Kapitel 3


Kapitel 3 Der Verfasser kommt an den Hof. Die Königin kauft ihn von, seinem bisherigen Herrn. Er disputirt mit den größten Gelehrten Seiner Majestät. Bei Hofe wird ein Zimmer für den Verfasser eingerichtet. Er erwirbt sich die Gunst der Königin. Er vertritt die Ehre seines Vaterlandes. Er zankt sich mit dem Zwerge der Königin.

Leid und Mühseligkeiten, die ich jeden Tag ertragen mußte, bewirkten eine beträchtliche Veränderung in meiner Gesundheit. Je mehr Geld mein Herr durch mich erlangte, desto größer wurde seine Habsucht. Ich hatte bereits die Rundung meines Bauches verloren und war beinahe zum Skelett geworden. Der Pächter bemerkte dies, und vermuthete, ich würde in Kurzem sterben; er beschloß deßhalb, noch so viel Geld wie möglich durch mich zu erwerben. Während er dies überlegte, kam ein Sardral oder ein Kammerherr des Hofes auf Befehl desselben und gebot, mich sogleich zur Unterhaltung der Königin und ihrer Hofdamen in den Palast zu tragen.

Einige derselben hatten mich schon gesehen und merkwürdige Dinge von meiner Schönheit, meinem feinen Betragen und meinem gesunden Verstande erzählt. Ihre Majestät war nebst ihrer Umgebung über mein Benehmen entzückt. Ich fiel auf die Knie und wollte den erhabenen Fuß küssen, allein die gnädige Fürstin reichte mir nur ihren kleinen Finger als ich auf dem Tische stand. Ich umarme diesen Finger nun mit beiden Armen und legte in höchster Demuth die Spitze desselben an meine Lippen. Sie richtete an mich mehrere allgemeine Fragen über mein Vaterland und meine Reisen, die ich sehr deutlich und so kurz wie möglich beantwortete. Sie fragte: ob es zu meiner Zufriedenheit gereiche, wenn ich am Hofe lebe; ich verbeugte mich bis auf das Brett des Tisches und erwiderte demüthig: ich sey der Sklave meines Herrn. Stände ich jedoch zu meiner eigenen Verfügung, so würde es mir zum Stolze gereichen, wenn ich mein Leben dem Dienste ihrer Majestät widmete. Sie fragte alsdann meinen Herrn, ob er Willens sey, mich zu einem guten Preise zu verkaufen. Da er nun besorgte, ich würde keinen Monat mehr leben, so verlangte er tausend Goldstücke, die sogleich auf Befehl herbeigeschafft wurden, und wovon jedes Stück ungefähr die Dicke von achthundert portugiesischen Dukaten betrug. Berechnet man die Verhältnisse dieses Welttheils zu dem europäischen, und den damit zusammenhängenden Werth des Goldes, so betrug die Summe kaum so viel wie tausend Guineen in England. Hierauf sagte ich der Königin: da ich jetzt Ihrer Majestät demüthiger Sklave und Vasall sey, müsse ich um die Gnade bitten, daß Glumdalclitch, die mich stets mit so viel Sorgfalt und Güte gepflegt habe, und dies auch so trefflich verstände, ebenfalls in den königlichen Dienst treten und auch ferner meine Wärterin und Lehrerin bleiben dürfe.

Ihre Majestät gewährte meine Bitte und erlangte ohne Mühe die Einstimmung des Pächters, welcher sich nicht wenig freute, seiner Tochter eine Stelle bei Hofe verschaffen zu können. Das arme Mädchen konnte aber ihr Entzücken nicht verbergen. Mein Herr entfernte sich hierauf, indem er von mir Abschied nahm und sagte, er habe mir einen sehr guten Dienst verschafft; worauf ich kein Wort erwiderte, sondern nur eine leichte Verbeugung machte.

Die Königin bemerkte diese Kälte und fragte nach dem Grunde, sobald der Pächter das Zimmer verlassen hatte. Ich war so kühn Ihrer Majestät zu sagen, meinem bisherigen Herrn sey ich Dank nur deßhalb schuldig, weil er einem armen, durch Zufall auf dem Felde gefundenen Geschöpfe das Hirn nicht eingeschlagen habe; diese Verpflichtung werde aber durch den Gewinn, den er durch mich im halben Königreiche erlangt habe, und durch den hohen Ankaufspreis genugsam aufgewogen. Das Leben, welches ich seitdem geführt, sey so mühsam gewesen, daß sogar ein Thier von zehnfacher Kraft hätte unterliegen müssen. Meine Gesundheit sey durch die ewige Plackerei zur Unterhaltung des Pöbels untergraben worden; hätte mein Herr nicht geglaubt, mein Leben sey in Gefahr, so würde Ihre Majestät mich nicht zu so wohlfeilem Preise erhalten haben. Da ich aber gegenwärtig unter dem Schutze einer so großen und guten Monarchin, dem Schmuck der Natur, dem Liebling der Welt, dem Entzücken ihrer Unterthanen, dem Phönix der Schöpfung, keine schlechte Behandlung mehr befürchte, so hoffe ich auch, die Besorgniß meines vorigen Herrn werde sich als grundlos erweisen; ich finde bereits, wie meine Lebenskraft durch den Einfluß Ihrer hocherhabenen Gegenwart wieder erwache.

Dies war der Hauptinhalt meiner Rede, die ich nur mit Schwierigkeit, und öfterem Stocken hersagte. Der letztere Theil war in dem Style abgefaßt, welcher diesem Volke eigenthümlich ist. Ich hatte nämlich vom Glumdalclitch, als sie mich an den Hof brachte, mehrere Phrasen erlernt.

Die Königin war nachsichtig hinsichtlich meiner Mängel im Ausdrucke, erstaunte jedoch über so vielen Witz und gesunden Verstand in einem solchen Diminutivthiere. Sie nahm mich auf ihre Hand und trug mich zum Könige, der sich gerade in seinem Kabinete befand. Seine Majestät, ein Fürst von ernstem Charakter mit strengen Gesichtszügen, konnte beim ersten Anblick meine Gestalt nicht wohl erkennen, und fragte die Königin in kalter Weise, seit wie lange sie an einem Splacknuck so viel Vergnügen finde. Wie es scheint, hielt er mich nämlich für ein solches kleines Thier, als ich in der rechten Hand Ihrer Majestät auf meiner Brust lag. Allein diese Fürstin, welche außerordentlich viel Verstand und gute Laune besaß, stellte mich sanft auf den Schreibtisch und befahl mir, ich solle selbst dem Könige über mich Bericht erstatten, was ich dann auch in wenigen Worten that. Hierauf erhielt auch Glumdalclitch, die vor der Thüre des Kabinets wartete und meine Abwesenheit nicht ertragen konnte, sogleich Zutritt, und bestätigte Alles, was sich seit meiner Ankunft in ihres Vaters Hause mit mir zugetragen hatte.

Der König, ob er gleich eben so gelehrt ist, wie irgend einer seiner Unterthanen, war besonders in Philosophie und Mathematik unterrichtet worden; als er jedoch meine Gestalt genau bemerkte, und erblickte, wie ich aufrecht einherging, hielt er mich, bevor ich zu sprechen begann, für eine Art Automaten (in Verfertigung dieser Maschinen ist nämlich das Volk von Brobdingnag zur größten Vollkommenheit gelangt), welche von irgend einem großen Künstler erfunden sey. Als er aber meine Stimme vernahm und bemerkte, was ich sage, bestehe aus regelmäßig gebauten Sätzen mit vernünftigem Sinn, da konnte er sein Erstaunen nicht verhehlen. Er war keineswegs mit dem Berichte zufrieden, den ich ihm über meine Ankunft im Königreiche gab, und glaubte, diese Geschichte sey nur zwischen Glumdalclitch und ihrem Vater verabredet, die mir eine Anzahl Wörter beigebracht hätten, um mich zu desto höherem Preise verkaufen zu können. In dieser vorgefaßten Meinung legte er mir mehrere Fragen vor und erhielt stets vernünftige Antworten, die in keiner andern Hinsicht mangelhaft waren, als daß ich in fremdem Accent sprach, bis jetzt noch eine unvollkommene Kenntniß der Sprache besaß und mehrere bäuerische Ausdrücke gebrauchte, die ich im Hause des Pächters gelernt hatte, die sich aber für den zierlichen Styl eines Hofes nicht eigneten.

Seine Majestät ließ drei große Gelehrte kommen, die gerade nach Landessitte den Wochendienst hatten. Diese Herren untersuchten einige Zeit lang meine Gestalt mit großer Genauigkeit und waren alsdann, hinsichtlich meiner, verschiedener Meinung. Alle drei stimmten darin überein, daß ich nicht nach den regelmäßigen Naturgesetzen geschaffen seyn könne, weil ich nicht zur Erhaltung meines Lebens, durch Erklettern der Bäume oder durch Eingraben in die Erde, gebildet sey. Sie sahen ferner aus meinen Zähnen, die sie sehr genau in Augenschein nahmen, ich sey ein fleischfressendes Thier; da jedoch die meisten Vierfüßler mich an Kraft bei weitem überträfen, und Feldmäuse, so wie einige Andere viel zu behende seyen, konnten sie sich nicht vorstellen, wovon ich lebte, wenn ich mich nicht von Schnecken und Insekten ernähre; zugleich aber erboten sich alle drei, durch sehr gelehrte Gründe zu beweisen, auch dies sey nicht wohl möglich. Einer dieser hochgelehrten Herren behauptete, ich könne ein Embryo oder eine frühzeitige Geburt seyn. Diese Meinung war aber von den andern Beiden verworfen, welche meine Glieder als vollkommen ausgebildet erkannten. Sie bemerkten ferner, ich habe schon mehrere Jahre gelebt, wie man aus meinen Bartstumpfen schließen könne, die ganz deutlich durch ein Vergrößerungsglas erkannt würden. Die drei Herren wollten mir auch nicht zugestehen, ich sey ein Zwerg, denn meine Kleinheit lasse sich mit Nichts vergleichen. Der Königin Lieblingszwerg, der kleinste, den es jemals im ganzen Reiche gegeben habe, sey doch wenigstens dreißig Fuß hoch. Nach langen Verhandlungen beschlossen sie einmüthig, ich sey nur Replum Scalcath, ein Wort, das der Ausdruck Lusus naturae (Naturspiel) wiedergeben kann. Dieser Beschluß war auch gewiß der neuern europäischen Philosophie vollkommen angemessen, deren Professoren diese wunderbare Auflösung aller Schwierigkeiten zum sicheren Fortschritt der menschlichen Kenntnisse erfunden haben, indem sie den alten Schlich der verborgenen Ursachen vermeiden, womit die Anhänger des Aristoteles vergeblich ihre Unwissenheit zu verdecken suchten. Nach diesem entscheidenden Schluß wagte ich die Bitte, man möge zwei bis drei Worte von mir anhören. Ich wandte mich an den König und gab Seiner Majestät die Versicherung, ich komme von einem Lande, welches mehrere Millionen beider Geschlechter von meiner Gestalt und Größe enthalte, wo Thiere, Bäume, Häuser in demselben Verhältnisse gebaut seyen, und wo ich mich deßhalb eben so gut vertheidigen und ernähren könne, wie irgend ein Unterthan Seiner Majestät in Ihren Staaten, und dieses halte ich für eine genügende Antwort auf die Beweisführung der gelehrten Herren. Diese aber antworteten mir allein mit einem verächtlichen Lächeln und fügten dann noch hinzu: der Pächter habe mir in meiner Geschichte gehörigen Unterricht gegeben. Der König jedoch, ein verständiger Mann, entließ die Gelehrten und befahl den Pächter herbeizurufen, der glücklicherweise die Stadt noch nicht verlassen hatte. Als dieser nun zuerst im Geheimen befragt, und alsdann mit seiner Tochter confrontirt worden war, begann Seine Majestät unserem Berichte Glauben zu schenken. Er bat die Königin Befehle zu geben, daß man mich mit besonderer Sorgfalt behandeln, und war der Meinung, Glumdalclitch solle ihr Amt, mich zu warten, auch noch ferner behalten, weil er bemerkt habe, daß wir beide große Zuneigung zu einander hegten. Ein passendes Zimmer ward dann bei Hofe für sie eingerichtet, sie erhielt eine Art Gouvernante, ein Kammermädchen zum Ankleiden, und zwei Mägde zu geringeren Diensten; meine Wartung ward ihr aber ausschließlich übertragen. Die Königin befahl ferner ihrem Hoftischler eine Schachtel zu verfertigen, die mir zum Schlafzimmer dienen solle und über deren Modell ich mitGlumdalclitch übereinkommen müsse. Dieser Tischler war ein trefflicher Handwerksmann, und vollendete, unter meiner Anleitung, in drei Wochen eine hölzerne Schachtel von sechzehn Quadratfuß Umfang und zwölf Fuß Höhe, Ziehfenstern, einer Thüre und zwei kleineren Nebengemächern, wie dies bei den Schlafzimmern in London der Fall zu seyn pflegt.

Das Brett, welches das Deckengetäfel bildete, konnte durch zwei Haspen auf- und niedergezogen werden, um ein fertiges und von den Tapezierern Ihrer Majestät mit Matrazzen und Kissen versehenes Bett einzulassen, welches Glumdalclitch, um es zu lüften, täglich herausnahm, und nachdem sie es mit eigener Hand mir gemacht hatte, wieder hinein legte, worauf sie dann das Dach über meinem Haupte zuschloß. Ein geschickter Tischler, welcher wegen seines künstlichen Spielzeugs berühmt war, unternahm die Verfertigung zweier Stühle mit Seiten- und Hinterlehnen aus einem dem Elfenbein ähnlichen Stoffe, so wie auch von zwei Tischen und einem Schrank, in welchen ich meine Sachen hineinlegen könne. Das Zimmer war an allen Seiten, so wie auf dem Fußboden und an der Decke gepolstert, um irgend ein Unglück zu vermeiden, welches durch die Sorglosigkeit derer entstehen könne, die mit meinem Transport beauftragt waren, so wie auch um die Stärke der Erschütterung zu vermeiden, wenn ich in einer Kutsche fuhr. Auch bat ich um ein Schloß vor meiner Thüre, um zu verhindern, daß Ratten und Mäuse hineinkämen. Der Schmid verfertigte nach mehreren Versuchen das kleinste Schloß, was jemals in Brobdingnag gesehen wurde, und ich selbst habe kein größeres an einem Hausthore in England erblickt. Ich versuchte es, den Schlüssel in meiner eigenen Tasche zu verwahren, denn ich befürchtete, Glumdalclitch möchte denselben verlieren. Die Königin befahl ebenfalls das dünnste Seidenzeug herbeizuschaffen, um mir Kleider verfertigen zu lassen, die viel dicker als eine englische Bettdecke und im Anfange mir sehr lästig waren, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Die Kleider waren nach der Mode des Königreichs zugeschnitten, und glichen theilweise der chinesischen und theilweise der persischen, waren aber ein sehr ernstes und würdevolles Costüm.

Die Königin fand so viel Behagen an meiner Gesellschaft, daß sie ohne mich ihr Mittagsmahl nicht halten konnte. Ein Tisch für mich nebst einem Stuhl wurde auf die Tafel gesetzt, wo Ihre Majestät speiste, Glumdalclitch stand auf einem Schemel nahe bei meinem Tische um mir zu helfen und aufzuwarten. Ich hatte ein vollständiges Silberservice von Schüsseln und Tellern, so wie andere Geräthschaften, welches im Verhältniß zu dem Service der Königin nicht größer war, als Spielzeug der Art, das ich im Laden bei einem Kaufmann, zur Möblirung eines Puppenhauses bestimmt, gesehen habe. Meine liebeWärterin verwahrte dieselben in ihrer Tasche, und zwar in einer kleinen silbernen Schachtel, und reichte sie mir beim Essen sobald ich ihrer bedurfte, nachdem sie von ihr selbst zuvor gereinigt worden waren.

Niemand speiste mit der Königin, als die zwei königlichen Prinzessinnen, wovon die eine sechzehn und die andere dreizehn Jahre und einen Monat alt war. Ihre Majestät legte gewöhnlich ein Stück Fleisch auf meine Schüssel, das ich mir selbst zerschnitt, und sie fand Vergnügen daran, mich so in Miniature essen zu sehen; sie selbst (und sie hatte wirklich nur einen schwachen Magen) nahm auf einen Bissen so viel in den Mund, wie zwölf englische Pächter in einer Mahlzeit nicht essen können, ein Umstand, der mir Anfangs sehr ekelhaft war. Sie pflegte den Flügel einer Lerche, Knochen und Fleisch, mit den Zähnen zu zerreißen, obgleich er neunmal größer war als der eines gemästeten welschen Hahnes; ihre Bissen Brod waren sogar so groß als ein Dreigroschenlaib. Sie trank aus einem goldenen Becher, und bei jedem Schluck eine Masse, die dem Umfang eines Schweinkopfes gleichkam. Ihr Messer war so lang wie eine auf dem Stiel gerade gebogene Sense. Löffel, Gabel und anderes Geräth zeigte dasselbe Verhältniß. Wie ich mich erinnere, war ich einst neugierig, eine Tafel bei Hof zu sehen, und Glumdalclitch trug mich deßhalb zu einer derselben hin, wo ein Dutzend dieser ungeheuern Messer und Gabeln in Bewegung gesetzt waren. Ich muß aber gestehen, daß ich zuvor nie einen so furchtbaren Anblick geschaut habe.

Es ist Hofsitte, daß der König, die Königin und die königlichen Prinzen beider Geschlechter an jedem Mittwoch, der, wie gesagt, in Brobdingnag als Sonntag gilt, in den Zimmern des Königs zusammen speisen, dessen Gunst ich in hohem Grade erlangt hatte; alsdann ward mein kleiner Stuhl und Tisch ihm zur Linken bei einem Salzfaß hingestellt. Dieser Fürst fand viel Vergnügen an meiner Unterhaltung und erkundigte sich nach den Sitten, der Religion, den Gesetzen, der Regierung und derGelehrsamkeit in Europa, worüber ich ihm dann einen so vollständigen Bericht abstattete, wie es mir möglich war. Sein Verstand war so klar und seine Urteilskraft so ausgezeichnet, daß er mehrere sehr verständige Bemerkungen über Alles, was ich sagte, äußerte. Ich gestehe jedoch, daß ich einmal über mein geliebtes Vaterland, unsere See- und Landkriege, unsere Religionsspaltungen und politische Parteien sehr weitläufig sprach; da aber wirkten die Vorurtheile seiner Erziehung so stark auf ihn ein, daß er mich auf seine rechte Hand nahm, herzlich auflachte, mit der andern Hand mir einen sanften Schlag gab und mir die Frage vorlegte, ob ich Whig oder Tory sey. Dann wandte er sich zu seinem Premierminister, der mit einem weißen Stabe ehrerbietig hinter seinem Stuhle stand (dieser Stab war so lang wie der Hauptmast des englischen Linienschiffes Royal Sovereign) und sagte: Wie verächtlich doch jene Menschengröße seyn müsse, da solche Diminutiv-Insekten, wie ich, sie nachahmen könnten. Ja, ja, sagte er, diese Geschöpfe haben gewiß ihre besondere Titel und Rangunterschiede; sie bringen kleine Nester und Kaninchenbaue zu Stande, die sie Häuser und Städte nennen; sie paradiren mit Kleidern und Equipagen; sie lieben, kämpfen, zanken, betrügen und verrathen. In dieser Weise sprach er längere Zeit, während ich voll Unwillen die Farbe wechselte, als ich mein edles Vaterland, so ausgezeichnet durch Künste und Waffen, die Geißel Frankreichs und die Gebieterin Europas, den Sitz der Tugend, Frömmigkeit, Ehre, Wahrheit, den Stolz und den Neid der Welt, so verächtlich behandeln und verlästern hörte. Da ich mich nun aber in keiner Lage, Beleidigungen zu rächen, befand, so begann ich nach reiflicher Ueberlegung zu begreifen, daß ich überhaupt nicht beleidigt sey. Da ich nämlich schon mehrere Monate an den Anblick und das Gespräch mit diesen Leuten gewöhnt war, und jeden Gegenstand, worauf mein Blick fiel, nach seiner verhältnißmäßigen Größe betrachtete, so war der Schauder, den ich zuerst wegen ihrer Größe empfand, in so weit verschwunden, daß ich eine Gesellschaft von englischen Lords und Damen in vollem Putz zu sehen glaubte, welche auf die feinste Weise ihre Rollen im Sichbrüsten, Verbeugen und Schwatzen spielten. Um die Wahrheit zu reden, ich kam mehreremale in Versuchung, über sie eben so zu lachen, wie der König nebst seine Großen, über mich spottete. Auch konnte ich es nicht unterlassen, über mich selbst zu lächeln, wenn die Königin mich auf ihrer Hand vor einen Spiegel hielt, so daß unsere beide Gestalten in voller Größe von demselben wiedergegeben wurden; Nichts hatte alsdann so albern seyn können, als ein Vergleich zwischen uns, und es schien mir wirklich, meine Gestalt sey um mehrere Grade zusammengeschrumpft.

Niemand ärgerte und kränkte mich jemals so sehr wie der Zwerg der Königin. Da dieser nämlich eine solche Körperkleinheit besaß, die man bisher noch nie im Lande gesehen hatte (ich glaube wirklich, daß er nicht höher als dreißig Fuß war), ward er so unverschämt, als er ein noch unter ihm stehendes Geschöpf erblickte, daß er sich stets zu blähen und großzuthun pflegte, so oft er im Vorzimmer an mir vorüberging, während ich auf dem Tische stand und mich mit den Herrn und Damen unterhielt. Alsdann unterdrückte er selten einige spitze Worte über meine » Kleinheit.« Ich rächte mich an ihm dadurch, daß ich ihn Bruder nannte, zum Ringen aufforderte und Erwiderungen gab, wie sie im Munde der Hofpagen gewöhnlich sind. Eines Tages war diese boshafte, junge Katze über etwas, das ich ihm sagte, so verdrießlich, daß er auf die Seitenlehne des Armstuhls Seiner Majestät kletterte, mich um die Mitte meines Leibes packte, da ich ohne an Arges zu denken, ruhig da saß, in eine silberne Schaale voll Milch hineinwarf und dann so schnell wie möglich fortlief. Ich mußte zuerst mit dem Kopfe untertauchen, und wäre ich kein guter Schwimmer gewesen, so hätte es mir schlimm ergehen können.Glumdalclitch befand sich damals gerade am andern Ende des Zimmers, und die Königin war so erschrocken, daß es ihr an Geistesgegenwart fehlte, mir zu helfen. Allein meine kleine Wärterin lief herbei um mich zu retten und zog mich heraus, nachdem ich ungefähr ein Quart Milch verschluckt hatte. Ich wurde zu Bett gebracht, erlitt jedoch keinen besondern Schaden, als daß mein Anzug vollkommen verdorben war. Der Zwerg ward tüchtig gepeitscht und mußte noch außerdem zur Strafe die Milch, in welche er mich geworfen, austrinken; auch erhielt er nie wieder die Gunst der Königin, und Seine Majestät verschenkten ihn bald darauf, zu meiner großen Freude, an eine Frau von hohem Stande, sonst würde der boshafte Kobold seine Rache sicherlich bis zum Aeußersten getrieben haben.

Auch schon früher spielte er mir einen Streich, worüber die Königen lachen mußte, obgleich sie sich zugleich herzlich darüber ärgerte, und ihn auf der Stelle kassirt haben würde, wenn ich nicht so großmüthig gewesen wäre, Fürsprache für ihn einzulegen. Seine Majestät hatte einen Markknochen auf ihren Teller genommen und stellte denselben, nachdem sie ihn vom Marke geleert, wieder aufrecht in die Schüssel, wie er zuerst gestanden hatte. Der Zwerg nun benutzte einen Augenblick, woGlumdalclitch an den Kredenztisch gegangen war, stieg auf den Schemel, worauf meine Wärterin, um beim Essen zu bedienen, vorher gestanden, packte mich mit beiden Händen, drückte meine Beine zusammen, quetschte sie in den Markknochen bis über meinen Leib hinein, wo ich dann einige Zeit stecken blieb und eine sehr lächerliche Figur machte. Wie ich glaube, wußte man eine ganze Minute lang durchaus nicht, was aus mir geworden wäre, denn ich glaubte, es sey unter meiner Würde, laut aufzuschreien. Da aber alle Gerichte nur selten warm auf eine fürstliche Tafel gebracht werden, wurde die Haut meiner Schenkel nicht verbrüht, und nur die Strümpfe und Beinkleider geriethen in schlimme Beschaffenheit. Der Zwerg erhielt auf meine Bitte keine andere Strafe, als eine genügende Anzahl derber Peitschenhiebe.

Die Königin spottete häufig über meine Furchtsamkeit, und fragte mich gewöhnlich, ob alle Leute in meinem Vaterlande dieselbe Feigheit, wie ich, besäßen. Die Veranlassung war folgende: Das Königreich wird im Sommer sehr durch Fliegen überschwemmt und diese verhaßten Insekten, von der Größe einer Lerche, gönnten mir, durch ihr ewiges Summen an meinen Ohren keinen Augenblick Ruhe; oft setzten sie sich auf meine Nahrung und ließen dort ihren eckelhaften Unrath und ihre Eier zurück, die mir, aber nicht den Eingeborenen des Landes, sichtbar waren, weil Letztere, in Hinsicht kleinerer Gegenstände, kein scharfes Gesicht besitzen. Bisweilen setzten sie sich mir auf Nase und Stirne und beängstigten mich dadurch bis zum Aeußersten, denn zugleich stanken sie auch auf höchst ekelhafte Weise, ich konnte sogar jene klebrige Materie genau sehen, welche diese Geschöpfe, nach Behauptung unserer Naturforscher, in Stand setzt, mit aufwärts gekehrten Beinen, an den Zimmerdecken einherzuspazieren. Die Abwehrung dieser verabscheuungswürdigen Thiere, kostete mich viel Mühe, und es war mir unmöglich, nicht zurückzufahren, sobald sie auf mein Gesicht zuflogen. Der Zwerg spielte mir gewöhnlich den Streich, daß er eine Anzahl Insekten, wie Schulknaben bei uns, mit der Hand fing und sie dann plötzlich unter meiner Nase fliegen ließ, um mich zu erschrecken und die Königin zu amüsiren. Mein Gegenmittel bestand aber darin, daß ich sie mit meinem Messer, während sie in der Luft flogen, zerschnitt, und da ich mir viel Gewandtheit in diesem Verfahren erwarb, habe ich auch zugleich viele Bewunderung damit erregt.

Wie ich mich erinnere, hatte Glumdalclitch mich einst in der Schachtel vor ein offenes Fenster hingesetzt, ein Verfahren, das an schönen Tagen, damit ich frische Luft schöpfte, bei ihr gewöhnlich war. Ich wagte es nämlich nie, meine Schachtel an einem Nagel ausserhalb des Fensters hinhängen zu lassen, wie dies bei uns in England mit Käfigen zu geschehen pflegt. Ich schob eines meiner Fenster in die Höhe und setzte mich an meinen Tisch, um ein Stück süßen Kuchen zum Frühstück zu verzehren. Da aber drangen zwanzig Wespen, durch den Geruch herbeigelockt, in das Zimmer und brummten dabei lauter, wie eben so viele Maultrommeln oder Dudelsäcke. Einige derselben ergriffen meinen Kuchen und trugen ihn stückweise fort, andere flogen mir um Kopf und Gesicht, betäubten mich mit ihrem Geräusch und versetzten mich in die äußerste Furcht vor ihren Stacheln. Ich hatte jedoch den Muth aufzustehen, mich mit dem Messer zu vertheidigen und sie in der Luft anzugreifen. Viele derselben wurden von mir getödtet die übrigen flogen fort und ich schloß mein Zimmer.

Diese Insekten waren so groß wie Rebhühner; ich zog die Stacheln aus den Leichen und fand, daß erstere anderthalb Zoll lang und so scharf wie Nadeln waren. Ich habe sie sämmtlich mit Sorgfalt aufbewahrt, zeigte sie nach meiner Rückkehr, nebst andern Merkwürdigkeiten, in mehreren Theilen von Europa, schenkte drei Stacheln der Schule von Gresham, und behielt den vierten für mich selbst.

Biographie von Jonathan Swift


Biographie von Jonathan Swift.

Das Leben Swifts ist ein Gegenstand voll Interesse und Belehrung für alle diejenigen, die über die Wechselfälle nachdenken mögen, aus denen das Geschick der Männer zusammengesetzt ist, die durch ihren Ruf und ihre Talente berühmt sind. Bei seiner Geburt von allen Hülfsmitteln entblößt, erzogen durch das kalte sorglose Mitleid zweier Oheime, von academischen Ehren ausgeschlossen, während mehrerer Jahre auf den unzulänglichen Schutz Sir William Temples beschränkt, bieten die ersten Blätter der Geschichte Swifts nur das Gemälde eines erniedrigten, in seinen Hoffnungen betrogenen Genius. Trotz aller dieser Nachtheile brachte er es dahin, der Rathgeber eines britischen Ministeriums, der geschickteste Vertheidiger seines Verwaltungssystems und der vertraute Freund aller der Männer zu werden, die unter der klassischen Regierung der Königin Anna durch ihren Adel oder ihre Talente merkwürdig waren.

Die Ereignisse seiner letzten Jahre bieten einen nicht weniger auffallenden Contrast dar. In die Ungnade seiner Beschützer verwickelt wurde er verfolgt, verließ England, lebte von seinen Freunden getrennt, und erreichte dann auf einmal einen Grad von Popularität, der ihn zum Abgott Irlands und zum Schrecken derer machte, welche dieses Königreich regierten. Nicht weniger außerordentlich ist sein Privatleben. Er liebte zwei der schönsten und anziehendsten Frauen seiner Zeit und wurde von ihnen ebenfalls zärtlich geliebt; aber sein Schicksal wollte, daß er mit keiner derselben jemals eine glückliche und friedliche Verbindung eingehen sollte, und er sah sie nach einander in das Grab steigen mit der Ueberzeugung, daß ihre tödtliche Krankheit durch den Schmerz über ihre betrogenen Hoffnungen und eine schlecht erwiderte Liebe verursacht worden sey.

Swifts Talente, die Quelle seiner Berühmtheit und seines Stolzes, deren Glanz so lange die Welt geblendet und bezaubert hatte, wurden, je mehr er sich dem Ende seines Lebens näherte, durch Krankheit verdunkelt, durch Leidenschaften verkehrt, und ehe er dasselbe erreichte, standen sie denen der gewöhnlichsten Menschen weit nach.

Swifts Leben ist also eine wichtige Lehre für alle berühmte Männer; es wird zeigen, daß, wenn das Genie auf der einen Seite vom Unglück sich nicht niederdrücken lassen soll, die Berühmtheit andererseits, so groß sie auch seyn möge, den Eigendünkel nicht ermuthigen müsse. Wenn diejenigen, denen das Schicksal die glänzenden Fähigkeiten versagt hat, mit denen er begabt war, oder diejenigen, denen die Gelegenheit fehlte, sie zu entwickeln, die Geschichte dieses berühmten Mannes lesen, so werden sie die Ueberzeugung gewinnen, daß das Glück weder von einem politischen Einfluß, noch von einem großen Ruhme abhängig ist.

I


I.

Jonathan Swift, Doktor der Theologie und Dechant zu St. Patrick in Dublin, stammte von dem jüngeren Zweige der FamilieSwift in der Grafschaft York ab, die seit vielen Jahren in dieser Provinz ansäßig war.

Sein Vater war der sechste oder siebente Sohn des ehrwürdigen Thomas Swift, Pfarrers zu Goodrich. Die Zahl der Kinder dieses Geistlichen und die Bescheidenheit ihres Vermögens gestatten es nicht, die Aufeinanderfolge derselben genauer anzugeben. Der Dechant selbst benachrichtigt uns, daß sein Vater einige Agentschaften und Aemter in Irland bekleidete.

Jonathan wurde zu Dublin in einem kleinen Hause im Court of Hoeys geboren, das die Bewohner dieses Stadtviertels noch zeigen. Seine Kindheit war, wie die seines Vaters, durch einen sonderbaren Umstand bezeichnet. Es war nicht die Wiege, die diesmal von Soldaten geraubt wurde, wie es bei Thomas Swift geschehen war, sondern diesmal wurde das Kind selbst entführt.

Die Amme, die von Whitehaven war, wurde von einem sterbenden Verwandten, von dem sie ein Vermächtniß erwartete, in ihre Heimath zurückgerufen. Sie war dem Kinde, das ihrer Sorgfalt anvertraut war, so zugethan, daß sie es mit sich nahm, ohne Frau Swift davon zu benachrichtigen. Es blieb drei Jahre in Whitehaven; seine Gesundheit war so zart, daß seine Mutter es keine zweite Reise wollte wagen lassen, und es daher der Frau überließ, die ihm diese Probe ihrer Anhänglichkeit gegeben hatte. Die gute Amme trug so viel Sorge für die Erziehung des Kindes, daß es, als es nach Dublin zurückkam, buchstabiren konnte; mit fünf Jahren las es bereits in der Bibel.

Swift theilte die Dürftigkeit einer Mutter, die er zärtlich liebte, und lebte von den Wohlthaten seines Oheims Godivin. Diese Abhängigkeit scheint von seiner Kindheit an einen tiefen Eindruck auf seinen stolzen Charakter gemacht zu haben, und von dieser Zeit an begann sich bei ihm jener menschenfeindliche Geist zu zeigen, den er nur zugleich mit dem Gebrauch seiner intellektuellen Fähigkeiten verlor. Als nachgeborenes Kind, vom Mitleid erzogen, gewöhnte er sich frühe, den Tag seiner Geburt als einen Tag des Unglücks zu betrachten, und er versäumte nie bei der alljährigen Wiederkehr dieses Tages die Stelle in der Schrift zu lesen, in welcher Hiob den Tag beweint und verflucht, an welchem man im Hause seines Vaters anzeigte, »daß ein Männlein geboren sey.«

In einem Alter von sechs Jahren schickte man ihn in die Schule von Kilkenny, die von der Familie Ormond gegründet und ausgestattet worden war. Hier zeigt man den Fremden noch Swifts Pult, auf welchem er seinen Namen mit einem Messer eingegraben habe.

Von Kilkenny aus wurde Swift im vierzehnten Jahre in das Dreifaltigkeits-Kollegium nach Dublin gesandt. Es scheint nach den Registern, daß er daselbst als Kostgänger am 24. April 1682 aufgenommen wurde und St. Georg Ashe zum Lehrer gehabt habe. Sein Vetter, Thomas Swift, wurde um dieselbe Zeit aufgenommen und die zwei Familiennamen, die ohne die Taufnamen in den Registern aufgeführt wurden, haben über einige geringfügige Umstände im Leben des Dechanten Ungewißheit verbreitet. Als Swift an die Universität aufgenommen wurde, forderte man von ihm, sich mit den gewöhnlichen Studien jener Zeit abzugeben. Aber darunter gab es einige, die seinem Geiste nicht sehr zusagten. Vergebens empfahl man ihm die Logik, die man damals als die Wissenschaft par excellence betrachtete. Er hatte einen natürlichen Widerwillen gegen die Sophismen des Smiglecius, Keckermannus, Burgersdicius und anderer ernsthafter Doktoren, die wir heut zu Tage kaum mehr kennen. Sein Lehrer konnte es nicht dahin bringen, daß er auch nur drei Seiten von diesen Gelehrten in uslas, obgleich es unerläßlich war, einen Begriff von den Erklärern des Aristoteles zu haben, um durch das Examen zu kommen. Ebenso vernachläßigte er alle Studien, die ihm nicht gefielen. Er las weniger, um sich zu belehren, als um sich zu unterhalten, oder um traurige Gedanken von sich abzuhalten. Aber seine Lektüre war jedenfalls mannigfaltig; und er mußte viel gelesen haben, denn er hatte bereits eine Skizze des »Mährchens von der Tonne« auf’s Papier geworfen, die er Hrn.Waryng gezeigt hatte. Was muß man daraus schließen? Daß ein träger Student des siebenzehnten Jahrhunderts durch Lektüre, die er zum Zeitvertreib in seinen Mußestunden vornahm, Kenntnisse erwerben konnte, die einen fleißigen Studenten unserer Zeit in Staunen setzen würden.

Wir haben keine sichern Angaben,, um über den Umfang der Kenntnisse Swifts urtheilen zu können; man kann nicht sagen, daß er ein tiefes Wissen besaß, aber gewiß ein mannigfaltiges. Seine Schriften bezeugen, daß die Geschichte der alten und neuen Poesie ihm vertraut war; er ist nie in Verlegenheit, zur Bestätigung des Gegenstandes, den er gerade vor sich hat, die klassischen Stellen anzuführen, die für seinen Zweck die geeignetsten sind. Obgleich er keine hohe Vorstellungen von seinen Kenntnissen hat und sich den Vorwurf machte, durch seine Trägheit und Unwissenheit einen akademischen Grad verscherzt zu haben; obgleich er diejenigen heftig tadelte, die einem Manne den Titel eines Gelehrten gaben, der nicht den größten Theil seines Lebens den Studien gewidmet hatte, machte er doch nicht viel aus einem Studenten, der nichts als Fleiß besaß.

Während so Swift seine Studien ohne Beharrlichkeit, nach seinen Launen betrieb, hätte er sie beim Tode seines OheimsGodwin, bei dessen Gelegenheit die Zerrüttung seines Vermögens an den Tag kam, beinahe unterbrechen müssen, wenn er nicht in seinem Oheim Dryden William Swift einen Gönner gefunden hätte. Herr Dryden kam seinem Neffen zu Hülfe; er behandelte ihn, wie es scheint, mit mehr Gewogenheit und Wohlwollen, als sein Bruder Godwin; aber sein nicht sehr beträchtliches Vermögen erlaubte ihm nicht, freigebiger zu seyn, als sein Bruder. Swift hat sein Andenken stets werth gehalten, und spricht oft von ihm als von dem besten seiner Verwandten. Er erzählte oft einen Vorfall, der, während er im Collegium war, sich ereignete, und dessen Held sein Vetter Willoughby Swift, der Sohn Dryden Williams, war. Swift, der ohne einen Pfennig in der Tasche in seinem Zimmer saß, bemerkte im Hofe einen Matrosen, der nach dem Zimmer eines Studenten zu fragen schien. Es kam ihm der Gedanke, dieser Mensch könne mit irgend einer Botschaft von seinem VetterWilloughby beauftragt seyn, der damals Kaufmann in Lissabon war. Kaum war ihm diese Idee durch den Kopf gefahren, als die Thüre seines Zimmers sich öffnete, und der Fremde, sich ihm nähernd, eine große lederne Börse voll Geld aus der Tasche zieht, die er als ein Geschenk seines Vetters Willoughby vor Swift hinlegt. Swift hoch erfreut, reicht dem Boten einen Theil seines Schatzes, den der ehrliche Matrose nicht annehmen will.

Von diesem Augenblick an beschloß Swift, der das Unglück der Dürftigkeit kennen gelernt hatte, sein bescheidenes Einkommen so zu verwalten, daß er nie mehr in die äußerste Noth käme. Er führte eine solche Ordnung in seiner Lebensart ein, daß es aus seinen Tagebüchern, die man aufbewahrt hat, hervorgeht, wie er sich jedes Jahr bis auf einen Sou hinaus von seinen Ausgaben Rechenschaft geben konnte von seiner Universitätszeit an, bis zu dem Augenblick, wo er den Gebrauch seiner Geisteskräfte verlor.

Im Jahre 1688 brach der Krieg in Irland aus; Swift war damals 21 Jahre alt. Ohne viel Geld; wenn auch nicht ohne Kenntnisse, doch mit dem Rufe, keine zu besitzen, mit dem Makel eines unruhigen und störrischen Charakters, und ohne einen einzigen Freund, der ihn hätte aufnehmen und unterhalten können, verließ er das Collegium in Dublin. Mehr von der Liebe, als von der Hoffnung geleitet, schlug er den Weg nach England ein und begab sich zu seiner Mutter, welche damals in der Grafschaft Leicester wohnte. Frau Swift, die sich selbst in einer abhängigen und ärmlichen Lage befand, empfahl ihrem Sohne, den Sir William Temple um Schutz anzugehen, dessen Gattin mit ihr verwandt war und die Familie Swift gekannt hatte. Thomas Swift, der Vetter unsers Autors, war Caplan des Sir William gewesen.

Man bat, und die Bitte wurde gewährt; aber längere Zeit hindurch bemerkte man von Seiten Sir William Temples kein Zeichen der Liebe oder des Vertrauens. Der vollendete Staatsmann, der fein gebildete Gelehrte fand wahrscheinlich keinen besonderen Geschmack an dem reizbaren Charakter und den unvollständigen Kenntnissen seines neuen Tischgenossen. Aber die Vorurtheile Sir Williams zerstreuten sich nach und nach: der Beobachtungsgeist Swifts gab ihm die Mittel, zu gefallen und er vermehrte seine Kenntnisse durch ein anhaltendes Studium, dem er acht Stunden täglich widmete. Diese Zeit, wohl angewendet, machte einen Mann mit den Fähigkeiten Swifts zu einem unschätzbaren Schatze für einen Gönner, wie Temple, bei welchem er zwei Jahre blieb. Das üble Befinden Swifts nöthigte ihn, seine Studien zu unterbrechen; eine Unverdaulichkeit hatte seinen Magen erkältet und ihm apoplectische Zufälle zugezogen, die ihn an den Rand des Grabes brachten; die Wirkungen derselben begleiteten ihn durch das ganze Leben. Einmal war er so krank, daß er nach Irland ging, in der Hoffnung, die Luft seines Geburtslandes könne ihm wohlthätig werden; aber als er keine Erleichterung fühlte, kehrte er nach Moorpark zurück, wo er die ruhigen Zwischenzeiten, die ihm sein Unwohlseyn gestatteten, zum Studium anwendete.

Damals geschah es, daß Sir William Temple ihm einen großen Beweis seines Vertrauens gab, indem er ihm gestattete, bei seinen vertraulichen Zusammenkünften mit dem König Wilhelm, wenn dieser nach Moorpark kam, gegenwärtig zu seyn, eine Auszeichnung, welche Temple dem vertrauten Verhältnisse verdankte, das zwischen ihnen in Holland bestanden hatte, die er mit ehrerbietiger Ungezwungenheit aufnahm und durch weise konstitutionelle Rathschläge belohnte. Während SirWilliam durch die Gicht im Bette zurückgehalten war, hatte Swift den Auftrag, den König zu begleiten; und alle Biographen des Dichters haben wiederholt, daß Wilhelm ihm eine Kompagnie Reiterei anbot und ihn die Spargel nach holländischer Weise schneiden lehrte. Es wäre nicht recht, wollte man den hier gewonnenen Vortheil verschweigen, daß er dieses Gericht durch das Beispiel des Königs auf holländische Weise, das heißt ganz mit Stumpf und Stiel essen lernte. Noch solidere Vortheile wurden seinem Ehrgeiz geboten. Man machte ihm Hoffnung auf Beförderung im geistlichen Stande, dem er sich aus Neigung und durch die Aussicht, die sich vor ihm öffnete, bestimmte. Das große Vertrauen, das man auf ihn setzte, rechtfertigte diese Hoffnung. Sir William Temple beauftragte ihn, dem König die Gründe vorzustellen, die ihn bestimmen mußten, zu dem Antrage auf die dreijährige Dauer des Parlaments seine Zustimmung zu geben; und er führte für die AnsichtTemples mehrere weitere Beweisgründe an, die er aus der Geschichte Englands hernahm. Aber der König beharrte auf seiner Opposition, und der Antrag wurde durch den Einfluß der Krone auf das Haus der Gemeinen verworfen. Dies war die erste Beziehung, in welche Swift mit dem Hofe kam; und er sagte oft seinen Freunden, dies habe dazu gedient, ihn von seiner Eitelkeit zu heilen. Er hatte wahrscheinlich auf den Erfolg seiner Unterhandlungen gerechnet, und war tief gekränkt, als er sie scheitern sah.

Als Swift nach Irland zurückkehrte, und zu einer Stelle von hundert Pfund Sterling Einkünfte ernannt war, forderten die Bischöfe, an die er sich wandte, um ordinirt zu werden, ein Zeugniß seines guten Betragens während seines Aufenthalts bei Sir William Temple. Diese Bedingung war unangenehm: um das Zeugniß zu erhalten, mußte man sich fügen, mußte man bitten. Swift brauchte fünf Monate, um sich dazu zu entschließen. Er sandte einen Entschuldigungsbrief und die Bitte wurde gewährt; der Brief Swift’s war wahrscheinlich der erste Schritt zur Versöhnung mit seinem Gönner. In weniger als zwölf Tagen erhielt er das verlangte Zeugniß, denn sein Ordinationsschein als Diakonus ist vom 18. Oktober 1694 datirt, und der als Priester vom 13. Januar 1695. Sir William Temple hatte, wie man glauben muß, den gewünschten Zeugnissen noch eine Empfehlung an den Lord Capel beigelegt, der damals Vicekönig von Irland war; denn beinahe unmittelbar, nachdem Swiftzum Priester ordinirt war, wurde er auf die Pfründe von Kilroot, in der Diöcese Connor, ernannt, die ungefähr hundert Pfund Sterling jährlich trug. Er zog sich auf diese bescheidene Stelle zurück und lebte hier als Dorfpfarrer.

Das Leben, das er in Kilroot führte, und das so verschieden war von dem in Moorpark, wo er die Gesellschaft aller durch Geburt oder Genie ausgezeichneten Männer genossen hatte, wurde ihm bald verleidet. Inzwischen fühlte Temple, seit erSwift entbehrte, diesen Verlust schmerzlich und drückte ihm den Wunsch aus, er möchte wieder nach Moorpark kommen. Während Swift zögerte, ehe er auf eine selbst gewählte Lebensweise verzichtete, um seine früher verlassene wieder aufzunehmen, scheint ein Umstand, der die ganze Milde seines Charakters beurkundet, seinen Entschluß entschieden zu haben. Auf einem seiner Ausflüge war er einem Geistlichen begegnet, mit dem er sich verband, weil er ihn sehr unterrichtet, bescheiden und sittlich fand. Dieser gute Pfarrverweser war Vater von acht Kindern und seine Stelle trug ihm vierzig Pfund Sterling ein. Swift, der keine Pferde hatte, entlehnte von ihm seine schwarze Stute, ohne ihm von seiner Absicht etwas zu sagen, begab sich nach Dublin, verzichtete auf seine Stelle in Kilroot und setzte es durch, daß sie auf seinen neuen Freund übertragen wurde. Das Gesicht des guten Greises drückte im ersten Augenblick nur das Vergnügen aus, das er empfand, sich auf eine Pfründe ernannt zu sehen; aber als er erfuhr, daß es die seines Wohlthäters sey, der zu seinen Gunsten darauf verzichtet hatte, da nahm seine Freude einen so rührenden Ausdruck der Ueberraschung und der Dankbarkeit an, daß Swift, selbst tiefbewegt, sagte: er habe niemals in seinem Leben so viel Vergnügen genossen, als an diesem Tage. Als Swiftabreiste, drang der gute Geistliche in ihn, die schwarze Stute anzunehmen, die er nicht ausschlug, um ihn nicht zu kränken. Beritten, zum erstenmale auf einem Pferde, das ihm gehörte, mit achtzig Pfund Sterling in der Börse, schlug Swift den Weg nach England ein, und bekleidete in Moorpark wieder die Stelle eines Sekretärs Sir William Temples.

Kapitel 2


Kapitel 2 Der Kaiser von Lilliput besucht mit dem Gefolge seines Adels den Verfasser. Des Kaisers Person und die Vornehmen werden beschrieben. Gelehrte erhalten den Auftrag, den Verfasser in der Landessprache zu unterrichten. Er setzt sich durch seinen sanften Charakter in Gunst. Seine Taschen werden durchsucht. Degen, und Pistolen werden confiscirt.

Als ich nun auf den Füßen stand, sah ich mich ein wenig um, und ich muß gestehen, daß ich niemals eine so schöne Aussicht erblickt habe. Die Umgebung erschien wie ein Garten und die eingehägten Felder, welche in der Regel vierzig Quadratfuß betrugen, glichen den Blumenbeeten. Diese Felder waren untermischt mit Wäldern von acht Fuß Umfang; die größten Bäume schienen sieben Fuß hoch zu seyn. Links erblickte ich die Hauptstadt, die einer auf Theatercoulissen gemalten Stadt glich. Schon seit einigen Stunden wurde ich von Naturbedürfnissen heftig gedrängt, und dies war wahrlich kein Wunder, denn schon seit zwei Tagen hatte ich mich nicht entledigt. Ich befand mich in großer Klemme zwischen Noth und Schaam. Das beste Auskunftsmittel, welches mir einfiel, war, in mein Haus zu kriechen. Ich that es, schloß das Thor, ging, so weit es die Länge meiner Ketten erlaubte, hinein, und erleichterte meinen Körper. Dies war jedoch das einzige Mal, daß ich mich einer so unreinlichen Handlung schuldig machte; auch hoffe ich in diesem Punkte auf die Nachsicht des gütigen Lesers, nachdem er reiflich und unparteiisch meinen Fall und meine schlimme Lage überlegt haben wird. Von dieser Zeit an war es stets meine Gewohnheit, sobald ich aufstand, dies Geschäft in der freien Luft abzuthun; und jeden Morgen ward auch gehörig Sorge getragen, daß der anstößige Stoff, ehe Gesellschaft anlangte, von zwei dazu angestellten Dienern auf Karren fortgebracht wurde. Ich würde vielleicht bei einem Umstände nicht so lange verweilen, welcher beim ersten Anblick als nicht sehr wichtig erscheint, hätte ich es nicht für nothwendig gehalten, meinen Charakter in Betreff der Reinlichkeit vor der Welt zu rechtfertigen, da Verleumder, wie ich höre, bei diesem Anlaß und anderen Gelegenheiten dieselbe in Frage gestellt haben.

Als dies Abentheuer zu Ende war, ging ich wieder aus meinem Hause, denn ich bedurfte der frischen Luft. Der Kaiser war bereits den Thurm herabgestiegen und ritt auf mich zu, welches ihm beinah theuer zu stehen gekommen wäre. Sein Pferd, obgleich trefflich zugeritten, bäumte sich bei dem ungewohnten Anblick, denn es mußte ihm scheinen, ein Berg bewege sich vor seinen Augen. Der Fürst jedoch, der ein vorzüglicher Reiter war, hielt sich im Sattel, bis seine Begleiter herbei eilten und den Zaum hielten, so daß seine Majestät Zeit hatten abzusteigen. Als der Kaiser abgestiegen war, besah er mich von oben bis unten mit großer Bewunderung, hielt sich aber immer aus dem Bereich meiner Ketten. Er befahl alsdann seinen Köchen und Kellermeistern, die schon mit Allem bereit waren, mir Essen und Trinken zu reichen. Diese Nahrung schoben sie mir auf einer Art von Fuhrwerken hin, bis ich sie ergreifen konnte. Ich nahm aber diese Fuhrwerke und leerte sie in Kurzem sämmtlich aus. Zwanzig waren mit Fleisch, zehn mit geistigem Getränk in irdenen Geschirren beladen. Jedes lieferte mir zwei oder drei gute Bissen. Das Getränk von zehn irdenen Gefäßen goß ich in einen solchen Wagen, und leerte denselben mit einem Zuge.

Die Kaiserin und die jungen Prinzen und Prinzessinnen von Geblüt, saßen mit einem Gefolge vieler Damen in einiger Entfernung auf Stühlen. Bei dem Unfall des kaiserlichen Pferdes standen sie auf und traten näher an die Person seiner Majestät hin, die ich jetzt genauer beschreiben will. Der Kaiser ist um die Breite meines Nagels größer, als seine Hofleute, und dies allein genügt, die, welche ihn schauen, mit Ehrfurcht zu erfüllen. Seine Gesichtszüge sind stark und männlich; seine Lippe ist östreichisch, seine Nase gebogen, Leib und Glieder in schönem Verhältniß gebildet, seine Bewegungen anmuthig, seine Haltung majestätisch. Er war damals schon über die erste Jugendblüthe hinaus, denn er zählte achtundzwanzig dreiviertel Jahre. Sieben Jahre hatte seine glückliche und im Allgemeinen siegreiche Regierung gedauert. Um ihn besser betrachten zu können, legte ich mich auf die Seite, so daß sein Gesicht mit dem meinen parallel stand, während er sich drei Ellen von mir entfernt hielt. Später habe ich ihn jedoch öfter in der Hand gehalten und kann mich deshalb in der Beschreibung nicht täuschen. Seine Kleidung war sehr einfach; die Mode halb orientalisch, halb europäisch. Er trug auf dem Haupte einen leichten goldenen, mit Juwelen geschmückten Helm, von dessen Spitze eine Feder herabwehte. Er hielt sein Schwert gezogen in der Hand, um sich zu vertheidigen, im Fall ich losbräche; es war beinahe drei Zoll lang, Scheide und Griff mit Diamanten geschmückt. Seine Stimme klang schrillend, war aber zugleich deutlich und vernehmlich; sogar wenn ich aufstand, konnte ich sie hören.

Die Damen und Herren des Hofes waren sämmtlich mit vieler Pracht gekleidet; so daß es scheinen konnte, auf dem Orte, wo sie standen, sey ein mit gestickten Figuren in Gold und Silber ausgeschmückter Weiberrock der Länge nach ausgebreitet. Seine Majestät erwies mir die Ehre, öfter mit mir zu reden, und gab auch Erwiderungen, allein wir konnten einander nicht verstehen. Auch waren mehrere Priester und Rechtsgelehrte gegenwärtig, (auf den Stand schloß ich nach der Kleidung) die den Auftrag hatten, mich anzureden; ich wollte mich mit ihnen in allen Sprachen unterhalten, worin ich mich nur einigermaßen ausdrücken konnte; im Deutschen, Holländischen, Lateinischen, Französischen, Spanischen, Italienischen und in der Lingua franca. Allein meine Bemühung half zu Nichts.

Nach zwei Stunden entfernte sich der Hof. Eine stärkere Wache ward vor mir aufgestellt, um die Impertinenz und wahrscheinlich auch die Bosheit des Pöbels abzuwehren, welcher sehr begierig war, mir so nahe zu kommen, als er durfte. Einige waren sogar so unvorsichtig, ihre Pfeile auf mich abzuschießen, als ich auf dem Boden vor meinem Hause saß, und ein Pfeil hätte beinah sogar mein linkes Auge getroffen. Allein der Oberst befahl sechs der Rädelsführer verhaften zu lassen, und hielt es für die passendste Strafe, sie mir gefesselt zu überliefern; sein Befehl wurde von den Soldaten sogleich ausgeführt, indem sie die Gefangenen mit den Lanzenspitzen in meinen Bereich trieben. Ich nahm sie sämmtlich in meine rechte Hand, steckte fünf in meine Rocktasche, und gab mir das Ansehen, als wollte ich den sechsten lebendig essen. Der arme Mann schrie furchtbar, und der Oberst wurde mit seinen Offizieren doch besorgt, besonders als sie sahen, wie ich mein Messer aus der Tasche zog; allein ich beschwichtigte bald diese Furcht, denn ich schaute ihn mit sanften Blicken an, durchschnitt seine Fesseln, und setzte ihn auf den Boden. Natürlich lief er fort. Die Uebrigen behandelte ich in derselben Art, als ich sie Einen nach dem Andern aus der Tasche gezogen hatte, und ich bemerkte, daß sowohl Soldaten als Volk über dies Zeichen meiner Gnade entzückt waren, welches sehr zu meinen Gunsten bei Hofe erzählt wurde.

Gegen Abend gelangte ich mit einiger Schwierigkeit in mein Haus und legte mich dort auf den Boden nieder. Dies mußte ich ungefähr vierzehn Tage lang thun, während welcher Zeit auf Befehl des Kaisers ein Bett für mich zugerichtet wurde. Sechshundert Betten von gewöhnlichem Maß wurden in mein Haus gebracht und dort bearbeitet; hundertundfünfzig Betten, zusammengenäht, bildeten die Länge und Breite einer Matratze; vier davon wurden über einander gelegt, waren mir aber noch immer nicht bequem genug, wegen der Härte des Fußbodens von polirtem Stein. In demselben Verhältniß wurde ich mit Kissen, Betttüchern und Decken versehen, die mir so ziemlich erträglich schienen, da ich so lange an Strapazen jeder Art gewöhnt gewesen war.

Als die Nachricht von meiner Ankunft sich im Königreiche verbreitete, strömte eine wunderbare Menge reicher, fauler und neugieriger Leute herbei, um mich zu sehen. Die Dörfer standen beinahe leer, und eine bedeutende Vernachlässigung der Landwirthschaft hätte die Folge seyn müssen, wenn Se. kaiserliche Majestät diese Nachtheile durch mehrere Proklamationen und Staatsbefehle nicht verhindert hätte. Sie gebot, alle diejenigen, welche mich bereits gesehen hätten, sollten nach Hause kehren, und sich nicht unterstehen, ohne Erlaubniß des Hofes, in den Bereich meines Hauses bis auf fünfzig Ellen zu kommen. Hierdurch erlangten zugleich die Staatssekretäre bedeutende Honorare.

Mittlerweile hielt der Kaiser häufige Rathsversammlungen, um zu überlegen, wie man mit mir verfahren müsse. Ein besonderer Freund, zugleich ein Mann vom höchsten Stande, der alle Geheimnisse vortrefflich kannte, hat mir nachher die Versicherung gegeben, der Hof sey meinethalben in bedeutender Verlegenheit gewesen. Man fürchtete, ich möchte meine Fesseln zerreißen, oder so viel essen, daß eine Hungersnoth die nothwendige Folge seyn müßte. Einige Male beschloß der Hof, mich verhungern zu lassen, oder Gesicht und Hände mit vergifteten Pfeilen zu beschießen, welche mich bald würden getödtet haben; dann aber überlegte man wieder, der Gestank einer so großen Leiche könne eine Pest in der Hauptstadt erregen, die sich dann wahrscheinlich im ganzen Königreiche verbreitet hätte. Während dieser Berathungen traten mehrere Offiziere an die Thür des Saales, wo der Rath versammelt war. Zwei von ihnen wurden zugelassen und berichteten mein Verfahren gegen die sechs vorher erwähnten Verbrecher. Dies machte auf das Herz Sr. Majestät und auf den ganzen Rath einen so günstigen Eindruck, daß ein kaiserlicher Befehl erlassen ward, wonach alle Dörfer bis auf die Entfernung von neunhundert Ellen jeden Morgen sechs Ochsen, vierzig Schafe und andere Nahrung als meinen Lebensunterhalt liefern sollten: darunter befand sich eine verhältnißmäßige Masse von Brod, Wein und anderen geistigen Getränken. An Zahlungs Statt gab Se. Majestät Anweisungen auf die Schatzkammer, denn dieser Fürst bestreitet seinen Hofhalt fast ausschließlich aus den Einkünften seiner Domänen. Nur selten und bei außerordentlichen Gelegenheiten werden Abgaben von seinen Unterthanen erhoben, welche dagegen auf ihre eignen Kosten in den Krieg ziehen müssen. Auch wurden sechshundert Personen als meine Bediente angestellt, welche bestimmten Lohn für ihre Nahrung und passend eingerichtete Zelte an den beiden Seiten meiner Thür zur Wohnung erhielten. Ferner ward befohlen, dreihundert Schneider sollten mir einen Anzug nach der Mode des Landes verfertigen; sechs Gelehrte, und zwar die bedeutendsten im Besitz Sr. Majestät, sollten mich in der Landessprache unterrichten; endlich sollten die Pferde des Kaisers, die des Adels und der Garden häufig vor mir zugeritten werden, damit sie sich an meine Person gewöhnten. Alle diese Befehle wurden gehörig zur Ausführung gebracht; nach ungefähr drei Wochen hatte ich bedeutende Fortschritte im Erlernen der Sprache gemacht; während dessen beehrte mich der Kaiser häufig mit seinen Besuchen und hatte die Gnade meinen Lehrern beim Unterricht zu helfen. Wir fingen bereits an, einigermaßen uns zu verständigen, und die ersten Worte, die ich lernte, war der Satz: Er möge mir gütigst meine Freiheit schenken, eine Phrase, die ich täglich kniend wiederholte. Seine Antwort, so viel ich begreifen konnte, lautete: »Nur die Zeitkönne meine Freiheit erwirken. Er dürfe ohne ein Gutachten seines geheimen Rathes mir dieselbe nicht ertheilen, und zuerst müßte ich Lumos kelmin pesso desmar lon emposo, das heißt, ihm und seinem Königreiche Frieden schwören. Ich würde übrigens mit aller Milde behandelt werden.

Alsdann rieth er mir durch Geduld und kluges Betragen seine und seiner Unterthanen Achtung mir zu erwerben. Er sprach den Wunsch aus: Ich möge es ihm nicht übel nehmen, wenn er bestimmten Beamten den Befehl ertheile, mich zu durchsuchen; wahrscheinlich würde ich verschiedene Waffen mitgebracht haben, welche nothwendig höchst gefährliche Dinge seyn müßten, wenn sie meiner Größe entsprächen. Ich antwortete: Seine Majestät werde zufrieden gestellt werden.

Ich sey bereit, mich zu entkleiden, und meine Taschen vor ihren Augen auszuleeren. Diese Antwort gab ich theils durch Zeichen, theils auch durch Worte. Er sagte hierauf: Nach den Gesetzen des Königreiches müsse ich mich von zweien seiner Beamten durchsuchen lassen; er wüßte, dies könne ohne meine Einstimmung und Hülfe nicht geschehen. Alles, was sie mir nähmen, werde mir zurückerstattet werden, sobald ich das Land verließe, oder ich würde nach einem von mir festgesetzten Preise die Zahlung des Werthes erhalten. Die beiden Beamten setzte ich alsdann auf meine Hand, steckte sie zuerst in die Taschen meines Ueberrocks und hieraus in die übrigen meiner Kleider, nur ließ ich in meinen Beinkleidern einige Behälter aus, welche kleine, mir durchaus nothwendige Artikel enthielten, die ihnen jedoch gleichgültig seyn mußten. In einer Tasche trug ich eine silberne Uhr, und in der andern einen Beutel mit einigem Gelde. Da diese Herren Feder, Tinte und Papier bei sich hatten, schrieben sie ein genaues Verzeichniß von Allem, was sie sahen, nieder, und als sie fertig warm, baten sie mich, sie wieder auf den Boden zu setzen, damit sie dasselbe dem Kaiser überbringen könnten. Dies Verzeichniß übersetzte ich nachher ins Englische, und es lautet Wort für Wort folgendermaßen:

Erstens: In der rechten Tasche des großen Bergmenschen (so übersetzte ich die Worte quinbus Flestrin) fanden wir nach der genauesten Untersuchung nur ein großes Stück rauhen Tuches, breit genug, einen Fußteppich für Eurer Majestät erstes Staatszimmer zu bilden. In der linken Tasche sahen wir eine große silberne Kiste mit einem Deckel von demselben Metall, welchen wir, die Visitatoren, nicht herausheben konnten. Wir baten deßhalb, dieselbe zu öffnen; Einer von uns trat hinein und gerieth bis an die Mitte des Beins in eine Art Staub, der uns in’s Gesicht flog und uns beide heftig und mehreremale nießen ließ. In seiner rechten Westentasche fanden wir ein ungeheures Bündel weißer und dünner Substanz, die übereinander gerollt ungefähr die Dicke von drei Menschen enthielt. Sie war mit einem starken Tau umwunden und mit schwarzen Figuren bezeichnet. Nach unserer unterthänigsten Meinung bestehen dieselben in Buchstaben, von denen hernach jeder halb so groß ist, wie die Fläche unserer Hand.

In der linken Westentasche befand sich eine Art Maschine, von deren Rücken zwanzig lange Pfähle denjenigen ähnlich sich ausdehnten, welche Pallisaden vor dem Hofe Eurer Majestät bilden. Hiemit kämmt sich der Bergmensch, wie wir vermuthen, seine Haare. Wir haben ihn nämlich nicht immer mit Fragen belästigt, weil wir es sehr schwierig fanden, uns einander verständlich zu machen. In der großen Tasche rechts an seiner Mittelkleidung (so übersetze ich das Wort Panfu-to, womit sie meine Beinkleider bezeichneten) sahen wir einen hohlen Pfeiler aus Eisen von einer Mannslänge, mit einem starken Stück Zimmerholz von noch größerem Umfange wie der Pfeiler. Auf einer Seite des Pfeilers ragten große Eisenstücke in sonderbaren Figuren hervor, die wir nicht zu erklären vermögen. In der linken Tasche befand sich eine Maschine derselben Art. In der kleinen Tasche rechts waren mehrere runde und flache Stücke von weißem und rothem Metall; einige weiße, wie es schien aus Silber bestehend, waren so groß, daß ich und mein Kamerad sie kaum in die Höhe heben konnten. In der linken Tasche waren zwei Pfeiler von unregelmäßiger Gestalt. Wir konnten nicht ohne Schwierigkeit bis auf den Gipfel derselben reichen, als wir auf dem Boden der Tasche standen. Einer derselben war bedeckt und schien aus einem Stückeverfertigt zu seyn, an dem obern Ende des andern befand sich aber eine weiße runde Substanz, zweimal so dick wie unsere Köpfe. In jedem derselben war eine wundersame Stahlfläche eingestoßen, welche wir durch unseren Befehl ihn zu öffnen zwangen; wir befürchteten nämlich, dieses könnten gefährliche Maschinen seyn.

Er nahm die Stahlflächen aus ihrem Gehäuse und sagte uns, in seinem Lande sey es Sitte, sich mit der einen zu rasiren und mit der andern die Fleischspeisen zu zerschneiden. In zwei Taschen konnten wir nicht eindringen; er nannte diese seine kleineren Behälter; sie bestanden in zwei breiten Schlitzen an dem obern Theile seines Mittelkleides, welche aber durch die Spannung seines Leibes eng geschlossen waren. Aus dem rechten Behälter hing eine dicke silberne Kette mit einer wunderbaren Maschine am Ende. Wir befahlen ihm sie herauszuziehen, was auch immer sich dort befinden möge. Sie bestand aus einer Kugel, zur Hälfte von Silber zur Hälfte von einem andern durchsichtigen Metall. An der durchsichtigen Seite sahen wir mehrere sonderbare Figuren in Cirkelform, und glaubten dieselben berühren zu können, bis unsere Finger durch die helle Substanz aufgehalten wurden. Als er die Maschine an unsere Ohren hielt, machte sie ein fortwährendes, dem einer Wassermühle ähnliches Geräusch: wie wir vermuthen, ist dasselbe entweder ein unbekanntes Thier, oder der Gott, den erverehrt. Wir sind aber zu der letztern Meinung geneigter, weil er uns versicherte (wenn wir ihn nämlich recht verstanden haben, denn er ist noch immer nicht im Stande, sich richtig auszudrücken), er thue selten etwas, ohne jenes Ding um Rath zu fragen. Er nannte es sein Orakel und sagte, es bezeichne die Zeit jeder Handlung seines Lebens. Aus der linken Tasche zog er ein Netz heraus, groß genug, um einem Fischer bei seinem Geschäfte zu dienen; er verstand es jedoch, dasselbe wie einen Geldbeutel zu öffnen und zu schließen, und es versah ihm wirklich die Dienste eines solchen. Wir fanden darin mehrere massive Stücke gelben Metalls, welche von ungeheurem Werth seyn müssen, wenn sie wirklich aus Gold verfertigt sind.

Nachdem wir so auf Befehl Eurer Majestät mit Sorgfalt seine Taschen durchsucht hatten, bemerkten wir einen Gürtel um seinen Leib aus der Haut eines wunderbaren Thieres verfertigt, an welchem links ein Degen von fünffacher Mannslänge herabhing; rechts einen in zwei Zellen abgetheilten Sack oder Beutel; jede Zelle aber kann ungefähr zwei Unterthanen Eurer Majestät enthalten. In einer dieser Zellen befanden sich Kugeln oder Bälle von sehr schwerem Metall, von der Dicke unserer Köpfe, welche eine sehr starke Hand zum Aufheben erforderten; die andere Hälfte enthielt einen Haufen schwarzer Körner von keinem großen Umfang oder Gewicht, denn wir konnten ungefähr fünfzig auf unserer Handfläche halten.

Dieß ist ein genaues Verzeichniß aller Dinge, die wir an dem Leibe des Bergmenschen gefunden haben, der uns mit vieler Höflichkeit behandelte, und der geziemende Achtung vor dem Auftrage Eurer Majestät bewies. Unterschrieben und besiegelt am vierten Tage des neunundachtzigsten Monats der glücklichen Regierung Eurer Majestät.

Als dieß Verzeichniß dem Kaiser vorgelesen war, befahl er mir, jedoch in sehr höflichen Ausdrücken, alle angeführten Artikel auszuliefern. Zuerst verlangte er meinen Degen, den ich mit Scheide und allem Zugehör herbeibrachte. Mittlerweile ließ er 3000 Mann auserwählte Truppen, die ihn begleiteten, manövriren, um mich zu umringen. Bogen und Pfeile wurden in der Art bereit gehalten, daß eine Salve nach Befehl sogleich gegeben werden konnte. Dieß jedoch bemerkte ich nicht, denn meine Augen waren allein auf Seine Majestät gerichtet. Alsdann bat er mich den Degen zu ziehen, welcher fast überall noch sehr glänzte, obgleich er durch Seewasser etwas eingerostet war; ich that es und sogleich erscholl von den Truppen ein lauter Ruf, der theils von Schrecken, theils von Ueberraschung zeugte. Die Sonne schien hell und der Lichtreflex blendete ihre Augen, als ich den Degen in meiner Hand hin und her schwang. Seine Majestät ist ein sehr muthiger Fürst und erschrack weniger wie ich erwarten konnte. Er befahl mir, den Degen wieder in die Scheide zu stecken und dann so sanft wie möglich auf den Boden zu legen in der Entfernung von ungefähr sechs Fuß, soweit es meine Kette erlaubte. Zunächst ward dann einer der hohlen eisernen Pfeiler verlangt, worunter sie meine Taschenpistolen verstanden.

Ich zog eine derselben heraus und machte ihnen so gut wie möglich den Gebrauch verständlich; alsdann lud ich sie allein mit Pulver aus dem engen Schlusse meiner Pulvertasche, in welches kein Tropfen Seewasser hatte dringen können (kluge Seeleute pflegen sich stets mit einer solchen zu versehen). Zuvor ermahnte ich den Kaiser, nicht zu sehr zu erschrecken, und schoß dann in die Luft. Hier war das Erstaunen noch größer, als bei dem Anblick des Degens.

Hunderte fielen wie todt zu Boden, und sogar der Kaiser, obgleich er stehen blieb, konnte sich nicht so bald vom Schreck erholen. Ich lieferte meine Pistolen in derselben Weise wie meinen Degen aus, hierauf auch meine Pulvertasche mit den Kugeln, indem ich bat, die erstere vom Feuer entfernt zu halten, denn der kleinste Funken würde den Inhalt sogleich entzünden, und sein kaiserlicher Palast könnte alsdann in die Luft fliegen; ich überlieferte ferner meine Uhr, auf die der Kaiser sehr neugierig war, er befahl deßhalb zwei seiner größten Gardisten sie auf den Schultern herbei zu bringen, indem sie an einem Pfahle in der Art hing, wie Kärrner in England ein Bierfaß tragen. Er wunderte sich über ihr Geräusch und über die Bewegung des Zeigers, den er sehr gut erkennen konnte, denn das Gesicht jener Leute ist bei weitem schärfer wie das unsrige. Alsdann fragte er seine Gelehrten nach ihren Meinungen hierüber, welche, wie sich, der Leser leicht denken kann, auf sehr verschiedene Weise ausfielen; ich brauche sie wohl nicht zu wiederholen und konnte sie auch wirklich nicht ganz verstehen. Hierauf lieferte ich mein Silber- und Kupfergeld, meine Börse mit neun großen Goldstücken und einigen kleineren aus, mein Taschen- und Rasirmesser, meine silberne Schnupftabacksdose, meinen Kamm, mein Schnupftuch und Tagebuch. Die Pistolen und Pulvertasche wurden auf Wagen in die Vorrathshäuser Seiner Majestät gebracht; mein übriges Eigenthum wurde mir jedoch zurückgegeben.

Wie ich schon bemerkte, hatte ich noch eine besondere Tasche, die sie bei ihren Nachsuchungen nicht bemerkten. Hierin befand sich eine Brille (die ich wegen meines schwachen Gesichts bisweilen gebrauchen muß), ein Taschenperspektiv und einige andere Geräthe, die dem Kaiser von keinem Nutzen seyn konnten, weßhalb ich mich denn auch durch meine Ehre nicht für verpflichtet hielt, sie herauszugeben. Ich befürchtete nämlich, sie möchten verloren gehen oder verdorben werden, wenn ich sie überlieferte.

Kapitel 3


Kapitel 3 Der Verfasser unterhält den Kaiser und den Adel beider Geschlechter auf eine sehr ungewöhnliche Weise. Die Vergnügungen des Hofes von Lilliput werden beschrieben. Der Verfasser erhält seine Freiheit unter gewissen Bedingungen.

Meine Sanftmut und mein gutes Betragen hatten den Kaiser und seinen Hof, so wie auch Heer und Volk im Allgemeinen so sehr gewonnen, daß ich anfing Hoffnung zu hegen, ich würde in Kurzem meine Freiheit erhalten; ich gab mir alle mögliche Mühe, diese günstige Stimmung zu unterhalten. Die Eingeborenen befürchteten allmählich weniger Gefahr; bisweilen legte ich mich nieder und ließ fünf oder sechs auf meinen Kopf; Knaben und Mädchen wagten zuletzt, Verstecken in meinem Haare zu spielen. Auch hatte ich schon ziemliche Fortschritte im Verständnis der Landessprache gemacht. Eines Tages hatte der Kaiser den Einfall, mich mit dem Schaugepränge des Landes zu unterhalten, worin sein Volk alle andern, die ich kenne, an Gewandtheit und Pracht übertrifft. Keines gefiel mir aber so sehr wie ein Seiltanz, welcher auf einem dünnen weißen Faden ausgeführt wurde, der ungefähr vier Fuß lang zwölf Zoll über dem Boden ausgespannt war. Ich nehme mir die Freiheit und des Lesers Geduld in Anspruch, hierüber ein wenig weitläufiger zu werden.

An dieser Unterhaltung wird nur von denjenigen mitgewirkt, welche sich um bedeutende Aemter und um die höchste Gunst bei Hofe bewerben. Von Jugend auf erlernen die Candidaten diese Kunst, sind jedoch nicht immer von adeliger Geburt oder durch Erziehung gebildet. Wenn ein höheres Amt vakant wird, entweder durch Tod oder Ungnade (letzteres geschieht öfter), so ersuchen fünf oder sechs Kandidaten den Kaiser in einer Bittschrift, Seine Majestät mit einem Seiltanz unterhalten zu dürfen. Wer am höchsten sprang, ohne zu fallen, erhält das Amt. Oft erhalten die dirigirenden Minister Befehl, ihre Geschicklichkeit zu zeigen, um den Kaiser zu überzeugen, daß sie ihre Fähigkeit nicht verloren haben. Der Finanzminister ( Flimnap) besitzt das Privilegium, auf dem schroff gespannten Seile Capriolen zu schneiden, und zwar um einen Zoll höher wie der übrige hohe Adel des Reiches; ich habe oftmals gesehen, wie er jenen gefährlichen Sprung vollführte, in welchem der Seiltänzer kopfüber sich in her Luft herumdreht und dennoch auf seinen Füßen steht, sobald er den Boden erreicht. Dies Meisterstück wurde auf einem Teller ausgeführt, der auf einem Tau von der Dicke eines einfachen Bindfadens ausgespannt war. Mein Freund Redresal, erster Sekretär für die Hausangelegenheiten, ist nach meiner Meinung, wenn mich die Freundschaft nicht partheiisch macht, der zweite nach dem Finanzminister; die übrigen Großbeamten der Krone sind einander gleich an Kunstfertigkeit.

Diese Unterhaltungen werden oft von unglücklichen Zufällen unterbrochen, von denen man in den Annalen des Reiches mehrere verzeichnet finden kann. Ich selbst habe gesehen, wie zwei oder drei Canditaten ein Glied brachen. Bei Weitem größer ist jedoch die Gefahr, wenn die Minister selbst Befehl erhalten, ihre Geschicklichkeit zu zeigen; da sie nämlich mit einander wetteifern, sich zu überbieten und alle Andere zu übertreffen, strengen sie sich so heftig an, daß fast jeder einmal, mehrere aber zwei- dreimal zu Falle gekommen sind. Man hat mir die Versicherung ertheilt, Flimnap würde zwei oder drei Jahre vor meiner Ankunft unfehlbar den Hals gebrochen haben, hätte nicht ein Kissen des Kaisers, welches zufälligerweise auf dem Fußboden lag, die Heftigkeit seines Falles gemildert.

Ein zweiter Zeitvertreib findet allein in Gegenwart des Kaisers, der Kaiserin und des Premierministers statt. Der Kaiser legt drei seine seidene Fäden von drei Zoll Länge auf den Tisch; der eine ist blau, der andere roth, der dritte grün. Diese Fäden werden denjenigen als Belohnungen bestimmt, welche der Kaiser durch eine besondere Gunstbezeugung auszeichnen will. Die Ceremonie wird in Seiner Majestät großem Staatszimmer ausgeführt, wo die Candidaten eine Probe ihrer Geschicklichkeit ablegen müssen, welche von der eben erwähnten sehr verschieden und von so besonderer Art ist, daß ich nie etwas Aehnliches in der alten und neuen Welt angetroffen habe. Der Kaiser hält einen Stock horizontal in der Hand. Die Candidaten treten Einer nach dem Andern vor denselben hin und springen mehreremale vorwärts und rückwärts darüber weg und kriechen darunter hin, je nachdem der Stock erhoben oder gesenkt wird. Bisweilen hält der Kaiser das eine Ende des Stockes und, sein Premierminister das andere, bisweilen ist dem Minister allein dieß Geschäft übertragen. Derjenige, welcher die meiste Behendigkeit zeigt und das Kriechen und Springen am längsten aushält, erhält als Belohnung die blaufarbene Seide; die rothe erhält derjenige, welcher zunächst kommt und alsdann wird die grüne ausgetheilt; sie tragen sämmtlich diese Auszeichnung zweimal um den Bauch gewunden. Auch sieht man wenige Personen bei Hofe, die mit diesen Gürteln nicht ausgeschmückt sind. Da die Pferde des Heeres und der königlichen Ställe mir täglich vorgeführt wurden, so waren sie nicht lange scheu, sondern kamen, ohne zu stutzen, bis an meine Füße. Die Reiter pflegten mit ihren Thieren über meine Hand zu setzen, wenn ich dieselbe auf den Boden hielt; ein Jäger des Kaisers setzte sogar einmal auf einem großen Renner über meinen Fuß mit dem Zubehör der Schuhe, und dieß war wirklich ein wunderbarer Sprung. Am Tage darauf hatte ich auch das Glück, den Kaiser auf ausserordentliche Weise zu unterhalten. Ich bat, er möchte mir einige Stöcke von zwei Fuß Höhe und von der Dicke eines gewöhnlichen Rohres bringen lassen, worauf Seine Majestät dem Aufseher seiner Forsten sogleich die nothwendigen Befehle ertheilte, und am nächsten Morgen kamen neun Förster mit eben so vielen Wagen, von denen jeder mit acht Pferden bespannt war. Ich nahm neun dieser Stöcke, stieß sie im Viereck von zwei Fuß in den Boden; vier andere band ich horizontal an jene fest; alsdann befestigte ich mein Schnupftuch an die neun Pfähle die aufrecht standen, dehnte es nach allen Seiten hin aus, bis es so gespannt war, wie ein Trommelfell. Die vier horizontalen Pfähle, die ungefähr vier Zoll über das Schnupftuch ragten, bildeten eine Brüstung. Als ich dies Werk zu Stande gebracht hatte, bat ich den Kaiser, er möge eine Truppe seiner besten Reiterei, vierundzwanzig an der Zahl, auf dieser Ebene exerciren lassen. Seine Majestät billigte den Vorschlag; ich hob die Reiter einen nach dem andern, beritten und bewaffnet, zugleich mit den kommandirenden Officiren mit meiner Hand hinauf. Sobald sie in Reihe und Glied aufgestellt waren, theilten sie sich in zwei Parteien, manövrirten in Scheingefechten, schossen mit stumpfen Pfeilen, zogen ihre Schwerter, flohen und verfolgten, griffen an und zogen sich zurück. Kurz, sie offenbarten die beste militärische Disciplin, die ich jemals geschaut habe. Die horizontal liegenden Stäbe verhinderten, daß sie mit ihren Pferden von der Bühne hinabfielen, und der Kaiser war über diese Unterhaltung so entzückt, daß er sie mehrere Tage lang zu wiederholen befahl, auch hatte er einmal die Gnade sich hinaufheben zu lassen, und selbst zu commandiren. Er überredete sogar die Kaiserin mit großer Mühe sich von mir in ihrer Sänfte, zwei Ellen von der Bühne entfernt, emporhalten zu lassen, damit sie eine vollkommene Ansicht der Manöver erlangen könnte. Es war mein Glück, daß kein Unfall bei dieser Unterhaltung Seiner Majestät stattgefunden hat; nur einmal schlug ein feuriges Pferd, das ein Kapitän ritt, mit den Hufen hinten aus und riß ein Loch in das Schnupftuch; sein Fuß glitt aus und es stürzte mit seinem Reiter. Sogleich aber hob ich sie wieder auf, bedeckte das Loch mit der einen Hand und setzte die Truppen mit der andern in derselben Weise herunter, wie ich sie hinaufgehoben hatte. Das gestürzte Pferd hatte sich die linken Hinterschenkel verrenkt, allein der Reiter war nicht beschädigt. So gut wie möglich besserte ich meine Schnupftuch wieder aus, setzte aber auf seine Haltbarkeit nicht länger Vertrauen, um auf’s Neue eine so gefährliche Unternehmung zu wagen.

Ungefähr zwei oder drei Tage früher war ich in Freiheit gesetzt worden. Als ich den Hof mit dem erwähnten Kunststück unterhielt, langte plötzlich ein Courier an, um Seine Majestät zu benachrichtigen, daß Einer Seiner Unterthanen einen Fund gemacht habe. Jener war in der Gegend des Ortes, wo ich zuerst gefunden wurde, spazieren geritten, und hatte eine große schwarze Substanz von sonderbarer Form auf dem Boden erblickt. Sie streckte ihre Ränder bis zum Umfange des Schlafzimmers Seiner Majestät und zwar in der Runde aus und erhob sich in der Mitte bis zu einer Manneslänge; es sey kein lebendes Geschöpf, wie man zuerst befürchtete (so lautete der Bericht), sondern sey bewegungslos auf dem Grase ausgestreckt gewesen; Mehrere seyen einigemale herum gegangen, dann einander auf die Schultern gestiegen um auf den Gipfel zu gelangen. Sie fanden denselben flach und eben und bemerkten durch Stampfen, die Substanz sey inwendig hohl. Dann hatten sie die unterthänigste Meinung gehegt, dies werde wohl Etwas seyn, welches dem Bergmenschen angehöre; wenn Seine Majestät befehle, würden sie es mit fünf Pferden herbeischaffen. Ich verstand sogleich was sie bezeichnen wollten und freute mich im Herzen diese Nachricht zu erhalten. Als ich nämlich nach meinem Schiffbruch zuerst das Land erreichte, war ich so verwirrt, daß mein Hut mir vom Kopfe fiel, bevor ich den Ort, wo ich einschlief, erreichte. Meinen Hut hatte ich nämlich beim Rudern mit einer Schnur auf dem Kopfe befestigt, und er war deßhalb während des Schwimmens mir nicht abgefallen; erst als ich gelandet war, hatte ich ihn verloren; die Schnur mußte durch irgend einen Zufall, den ich nicht bemerkte, gerissen seyn; früher glaubte ich ihn im Meere verloren zu haben. Ich bat darauf Seine kaiserliche Majestät, indem ich die Natur und den Nutzen desselben beschrieb, er möge Befehle ertheilen, mir ihn so schnell als möglich überbringen zu lassen. Am nächsten Tage kamen auch die Fuhrleute mit ihm an, brachten ihn aber in keinem guten Zustande; sie hatten in dem Rand, anderthalb Zoll am äußersten Ende, zwei Löcher gebohrt und in den Löchern zwei Haken befestigt; auf einen Wagen hatten sie ihn nicht geladen, sonderst mit langen Stricken an das Geschirr der Pferde gebunden, die ihn ungefähr eine halbe englische Meile auf dem Boden hinter sich herschleiften, da jedoch der Boden dieses Landes ausserordentlicheben und sanft ist, so wurde mein Hut weniger beschädigt, als ich befürchtet hatte.

Zwei Tage nach diesem Abenteuer befahl der Kaiser, derjenige Theil seines Heeres, welcher in der Hauptstadt und in der Umgegend einquartirt sey, solle sich zum Marsch bereit halten. Er hatte nämlich den Einfall, sich auf sonderbare Weise zu unterhalten. Er wünschte, ich möchte mich wie ein Koloß aufstellen, indem ich die Beine, so weit wie möglich, auseinander spreizte. Alsdann befahl er seinem General, welcher ein alter erfahrener Truppenführer und zugleich auch mein Beschützer war, die Truppen in geschlossenen Reihen aufzustellen, und alsdann unter meinen Beinen durchmarschiren zu lassen; die Infanterie in Reihen von vierundzwanzig Mann, die Kavallerie in Reihen von sechszehn, bei Trommelschall, fliegenden Fahnen und eingelegten Lanzen. Dies Corps bestand aus 3000 Mann Infanterie und 1000 Mann Kavallerie, Seine Majestät gab Befehl, jeder Soldat solle auf dem Marsch bei Todesstrafe den genauesten Anstand hinsichtlich meiner Person beachten. Dieses konnte jedoch einige junge Offiziere nicht abhalten, ihre Augen, als sie unter mir hermarschirten, aufzuschlagen. Um die Wahrheit zu gestehen, meine Beinkleider waren damals in so schlimmem Zustande, daß sie Gelegenheit zum Lachen und zum Erstaunen bieten mußten.

Ich hatte so viele Vorstellungen und Bittschriften über die Wiedererlangung meiner Freiheit eingesandt, daß Seine Majestät die Sache zuerst in Seinem Kabinet und dann in dem versammelten Staatsrathe erwähnte. Dort fand durchaus kein Widerstand statt, nur von Skyresh Bolgolam, der mein Todtfeind zu seyn beliebte, ohne daß ich die geringste Veranlassung dazu gegeben hatte. Allein der ganze Staatsrath stimmte gegen ihn und der Kaiser gab die Bestätigung. Dieser Minister war Galbet oder Admiral des Reichs; er besaß das Zutrauen seines Herrn im hohen Grade und war auch sehr gewandt in den Staatsgeschäften, allein von mürrischem und saurem Gemüth. Zuletzt ward er aber dennoch überredet nachzugeben; es wurde jedoch nur durchgesetzt, daß er die Artikel und Bedingungen, unter denen ich meine Freiheit erhalten sollte, aufsetzen müsse. Der Skyresh Bolgolam brachte mir die Artikel in Person; er war von seinen Untersekretären begleitet. Nachdem jene mir vorgelesen waren, wurde mir ein Eid über die Befolgung desselben abverlangt; zuerst nach der Sitte meines Vaterlandes und nachher in der Methode, die von ihren Gesetzen vorgeschrieben war, welche darin bestand, daß ich meinen rechten Fuß mit der linken Hand packen, und den Mittelfinger der rechten Hand über die Stirne und den Daumen an das rechte Ohr legen mußte. Vielleicht aber ist der Leser neugierig, von dem besondern Styl und der Ausdrucksweise dieses Volkes einen Begriff zu erlangen, und zugleich auch die Artikel kennen zu lernen, nach denen ich meine Freiheit erlangte. Deßhalb habe ich die ganze Urkunde, Wort für Wort, so weit es mir möglich war, abgeschrieben, und nehme mir die Freiheit, sie dem Publikum darzubieten.

Golbasto Momaren Eulamé Gurdilo Shefin Mully Ully Gué der allergroßmächtigste Kaiser von Lilliput, Entzücken und Freude der Welt, dessen Reich sich 5000 Blustrugs weit hin ausdehnt (im Ganzen ungefähr sechs Stunden), bis an den Rand des Erdreichs; Monarch aller Monarchen, größer an Wuchs als die Söhne der Menschen; dessen Füße den Mittelpunkt der Erde drücken, und dessen Haupt sich bis zur Sonne erhebt; auf dessen Wink die Fürsten der Erde mit den Knieen zittern; süß wie der Frühling, voll Behaglichkeit wie der Sommer, fruchtbar wie der Herbst, furchtbar wie der Winter. Seine hocherhabene Majestät macht dem in unsern himmlischen Provinzen kürzlich angelangten Bergmenschen folgende Vorschläge, deren Artikel er mit feierlichem Eide beschwören muß.

I. Der Bergmensch soll unser Reich nicht ohne besondere, mit unserem Reichssiegel versehene Erlaubniß verlassen dürfen.

II. Er soll ohne besonderen Befehl unsere Hauptstadt nicht zu betreten wagen; alsdann soll den Einwohnern zwei Stunden vorher eine Warnung verkündet werden, damit sie ihre Häuser nicht verlassen.

III. Der besagte Bergmensch soll seine Spaziergänge auf unsere hauptsächlichsten Heerstraßen beschränken und auf Wiesen oder Kornfeldern sich weder niederlegen, noch auf denselben umherwandeln.

IV. Wenn er auf besagten Heerstraßen spazieren geht, soll er mit der äußersten Sorgfalt sich in Acht nehmen, nicht auf die Leiber unserer geliebten Unterthanen, ihre Pferde oder Wagen zu treten; er soll auch keinen unserer Unterthanen ohne besondere Erlaubniß auf die Hand nehmen.

V. Wenn die ausserordentliche Abfertigung eines Couriers erforderlich ist, so soll der Bergmensch den Courier, sowie dessen Pferd, sechs Tagereisen in seiner Tasche tragen und zwar einmal monatlich; ferner soll er den besagten Courier, im Fall dies erforderlich ist, in unsere kaiserliche Gegenwart wohlbehalten zurückbringen.

VI. Er soll unser Verbündeter gegen unsern Feind auf der Insel Bleifusen seyn, und Alles aufwenden, die Flotte derselben zu zerstören, welche jetzt einen Angriff auf unsere Besitzungen vorbereiten,

VII. Besagter Bergmensch soll nach Zeit und Muse unsere Arbeiter unterstützen, gewisse große Steine aufzuheben, welche auf die Mauer unseres Parks und andere königliche Gebäude verwendet werden sollen.

VIII. Besagter Bergmensch soll in der Zeit von zwei Monaten eine genaue Uebersicht des Umfangs unserer Königreiche einliefern, indem er seine Schritte im Umkreise der Küste berechnet.

IX. und letztens. Der besagte Bergmensch, nachdem er die Beobachtung dieser Artikel feierlichst beschworen hat, soll eine tägliche Ration von Speise und Trank, welche zur Ernährung von 1824 unserer Unterthanen genügend ist, so wie freien Zutritt zu unserer Person und andere Beweise unserer Gunst erhalten. Gegeben in unserem Palast im Belsuborac am zwölften Tage des einundneunzigsten Monats unserer Regierung.

Ich beschwor und unterzeichnete alle diese Artikel mit großer Freude und Zufriedenheit, obgleich einige derselben nicht so ehrenvoll waren, wie ich hätte wünschen können; dies war aber ausschließlich durch die Bosheit des Großadmirals Skyresh Bolgolam bewirkt. Meine Ketten wurden mir sogleich abgenommen und ich erhielt die vollkommenste Freiheit. Der Kaiser selbst erwies mir die Ehre, bei der Ceremonie gegenwärtig zu seyn. Ich gab ihm meine Dankbarkeit dadurch zu erkennen, daß ich mich ihm zu Füßen warf, allein er befahl mir aufzustehen, und fügte nach manchem gnädigen Ausdruck, den ich, aus Furcht eitel zu erscheinen, hier nicht wiederholen will, noch ferner hinzu: er hoffe, ich würde mich als ein nützlicher Diener erweisen und alle die Gunstbezeugungen verdienen, die er mir schon übertragen habe, oder in Zukunft noch erweisen werde.

Der Leser habe die Güte zu bemerken, daß der Kaiser in dem letzten Artikel der Urkunde, nach welcher ich meine Freiheit erlangte, mir so viel Speise und Trank bewilligt, als für 1824 Lilliputer genügen würde. Einige Zeit nachher fragte ich einen meiner Freunde bei Hofe, wie man gerade auf diese bestimmte Zahl gekommen sey, und erhielt zur Antwort: die Mathematiker hätten die Größe meines Körpers mit einem Quadranten aufgenommen und da sie nun berechneten, daß dieselbe die ihrige im Verhältnis von 12 zu 1 übertraf, zogen sie aus der Aehnlichkeit ihrer Körper den Schluß, daß der meinige wenigstens 1824 der ihrigen enthalten müsse und deßhalb eben so viel Nahrung erfordere, als jene Zahl Lilliputer. Hiedurch kann sich der Leser einen Begriff von der Klugheit dieses Volkes und von der verständigen und genauen Oekonomie eines so großen Fürsten verschaffen.

Toomai, der Liebling der Elefanten

Toomai, der Liebling der Elefanten

Ich will mich erinnern, was ich war.
Bin müde der Fessel und Kette.
Ich will mich erinnern alter Kraft
und heimatlicher Stätte.
Ich biete den Rücken nicht länger dar
für leckere Nichtigkeiten,
Will wieder mit meiner Brüder Schar
durch des Dschungels Dickicht schreiten.
Durch Dickicht und Nacht, bis der Morgen erwacht,
Wo der Wind mich umkost, wo die Quelle lacht…
Will vergessen das Seil, das den Fuß mir hält.
Will brechen den Zaun, der das Lager umstellt,
Will hinaus zu den Lieben, die ich verlor –
Frei sein im Dschungel… frei, wie zuvor!

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Kala Nag – das bedeutet: »Schwarze Schlange« – hatte der indischen Regierung siebenundvierzig Jahre treu gedient in allem, zu dem ein Elefant verwandt werden kann, und da er volle zwanzig Jahre alt war, als er gefangen wurde, so zählte er jetzt beinahe siebzig – ein schönes Alter für einen Elefanten. Er konnte sich noch erinnern, wie er mit einem dicken Lederjoch um seinen Kopf eine schwere Kanone durch den Morast gezogen hatte – das war lange vor dem afghanischen Feldzug im Jahre 1842, und damals war er noch nicht ausgewachsen. Radha Pyari, seine Mutter, die in der gleichen Herde mit Kala Nag eingefangen wurde, hatte ihm zur Zeit seiner ersten Stoßzähne immer und immer wieder gesagt, nur wenn Elefanten Angst hätten, kämen sie zu Schaden. Kala hatte bald gemerkt, daß der Rat gut war: denn als das erstemal eine Granate in seiner Nähe platzte, rannte er schreiend rückwärts gerade in eine Gewehrpyramide hinein, und die aufgepflanzten Bajonette stachen ihn an seinen empfindlichsten Stellen. Nach dieser Erfahrung nahm Kala sich vor, nie mehr Angst zu haben, und so wurde er der beste, beliebteste und am sorgsamsten gehegte Elefant im Dienste der indischen Regierung. Er hatte viel gesehen und erlebt. Zeltlasten hatte er geschleppt im Gewicht von zwölfhundert Pfund auf langen Märschen im nördlichen Indien; er war mit Dampfwinden in ein Schiff verladen worden, mit dem er viele Tage über das unruhige Meer fuhr, hatte in einem fremden Bergland weit weg von Indien einen schweren Mörser tragen müssen und den Kaiser Theodor in Magdala auf dem Totenbett liegen sehen. Später war er wieder auf einem schaukelnden Schiff heimgekehrt, würdig, wie die Soldaten sagten, die abessinische Tapferkeitsmedaille zu tragen. Dann hatte er hoch oben in den nördlichen Bergen in Ali Musjid sein eigenes Volk an Kälte, Hunger, Entbehrungen und Sonnenstich leiden und sterben sehen; und darauf war er Tausende von Meilen südwärts gesandt worden, um auf den Bauhöfen in Moulmein schwere Balken aus Tiekholz zu schleppen und zu stapeln. Dort schlug und stieß er einen ungehorsamen jungen Elefanten halbtot, der sich eigensinnig weigerte, seinen Anteil an der Arbeit zu verrichten.

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Nach all diesen Erlebnissen wurde er mit einigen Dutzend anderen Elefanten in die Garoberge geschickt und mußte dort erlernen, bei dem Fang seiner wilden Stammesgenossen behilflich zu sein.

Die Elefanten stehen unter dem ausdrücklichen Schutze der indischen Regierung. Eine besondere Ministerialabteilung beschäftigt sich ausschließlich mit der Jagd und dem Abrichten der gefangenen Tiere, um sie dann je nach Bedarf im Lande zu verteilen.

Kala Nag stand zehn Fuß hoch über dem Boden; seine mächtigen Stoßzähne waren der Sitte gemäß vorne abgeschnitten und an ihren Enden mit Kupferbändern umspannt, um sie vor dem Zersplittern zu schützen. Er konnte mit diesen noch immerhin fünf Fuß langen Stümpfen mehr ausrichten als die nicht abgerichteten Elefanten mit ihren vollgewachsenen scharfen Stoßzähnen.

Wenn nach wochenlangem, mühsamem Jagen in den Bergen etwa vierzig oder fünfzig wilde Kolosse endlich in die letzte Umzäunung getrieben waren und das schwere Falltor aus Baumstämmen dröhnend hinter ihnen niederfiel, begab sich Kala Nag auf ein Kommandowort in das stampfende, schnaubende, sich wild drängende Gewühl (gewöhnlich bei Nacht, wenn der flackernde Schein der Fackeln die eingefangenen Tiere unsicher machte), suchte sich den stärksten und wildesten Bullen aus der Masse und hämmerte und stieß so lange auf ihn ein, bis er Ruhe gab, während Männer auf dem Rücken der anderen Arbeitselefanten die schwächeren Tiere mit Stricken einfingen und fesselten.

Der weise, alte Kala Nag war ein erfahrener Meister in allen Arten des Kampfes. So manches Mal hatte er dem verwundeten Tiger mutig getrotzt – er rollte den Rüssel zusammen, um ihn vor einem Biß zu schützen, und stieß mit dem dicken Kopf das anspringende Tier hoch in die Luft, daß es einen Purzelbaum schoß. Diesen Kunstgriff hatte er allein erfunden; und ehe der Tiger wieder auf die Beine springen konnte, warf sich Kala Nag auf ihn mit den Knien und erdrückte ihn mit seiner Wucht, bis das Leben mit Ächzen und Stöhnen aus dem Körper wich und nichts übrigblieb als ein zermalmter, gestreifter Kadaver, den Kala Nag am Schwanze griff und fortzog.

»Jawohl!« sagte der große Toomai, sein Hüter, der Sohn des schwarzen Toomai, der Kala nach Abessinien begleitet hatte, und Enkel des alten, im ganzen Dschungel berühmten Toomai, der bei dem Fange Kalas behilflich gewesen war. »Jawohl die Schwarze Schlange hat vor nichts Furcht außer vor mir. Drei Generationen meiner Familie haben ihn gefüttert und gepflegt, und er wird lange genug leben, um die vierte zu sehen.«

»Vor mir hat er auch Furcht«, quäkte der kleine Toomai, ein brauner Dreikäsehoch in Lumpen.

Er war zehn Jahre, der Älteste des großen Toomai, und dem Herkommen gemäß würde er dem Vater im Amte folgen, sobald er erwachsen war; würde dann auf Kalas Nacken sitzen und den schweren eisernen Ankus, den Elefantenstab, halten, der in den Händen seiner Vorfahren glatt und glänzend geworden war. Er wußte genau, was er sagte, denn er war im Schatten Kala Nags geboren, hatte, ehe er laufen konnte, mit Kala Nags Rüssel gespielt, und hatte ihn zur Tränke geführt, sobald er nur vermochte, ein Bein vor das andere zu setzen. Kala Nag würde nie daran gedacht haben, sich den schrill gepiepsten Befehlen des kleinen Toomai zu widersetzen; ebensowenig, wie er damals sich hatte einfallen lassen, ihn zu töten, als der große Toomai seinen neugeborenen Sohn unter Kala Nags Rüssel legte und ihm befahl, seinen zukünftigen Meister zu grüßen.

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»Ja!« wiederholte der kleine Toomai, »vor mir hat er Angst.« Er ging mit langen Schritten zu Kala Nag, schimpfte ihn altes fettes Schwein und ließ ihn die Füße aufheben, einen nach dem andern. »Wah! Du mußt alles tun, was ich sage.« Der Kleine schüttelte seine Locken und sprach ganz wie sein Vater. »Zwar bezahlt die Regierung für euch Elefanten, aber dennoch gehört ihr uns Mahouts. Wenn du alt bist, Kala Nag, wird ein reicher Rajah kommen und dich von der Regierung kaufen, weil du so groß und gescheit bist und weil ich dir soviel Kunststücke beigebracht habe. Dann bekommst du goldene Ohrringe und brauchst weiter nichts zu tun, als einen goldenen Thronsitz auf deinem Rücken zu tragen und in den Prozessionen des Königs an der Spitze zu schreiten. Und ich selbst, o Kala Nag, werde auf deinem Rücken sitzen, einen silbernen Ankus in der Hand, und Männer mit goldenen Stäben werden vor uns herlaufen und rufen: ›Platz für den Elefanten des Königs!‹ Das wird schön sein, Kala Nag, aber nicht so schön wie das Jagen im Dschungel!«

»Umph!« sagte darauf der große Toomai. »Du bist wild wie ein Büffelkalb. Du kannst der Regierung bessere Dienste leisten, als im Dschungel zu jagen. Ich werde alt und bin kein Freund der wilden Elefanten. Feste Stationen ziehe ich vor, gemauerte Elefantenställe, einen Verschlag für jedes Tier und starke Pflöcke zum Festmachen; dazu ebene, breite Straßen, um die Neuen einzuüben, das ist mir lieber als das Herumhetzen von Station zu Station im Dschungel. Ah – wie schön waren die Kasernen in Cawnpore mit dem Basar dicht daneben und täglich nur drei Stunden Dienst!«

Der kleine Toomai erinnerte sich sehr wohl an die Elefantenställe zu Cawnpore und schwieg still. Er zog das Lagerleben bei weitem vor und haßte die flachen, breiten Übungswege, das tägliche Weiden auf besonders instand gehaltenen Grasplätzen, und vor allem die langen, trägen Stunden, in denen er nichts tun konnte als zusehen, wie Kala Nag sich zwischen seinen Pfählen rastlos hin und her wiegte. Der kleine Toomai liebte es, felsige Wege hinaufzuklettern, wohin sich nur ein Elefant wagt, liebte es, in die Täler hinabzutauchen, wo das Wildschwein und der Pfau erschrocken unter Kalas Füßen davonflohen, oder bisweilen einmal in meilenweiter Ferne äsende Herden wilder Elefanten zu erspähen. Die warmen Regen liebte der Knabe, wenn Hügel und Täler von den niedergehenden Güssen dampften, liebte die tauigen, nebligen Morgen, da niemand wußte, wo man am Abend lagern würde – die lange, mühsame Treibjagd auf wilde Elefanten, das Eintreiben der Gefangenen, die wie Blöcke im Bergsturz in die festen Umzäunungen polterten, und wenn sie merkten, daß sie nicht mehr hinauskonnten, sich wütend gegen die dicken Pfähle warfen. Dann war der Augenblick gekommen, grell leuchtende Fackeln zu schwingen, blinde Schüsse abzugeben und Lärm zu machen, als seien alle bösen Geister aus dem schwarzen Dschungel herbeigekommen. Ja, das war ein herrliches Leben! Und dabei konnte auch ein kleiner Knabe sich nützlich erweisen, und Toomai richtete soviel aus wie drei Knaben zusammengenommen, wenn er mit der Fackel umherschlug und sich heiser gellte.

Aber die rechte Freude begann erst, wenn die eingebrachten wilden Elefanten zum Gehorsam gebracht wurden und die Keddah, die weite Umzäunung, aussah wie ein Bild vom Untergang der Welt. Dann kletterte der kleine Toomai auf einen zitternden Pfosten, seine langen, braunen Haare flatterten im Wind, und sein schwarzer Schatten tanzte im Fackellicht. Das Trompeten und Schreien der Tiere war so betäubend, daß man sein eigenes Wort nicht vernahm. Sobald aber das Urweltgetöse etwas verebbte, drangen des Knaben schrille, befehlende Rufe an Kala Nags Gehör durch all das Gewirr und Gebrüll, das Krachen der reißenden Stricke, das Schnauben und Trompeten der gefesselten Elefanten. »Mail, mail, Kala Nag! (Geh an, geh an, ›Schwarze Schlange‹!) – Dant do! (Stoße ihn!) – Somalo! Somalo! (Vorsicht! Vorsicht!) – Maro! (Schlage ihn!) – Arre! Arre! Yai! Yai! Kya-a-ah!« So rief er, während der laute Kampf zwischen Kala Nag und seinem wilden Gegner von einem Ende der Umzäunung zum anderen tobte, mitten durch das Gewühl der anderen Tiere, die heulend und trompetend zur Seite flohen. Die alten Elefantenjäger wischten sich den Fackelruß aus den Augen und nickten dem kleinen Toomai zu, der vor Aufregung auf seinem Pfosten herumhopste.

Ja, er tat mehr als nur schreien. Eines Nachts glitt er von der Höhe des Pfostens herunter und stürzte mitten unter die tobenden Elefanten, um einem Treiber das Ende eines herabgefallenen Seils zuzuwerfen, mit dem das Bein eines störrischen Jungen gefesselt werden sollte. Junge Elefanten sind weit mutwilliger und schwerer in Ordnung zu halten als die alten. Kala Nag sah seinen kleinen Herrn in Gefahr, zerstampft oder zerquetscht zu werden; er stürzte herbei, nahm den Knaben vom Boden auf und überreichte ihn stolz dem großen Toomai, der seinem Sohn rechts und links ein paar Ohrfeigen gab und ihn auf den Pfosten zurücksetzte.

Am nächsten Morgen schalt ihn der Vater noch gehörig aus und sagte: »Ist denn das Leben in den Elefantenställen und das Zelttragen nicht genug für dich, daß du auf eigene Faust auf Elefantenfang ausgehen mußt, du Tunichtgut? Diese schmutzigen Elefantenjäger, die geringeren Sold bekommen als ich, haben Petersen Sahib alles erzählt.«

Der kleine Toomai erschrak. Er wußte nicht viel von den weißen Männern, aber eins wußte er: daß Petersen Sahib für ihn der mächtigste Mann in der Welt war. Er stand an der Spitze aller Unternehmungen, er allein fing alle die Elefanten ein für die indische Regierung, und er wußte mehr über Fährten und Gewohnheiten der gewaltigen Dickhäuter als irgendein Sterblicher.

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»Was… was wird werden?« fragte der kleine Toomai.

»Werden? Das Schlimmste kann werden. Petersen Sahib ist übergeschnappt, würde er sonst die wilden Teufel jagen? Vielleicht wird er sogar einen Elefantenjäger aus dir machen wollen – dann mußt du des Nachts irgendwo in diesen fieberdurchseuchten Dschungeln schlafen, bis du zu guter Letzt im Keddah zu Tode getrampelt wirst. Das kommt von deiner Dummheit, du Taugenichts… Aber vielleicht wird es diesmal noch gut abgehen. Nächste Woche hört das Jagen auf, und dann werden wir Leute vom Flachland zu unseren Stationen zurückgesandt. Dann marschieren wir wieder auf glatten Wegen und vergessen all das verrückte Jagen. Ja, mein Sohn, ich bin sehr böse auf dich, da du dich in Sachen mischst, mit denen von Rechts wegen nur diese schmutzigen Dschungelleute aus Assam zu tun haben. Glaubst du etwa, daß ich in die stinkigen Keddahs stiege, wenn Kala Nag ohne mich arbeiten würde? Aber er ist nur ein Kampfelefant und zum Führen der Gefesselten nicht zu brauchen. So habe ich meinen festen Platz, wie es einem Mahout zukommt, einem Mahout sage ich, nicht einem einfachen gewöhnlichen Jäger – und einem Manne, der am Ende seiner Dienste eine Pension bekommt. Soll denn das Geschlecht der Toomai in den Schmutz einer Keddah hinabgezerrt werden? Lauselümmel! Marsch – gehe jetzt Kala Nag waschen, vergiß aber nicht seine Ohren und suche nach Dornen in seinen Füßen. Marsch, sonst fängt dich Petersen Sahib ein und macht dich zum dreckigen Elefantenjäger, zum erbärmlichen Fährtenläufer und Dschungelbären. Bah! Pfui! Fort mit dir!«

Der kleine Toomai schlich fort, ohne ein Wort zu sagen, aber er schüttete seinem Freunde Kala Nag sein ganzes Herz aus. »Macht alles nichts«, tröstete er sich, als er Kalas Füße untersuchte, »sie haben Petersen Sahib meinen Namen genannt… und vielleicht… vielleicht… wer weiß? Hai! Einen mächtigen Dorn hast du da! Halte still! Na, nun ist er heraus!«

Während der nächsten paar Tage wurden die neu eingefangenen Elefanten eingewöhnt. Sie mußten zwischen zwei abgerichteten Tieren auf und ab gehen, um sich an den Marsch in die Ebene zu gewöhnen.

Dann kam Petersen Sahib auf seiner klugen Elefantin Pudmini in das Lager geritten, um das Auszahlen der Löhne zu überwachen, denn die Jagd ging nun zu Ende. Ein schwarzer Schreiber saß an einem Tisch unter einem Baum und zahlte den Treibern aus der Ebene ihren Lohn aus. Sobald einer sein Geld empfangen hatte, ging er wieder zu seinem Elefanten, um sich der langen Reihe anzuschließen, die zum Abmarsch bereitstand. Die Jäger und Einfänger, die dauernd zu den Keddahs gehörten und jahraus, jahrein im Dschungel blieben, saßen auf den Rücken der Elefanten, die zu Petersen Sahibs ständiger Jagdabteilung gehörten, oder lehnten mit ihren Büchsen an Baumstämmen und machten sich über die Treiber aus der Ebene lustig oder lachten, wenn ein frisch gefangener Elefant schnaubend aus den Reihen ausbrach.

Der große Toomai trat mit dem kleinen Toomai zum Schreiber; und Machua Appa, der Vormann der Fährtensucher, sagte leise zu seinem Freunde neben ihm: »Der da hat ganz das Zeug zu einem Elefantenjäger. Schade, in der Ebene unten wird der junge Dschungelhahn wohl gründlich mausern.«

Petersen Sahib hatte seine Ohren überall, nicht das kleinste Geräusch entging ihm; und das war auch notwendig für einen Mann, der das schweigsamste von allen lebenden Wesen belauscht – den wilden Elefanten. Der Sahib, bequem auf dem breiten Rücken seiner Pudmini ausgestreckt, wandte sich dem Sprecher zu: »Was höre ich da? Ich habe noch niemals einen Flachlandtreiber gesehen, der auch nur einen toten Elefanten richtig zu seilen verstand.«

»Das ist kein Mann, sondern ein Knabe. Beim letzten Treiben ist er in die Keddah gelaufen und hat dem Barmao dort das Seil zugeworfen, als wir das junge Kalb mit der Blesse an der Schulter von seiner Mutter trennen wollten.«

Machua Appa deutete auf den kleinen Toomai, Petersen Sahib sah ihn an, und der kleine Toomai verbeugte sich bis zur Erde.

»Der Knirps da hat ein Seil geworfen? Er ist ja kaum drei Käse hoch. Komm mal her – wie heißt du denn?«

Der kleine Toomai fürchtete sich so, daß er kaum sprechen konnte. Aber Kala Nag war hinter ihm, und auf ein Zeichen mit der Hand nahm ihn der Elefant mit dem Rüssel hoch in die Luft und hielt ihn gerade vor den mächtigen Sahib. Da verdeckte der Knabe seine Augen mit den Händen – denn er war ja doch nur ein Kind und in allen Dingen, falls es sich nicht um Elefanten handelte, so scheu, wie nur ein Kind sein kann. »Oho!« sagte Petersen Sahib und strich sich lächelnd den langen Schnurrbart, »und aus welchem Grunde hast du die ›Schwarze Schlange‹ denn dieses Kunststück gelehrt? Wohl, damit du das Korn von den Dächern stehlen kannst, wenn es zum Trocknen ausliegt?«

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»Nicht Korn, Beschützer der Armen – Melonen!« sagte der kleine Toomai, und alle ringsherum brachen in schallendes Gelächter aus. Die meisten hatten in ihrer Jugend den Elefanten dasselbe Kunststück beigebracht. Der kleine Toomai schwebte acht Fuß über dem Boden und wünschte sehnlichst, mindestens ebenso tief unter der Erde zu liegen.

»Er ist mein Sohn, Sahib«, sagte der große Toomai mürrisch. »Er ist ein Taugenichts und wird wohl im Gefängnis enden, Sahib!«

»Daran zweifle ich«, antwortete der mächtige Mann, und seine Augen sahen aus, als wollten sie sich in den alten Toomai hineinbohren. »Ein Knabe, der sich so jung in eine volle Keddah hineinwagt, endet nicht im Gefängnis. Hier hast du vier Annas, kaufe dir Zuckerwerk; denn du hast einen Kopf unter deinem großen Schopf. Später, wenn es soweit ist, kannst du vielleicht ein Jäger werden.« Des großen Toomai Gesicht zog sich noch mehr in die Länge. »Aber vergiß nicht«, fuhr der Sahib fort, »Keddahs sind keine Spielplätze für Kinder.«

»Darf ich denn niemals wieder hineingehen?« fragte der kleine Toomai mit stockender Stimme.

»Doch!« Petersen Sahib lachte verstohlen. »Sobald du den Tanz der Elefanten gesehen hast. Dann ist die rechte Zeit. Komme zu mir, wenn du die Elefanten hast tanzen sehen, dann stehen dir alle Keddahs offen.«

Wieder erscholl ein lautes Gelächter ringsherum; denn das ist ein alter Scherz der Elefantenjäger und bedeutet: niemals! Tief in den Dschungeln versteckt liegen weite, flach getretene Lichtungen, Ballsäle der Elefanten genannt; aber nur selten findet man sie durch Zufall, und noch nie sah ein menschliches Auge den Tanz der Elefanten. Wenn ein Treiber mit seiner Tapferkeit prahlt, dann fragen die anderen höhnend: »Wann hast denn du die Elefanten tanzen sehen?« Kala Nag ließ seinen kleinen Herrn zu Boden; der Knabe machte wiederum eine tiefe Verbeugung und ging mit dem grollenden Vater davon. Er gab das Silberstück seiner Mutter, die das kleine Brüderchen nährte; dann wurde die ganze Familie auf Kala Nags Rücken verstaut, und der lange Zug der murrenden und gurgelnden Elefanten setzte sich über den gewundenen Hügelpfad nach dem Flachland in Bewegung. Es wurde ein recht unruhiger Marsch, denn die neugefangenen Elefanten zeigten sich bei jeder Furt widerspenstig und bedurften fortwährend beruhigender Worte oder klatschender Stockhiebe.

Der große Toomai bearbeitete Kala Nag mit dem eisernen Stachel, denn er war ärgerlich; aber der kleine Toomai döste glückselig vor sich hin. Petersen Sahib hatte ihn zu sich gerufen und ihm sogar Geld gegeben, und so fühlte er sich wie ein Soldat, den der General aus Reih’ und Glied gerufen und öffentlich gelobt hat.

»Was hat denn der Sahib mit dem Elefantentanz gemeint?« fragte er endlich leise seine Mutter.

Aber der Vater hörte ihn und sagte verächtlich: »Daß du niemals so ein Bergbüffel von Fährtensucher werden sollst, das meinte er. Heda! – ihr da vorn! – was versperrt den Weg?«

Ein assamesischer Treiber, zwei oder drei Elefanten voraus, rief ärgerlich: »Her mit deinem Kala Nag! Er soll dieses Kalb hier zur Vernunft bringen. Warum mußte Petersen Sahib gerade mich mit diesen Reisfeldeseln ins Flachland schicken! Bring dein Tier längsseits, Toomai, damit er den Schlingel hier mit den Stoßzähnen bearbeitet. Bei allen Göttern in den Bergen!… Der Teufel ist in diese neuen Elefanten gefahren, oder sie wittern ihre Kameraden im Dschungel.«

Kala Nag stieß den jungen Elefanten unsanft in die Rippen, und der alte Toomai knurrte: »Pah! Kameraden im Dschungel! Hier in den Hügeln gibt es keine mehr, wir haben alle verjagt oder gefangen. Ihr versteht nur nicht zu treiben. Muß ich denn allein den ganzen Zug in Ordnung halten?«

»Hört nur!« höhnten die anderen Treiber. »Wir haben die Hügel gesäubert! Ho! Ho! Ihr seid ja mächtig gescheit, ihr Lümmels vom Flachland! Wer seine Nase nur jemals in den Dschungel gesteckt hat, der sollte doch wissen, daß die Elefanten ebensogut merken, wenn die Jagd zu Ende ist, wie wir. Und deshalb werden die wilden Elefanten heute nacht… aber was soll ich meine Weisheit an diesen Sandhasen aus der Ebene verschwenden?«

»Was… was werden die Elefanten heute nacht tun?« fragte der kleine Toomai.

»Ohe! Bist du auch da, Kleiner? Nun gut, ich werde dir’s sagen, denn du hast mehr Verstand als die Schildkröten, deine Stammesgenossen. Tanzen werden sie heute nacht… jawohl, tanzen! Und deshalb sollte dein weiser Vater, der alle Elefanten auf allen Hügeln gefangen hat – er sollte die Tiere an doppelte Ketten legen!«

»Dummes Zeug!« knurrte der große Toomai. »Vierzig Jahre lang haben wir beide, mein Vater und ich, Elefanten gewartet, und nie haben wir solches Mondscheingeschwätz von Elefantentänzen gehört.«

»Du natürlich nicht, denn so ein Flachlandigel kennt nur die vier Wände seiner elenden Hütte. Nun, von mir aus laß ruhig deine Elefanten ungefesselt heute nacht, dann wirst du ja sehen. Und von wegen tanzen! Ich habe mit eigenen Augen die Lichtung gesehen, wo… Wie viele Krümmungen hat denn dieser Dihangfluß? Schon wieder eine Furt, und die Kälber müssen hindurchschwimmen. Das Ganze halt, ihr da hinten!«

So vollbrachten sie schwatzend und zankend den ersten Tagesmarsch; und als der Abend kam, schlugen sie flüchtig ein Lager auf.

Dort wurden die Arbeitselefanten an große Pfähle gefesselt, die neuen Tiere noch mit besonders starken Tauen angebunden und alle abgefüttert. Die Treiber von den Hügeln kehrten durch die Abenddämmerung zu Petersen Sahib zurück; sie rieten den Treibern vom Flachland nochmals, in dieser Nacht besonders wachsam zu sein, und lachten nur, als die Flachländer fragten: »Warum?« Der kleine Toomai saß vor Kala Nag und sah ihm zu, wie er die großen Bündel Gras in den Schlund steckte, bis der Berg vor ihm kleiner und kleiner wurde und zuletzt verschwand.

Dann, als es dunkelte, strich der kleine Toomai durch das Lager, um ein Tam-Tam zu suchen. Wenn einem indischen Kinde das Herz vor Freude überströmt, dann lärmt es nicht und springt herum, sondern setzt sich still irgendwohin und genießt sein Glücksgefühl ganz für sich allein. Und der mächtige Petersen Sahib, der Beschützer der Armen, der Herr des Dschungels, hatte mit dem kleinen Toomai gesprochen! Hätte der Junge nicht gefunden, was er suchte, so wäre ihm vielleicht das Herz gesprungen. Aber der Zuckerbäcker im Lager lieh ihm ein Tam-Tam – eine Trommel, die mit der flachen Hand geschlagen wird. Toomai ließ sich mit gekreuzten Beinen vor Kala Nag nieder, das Tam-Tam im Schoß; und glückselig träumend begann er die Trommel zu schlagen – tanke, tank – tanke, tank – tanke, tank. Die Sterne des nächtlichen Himmels sahen auf ihn herab; und er schlug und schlug, und je mehr er über die große Ehre nachdachte, die ihm widerfahren war, desto lauter hallte sein tanke, tank – tanke, tank – durch die einsame, warme Nacht. Es war keine Melodie – nur ein eintöniges Klingen ohne Worte, dieses Tanketank, und dennoch machte es ihn glücklich.

Die neugefangenen Elefanten zerrten an ihren Seilen, klagten und trompeteten von Zeit zu Zeit. Und der kleine Toomai konnte hören, wie seine Mutter in der nahen Lagerhütte den kleinen Bruder in den Schlaf sang mit einem alten, alten Lied vom großen Gott Schiwa, wie er einst allen Tieren befahl, was sie essen sollten:

Schiw läßt das Korn uns wachsen,
Er läßt die Winde wehn,
Er lebt in der tiefen Dschungel,
Doch kann ihn niemand sehn.

Er hat uns all’ geschaffen,
Er ist’s, der uns erhält,
Es ruht in seinen Händen
Die Dschungel und die Welt.

Dem König gab er die Krone,
Dem Bettler seinen Stab,
Dem Tiger gab er Krallen,
Bald gibt er uns ein Grab.

Und meinem kleinen Kinde
Gab Schönheit er und Mut,
Zwei rosenrote Lippen,
Zwei Äuglein voller Glut.

Gab Kraft ihm in den Händen…
Schlaf ein, mein Sohn, schlaf ein,
Bald wirst du im Dschungel
Ein kühner Jäger sein! –

Der kleine Toomai ließ hinter jedem Verse ein freudiges Tanketank erschallen, bis er müde war, sich neben Kala Nag ausstreckte und einschlief.

Schließlich kamen auch die Elefanten zur Ruhe und legten sich einer nach dem anderen nieder, bis Kala Nag am rechten Flügel der Reihe allein noch aufrecht stand, sich langsam von einer Seite zur anderen wiegte, die riesigen Lauscher vorgestellt, um auf den Nachtwind zu hören, der leise wehend von den Hügeln herabstrich. Die Luft war erfüllt von den seltsamen Geräuschen der Nacht, die zusammengenommen ein einziges großes Schweigen ergaben – das leichte Aneinanderschlagen des Bambusrohrs, das Rascheln nächtlicher Räuber im Gebüsch, das Flattern und Piepen eines halbwachen Vogels und von weit her das Rauschen fallender Wasser.

Der kleine Toomai hatte eine Weile geschlafen; als er erwachte, war heller Mondschein, und Kala Nag stand noch immer aufrecht, mit hochgestellten Lauschern. Der Kleine legte sich auf den Rücken und betrachtete träumerisch die schwarze Gestalt, die sich riesengroß gegen den Sternenhimmel abhob.

So verharrte der Knabe träumend; da hörte er auf einmal weit weg, so weit, daß es nur wie ein leises Echo die Stille unterbrach, das »Huut-tuut« eines wilden Elefanten.

Das Schweigen der Nacht war wie durch einen Zauber gebrochen. Alle die Elefanten in der Reihe sprangen hoch, als brenne der Boden unter ihnen; und ihr Kollern weckte die schlafenden Mahouts. Sie kamen herbei, trieben mit großen Hämmern die Pflöcke tiefer in die Erde, zogen die Ketten an, knüpften die Seile fester, bis alles wieder ruhig war. Ein junger wilder Elefantenbulle hatte seinen Pflock ausgerissen; so nahm der große Toomai Kala Nags Kette und fesselte den einen Hinterfuß Kalas an den Vorderfuß des Wildings. Dann wand er um Kala Nags Füße noch ein Strohseil und schärfte ihm ein, nicht zu vergessen, daß er fest angebunden sei – wie es Toomai selbst, wie auch sein Vater und Großvater schon hundertmal zuvor getan hatten. Kala Nag nahm den Befehl stillschweigend hin, ohne zu kollern, wie er es sonst tat. Reglos stand er, den Kopf leicht erhoben, die Ohren wie Fächer ausgebreitet und starrte durch das Mondlicht nach den waldigen Hängen der Garo-Berge hinüber.

»Paß gut auf, wenn er unruhig werden sollte«, sagte der große Toomai zum kleinen Toomai und legte sich dann wieder in seine Hütte schlafen. Auch der kleine Toomai war gerade wieder im Einschlafen; da hörte er plötzlich, wie mit einem kurzen, scharfen »Päng« das Halteseil riß und Kala Nag aus den Pfählen heraustrollte, ruhig und lautlos, wie Wolken zu Tal ziehen. Der kleine Toomai lief ihm nach, barfuß über den steinigen Weg, und rief mit verhaltenem Atem: »Kala Nag! Kala Nag! Nimm mich mit – bitte, Kala Nag.«

Der Elefant wandte sich um, ging zwei, drei Schritte zurück, steckte den Rüssel aus und hob den Knaben auf seinen Rücken. Kaum hatte sich Toomai festgeklammert, als schon das Dschungeldickicht über ihnen zusammenschlug.

Ein letzter wütender Trompetenstoß ertönte aus den Reihen der angepflockten Elefanten; dann verschlang das Schweigen des Waldes jedes Geräusch, und Kala Nag setzte sich in Fahrt. Hohe Grasbüschel rauschten an seinen Flanken, wie Wellen am Schiff entlanggleiten; die Ranken der Schlingpflanzen strichen über seinen Rücken, oder Bambusstämme brachen knackend, wenn er mit den Schultern dagegenstieß. Völlig lautlos aber, fast wie ein Nebellied, zog Kala Nag durch den Garo-Wald in stetiger Gangart dahin. Es ging bergauf; doch der kleine Toomai suchte vergeblich die eingeschlagene Richtung nach dem Sternenbild zu bestimmen, das schummerig über den Bäumen stand.

Dann erreichte Kala Nag den Kamm der Hügelkette und verweilte einen Augenblick. Der kleine Toomai sah die Baumwipfel meilen- und meilenweit in flutendem Mondlicht liegen und den bläulich-weißen Dunst, der über dem Fluß im Tal lagerte. Er beugte sich vor, um Ausschau zu halten, und er fühlte, wie der Wald unter ihm voll drängenden Lebens war. Eine große braune Fledermaus strich an seinem Ohr vorbei, im Dickicht raschelte ein Stachelschwein, und im Dunkel zwischen den Baumstämmen hörte er einen Bären eifrig in dem feuchten warmen Boden wühlen und schnaufen.

Weiter zog der Elefant, und über Toomai schlugen wieder die Äste zusammen. Kala Nag wandte sich nun bergab, aber nicht lautlos jetzt, sondern in stürmischer Fahrt wie ein polterndes Ungewitter. Die ungeheuren Beine bewegten sich gleichmäßig und regelmäßig, wie Kolben einer Maschine – drei Ellen legten sie mit jedem Schritt zurück –, und an den Gelenken schabte schürfig die borkige Haut. Das dichte Unterholz vor ihm zerriß wie platzende Leinwand; die jungen Bäume rechts und links bogen sich zur Seite und peitschten zurückschlagend seine Flanken; die harten Ranken der Schlingpflanzen hingen in dichtem Gewirr an den wegbahnenden Hauern, während der schwere Schädel unaufhaltsam vorstieß und sich den Pfad durch den Urwald pflügte. Da schmiegte sich der kleine Toomai dicht in die breiten Falten des Nackens, um nicht von den vorbeistreifenden Ästen heruntergefegt zu werden; und er wünschte sich in die Geborgenheit des friedlichen Lagers zurück.

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Der Boden begann sumpfig zu werden. Kala Nags Tritte saugten und patschten bei jedem Schritt, und der kalte Nebel im Grunde des Tals durchkältete den kleinen Toomai. Dann vernahm er ganz in der Nähe das Fließen von Wasser, und Kala Nag watete nun durch ein Flußbett, bei jedem Schritt vorsichtig den Grund ertastend. Durch das Rauschen und Wirbeln des Wassers hörte nun Toomai von überall her, stromauf und stromab, zahlloses Platschen und Plumpsen, dumpfes Brummen und ärgerliches Kollern; und der ganze Nebel ringsum schien erfüllt von dunklen, schwankenden Schatten.

»Ai!« rief er, vor Frost mit den Zähnen klappernd. »Die Elefantenvölker sind alle unterwegs. Dann also ist heute nacht der Tanz.«

Kala Nag entstieg triefend dem Flußbett, blies sich den Rüssel klar und begann wieder bergan zu steigen. Aber nun war er nicht mehr allein und brauchte sich nicht den Weg zu bahnen. Den Hügel hinan führte ein frisch getretener Pfad, sechs Fuß breit, auf dessen Boden das niedergedrückte Gras sich wieder aufzurichten strebte. Zahlreiche Elefanten mußten noch vor wenigen Minuten hier durchgewechselt sein. Als Toomai sich umblickte, sah er, wie ein riesiger wilder Elefantenbulle, dessen kleine Augen wie glühende Kohlen leuchteten, eben aus dem Dunst des Flusses auftauchte. Dann versperrten wieder Bäume die Sicht. Weiter ging’s, immer bergan, und überall ertönte erregtes Trompeten, Stampfen und Krachen brechender Äste. Auf der Gipfelhöhe angekommen, machte Kala Nag zwischen zwei Baumstämmen halt. Sie standen am Rand einer unregelmäßig kreisförmigen Lichtung, etwa vier bis fünf Morgen groß, deren Boden so festgetrampelt war wie eine Tenne. In der Mitte der Lichtung erhoben sich ein paar mächtige Bäume, doch ihre Rinde war abgeschabt, wie der kleine Toomai bemerkte, und das blanke Holz glänzte im Mondschein. Von den oberen Ästen hingen grüne Schlinggewächse herab mit großen wächsernen Blüten, deren Kelche im Schlaf geschlossen waren. Sonst aber war auf der ganzen Lichtung weder Grün noch Grashalm – nur festgestampfte Erde.

Das Mondlicht übergoß die harte Fläche mit eisengrauem Schimmer; nur die Schatten weniger Elefanten hoben sich kohlschwarz ab. Der kleine Toomai schaute, bis die großen Augen ihm fast aus dem Kopfe traten, und wie er sich nach allen Seiten drehte, traten mehr und mehr und immer mehr schwarze Gestalten aus der Nacht in die Lichtung. Der kleine Toomai konnte nur bis zehn zählen, und er zählte und zählte an seinen Fingern, bis ihm der Kopf schwindelte. Vom Walde her drang das Geräusch der Elefanten, die sich durch das Unterholz den Weg brachen, aber sobald sie erst in der Lichtung waren, bewegten sie sich lautlos wie Geister.

Große, wilde Bullen waren da mit lang hervorragenden Stoßzähnen und mit Schlingpflanzen und stacheligen Zweigen in den Hautfalten; fette Weibchen, unter deren Bäuchen kleine, drei oder vier Fuß hohe Kälber umhersprangen; junge Burschen, die sehr stolz auf ihre eben hervorbrechenden Stoßzähne zu sein schienen. Ältliche Jungfern kamen zum Tanz, mit schmalen, hohlen, vergrämten Gesichtern; Kampfbullen im Schmuck ihrer zahllosen Narben; zuletzt wechselte ein gewaltiger Einzelgänger in die Lichtung mit zersplittertem Stoßzahn und dem furchtbaren Riß der Tigerpranke auf altersgrauer Flanke.

Dicht gedrängt standen sie oder wanderten in Gruppen auf und ab über die Lichtung; Einzelgänger hielten sich abseits und wiegten sich bedächtig hin und her – Elefanten, Elefanten und nochmals Elefanten.

Toomai wußte, ihm würde nichts geschehen, solange er still auf Kala Nags Rücken lag. Denn selbst in dem Aufruhr des Keddahtreibens lassen die wilden Elefanten die Männer auf den Nacken der zahmen Tiere unbehelligt; und die Dickhäuter hier dachten in dieser Nacht nicht an den Menschen. Nur einmal stutzten sie und stellten die Ohren hoch, denn durch den Wald klang das Geklirr eiserner Fußfesseln – aber es war Pudmini, Petersen Sahibs Lieblingstier, das mit gerissener Kette schnaubend und kollernd den Berg heraufwuchtete. Klein Toomai bemerkte noch einen dritten zahmen Elefanten mit tiefen Seilstriemen auf Rücken und Brust; auch er war wohl aus einem Lager in der Nähe ausgebrochen.

Endlich legte sich wieder Schweigen über die Dschungel, und kein Geräusch sich nähernder Elefanten war mehr zu hören. Nun verließ Kala Nag seinen Posten zwischen den Bäumen und schaukelte grunzend und schnarrend mitten in das Gedränge hinein; und alle Elefanten begannen in ihrer Sprache miteinander zu reden und umherzustapfen.

Toomai sah sich nun in einem Meer breiter grauer Rücken, fächelnder Ohren, schnaubender Rüssel und kleiner rollender Augen. Er hörte das helle Gegeneinanderschlagen der Stoßzähne, das rauhe Rascheln liebend verschlungener Rüssel, das Aneinanderschürfen mächtiger Schultern und Flanken und das unaufhörliche zischende Fuchteln der großen Wedel. Dann verdeckte eine Wolke den Mond, und um ihn war schwarze Nacht; aber das dumpfe Stoßen, Stampfen und Kollern nahm zu. Toomai wußte, daß Kala Nag tief im Getümmel der wilden Kolosse steckte und daß es keine Möglichkeit gab, aus der Versammlung zu entfliehen; so biß er die Zähne zusammen. Er schauderte. In der Keddah war wenigstens Fackellicht und das Rufen menschlicher Stimmen; hier aber war er ganz allein in der Finsternis, und einmal sogar schob sich ein Rüssel hoch und tastete an seinem Knie.

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Dann stieß ein Elefant einen hellen Trompetenstoß aus; alle anderen fielen ein, und mehrere Sekunden lang tobte ein wahrer Höllenlärm. Der Ton sprühte wie Regen von den Bäumen auf unsichtbare Rücken, und ein dumpf tosendes Geräusch setzte ein, dessen Ursprung sich der kleine Toomai nicht zu erklären vermochte. Anfangs war dieses Geräusch nicht sehr laut, dann aber wuchs und wuchs es an, und Kala Nag hob einen Vorderfuß nach dem anderen und wuchtete ihn wieder auf den Boden – eins – zwei, eins – zwei – stetig wie ein Dampfhammer. Nun stampften und stampften alle zusammen, und es dröhnte wie dumpfer Trommelwirbel vor einer Höhle. Der Boden zitterte und wankte, das Wuchten und Rumpeln wurde immer lauter; und der kleine Toomai hielt sich die Ohren zu, weil das Dröhnen übermächtig wurde. Vergebens – der Taktschlag einer Urgewalt durchzitterte seinen ganzen Körper, dieses Stampfen der Hunderte von Elefantentritten auf der harten Erde. Manchmal fühlte er, wie Kala Nag und die anderen einige Schritte vorwuchteten, und das Stampfen ging über in weiches Trampeln auf zerquetschtem grünem Gesträuch und Gestrüpp, aber wenige Minuten später erklang wieder das dumpfe Donnern auf hartem Boden. Ein Baum knarrte und ächzte ganz in der Nähe. Der Kleine streckte die Hand aus und konnte die Rinde fühlen, aber nicht sehen, wo er war in der Lichtung, denn Kala Nag schritt stetig stampfend vorwärts. Keinen Laut gaben die Elefanten von sich; nur einmal quiekten zwei oder drei Kälber selig auf. Man hörte einen dumpfen Stoß und ein Schürfen von Haut; dann begann das regelmäßige Stampfen von neuem. Es mochte zwei Stunden gedauert haben, vielleicht mehr, vielleicht weniger; der kleine Toomai war wie zerschlagen am ganzen Körper, aber er spürte in der Luft, daß der Morgen nahte.

Fahlgelbe Dämmerung tauchte über den grünen Hügeln auf; und beim ersten Schein des Lichts verstummte das Stampfen wie auf ein Kommando. Noch bevor der Klang in seinen Ohren verhallt war – bevor er noch Zeit hatte, sich erstaunt umzudrehen –, sah der kleine Toomai keinen anderen Elefanten mehr als Kala Nag, Pudmini und den fremden Gesellen mit den Seilfetzen. Weder ein Rauschen noch sonst ein Laut oder Zeichen verkündete, wohin all die schwarzen Gestalten verschwunden waren. Der Knabe starrte verwundert auf die gähnende Fläche; diese schien größer geworden zu sein über Nacht. Mehr Bäume ragten inmitten der Lichtung, doch am Rande war alles Gesträuch und Dschungelgras wie weggewischt. Die Elefanten hatten die Fläche erweitert – hatten Unterholz und saftiges Rohr zu Brei getreten, den Brei zu zäher Masse gepreßt und diese wiederum zu steinharter Erde verstampft.

»Wah!« sagte der kleine Toomai und rieb sich die müden Augen. »Kala Nag, Fürst, wir wollen uns an Pudmini halten und ihr zum Lager des Sahibs folgen, sonst falle ich dir noch vom Nacken.« Der fremde Elefant sah den beiden abziehenden Dickhäutern nach; er schnarchte laut, drehte sich um und nahm seinen Weg in entgegengesetzter Richtung. Vielleicht gehörte er irgendeinem der kleinen einheimischen Fürsten, fünfzig oder hundert Meilen entfernt.

Als Petersen Sahib zwei Stunden später beim Frühstück saß, begannen seine Elefanten, die während der Nacht mit doppelten Seilen gefesselt waren, laut zu trompeten. Pudmini und Kala Nag hinkten lahm und schmutzbedeckt in das Lager. Das Gesicht des kleinen Toomai war grau und eingefallen; das schwarze Haar, voller Blätter, hing ihm in nassen Strähnen um den Kopf. Dann versuchte er, vor Petersen Sahib eine tiefe Verbeugung zu machen und rief mit ermattender Stimme: »Der Tanz… der Elefantentanz! Ich habe ihn gesehen… und – nun – muß ich sterben.« Als Kala Nag niederkniete, glitt der Knabe bewußtlos vom Nacken des Elefanten.

Indische Kinder wissen nicht, was Nerven sind. Kurze Zeit darauf lag der kleine Toomai überglücklich in Petersen Sahibs Hängematte, mit dem so oft ehrfurchtsvoll angestaunten Mantel unter dem Kopf und mit einem Glas warmer Milch, in die ein wenig Kognak und Chinin gemischt war, im Magen. Vor ihm saß der mächtige Mann, Petersen Sahib, dahinter standen dicht gedrängt die alten, langhaarigen, narbenbedeckten Dschungeljäger und starrten den Knaben an wie ein Gespenst, indes dieser seine Geschichte erzählte, unbeholfen, schlicht wie ein Kind.

»Wenn ich auch nur mit einem Wort lüge«, schloß er, »so sendet die Treiber aus, und sie werden sehen, daß die Elefanten ihren Ballsaal ringsum vergrößert haben… sie werden zehn und noch einmal zehn und viele Male zehn Fährten finden, die zu dem Ballsaale führen. Ja, sie haben den Boden mit ihren Füßen zurechtgestampft. Ich selbst habe es mit angeschaut. Kala Nag nahm mich mit, und ich sah es mit meinen eigenen Augen. Und Kala Nag ist nun auch sehr, sehr müde.«

Der kleine Toomai fiel erschöpft in seine Matte zurück und schlief den ganzen Tag, während der Sahib mit Machua Appa den Spuren der beiden Elefanten fünfzehn Meilen über die Hügel folgte. Petersen Sahib hatte achtzehn Jahre lang mit dem Fange von Elefanten zugebracht, aber nur einmal ihren Tanzplatz zu Gesicht bekommen. Machua Appa brauchte die Lichtung nicht zweimal betrachten, um zu wissen, was hier vorgegangen war.

»Der Knabe spricht die Wahrheit«, sagte er. »Alles dies ist während der letzten Nacht geschehen, und ich konnte mehr als siebzig Fährten zählen, die durch den Fluß führen. – Schau dorthin, Sahib – da siehst du die Spur, wo Pudminis Fußeisen in die Baumrinde einschnitt. Ja! sie war auch dabei.«

Sie sahen auf die Erde und auf die Bäume und starrten sich gegenseitig in stummer Verwunderung an – ja! Menschen vermögen nicht, die Wege der Elefanten zu ergründen, der weisesten aller Geschöpfe!

»Vierundvierzig Jahre lang bin ich meinem Gebieter, dem Elefanten, durch den Dschungel gefolgt«, sagte Machua Appa, »aber nie und nimmer habe ich gehört, daß ein Mensch je vorher gesehen hat, was dieses Kind in der vergangenen Nacht sah. Bei allen Göttern der Berge, es ist – ja, es ist… was soll ich sagen?«

Und er schüttelte sein Haupt.

Als sie zum Lager zurückkehrten, war es Zeit zum Abendessen. Petersen Sahib nahm sein Mahl allein in seinem Zelte, aber er gab Befehl, daß man den Leuten zwei Schafe und einige Hühner zum Schmause geben solle und außerdem eine doppelte Ration von Mehl, Reis und Salz, denn er wußte, daß man ein Fest feiern werde. Der große Toomai war herbeigekommen, um nach seinem Sohne und dem Elefanten zu suchen, und jetzt, nachdem er sie gefunden hatte, glotzte er sie an, als fürchte er sich vor ihnen beiden.

Das Fest wurde bereitet; die Lagerfeuer leuchteten vor der langen Reihe der Elefanten, die an ihren Ketten zerrten, und der kleine Toomai war der Held von all den Herrlichkeiten. Die großen, braunen Elefantenjäger, die Fährtenfinder, Treiber und Bändiger – alle diese Leute, die ihr Leben damit verbrachten, dem wilden Elefanten seine Geheimnisse abzulauschen und ihm nachzustellen, sie reichten den kleinen Toomai von Arm zu Arm und besprengten seine Stirn mit dem Blute eines frisch geschossenen Dschungelhahnes als Zeichen, daß er nun ein Jäger sei, der in der wilden, weiten Dschungel volles Bürgerrecht habe. Und als zuletzt die Feuer niedergebrannt waren und mit ihren glühenden Holzstößen purpurrotes Licht auf die Elefanten warfen, als habe man auch sie mit Blut begossen, da sprang Machua Appa auf – Machua Appa, der Vormann der Treiber aller Keddahs – Machua Appa, die rechte Hand des großen Sahibs, sein Stellvertreter, der seit vierzig Jahren keine von Menschenhänden gebaute Straße gesehen hatte – Machua Appa, der so groß war, daß er keinen anderen Namen hatte als eben Machua Appa –, er sprang auf die Füße, hielt den kleinen Toomai hoch über seinen Kopf in die Luft und rief, daß es durch das Lager dröhnte: »Hört mich an, Brüder! Auch ihr, hört meine Stimme, ihr Herren dort an den Pfählen, denn ich spreche, ich, Machua Appa. Dieser Knabe hier soll hinfort nicht mehr ›der kleine Toomai‹ genannt werden, sondern ›Toomai, der Liebling der Elefanten‹, wie sein Urgroßvater vor ihm genannt wurde. Was keinem andern Menschen vergönnt war, zu sehen, er hat es während der ganzen langen Nacht mit angeschaut, denn er ist der Liebling der Elefanten und der Götter des Dschungels. Er soll ein großer Pfadfinder werden – er soll sogar größer werden als ich, Machua Appa! Er soll der frischen Spur folgen und der alten Spur – er soll die gemischten Spuren unterscheiden können mit dem Auge des Falken. Ihm soll kein Leid widerfahren, wenn er in der Keddah unter den Bäuchen der Elefanten umherrennt, und fällt er auf der Jagd zu Boden, so soll sich der wilde Bullelefant verneigen und soll ihn nicht berühren. Aihai! Ihr Herren an den Ketten!« Und er schritt die Reihe der gemächlich sich wiegenden grauen Gestalten ab. – »Aihai! Hier ist der Kleine, der euch bei euren Geheimnissen belauscht hat, der euch bei eurem Tanze gesehen hat – der erblickte, was ihr den Menschen sonst neidisch verbergt! Erweist ihm Ehre, meine Gebieter! Salaam Karo, meine Kinder! Grüßt Toomai, euren Liebling, in eurer eigenen Weise! Gunga Pershad, ahaa! Hira Guj, Birchi Guj, Kutta Guj, ahaa! Pudmini, du hast ihn beim Tanz gesehen, und auch du, Kala Nag, du Perle unter den Elefanten. Ahaa! Alle zusammen! Heil unserem Toomai, dem Liebling der Elefanten! Barrao!«

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Und bei diesem letzten wilden Schrei warf die ganze Reihe der Elefanten den Rüssel in die Höhe, bis die Spitze über dem Kopf schwebte, und sie alle brachen aus in das laute Huldigungsgeschrei, den schmetternden Trompetenruf, den sonst nur der Vizekönig von Indien hört – das Salaamut der Keddah.

Und das alles geschah zu Ehren des kleinen Toomai, der geschaut hatte, was nie vorher einem Menschen zu sehen vergönnt war: den Tanz der Elefanten mitten in der Nacht und tief im Herzen der Garo-Berge! –

Schiwa und die Heuschrecke

Schiwa und die Heuschrecke

Der Sang, den Toomais Mutter ihrem Söhnlein sang

Schiwa, der uns die Ernte gab und den Wind schuf weit und breit,
Saß am Tor des Jüngsten Tags – oh! vor langer, langer Zeit! –
Jedem händigt er sein Teil, Nahrung, Arbeit, Freud und Leid,

Und das Schicksal, das er schon einem jeden auserkor,
Gab’s dem König auf dem Thron und dem Bettler vor dem Tor.
Also schuf er jedes Ding, Schiwa, der Allerhalter,
Mahadeo! Mahadeo! Schiwa, der Allgestalter!
Dornenbusch für das Kamel, schuf das Gras dem Rinde,
Schuf das treue Mutterherz meinem kleinen Kinde!

Weizen schuf dem Reichen Schiwa, Hirse für den Armen,
Für den heiligen Bettelmann Krumen und Erbarmen,
Beute gab dem Tiger Schiwa, gab dem Geier Leichen,
Knochen gab den Wölfen Schiwa, die das Dorf umschleichen.
Keiner war dem Gott zu klein, keiner zu erhaben,
Und er teilte sorgsam ein des Geschickes Gaben.

Doch Parbati, Schiwas Weib, sah die Wesen alle,
Legt dem Gatten voller List forschend eine Falle.
Wollte ein ganz kleines Ding unbemerkt verstecken,
Um den großen Geber Schiwa zweifelsvoll zu necken.
Und sie stahl ein Heuschrecklein, barg es dicht am Herzen,
Also wollte sie mit Schiwa, dem Erhalter, scherzen.
Mahadeo! Mahadeo! Söhnlein, schau umher!
Groß sind die Kamele, und das Rind ist schwer!
Doch von allen Dingen, die im Dschungel sind,
Nahm sie sich das kleinste, du mein kleines Kind!

Als der Streich gelungen, sprach sie halb voll Hohn:
»Herr, du hast gefüttert eine Million!
Doch du ließest einen, scheint mir, außer acht!«–
Schiwa erwidert lächelnd: »Alle sind bedacht!
– Auch dem kleinen Wesen, das du mir versteckt,
Hab ich, Schiwa, der Geber, seinen Tisch gedeckt!« –

Als Parbati staunend ihre Beute schaut,
Hat an einem Blatte froh das Tier gekaut,
Frisch war es gewachsen!… Und Parbati graut!
Wundert sich und preiset Schiwa, den Herrn der Welt,
Der die Wesen alle füttert und erhält!
… Schiwa schuf ein jedes Ding, Schiwa, der Allerhalter,
Mahadeo! Mahadeo! Schiwa, der Allgestalter!
Dornenbusch für das Kamel, schuf das Gras dem Rinde,
Und das treue Mutterherz schuf er meinem Kinde!

Jagdgesang des Sioni-Rudels

Jagdgesang des Sioni-Rudels

Der Tag brach an, und der Sambar röhrt
Einmal – zweimal und wieder.
Eine Hindin sprang auf – eine Hindin sprang auf
Im tiefen Grunde am Wasserlauf –
Dies hab’ ich auf einsamer Pirsch gehört
Einmal – zweimal und wieder.

Der Tag brach an, und der Sambar röhrt
Einmal – zweimal und wieder.
Und ein Wolf schlich zurück – und ein Wolf schlich zurück,
Dem Rudel zu künden von Beute und Glück.
Und wir bellten und suchten und fanden die Spur
Einmal – zweimal und wieder.

Der Tag brach an, und das Rudel heult auf
Einmal – zweimal und wieder.
Füße im Dschungel, spurlos und leis’
Aug’, das im Dunkel zu sehen weiß!
Bleckender Fang und rasender Lauf!
Einmal – zweimal und wieder.

Kaas Jagdtanz

Kaas Jagdtanz

Es prunkt in hell schillernden Farben
der scheckige Leopard,
Stolz ist der mächtige Büffel
auf Hörner gewaltiger Art,
… Doch willst du als Jäger bestehen,
halt glänzend den eigenen Pelz,
Denn Jugendstärke verkündet
des prächtigen Felles Schmelz.
… Und schleudert der kämpfende Büffel
den Feind zur Wolke hinauf,
Und spießt der schnaubende Sambar
den Gegner in rasendem Lauf:
Das brauchst du uns nicht mehr zu melden,
wir wissen’s aus uralter Zeit.
Verschone das fremde Junge
und füge ihm zu kein Leid.
Nein, grüß es als Schwester und Bruder,
auch wenn es noch wehrlos und klein,
Es könnte die starke Bärin
des Kleinen Mutter sein.
»Ich bin im Dschungel der Stärkste!«
ruft prahlend ein junges Blut
Nach dem ersten errungenen Siege
in törichtem Übermut!
Doch groß ist der herrliche Dschungel,
und klein ist das prahlende Kind,
Bald wird es wachsen und wissen,
wer hier die Mächtigen sind.
Bis dahin laß es schwatzen,
wie es nun immer will,…
Bald fühlt es Zähne und Tatzen,
dann wird’s von selber still.

Balus Lehrsätze

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Was hier erzählt wird, geschah in der Zeit, noch bevor Mogli aus dem Sioni-Wolfspack ausgestoßen wurde und ehe er an Schir Khan, dem Tiger, seine Rache nahm.

Es war in den Tagen, als Balu das Menschenjunge das Gesetz des Dschungels lehrte. Der große und würdige alte Bär freute sich, einen so gelehrigen Schüler zu haben; denn junge Wölfe wollen nur so viel von dem Dschungelgesetz lernen, als unbedingt nötig ist für das eigene Rudel, und laufen von dannen, sobald sie den Jagdspruch hersagen können: »Füße, die geräuschlos traben, Augen, die im Dunkeln sehen, Ohren, die den Wind hören, Zähne, die wie Messer schneiden – das sind die Zeichen unserer Brüder; ausgeschlossen nur sind die Hyäne und Tabaqui, der Schakal, die verhaßten.«

Aber Mogli, das Menschenjunge, hatte ein ganz Teil mehr zu lernen. Manchmal kam Baghira, der schwarze Panther, durch das Dickicht geglitten, um zu sehen, was sein Liebling für Fortschritte mache, dann schnurrte er und rieb seinen Kopf an Moglis Knie, während der Knabe seine Aufgabe hersagte. Mogli war bald im Schwimmen, Klettern und Laufen Meister, der es in den Bäumen beinahe den Affen gleichtat und im Teiche mit den Fischen um die Wette schwamm. Darum lehrte ihn der weise Balu die Wasser- und Waldgesetze; er zeigte ihm, wie er dürre Äste von gesundem Holz unterscheiden konnte, wie er mit den wilden Bienen höflich sprechen müsse, wenn er ihrem Schwarm unversehens fünfzig Fuß über der Erde begegne, wie er sich zu entschuldigen habe, wenn er Mang, die Fledermaus, beim Mittagsschlaf störe, und wie er die Wasserschlangen benachrichtigen müsse, bevor er in die Sümpfe und Teiche hineinplatsche. Die Dschungelvölker haben es nicht gerne, daß man sie aus ihrer Ruhe aufschreckt, und stürzen sich leicht blindlings auf den Störenfried. Auch lernte Mogli den Jagdruf des Fremdlings, den man, falls man in fremden Gründen jagen will, so lange wiederholen muß, bis Antwort erschallt. Der Ruf lautet: »Laßt mich hier jagen, denn leer ist mein Magen.« Und die Antwort ist: »Jag, um den Hunger zu stillen – nicht um des Vergnügens willen!«

Ja, unendlich viel hatte Mogli zu lernen, und oftmals ermüdete es ihn, hundertmal den gleichen Spruch zu wiederholen. Das half ihm jedoch nichts, denn, wie Balu eines Tages zu Baghira sagte, als Mogli nach einer Züchtigung bockig davongerannt war: »Menschenjunges ist Menschenjunges, und alle Gesetze des Dschungels muß er lernen.«

»Aber bedenke doch, wie klein er ist!« meinte der schwarze Panther, der – wäre es nur nach ihm gegangen – Mogli ganz und gar verzogen hätte. »Wie kann denn in seinem kleinen Kopfe für all dein langes Gerede Raum sein!«

»Klein? Ist im Dschungel irgend etwas zu klein, um getötet zu werden, wie? Darum lehre ich ihn alles das beizeiten, darum schlage ich ihn bisweilen – nur ein wenig und ganz sanft –, wenn er vergißt.«

»Sanft! Was verstehst du denn von Sanftheit, alter Eisenfuß!« grollte Baghira. »Ganz braun und blau war sein Gesicht heute morgen – von deinem Sanftsein. Uff!«

»Besser, er hat jetzt ein paar blaue Flecke, als daß er später durch Unwissenheit zu Schaden kommt!« antwortete Balu sehr ernst, »denn ich habe ihn lieb. Jetzt lehre ich ihn gerade die Meisterworte, Urworte der Völker des Dschungels, die ihm Schutz gewähren bei Vögeln und Schlangenvolk und bei allem, was vierfüßig auf dem Erdboden jagt. Wenn er die Worte behält, dann kann er bei allen Völkern des Dschungels Schutz und Hilfe heischen. Ist das nicht ein paar Schläge wert?«

»Na, paß nur auf, daß du das Menschenjunge nicht totschlägst. Er ist kein Baumstamm, an dem du deine stumpfen Krallen schärfen kannst. Übrigens, wie heißen denn deine prächtigen Meisterworte? Zwar bin ich gewöhnt, eher Hilfe zu gewähren, anstatt sie zu suchen«, Baghira reckte und streckte die Pranke und blickte voll Stolz auf die stahlblauen, eisenstarken Krallen – »doch möchte ich die Worte ganz gern kennen.«

»Ich werde Mogli rufen, er soll sie sprechen – das heißt, falls er will. Komm her, kleiner Bruder!«

»Mein Kopf brummt mir wie ein Bienenstock«, tönte eine mürrische Stimme über ihnen; gleich darauf raschelte es im Blattwerk, und Mogli glitt den Baumstamm herab. Er machte ein ärgerliches Gesicht und sagte trotzig: »Nur Baghira zuliebe komme ich und nicht deinetwegen, alter fetter Balu!«

»Das macht mir nichts«, sagte Balu, obgleich er sich gekränkt fühlte. »Sage also deinem Baghira die Meisterworte des Dschungels, die du heute gelernt hast!«

»Meisterworte welches Volkes?« fragte Mogli, im Grunde froh, sein Wissen zeigen zu können. »Viele Sprachen hat der Dschungel. Ich weiß sie alle.«

»Ein paar weißt du, aber längst nicht alle. Da siehst du wieder, Baghira, wie wenig ein Lehrer Dank erntet. Noch nie ist einer der Wölflinge zurückgekommen, um mir ein Wort des Dankes zu sagen. Brrr! Und nun sage uns mal, du großer Gelehrter, wie heißt der Spruch, der allgemeine Jagdspruch?«

»Du und ich, und ich und du, wir sind vom gleichen Blute«, gab Mogli die Worte in der Bärensprache, die alle Jagdvölker benutzen.

»Gut«, sagte Balu. »Nun das Vogelwort!«

Mogli wiederholte den Spruch und schloß mit dem hohlen, langgezogenen Pfiff des Geiers.

»Jetzt das Wort der Schlangenvölker«, sagte Baghira.

Die Antwort war ein unbeschreibliches, scharfes Zischen. Dann schlug Mogli ein Rad vor Freude, klatschte sich selbst Beifall, sprang auf Baghiras Rücken und trommelte mit den Beinen gegen das glänzende Fell, während er seinem Lehrer die fürchterlichsten Grimassen schnitt.

»Das ist schon ein paar blaue Flecke wert«, sagte der Bär, zärtlich schmunzelnd. »Du wirst mir schon einmal dafür danken, mein kleiner Bruder!« Und damit wandte er sich zu Baghira und erzählte ihm, wie er Hathi, den wilden Elefanten, gebeten habe, ihm die Meisterworte zu verraten – denn Hathi weiß alles; und wie dann Hathi Mogli selbst mit nach dem Sumpf genommen habe, um das Schlangenwort von den Wasserschlangen zu erfahren, denn das vermochte Balu nicht auszusprechen. Und nun wäre Mogli gegen alles Unglück im Dschungel gefeit, da weder Schlangen noch Vögel noch Raubtiere ihm etwas anhaben könnten.

»Keinen also hat er mehr zu fürchten«, schloß Balu seinen Bericht, sich stolz auf den pelzigen Bauch klatschend.

»Sein eigenes Volk ausgenommen«, brummte Baghira leise und dann laut zu Mogli: »Meine Rippen! Du schlägst sie mir ja kaputt, kleiner Bruder. Was soll denn das Herumgetanze immerwährend?«

Mogli hatte versucht, die Aufmerksamkeit der beiden Freunde auf sich zu lenken, deshalb zauste er kräftig Baghiras haariges Fell und trommelte ihm mit den Füßen gegen die Rippen. Als sie endlich hörten, rief er aus vollem Halse: »Und ich werde einmal mein eigenes Volk für mich haben, jawohl, und werde es von morgens bis abends durch die Baumstraßen führen!«

»Was ist denn das wieder für eine Dummheit, du Traumhans?« fragte Baghira.

»Jawohl! Und dann werde ich Äste und sonst noch allerlei auf den alten Balu hinabwerfen. Das haben sie mir versprochen! Jawohl!«

»Wuf!« Balus große Tatze fegte Mogli von Baghiras Rücken; und als der Knabe zwischen den Vordertatzen des Panthers lag, konnte er sehen, daß sein Lehrer ergrimmt war.

»Mogli!« brummte Balu, »du hast mit den Bandar-log gesprochen, dem Affenvolke!«

Mogli schielte zu Baghira hinauf, um zu sehen, ob auch der Panther ärgerlich war, und Baghiras Augen blickten grünlich und hart wie Jadestein.

»Was? Bei den Affen bist du gewesen? Bei den grauen Narren – den Leuten ohne Gesetz – den Allesfressern? Oh, Schmach und Schande!«

»Als Balu mich das letztemal schlug«, sagte Mogli, immer noch auf dem Rücken liegend, »bin ich fortgerannt, und die grauen Affen kamen von den Bäumen und hatten Mitleid mit mir. Niemand sonst hatte es.« Seine Stimme war ein wenig unsicher.

»Mitleid bei den Affen!« schnarrte Balu. »Sprich lieber von der Stille des reißenden Bergbaches, der Kälte der glühenden Sommersonne. Und was geschah dann, Menschenjunges?«

»Und dann, und dann gaben sie mir Nüsse und allerlei schöne Dinge zu essen, und sie… sie trugen mich in ihren Armen in die höchsten Wipfel und sagten, ich sei ihr Blutsverwandter – nur der Schwanz fehle mir, und eines Tages würde ich ihr Führer sein.«

»Sie sind stets führerlos«, rief Baghira. »Sie lügen. Immer haben sie gelogen.«

»Sehr gut waren sie zu mir und baten mich, wiederzukommen. Warum habt ihr mich nie zu dem Affenvolk gebracht? Aufrecht stehen sie auf den Füßen wie ich. Sie schlagen nicht mit harten Pranken. Sie spielen den ganzen Tag. Laßt mich auf! Böser, alter Balu, laß mich aufstehen! Ich will zu ihnen und mit ihnen spielen!«

»Höre, Menschenjunges«, sagte der Bär, und seine Stimme grollte wie Donner in schwüler Nacht. »Ich lehrte dich die Gesetze aller Völker des Dschungels, mit Ausnahme des Affenvolkes, das in den Bäumen haust. Ihr Volk hat kein Gesetz; rechtlos sind sie. Nicht einmal eine eigene Sprache haben sie, sondern stehlen sich Wörter von anderen, deren Gespräche sie belauschen. Nein – ihre Art ist nicht unsere Art. Führerlos sind sie und denken nur an den Augenblick. Sie prahlen und schwatzen und machen Geschrei, daß sie ein mächtiges Volk wären und bald Großes vollführen würden im Dschungel; wenn aber Nüsse fallen, dann ist alles vergessen, sie kichern und toben. Wir von des Dschungels haben nichts mit ihnen gemein. Wir trinken nicht, wo Affen trinken, wir meiden die Plätze, wo Affen hinkommen, wir jagen nicht, wo sie jagen, wir sterben nicht, wo sie sterben. Hast du mich jemals bis heute von den Bandar-log sprechen hören?«

»Nein!« flüsterte Mogli – denn Schweigen herrschte im Walde, als Balu verstummte.

»Die Dschungelleute sprechen nicht von ihnen und halten es nicht für der Mühe wert, an sie zu denken. Zahlreich sind sie, diese Affen, böse, schamlos, schmutzig, und ihr einziger Wunsch ist – falls sie überhaupt einen bestimmten Wunsch haben –, von den Dschungelvölkern bemerkt zu werden. Aber wir beachten sie nicht, nicht einmal, wenn sie Nüsse und Unrat auf unsere Köpfe herabwerfen.«

Kaum hatte er geendet, als ein wahrer Regen von Nüssen und Zweigen aus den Bäumen herabprasselte. Man hörte heiseres, ärgerliches Bellen und Husten und Umherspringen hoch oben in den Wipfeln.

»Die Affenvölker sind ausgestoßen aus dem Verkehr der Bewohner des Dschungels!« sagte Balu. »Ausgestoßen! Hörst du? Und denke daran! Denke daran!«

»Ausgestoßen!« echote Baghira. »Aber dennoch scheint es mir, Balu hätte dich beizeiten vor ihnen warnen sollen!«

»Ich? Warum? Wie konnte ich ahnen, daß er sich mit solchem Schmutz abgeben würde? Affenvölker! Pfui!«

Ein neuer Schauer kam auf sie herabgehagelt, und die beiden nahmen Mogli in die Mitte und trabten mit ihm davon.

Was Balu von den Affen erzählte, war durchaus richtig. Sie hausten in den Baumwipfeln, und da Tiere selten ihren Blick nach oben erheben, lag keine Notwendigkeit für die Dschungelvölker vor, mit den Affen in Berührung zu kommen. Aber sobald die Affen einmal einen kranken Wolf oder einen verwundeten Tiger aufspüren, kommen sie sogleich in Scharen herbeigesprungen und quälen den Wehrlosen. Und auf alles Getier im Dschungel werfen sie Nüsse und Zweige herab, nur um sich zu belustigen oder um sich bemerkbar zu machen. Dann heulen und kreischen sie sinnlose Gesänge und fordern die Dschungelvölker spöttisch auf, zu ihnen auf die Bäume zu kommen und mit ihnen zu kämpfen. Oder sie beginnen um nichts und wieder nichts wütende Schlachten untereinander, und ihre Toten lassen sie offen liegen, damit die Völker des Dschungels sie sehen können. Immer haben sie die Absicht, sich einen Führer zu wählen und sich eigene Gesetze und Sitten zu schaffen – aber niemals kommt es soweit, denn ihr Gedächtnis reicht nicht über den Tag hinaus. So täuschen sie sich darüber hinweg und versichern sich gegenseitig: »Was die Bandar-log heute denken, wird der ganze Dschungel morgen nachbeten!«, und das tröstet sie sehr. Kein anderes Tier vermag sie in ihren Behausungen zu erreichen, aber dafür schenkt auch niemand ihnen die geringste Beachtung, und deshalb waren sie so erfreut, als Mogli sie aufsuchte, um mit ihnen zu spielen.

Mehr wollten sie nicht, wie sie überhaupt nie etwas Bestimmtes wollten. Aber diesmal kam einer von ihnen auf eine, wie er meinte, glänzende Idee und verkündete sie gleich allen, daß nämlich Mogli sehr nützlich für den Stamm werden könnte, denn er verstünde Zweige zusammenzuflechten als Schutz gegen den Wind, und wenn man ihn einfinge und behielte, dann könnte er sie darin unterrichten.

Mogli besaß als Sohn eines Holzfällers vererbte Instinkte aller Art, und er hatte sich oft damit vergnügt, aus Zweigen und Buschwerk kleine Hütten aufzubauen, ohne zu wissen, warum er das tat und woher er diese Fertigkeit besaß. Die Affen hatten seinem kindlichen Spiele von den Bäumen aus zugesehen und hielten es für etwas ganz Wunderbares. Diesmal – so sagten sie – wollten sie sich wirklich einen Führer wählen, und dann würden sie das klügste Volk des Dschungels werden, von allen beachtet und beneidet. Daher folgten sie vorsichtig und geräuschlos Balu, Baghira und dem Knaben durch den Dschungel, bis die Zeit der Mittagsruhe herankam. Mogli hatte sich sehr geschämt und beschlossen, sich nie mehr mit dem Affenvolk abzugeben, und nun legte er sich zwischen Bär und Panther schlafen.

Tief war sein Schlaf. Da fühlte er sich plötzlich an Armen und Beinen von kleinen, harten Händen ergriffen; er glaubte zu träumen – aber schon fuhren ihm die Zweige ins Gesicht, und die Blätter schlugen ihm rauschend um die Ohren. Erschrocken starrte er hinab durch die schwingenden Äste auf die Erde und sah, wie Baghira mit gefletschten Zähnen an dem Baumstamm hochkletterte, während Balu den schlaftrunkenen Dschungel mit lautem Gebrüll weckte. Die Bandar-log heulten triumphierend und eilten hinauf in die höchsten Kronen, wohin Baghira nicht zu folgten wagte. Von dort krähten sie hernieder: »Er hat uns bemerkt! Baghira hat uns beachtet! Alles Dschungelvolk bewundert uns nun ob unserer Schläue und Geschicklichkeit!« Dann machten sie sich auf die Flucht, und so eine Flucht der Affenvölker durch das Baumland ist einfach nicht zu beschreiben. Sie haben ihre regelrechten Straßen und Kreuzwege, gipfelauf und gipfelab, immer fünfzig bis hundert Fuß über der Erde, und auch bei Nacht können sie über die Hochwege wandern. Zwei der stärksten Affen griffen Mogli unter die Arme, und fort ging es in mächtigen Sprüngen über zwanzig Fuß breite Abgründe. Wären sie unbehindert gewesen, so hätten sie zweimal so schnell davoneilen können, doch das Gewicht des Knaben hielt sie zurück. Mogli schwindelte der Kopf, und dennoch genoß er unwillkürlich den rasenden Flug durch die Baumwipfel – er hatte bisher das Gefühl der Furcht nicht gekannt, als er aber jetzt die Erde tief unter sich liegen sah und als die Äste nach jedem Satze mit furchtbarer Gewalt schwankten und ausschlugen, da wurde ihm seltsam zumute, und das Herz pochte ihm, als wolle es aus der Brust herausspringen. Hinauf zur Baumkrone ging es, bis die dünnen Zweige sich krächzend bogen, dann warfen sich seine Begleiter in den leeren Raum unter ihnen und hingen im nächsten Augenblick an den stärkeren Zweigen des nächsten Baumes. Manchmal konnte Mogli meilen- und meilenweit der ruhig daliegende grüne Dschungel übersehen, als ob er mitten im Ozean auf dem höchsten Maste eines Schiffes säße, dann aber schlugen ihm wieder die Zweige ins Gesicht, und wieder war er mit seinen beiden Begleitern fast auf dem Boden angelangt. Springend, rutschend, bellend und heulend – so stürzte der ganze Stamm der Bandar-log vorwärts durch die Baumstraßen mit Mogli, ihrem Gefangenen.

Zuerst hatte er Angst, daß er fallen würde – dann wurde er zornig, war aber zu klug, um sich während dieser schwindelnden Flucht zu wehren. Schließlich begann er über seine Lage nachzudenken. Vor allen Dingen mußte er Balu und Baghira Nachricht senden, denn bei der ungeheuren Schnelligkeit der Flucht waren diese weit zurückgeblieben. Mogli sah zuerst zur Erde nieder, als ob er von dort Hilfe erwartete – aber Bäume, Sträucher, ganze Landschaften glitten wie im Fluge an seinen Augen vorüber, so daß er nichts Bestimmtes zu unterscheiden vermochte. Wie er dann aber aufblickte, sah er hoch oben im Äther Tschil, den Geier, der in der Luft schwebte und sich wiegte und Wache hielt über des Dschungels, lauernd auf den Tod der Geschöpfe da unten. Tschil bemerkte, daß die Affen etwas davontrugen. Ob es da etwas für ihn gab? Vor Überraschung stieß er einen langen Pfiff aus, als er sah, wie Mogli in die höchste Spitze einer Palme gezerrt wurde. Da tönte Moglis Hilferuf zu ihm auf: »Du und ich und ich und du, wir sind vom gleichen Blute!« Im nächsten Augenblick schlossen sich die dichten Zweige wie Meereswogen über den Flüchtlingen. Tschil schoß mit ein paar Schlägen der mächtigen Flügel vorwärts und stand über dem nächsten Baumwipfel, gerade als das kleine braune Gesicht wieder auftauchte.

»Halte meine Fährte!« rief Mogli ihm zu. »Berichte Balu vom Sionirudel und Baghira, dem Panther!«

»Und von wem kommt die Botschaft, Bruder?«

Tschil hatte Mogli noch nie gesehen, obgleich er natürlich viel von ihm gehört hatte.

»Ich bin Mogli, der Frosch. Menschenjunges nennt man mich. Folge meiner Fährte!«

Er gellte diese letzten Worte mitten in einem ungeheuren Sprunge durch den leeren Raum. Tschil nickte und flog auf und stieg, bis er nicht größer aussah als ein schwarzer Punkt. Dort hing er im Äther und beobachtete mit seinen scharfen Augen das Wogen der Bäume, in denen Moglis Begleiter dahinjagten.

»Weit geht ihre Reise nie«, lachte Tschil spöttisch. »Sie vollenden nie, was sie begannen! Immer greifen sie nach etwas Neuem, diese Bandar-log. Aber diesmal, scheint mir, werden sie sich die Pfoten verbrennen; denn mit Balu ist nicht zu spaßen, und Baghira kann mehr als Ziegen würgen, das weiß ich.«

So segelte er auf mächtigen Schwingen, die Fänge dicht an den Körper gezogen, und wartete ab.

Mittlerweile stand es schlimm mit Balu und Baghira. Sie rasten vor Wut und Kummer. Baghira kletterte wie niemals vorher; doch die dünnen Zweige brachen unter seiner Last, und er glitt zur Erde, die Krallen voller Borke.

»Warum hast du ihn nicht gewarnt, das Menschenjunge?!« brüllte er den armen Balu an, der immer noch hoffte, mit seinem plumpen Trabe die Affen einzuholen. »Warum ihn prügeln und halbtot schlagen, anstatt ihn beizeiten zu warnen!«

»Schnell! Schnell nur! Vielleicht… vielleicht erwischen wir sie noch«, keuchte Balu.

»Mit deinem Zotteltrab könntest du nicht einmal eine angeschweißte Kuh erwischen, Knabenprügler, wenn du noch eine Weile so fortwackelst, dann platzt dir am Ende der Bauch. Setze dich lieber hin und denke nach. Mache einen Plan! Hinterherlaufen hat keinen Sinn. Kann sein, sie lassen ihn fallen, wenn wir ihnen zu nahe kommen.«

»Urrula! Whua! Vielleicht sind sie jetzt schon seiner müde geworden und haben ihn zur Erde geworfen! Wer kann den Bandar-log trauen? Bedecke meinen Kopf mit toten Fledermäusen! Gib mir alte Knochen zu fressen! Rolle mich in die Waben der wilden Bienen, daß sie mich zu Tode stechen, und begrabe mich mit der Hyäne, denn ich bin der elendeste aller Bären! Urrula! Whua! O Mogli! Mogli! Warum habe ich dich nicht vor dem Affenvolke gewarnt, anstatt dir den Kopf zu zerschlagen? Ach, vielleicht habe ich ihm alles herausgeprügelt, was er gelernt hat, und nun weiß er nicht mehr die Meisterworte und kann sich nicht helfen im Dschungel!«

Verzweifelt schlug sich Balu die Pranken gegen die Ohren, rollte hin und her und stöhnte jämmerlich.

»Ach was! Er hat mir noch vor kurzem alle Meistersprüche richtig hergesagt!« knurrte Baghira ungeduldig. »Balu, erinnere dich daran, was du dir selbst schuldig bist. Hast du denn alle Selbstachtung verloren? Was würde der Dschungel dazu sagen, wollte ich, der schwarze Panther, mich wie Ikki, das Stachelschwein, zusammenrollen und heulen?«

»Was schiert mich der Dschungel! Ach Mogli, mein Frosch… vielleicht ist er jetzt schon tot.«

»Mir ist nicht weiter bange um das Menschenjunge, sofern sie ihn nicht etwa rein zum Spaß fallen lassen oder ihn aus Langeweile töten, weil sie nichts Gescheiteres zu tun wissen. Mogli ist klug und gewandt, und vor allem hat er Augen, vor denen die Dschungelvölker zittern. Eins nur ist schlimm: Die Bandar-log haben ihn in ihrer Gewalt, und sie fürchten unsere Völker nicht, weil sie in den Bäumen leben.« Baghira leckte gedankenvoll eine Vorderpfote.

»Ach, ein Narr bin ich! Ein fetter, brauner, wurzelfressender Narr!« rief Balu und setzte sich aufrecht. »Wahr ist, was Hathi sagte, der wilde Elefant: ›Niemand ist ohne Feind‹; und sie, die Bandar-log, fürchten Kaa, die Riesenschlange! Kaa klettert so gut wie sie; er raubte des Nachts ihre Jungen. Beim bloßen Klange seines Namens erschauern sie. Komm – wir müssen zu Kaa!«

»Was wird er viel für uns tun. Er gehört nicht zu unserer Sippe, da er fußlos ist – und den bösen Blick hat er«, meinte Baghira.

»Sehr alt ist er und sehr verschlagen. Und vor allem hat er ewig Hunger«, antwortete Balu hoffnungsvoll. »Versprich ihm recht viele Ziegen.«

»Einen ganzen Monat lang liegt er und schläft, hat er sich einmal vollgefressen. Vielleicht hält er gerade jetzt seinen Schlaf. Aber selbst angenommen, daß er wach ist… meinst du nicht, er würde es am Ende vorziehen, sich seine Ziegen selbst zu würgen?« Baghira, der nur wenig von Kaa wußte, war mißtrauisch.

»In diesem Falle könnten zwei alte Jäger, wie wir, ihn vielleicht auf eine gute Fährte bringen.« Hier rieb Balu seine verblichene braune Schulter gegen den Panther, und beide machten sich auf den Weg zu Kaa, dem Felsenpython.

Sie fanden ihn auf einem warmen Hang in der Nachmittagssonne ausgestreckt liegen, sein neues schmuckes Kleid bewundernd. Denn die letzten zehn Tage hatte er in Zurückgezogenheit gelebt und seine Haut gewechselt. Nun erstrahlte er in neuem Glanz, schob seinen stumpfnasigen langen Leib in phantastischen Kreisen, Knoten und Verschlingungen und leckte die Lippen mit der gespaltenen Zunge in Erwartung der kommenden Mahlzeit.

»Er hat noch nicht gefressen«, grunzte Balu erleichtert, sobald er das prächtige braun und gelb gesprenkelte Kleid sah. »Sei vorsichtig, Baghira, er ist immer ein wenig blind nach dem Häuten und stets bereit, auf bloßen Verdacht hin zuzustoßen!«

Kaa war keine Giftschlange – vielmehr verachtete er die Giftschlangen als feige Brut. Seine Stärke lag in dem ungeheuren Körper, mit dem er sein Opfer umklammerte. Wer einmal in diese Umzingelung geriet, nun, über den war nicht mehr viel zu berichten.

»Gute Jagd!« rief Balu und ließ sich in gemessener Entfernung auf die Hinterbeine nieder.

Kaa war, wie alle Schlangen seines Stammes, etwas taub und hörte zuerst den Jagdgruß nicht. Dann aber rollte er sich blitzschnell zusammen, den Kopf gesenkt, zum Kampf bereit.

»Sssss! Wer ist’s?« zischte er. »Ah, Balu! Was bringt dich hierher? Jagdheil, Baghira! Gute Jagd uns allen! Eins weiß ich! Sssss! Zum mindesten einer von uns dreien ist hungrig. Ist Wild in der Nähe? Eine Ricke vielleicht oder auch ein junger Bock? Sagt schnell. Leer und hohl bin ich wie ein ausgetrockneter Brunnen.«

»Wir sind auf der Pirsch!« meinte Balu leichthin. Er wußte, es lohnte sich nicht, Kaa zu drängen. Kaa war zu stark.

»Soso! Erlaubt, daß ich mit euch komme!« sagte Kaa. »Ein Schlag mehr oder weniger macht dir nichts aus, Baghira oder Balu, aber ich – ich muß tage- und monatelang auf der Lauer liegen und muß eine halbe Nacht lang herumklettern, um bei gutem Glück einen jungen Affen zu erhaschen. Psshan! Die Äste sind heutzutage nicht mehr, was sie in meiner Jugend waren. Dürres Zeug, trockene Stengel überall!«

»Vielleicht liegt das auch ein wenig an deinem großen Gewicht«, meinte Balu.

»Es läßt sich nicht leugnen – ich habe eine stattliche Länge«, antwortete Kaa ein wenig stolz. »Dennoch, glaube ich, liegt es im Grunde an dem neugewachsenen Holz. Als ich das letztemal jagte, war ich nahe daran, zu fallen – sehr nahe daran; mein Schwanz war nicht fest verankert am Stamm, und als ich rutschte und glitt, scheuchte der Lärm die Bandar-log hoch. Und mit den gemeinsten Worten hat es mich geschmäht, das Affengesindel.«

»Fußloser gelber Regenwurm«, schnurrte Baghira in die Borsten seines Bartes, als ob er versuche, sich zu erinnern.

»Sssss! Haben sie mich so genannt?« zischte Kaa.

»Fußloser gelber Regenwurm oder so ähnlich, so riefen sie beim letzten Vollmond zu uns herab, aber wir schenkten ihnen keine Beachtung. Allerlei schwatzten sie, die Bandar-log – sie sagten sogar, daß du zahnlos seist, großer Kaa, und dich daher höchstens an ein schwaches Zicklein heranwagst, weil du – wirklich, diese Badar-log sind unglaublich frech und schamlos – weil du Angst hättest vor den Hörnern des Bocks.« Baghiras Stimme klang wie süßer Honig.

Eine Schlange, besonders ein würdiger, alter Python, läßt sich selten den Ärger anmerken, doch diesmal konnten Balu und Baghira sehen, wie die großen Schlingmuskeln an beiden Seiten von Kaas Rachen auf und ab wogten.

»Die Bandar-log haben sich auf die Wanderschaft gemacht«, sagte er mit erzwungen ruhiger Stimme, aber hie und da zitterte sie doch ein wenig. »Als ich mich heute in die Sonne legte, hörte ich sie in den Baumwipfeln lärmen!«

»Den – den Bandar-log spüren wir jetzt gerade nach«, sagte Balu, aber die Worte blieben ihm fast in der Kehle stecken, denn es war seines Wissens zum erstenmal, daß einer vom Dschungelvolk offen zugab, den Affen irgendwelche Beachtung zu schenken.

»Das muß allerdings etwas ganz Außergewöhnliches sein, das zwei so große Jäger – Führer im Dschungel, ohne Frage – auf die Fährte der Bandar-log treibt!« antwortete Kaa höflich, aber gebläht vor Neugier.

»Was mich betrifft, so muß ich leider gestehen, ich bin nichts als der alte und manchmal recht törichte Lehrer der jungen Sioniwölfe… und Baghira hier –«

»Ist und bleibt Baghira!« unterbrach der schwarze Panther, und seine furchtbaren Kiefern schnappten stählern ein, denn er spielte nicht gern den Demütigen. »Höre, Kaa, jene Nußknacker und Taugenichtse haben unser Menschenjunges gestohlen, von dem du wohl schon gehört hast.«

»Hm – ja! Ich habe etwas läuten hören von einem Menschenjungen, das sie in einem Wolfsrudel aufnahmen. Ikki erzählte mir davon, das Stachelschwein, ich wollte es aber nicht glauben. Ikki tut sich immer dick mit Neuigkeiten, die er nur halb verstanden hat und dann unrichtig ausposaunt.«

»Aber es ist wahr. Ein so prächtiges Menschenjunges hat es noch nie gegeben«, sagte Balu. »Es ist das beste und klügste und mutigste von allen Menschenjungen, mein eigener Zögling, der Balus Namen berühmt machen wird in den Dschungeln weit und breit; und im übrigen liebe ich – lieben wir ihn, Kaa.«

»Tss! Tss!« machte Kaa, den Kopf hin und her wiegend. »Auch ich habe einmal gewußt, was Liebe ist. Ssss! Ich könnte euch Geschichten erzählen…«

»Ein andermal. Mit leerem Magen vermögen wir nicht, sie genügend zu würdigen!« sagte Baghira schnell. »Unser Menschenjunges ist jetzt in den Händen der Bandar-log. Wir aber wissen, daß sie von allen Wesen im Dschungel Kaa allein fürchten.«

»Ja, nur mich fürchten sie und haben guten Grund«, sagte Kaa. »Schwätzer, Narren, Gecken – Gecken, Narren, Schwätzer – das sind diese Affen. Aber so ein Menschending in ihren dummen Händen – das ist allerdings eine böse Sache. Sie werden überdrüssig der Nüsse, die sie pflücken, und werfen sie weg. Zweige schleppen sie halbe Tage hindurch mit sich herum, in der Absicht, wer weiß was für große Dinge damit zu verrichten – zerknicken sie dann und lassen sie liegen. Wahrhaftig, dieses Menschending ist nicht zu beneiden. Und sie haben mich – was war es doch gleich? – gelber Fisch genannt, nicht wahr?«

»Wurm – Regenwurm – gelben Regenwurm«, verbesserte Baghira, »und noch vieles andere sagten sie, das man sich schämen muß zu wiederholen.«

»Nun gut, wir müssen ihnen einen Denkzettel geben, so daß sie in Zukunft von ihrem Herrn und Meister mit Achtung reden! Aaa-ssp! Wir müssen ihrem Gedächtnis etwas nachhelfen! Wohin, sagst du, haben sie das Junge geschleppt?«

»Der Dschungel allein weiß es. Gegen Sonnenuntergang, glaube ich«, erwiderte Balu. »Wir dachten, du könntest uns Auskunft geben, Kaa!«

»Ich? Wieso? Ich verspeise sie, wenn sie mir in den Weg kommen, aber ich schleiche ihnen nicht nach, diesen Bandar-log, diesen Kaulquappen, dieser übelriechenden Sumpfpest. Hssss!«

»Hoch, hoch! Hoch, hoch! Hillo, illo, illo! Sieh doch, Balu vom Sionirudel!«

Balu wandte den Blick aufwärts, um auszumachen, woher die Stimme kam – und dort oben schoß Tschil, der Geier, aus dem Äther herab, und seine Schwingen flammten im Abendlicht. Es war schon fast die Stunde für Tschil, zur Ruhe zu gehen; aber weit war er gesegelt über des Dschungels und hatte den Bären lange vergeblich im Dickicht gesucht.

»Was gibt’s?« fragte Balu.

»Ich habe Mogli bei den Bandar-log gesehen. Er bat mich, euch Botschaft zu bringen. Ich folgte ihnen. Sie haben ihn zur Affenstadt geschleppt, den ›Cold Lairs‹, auf der anderen Seite des Flusses. Vielleicht bleiben sie dort eine Nacht oder zehn Nächte oder auch nur eine Stunde. Ich habe den Fledermäusen aufgetragen, während der Dunkelheit Wache zu halten. Das ist alles. Jagdheil euch allen dort unten!«

»Vollen Magen und guten Schlaf wünsche ich dir, Tschil!« rief Baghira. »Ich werde deiner gedenken bei nächster Jagd und den Kopf ganz allein für dich zurücklegen, du bester aller Geier!«

»Keine Ursache – durchaus keine Ursache – das Menschending wußte das Meisterwort – ich tat nur meine Pflicht«, und Tschil kreiste empor, hin zum felsigen Horst.

»Das lobe ich mir!« lachte Balu stolz. »Er hat den Kopf nicht verloren, der Prachtkerl! So jung er ist, hat er das Vogelwort nicht vergessen – und dabei noch auf der wilden Jagd durch die Baumwipfel.«

»Nachdrücklich genug ist es ihm eingetrichtert worden«, knurrte Baghira. »Aber stolz bin ich auf ihn, und nun fort, so schnell wie möglich, zur Affenstadt!«

Sie alle wußten von diesem Ort, doch nur wenige Dschungelleute waren jemals dort gewesen; denn »Cold Lairs«, wie sie es nannten, war eine alte verlassene Stadt, verfallen und halb begraben unter des Dschungels, und zumeist meiden die Tiere der Wildnis den Ort, wo Menschen hausten. Nur das Wildschwein liebt es, in den Ruinen herumzuwühlen. Außerdem lebten die Affen dort, soweit man bei ihnen überhaupt von einem Wohnort sprechen konnte, und kein Tier, das Selbstachtung besaß, kam diesem verachteten Platz nahe – nur in Zeiten der Dürre schlichen sie unwillig herbei, wenn sich in den verfallenen Zisternen noch ein wenig fauliges Wasser gehalten hatte.

»Eine halbe Nacht brauchen wir dorthin, wenn wir auch noch so eilen«, sagte Baghira; und Balu machte ein ernstes Gesicht: »Ich werde traben, was ich kann«, meinte er bekümmert.

»Wir können nicht auf dich warten, Balu. Du mußt nachkommen. Wir müssen fort, so schnell wir laufen können – Kaa und ich!«

»Was, laufen!« spottete Kaa. »Habe ich auch keine Füße, so nehme ich’s in der Schnelligkeit noch mit euch allen auf.«

Und damit machten sie sich auf den Weg. Balu tat sein Bestes, Schritt zu halten; aber bald mußte er schnaufend und nach Atem ringend sich niedersetzen, um auszuruhen. Sie ließen ihn zurück. Baghira eilte davon in dem geschwinden Panthergalopp. Aber so schnell er auch lief, der riesige Körper der Python blieb, lautlos dahingleitend, stets an seiner Seite. Kamen sie an einen Gebirgsbach, war Baghira im Vorteil, denn mit mächtigem Satz sprang er darüber hinweg, während Kaa die quirlenden Wasser durchschwimmen mußte – aber schon im nächsten Augenblick sah er den breiten Kopf mit der spitzen Zunge wieder an seiner Seite.

»Beim gesprengten Schloß, das mich befreite«, keuchte Baghira, als die Dämmerung hereinbrach. »Ein schlechter Läufer bist du nicht.«

»Hungrig bin ich!« sagte Kaa. »Und sie nannten mich gesprenkelten Frosch!«

»Regenwurm – gelben, kriechenden Regenwurm.«

»Das kommt auf eins heraus! Vorwärts! Kannst du nicht schneller?« Und Kaa glitt dahin wie der Blitz, und er fand dabei stets mit sicherem Auge den kürzesten Weg.

In »Cold Lairs« vergaß das Affenvolk ganz, daß Mogli mächtige Freunde besaß. Sie hatten den Knaben in die verlorene Stadt geschleift und waren nun für den Augenblick sehr mit sich zufrieden. Mogli hatte noch nie vorher eine indische Stadt gesehen, und wenn ringsum auch nur Schutt und Trümmer waren, schien ihm doch alles herrlich und wunderbar. Irgendein König hatte die Stadt vor langer Zeit auf einem Hügel erbaut. Man sah noch die Spuren der mit Steinen gepflasterten Straßen, die bergan zu zerfallenen Toren führten, wo letzte Splitter morschen Holzes in rostigen Angeln hingen. Bäume waren aus den Ruinen emporgewachsen; die Wehrgänge waren eingestürzt, und Schlingpflanzen hingen in dichten Büscheln aus den hohlen Fenstern der Wachttürme.

Den Hügel krönte ein weiträumiger Palast ohne Dach; der Marmor der Höfe und Brunnen war gebrochen und von grünlichem Moos überdeckt, und selbst die schweren Steinplatten im Elefantenhof des Königs waren von Gräsern gespalten, von jungen Bäumen in Stücke gesprengt. Von der Höhe des Palastes aus blickte man auf Reihen über Reihen dachloser Häuser – sie bildeten einstmals die Stadt, jetzt aber lagen sie schweigend in Trümmern und sahen aus wie leere Bienenstöcke, von Dunkelheit erfüllt. Auf dem Marktplatz, wo die vier Straßen zusammentrafen, ragte die große kopflose Steinmasse des Götzenbildes, vor dem die Brahmanen einst kniend den Boden geküßt hatten. – Statt der Andächtigen füllten nun wilde Feigenbäume die zerfallenen Tempel; und an den Straßenecken, wo man sich einst an Brunnen und Zisternen zum Plaudern versammelte, sah man jetzt Wasserlachen, auf denen grüne Pflanzen wucherten.

Die Affen nannten diesen traurigen Ort ihre Stadt und gaben vor, die Dschungelvölker zu verachten, weil sie in Wäldern lebten. Und doch wußten sie nicht einmal, zu welchem Zweck man diese Bauten errichtet hatte und wie man sich ihrer bediente. Oft hockten sie im Ratssaal des Königs im Kreise beieinander, suchten sich die Flöhe ab und dünkten sich Menschen; oder sie jagten durch die dachlosen Häuser, häuften Steine und Ziegelstücke in den verlassenen Ecken auf und vergaßen gleich darauf, wo sie die Schätze versteckt hatten. Manchmal balgten sie sich in großen Haufen und bissen und kratzten sich gegenseitig, dann rollten sie wie lebendige Bälle umher, die in jedem Augenblicke die Gestalt veränderten und schreiend und brüllend zu Boden flogen und dann wieder hoch in die Luft sprangen, bis sie plötzlich aufbrachen und Hunderte von ihnen in alle Windrichtungen sandten. Oder sie jagten sich auf den Terrassen, schüttelten die Orangen- und Rosenbäume und jauchzten vor Vergnügen, wenn die Früchte und Blumen niederfielen. Sie guckten neugierig in alle Galerien und geheimen Gänge des Palastes – sie suchten in den hundert dunklen Räumen umher, aber sie erinnerten sich niemals, was sie schon gesehen und was sie noch nicht gesehen hatten. In dieser Weise trieben sie sich herum und erzählten sich gegenseitig, wie sehr sie doch in all ihrem Tun und Lassen den Menschen glichen. Sie tranken aus den Wasserlachen, und wenn sie mit ihrem Getobe das ganze Wasser trübe und schmutzig gemacht hatten, balgten sie sich untereinander; und zu guter Letzt tanzten sie und brüllten in den Wald hinaus: »Kein Volk im Dschungel ist so weise, so klug, so stark und so edel wie die Bandar-log!«

Und dann begannen sie ihr Spiel aufs neue, bis sie der Stadt überdrüssig wurden und wieder zu den Baumwipfeln zurückkehrten in der Hoffnung, endlich von den Dschungelvölkern beachtet zu werden.

Mogli, der unter den Gesetzen des Dschungels groß geworden war, konnte dieser Lebensart keinen Geschmack abgewinnen. Es war spät am Nachmittag, als die Affen ihn in die Stadt schleppten. Anstatt nun zur Ruhe zu gehen, wie Mogli es nach den Anstrengungen des Tages gerne getan hätte, reichten sie sich die Hände, tanzten Ringelreihen um ihn herum und plärrten törichte Lieder. Einer der Affen hielt eine große Rede und verkündete, daß Moglis Fang einen Wendepunkt in der Geschichte der Bandar-log bedeutete, denn Mogli werde ihnen zeigen, wie man zum Schutze gegen Wind und Wetter Zweige und Rohrhalme zusammenflechten könne. Die Rolle eines Lehrmeisters war etwas Neues für Mogli; schnell nahm er einige Schlingpflanzen und begann, sie ineinander zu flechten. Die Affen sahen ihm eine Weile zu, juckten sich und schnitten Gesichter, dann ahmten sie ihn nach; aber nach wenigen Augenblicken schon wurden sie der Sache müde, zogen sich gegenseitig an den Schwänzen und sprangen scheltend und schwatzend fort.

»Mich hungert«, sagte Mogli zu guter Letzt. »Ich bin ein Fremdling in diesem Teil des Dschungels. Bringt mir zu essen oder gebt mir die Jagd frei.«

Zwanzig, dreißig Affen stürzten sogleich davon, in der Absicht, ihm Nüsse oder wilde Melonen zu holen; aber unterwegs zankten sie sich und bissen sich, und als die Prügelei vorüber war, hatten sie vergessen, weshalb sie eigentlich ausgezogen waren. Mogli war wund am ganzen Körper und zornig, und als ihn nun noch der Hunger zu quälen begann, machte er sich auf, schweifte durch die Stadt und ließ von Zeit zu Zeit den Jagdruf des Fremdlings ertönen – aber alles blieb stumm, und Mogli begriff, daß er an einen ganz jämmerlichen Ort geraten war.

»Alles, was Balu mir von den Bandar-log erzählt hat, ist wirklich wahr«, dachte er bei sich selbst. »Sie haben kein Gesetz, keinen Jagdruf, keinen Führer – nichts als dumme Worte und kleine, rastlose Hände, mit denen sie nichts anderes tun können, als sich an den Haaren zu raufen und Flöhe zu fangen. Wenn ich hier Hungers sterbe und jämmerlich zugrunde gehe, ist es ganz und gar meine Schuld. Ich muß versuchen, zum Dschungel zurückzufinden. Balu wird mich prügeln, doch das ist besser, als mich weiter herumzutreiben mit diesen blöden Bandar-log.«

Kaum war er bis zur Stadtmauer gelangt, als die Affen ihn wieder einfingen. Sie sagten ihm, er wisse gar nicht, wie gut er es habe und kniffen ihn, um ihn dankbar zu stimmen. Mogli biß die Zähne zusammen und sagte kein Wort mehr; wohl oder übel ging er mit dem lärmenden Volk zu einer Terrasse oberhalb der roten Sandsteinzisternen, die halb mit Regenwasser angefüllt waren. In der Mitte der Terrasse stand ein verfallenes Sommerhaus aus weißem Marmor, erbaut für Königinnen, die schon seit mehr als hundert Jahren in der Erde ruhten. Das gewölbte Dach war zur Hälfte eingefallen und hatte den unterirdischen Gang zum Palast verschüttet, durch den einst die Königinnen geschritten waren. Aber die marmornen Mauern waren kunstvoll durchbrochen, meisterhaft ausgehauen zu milchweißem Filigran, eingelegt mit Achat, Karneol, Jaspis, Lapislazuli – und als der Mond aufstieg über dem Hügel, strömte sein bleiches Licht durch das silberne Netzwerk und warf Schatten auf den Boden, wie schwarze Stickerei auf silbernem Grunde.

Obschon Mogli jedes Glied am Körper schmerzte, obschon er müde und hungrig war, mußte er doch laut auflachen, als die Bandar-log – zwanzig auf einmal – begannen, ihm vorzupredigen, ein wie weises, großes, gutherziges Volk sie wären, und wie albern es von ihm sei, sie verlassen zu wollen. »Wir sind mächtig. Wir sind frei. Wir sind schlechthin großartig. Wir sind das herrlichste Volk in der ganzen Dschungel. Wir alle sagen es, und deshalb muß es wahr sein! Und da du ein Neuling bist und unsere Botschaft den Dschungelleuten überbringen kannst, auf daß sie in Zukunft Achtung vor uns haben, so wollen wir dir alles genau vermelden von unserem großen Volke.«

Mogli entgegnete nichts; und die Affen umschwärmten ihn zu Hunderten auf der Terrasse, um den Lobpreisungen ihrer Sprecher zuzuhören, und sobald einer in der Rede innehielt, um Atem zu schöpfen, schrien sie alle zusammen: »Sehr richtig! Das ist ganz unsere Meinung.«

Mogli nickte, blinzelte und sagte »Ja!«, wenn sie ihn fragten. Aber ihm brummte der Kopf von dem schwirrenden Lärm. »Tabaqui, der Schakal, muß die ganze Gesellschaft gebissen haben«, sagte er zu sich. »Und nun sind sie alle verrückt geworden. Gewiß, das ist Tollwut! Gehen sie denn niemals schlafen? Ah, eine Wolke schiebt sich jetzt vor den Mond! Wenn sie doch groß genug wäre, daß er ganz dunkel würde, dann könnte ich vielleicht versuchen, davonzurennen! Ach, wie müde bin ich!«

Die gleiche Wolke wurde auch von zwei guten Freunden beobachtet, die in dem verschütteten Wallgraben am Rande der Stadt auf der Lauer lagen. Denn Baghira und Kaa wußten wohl, wie gefährlich das Affenvolk als Masse war, und wünschten nicht, den Ausgang des Unternehmens unnötig aufs Spiel zu setzen. Affen kämpfen niemals anders als hundert zu eins, und niemand setzt sich gerne solcher Ungleichheit aus.

»Ich werde mich zur Westmauer aufmachen«, flüsterte Kaa. »Von da kann ich rasch den Hang hinuntergleiten und leicht über sie herfallen. Bei mir wird es ihnen nicht gleich gelingen, sich zu Hunderten über mich zu werfen, aber du…«

»Ich weiß!« unterbrach ihn Baghira. »Wäre doch Balu nur erst hier! Aber es hilft nichts, wir müssen tun, was sich eben tun läßt. Sobald die Wolke den Mond völlig verdeckt, springe ich auf die Terrasse. Anscheinend halten sie einen Rat über den Knaben.«

»Gute Jagd!« züngelte Kaa grimmig und glitt fort zur westlichen Mauer. Dieser Teil der alten Stadtumwallung war zufällig noch am besten erhalten, und es dauerte eine ganze Weile, bis Kaa eine geeignete Stelle fand, um an dem Mauerwerk emporzuklettern.

Die Wolke verdeckte den Mond. Als Mogli sich eben verwundert fragte, was das nächste Narrenstück der Affen sein werde, vernahm sein scharfes Ohr Baghiras leichten Tritt auf der Terrasse. Der schwarze Panther war den Hügel fast geräuschlos hinaufgeschlichen, und nun stürzte er sich in den Knäuel der Affen, mit den mächtigen Tatzen rechts und links um sich schlagend, mit Kopf und Körper vorwärtsstoßend, ohne mit Beißen die Zeit zu vergeuden. Die eitlen Redner hielten plötzlich inne, und ein Schrei des Entsetzens und der Wut durchdrang die Reihen, die sich in dichten Knäueln um Mogli gelagert hatten. Da ertönte plötzlich eine Stimme: »Nur ein einziger ist es! Tötet ihn! Reißt ihn in Stücke!« Wie eine vom Sturm gepeitschte, zerreißende und sich wieder zusammenballende Wolke bedeckte eine schwarze Schar von Affen den sich rollenden Baghira – beißend, kratzend, keuchend. Fünf oder sechs packten Mogli, schleppten ihn auf die Mauer des Sommerhauses und stießen ihn durch das Loch des geborstenen Dachgewölbes. Ein unter Menschen groß gewordener Knabe hätte sich bei dem Falle wohl schwer verletzt, denn die Höhe betrug mehr als fünfzig Fuß. Mogli jedoch fiel kunstgerecht auf seine Füße, wie es ihn Balu gelehrt hatte.

»Dort bleibe, bis wir deine Freunde zerrissen haben!« brüllten die Affen. »Später spielen wir wieder mit dir… das heißt, wenn die Giftvölker dich am Leben lassen.«

»Wir sind vom gleichen Blute, du und ich! Sssss!« rief Mogli schnell, den Schlangenruf gebend. Rings um sich hörte er Rasseln, Klappern und Zischen, und schnell wiederholte er den Spruch ein zweites Mal, um ganz sicher zu gehen.

»In Ordnung! Nieder alle Hauben!« zischte ein halbes Dutzend Stimmen. »Rege dich nicht, kleiner Bruder, damit du uns nicht verletzt mit deinen Füßen!« (Jede Ruine in Indien wird alsbald zum Wohnort der Schlangen, und in dem alten Lusthaus wimmelte es von Kobras.)

Mogli hielt sich reglos auf seinem Platze. Er lugte durch die Öffnungen in der Mauer und lauschte auf das wilde Getöse des Kampfes, der um den schwarzen Panther wogte – das Gellen, Heulen und Keifen, dazwischen Baghiras tiefes, heiseres Röhren, als er rückwärts drückte, sich wand, taumelte und verschwand unter dem Haufen der Feinde. Zum erstenmal seit seiner Geburt kämpfte Baghira um sein Leben.

Balu muß in der Nähe sein. Baghira würde nicht allein gekommen sein, dachte Mogli, und dann rief er mit lauter Stimme: »Zum Wasser, Baghira! Rolle dich ins Wasserbecken! Rolle dich und tauche! Zum Wasser!«

Baghira hörte, und die Gewißheit, daß Mogli in Sicherheit war, gab ihm neuen Mut. Mit der Kraft eines Verzweifelten bahnte er sich Zoll für Zoll den Weg zur Zisterne hin. Da tönte von den Mauertrümmern zunächst des Dschungels der dumpfe Kampfesruf Balus. »Baghira« schrie er keuchend. »Hier bin ich! Halte nur aus! Jetzt klettere ich über die Mauer! Ich werde gleich bei dir sein. Ahuwora! Die Steine zerbröckeln mir unter den Füßen! Wartet nur, bis ich über euch komme, ihr dreimal verfluchten Bandar-log!«

Er keuchte mühsam die Terrasse hinauf – aber kaum hatte er sich gezeigt, als er in einer Wolke schrill heulender Affen verschwand. Er setzte sich auf die Hinterbeine und umfaßte mit den Vorderpranken so viel seiner Angreifer, als er nur halten konnte. Mit grimmiger Zärtlichkeit drückte er sie an sein Herz, bis sie mit gebrochenen Rippen zu Boden sanken, und dann schlug er zu – patsch – patsch – patsch – gerade in den Haufen hinein, gleich dem schlapfenden Schlag eines Raddampfers! Ah! Ein lautes Platschen im Wasser verkündete, daß Baghira sich seinen Weg zur Zisterne durchgefochten hatte, wohin ihm die Affen nicht folgen konnten. Der Panther lag, nach Atem ringend, nur mit dem Kopfe ein wenig aus dem Wasser lugend, während die Affen sich am Rande drängten und in ohnmächtiger Wut hin und her tanzten. Das keuchende Brummen des alten Bären drang zu ihm. Doch was konnte er tun? Da lag er im Wasser, unfähig, dem Freunde zu helfen. Bei diesem Gedanken heulte er fast unbewußt den Hilferuf der Schlangen hinaus in die Nacht, denn er fürchtete, daß Kaa im letzten Augenblicke sich davongemacht habe. »Wir sind vom gleichen Blute, du und ich! Sss! Sss! Sss!« Ein Hilferuf vom schwarzen Panther! Obwohl Balu unter der Wucht der Affen fast erstickte, lachte er dennoch laut auf. »Er hat sich’s gemerkt«, dachte er. »Der schwarze Panther hat etwas von meinem Menschenjungen gelernt!« und patsch – patsch krachten die Rippen der Affen unter den Tatzenhieben.

Kaa war es eben erst gelungen, die westliche Mauer zu erklimmen; es war eine schwere Arbeit, denn die Steine gaben unter seinem Gewichte nach und rollten laut polternd zu Boden. Nun aber war keine Minute mehr zu verlieren. Er ringelte sich und wand sich und schlug ungeheure Reifen, um zu sehen, ob auch jeder Zoll seines mächtigen Körpers biegsam und geschmeidig wäre. Unterdessen tobte der Kampf mit Balu weiter, und die Affen an der Zisterne schrien gellend gegen Baghira an. Mang, die Fledermaus, schwirrte hin und her über der schlafenden Dschungel, Kunde bringend von der großen Schlacht in »Cold Lairs«, bis zuletzt Hathi, der wilde Elefant, erregt zu trompeten begann und verstreute Gruppen der Affenvölker hochkamen und von weit her die Baumstraßen hastend durchliefen, um den Freunden und Brüdern zu helfen. Selbst die Tagesvögel flatterten unruhig auf den Ästen.

Und nun kam Kaa, eilig, hungrig und begierig, zu töten.

Die Kampfesstärke einer Pythonschlange liegt in der furchtbaren Stoßkraft des Kopfes, der mit der ganzen Wucht und Macht des ungeheuren Körpers nach rückwärts geschnellt wird. Denkt euch, ein Sturmbock, wie er früher zum Brechen der Stadtmauern benutzt wurde, oder ein tausend Pfund schwerer Schmiedehammer besitze Leben, und in dem langen Stiele wohne kalter, berechnender Geist, der das Werkzeug regiert, dann könnt ihr euch ungefähr eine Vorstellung von Kaa, dem Kämpfenden, machen. Er war gut dreißig Fuß lang, wie ihr wißt, und eine nur vier oder fünf Fuß große Pythonschlange vermag schon einen ausgewachsenen Mann niederzustoßen.

Den ersten Stoß richtete Kaa gegen die Mitte der dichten Masse um Balu – es war ein Stoß mit geschlossenem Munde, in tiefstem Schweigen… und kein zweiter war nötig. Entsetzen packte die Affen, und mit dem Schrei: »Kaa! Es ist Kaa! Fort! Fort!« flohen sie davon wie Frösche vor dem Reiher.

Wie man bei uns die Kinder mit dem schwarzen Mann schreckt, so hatten Generationen junger Affen alle Untaten gelassen, wenn ihnen die Eltern mit Kaa drohten, dem Nachträuber, der auf den Ästen entlanggleitet, so geräuschlos, wie das Moos auf ihnen wächst; von Kaa, dem Gewaltigen, der den allerstärksten Affen töten kann, wenn er ihn nur mit der Nase berührt; von Kaa, dem schlauen Schurken, der einen morschen Ast oder einen alten Baumstumpf so täuschend nachzuahmen vermag, daß auch der weiseste Affe sich irreführen läßt, bis plötzlich der Baum zu leben beginnt und sein zappelndes Opfer verschlingt. Kaa war der Inbegriff alles dessen, was die Affen im Dschungel fürchteten, denn kein Wesen kannte die Grenzen seiner Macht, niemand vermochte ihm in die stechenden Augen zu sehen, und keiner war bisher aus seiner Umschlingung mit dem Leben davongekommen. Und so flüchteten sie, so schnell die zitternden Füße sie tragen konnten, von Grauen gepackt, auf die Mauern und Dächer der Häuser. Balu atmete erlöst auf; sein Fell war viel dicker als Baghiras, aber dennoch hatte er Haare gelassen in dem tollen Kampfe. Und jetzt öffnete Kaa zum erstenmal den Rachen und stieß ein einziges, langes, zischendes Wort hervor; und die Affen, die von weit her aus des Dschungels zur Stadt herbeieilten, hielten plötzlich an und drängten sich bebend dicht zusammen, bis das beladene Geäst sich knackend bog unter der Last. Die Affen auf den Mauern und Häuserruinen verstummten, und in der Grabesstille, die plötzlich über der Stadt lag, hörte Mogli, wie Baghira triefend und sich schüttelnd dem Wasserbecken entstieg. Dann begann das Geheul von neuem. Die Affen sprangen bis zu den höchsten Spitzen der Trümmer; sie umklammerten wie hilfesuchend die großen Steingötzen und irrten ziellos zwischen den Mauerresten umher. Mogli im Sommerhause tanzte vor Freude, sah durch das marmorne Netzwerk und heulte wie eine Eule, um den Affen seine Verachtung zu zeigen.

»Hole das Menschenjunge dort aus der Falle; ich kann mich kaum noch rühren«, ächzte Baghira. »Und dann laß uns machen, daß wir fortkommen. Sie greifen vielleicht wieder an.«

»Keiner wird sich regen ohne meinen Willen. Verharrt! – Rührt euch nicht – keinen Mucks! Ssss!« zischte Kaa, und wieder lag Grabesstille über der Stadt. »Ich konnte nicht früher kommen, Bruder, aber mir war’s, als ob ich deinen Hilferuf hörte.« Das galt Baghira.

»Eh? Meinen… was?… Ich… ja, es wird wohl mein Kampfschrei gewesen sein. Übrigens, Balu, wie bist du davongekommen?«

»Mir scheint, sie haben mich in hundert kleine Bären zerreißen wollen«, brummte Balu, sich die Beine leckend, eins nach dem andern. »Wuff! Zerschunden bin ich am ganzen Körper! Kaa, ich glaube, wir schulden dir unser Leben – Baghira und ich.«

»Hat nichts zu sagen. Wo ist das Menschenjunge?«

»Hier in einer Falle. Ich kann nicht heraus«, rief Mogli. Die Wölbung des herabgefallenen Daches versperrte ihm den Ausgang.

»Hole ihn heraus, so schnell wie möglich. Er tanzt umher wie Mor, der Pfau. Er wird unsere Jungen zertreten!« riefen die Kobras.

»Ha!« kicherte Kaa. »Er hat überall Freunde, dieser Mannling! Tritt zurück, kleiner Mensch, und ihr, Giftvölker, versteckt euch mit euren Jungen. Ich lege die Mauer um!«

Kaa prüfte die Seitenwand sorgfältig, bis er einen wettergeschwärzten Riß fand, der eine schwache Stelle verriet. Kaa schlug zwei- oder dreimal mit dem Kopfe leicht gegen die Wand, um die Stärke zu prüfen; dann hob er sechs Fuß seines Körpers senkrecht in die Höhe und schnellte den Kopf wie einen Schmiedehammer gegen den Stein – einmal – zweimal – dreimal immer gerade mit der Nase voran. Das Gestein dröhnte, ächzte, bröckelte und fiel dann krachend und eine Staubwolke aufwirbelnd zusammen. Mogli sprang durch die Öffnung hervor, stürzte sich zwischen Balu und Baghira und schlang seine Arme um je einen mächtigen Nacken seiner Freunde.

»Bist du verletzt?« fragte Balu, ihn zärtlich betastend.

»Hungrig bin ich und zerschunden – aber oh! wie schlimm haben sie euch zugerichtet, meine Brüder! Ihr blutet ja beide!«

»Andere auch«, sagte Baghira, seine Lippen leckend, und blickte auf die toten Affen, die auf der Terrasse und am Wasserbecken umherlagen.

»Nichts, alles nichts, wenn du nur mit heiler Haut davongekommen bist. Oh, mein bester kleiner Honigfrosch!« grunzte Balu.

»Nun, darüber werden wir später noch ein Wort zu sprechen haben«, meinte Baghira in einem Tone, bei dem es Mogli etwas unbehaglich wurde. »Aber hier ist Kaa, dem wir den Sieg verdanken und dem du, Mogli, dein Leben schuldest. Erstatte ihm Dank nach unserer Sitte.«

Mogli wandte sich um und sah den Kopf des Pythons einen Fuß über dem seinen hin und her schwingen.

»Also das ist der Mannling!« sprach Kaa. »Sehr weich ist seine Haut und hat mit den Bandar-log rechte Ähnlichkeit. Sieh dich vor, kleiner Mann, daß ich dich nicht für einen Affen halte im Zwielicht, wenn ich die Haut gewechselt habe.«

»Wir sind vom gleichen Blute, du und ich!« antwortete Mogli. »Du hast mich vom Tode errettet heute nacht, und es gehört dir alles, was ich in Zukunft erlege, wenn du hungrig bist, Kaa!«

»Sehr verbunden, kleiner Bruder!« sagte Kaa mit ernsthaftem Gesichte, wenn er auch mit den Augen blinzelte. »Und was erlegt denn ein so kühner Jäger? Ich frage nur, damit ich auf deiner nächsten Pirsch deinen Spuren folgen kann!«

»Ich töte nichts – jetzt noch nicht – ich bin noch zu klein – aber wenn ich jage, treibe ich meinen Freunden wilde Ziegen zu. Darauf verstehe ich mich vortrefflich. Wenn du hungrig bist, komm nur getrost zu mir und überzeuge dich, ob ich die Wahrheit spreche. Flink und geschickt bin ich mit diesen hier«, er zeigte seine Hände, »und wenn du je in eine Falle gerätst, dann kann ich dir vielleicht die Schuld zurückbezahlen… dir und Baghira und Balu… denn ihr alle habt ja für mich gekämpft. Große Jagd euch allen, meine Lehrmeister!«

»Wohl gesprochen«, brummte Balu, denn Mogli hatte seinen Dank recht hübsch abgestattet. Kaa ließ seinen Kopf ein paar Fuß herab und legte ihn leicht auf Moglis Schulter. »Hast ein braves Herz, Mannling!« zischte er. »Und eine höfliche Zunge! Damit wirst du weit kommen im Dschungel. Aber nun gehe schnell fort von hier mit deinen Freunden. Geh und leg dich schlafen, denn der Mond geht unter, und was nun folgt – das ist nichts für dich, Söhnchen!«

Die Silberscheibe des Mondes versank hinter den Hügeln, und die Reihen der zitternden Affen, zusammengeduckt auf Mauern und Trümmern, erschienen wie zerfranstes Gezack der Ruinen. Balu trabte zum Wasserbecken, um sich mit einem Trunk zu laben; Baghira leckte und putzte sein Fell. Kaa aber glitt lautlos in die Mitte der weiten Terrasse und schnappte mit klingendem Ruck die starken Kiefer zusammen, worauf die verharrenden Affen starr die Blicke auf Kaa richteten.

»Der Mond geht unter«, zischte Kaa. »Könnt ihr mich noch alle sehen?«

Von den Mauern hallte es, als ob der Wind in den Wipfeln stöhnte: »Wir sehen dich, Kaa!«

»Gut. Nun beginnt der Tanz – der Jagdtanz Kaas! Sitzt stille! Seht her!« Er glitt zwei- oder dreimal in großem Kreise umher und schwang tänzelnd im Takte den Kopf zur Rechten und zur Linken, als höre er eine geheimnisvolle Musik. Dann begann er mit seinem Körper Schleifen und Achterfiguren zu bilden, große Knäuel und Knoten, die lebten und unentwirrbar schienen, bis sie geräuschlos im Augenblicke auseinanderschlüpften – gleitende, gebogene Dreiecke, die sich in Vierecke, Kreise und Arabesken verwandelten; und während der glatte, buntscheckige Körper plötzlich in die Erde zu verschwinden und dann wieder ringelnd zum Himmel aufzuragen schien – immer raschelnd, raschelnd, raschelnd –, tönte Kaas leiser, zischender Zaubergesang.

Balu und Baghira standen wie zu Stein erstarrt – in ihren Kehlen rasselte mühsam der Atem, ihr Nackenfell sträubte sich, während Mogli voll Staunen und Grauen zusah.

Es wurde dunkler und dunkler. Die wirren Figuren schwanden in der Nacht, aber man konnte das Rascheln der schlürfenden Schuppen deutlich vernehmen.

»Bandar-log«, sang die Stimme Kaas, »könnt ihr Hand oder Fuß noch regen wider meinen Willen? Sprecht!«

»Wider deinen Willen kann keiner von uns regen Hand oder Fuß, o Kaa«, hauchten die Affen.

»Gut. Kommt alle einen Schritt näher zu mir!«

Die Reihen der Affen schwankten hilflos nach vorn – auch Balu und Baghira folgten mechanisch dem Befehle der Schlange.

»Näher!« zischte Kaa; wieder schwankten sie einen Schritt vor.

Mogli legte die Hände auf Balu und Baghira, um sie dem Zauber der Schlange zu entreißen; und die beiden gewaltigen Tiere schreckten zusammen, wie aus einem Traum erwacht.

»Halte deine Hand fest auf meiner Schulter«, keuchte Baghira. »Laß mich nicht los – oder ich muß hin zu Kaa – muß hin zu Kaa. Ah!«

»Was hast du? Es ist ja nur der närrische Kaa, der im Staube seine Kreise schlägt«, sagte Mogli. »Aber wir wollen fort von hier.« Und die drei stahlen sich durch eine Öffnung der Mauer und trabten fort in die Dschungel.

»Wuff!« ächzte Balu, als er wieder unter den stillen Bäumen stand. »Nie mehr in meinem ganzen Leben verbünde ich mich mit Kaa.« Und er schüttelte sich am ganzen Körper.

»Er weiß mehr als wir«, sagte auch Baghira zitternd. »Wäre ich geblieben – nur noch ein paar Minuten –, so hätte ich selbst den Weg in seinen Schlund angetreten.«

»Viele werden diesen Weg wandern, ehe der Mond wieder aus den Tälern steigt«, meinte Balu. »Gute Jagd wird er haben – auf seine Art.«

»Aber was bedeutet das alles?« fragte Mogli, der nichts von den hypnotischen Kräften eines Pythons wußte. »Ich sah nur eine große Schlange närrische Kreise schlagen, bis die Nacht kam. Und ihre Nase war ganz wund. Ha! Ha!«

»Mogli«, knurrte Baghira ärgerlich, »wenn er sich verletzt hat, so geschah es nur deinetwegen, so wie meine Ohren und Tatzen deinetwegen zerbissen sind; und sieh nur auf deinen alten Lehrer Balu, wie er zerzaust ist, es war alles deinetwegen. Wir zwei werden so bald nicht wieder fröhlich jagen können.«

»Laß nur gut sein«, brummte Balu. »Wir haben unser Menschenjunges wieder!«

»Ganz recht, aber wir haben teuer für ihn bezahlt. Denke nur, was wir an Zeit für die Jagd verloren haben und an Haaren und – vor allen Dingen – an Ehre und Ansehen. Denn, denke daran, Mogli, ich, der schwarze Panther, erniedrigte mich so weit, Kaa um Hilfe anzurufen, und Balu sowohl wie ich wurden gebannt wie kleine Vögel von Kaas Jagdtanz! Und das alles kam nur, Menschenjunges, von deinem Spielen mit den Bandar-log.«

»Wahr! Es ist alles wahr!« sagte Mogli mit aufrichtiger Reue. »Ein schlechtes Menschenjunges bin ich, und Kummer sitzt mir in den Eingeweiden.«

»Mf! Was sagt das Gesetz des Dschungels, Balu?«

Balu hatte keine Lust, seinem Schüler noch weitere Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber mit dem Gesetz durfte man nicht Spaß treiben. Und deshalb murmelte er: »Reue schützt vor Strafe nicht! Aber bedenke, Baghira, er ist klein!«

»Ich weiß, aber er hat Unrecht begangen und muß dafür seine Schläge haben. Mogli, hast du noch etwas vorzubringen?«

»Nein, ich tat unrecht. Balu und du, ihr blutet. Ich habe Strafe verdient.«

Baghira gab ihm ein halbes Dutzend Klapse… sanfte Schläge vom Standpunkte eines Panthers aus (sie würden kaum eines seiner Jungen aus dem Schlafe geweckt haben), doch für einen siebenjährigen Knaben waren sie eine ganz gehörige Tracht Prügel. Als es vorüber war, schüttelte sich Mogli, nieste einmal und rieb sich, aber sagte kein Wort.

»Nun, nun«, schnurrte Baghira, »auf meinen Rücken, kleiner Bruder. Wir wollen nach Hause.«

Das ist im Dschungelgesetz eine ganz prächtige Einrichtung: Wenn man seine Strafe erhalten hat, ist alles vergessen und vergeben. Da gibt es kein langes Brummen und Grollen.

Mogli legte den Kopf auf Baghiras weichen Rücken und schlief so fest, daß er nicht einmal erwachte, als man ihn in der Höhle seiner Wolfseltern niederlegte.

Und nun zurück zur ersten Geschichte.

Wanderlied des Affenvolkes

Wanderlied des Affenvolkes

Wir schwingen uns, ein fliegender Kranz,
Halbwegs bis zum neidischen Mond im Tanz.
Bewunderst du nicht unsere prächtige Schar,
Hätt’st gern noch ein Extrahändepaar?
Möchtest du nicht, geschweift wär’ dein Schwanz
Wie Amors Bogen – voll Eleganz?
Nun bist du böse. Doch glaube mir,
Bruder, dein Schwanz hängt hinter dir.

Hier sitzen wir im Gezweig und beraten
Viel schöne Pläne und große Taten.
Doch träumen wir nur von Dingen,
Die im Ernst wir doch nie vollbringen.
Was edel ist und klug und fein,
Tun wir durch Wünschen ganz allein.
Schon ist’s vergessen. Doch glaube mir,
Bruder, dein Schwanz hängt hinter dir.

Alles Geschwätz, das wir brachten nach Haus,
Vom Vogel, vom Wolf und der Fledermaus,
Wir schnattern es nach und alle zugleich.
Noch einmal! wie herrlich, wie rhythmenreich!
Wahrhaftig, jetzt sind wir den Menschen gleich.
Gut, seien wir’s – doch glaube mir,
Bruder, dein Schwanz hängt hinter dir.
Das ist so recht der Affen Manier.

Komm, reih’ dich unsern Scharen ein,
Die hoch in den Bäumen springen,
Die mit des Dschungels wildem Wein
Sich stolz in die Lüfte schwingen.
Wir schwören, beim Schmutz auf unserm Pfad,
Bald kommt sie, die große, erlösende Tat.