hielt. Die Beeren allerdings wurden vom Feuer verzehrt, während die Nüsse und Wurzeln wesentlich schmackhafter wurden.

Nach und nach wurde meine Nahrung immer spärlicher und ich mußte manchmal den ganzen Tag suchen, bis ich einige armselige Eicheln fand, um meinen rasenden Hunger zu stillen. Ich beschloß daher, meinen bisherigen Aufenthaltsort mit einem anderen zu vertauschen, von dem aus es mir leichter würde, mich mit dem Notwendigsten zu versehen. Allerdings fiel es mir schwer, mein geliebtes Feuer verlassen zu müssen, denn ich wußte ja nicht, wie ich wieder in seinen Besitz kommen könnte. Ich verbrachte längere Zeit mit der Überlegung, wie ich diesem Umstände abhelfen könnte, aber es war vergebens. Ich hüllte mich also fester in meine Lumpen und schritt durch den Wald davon, der sinkenden Sonne entgegen. Drei Tage irrte ich in dem Dickicht umher, bis ich endlich offenes Land erreichte. In der vorhergehenden Nacht war mächtiger Schneefall eingetreten und die ganze Gegend war in ein einförmiges Weiß gehüllt. Es war ein trostloser Anblick und es bereitete mir Schmerz, mit meinen nackten Füßen durch die naßkalte Masse waten zu müssen, die die Erde bedeckte.

Am Morgen fühlte ich ein unbedingtes Bedürfnis nach Speise und einem Unterschlupf; endlich bemerkte ich an einem Hang eine kleine Hütte, die vielleicht für einen Schäfer errichtet worden sein mochte. Der Anblick war mir neu und ich besah mir das Bauwerk genau. Da die Tür offen war, trat ich ein. Ein alter Mann saß drinnen zur Seite eines Herdes, auf dem er seine Mahlzeit bereitete. Als es mich hörte, wendete er sich um, dann sprang er mit einem lauten Schrei auf und rannte über die Felder davon mit einer Eile, deren ich den gebrechlichen Körper nicht für fähig gehalten hätte. Ich war glücklich, daß ich dieses Unterkommen gefunden hatte, denn hier war ich wenigstens sicher vor Regen und Schnee; auch war der Fußboden trocken. Ich verzehrte gierig das stehengebliebene Frühstück, das aus Brot, Käse, Milch und Wein bestand; dem letzteren aber konnte ich keinen Geschmack abgewinnen. Dann überwältigte mich die Müdigkeit und ich legte mich zum Schlummer auf die Streu.

Mittags erwachte ich, und ermuntert durch den klaren Sonnenschein, der durch das Fenster auf die weiße Diele fiel, beschloß ich meine Wanderschaft wieder aufzunehmen. Die Reste des Frühstücks stecke ich in einen Ranzen, den ich zufällig vorfand, und trat meine Reise an, bis ich nach mehreren Stunden, als es Abend werden wollte, ein Dorf erreichte. Wie wunderbar mir alles schien, die Hütten, die kleineren und die ansehnlicheren Häuser! In den Gärten standen noch vereinzelte Gemüsestauden und durch die Fenster konnte ich Milchschüsseln und Käselaibe erkennen, wodurch sich mein Appetit noch steigerte. In eines der schönsten Häuser trat ich ein; aber kaum hatte ich die Schwelle überschritten, als auch schon Kinder schrien und eine Frau ohnmächtig wurde. Das ganze Dorf geriet in Aufruhr. Manche flohen, manche aber griffen mich an, bis ich, vertrieben durch Steinwürfe, auf die Felder hinaus entwich. Voll Angst suchte ich Zuflucht in einem niederen Schuppen, der allerdings sich sehr von den schönen Wohnhäusern unterschied, in deren einem ich unterzukommen gemeint hatte. Der Schuppen lehnte sich an ein Bauernhaus, das hübsch und reinlich aussah. Nach den üblen Erfahrungen, die ich machen mußte, wagte ich es aber nicht hineinzugehen. Mein Unterschlupf war aus Holz gefügt, aber so niedrig, daß ich nicht einmal aufrecht darin sitzen konnte. Der Boden war nackt, aber trocken, und wenn auch der Wind durch unzählige Ritzen und Löcher hereinblies, so war ich doch einigermaßen vor den Unbilden der Witterung geborgen.

Ich legte mich nieder, glücklich, wenigstens dieses Unterkommen gefunden zu haben, das mich, so elend es auch war, doch vor Kälte und, was noch schlimmer war, vor der Feindseligkeit der Menschen schützte.

Es war kaum Morgen geworden, als ich aus meinem Schlupfwinkel kroch, um das Bauernhaus zu betrachten, an das sich der Schuppen anlehnte, und auszukundschaften, ob ich wohl in ihm mich längere Zeit würde aufhalten können. Er lag direkt an der Rückwand des Hauses; auf einer Seite befand sich ein Schweinestall, auf der andern ein klarer Teich. Eine Wand des Schuppens fehlte und ich ergänzte sie durch Aufschichten von Steinen und Holz, und zwar so, daß ich leicht aus und ein gelangen konnte.

Nachdem ich dermaßen meine Wohnung eingerichtet hatte, bedeckt ich noch den Boden mit Stroh, zog mich aber dann eilig zurück. Ich hatte nämlich in der Nähe einen Menschen gesehen und wußte aus der Erfahrung in der vorhergehenden Nacht, daß einem solchen nicht zu trauen war. Als Nahrung für diesen Tag hatte ich mir einen großen Laib Brot gestohlen und dazu ein Gefäß, mittels dessen ich aus dem Teich bei meiner Hütte Wasser schöpfen konnte. Der Boden des Schuppens war ein wenig erhöht und deshalb ganz trocken, und die Nähe des Backofens gab hinreichend Wärme.

Ich hatte mich mit dem Nötigsten versehen und beschloß, bis auf weiteres in diesem Schuppen zu bleiben. Es war im Vergleich mit dem finsteren, kalten Walde ein wahres Paradies für mich und ich brauchte wenigstens nicht mehr auf feuchtem Boden unter tropfenden Ästen zu schlafen. Ich aß mit Genuß meine Mahlzeit und wollte eben durch einen Spalt in der Seitenwand mir Wasser aus dem Teiche schöpfen, als ich einen jungen Menschen erblickte, der mit einem Kübel auf dem Kopfe an dem Schuppen vorbeiging. Es war ein junges Mädchen von feinem Wuchse, so ganz anders, als im allgemeinen Bauern und Bauernmägde zu sein pflegen. Sie war einfach gekleidet, ein weiter, blauer Rock und eine Leinenjacke bildeten ihren Anzug; ihr schönes Haar lag geflochten um ihren Kopf und sie sah still und traurig aus. Sie kam dann außer Sicht. Nach etwa einer Viertelstunde kam sie wieder mit ihrem Kübel, der nun zum Teil mit Milch gefüllt war. Während sie das schwere Gefäß dem Hause zutrug, kam ein junger Mann auf sie zu, der noch trauriger aussah als sie. Er sagte einiges zu ihr und nahm ihr dann den Kübel vom Kopfe, um ihn selbst zum Hause zu bringen. Sie folgte ihm und beide verschwanden in der Tür. Kurze Zeit darauf erschien der junge Mann wieder und ging, einige Werkzeuge auf der Schulter, quer über die angrenzenden Felder. Das Mädchen beschäftigte sich abwechselnd im Hause und im Garten.

In der Wand des Hauses, an die sich mein neues Heim anlehnte, befand sich, wie ich bei der Untersuchung derselben feststellte, ein Fenster, das mit Holz verschalt war und durch einen ganz schmalen Spalt einen Blick in das Innere gestattete. Ich konnte ein kleines, reinliches, aber armselig möbliertes Zimmer erkennen. In einem Winkel, nahe am Feuer, saß ein alter Mann, der wie im Kummer sein Gesicht in den Händen barg. Das Mädchen war damit beschäftigt, das Zimmer in Ordnung zu bringen. Plötzlich zog sie etwas aus einer Schublade und gab es dem alten Manne, indem sie sich neben ihm niederließ. Es war ein Instrument, dem er Töne entlockte, die mich mehr entzückten als der Gesang der Drossel oder der Nachtigall. Es war für mich armes Wesen, das ja noch nie etwas Schönes gesehen, ein lieblicher Anblick. Das Silberhaar des Greises und sein gutes Gesicht ließen mich Ehrfurcht empfinden, während das Verhalten des Mädchens mir Liebe einflößte. Die Weise, die der Alte spielte, lockte Tränen in die Augen des lieblichen Kindes; er achtete ihrer aber nicht. Erst als sie laut aufweinte, sprach er einige Worte zu ihr. Sie kniete dann zu seinen Füßen nieder und er streichelte sie zärtlich. Ich kann die Gefühle nicht beschreiben, die ich dabei empfand. Sie waren ein Gemisch von Lust und Schmerz, wie ich es noch nie kennen gelernt hatte, so ganz anders als Hunger oder Durst, Kälte oder Hitze. Jedenfalls waren sie seltsam und überwältigend, so daß ich mich vom Fenster zurückziehen mußte.

Bald darauf kam der junge Mann nach Hause, auf dem Rücken eine große Ladung Holz. Das Mädchen ging ihm entgegen, half ihm seine Bürde abnehmen und legte einen Teil des Holzes ins Feuer. Dann gingen sie zusammen in eine Ecke des Zimmers und er zeigte ihr einen großen Laib Brot und ein Stück Käse. Sie schien darüber erfreut und begab sich in den Garten, um einige Wurzeln und Kräuter zu holen. Diese legte sie dann in Wasser und stellte dieses auf das Feuer. Während sie in dieser Weise beschäftigt war, ging der junge Mensch in den Garten hinaus und grub dort eifrig Wurzeln aus. Längere Zeit war vergangen, da kam das junge Mädchen und ging mit ihm wieder zurück ins Haus.

Der alte Mann war unterdessen nachdenklich dagesessen; als aber seine Hausgenossen eintraten, ward seine Miene wieder fröhlicher und sie setzten sich alle miteinander an den Tisch, um zu essen. Die Mahlzeit war bald zu Ende. Während das Mädchen das Zimmer in Ordnung brachte, ging der Greis, auf den jungen Mann gestützt, im Sonnenschein spazieren. Es war ein merkwürdiger Kontrast zwischen den beiden Menschen. Der Alte im Silberhaar mit seinen guten, liebenvollen Zügen, der Junge, hoch und schlank gewachsen, mit seinem feinen, ebenmäßigen Gesicht. Seine Augen allerdings und seine Haltung ließen erkennen, daß er sehr traurig und niedergeschlagen war. Der Greis kehrte dann in sein Haus zurück, während der Jüngling mit Werkzeug es war anderes als das, das er morgen getragen – sich auf die Felder begab.

Rasch brach die Nacht herein; aber zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß die Bewohner des Hauses ein Mittel besaßen, das Licht des Tages zu ersetzten, indem sie Wachskerzen anzündeten. Auch machte es mir große Freude, denn nun konnte ich die Leute länger aus meinem Schlupfwinkel beobachten. Der Alte nahm wieder sein Instrument zur Hand, dessen Töne mich schon am Morgen so entzückt hatten. Als er geendet hatte, geschah etwas, was ich nicht begriff. Der junge Mensch wiederholte in einemfort monotone Laute, die es an Schönheit und Harmonie weder mit der Musik des Greises noch mit dem Gesang der Vögel aufnehmen konnten. Später kam ich darauf, daß er laut vorlas, aber damals hatte ich noch keine Ahnung von dem Geheimnis der Buchstaben und Worte.

Die Familie blieb noch einige Zeit beisammen, dann löschte der Alte das Licht und sie begaben sich, wie ich vermutete, zur Ruhe.

12. Kapitel

Ich lag auf meinem Stroh, konnte aber nicht schlafen. Ich mußte über das nachdenken, was ich den Tag über gesehen und gehört hatte. Das, was mir besonders zu denken gab, waren die liebenswürdigen Manieren dieser Leute. Ich sehnte mich danach, mit ihnen in Verbindung zu treten, aber ich wagte es nicht. Nicht umsonst erinnerte ich mich der barbarischen Behandlung, die mir in der vergangenen Nacht von Seite der Dorfbewohner zuteil geworden war. Zunächst beschloß ich, in meinem Schuppen zu bleiben und sie noch genauer zu beobachten.

Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, waren die Leute schon munter. Das Mädchen brachte wieder das Haus in Ordnung und bereitete eine Mahlzeit. Nachdem diese eingenommen war, ging der Jüngling fort.

Der Tag spielte sich in derselben Weise ab wie der vorhergehende. Der Jüngling war die meiste Zeit außerhalb des Hauses beschäftigt, während das Mädchen sich innerhalb desselben zu schaffen machte. Der Alte, der, wie ich bemerkte, blind war, verbrachte seine Zeit, indem er auf seinem Instrument spielte oder nachdenklich im Zimmer saß. Es war schön anzusehen, welche Liebe und Verehrung die jungen Menschen dem Greise zuteil werden ließen. Sie pflegten ihn mit zarter Hingabe und wurden durch sein gütiges Lächeln belohnt.

Ganz glücklich schienen sie jedoch nicht zu sein, denn öfter sah ich die beiden jungen Leute weinen. Ich konnte es mir nicht erklären, jedenfalls aber empfand ich tiefes Mitleid mit ihnen. Wenn schon solche Geschöpfe unglücklich waren, ist es nicht verwunderlich, daß ich, der ich einsam und häßlich war, noch viel mehr litt. Aber warum waren sie unglücklich? Sie besaßen ein herrliches Haus (wenigstens schien es mir herrlich) und alles, was sie bedurften. Sie hatten Feuer, um sich daran zu wärmen, wenn sie froren, und köstliche Speisen, wenn sie Hunger hatten. Sie waren schön gekleidet, und was noch besser ist als alles andere, sie waren nicht allein, sondern freuten sich gegenseitig ihrer Gesellschaft. Was hatten also ihre Tränen zu bedeuten? Waren sie wirklich der Ausdruck des Leides? Zuerst war ich nicht imstande, mir diese Fragen zu beantworten, aber mit der Zeit ward mir verschiedenes klar, was mir bisher rätselhaft gewesen.

Es bedurfte langer Zeit, ehe ich eine der Hauptursachen ihres Kummers begriff. Es war die Armut, unter der sie in schrecklicher Weise zu leiden hatten. Ihre Nahrung bestand fast nur aus den Kräutern, die ihnen der Garten lieferte, und der Milch ihrer einzigen Kuh, für die sie im Winter kaum genügend Futter herbeizuschaffen vermochten. Ich glaube, daß die beiden jungen Menschen oft vom Hunger gequält wurden, denn ich bemerkte mehrmals, daß sie dem Greise Nahrung vorsetzten, ohne für sich selbst etwas übrig zu behalten.

Dieser Zug von Güte rührte mich. Ich hatte bisher in der Nacht einen Teil ihrer Nahrungsmittel für meinen Gebrauch gestohlen. Nachdem ich aber wußte, daß ich den guten Menschen damit wehe tat, verzichtete ich darauf und holte mir in einem benachbarten Gehölz Beeren, Nüsse und Wurzeln.

Ich entdeckte auch ein Mittel, ihnen bei ihrer Arbeit behülflich zu sein. Ich hatte beobachtet, daß der junge Mensch einen großen Teil des Tages darauf verwendete, Holz für den heimatlichen Herd zu sammeln. Ich nahm daher in der Nacht sein Werkzeug an mich, dessen Gebrauch ich rasch erlernte, und brachte Heizmaterial mit nach Hause, das für mehrere Tage ausreichte.

Ich erinnere mich, wie das Mädchen erstaunte, als sie eines Morgens, vor die Haustüre tretend, einen großen Haufen Holz aufgeschichtet vor sich sah. Sie schrie laut auf, und als der Jüngling herbeikam, äußerten sie offenbar ihr Erstaunen. Ich bemerkte mit Genugtuung, daß er es an diesem Tage unterließ, in den Wald zu gehen, sondern sich im Hause und im Garten beschäftigte.

Nach und nach machte ich aber eine Entdeckung, die für mich von ungeheurer Wichtigkeit war. Ich bemerkte nämlich, daß diese Wesen eine Methode besaßen, sich gegenseitig ihre Gefühle in artikulierten Lauten auszudrücken und daß die Worte, die sie sprachen, bald Leid, bald Freude, bald Frohsinn, bald Schmerz im Zuhörer hervorzurufen vermochten, wie man an ihren Mienen erkennen konnte. Das war allerdings eine herrliche Gabe und ich brannte förmlich danach, diese Methode genauer zu erforschen. Aber jeder Versuch, den ich unternahm, scheiterte kläglich. Ihre Aussprache war rasch, und da ich keinen Zusammenhang zwischen ihren Worten und den bestehenden Dingen sah, hatte ich gar keinen Anhaltspunkt. Nur meinem großen Eifer hatte ich es zu danken, daß es mir nach Verlauf mehrerer Monate gelang, die gebräuchlichsten Bezeichnungen zu erlernen. Ich wußte die Worte: Feuer, Milch, Brot und Holz zu deuten und auszusprechen. Dann merkte ich mir die Namen der Hausbewohner selbst. Hierbei fiel mir auf, daß die beiden jungen Leute mehrere Namen, der Alte aber nur einen, nämlich »Vater« hatte. Das Mädchen hieß »Schwester« oder »Agathe«, der Jüngling »Felix«, »Bruder« oder »Sohn«. Ich kann dir das Vergnügen nicht schildern, das ich empfand, als ich einigermaßen in die Gedankenwelt der guten Leute eindringen konnte. Sie gebrauchten noch mehr sehr häufig andere Worte, deren Sinn ich aber zunächst nicht begriff, wie zum Beispiel »gut«, »Liebster« oder »unglücklich«.

Unterdessen war der Winter vergangen und ich hatte diese Menschen sehr lieb gewonnen, so daß ich mit ihnen litt, wenn sie traurig waren, und mich freute, wenn sie sich freuten. Außer ihnen sah ich nur wenige menschliche Wesen, und wenn es ja vorkam, daß Fremde das Haus betraten, so fiel der Vergleich zwischen ihnen und meinen Freunden immer zum Vorteil der letzteren aus. Der Alte schien sich oftmals zu bemühen, seinen Hausgenossen Mut zuzusprechen, und die Güte und Liebe, die in seinem ganzen Wesen lagen, taten sogar mir wohl. Agathe lauschte meistens schweigend seinen Worten; aber in ihre Augen traten Tränen, die sie verstohlen wegwischte. Jedenfalls gewann ich den Eindruck, als sei sie wieder fröhlicher und vertrauensvoller, wenn der Alte zu ihr gesprochen hatte. Mit Felix war es anders. Er war immer der Traurigste in der ganzen Familie, und selbst mit meinen ungeübten Sinnen erkannte ich, daß er am schwersten gelitten haben mußte. Aber wenn er auch trauriger aussah als die anderen, so war doch seine Stimme fröhlicher als die seiner Schwester, besonders dann, wenn er mit dem Vater sprach.

Ich könnte dir unzählige Beispiele aufführen, die unverkennbar zeigten, wie sehr diese Leute aneinander hingen. Mochte auch Armut und Mangel schwer auf ihnen lasten, der Bruder vergaß doch nicht, die ersten weißen Blümchen, die aus dem Schnee lugten, seiner Schwester zu bringen. Früh am Morgen, noch ehe die Sonne aufgegangen war, kehrte er den Schnee von dem Wege, den sie zu gehen hatte, um nach dem Stalle zu gelangen, holte Wasser aus dem Brunnen und schleppte Brennholz ins Haus, immer sehr erstaunt, wenn er bemerkte, daß der Vorrat von unbekannter Hand wieder ergänzt worden war. Unter Tags arbeitete er vermutlich für einen Nachbar, denn er ging früh fort und kehrte erst zu Tisch wieder heim, brachte aber nie mehr Holz mit. Zuweilen schaffte er im Garten; da es aber zu dieser Zeit wenig dort zu tun gab, las er dem Alten und Agathe vor.

Dieses Lesen hatte mich anfangs sehr merkwürdig berührt; allmählich kam ich dann darauf, daß er auch beim Lesen viele der Worte gebrauchte, die er im täglichen Gespräch anwendete. Ich schloß daraus, daß er auf dem Papier Zeichen finden mußte, die er verstand, und brannte danach, diese gleichfalls kennen zu lernen. Aber das war ja nicht denkbar, denn ich kannte ja nicht einmal die Laute, die sie bezeichneten. Ich bemühte mich daher, zunächst ihre Sprache vollkommen zu verstehen; denn ich war mir darüber klar, daß ich eine Annäherung an die guten Leute nur dann wagen konnte, wenn ich ihre Sprache beherrschte, und daß ich sie nur dadurch einigermaßen mit meiner Ungestalt versöhnen könnte. Denn auch diese hatte ich durch das immerwährende Zusammensein mit den Leuten erkennen gelernt.

Und das kam so: Ich hatte mich stets an den schönen Formen meiner Freunde, an ihren geschmeidigen Bewegungen erfreut. Du kannst dir denken, welchen Schrecken ich empfand, als ich mich zum Vergleiche in dem klaren Spiegel des Teiches betrachtete. Zuerst prallte ich entsetzt zurück, da ich nicht glauben konnte, daß es mein Bild sei, das mir da entgegensah. Als ich aber einsah, daß ein Irrtum unmöglich und ich wirklich das Scheusal war, ergriffen mich Verzweiflung und Scham. Und damals hatte ich noch nicht einmal einen Begriff davon, was ich noch alles unter dieser Häßlichkeit zu leiden haben könnte!

Als die Sonne wieder wärmer und die Tage länger wurden, schmolz der Schnee und hüllenlos standen die kahlen Bäume, lag die schwarze Erde. Von da ab war Felix wieder mehr beschäftigt und ich hatte den Eindruck, als schwände auch die drückende Not, die zur Winterszeit dort geherrscht. Die Nahrung der Leute war grob, aber, wie ich später erfuhr, sehr nahrhaft und gesund. Im Garten wuchsen mehrere neue Arten von Pflanzen, die ich bisher noch nicht gesehen hatte, und gediehen immer üppiger, je weiter die Jahreszeit vorschritt.

Jeden Tag nach Tisch ging der Greis, auf seinen Sohn gestützt, spazieren, wenn es nicht regnete. Ich hatte unterdessen gelernt, daß man das regnen nennt, wenn der Himmel seine Wasser herniedersendet. Das geschah ziemlich häufig; aber ein warmer Wind ließ die Erde immer wieder trocken werden, und danach war es noch viel schöner als zuvor.

Mein Leben verlief sehr gleichmäßig. Morgens sah ich meinen Freunden zu, und wenn sie dann ihren verschiedenen Beschäftigungen nachgingen, legte ich mich schlafen. Den Rest des Tages verbrachte ich dann wieder in der gleichen Weise wie den Morgen. Wenn sie sich dann zur Ruhe begeben hatten, ging ich, vorausgesetzt, daß der Mond oder die Sterne die Nacht erleuchteten, in den Wald, um Nahrung für mich und Brennholz für meine Freunde zu sammeln. Nach meiner Rückkehr reinigte ich dann, wenn es nötig war, den Weg vom Schnee und verrichtete Arbeiten, die sonst Felix besorgt hatte. Diese Hilfe von unbekannter Seite erregte stets das Erstaunen der guten Menschen, und mehrere Male hörte ich, wie sie bei solchen Gelegenheiten ausriefen, »ein guter Geist« oder »ein Wunder«; Worte, deren Sinn ich damals noch nicht begriff.

Immer lebhafter beschäftigten sich meine Gedanken mit diesen Menschen. Ich verlangte danach, auch ihre Gefühle kennen zu lernen; vor allem wollte ich herausbringen, warum Felix so niedergeschlagen, Agathe so traurig war. Ich dachte – Narr, der ich war! – daß es vielleicht in meiner Macht stände, ihnen das Glück wiederzugeben. Im Schlafen und im Wachen standen mir die Gestalten vor den Augen, der verehrungswürdige alte Mann, das reizende Mädchen, der schöne junge Mensch. Sie kamen mir vor wie höhere Wesen, wie Götter, die über mein künftiges Schicksal zu entscheiden hätten. Ich stellte mir tausendmal in meinem Innern vor, wie sie mich wohl aufnehmen würden, wenn sie mich das erste Mal sähen. Ich dachte mir, daß sie anfangs ja sehr erschrecken, dann aber, gewonnen durch meine Güte und mein mildes Wesen, mir ihre Gunst und schließlich ihre Liebe schenken müßten.

Diese Gedanken munterten mich auf und veranlaßten mich, mit gesteigertem Eifer mich dem Studium ihrer Sprache hinzugeben. Mein Organ war hart, das ist wahr, aber es war auch biegsam. Wenn auch die Laute, die ich hervorbrachte, keinen Vergleich aushielten mit dem Wohllaut ihrer Stimme, so vermochte ich doch immerhin mich, wie ich glaubte, verständlich zu machen. Jedenfalls verdiente ich, der ich doch die besten Absichten hegte, etwas Besseres als Schläge und Verwünschungen.

Unter den warmen Regenschauern und dem wohligen Wehen der Frühlingswinde nahm die Erde allmählich ein ganz anderes Aussehen an. Die Menschen, die sich vorher unter dem rauhen Atem des Winters in ihre engen Wohnungen zusammengepfercht hatten, zerstreuten sich in Feld und Flur, um sich dort verschiedenen Beschäftigungen hinzugeben. Die Vögel sangen lieblich und überall grünte es an den Zweigen. Glückliche, schöne Erde! Jetzt ein Wohnsitz für Götter, und doch war sie noch vor kurzer Zeit traurig, öde und kalt. Auch in meinem Innern wirkte der Frühling wohltätig; das Vergangene war vergessen, die Gegenwart war ruhig und fröhlich, und die Zukunft lag vor mir im goldenen Sonnenschein der Hoffnung und der Freude.

13. Kapitel

Aber nun zu dem interessantesten Teil meiner Geschichte! Ich muß die Ereignisse berichten, die mich aus dem, was ich war, zu dem machten, was ich heute bin.

Immer schöner wurde es draußen und ein wolkenloser Himmel spannte sich über die Erde, die nach langer Wintersnacht nun grün und blühend geworden war. Tausend Wohlgerüche strömten auf mich ein und mein Auge erfreute sich immer neuer Schönheiten.

Es war einer jener Tage, an denen meine Freunde gewohnheitsmäßig zu feiern pflegten – der Alte spielte auf seiner Zither und die Kinder hörten ihm zu – als ich bemerkte, daß das Antlitz des Jünglings noch viel trauriger war als bisher. Er seufzte oft, so daß der Greis einmal sein Spiel unterbrach und ihn zu trösten versuchte. Felix antwortete liebevoll und der Alte begann wieder mit seiner Musik, als es plötzlich an der Tür pochte.

Es war eine Dame zu Pferde, die einen Bauern als Führer bei sich hatte. Sie war schwarz gekleidet und ein schwarzer Schleier bedeckte ihr Gesicht. Agathe fragte sie um ihr Begehr, worauf die Fremde mit lieblicher Stimme nur den Namen Felix aussprach. Daraufhin kam Felix herbeigeeilt. Die Dame schlug ihren Schleier zurück, so daß mir ein Antlitz von wunderbarer Schönheit entgegenstrahlte. Ihr Haar war tiefschwarz, glänzend und eigenartig geflochten; ihre dunklen, prächtigen Augen leuchteten; ihre Züge waren regelmäßig und ihr Gesicht von frischer Farbe.

Felix schien vor Glück förmlich aufzublühen, als er sie erblickte. Sein Antlitz leuchtete in schwärmerischer Freude, der ich ihn nie für fähig gehalten hätte. Seine Augen glänzten und eine heiße Röte färbte seine Wangen. In diesem Augenblick erschien er mir so schön wie die Fremde. Auch sie war ergriffen; aus ihren Augen stürzten Tränen, während sie ihm die Hand hinhielt, die er leidenschaftlich küßte. Und ich vernahm, wie er sie sein liebes Weib nannte. Sie schien den Inhalt seiner Worte nicht zu verstehen, aber sie lächelte. Er hob sie vom Pferde, entließ den Führer und geleitete sie ins Haus. Zuerst entwickelte sich ein Gespräch zwischen ihm und seinem Vater, dann warf sich das schöne Weib vor dem Greise nieder, um seine Hände zu küssen. Er aber hob sie auf und schloß sie liebevoll in die Arme.

Bald bemerkte ich, daß die Fremde, wenn Sie auch artikulierte Laute hervorbrachte, doch eine eigene Sprache zu haben schien und deshalb weder selbst verstanden wurde, noch auch die Anderen verstand. Sie halfen sich mit verschiedenen Zeichen, deren Bedeutung ich aber nicht begriff. Jedenfalls verbreitete ihre Anwesenheit Glück und Freude in der kleinen Wohnung, und die Traurigkeit war geschwunden wie Morgennebel vor dem Glanz der Sonne. Besonders glücklich war Felix und lächelte immer der Fremden zu. Agathe küßte die Hände der Frau und machte Zeichen gegen ihren Bruder hin, aus denen ich entnahm, daß er es sei, dem ihre Ankunft die innigste Freude bereite. So vergingen mehrere Stunden freudiger Erregung, deren Ursache ich ja allerdings vorerst nicht zu ergründen vermochte. Später erkannte ich an der öfteren Wiederholung von Worten, die die Fremde dann nachsprach, daß diese sich bemühte, die Sprache meiner Freunde kennen zu lernen. Da kam mir die Idee, daß ich aus diesen Lektionen auch Nutzen zu ziehen imstande wäre. Es waren nur zwanzig Worte, die die Fremde in dieser ersten Lektion erlernte, von denen ich die meisten schon kannte; aber es waren auch etliche dabei, die mir neu waren.

Als es Nacht wurde, zogen sich Agathe und die Fremde zeitig zurück. Als sie sich verabschiedeten, küßte Felix die Hand der Fremden und sagte: Schlaf wohl, liebe Safie. Er saß dann noch längere Zeit mit seinem Vater zusammen, und daraus, daß der Name der Fremden sich in ihrem Gespräch oft wiederholte, schloß ich, daß sie der Gegenstand desselben war. Ich bemühte mich sehr, sie zu verstehen, aber es war mir nicht möglich.

Am nächsten Morgen begab sich Felix wieder an die gewohnte Arbeit und die Fremde ließ sich, während Agathe die Wohnung in Ordnung brachte, zu Füßen des alten Mannes nieder. Dieser nahm seine Zither und spielte einige Lieder so schön, daß mir die Tränen des Mitleids und des Entzückens aus den Augen flössen. Dann sang die Fremde. Ihre Stimme ertönte in reicher Fülle und so lieblich, daß ich meinte, die Nachtigall des Waldes singen zu hören.

Nachdem sie geendet, gab sie Agathe die Zither. Diese lehnte zuerst ab, dann aber spielte sie ein einfaches Lied und sang dazu. Aber wenn auch ihre Stimme lieblich klang, so war sie doch mit der der Fremden nicht zu vergleichen. Der alte Mann schien entzückt und sagte einige Worte, die Agathe der Fremden zu erklären versuchte.

Die Tage flossen so ruhig und friedlich dahin wie bisher, nur mit dem Unterschied, daß meine Freunde jetzt keine traurigen Gesichter mehr hatten. Safie war immer lustig und guter Dinge. Sie und ich drangen rasch in die Geheimnisse der Sprache ein, so daß ich nach zwei weiteren Monaten fast alles verstand, was gesprochen wurde.

Auf den Feldrainen blühten ungezählte Blumen und auf dem mondbeschienenen Waldboden leuchteten ihre bleichen Sterne. Die Sonne war kräftiger geworden, die Nächte klar und mild. Meine Ausflüge bildeten ein großes Vergnügen für mich, wenn sie auch infolge des frühen Sonnenaufgangs und des späten Sonnenunterganges bedeutend kürzer werden mußten. Denn so lange es Tag war, wagte ich es nicht, meine Hütte zu verlassen, da ich fürchten mußte, dieselbe Behandlung zu erfahren, wie schon einmal, und die ich nie vergaß.

Meine Tage waren dem aufmerksamsten Studium gewidmet, denn es kam mir darauf an, möglichst bald der Kunst der Sprache teilhaftig zu werden. Ich darf mich rühmen, daß meine Fortschritte größer waren als die der Fremden, die noch sehr wenig verstand und nur sehr gebrochen sprach, während ich fast jedes Wort, das ich hörte, begriff und zu wiederholen wußte.

Aber nicht nur die Sprache, sondern auch die Schrift erlernte ich auf dieselbe Weise wie die Fremde. Damit eröffneten sich mir herrliche Gebiete, die mich in Erstaunen und Bewunderung versetzten.

Das Buch, aus dem Felix Safie unterrichtete, war Volneys »Zertrümmerte Reiche«. Ich hätte ja den Inhalt des Buches nie erfaßt, wenn nicht Felix immer ausführliche Erläuterungen dazu gegeben hätte. Er hatte dieses Werk gewählt, weil der Stil des Werkes außerordentlich anschaulich war.

Der Inhalt jenes Buches regte mancherlei Gedanken in mir an. Waren denn die Menschen wirklich zugleich so mächtig, tugendhaft und groß und doch dabei so lasterhaft und schlecht? Der Mensch erschien mir einmal als der Repräsentant des bösen Prinzips und dann ein andermal wieder als der Inbegriff des Edlen und Göttlichen. Ein großer, tugendhafter Mensch zu sein, das mußte doch das Herrlichste bedeuten, was sich ein denkendes Wesen vorstellen kann; und als tiefste Erniedrigung erschien es mir, lasterhaft und schlecht zu sein, ein Leben zu führen, das nutzloser war als das des blinden Maulwurfs oder des harmlosen Wurmes. Lange konnte ich es überhaupt nicht begreifen, daß es Wesen gäbe, die imstande waren, ihresgleichen zu morden, und warum es Gesetze und Regierungen gab. Aber als ich von Verbrechen und Blutvergießen erzählen hörte, wunderte ich mich nimmer, sondern wandte mich voll Ekel und Abscheu ab.

Jedes Gespräch der Hausbewohner eröffnete mir neue Perspektiven. Bei Gelegenheit der Belehrungen, die Felix der Fremden gab, erfuhr ich auch von dem seltsamen System der menschlichen Gesellschaft. Ich hörte von Teilung des Besitzes, von unermeßlichen Reichtümern und entsetzlichster Armut, von Rang, Abkunft und edlem Blute.

Dieses Kapitel veranlaßte mich, über mich selbst nachzudenken. Ich sah, daß das, was meine Mitmenschen als das Höchste betrachten, edle, fleckenlose Abkunft und Reichtum sind. In seltenen Fällen mochte es ja vorkommen, daß einer, der nur einen dieser beiden Vorzüge besaß, geachtet war; meistens aber betrachtete man einen solchen Menschen als Lump oder Sklaven, der lediglich dazu da ist, seine Kräfte im Dienste weniger Auserwählter zu verbrauchen. Und was war ich? Ich wußte von meiner Entstehung, von meiner Abkunft gar nichts; aber das wußte ich, daß ich kein Geld, keine Freunde mein eigen nannte. Außerdem war ich noch besonders häßlich und mißgestaltet und nicht einmal dasselbe Wesen wie ein Mensch. Ich war beweglicher als ein solcher und kam mit weniger Nahrung aus; ich ertrug mit größerer Gleichgültigkeit Kälte und Hitze und war an Größe und Kraft weit überlegen. Aber wenn ich um mich sah, fand ich niemand, der mir glich. Ich war also eine Abnormität, ein Ungeheuer, ein Schandfleck der Schöpfung, den alle Menschen flohen und von sich stießen.

Ich würde vergebens versuchen, dir die Qualen zu schildern, die diese Gedanken in mir wachriefen. Ich wollte ihrer Herr werden, aber mein Leid wuchs nur, je mehr ich darüber nachsann. O, daß ich doch immer in meinem Walde geblieben wäre und nicht gelernt hätte, etwas anderes zu fühlen als die Regungen des Hungers und des Durstes!

Welch seltsames Ding ist doch das Wissen! Es klammert sich an unser Inneres, wie eine Flechte an den Stein. Ich hätte oft gewünscht, all das Fühlen und Denken von mir abschütteln zu können. Aber ich erfuhr auch, daß es gegen all diese Schmerzen nur ein einziges Heilmittel gibt – den Tod, einen Begriff, den ich fürchtete, den ich aber nicht zu fassen vermochte. Ich bewunderte die Tugend und alle hohen, edlen Gefühle und liebte die schönen, guten Menschen, dich ich bis jetzt, allerdings nur von Ferne, kennen gelernt hatte. Aber vom Verkehr mit ihnen war ich ausgeschlossen, wenn ich nicht das, was ich mir verstohlen ansah, als solchen bezeichnen will und das meine Begierde, einer von ihnen zu sein, nur noch mehr anstachelte. Die freundlichen Worte Agathes, das liebliche Lächeln der Fremden waren nicht für mich berechnet, und die milden Worte des Greises und die klugen Reden des jungen Mannes richteten sich nicht an mich. Elender, armer Wicht der ich war!

Andere Dinge, die ich hörte, wirkten noch niederdrückender auf mich. Ich erfuhr vom Unterschied der Geschlechter, von der Geburt und der Erziehung der Kinder; von dem glücklichen Lächeln des Vaters, von der Liebe und Hingebung der Mutter; von Bruder, Schwester und all den anderen Verwandtschaftsgraden, die die Bande bezeichnen, die die Menschen unter einander bindet.

Aber wer sind meine Freunde und Verwandten? Kein Vater hat meine Kinderjahre behütet, keine Mutter mir ihre Liebe und Zärtlichkeit geschenkt; oder wenn es doch so war, dann war mein bisheriges Leben ein Traum, von dem ich nichts mehr weiß. So weit meine Erinnerung reichte, ich war immer derselbe, wie ich damals war, und hatte an Größe und Gestalt mich nicht verändert. Ich kannte niemand, der mir ähnlich war oder der sich die Mühe genommen hätte, sich mit mir zu beschäftigen. Was war ich, woher kam ich? Das waren die Fragen, die sich in mir erhoben und auf die ich keine Antwort fand als meine Seufzer.

Wohin mich diese Gefühle brachten, will ich nun erzählen. Aber zuerst möchte ich noch einmal von jenen Menschen sprechen, deren Leben in mir zugleich Entrüstung, Entzücken und Verwunderung wachrief und in denen ich in unschuldiger, wonniger Selbsttäuschung meine Beschützer sah.

14. Kapitel

Es währte einige Zeit, ehe ich etwas aus dem Leben meiner Freunde erfuhr. Die mannigfachen Umstände, die darin eine Rolle spielten, verfehlten nicht, auf mich, der ich so gänzlich unerfahren war, einen tiefen Eindruck zu machen.

Der alte Mann hieß de Lacey. Er stammte aus einer guten französischen Familie und war bei seinen Standesgenossen geachtet und beliebt. Sein Sohn stand im Kriegsdienste und seine Tochter verkehrte mit den vornehmsten Damen. Noch wenige Monate vorher hatten sie in einer großen, prächtigen Stadt, die Paris hieß, gelebt, umgeben von guten Freunden, und erfreuten sich alles dessen, was mäßiger Reichtum zu bieten vermag.

Der Vater Safies war der Urheber ihres Unglücks. Er war ein türkischer Kaufmann und hatte lange Jahre in Paris gewohnt, als er, ich weiß nicht aus welchem Grunde, der Regierung verdächtig wurde. Er wurde gefangen genommen und in den Kerker geworfen, am gleichen Tage als Safie aus Konstantinopel eintraf. Er wurde verhört und zum Tode verurteilt. Die Ungerechtigkeit dieses Richterspruches lag klar zu Tage und ganz Paris war darüber empört. Man vermutete wohl mit Recht, daß seine Religion und sein Reichtum mehr zu seiner Verurteilung beigetragen hatten, als das ihm zur Last gelegte Verbrechen.

Felix war zufällig in der Gerichtsverhandlung gewesen und hatte mit Entsetzen und Entrüstung den Richterspruch vernommen. In diesem Augenblicke hatte er sich feierlich gelobt, den Verurteilten zu befreien, und sich sofort an die Ausführung seines Vorhabens gemacht. Nachdem er verschiedene Male vergebens versucht hatte, Zutritt zu dem Gefangenen zu erhalten, entdeckte er zufällig die stark vergitterten Fenster der Zelle, in der der unglückliche Mann, beladen mit schweren Ketten, der Exekution entgegensah. Felix gelang es, nächtlicherweile an dieses Fenster zu kommen und dem Gefangenen mitzuteilen, daß er seine Befreiung zu erwarten habe. Der Türke war zugleich erstaunt und erfreut und versprach Felix reiche Belohnung, die dieser aber rauh zurückwies. Als er aber Safie kennen lernte, die ihren Vater öfter besuchen durfte, wußte er, daß dieser einen Schatz besaß, den er doch von ihm annehmen und der ihn für seine Mühen und Gefahren belohnen würde.

Rasch hatte der Türke bemerkt, daß seine Tochter Eindruck auf den jungen Mann gemacht hatte, und suchte diesen in seinem Vorhaben zu bestärken, indem er ihm die Hand des Mädchens versprach. Sobald er an einem sicheren Platze sei, sollte die Hochzeit stattfinden. Felix war zu zartfühlend, von diesem Versprechen Notiz zu nehmen, erwartete aber von dessen Erfüllung sein ganzes zukünftiges Glück.

Während der folgenden Tage machten die Vorbereitungen zur Befreiung des Kaufmannes um so bedeutendere Fortschritte, als Felix von der Geliebten einige Briefe erhielt, die diese mit Hilfe eines alten Dieners ihres Vaters, der französisch verstand, an ihn geschrieben. Sie dankte ihm in den glühendsten Worten für das, was er ihrem Vater zu Liebe zu tun beabsichtigte, und beklagte zugleich auch darin ihr eigenes Geschick.

Ich habe Abschriften dieser Briefe im Besitz, denn ich hatte unterdessen das Schreiben erlernt, und da die Briefe oftmals den Gegenstand des Gespräches bildeten, konnte ich mir ihren Inhalt zu eigen machen. Ehe ich wieder gehe, werde ich sie dir geben, denn sie sollen dir die Wahrheit dessen beweisen, was ich dir berichte. Aber jetzt, da die Sonne sich anschickt, hinter den Bergen unterzugehen, kann ich dir nur kurz angeben, was sie enthielten.

Safie teilte ihm mit, daß ihre Mutter eine Christin gewesen, die von den Türken gefangen genommen und in die Sklaverei abgeführt worden war. Bezwungen von ihrer Schönheit, hätte ihr, Safies Vater, sie zum Weibe genommen. Das junge Mädchen sprach in den Ausdrücken tiefster Liebe und Verehrung von ihrer Mutter, die, in Freiheit aufgewachsen, die Knechtschaft, in der sie leben mußte, sehr schmerzlich empfand. Sie unterrichtete ihre Tochter in den Lehren ihrer Religion und riet ihr, stets nach höheren geistigen Gütern und nach geistiger Freiheit zu streben, die ja den Mohammedanerinnen strenge verboten ist. Die Frau starb, aber ihre Lehren hatten sich Safies Geist tief eingeprägt, die der Gedanke, nach Asien zurückkehren und sich in irgend einen Harem einsperren lassen zu müssen, tief niederdrückte; denn die kindischen Vergnügungen, die allein ihr dort erlaubt sein würden, hätten schlecht zu dem gepaßt, was sie sich in Europa an großen Ideen angeeignet hatte. Die Aussicht, einen Christen heiraten und in einem Lande bleiben zu dürfen, wo auch der Frau es möglich war, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen, bereitete ihr Entzücken.

Der Tag der Hinrichtung des Gefangenen war nun herangekommen. Aber in der vorhergehenden Nacht war er entwichen und befand sich bei Tagesanbruch schon viele Meilen von Paris entfernt. Felix hatte sich Pässe auf seinen Namen sowie die seines Vaters und seiner Schwester verschafft. Er hatte dem ersteren davon Mitteilung gemacht, und dieser erleichterte das Vorhaben seines Sohnes dadurch, daß er bei seinen Bekannten die Absicht äußerte, eine Reise zu unternehmen zu wollen, und dann mit seiner Tochter in irgend einem entfernten Stadtteil von Paris Wohnung nahm.

Felix begleitete die Flüchtlinge durch Frankreich bis nach Lyon und von dort über den Mont Cenis nach Livorno, woselbst der Kaufmann eine günstige Gelegenheit abwarten wollte, in einen Teil des türkischen Reiches zu entkommen.

Safie beschloß, bis zur Hochzeit bei ihrem Vater zu bleiben, die kurz vor dessen Abreise in die Heimat stattfinden sollte. Und Felix erwartete voll Sehnsucht diesen Moment. Mittlerweile erfreute er sich der Gesellschaft des schönen Mädchens, das ihm die wärmste und zarteste Liebe entgegenbrachte. Sie unterhielten sich mit Hülfe eines Dolmetschers und dazwischen auch in der Sprache ihrer Augen. Manchmal sang ihm Safie die herrlichen Lieder ihrer Heimat vor.

Der Kaufmann hatte scheinbar gegen dieses Verhältnis nichts einzuwenden und ermutigte die Liebenden, während in seinem Herzen ein ganz anderer Plan reifte. Er dachte nur mit Abscheu daran, daß sein Kind einen Christen heiraten sollte. Aber er fürchtete, daß sich Felix an ihm rächen könne, wenn er wortbrüchig würde, denn er war ja immer noch in dessen Gewalt. Es bedurfte nur einer Anzeige bei der italienischen Regierung und alles war wie vorher, wenn nicht schlimmer. Tausenderlei Pläne gingen ihm durch den Kopf, wie er den jungen Liebhaber so lange hinziehen könne, bis er seiner nicht mehr bedurfte, um dann seine Tochter bei seiner Abfahrt heimlich mitzunehmen. Und die Nachrichten, die aus Paris eintrafen, waren seinen Plänen nur förderlich.

Die französische Regierung war über die Flucht ihres Opfers aufs äußerste erbost und sparte keine Mühe und keine Kosten, um den Befreier zu entdecken und zu bestrafen. Bald hatte man eine Spur des Täters, und kurz danach wanderten de Lacey und Agathe ins Gefängnis. Als Felix hiervon Nachricht erhielt, war sein Glückstraum zu Ende. Sein alter, blinder Vater und seine liebliche Schwester schmachteten in kalter, dunkler Zelle, während er in Freiheit war und sich seiner reizenden Geliebten erfreute. Dieser Gedanke quälte ihn. Er traf noch rasch mit dem Türken die Abmachung, daß dieser, wenn er Gelegenheit fände, zu entkommen, Safie in irgend einem Kloster von Livorno in Pflege geben sollte. Dann riß er sich von dem geliebten Weibe los, eilte nach Paris und stellte sich selbst dem Gericht in der Hoffnung, dadurch seinem Vater und seiner Schwester die Freiheit wiederzuverschaffen.

Aber er hatte keinen Erfolg damit. Fünf Monate blieben sie in Haft, bis endlich die Verhandlung festgesetzt wurde. Das Resultat derselben war, daß ihr Vermögen konfisziert und sie zu lebenslänglicher Verbannung aus ihrem Heimatland verurteilt wurden.

Sie fanden ein ärmliches Asyl in dem Bauernhause in Deutschland, in dem ich sie entdeckte. Felix brachte auch bald in Erfahrung, daß der verräterische Türke, für den er und seine Familie so Schweres erdulden mußten, sein Wort in ehrloser Weise gebrochen und mit seiner Tochter Italien verlassen hatte. Wie zum Hohn sandte er ihm auch noch eine kleine Geldsumme, damit er sich eine Stellung verschaffen könne.

Das also war es, was auf Felix so deprimierend gewirkt und ihn so unglücklich gemacht hatte. Armut zu ertragen wäre ihm ja ein leichtes gewesen; aber die Treulosigkeit des von ihm geretteten Kaufmannes und der Verlust der Geliebten, das waren Dinge, die er nicht verschmerzen konnte. Erst die Ankunft des geliebten Weibes flößte ihm wieder neuen Lebensmut ein.

Und das kam so: Als die Nachricht von der Verurteilung und Verbannung der Familie de Lacey Livorno erreichte, befahl der Kaufmann seiner Tochter, jeden Gedanken an den jungen Mann aufzugeben und sich zur Heimreise vorzubereiten. Die edle Natur Safies sträubte sich gegen diese Zumutung und sie versuchte ihren Vater zur Zurücknahme seines grausamen Gebotes zu veranlassen. Aber er geriet nur in Zorn und wiederholte seinen Befehl mit noch größerer Bestimmtheit.

Einige Tage später betrat der Türke das Zimmer seiner Tochter und teilte ihr erregt mit, daß er guten Grund habe zu glauben, daß die französische Regierung seinen jetzigen Aufenthalt ermittelt habe und mit Livorno wegen seiner Auslieferung in Verhandlungen stehe. Er habe deshalb ein Schiff gemietet, das in wenigen Stunden absegeln und ihn nach Konstantinopel bringen sollte. Er beabsichtigte, seine Tochter unter der Obhut einer vertrauten Dienerin zurückzulassen. Sie sollte, wenn ihr Hab und Gut endlich in Livorno angekommen sei, ebenfalls die Reise antreten.

Als Safie allein war legte sie sich einen Plan zurecht, der sie aus dieser unangenehmen Lage befreien sollte. In die Türkei zurückzukehren, daran dachte sie nicht; Religion und Gefühl sträubten sich dagegen. Aus einigen Papieren ihres Vaters, die ihr dieser zurückgelassen, erfuhr sie den Namen des Ortes, an dem ihr Geliebter in der Verbannung lebte. Sie zögerte noch einige Zeit, dann aber stand ihr Entschluß fest. Sie nahm ihre Juwelen und eine Summe Geldes an sich und machte sich mit einer Dienerin, die aus Livorno stammte und mit der sie sich einigermaßen verständigen konnte, auf den Weg nach Deutschland.

Wohlbehalten kam sie in der Stadt an, die etwa zwanzig Meilen von dem Wohnort de Laceys entfernt lag. Dort aber erkrankte ihre Dienerin sehr schwer. Safie pflegte sie mit der größten Hingabe, konnte es aber nicht verhindern, daß das arme Mädchen starb. So stand sie nun hilflos da, denn sie kannte weder die Sprache des Landes noch auch dessen Sitten. Das Glück war ihr hold, denn die Frau, bei der sie wohnte, nahm sich ihrer an und sorgte dafür, daß sie unter sicherem Geleit dahin kam, wo sie den Geliebten wiederzufinden hoffte.

6. Kapitel

Der Brief, den mir Clerval übergab, war von Elisabeth und lautete:

Liebster Viktor!

Du bist krank gewesen, sehr krank, und auch die immerwährenden Briefe des guten, lieben Clerval können mich nicht genügend beruhigen. Ich weiß, daß Du nicht schreiben, keine Feder anrühren darfst; aber ein Wort, ein einziges Wort von Dir genügt, um unsere Befürchtungen zu zerstreuen. Ich meinte, jede Post könne dieses einzige Wort endlich bringen, und nur meine feste Überzeugung, daß das geschehen müsse, hielt Onkel davon ab, die Reise nach Ingolstadt zu unternehmen. Ihn habe ich allerdings abgehalten, die Unbequemlichkeiten, ja sogar Gefahren dieser langen Reise auf sich zu nehmen; aber wie oft habe ich es bedauert, daß ich selbst sie nicht wagen konnte! Ich bildete mir ein, daß den Dienst an Deinem Krankenbett eine alte Lohnpflegerin tat, die niemals Deine Wünsche so erraten und sie so erfüllen konnte, wie es Deine arme Elisabeth verstanden hätte. Aber das ist nun vorüber! Clerval schreibt, daß es Dir in der Tat wieder wesentlich besser geht, und ich bitte Dich flehentlich, mir dies mit eigener Hand zu bestätigen.

Werde nur bald wieder gesund und komme dann wieder heim zu uns. Du wirst ein glückliches, friedliches Heim finden und fühlen, wie sehr die Deinen an Dir hängen. Dein Vater ist noch sehr rüstig und hat keinen anderen Wunsch als den, Dich zu sehen, zu wissen, daß es Dir wohl geht. Dann trübt aber auch keine Wolke sein gütiges Antlitz. Wie wirst du Dich freuen, Ernst wiederzusehen. Wie der groß geworden ist! Er ist jetzt gerade sechzehn Jahre und voller Übermut und Kühnheit. Als echter Schweizer beabsichtigt er, in fremde Kriegsdienste zu treten; allerdings sind wir damit nicht recht einverstanden, wenigstens so lange der ältere Bruder noch fort ist. Dein Vater will von der Sache überhaupt nichts wissen, aber Ernst besaß nie Deinen Fleiß und Deine Freude am Studium. Er sieht es mehr als etwas Nebensächliches an und verbringt seine Zeit meist in der frischen Luft, auf Berghängen und am Seegestade. Ich fürchte, daß er ein Müßiggänger wird, wenn wir seinem Willen nicht nachgeben und ihn den Beruf wählen lassen, den er sich in den Kopf gesetzt hat.

Bei uns hat sich recht wenig geändert; nur die Kleinen sind herangewachsen, seit Du von uns gegangen bist. Der blaue See, die Berge mit ihren Schneehäuptern – sie verändern ihr Antlitz nicht. Und mir scheint es, als herrschte in unserem ruhigen Heim und in unseren friedlichen Herzen dasselbe Gesetz der Unveränderlichkeit. Meine alltäglichen Beschäftigungen füllen meine Zeit ganz aus und machen mir Freude, und mein Lohn ist es, wenn ich frohe, glückliche Gesichter um mich sehe. Nur etwas ist in unserem kleinen Haushalt anders geworden, seit Du nicht mehr hier bist. Erinnerst Du Dich noch, wie Justine Moritz zu uns kam? Vielleicht nicht mehr, darum will ich Dir die Sache mit ein paar Worten ins Gedächtnis zurückrufen. Frau Moritz war eine Witwe mit vier Kindern, von denen Justine das dritte war. Dieses Mädchen war immer ihres Vaters Liebling gewesen; aber merkwürdigerweise mochte ihre Mutter sie nicht ausstehen und behandelte sie sehr schlecht, als der Vater tot war. Meine Mutter merkte das und machte Frau Moritz den Vorschlag, die Kleine, die eben erst zwölf Jahre alt geworden war, in unserem Hause dienen zu lassen. Die republikanischen Einrichtungen unseres Landes bringen einfachere und schönere Lebensformen mit sich, als man sie vielleicht in den Monarchien, die uns umgeben, kennt. Deshalb ist auch kein so großer Unterschied zwischen der wohlhabenden und der dienenden Klasse, und die letzteren sind deshalb, weil sie nicht als minderwertig gelten, feiner und moralischer als ihre in der gleichen Lage befindlichen Mitmenschen in anderen Ländern. Ein Dienstmädchen in Genf ist etwas wesentlich anderes als ein solches in Frankreich oder in England. Justine, die in unsere Familie eintrat, nahm allerdings eine dienende Stellung ein, die aber in unserem glücklichen Lande weder Unwissenheit bedingt noch auch ein Opfer der Menschenwürde bedeutet.

Du erinnerst Dich sicher, daß Du Justine sehr gern hattest, und ich weiß, daß Du eines Tages sagtest, daß ein Blick aus Justines Augen imstande sei, jede üble Laune von Dir zu vertreiben. Auch Deine Mutter war ihr sehr zugetan und beschloß, ihr eine bessere Erziehung zu geben, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Diese Wohltat ward ihr reichlich vergolten, denn Justine war das dankbarste Geschöpf, das man sich denken kann. Nicht, daß sie schmeichelte; aber ihre Augen verrieten, wie sehr sie ihre Herrin vergötterte. Wenngleich sie sehr lebhaft, in mancher Hinsicht sogar unachtsam war, beobachtete sie doch mit der größten Aufmerksamkeit jede Bewegung, jede Miene Deiner Mutter. Diese galt ihr als Muster aller Vollkommenheit und sie bemühte sich, ihr in Rede und Haltung zu gleichen, so daß sie mich heute noch immer an die Entschlafene erinnert.

Als dann Deine geliebte Mutter starb, waren wir alle zu sehr in unseren Gram vertieft, um von der armen Justine Notiz zu nehmen, die die Kranke mit der hingebendsten Liebe gepflegt hatte. Das Mädchen wurde sehr krank, aber andere Prüfungen waren ihr noch vorbehalten.

Nach und nach starben alle ihre Brüder und Schwestern dahin und ihre Mutter hatte niemand mehr als sie, die vernachlässigte Tochter. Und da begann sich das Gewissen der alten Frau zu rühren: sie glaubte in dem Tode ihrer Lieblinge ein Strafgericht für ihre Ungerechtigkeit zu erkennen. Sie war katholisch und ich glaube, daß ihr Beichtvater sie in dieser Ansicht nur noch bestärkt hat. Kurz, einige Monate nach Deiner Abfahrt nach Ingolstadt wurde Justine zu ihrer Mutter zurückberufen. Armes Ding! Sie weinte bitterlich, als sie uns verließ; seit dem Tode Deiner Mutter war sie ganz verändert und ihre frühere Lebhaftigkeit war einer herzgewinnenden Weichheit und Milde gewichen. Aber der Aufenthalt bei ihrer Mutter war gar nicht geeignet, sie wieder fröhlich zu machen. Die arme Frau war nicht sehr beständig in ihrer Reue. Oftmals bat sie Justine, ihr doch ihre Unfreundlichkeiten zu verzeihen, aber dann wieder klagte sie sie an, daß sie am Tode ihrer Brüder und Schwestern schuld sei. Dieser immerwählende Gram nagte an Frau Moritz, die immer verdrießlicher und reizbarer wurde, bis sie endlich auf ewig Ruhe fand. Sie starb bei dem Herannahen des kalten Wetters zu Beginn des letzten Winters. Justine ist wieder bei uns und ich kann Dir nur versichern, daß ich sie herzlich lieb habe. Sie ist sehr klug und nett und außergewöhnlich hübsch. Wie ich Dir schon sagte, erinnert sie mich in Miene und Haltung immerwährend an Deine Mutter.

Noch muß ich Dir mit ein paar Worten über unseren lieben, kleinen Wilhelm berichten. Ich wollte, Du könntest ihn sehen. Er ist sehr groß für sein Alter, hat lachende, blaue Augen, dunkle Augenbrauen und gelocktes Haar. Wenn er lacht, erscheinen auf seinen Wangen zwei rosige Grübchen. Er hat bereits einige kleine Bräute; die liebste von allen ist ihm aber Luise Biron, ein reizendes Kind von fünf Jahren.

Ich nehme an, daß Dir auch ein kleiner Klatsch über unsere Genfer Bekannten erwünscht ist. Fräulein Mansfeld hat sich mit einem jungen Engländer, Herrn John Melbourne, verlobt, während ihre häßliche Schwester Manon letzten Herbst einen reichen Bankier, Herrn Duvillard, geheiratet hat. Dein Schulfreund Ludwig Manoir hat mit viel Mißgeschick zu kämpfen gehabt. Es geht ihm aber jetzt wieder gut und man erzählt sich, daß er im Begriffe sei, eine liebenswürdige Französin, Frau Tavernier, zu heiraten. Sie ist Witwe und viel älter als er; aber sie wird von allen Seiten verehrt und angebetet.

Während des Schreibens merke ich, daß ich mich selbst damit in bessere Laune versetzt habe; aber nun, wo ich schließen möchte, kehrt meine Angst wieder. Schreibe, lieber, guter Viktor, eine Zeile, ein Wort wird uns reich machen. Henry lassen wir tausendmal danken für seine Liebe, seine Güte und seine vielen Briefe; wir werden es ihm nie vergessen. Lebwohl, Lieber; schone Dich recht und vergiß nicht zu schreiben – ich bitte Dich darum!

*

Genf, den 18. März 17..

Elisabeth Lavenza.

»Teure, geliebte Elisabeth,« rief ich aus, nachdem ich den Brief zu Ende gelesen, »ich werde sofort schreiben und dich von der Angst befreien, die du um mich hast.« Ich schrieb – allerdings nicht ohne bedeutende Anstrengung; aber meine Genesung hatte begonnen und machte rasche Fortschritte. Nach weiteren vierzehn Tagen durfte ich das erste Mal wieder mein Zimmer verlassen.

Das erste, was ich nach meiner Genesung tat, war, daß ich Clerval bei verschiedenen Professoren der Universität einführte. Daß dabei mehrere Wunden meiner Seele wieder aufbrachen, ist nicht zu verwundern. Seit jener Unglücksnacht, die das Ende meiner Mühen, aber auch den Anfang meines Elends bildete, hatte ich einen gewissen Widerwillen schon gegen das Wort Naturphilosophie. Wenn ich auch gesundheitlich vollkommen wiederhergestellt war, so war doch schon der Anblick eines der Chemie dienenden Instrumentes geeignet, von neuem nervöse Erschütterungen hervorzurufen. Henry hatte das gemerkt und deshalb alle Apparate wegräumen lassen. Er hatte auch dafür Sorge getragen, daß ich ein anderes Zimmer bezog, denn er empfand, daß ich ein Grauen vor dem Raume hatte, der mir bisher als Laboratorium gedient. Aber all die Vorsichtsmaßregeln halfen nicht, als wir unsere Besuche bei den Professoren machen mußten. Herr Waldmann verursachte mir Qualen, als er gütig und ehrlich die erstaunlichen Fortschritte pries, die ich in den Wissenschaften gemacht hatte. Er fühlte bald heraus, daß mir dieses Thema unangenehm war; da er aber meine inneren Beweggründe nicht wissen konnte, schrieb er meine Verlegenheit meiner Bescheidenheit zu und wechselte das Thema insofern, als er auf die Wissenschaft im allgemeinen überging, allerdings in der Absicht, mich herauszustreichen. Was sollte ich tun? Er meinte es gut, tat mir aber weh. Mir war es wie einem, dem man nach und nach all die Instrumente vorzeigt, mit denen er dann geschunden und hingerichtet werden soll. Ich erschauerte bei seinen Worten, konnte aber meine Pein nicht zeigen. Clerval, der sehr rasch die Gedanken und Gefühle anderer zu erraten verstand, lenkte dann das Gespräch ab, in dem er seine vollständige Unkenntnis dieser Dinge entschuldigend erwähnte. Ich dankte meinem treuen Freunde innerlich, durfte aber doch nicht diesem Gefühle mit Worten Ausdruck geben. Er war offenbar überrascht, versuchte aber niemals, mein Geheimnis zu erforschen. Und obschon ich ihn grenzenlos liebte und verehrte, brachte ich es doch nicht übers Herz, ihm das Ereignis anzuvertrauen, das immer in meiner Seele gegenwärtig war und das vielleicht auf einen andern einen noch tieferen Eindruck machen konnte als auf mich selbst.

Herr Krempe sprach in wesentlich anderer Weise, und in meiner empfindlichen, seelischen Verfassung taten mir seine rauhen, ungelenken Lobsprüche noch weher als die feinen, anerkennenden Worte Waldmanns. »Hol der Teufel den Jungen!« schrie er. »Ich versichere Ihnen, Herr Clerval, er hat uns alle ausgestochen. Ja, ja, schauen Sie nur; deswegen ist es doch wahr. Ein junger Dachs, der noch ein paar Jahre vorher an Cornelius Agrippa glaubte, wie an das Evangelium, ist nun uns allen an der ganzen Universität voran. Nun, nun,« fuhr er fort, als er den leidenden Ausdruck in meinem Gesichte bemerkt hatte, »ich weiß, Herr Frankenstein ist bescheiden, wie es sich für junge Leute besonders gut ziemt. Junge Leute dürfen sich noch nicht allzuviel zutrauen, wissen Sie, Herr Clerval. Auch ich war bescheiden, wie ich noch jung war; aber das wird ja dann später alles anders.«

Herr Krempe war damit auf ein Thema übergegangen, das mir nicht so unangenehm war, nämlich auf einen Lobhymnus seiner selbst.

Clerval hatte meine Neigung zu den Naturwissenschaften nie geteilt und auch seine Lektüre hatte sich immer wesentlich von der meinen unterschieden. Er hatte die Universität bezogen mit der festen Absicht, orientalische Philologie zu studieren und sich damit einen Lebensberuf zu schaffen. Das Persische, Arabische und Sanskrit waren seine Lieblingssprachen, und es war ihm ein Leichtes, mich zu veranlassen, daß auch ich diese Fächer belegte. Müßiggang war mir von jeher ein Greuel gewesen, und gerade jetzt, wo ich meine früheren Studien wieder zu hassen begann und alles zu vergessen wünschte, war es mir lieb, in meinem Freunde einen Arbeitsgenossen zu haben und in den geistigen Schätzen des Orients nicht nur Belehrung, sondern auch Ablenkung zu finden. Es war mir nicht, wie ihm, darum zu tun, mir genaue, detaillierte Kenntnisse zu erwerben, sondern ich wollte mich nur der Zerstreuung halber damit beschäftigen. Ich las nur um des Inhalts willen und meine Mühe machte sich reichlich belohnt; ihr Ernst ist sanft und ihre Freude erhebend, wie ich es in keiner anderen Literatur kennen lernte. Wo man diese orientalischen Schriften liest, meint man, das Leben fließe nur im linden Sonnenlichte und in berauschendem Rosenduft dahin. Wie verschieden sind dagegen die herben, heroischen Dichtungen der Griechen und Römer!

Der Sommer floß dahin und meine Rückkehr nach Genf wurde auf Ende Herbst festgesetzt. Durch verschiedene Zufälligkeiten kam es aber nicht dazu, und unterdessen brach der Winter herein, der mit Schnee und Eis die Straßen unbenutzbar machte, so daß ich meine Abreise auf den folgenden Frühling verschieben mußte. Dieser neue Aufschub fiel mir sehr schwer, denn ich sehnte mich danach, meine Heimat und meine Lieben zu sehen. Ich hatte meine Abreise auch deswegen verzögert, weil ich Henry nicht ganz allein in der fremden Stadt lassen, sondern ihn erst noch mit einigen Einwohnern derselben bekannt machen wollte. Wir verbrachten den Winter ganz vergnügt, und der Frühling, der ungewöhnlich spät einsetzte, entschädigte uns mit allen Mitteln für sein Säumen.

Schon war es Mai geworden und ich erwartete Tag für Tag den Brief aus der Heimat, der meine endgültige Abreise festlegen sollte. Henry schlug mir vor, mit ihm eine Fußtour in die Umgebung von Ingolstadt zu machen, damit ich mich von dem Landstriche, in dem ich einige Zeit gelebt, verabschieden könne. Ohne Zögern stimmte ich zu, denn ich war ein großer Freund körperlicher Übungen, außerdem war ja Clerval mein Genosse auf meinen Streifereien in der prächtigen Bergwelt meiner Heimat gewesen.

Vierzehn Tage blieben wir fort. An Geist und Körper hatte ich mich schon erholt und sog neue Kraft aus der reinen, heilsamen Luft, dem abwechselungsreichen Anblick der Natur und den Gesprächen meines Freundes. Das Studium hatte mich vordem vollkommen von meinen Mitgeschöpfen getrennt und mich einsam gemacht. Aber Clerval gelang es, wieder die besseren Gefühle meines Herzens die Oberhand gewinnen zu lassen; ich hatte wieder Freude an der Natur und an den unschuldigen Kindergesichtern. Ein edler Freund! Wie aufrichtig er mich liebte und sich bemühte, mich auf seine Höhe zu erheben! Selbstsucht hatte mich kleinlich und engherzig gemacht, aber sein Edelmut und seine Liebe öffneten mir das Herz. Ich wurde wieder dasselbe glückliche Geschöpf, das ich vorher gewesen, sorglos und froh. Da ich glücklich war, hatte auch die Natur die Macht, freudige Gefühle in mir zu erwecken. Heiterer Himmel und grünende Wiesen erfüllten mich mit Entzücken. Es war eine herrliche Zeit; die Frühlingsblüten zierten noch Baum und Strauch und die Blumen des Sommers brachen schon überall hervor. Die Gedanken, die mich im vergangenen Jahre so schwer bedrückt hatten, trotzdem ich mir alle Mühe gab, sie von mir zu werfen, waren von mir gewichen.

Henry war glücklich, als er mich so froh sah. Er war unerschöpflich an gedankenreicher Konversation, und oftmals erfand er nach Art der persischen und arabischen Märchendichter Geschichten von wunderbarer Schönheit und Glut. Zuweilen wiederholte er mir meine Lieblingsdichter oder begann mit mir Diskussionen, die er mit großer Beharrlichkeit durchfocht.

Sonntag Nachmittag kehrten wir in unsere Universitätsstadt zurück. Die Bauern tanzten und alle Welt schien glücklich und sorglos. Ich selbst war in köstlicher Laune, und voll unbändiger Heiterkeit und Fröhlichkeit wäre ich selbst am liebsten gesprungen.

7. Kapitel

Bei meiner Heimkehr fand ich einen Brief meines Vaters vor und las:

Lieber Viktor! Du wirst mit Ungeduld auf meinen Brief haben, der Dir das genaue Datum Deiner Rückreise zu uns angeben soll. Und eigentlich hatte ich erst die Absicht, Dir nur einige wenige Zeilen zu schreiben, die Dir sagen sollten, wann wir Dich hier erwarten. Aber das wäre eine grausame Schonung gewesen und ich wagte es nicht. Wie überrascht wärst Du gewesen, mein lieber Sohn, wenn Du anstatt eines frohen, herzlichen Willkommgrußes in ein Haus voll Trauer und Tränen gekommen wärest. Wie kann ich Dir nur unser Unglück schildern, Viktor? Deine lange Abwesenheit hat Dich sicher nicht gefühllos für unsere Freuden und Leiden gemacht, und wie schwer wird es mir, meinem Sohne, der schon so lange in der Ferne weilt, wehe zu tun! Ich möchte Dich gern vorbereiten auf das Furchtbare, was ich Dir sagen muß, aber ich weiß, es ist unmöglich. Ich sehe jetzt schon Deine Augen vorausfliegen nach der Stelle, die Dir das Unheilvolle verkündet.

Wilhelm ist – tot! Der süße, liebe Junge, dessen Lächeln meinem Herzen wohltat wie warmer Sonnenschein, und der so reizend, so fröhlich war! Viktor, denke Dir, man hat ihn ermordet!

Letzten Donnerstag (7. Mai) ging ich mit Elisabeth und Deinen zwei Brüdern nach Plaipalais spazieren. Es war ein warmer, schöner Abend und wir dehnten unseren Spaziergang weiter aus als gewöhnlich. Es war schon dämmerig geworden, bis wir ans Umkehren dachten; aber wir vermißten Wilhelm und Ernst, die uns vorausgegangen waren. Wir ließen uns auf einer Bank nieder und warteten, bis auch sie umkehren würden. Plötzlich kam Ernst und fragte, ob wir nicht seinen Bruder gesehen hätten. Er erzählte, daß sie gespielt hätten und Wilhelm davongelaufen sei, um sich zu verstecken; er habe ihn dann lange vergeblich gesucht und noch länger auf ihn gewartet.

Diese Erzählung versetzte uns in nicht geringe Erregung und wir begaben uns auf die Suche, bis es dunkle Nacht war. Elisabeth kam auf die Vermutung, daß der Knabe vielleicht heimgelaufen sein könnte. Aber auch hier fanden wir ihn nicht. Wir gingen wieder hinaus, diesmal mit Fackeln, denn ich hatte keine Ruhe, wenn ich daran dachte, daß der Junge sich verlaufen haben könnte und die ganze Nacht dem Nebel und Tau ausgesetzt sei. Auch Elisabeth litt furchtbare Angst. Morgens gegen fünf Uhr fand ich den lieben Knaben, den ich noch am Abend zuvor blühend und frisch gesehen hatte, bleich und steif auf dem Grasboden ausgestreckt; an seinem Halse erkannte man noch die Fingerabdrücke des Mörders.

Ich brachte ihn nach Hause, und die Qual, die sich in meinen Zügen ausdrücken mußte, ließ Elisabeth sofort das Gräßliche erraten. Sie wollte absolut den kleinen Leichnam sehen. Zuerst versuchte ich es zu verhindern, aber sie bestand auf ihrem Wunsche. Als sie in das Zimmer kam, wo der Kleine lag, ging sie eilig auf ihn zu und rief, die Hände ringend: »O Gott, ich habe das gute Kind gemordet!«

Sie brach zusammen und konnte nur mit großer Mühe wieder zum Bewußtsein gebracht werden. Und kaum war sie erwacht, als sie zu weinen und zu klagen begann. Sie erzählte mir, daß am Abend sie der Kleine so lange geplagt hatte, bis sie ihm erlaubte, ein Medaillon mit einer wertvollen Miniatur, die Deine Mutter darstellte, zu tragen. Dieses Medaillon fehlt und war zweifellos das, was den Mörder zu seiner unseligen Tat anreizte. Wir haben bis jetzt noch keine Spur von ihm, obgleich wir unermüdlich nach ihm forschen. Aber was hilft es, unser armer Wilhelm wird davon nicht mehr lebendig.

Komm heim, lieber Viktor; Du allein wirst Elisabeth zu trösten vermögen. Sie weint unausgesetzt und klagt sich der Schuld an dem Unglück an; ihr Jammer macht mich noch elender. Wir sind alle wie gebrochen, und das wird erst recht ein Anlaß für Dich sein, geliebter Sohn, heimzukehren und uns zu trösten.

Deine gute Mutter! Wie danke ich Gott, daß er sie es nicht mehr erleben ließ, wie ihr jüngstes Kind so elend und grausam zu Grunde gehen mußte!

Komm, Viktor; nicht rachebrütend gegen den feigen Mörder, sondern voll Liebe und Güte gegen uns, die Dich lieb haben. Dein Dich liebender, unglücklicher Vater Alfons Frankenstein.

*

Genf, den 12. Mai 17..

Clerval, der mich beobachtet hatte, während ich las, war überrascht von meiner Verzweiflung, die an die Stelle meiner Freude bei Empfang des Briefes getreten war. Ich warf den Brief auf den Tisch und barg mein Gesicht in den Händen.

»Lieber Frankenstein,« sagte er, als er bemerkte, daß ich bitterlich weinte, »bist du denn noch immer unglücklich? Was ist denn geschehen?«

Ich veranlaßte ihn mit einer Handbewegung, den Brief zu lesen; währenddem ging ich in der heftigsten Erregung im Zimmer auf und nieder. Auch aus seinen Augen drangen Tränen, als er den schrecklichen Bericht las.

»Trösten kann ich dich nicht, armer Freund, sagte er, »dazu ist das Unglück zu groß. Was wirst du nun tun?«

»Sofort nach Genf reisen. Komm mit mir, die Pferde bestellen.«

Auf dem Wege versuchte Clerval einige Worte des Trostes zu finden. Wenn es ihm auch nicht möglich war, so fühlte ich doch, wie tief er mit mir litt. »Armer Wilhelm! Nun ruht der liebe Junge bei seiner seligen Mutter. Und wenn man ihn noch frisch und blühend gekannt hat, muß es einem ja noch viel weher tun. So elend enden zu müssen unter dem grausamen Griff eines Mörders! Und was für eine Bestie muß der sein, der imstande ist, ein so junges, unschuldiges Leben zu zerstören! Aber daß er nun Frieden hat, mag ein Trost sein für die, die an seiner Bahre klagen und trauern. Wir dürfen ihn nicht weiter bemitleiden, sondern die Überlebenden sind es, die unseres Mitleides bedürfen.«

So sprach Clerval, während wir durch die Straßen eilten. Ich erinnere mich noch heute seiner Worte. Aber damals hatte ich keine Zeit zu antworten. Kaum fuhr der Wagen vor, als ich auch schon hineinsprang und mich von meinem Freunde verabschiedete.

Es war eine traurige Reise. Anfangs konnte es mir nicht rasch genug gehen, denn ich sehnte mich danach, meine Lieben in der Heimat in ihrem Gram zu trösten und sie in die Arme zu schließen. Je näher ich aber meiner Vaterstadt kam, desto mehr verzögerte ich die Fahrt. Ich konnte kaum der Fülle von Eindrücken Herr werden, die über mich hereinstürmten. Es umgaben mich Bilder, die mir von früher Jugend an lieb und vertraut waren, die ich aber seit nahezu sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Was konnte sich alles während dieser Zeit geändert haben? Ein plötzliches, erschütterndes Ereignis war ja eingetreten; aber noch tausend andere kleine Veränderungen konnten geschehen sein, die, weniger tief eingreifend, dennoch aber von entscheidender Bedeutung waren. Ich empfand Furcht; ich wagte es nicht, die Fahrt zu beschleunigen, denn tausend Befürchtungen standen mir vor Augen, die mich erzittern ließen, obgleich ich nicht imstande war, mir darüber Rechenschaft zu geben.

Ich blieb zwei Tage in Lausanne, um meiner Angst einigermaßen Meister zu werden. Ich betrachtete den See. Das Wasser lag friedlich da. Alles war still rings umher und die Schneeberge, die Dome der Natur, waren genau so wie einst. In dieser ruhevollen, erhabenen Umgebung erholte ich mich, so daß ich meine Reise nach Genf fortzusetzen vermochte.

Die Straße lief neben dem See her, der gegen meine Vaterstadt zu immer schmaler wurde. Immer deutlicher erkannte ich die finsteren Hänge des Jura und den schimmernden Scheitel des Montblanc. Ich weinte wie ein Kind. »Geliebte Berge! Herrlicher See! Wie freundlich grüßt ihr den Heimkehrenden! Hell leuchten die Berghäupter und blau und friedlich sind Himmel und See. Soll das Frieden bedeuten oder ist es nur, um mein Unglück noch mehr zu vertiefen?«

Ich fürchte, mein lieber Freund, daß ich Ihnen lästig falle, indem ich Sie mit den Schilderungen meiner Gefühle langweile. Aber es waren Tage des Glückes, die ich nie vergessen werde. Mein Heimatland, meine geliebte Heimat! Nur ein Sohn dieses Landes kann verstehen, was ich beim Anblick dieser Bäche, dieser Berge und vor allem des lieblichen Sees empfand.

Aber je näher ich Genf kam, desto mehr bemächtigten sich meiner wieder Gram und Furcht. Die Nacht sank hernieder, und als ich die Berge nicht mehr erkennen konnte, wurde es mir noch düsterer zu Mute. Wie ein unheimlicher Alb lag es auf meiner Seele und dunkel fühlte ich voraus, daß ich dazu bestimmt war, das unglücklichste aller Geschöpfe zu werden. Leider hatte ich das Richtige geahnt und mich nur insofern geirrt, als meine Befürchtungen und Vorahnungen nicht den hundertsten Teil all des Elendes darstellten, das mir beschieden war.

Es war vollkommen Nacht geworden, als ich vor den Mauern von Genf ankam. Aber die Tore der Stadt waren schon geschlossen und ich mußte mich deshalb bequemen, die Nacht in Socheron, einem kleinen Dörfchen eine halbe Stunde von Genf entfernt, zuzubringen. Da das Wetter noch günstig war und ich doch keine Ruhe gefunden hätte, beschloß ich, den Ort zu besuchen, wo mein armer Bruder Wilhelm ermordet worden war. Ich war genötigt, mit einem Boot über den See nach Plainpalais zu fahren. Während dieser kurzen Überfahrt bemerkte ich, daß Blitze um den Scheitel des Montblanc zuckten. In unheimlicher Hast zog ein Gewitter heran und ich begab mich sofort nach der Landung auf einen niederen Hügel, um von dort aus das Naturschauspiel zu beobachten. Es machte rasche Fortschritte. Bald war der Himmel von Wolken überzogen und schon klatschten die ersten schweren Tropfen hernieder. Dann öffneten sich rauschend die Schleusen über mir.

Durch die wachsende Finsternis, den heulenden Sturm schritt ich dahin, während in den Lüften der Donner entsetzlich brüllte. Er hallte zurück vom Salêve und von den Wänden des Jura und der Savoyer Alpen. Grelle Blitze blendeten meine Augen und der See erschien wie ein Meer von Feuer; bis dann das Auge sich wieder erholt hatte, wandelte ich in der pechschwarzen Finsternis dahin. Wie man es in der Schweiz häufig beobachten kann, waren Gewitter von verschiedenen Seiten aufgestiegen. Das stärkste hing gerade über der Stadt, über dem Teil des Sees, der sich zwischen Belrive und Copet ausdehnt. Ein anderes entlud sich mit schwachen Blitzen über dem Jura und ein drittes stand über dem Mole, einem spitzen Bergkegel östlich des Sees.

Eilig schritt ich dahin, während ich mich des ebenso herrlichen wie furchtbaren Schauspiels freute. Dieser tosende Kampf in den Lüften erregte mich; ich klatschte in die Hände und schrie laut: »Wilhelm, lieber Junge, das ist deine Leichenfeier, dein Totengesang!« Während ich dies ausrief, bemerkte ich im Dunkel, daß sich aus einem Gebüsch in meiner Nähe etwas herausschlich. Ich stand still und starrte gespannt nach der Stelle; ich konnte mich nicht getäuscht haben. Jäh zuckte ein Blitz auf – vor mir stand in seiner gigantischen Größe, in seiner übermenschlichen Häßlichkeit das Scheusal, der entsetzliche Dämon, dem ich das Leben gegeben. Was wollte er hier? War er vielleicht (ich schauderte bei dem Gedanken) der Mörder meines Bruders? Kaum war mir diese Möglichkeit durch den Kopf gefahren, da setzte sie sich schon als Gewißheit in mir fest. Meine Zähne klapperten und ich mußte mich gegen einen Baum lehnen. Die Gestalt huschte an mir vorbei und verschwand im Dunkel. Kein menschliches Wesen hatte Wilhelm getötet, er war es! Ein Zweifel erschien mir ausgeschlossen. Schon die Tatsache, daß mir der Gedanke überhaupt kam, war mir ein Beweis für seine Richtigkeit. Einen Augenblick dachte ich daran, den Dämon zu verfolgen und zu erwürgen; aber jeder Versuch wäre umsonst gewesen, denn im blendenden Lichte des nächsten Blitzes sah ich ihn an der senkrechten Wand des Mont Salêve, eines Berges, der sich südlich Plainpalais erhebt, hinaufklettern. Bald hatte er den Gipfel erreicht und war verschwunden.

Ich stand regungslos. Das Unwetter hatte aufgehört, aber es regnete noch immer und alles ringsum war in rabenschwarze Finsternis gehüllt. Vor meinem Geiste rollten sich in rascher Folge all die Ereignisse ab, die ich mit größter Mühe zu vergessen getrachtet hatte: die Vorarbeiten meiner unseligen Schöpfung, das Erscheinen der Kreatur an meinem Bett und ihr Verschwinden. Zwei Jahre fast waren seit jener Nacht verronnen, da das Werk meiner Hände zu leben begann. War das sein erstes Verbrechen? Leider hatte ich ein Scheusal auf die Welt losgelassen, das an grausigen Bluttaten seine Freude hatte. Hatte er denn nicht meinen Bruder getötet?

Ich kann nicht beschreiben, welche Angst ich in jener Nacht litt, die ich, durchnäßt und halb erfroren, im Freien verbrachte. Das Wetter ließ mich ganz gleichgültig; ich erschöpfte mich im Durchdenken all des Leides und der Verzweiflung, die mir noch bevorstanden. Was für ein Wesen hatte ich da in die Welt gesetzt? Mit starkem Willen und großer körperlicher Kraft hatte ich es ausgerüstet, die es nun zu blutigen Zwecken mißbrauchte, wie die Tatsachen bewiesen. Es war wie mein eigener Vampyr, der aus dem Grabe zurückkehrt, um alles zu zerstören, was ihm im Leben lieb war.

Der Tag dämmerte herauf und ich wandte meine Schritte der Stadt zu. Die Tore waren schon geöffnet und ich eilte zu meines Vaters Hause. Anfangs trug ich mich mit der Absicht, sofort alles bekannt zu machen, was ich von dem Mörder wußte, und eine Verfolgung einleiten zu lassen. Aber ich zögerte, wenn ich daran dachte, was ich zu erzählen hatte. Ein Wesen, das ich selbst gebildet und mit Leben begabt habe, hätte ich mitten in der Nacht in den unzugänglichen Berghängen nahe meiner Heimatstadt angetroffen. Auch das Nervenfieber, das mich gerade zur Zeit der Vollendung meines Werkes ergriffen hatte, diente nicht dazu, meiner Erzählung einen größeren Grad von Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Ich wußte sehr wohl, daß, wenn ein anderer mir dieselbe Geschichte berichtete, ich sie für den Ausfluß einer überreizten Phantasie hätte erklären müssen. Außerdem würde ja die seltsame Natur des Wesens jede Verfolgung ausgeschlossen haben, selbst wenn es mir gelungen wäre, meinen Vater überhaupt von der Notwendigkeit einer Verfolgung zu überzeugen. Und welchen Ausgang würde eine derartige Unternehmung haben gegen ein Wesen, das imstande war, die überhängenden Felsen des Mont Salêve ohne weiteres zu erklimmen? Diese Erwägungen veranlaßten mich zum Schweigen.

Es mochte etwa fünf Uhr morgens sein, als ich das väterliche Haus betrat. Ich wies die Dienstboten an, jegliche Störung der Familienmitglieder zu vermeiden, und begab mich in die Bibliothek, um meine Lieben zu erwarten.

Sechs Jahre also waren vergangen, seit ich das letzte Mal hier stand und mein Vater mich vor meiner Abreise nach Ingolstadt in die Arme schloß. Vergangen waren sie wie ein Traum, allerdings wie einer, der untilgbare Spuren hinterläßt. Edler, geliebter Vater, du wenigstens bist mir geblieben! Ich blickte auf das Bildnis meiner Mutter, das über dem Kamin hing; es stellte sie dar, wie sie, noch als Karoline Beaufort, am Sarge ihres Vaters kniete. Ihr Kleid war einfach und ihre Wange schmal und bleich, aber ihre Haltung so stolz und aufrecht, daß man einem Gefühl des Mitleides kaum Raum zu geben vermochte. Unter diesem Gemälde hing ein kleines Bildchen Wilhelms, und Tränen stiegen mir in die Augen, als ich es betrachtete. Unterdessen trat mein Bruder Ernst ein; er hatte mich kommen hören und sich beeilt, zu meiner Begrüßung herunterzukommen. Mit schmerzlicher Freude drückte er mir die Hand und sagte: »Willkommen, lieber Viktor! Vor drei Monaten noch hättest du uns alle froh und glücklich angetroffen. Heute kommst du, um ein Leid mit uns zu teilen, das niemand mehr gutmachen kann. Ich hoffe ja, daß deine Gegenwart unseren Vater wieder etwas aufrichten wird, der unter dem furchtbaren Unglück fast zusammenbricht, und dir wird es vielleicht gelingen, Elisabeths zwecklose, quälende Selbstanklagen zum Schweigen zu bringen. Armer Wilhelm! Er war unser Stolz und unsere Freude!«

Unaufhaltsam stürzten die Tränen aus meines Bruders Augen, während es mir wie Todesangst über den Leib kroch. Ich hatte mir ja Vorstellungen davon gemacht, wie verödet es nun in unserem Hause aussehen mußte; aber nun trat die Wirklichkeit noch viel erschreckender an mich heran. Ich versuchte Ernst zu beruhigen und erkundigte mich um das Befinden meines Vaters und Elisabeths.

»Elisabeth,« sagte Ernst, »bedarf besonders des Trostes. Sie gibt sich selbst die Schuld am Tode Wilhelms, und das macht sie ganz krank. Aber seit der Mörder entdeckt ist …«

»Der Mörder entdeckt? Großer Gott! Wie kann denn das sein? Wer könnte es wagen, ihn zu verfolgen? Es ist unmöglich! Eher gebietet einer den Winden oder hält den Bergstrom mit einem Strohhalm in seinem Laufe auf. Ich habe ihn auch gesehen; heute Nacht war er noch frei!«

»Ich verstehe dich nicht ganz,« sagte mein Bruder verwundert. »Jedenfalls hat diese Entdeckung unser Elend noch verschlimmert. Zuerst hielt es ja niemand für möglich, und heute noch glaubt Elisabeth nicht daran, wenn auch kein Irrtum mehr walten kann. Und wer käme auch auf den Gedanken, daß Justine, die wir alle lieben und die so eng mit unserer Familie verknüpft ist, plötzlich eines so abscheulichen, entsetzlichen Verbrechens fähig sei?«

»Justine Moritz? Armes, armes Ding! Sie hätte man des Verbrechens beschuldigt? Aber das ist ja undenkbar! Jedermann kennt sie und es glaubt doch keiner an ihre Schuld?«

»Allerdings glaubte zuerst niemand daran, aber einige Umstände drängten uns dann doch schließlich die Überzeugung auf. Und ihr eigenes Benehmen war so merkwürdig, daß für einen Zweifel kein Raum mehr bleibt. Heute wird sie abgeurteilt und du wirst dann Näheres hören.«

Er erzählte mir, daß Justine am Morgen nach der Mordnacht krank geworden sei und mehrere Tage das Bett hüten mußte. Während dieser Zeit hat einer der Dienstboten in der Tasche des Kleides, das Justine in jener Nacht getragen, das Bildchen meiner Mutter gefunden, das wegen seiner Kostbarkeit den Mörder zur Begehung des Verbrechens verleitet haben sollte. Das Dienstmädchen zeigte das Bild einem anderen und dieses zeigte, ohne der Familie ein Wort zu sagen, die Sache bei Gericht an. Daraufhin wurde Justine verhaftet. Als ihr das Verbrechen vorgehalten wurde, geriet die Arme in eine derartige Verwirrung, daß man sie unbedingt für schuldig halten mußte.

Das war allerdings eine seltsame Geschichte, aber meine Überzeugung blieb unerschüttert. Ich erwiderte ernst: »Ihr seid alle im Irrtum; ich weiß, wer der Mörder war. Die gute, arme Justine ist unschuldig.«

In diesem Augenblick trat mein Vater ein. Tiefer Gram lag auf seinem Antlitz, aber er bemühte sich, mich liebevoll zu begrüßen. Wir sprachen von diesem und jenem, und erst Ernst brachte uns wieder auf das Unheil, das über dem Hause lag. »Denke dir, Vater,« sagte er, »Viktor behauptet, den Mörder des armen Wilhelm zu kennen.«

»Leider kennen auch wir ihn. Lieber wäre es mir gewesen, auf immer im Ungewissen darüber zu bleiben, als in einen solchen Abgrund von Schlechtigkeit und Undank blicken zu müssen.«

»Aber, lieber Vater, du irrst; Justine ist schuldlos.«

»Wenn sie es ist, dann wird Gott es verhüten, daß sie als schuldig befunden werde. Heute tritt sie vor Gericht und ich hoffe, daß man sie freisprechen wird.«

Diese Worte beruhigten mich etwas. Ich war fest überzeugt, daß Justine, ebensowenig wie irgend ein anderes menschliches Wesen, die Untat vollbracht habe. Ich hielt es auch für unmöglich, daß irgend etwas vorgebracht werden könne, was als Beweis ihrer Schuld dienen könnte. Allerdings war ja mein Erlebnis nicht geeignet, öffentlich bekannt gemacht zu werden; man hätte es lediglich für Wahnwitz gehalten. Gab es denn einen Menschen auf der weiten Welt, außer mir, dem Schöpfer, der es ohne weiteres geglaubt hätte, was ich hätte behaupten müssen?

Wir gingen dann zu Elisabeth. Sie hatte sich sehr verändert, seit ich sie nicht mehr gesehen. Aus dem reizenden Kinde war ein liebliches Weib geworden. Sie begrüßte mich mit leidenschaftlicher Freude. »Deine Ankunft, lieber Viktor, läßt mich wieder Hoffnung schöpfen. Vielleicht findest du Mittel und Wege, die arme, schuldlose Justine von dem entsetzlichen Verdachte zu reinigen. Auf wen ist überhaupt noch zu rechnen, wenn sie schuldig befunden wird. Ich weiß, sie ist an dem Verbrechen ebenso unschuldig wie ich. Unser Unglück trifft uns ja doppelt hart. Wir haben nicht nur das liebe Kind verloren, sondern das gute Mädchen, das ich so sehr liebe, wird einem noch gräßlicheren Schicksal entgegengehen. Wenn sie verurteilt wird, habe ich keine gute Stunde mehr auf Erden. Aber ich weiß gewiß, es wird, es kann nicht geschehen, und wenn sie wieder frei ist, will ich glücklich sein, so glücklich, als ich es nach den schrecklichen Ereignissen noch sein kann.«

»Sie ist schuldlos, liebe Elisabeth,« sagte ich, »und das muß offenbar werden. Fürchte nichts, sondern sei stark in dem Gedanken, daß sie freigesprochen werden muß.«

»Wie gut und edel du bist; jeder andere glaubt, daß sie die Mörderin ist, und das ist es, was mich rasend macht, denn ich weiß, daß es nicht sein kann. Und so sehen zu müssen, wie jemand schon von vornherein verdammt wird, das erfüllt mich mit Trauer und Verzweiflung.« Sie begann zu weinen.

»Liebes Kind«, begütigte sie mein Vater, »trockne deine Tränen. Wenn sie, wie du überzeugt bist, unschuldig ist, dann kannst du dich auf die Gerechtigkeit unserer Gesetze verlassen.«

8. Kapitel

Es waren ein paar unsäglich traurige Stunden, die wir verbrachten, bis es endlich elf Uhr schlug. Mein Vater und die übrigen Familienglieder waren als Zeugen vorgeladen und ich begleitete sie zum Gerichtsgebäude. Während dieser ganzen Verhandlung litt ich furchtbare Qualen. Handelte es sich doch um nichts Geringeres, als daß die Zahl der Opfer meiner verbrecherischen Tat noch um eines vermehrt werden sollte: zuerst ein unschuldiges, blühendes, liebliches Kind, dann ein Mädchen, das, mit dem Fluche einer Mörderin beladen, der Strenge des Gesetzes verfallen mußte. Und Justine hätte es wirklich besser verdient; sie hatte alle Eigenschaften, die dazu angetan gewesen wären, sie glücklich werden zu lassen. Und sie mußte nun mit Schmach in die Grube steigen, und ich hatte sie auf dem Gewissen! Es wäre mir tausendmal lieber gewesen, wenn ich mich selbst der Tat hätte anklagen dürfen, deren man Justine beschuldigte. Aber ich war zur kritischen Zeit abwesend, und meine Erklärungen hätte man als Rasereien eines Irren betrachtet, die gar nicht imstande gewesen wären, Justine auch nur im geringsten zu helfen.

Justine war sehr gefaßt. Sie trug Trauerkleidung; ihr schönes Gesicht war durch das ausgestandene Leid noch anziehender geworden. Als sie den Gerichtssaal betrat, trug sie ihr reines Gewissen zur Schau und zitterte nicht, trotzdem sie von Hunderten von Augen angestarrt, von Hunderten von Zungen verwünscht wurde. Ihre Lieblichkeit, die unter andern Umständen die Herzen aller hätte gewinnen müssen, vermochte nicht den Frevel vergessen zu machen, den sie begangen haben sollte. Sie erschien vollkommen ruhig, wenn auch ihre Ruhe sicherlich eine erzwungene war. Sie wußte genau, daß man ihre Verstörtheit als einen Beweis ihrer Schuld betrachtet hätte; und versuchte sich tapfer zu halten. Beim Eintritt in den Saal ließ sie rasch ihre Blicke über die Menge schweifen und hatte sofort bemerkt, wo wir uns befanden. Eine Träne schien einen Moment ihren Blick zu trüben; sie raffte sich aber gleich wieder auf und nahm Platz.

Die Verhandlung begann. Der Staatsanwalt erhob die Klage und dann wurden mehrere Zeugen aufgerufen. Einige merkwürdige Zufälligkeiten sprachen so gegen sie, daß jeder außer mir, der ich doch gewiß wußte, daß sie unschuldig war, überzeugt sein mußte, daß sie das Verbrechen auf dem Gewissen hatte. Sie war die ganze Nacht, in der der Mord begangen wurde, nicht nach Hause gekommen und war in aller Frühe von einer zum Markte ziehenden Frau unweit der Stelle gesehen worden, wo man nachher den Leichnam gefunden hatte. Die Frau hatte sie angesprochen und gefragt, was sie da täte; sie hatte ganz seltsam dreingesehen und dann eine verwirrte, unverständliche Antwort gegeben. Gegen acht Uhr war sie dann heimgekommen, und als man sie dann frug, wo sie gewesen sei, hatte sie erklärt, nach dem Kinde gesucht zu haben und gefragt, ob man denn nichts von dem Kleinen gehört habe. Als man dann den Leichnam brachte, verfiel sie in Krämpfe und mußte mehrere Tage das Bett hüten. Es wurde ihr dann das Bildchen gezeigt, das die Magd in ihrer Tasche gefunden hatte. Als Elisabeth mit zitternder Stimme bestätigte, dass es dasselbe sei, das sie dem Bruder um den Hals gehängt hatte, ertönte aus den Reihen der Zuhörer ein Murmeln und Grollen der Entrüstung und des Entsetzens.

Nun ward Justine zu ihrer Verteidigung aufgerufen. Im Verlauf der Verhandlung hatte sich in ihrem Gesicht nacheinander der Ausdruck des Schmerzes, der Überraschung und des Leides gezeigt. Manchmal schien es, als kämpfte sie mit Tränen. Als sie aber sprechen mußte, nahm sie alle ihre Kräfte zusammen und sagte mit schwankender, aber dennoch gut vernehmlicher Stimme:

»Nur Gott weiß, daß ich vollkommen unschuldig bin. Ich bin der Überzeugung, daß meine Ausführungen nicht geeignet sein werden, meine Unschuld zu bestätigen, und beschränke mich also nur darauf, die reinen Tatsachen zu berichten und das zu widerlegen, was gegen mich spricht. Ich hoffe, daß mein bisheriges Leben meine Richter auch da zu einer milden Auffassung veranlassen wird, wo zweifelhafte oder verdächtige Umstände vorliegen.«

Sie erzählte dann, daß sie den Abend vor der Mordnacht bei einer Tante in Chêne verbracht habe, einer Ortschaft, die ungefähr eine Meile von Genf entfernt ist. Als sie abends um neun Uhr zurückkehrte, begegnete sie einem Manne, der sie fragte, ob sie nicht den Kleinen gesehen habe. Sie sei dadurch sehr beunruhigt gewesen und habe sich sofort auf die Suche begeben. Unterdessen seien aber die Tore von Genf geschlossen worden und sie sei genötigt gewesen, in einer Scheuer Unterschlupf zu suchen, die zur Villa einer bekannten Familie gehörte, die sie aber so spät nicht mehr stören wollte. Fast die ganze Nacht habe sie hier wachend zugebracht, nur gegen Morgen sei sie auf kurze Zeit eingeschlafen, dann aber bald wieder durch ein Geräusch von Schritten aufgeweckt worden. Da es inzwischen hell geworden war, habe sie ihr Asyl verlassen und nochmals nach dem Vermißten gesucht. Wenn sie in die Nähe der Stelle gekommen sei, wo der Leichnam lag, so sei es völlig ohne ihr Wissen geschehen. Daß sie, von der Marktfrau angesprochen, verstört ausgesehen habe, sei nicht zu verwundern in Anbetracht dessen, daß sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatte und das Schicksal des kleinen Wilhelm noch nicht geklärt war. Wegen des Bildes konnte sie eine Erklärung nicht abgeben.

»Ich weiß,« fuhr das unglückselige Geschöpf fort, »wie schwer dieser eine Umstand gegen mich ins Gewicht fällt und wie verhängnisvoll er mir werden kann, aber ich vermag nicht die geringste Aufklärung darüber zu geben. Ich kann nicht einmal Vermutungen aussprechen, wie das Bild in meine Tasche gekommen sein mag. Ich glaube keinen Feind auf der Welt zu haben, und jedenfalls keinen, der so schlecht wäre, mich auf diese niederträchtige Weise zu verderben. Hat mir der Mörder das Bild zugesteckt? Ich sehe keine Ursache, warum er das getan haben sollte; denn wenn er die Untat beging, um sich das kostbare Bildchen zu verschaffen, was veranlaßte ihn, es so bald wieder herzugeben?«

»Ich vertraue ganz meinen Richtern, wenn ich auch der Hoffnung nicht Raum zu geben wage. Ich bitte, daß einige Zeugen über mich und mein Vorleben vernommen werden; und wenn ihr Zeugnis nicht imstande ist, Sie von meiner Unschuld zu überzeugen, dann werde ich wohl verurteilt werden müssen.«

Mehrere Zeugen wurden aufgerufen, die die Angeklagte schon seit Jahren kannten, und sie sagten nur Gutes von ihr aus. Aber Befangenheit und Abscheu vor dem Verbrechen, dessen sie sie für schuldig hielten, hinderte sie, recht aus sich herauszugehen. Elisabeth erkannte, wie auch diese letzte Hoffnung der Angeklagten zusammensank, und bat in tiefster Erregung den Gerichtshof, sprechen zu dürfen.

»Ich bin dem unglücklichen getöteten Kinde von je wie eine Schwester gewesen, denn ich habe bei seinen Eltern gelebt, noch ehe es auf der Welt war. Es wird mir deshalb vielleicht verübelt werden können, wenn ich mich vordränge; aber wenn ich sehe, daß ein Mitgeschöpf an der Feigheit seiner angeblichen Freunde zugrunde gehen muß, dann hält mich nichts mehr, dann muß ich reden. Ich bin mit der Angeklagten sehr gut bekannt. Ich habe mit ihr unter einem Dache gewohnt, erst fünf, später fast zwei Jahre. Während dieser ganzen Zeit habe ich sie als das liebenswürdigste, gütigste Wesen lieben gelernt. Sie pflegte Frau Frankenstein in ihrer letzten Krankheit mit der größten Aufopferung und Sorgfalt; dann versorgte sie ihre alte Mutter, die an einer widerwärtigen Krankheit dahinsiechte, in einer Weise, die allen Bekannten die größte Hochachtung abnötigte; dann kam sie wieder zu uns und machte sich in der ganzen Familie beliebt. Sie war überaus zärtlich zu dem Kinde, das jetzt der Rasen deckt, und war ihm wie eine fürsorgliche Mutter. Ich für meinen Teil stehe nicht an zu sagen, daß ich, wie sehr auch die Umstände gegen sie zeugen mögen, doch meine Hand für ihre Unschuld ins Feuer legen würde. Es lag ja für sie gar keine Ursache vor, so zu handeln, denn sie wußte, daß ich sie so lieb hatte, daß ich ihr das Bild auf eine Bitte hin ohne weiteres geschenkt hätte.«

Ein Murmeln des Beifalls ertönte durch den Raum; aber er galt der edelmütigen, einfachen und doch packenden Verteidigungsrede, nicht aber dem armen Opfer. Justine weinte, während Elisabeth sprach, aber sie antwortete nicht mehr. Meine Erregung und Angst hatten sich während des Verhörs bis aufs äußerste gesteigert. Ich glaubte an ihre Unschuld, ich wußte, daß sie rein war. Konnte der Dämon, der meinen Bruder ermordet hatte daran zweifelte ich ja keinen Augenblick mehr – in teuflischer Bosheit dem unglücklichen Mädchen einen schmachvollen Tod zugedacht haben? Ich befand mich in einer entsetzlichen, geradezu unerträglichen Lage, und als ich an den ernsten Gesichtern der Richter erkannte, daß sie, der Stimme des Volkes entsprechend, die Unselige verurteilen mußten, stürzte ich von Höllenqualen gepeinigt aus dem Saal. Die Leiden der Angeklagten kamen sicherlich den meinen nicht gleich; sie hatte das Gefühl der Unschuld in der Brust, während hinter mir wie Eumeniden die Gewissensbisse ihre Geißeln schwangen.

Wie ich die Nacht verbrachte, kann ich nicht schildern. Am frühen Morgen begab ich mich ins Gerichtsgebäude; aber meine Kehle war wie zugeschnürt, so daß ich die schicksalsschwere Frage nicht zu stellen vermochte. Man erkannte mich und ein Beamter erriet die Ursache meines Besuches. Er sagte mir, daß nur schwarze Kugeln in die Urne gelegt worden seien, Justine also verurteilt sei.

Wie soll ich die Gefühle nennen, die sich meiner bemächtigten? Ich hatte ja das Entsetzen schon kennen gelernt, aber das war gar nichts gegen das, was ich nun zu erdulden hatte. Der Beamte fügte noch bei, daß Justine selbst ihre Schuld eingestanden habe. »In diesem so klaren Falle wäre das ja gar nicht nötig gewesen,« bemerkte er, »aber trotzdem ist es besser so, denn unsere Richter verurteilen nicht gern auf Grund von Indizienbeweisen, mögen sie noch so schlüssig sein.«

Das war allerdings etwas Seltsames und Unerwartetes. Was konnte er meinen? Sollten mich wirklich meine Augen so getäuscht haben oder war ich tatsächlich ein Narr gewesen, wenn ich gegen einen andern Argwohn geschöpft hatte? Ich eilte nach Hause und Elisabeth erkundigte sich ungeduldig nach dem Ergebnis meiner Anfrage.

»Meine Liebe,« sagte ich, »es ist so gekommen, wie du dir denken konntest. Unsere Richter lassen lieber zehn Unschuldige leiden, als daß sie einen Schuldigen entschlüpfen lassen; und sie ist schuldig – sie hat es selbst eingestanden.«

Das war ein harter Schlag für Elisabeth, die immer noch fest auf Justines Unschuld gebaut hatte. »Wie soll ich,« sagte sie, »jemals noch einem Menschen vertrauen? Justine, die ich liebte wie eine Schwester, hat uns mit ihrem engelreinen Lächeln betrogen! Sie, deren Augen keine Strenge oder Grausamkeit kannten, vermochte einen Mord zu begehen!«

Bald danach erhielten wir Nachricht, daß das arme Opfer den Wunsch geäußert habe, Elisabeth zu sprechen. Mein Vater wollte es erst nicht zugeben, überließ es aber dann doch ihrem eigenen Ermessen. »Ja,« sagte Elisabeth, »ich will gehen, wenn sie auch schuldig ist; und dich, Viktor, bitte ich, mich zu begleiten, allein kann ich nicht.« Es war mir eine erneute Qual, aber ich konnte mich nicht weigern.

Wir betraten die düstere Zelle und erkannten Justine, die in der anderen Ecke auf einem Strohhaufen saß. Sie hielt die Hände gefaltet und ihr Kopf lag auf ihren Knieen. Als wir eintraten, erhob sie sich und warf sich, nachdem der Wärter uns mit ihr allein gelassen, vor Elisabeth nieder, indem sie bitterlich weinte. Auch Elisabeth weinte laut.

»Ach, Justine,« sagte sie, »warum hast du mich meiner letzten Hoffnung beraubt? Ich habe auf deine Unschuld gebaut. Wenn ich auch vorher schon unglücklich war, so hat mich doch dein Geständnis noch unglücklicher gemacht.«

»Und glaubst also auch du, dass ich so sehr verworfen bin? Bereinigst auch du dich mit meinen Peinigern, die mich als Mörderin verurteilen?« Ihre Stimme erstickte in Tränen.

»Steh auf, du Arme,« erwiderte Elisabeth, »warum kniest du, wenn du dich unschuldig weißt? Ich gehöre nicht zu deinen Feinden; ich hielt dich so lange für schuldlos, bis ich hörte, daß du gestanden habest. Du sagst, dass dies nicht wahr ist. Sei überzeugt, daß nichts imstande ist, mein Vertrauen in dich zu erschüttern, als ein Bekenntnis deiner Schuld aus deinem eigenen Munde.«

»Ich habe gestanden, aber was ich gestand, war eine Lüge. Ich gestand nur, um Absolution zu erlangen, und nun liegt mir diese Unwahrheit noch schwerer auf dem Herzen als alle meine anderen Sünden zusammen. Gott im Himmel sei mir gnädig! Aber seit ich verhaftet wurde, ließ mein Beichtvater nicht mehr von mir ab; er schalt und drohte mir, bis ich schließlich selbst daran glaubte, daß ich das Ungeheuer war, zu dem er mich machte. Mit Exkommunitation und Schilderung aller Höllenstrafen suchte er mich weich zu machen. Liebste Freundin, ich hatte niemand, der mich gestützt hätte; jeder blickte auf mich wie auf eine Verdammte, deren Los Schmach und Tod war. Was konnte ich tun? In einer schwachen Stunde unterschrieb ich mein erlogenes Geständnis, und nun bin ich erst ganz elend geworden.«

Der Schmerz übermannte sie; nach einer Weile aber fuhr sie gefaßter wieder fort: »Das Schlimmste war mir, denken zu müssen, daß du, liebe Freundin, mich, die du doch so geliebt, für eine Kreatur halten mußtest, fähig eines Verbrechens, wie es sich nur ein Teufel ersinnen kann. Lieber kleiner, armer Wilhelm! Bald werde ich bei dir im Himmel sein, das macht mir mein schmachvolles Ende leichter.«

»Justine verzeihe mir, daß ich dir auch nur einen Augenblick mißtrauen konnte. Aber warum hast du auch das Geständnis abgelegt? Doch sei ruhig, fürchte dich nicht! Ich will es in die Welt hinausrufen, daß du frei von Schuld bist. Ich will die steinernen Herzen deiner Peiniger mit Tränen und Bitten erweichen. Du darfst mir nicht sterben! Du, meine Spielgenossin, meine Freundin, meine Schwester, solltest das Schaffot besteigen müssen! Nein, nein, das könnte ich nicht überleben!«

Justine schüttelte traurig den Kopf. »Ich fürchte den Tod nicht,« sagte sie, »er hat keinen Stachel mehr für mich. Gott wird mir Kraft geben, dieses Schwere zu tragen. Ich scheide aus einer bösen, traurigen Welt, und wenn Ihr meiner in Liebe gedenkt und mir als einer ungerecht Verurteilten euer Mitleid schenkt, dann bin ich für das Schicksal entschädigt, das meiner wartet. Ich habe gelernt, mich ohne Widerstreben in den Willen des Höchsten zu fügen.«

Während dieser Aussprache hatte ich mich in einen Winkel der Zelle zurückgezogen und versuchte der entsetzlichen Stimmung Herr zu werden, die sich meiner bemächtigt hatte. Verzweiflung! War es nur Verzweiflung? Das arme Opfer, das morgen die dunkle Schwelle zwischen Leben und Tod überschreiten mußte, empfand vielleicht kein so tiefes, bitteres Weh wie ich. Ich biß die Zähne aufeinander, um das Schluchzen zu unterdrücken, das sich aus der Tiefe meines Herzens emporzudrängen suchte. Justine kam auf mich zu und sagte: »Lieber Herr, ich danke Ihnen, daß Sie mich noch besucht haben. Ich hoffe, daß auch Sie von meiner Unschuld überzeugt sind.«

Ich vermochte nichts zu erwidern. »Er glaubt an dich fester,« sagte Elisabeth, »als ich es tat. Denn selbst als er von deinem Geständnis gehört hatte, verteidigte er deine Unschuld.«

»Ich danke Ihnen von Herzen. Gerade in diesen letzten Augenblicken tut es mir besonders wohl, wenn jemand in Güte meiner gedenkt. Daß man mir, der Verdammten, noch Liebe entgegenbringt, das macht mir das Sterben leichter.«

So versuchte die arme Dulderin uns und sich selbst zu trösten. Und sie ergab sich in ihr Schicksal. Aber ich, der eigentliche Mörder, fühlte den nagenden Wurm in meiner Brust und wußte, daß ich nimmer froh werden konnte. Elisabeth weinte, aber ihr Leid glich mehr einer Wolke, die das Glück wohl eine Zeit lang verhüllen, aber es nicht ganz vernichten kann. Reue und Verzweiflung hatten sich meiner bemächtigt, eine ganze Hölle brannte in mir. Wir blieben noch einige Stunden bei Justine und nur mit großer Mühe vermochte ich Elisabeth wegzubringen. »Könnte ich nur mit dir sterben,« rief sie, »ich kann in dieser schrecklichen Welt nicht mehr leben!«

Justine trug große Ruhe zur Schau, obgleich sie kaum ihres Schmerzes Herr zu werden imstande war. Sie umschlang Elisabeth und sagte mit halberloschener Stimme: »Leb wohl, liebe, teure Elisabeth, meine geliebte Freundin! Gott segne und schütze dich in seiner großen Güte. Möge dies das letzte Leid sein, das dir beschieden ist. Leb wohl, sei glücklich und mache auch andere glücklich!«

Am nächsten Morgen mußte dann Justine sterben. Elisabeths herzbewegendes Flehen vermochte die harten Richter nicht in ihrer Überzeugung von Justines Schuld zu erschüttern. Auch meine leidenschaftlichen, erregten Bitten hatten nicht die geringste Wirkung. Und die kalten Antworten, das herzlose Sprechen dieser Männer brachte das Geständnis, das ich auf den Lippen trug, wieder zum Schweigen. Sie hätten mich wohl für irrsinnig erklärt, aber an dem Urteil über das arme Opfer hätte das nichts geändert. Und so kam es, daß Justine als Mörderin auf dem Schaffot ihr junges Leben lassen mußte.

Nicht nur die Qualen in meiner eigenen Brust, sondern auch das tiefe, wortlose Weh in Elisabeths Herz brachten mich fast zur Verzweiflung. Das also war mein Werk! Und das Leid meines Vaters, die Verwüstung unseres sonst so traulichen Heims – das alles hatten meine tausendfach verfluchten Hände angerichtet! Weint nur, ihr Unseligen, das sind noch lange nicht eure letzten Tränen gewesen! Wiederum ist es euch bestimmt, die Totenklage anzustimmen und zu weinen. Frankenstein, euer Sohn, euer Bräutigam, euer treuer, geliebter Freund und Bruder, der für euch gern sein Herzblut vergossen hätte, der keine Freude empfand, die sich nicht zugleich in euren Augen wiedergespiegelt hätte, der euer Leben gern mit Glück erfüllt – er muß euch Tränen, ungezählte, bittere Tränen verursachen.

So sprach meine ahnende Seele, als ich, erdrückt von Gewissensbissen, Entsetzen und Verzweiflung auf meine Lieben sah, die sich in Gram an den Gräbern von Wilhelm und Justine, den ersten, armen Opfern meiner verruchten Künste, verzehrten.