2. Werbet ein Landstreicher!

Der Archidiaconus fand, als er nach dem Kloster zurückkehrte, an der Thür seiner Zelle seinen Bruder Johann-du-Moulin, welcher ihn erwartete, und der sich die Langeweile des Wartens damit vertrieben hatte, daß er mit einer Kohle das Profil seines Bruders, mit einer riesigen Nase geschmückt, an die Mauer zeichnete.

Dom Claude beachtete kaum seinen Bruder; er hatte andere Sorgen. Das fröhliche Antlitz des Taugenichts, dessen freudiger Ausdruck so viele Male die düstere Physiognomie des Priesters wieder aufgeheitert hatte, war jetzt ohnmächtig, den Schatten zu zerstreuen, der sich mit jedem Tage dichter über diese verderbte, mephitische und sumpfige Seele senkte.

»Lieber Bruder,« sagte Johann schüchtern, »ich komme, um Euch zu besuchen.«

Der Archidiaeonus wandte kaum die Blicke nach ihm hin. »Weiter!«

»Lieber Bruder,« fuhr der Heuchler fort, »Ihr seid so gütig gegen mich, und Ihr gebt mir so gute Rathschläge, daß ich immer wieder zu Euch zurückkehre.«

»Was weiter?«

»Ach! lieber Bruder, Ihr hattet wohl Recht, als Ihr mir sagtet: ›Johann! Johann! cessat doctorum doctrina, discipulorum disciplina. 63 Johann, werdet vernünftig, Johann, lernt etwas, Johann, bleibt die Nächte nicht aus der Schule weg ohne triftigen Grund und ohne die Erlaubnis des Lehrers. Prügelt Euch nicht mit den Picarden herum ( noli Johannes, verberare Picardos). Verfaulet nicht, wie ein ungelehrter Esel ( quasi asinus illiteratus) auf dem Schulstroh. Johann, laßt Euch nach Belieben des Lehrers bestrafen. Johann, gehet alle Abende zur Kapelle, und singet dort zu Ehren unserer lieben Frau, der ruhmreichen Jungfrau Maria, eine Antiphonie mit Bibelvers und Gebet‹ Wehe! was waren das für ausgezeichnete Rathschläge!«

»Und dann?«

»Lieber Bruder, Ihr sehet einen Schuldigen, einen Verbrecher, einen Elenden, einen ausschweifenden Gesellen, einen abscheulichen Menschen vor Euch! Mein theurer Bruder, Johann hat aus Euern Rathschlägen Stroh und Mist gemacht, um mit den Füßen darauf herumzutreten. Ich bin dafür sehr gestraft, und der liebe Gott ist außerordentlich gerecht. So lange ich Geld hatte, habe ich geschmaust, Thorheiten getrieben und ein lustiges Leben geführt. Ach! wie häßlich und verdrießlich ist ein liederliches Leben, so sehr es einen anfangs anlachte, am Ende! Jetzt besitze ich keinen Weißpfennig mehr; ich habe mein Tischtuch, mein Hemde und mein Handtuch verkauft; aus ist es mit dem lustigen Leben! Die schöne Kerze ist verloschen, und ich habe nur noch den häßlichen Talgdocht, der mir in die Nase stinkt. Die Mädchen machen sich lustig über mich. Ich trinke Wasser. Ich werde von Gewissensbissen und Gläubigern gemartert.«

»Das Ende?« sagte der Archidiaconus.

»Ach! allertheuerster Bruder, ich möchte gern zu einem bessern Lebenswandel zurückkehren. Ich komme voll Zerknirschung zu Euch. Ich empfinde Reue. Ich bekenne es. Ich zerschlage meine Brust mit mächtigen Faustschlägen. Ihr hattet sehr Recht mit Eurem Wunsche, daß ich eines Tages Licenciat und Untermonitor am Collegio Torchi werden sollte. Auf einmal fühle ich jetzt ein glänzendes Talent für diesen Stand in mir. Aber ich habe keine Tinte mehr, ich muß mir wieder welche kaufen; ich habe keine Federn mehr, die muß ich mir wieder besorgen; ich habe kein Papier, keine Bücher mehr, das alles muß ich mir wieder anschaffen. Dafür gebrauche ich nothwendig ein wenig baares Geld, und ich komme zu Euch, lieber Bruder, voller Zerknirschung.«

»Ist das alles?«

»Ja,« sagte der Schüler. Ein wenig Geld.«

»Ich habe keins.«

Da sagte der Student mit ernster und zugleich entschlossener Miene:

»Nun gut! lieber Bruder. Es thut mir leid, Euch sagen zu müssen, daß man mir andererseits sehr schöne Anerbieten und Vorschläge gemacht hat. Ihr wollt mir also kein Geld geben? … Nein? … In diesem Falle gehe ich und werde ein Landstreicher.«

Während er dieses furchtbare Wort aussprach, nahm er eine Ajaxmiene an, weil er sich darauf gefaßt machte, den Blitz auf sein Haupt fallen zu sehen.

Der Archidiaconus sagte in kaltem Tone zu ihm:

»Werdet Landstreicher!«

Johann grüßte ihn mit tiefer Verbeugung und stieg pfeifend die Klostertreppe wieder hinunter.

In dem Augenblicke, wo er im Hofe des Klosters, unter dem Fenster der Zelle seines Bruders vorbeiging, hörte er, wie dieses Fenster sich öffnete; er hob die Nase in die Höhe und sah das strenge Haupt des Archidiaconus durch die Oeffnung herausfahren.

»Scher‘ dich zum Teufel!« rief Dom Claude, »hier ist das letzte Geld, das du von mir bekommen wirst.«

Zu gleicher Zeit warf der Priester seinem Bruder Johann eine Börse zu, die dem Studenten eine dicke Beule an der Stirn verursachte, und mit welcher Johann, erzürnt und zufrieden zugleich, wie ein Hund, den man mit Markknochen werfen würde, davonging.

  1. Lateinisch: Es schwindet die Gelehrsamkeit der Gelehrten und der Eifer der Schüler. Anm. d. Uebers.

4. Steingut und Krystall.

Ein Tag nach dem andern ging dahin.

Nach und nach kehrte die Ruhe in Esmeralda’s Seele zurück. Das Uebermaß des Schmerzes, wie das Uebermaß der Freude sind gewaltsame Zustände, die nicht lange dauern. Das Herz des Menschen kann nicht lange in der äußersten Spannung verharren. Die Zigeunerin hatte so viel gelitten, daß ihr nur noch das Staunen darüber übrig blieb.

Mit der Sicherheit war die Hoffnung wieder bei ihr eingekehrt. Sie stand außerhalb der Gesellschaft, außerhalb des Lebens, aber sie ahnte dunkel, daß es vielleicht nicht unmöglich sein würde, in beide zurückzukehren. Sie war einer Verstorbenen ähnlich, die einen Schlüssel zu ihrem Grabe im Vorbehalte haben durfte.

Sie fühlte, wie nach und nach alle die schrecklichen Bilder von ihr wichen, welche sie so lange gequält hatten. Alle scheußlichen Trugbilder, Pierrat Torterue, Jacob Charmolue erloschen in ihrem Geiste, alle, sogar der Priester selbst.

Und dann war Phöbus am Leben; sie war dessen gewiß, sie hatte ihn gesehen. Das Leben von Phöbus war ihr alles. Nach der Reihe von Schicksalsschlägen, die alles in ihrer Seele niedergerissen hatten, hatte sie nur einen Gegenstand, nur eine Empfindung in ihrer Seele unerschüttert wiedergefunden: ihre Liebe zu dem Hauptmanne. Denn die Liebe ist wie ein Baum: sie treibt von selbst, schlägt ihre Wurzeln tief in unser ganzes Wesen, und grünt noch oft auf einem gebrochenen Herzen weiter.

Und was am unerklärlichsten dabei, ist, daß je blinder diese Leidenschaft ist, sie desto beharrlicher sich zeigt. Sie ist niemals standhafter, als wenn keine Befriedigung in ihr ist.

Zweifelsohne dachte die Esmeralda nicht ohne Bitterkeit an den Hauptmann. Es war ohne Zweifel entsetzlich, daß auch er getäuscht worden war, daß er jenes unmögliche Ding hatte glauben, daß er für möglich hatte halten können, der Dolchstich wäre von derjenigen hergekommen, die tausend Leben für ihn gegeben hätte. Aber schließlich durfte sie ihm nicht allzusehr zürnen: hatte sie »ihr Verbrechen« nicht eingestanden? War sie als schwaches Weib nicht der Tortur erlegen? Die ganze Schuld lag auf ihrer Seite. Sie hätte sich eher sollen die Nägel ausreißen, als ein solches Wort abdringen lassen. Wenn sie endlich Phöbus nur ein einziges Mal, nur eine einzige Minute wiedersähe, es sollte nur eines Wortes, eines Blickes bedürfen, um ihn zu enttäuschen, um ihn zurückzuführen. Sie zweifelte nicht daran. Sie beruhigte sich auch über viele auffällige Umstände, über die zufällige Anwesenheit von Phöbus am Tage der Kirchenbuße, über das junge Mädchen, mit dem sie ihn sah. Es war jedenfalls seine Schwester. Allerdings eine alberne Erklärung, über die sie sich aber beruhigte, weil es ihr Bedürfnis war, zu glauben, daß Phöbus sie immer noch liebte, und nur sie liebte. Hatte er es ihr nicht zugeschworen? Was bedurfte es für sie, naiv und leichtgläubig wie sie war, noch mehr? Und dann, sprachen nicht in dieser ganzen Angelegenheit die Umstände viel mehr gegen sie, als gegen ihn? Sie harrte also; sie hoffte.

Dazu kam, daß die Kirche, diese mächtige Kirche, welche sie von allen Seiten umgab, welche sie hütete und bewahrte, selbst eine ruhespendende Herrin war. Die feierlichen Linien dieses Baudenkmales, die heilige Haltung aller Gegenstände, welche das junge Mädchen umgaben, die frommen und ruhigen Gedanken, welche gleichsam aus allen Poren dieser Steinmasse entstiegen, wirkten unbewußt auf sie. Das Gebäude hatte seine Festgepränge von solcher Segenswirkung und Erhabenheit, daß sie diese kranke Seele beruhigten. Der eintönige Gesang der Priester, die Erwiderungsgesänge des Volkes an jene, welche bald unvernehmlich, bald donnernd erschallten, das harmonische Zittern der Fenster, die gleich hundert Trompeten schmetternde Orgel, die drei wie mächtige Bienenstöcke summenden Thürme, dieses ganze Orchester, über das eine gigantische und ohne Aufhören vom Volke zum Thurme auf- und absteigende Tonleiter hinbrauste: das alles betäubte ihr Gedächtnis, ihre Einbildungskraft, ihren Schmerz. Vornehmlich die Glocken wiegten sie ein. Es glich einem mächtigen Magnetismus, was dieses gewaltige Gepränge in breiten Fluten über sie ergoß.

Daher fand sie jede aufgehende Sonne ruhiger, wohler und weniger blaß. In dem Maße, wie ihre innern Wunden sich schlossen, erblühten ihre Anmuth und Schönheit, aber voller und frischer, wieder auf ihrem Antlitze. Ihre frühere Gemüthsart kehrte wieder, sogar etwas von ihrer Fröhlichkeit, die reizende Mundgeberde, ihre Liebe zur Ziege, ihre Lust am Gesänge, ihre Schamhaftigkeit. Sie trug Sorge, sich am Morgen im Winkel ihres Gemaches anzukleiden, aus Furcht, es möchte irgend ein Insasse der benachbarten Dachwohnungen sie durch das Fensterchen erblicken.

Wenn der Gedanke an Phöbus ihr Zeit dazu ließ, dachte die Zigeunerin zuweilen auch an Quasimodo. Das war das einzige Band, die einzige Verbindung, die einzige Gemeinschaft, welche ihr noch mit den Menschen, mit den Lebenden geblieben war. Die Unglückliche! sie stand in noch höherem Grade außerhalb der Welt, als Quasimodo. Sie wurde aus dem sonderbaren Freunde, den ihr der Zufall gegeben hatte, nicht klug. Oft machte sie sich Vorwürfe, daß sie nicht eine Dankbarkeit besaß, welche mitleidig die Augen zudrückte, aber sie konnte sich entschieden nicht an den Glöckner gewöhnen. Er war zu häßlich.

Sie hatte die Pfeife, welche er ihr gegeben hatte, auf der Erde liegen lassen. Das hinderte Quasimodo nicht, in den ersten Tagen von Zeit zu Zeit wieder zu erscheinen. Sie that ihr Möglichstes, sich nicht mit zu viel Widerstreben von ihm abzuwenden, wenn er erschien und ihr den Korb mit Lebensmitteln oder den Wasserkrug brachte; aber er bemerkte stets die geringste Regung dieser Art, und dann ging er traurig davon. Einmal kam er in dem Augenblicke dazu, wo sie Djali liebkoste. Er blieb einen Augenblick nachdenkend vor dieser anmuthigen Gruppe der Ziege und Zigeunerin stehen; endlich sagte er, seinen plumpen und mißgestalteten Kopf schüttelnd:

»Mein Unglück ist, daß ich noch zu sehr einem Menschen ähnlich sehe. Ich möchte völlig ein Thier, wie diese Ziege sein.«

Sie warf einen erstaunten Blick auf ihn.

Er antwortete aus diesen Blick:

»Ach! ich weiß wohl, warum.« Und dann entfernte er sich.

Ein andermal zeigte er sich an der Thüre der Zelle (in die er niemals eintrat) in dem Augenblicke, wo die Esmeralda eine alte spanische Ballade sang, deren Worte sie nicht verstand, aber welche in ihrem Ohre geblieben war, weil die Zigeunerinnen sie als kleines Kind damit in den Schlaf gesungen hatten. Bei dem Anblicke dieses häßlichen Gesichtes, das plötzlich und unvermuthet inmitten ihres Liedes sich zeigte, brach das junge Mädchen mit einer unfreiwilligen Schreckensgeberde ab. Der unglückliche Glöckner fiel auf der Schwelle der Thür auf die Knien und faltete mit einer flehenden Geberde seine breiten unförmlichen Hände. »Ach!« sagte er in schmerzlichem Tone, »ich beschwöre Euch, fahret fort und jagt mich nicht weg.« Sie wollte ihn nicht kränken und fing, am ganzen Leibe zitternd, ihre Romanze wieder an. Währenddem schwand ihr Schrecken immer mehr, und sie überließ sich ganz dem Eindrucke der schwermüthigen und langsamen Melodie, welche sie sang. Er war auf den Knien liegen geblieben, die Hände wie zum Gebete gefaltet, aufmerksam, kaum athmend und seinen Blick auf die glänzenden Augen der Zigeunerin geheftet. Man hätte meinen sollen, er vernähme ihren Gesang aus ihren Augen.

Ein andermal wieder kam er mit schüchterner und furchtsamer Miene zu ihr. »Höret mich an,« sagte er mit Ueberwindung, »ich will Euch etwas sagen.«

Sie gab ihm ein Zeichen, daß sie ihn höre. Er fing nun an zu seufzen, öffnete seine Lippen, schien einen Augenblick zum Sprechen bereit, sah ihr dann ins Gesicht, machte eine verneinende Bewegung mit dem Kopfe und entfernte sich, die Stirne in die Hand gedrückt, und die Zigeunerin ihrem Staunen überlassend, langsamen Schrittes.

Unter den phantastischen Menschengestalten, die an der Mauer in Stein gebildet waren, befand sich eine, zu der er ganz besonders Zuneigung gewonnen hatte, und mit der er oft brüderliche Blicke auszutauschen schien. Einmal hörte die Zigeunerin, wie er zu ihr sagte:

»Ach! warum bin ich nicht von Stein, wie du!«

Eines Tages endlich, an einem Morgen, war die Esmeralda bis an den Rand des Daches vorgetreten und sah über das spitze Dach von Saint-Jean-le-Rond weg auf den Platz hinunter. Quasimodo war auch da; er stand hinter ihr. Er stellte sich von selbst so hin, um dem jungen Mädchen so viel wie möglich die Unannehmlichkeit, ihn zu sehen, zu ersparen. Plötzlich schrak die Zigeunerin zusammen, eine Thräne und ein Freudenstrahl erglänzte zugleich in ihren Augen, sie sank am Rande des Daches auf die Knien nieder, streckte angstvoll ihre Arme nach dem Platze zu aus und rief: »Phöbus! komm! komm! ein Wort, ein einziges Wort, in des Himmels Namen! Phöbus! Phöbus!« Ihre Stimme, ihr Antlitz, ihre Geberde, ihre ganze Person zeigten den herzzerreißenden Ausdruck eines Schiffbrüchigen, welcher dem fröhlichen Schiffe, das in der Ferne am Horizonte im Sonnenstrahle vorbeisegelt, ein Nothzeichen giebt.

Quasimodo neigte sich auf den Platz hinab und sah, daß der Gegenstand dieser zärtlichen und verzweiflungsvollen Bitte ein junger Mann, ein Hauptmann, ein schöner, ganz in Waffenschmuck strahlender Reiter war, welcher im Hintergrunde des Platzes sein Pferd tummelte und mit dem Helmbusche eine schöne lächelnde Dame auf ihrem Balkon grüßte. Uebrigens hörte der Offizier die Unglückliche, welche ihn rief, nicht; er war zu entfernt.

Aber der arme Taube hörte es wohl. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust; er kehrte sich um; sein Herz war von allen Thränen, die er zurückdrängte, zum Zerspringen voll; seine krampfhaft zuckenden Fäuste fuhren nach seinem Kopfe, und als er sie zurückzog, hatte er in jeder Hand einen Büschel rother Haare.

Die Zigeunerin hatte keine Acht auf ihn.

Mit den Zähnen knirschend sagte er halblaut: »Verdammt! So also muß man beschaffen sein! Man braucht nur äußerlich schön zu sein!«

Währenddem war sie auf den Knien liegen geblieben und rief mit höchster Aufregung:

»Oh! das ist er, der vom Pferde steigt! … Er will in jenes Haus hineingehen! … Phöbus! … Phöbus! … Er hört mich nicht! … Phöbus! … Wie schändlich ist dieses Frauenzimmer, daß sie zu gleicher Zeit, wie ich, mit ihm spricht! Phöbus! … Phöbus! …«

Der Taube betrachtete sie. Er verstand dieses Geberdenspiel. Das Auge des armen Glöckners füllte sich mit Thränen, aber er unterdrückte sie. Plötzlich zog er sie sanft am Saume ihres Aermels. Sie wandte sich um. Er hatte eine ruhige Miene angenommen und sagte zu ihr:

»Wollt Ihr, daß ich ihn Euch hole?«

Sie stieß einen Freudenschrei aus.

»Auf! auf! gehet! lauf! schnell! Den Hauptmann! den Hauptmann! Bringet ihn mir her! Ich will dich lieb haben!«

Sie umfaßte seine Knien. Er konnte sich nicht enthalten mit schmerzlicher Geberde den Kopf zu schütteln.

»Ich will ihn Euch herbringen,« sagte er mit schwacher Stimme. Dann wandte er den Kopf ab und stürmte, von Schluchzen erstickt, in großen Schritten die Treppe hinunter.

Als er auf dem Platze anlangte, sah er nichts weiter, als das schöne Pferd, das an der Thüre des Hauses Gondelaurier angebunden war; der Hauptmann war eben in dasselbe eingetreten.

Er hob seinen Blick zum Dache der Kirche empor. Die Esmeralda befand sich immer noch dort an demselben Platze, in derselben Stellung. Er machte ihr eine traurige Kopfbewegung; dann lehnte er sich an einen der Ecksteine der Vorhalle am Hause Gondelaurier, entschlossen zu warten, bis der Hauptmann herauskäme.

Im Hause der Familie Gondelaurier fand eine jener Festlichkeiten statt, wie sie der Hochzeit vorherzugehen pflegen. Quasimodo sah viele Leute hineingehen und niemanden wieder herauskommen. Von Zeit zu Zeit sah er nach dem Dache hinauf; die Zigeunerin rührte sich ebenso wenig wie er. Ein Stallknecht kam heraus, band das Pferd los und führte es in den Stall des Hauses. Auf diese Weise ging der ganze Tag dahin. Quasimodo saß am Ecksteine, die Esmeralda auf dem Dache, Phöbus ohne Zweifel zu den Füßen Fleur-de-Lys‘. Schließlich kam die Nacht heran: eine mondlose, dunkle Nacht. Quasimodo heftete vergebens seinen Blick auf die Esmeralda; bald war sie nur noch ein weißer Schein in der Dämmerung, dann unerkenntlich. Alles verlosch; alles wurde schwarz.

Quasimodo sah, wie sich die Fenster des Hauses Gondelaurier von oben bis unten an der Vorderseite erleuchteten; er sah auch die andern Fenster des Platzes eins nach dem andern hell werden; dann sah er sie auch bis aus das letzte erlöschen; denn er verharrte den ganzen Abend auf seinem Posten. Der Offizier kam nicht heraus. Als die letzten Wanderer auf den Straßen in ihre Wohnungen zurückgekehrt, als alle Fenster der übrigen Häuser erloschen waren, blieb Quasimodo ganz allein, ganz in Dunkel eingehüllt. Es gab damals noch keine Beleuchtung auf dem Vorhofe von Notre-Dame.

Währenddem waren die Fenster in der Wohnung der Frau Gondelaurier erhellt geblieben, selbst bis nach Mitternacht. Der regungslose und aufmerksame Quasimodo sah hinter den buntfarbigen Fenstern eine Menge lebhafter und tanzender Schatten vorüberschweben. Wenn er nicht taub gewesen wäre, so hätte er, in dem Maße wie der Lärm im schlafenden Paris verschwand, immer deutlicher im Innern des Hauses einen Festlärm, von Lachen und Musik untermischt, vernehmen können.

Gegen ein Uhr morgens begannen die Gäste sich zu entfernen. Quasimodo, in Nacht gehüllt, sah sie alle aus der kerzenerleuchteten Halle heraustreten. Keiner von ihnen war der Hauptmann.

Er war voll trauriger Gedanken; manchmal sah er in die Luft hinaus, wie Leute zu thun pflegen, die Langeweile haben. Große schwarze, schwere, zerrissene Wolken hingen tief wie Hängematten von Flor am gestirnten Nachthimmel. Man hätte sie die Spinneweben an der Himmelsdecke nennen können.

Während eines dieser Augenblicke sah er, wie sich auf einmal geheimnisvoll die Fensterthür des Balkons öffnete, dessen steinerne Brüstung über seinem Haupte hervorragte. Durch diese schmale Glasthüre traten zwei Personen ins Freie, hinter denen sie sich geräuschlos schloß: es war ein Mann und eine Frauensperson. Nicht ohne Anstrengung vermochte Quasimodo in dem Manne den schönen Hauptmann, in der Frauensperson die junge Dame zu erkennen, welche er am Morgen dem Offiziere den Willkommensgruß von demselben Balkon herab hatte entbieten sehen. Der Platz war völlig dunkel, und ein doppelter, purpurroter Vorhang, der in dem Augenblicke, wo die Thür sich geschlossen hatte, hinter ihr niedergefallen war, ließ das Licht des Zimmers kaum auf den Balkon dringen. Der junge Mann und das junge Mädchen schienen, so weit es unser Tauber, der nicht eins von ihren Worten vernahm, beurtheilen konnte, sich einem sehr zärtlichen Zwiegespräche zu überlassen. Das junge Mädchen schien dem Offiziere erlaubt zu haben, seinen Arm um ihren Leib zu schlingen, und leistete seinem Kusse nur schwachen Widerstand.

Quasimodo wohnte von unten dieser um so reizender anzuschauenden Scene bei, als sie nicht dazu bestimmt war, gesehen zu werden. Er betrachtete dieses Glück, diese Schönheit mit bitterem Gefühle. Die Natur war bei dem armen Teufel überhaupt nicht stumm, und sein Rückgrat, so garstig gekrümmt es sonst war, zitterte ebenso wie ein anderes. Er dachte an das elende Loos, welches die Vorsehung ihm bestimmt hatte; daß das Weib, die Liebe, die Wollust ewig vor seinen Augen vorüberfliehen würden, und daß er niemals etwas anderes erreichen würde, als bei der Glückseligkeit anderer den Zuschauer zu machen. Aber was ihn bei diesem Schauspiele am meisten schmerzte, zu seinem Verdrusse den Unwillen hinzufügte, das war, wenn er daran dachte, was die Zigeunerin leiden müßte, wenn sie das sähe. Freilich war die Nacht sehr dunkel und die Esmeralda, wenn sie an ihrem Platze geblieben wäre (woran er nicht zweifelte), sehr weit entfernt; und allerhöchstens konnte er nur ganz allein die Liebenden auf dem Balkone erkennen. Das tröstete ihn.

Indessen wurde ihre Unterhaltung immer feuriger. Das junge Mädchen schien den Offizier anzuflehen, nichts weiter mehr von ihr zu verlangen. Quasimodo erkannte von dem allen nur die schönen gefalteten Hände, das mit Thränen vereinigte Lachen, die zu den Sternen erhobenen Blicke des jungen Mädchens, und die feurig auf sie gerichteten Augen des Hauptmanns.

Glücklicherweise – denn das junge Mädchen leistete jetzt nur noch schwachen Widerstand – öffnete sich plötzlich die Thüre des Balkons; eine alte Dame zeigte sich: die Schöne schien verwirrt, der Offizier nahm eine ärgerliche Miene an, und alle drei gingen in das Zimmer zurück. Kurze Zeit darauf stampfte ein Pferd unter der Vorhalle, und der glänzende Offizier sprengte, in seinen Nachtmantel gehüllt, eilig an Quasimodo vorüber.

Der Glöckner ließ ihn um die Straßenecke biegen; dann fing er an, mit seiner Affenbehendigkeit hinter ihm herzulaufen und rief:

»Heda! Hauptmann!«

Der Hauptmann hielt sein Roß an.

»Was will der Schurke von mir?« rief er, als er in der Dunkelheit, diese Art lendenlahmer Gestalt bemerkte, die humpelnd auf ihn zulief.

Quasimodo war währenddem bei ihm. angelangt und hatte dreist den Zügel seines Pferdes ergriffen.

»Folget mir, Hauptmann; es ist jemand hier, der mit Euch sprechen will.«

»Beim Horne des Teufels!« murmelte Phöbus, »das ist ein häßlicher, struppiger Vogel, den ich, wie mir scheint, irgendwo gesehen habe. Holla! Meister, willst du wohl den Zügel meines Pferdes loslassen?«

»Hauptmann,« antwortete der Taube, »fragt Ihr mich nicht, wer es ist?«

»Ich sage dir, du sollst mein Pferd loslassen,« antwortete Phöbus ungeduldig geworden. »Was will dieser Kerl, daß er sich an den Stirnriemen meines Schlachtrosses hängt? Hältst du etwa mein Pferd für einen Galgen?«

Quasimodo, weit entfernt, den Zügel des Pferdes los zu lassen, schickte sich an, es zur Umkehr zu bringen. Weil er sich das Widerstreben des Hauptmannes nicht erklären konnte, so sagte er eilig zu ihm:

»Kommt, Hauptmann, es ist ein Weib, welches Euch erwartet.« Er fügte mit Anstrengung hinzu: »Ein Weib, welches Euch liebt.«

»Ein sonderbarer Wicht!« sagte der Hauptmann, »der da glaubt, ich sei verpflichtet, zu allen Weibern zu kommen, die mich lieben, oder es vorgeben … Und wenn sie zufällig dir ähnlich sieht, du Nachteulengesicht? … Sage derjenigen, die dich schickt, daß ich mich verheirathen will, und daß sie sich zum Teufel scheren möge!«

»Höret an,« rief Quasimodo, der mit einem Worte sein Zögern zu besiegen glaubte, »kommet, gnädiger Herr! Es ist die Zigeunerin, die Ihr kennt!«

Dieses Wort machte in der That einen gewaltigen Eindruck auf Phöbus, jedoch nicht denjenigen, welchen der Taube davon erwartete. Man wird sich erinnern, daß unser galanter Offizier sich mit Fleur-de-Lys einige Augenblicke vorher zurückgezogen hatte, ehe Quasimodo die Verurteilte aus den Händen Charmolue’s errettete. Seitdem hatte er sich bei allen Besuchen im Hause der Frau Gondelaurier wohl gehütet, wieder von diesem Frauenzimmer zu sprechen, an die zu denken ihm, allem zufolge, peinlich war; und Fleur-de-Lys hatte es ihrerseits nicht für weltklug gehalten, ihm zu sagen, daß die Zigeunerin am Leben wäre. Phöbus hielt also die arme »Similar« für todt, und daß seitdem schon ein oder zwei Monate vergangen seien. Dazu kam, daß der Hauptmann seit einigen Augenblicken an die tiefe Dunkelheit der Nacht, an die übernatürliche Häßlichkeit, an die Grabesstimme des seltsamen Boten dachte; daß Mitternacht vorüber, die Straße öde war, wie an dem Abende, wo der gespenstige Mönch ihn angeredet hatte, und daß sein Pferd schnob, als es Quasimodo erblickte.

»Die Zigeunerin!« rief er fast entsetzt. »Nun denn, kommst du aus der andern Welt?«

Bei diesen Worten legte er die Hand an das Gefäß seines Degens.

»Schnell! schnell!« sagte der Taube, indem er versuchte, das Pferd fortzuziehen, »hierhin!«

Phöbus versetzte ihm einen kräftigen Fußtritt auf die Brust.

Quasimodo’s Auge funkelte. Er machte eine Bewegung, als ob er sich auf den Hauptmann stürzen wollte. Dann sagte er an sich haltend:

»Ach! wie glücklich seid Ihr, daß Ihr jemanden habt, der Euch liebt!«

Er sprach das Wort »jemanden« mit Nachdruck, ließ den Zügel des Pferdes fahren und rief:

»Hinweg mit Euch!«

Phöbus gab seinem Pferde fluchend die Sporen. Quasimodo sah ihn im Dunkel der Straße verschwinden.

»Ach!« sagte der arme Taube ganz leise, »so etwas auszuschlagen!«

Er kehrte nach Notre-Dame zurück, zündete seine Lampe an und stieg den Thurm wieder in die Höhe. Wie er gedacht hatte, so fand er die Zigeunerin immer noch auf derselben Stelle. Sobald sie ihn nur in der Ferne bemerkte, lief sie auf ihn zu.

»Allein!« rief sie, indem sie schmerzerfüllt ihre schönen Hände zusammenschlug.

»Ich habe ihn nicht wiederfinden können,« sagte Quasimodo kalt.

»Du hättest die ganze Nacht auf ihn warten sollen,« versetzte sie mit Heftigkeit.

Er sah ihre zornige Geberde, und verstand den Vorwurf.

»Ich will ihm ein andermal besser nachspüren,« sagte er den Kopf neigend.

»Hinweg mit dir!« sagte sie zu ihm.

Er verließ sie. Sie war unzufrieden mit ihm. Er hätte lieber von ihr gemißhandelt sein wollen, als sie betrüben mögen. Er hatte den ganzen Schmerz für sich behalten.

Von diesem Tage an sah ihn die Zigeunerin nicht mehr. Er vermied es, in ihre Zelle zu kommen. Höchstens sah sie bisweilen auf der Spitze eines Thurmes das Gesicht des Glöckners, das schwermüthig auf sie gerichtet war. Aber sobald sie ihn erblickte, verschwand er. Wir müssen sagen, daß sie wenig über diese freiwillige Abwesenheit des armen Buckligen betrübt war. Im Grunde ihres Herzens wußte sie ihm deshalb Dank. Uebrigens gab sich Quasimodo in dieser Hinsicht keiner Täuschung hin.

Sie sah ihn nicht mehr, aber sie fühlte die Gegenwart eines guten Geistes in ihrer Nähe. Ihre Mundvorräthe wurden von einer unsichtbaren Hand, während ihres Schlafes, erneuert. Eines Morgens fand sie an ihrem Fenster einen Käfig voll Vögel. Ueber ihrer Zelle befand sich ein Bildhauerwerk, welches ihr Furcht einflößte. Sie hatte es mehr als einmal vor Quasimodo geäußert. Eines Morgens (denn alle diese Dinge geschahen nachts) sah sie es nicht mehr; man hatte es abgebrochen. Derjenige, welcher bis zu jenem Bildhauerwerke geklettert war, hatte sein Leben wagen müssen.

Bisweilen hörte sie des Abends von einer Stimme, die unter dem Wetterdache des Thurmes verborgen war, ein trauriges und sonderbares Lied erklingen, als ob man sie in den Schlaf singen wollte. Es waren reimlose Verse, wie ein Tauber sie machen kann:

Sieh auf das Gesicht nicht,
Junges Mädchen, sieh aufs Herz.

Häßlich ist oft eines schönen Mannes Herz.
Herzen giebt es, wo die Lieb‘ nicht treu verharrt.

Schön ist nicht die Tanne, junges Mädchen,
Ist so schön nicht wie die Pappel,
Aber sie bewahrt im Winter ihre Blätter.

Ach! was kann es helfen, das zu sagen?
Was nicht schön ist, hat kein Recht zu sein;
Schönheit liebt allein nur Schönheit,
Dem April zeigt Januar den Rücken.

Nur die Schönheit ist vollkommen,
Schönheit nur allein kann alles.
Schönheit ist das Ding allein, das nicht halb vermag zu sein!

Nur am Tage fliegt der Rabe,
Nur die Eule fliegt bei Nacht;
Tag und Nacht doch fliegt der Schwan.

Eines Morgens sah sie, als sie erwachte, in ihrem Fenster zwei Vasen mit Blumen gefüllt. Die eine war eine sehr schöne und sehr glänzende Vase, aber gesprungen. Sie hatte das Wasser, mit dem sie gefüllt war, herausrinnen lassen, und die Blumen, welche sie enthielt, waren verwelkt. Die andere war ein Gefäß aus Steingut, plump und gewöhnlich, aber welches sein ganzes Wasser behalten hatte, und dessen Blumen frisch und hochroth geblieben waren.

Ich weiß nicht, ob es absichtlich geschah: genug, die Esmeralda nahm den verwelkten Strauß und trug ihn den ganzen Tag an ihrem Busen.

An diesem Tage hörte sie die Stimme aus dem Thurme nicht singen.

Sie machte sich nur geringe Sorgen darum. Sie verbrachte ihre Tage damit, Djali zu liebkosen, die Thüre zum Hause der Frau Gondelaurier zu beobachten, sich ganz leise mit Phöbus zu unterhalten und den Schwalben Brotkrumen hinzustreuen.

Uebrigens hatte sie völlig darauf verzichtet, Quasimodo zu hören und zu sehen. Der arme Glöckner schien aus der Kirche verschwunden zu sein. Eines Nachts jedoch, als sie nicht schlief und an ihren schönen Hauptmann dachte, hörte sie neben ihrer Zelle etwas seufzen. Erschrocken stand sie auf und sah beim Scheine des Mondes eine unförmliche Masse, welche quer vor ihrer Thüre lag. Es war Quasimodo, welcher dort auf dem Steinboden schlief.

5. Die Mutter.

Ich glaube nicht, daß es in der Welt etwas Lieblicheres giebt, als die Gedanken, welche beim Anblicke eines kleinen Schuhes ihres Kindes im Herzen einer Mutter erwachen: vornehmlich wenn es ein Festtagsschuh, etwa für die Sonntage oder für die Taufe ist; ein Schuh, der bis unter die Sohle mit Stickereien bedeckt ist; ein Schuh, mit dem das Kind noch nicht einen Schritt gemacht hat. Dieser Schuh aber ist so reizend und klein, er kann so unmöglich seinen Marsch machen, daß es der Mutter so vorkommt, als ob sie ihr Kind sähe. Sie lacht ihn an, sie küßt ihn, sie spricht mit ihm; sie fragt sich, ob es in Wahrheit möglich ist, daß ein Fuß so klein sei und, wäre das Kind etwa abwesend, so bedarf es nur des kleinen Schuhes, um ihr das süße, zarte Geschöpf vor die Augen zu zaubern. Sie glaubt es zu sehen, sie sieht es, wie es leibt und lebt: munter, fröhlich, mit seinen zarten Händchen, seinem runden Kopfe, seinen reinen Lippen, seinen heitern Augen, in denen das Weiße blau schimmert. Ist es Winter, so ist es da; es kriecht auf dem Teppiche, es klettert mühsam aus eine Fußbank, und die Mutter zittert, daß es dem Feuer zu nahe kommt. Ist es Sommer, so schleicht es im Hofe, im Garten herum, zupft das Gras zwischen den Pflastersteinen heraus, betrachtet unbefangen die großen Hunde, die großen Pferde, ganz ohne Furcht; spielt mit den Muscheln, mit den Blumen, und bringt den Gärtner zum Schelten, wenn er Sand auf den Rabatten und Erde in den Wegen findet. Alles lacht, alles glänzt, alles spielt um es herum, wie es selbst thut, – sogar der Lufthauch und der Sonnenstrahl, die um die Wette in seinen närrischen Haarlocken spielen. Der Schuh zeigt alles das der Mutter und läßt ihr das Herz, wie Feuer eine Wachskugel, schmelzen.

Aber wenn das Kind abhanden gekommen ist, so werden diese tausend Bilder der Freude, des Entzückens, der Zärtlichkeit, die sich um den kleinen, gestickten Schuh zusammendrängen, zu ebenso viel entsetzlichen Dingen. Der reizende, gestickte Schuh ist dann nichts weiter, als ein Marterwerkzeug, das ewig das Herz der Mutter zermalmt. Es ist ja stets dieselbe Herzensfaser, welche zittert, die stärkste und empfindlichste Fiber; aber an Stelle eines Engels, der sie liebkost, ist es ein Teufel, welcher sie peinigt.

Eines Morgens, während die Maisonne an einem dieser tiefblauen Himmel emporstieg, wie ihn Garofolo liebt, um seine Kreuzabnahmen darauf zu malen, hörte die Büßerin im Rolandsthurme einen Lärm von Wagenrädern, Pferden und eisernen Gerätschaften auf dem Grèveplatze. Sie erwachte darüber kurze Zeit aus ihrer Betäubung, knotete ihre Haare über den Ohren zusammen, um sie gegen das Geräusch zu verschließen, und begann wieder den leblosen Gegenstand zu betrachten, den sie, nun seit fünfzehn Jahren auf den Knien liegend, anbetete. Dieser kleine Schuh war, wie wir schon gesagt haben, für sie die Welt. Ihr Denkvermögen war in ihm eingeschlossen und sollte erst mit dem Tode davon ablassen. Was sie an herben Verwünschungen, rührenden Klagen, Gebeten und Seufzern beim Anblicke dieses niedlichen, rothseidenen Schuhes zum Himmel emporgeschleudert, hatte die dunkle Höhle des Rolandsthurmes allein erfahren. Niemals waren mehr hoffnungslose Thränen um einen niedlichern und reizendern Gegenstand vergossen worden. An diesem Morgen jedoch schien ihr Schmerz noch heftiger, als gewöhnlich, hervorzubrechen, und man hörte von draußen mit lauter, einförmiger und herzzerreißender Stimme jammern.

»O meine Tochter,« sprach sie, »meine Tochter! mein armes, liebes, kleines Kind: ich soll dich also nicht mehr sehen! Es ist also vorbei! Immer scheint es mir, als ob es gestern geschehen sei! Mein Gott! mein Gott! um sie mir so schnell wieder zu entreißen, wäre es besser gewesen, du hättest sie mir gar nicht gegeben. Weißt du denn nicht, daß unsere Kinder mit unserem Leibe zusammenhängen, und daß eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, nicht mehr an Gott glaubt? … Ach! wie elend bin ich nun, daß ich an jenem Tage das Haus verließ! … Herr! Herr! weil du sie mir so entrissen hast, hast du mich niemals mit ihr gesehen, wenn ich sie ganz entzückt an meiner Glut belebte, wenn sie, an meiner Brust liegend, mich anlachte, wenn ich ihre kleinen Füße über meine Brust hin bis zu meinen Lippen hinaufsteigen ließ? Ach! wenn du das gesehen hättest, mein Gott, würdest du Mitleid mit meiner Freude gehabt haben; würdest mir nicht die einzige Liebe genommen haben, die mir im Herzen zurückblieb! War ich denn eine so elende Creatur, Herr, daß du mich nicht ansehen mochtest, ehe du mich verdammtest? … Wehe! wehe! da ist der Schuh; der Fuß dazu – wo ist er? Wo ist das Uebrige? Wo ist das Kind? Meine Tochter, meine Tochter! Was haben sie mit dir gemacht? Herr, gieb sie mir wieder! Meine Knien sind wund durch ein fünfzehnjähriges Gebet zu dir, mein Gott! Ist das noch nicht genug? Gieb sie mir wieder, für einen Tag, eine Stunde, eine Minute; für eine Minute, Herr! und dann wirf mich für die Ewigkeit dem Teufel hin! Ach! wenn ich wüßte, wo ein Saum deines Kleides schleppt, ich wollte mich mit meinen beiden Händen daranklammern, und du solltest mir wohl mein Kind wiedergeben! Hier ist ihr kleiner Schuh, – hast du damit kein Erbarmen, Herr? Kannst du eine arme Mutter zu dieser Marter fünfzehn Jahre lang verdammen? Süße Jungfrau! süße Jungfrau im Himmel droben! mein eigenes Jesuskind hat man mir genommen, hat man mir gestohlen, hat man auf einer Haide gefressen; man hat sein Blut getrunken, seine Gebeine zermalmt! Heilige Jungfrau, habe Erbarmen mit mir! Meine Tochter muß ich haben! Was hilft es mir denn, daß es im Paradiese ist? Ich will nichts von deinem Engel wissen, ich will mein Kind! Ich bin eine Löwin, ich will meine kleine Löwin haben … Ach, ich will mich auf der Erde wälzen, ich will den Stein mit meiner Stirn zerschmettern, will mich verdammen und will dich verfluchen, Herr! wenn du mir mein Kind vorenthältst! Du siehst ja, daß ich ganz zerfleischte Hände habe, Herr! Hat denn der liebe Gott kein Erbarmen? … Ach, gieb mir nur Salz und schwarzes Brot, im Falle ich meine Tochter bekomme, und ich mich an ihr, wie an einer Sonne, erwärmen kann! Ach! Gott mein Herr, ich bin nur eine gemeine Sünderin, aber meine Tochter machte mich fromm und gut. Ich war voll Frömmigkeit aus Liebe zu ihr; und durch ihr Lächeln, mein Gott, blickte ich zu dir, wie durch eine Oeffnung des Himmels … Ach! könnte ich nur einmal, noch einmal, ein einziges Mal diesen Schuh an ihr reizendes, rosiges Füßchen stecken, und ich will sterben, süße Jungfrau und dich segnen! … Ach! fünfzehn Jahre! Sie würde jetzt groß sein! … Unglückliches Kind! wie? es ist also doch wahr: ich soll sie nicht mehr wiedersehen, nicht einmal im Himmel! Denn, ich werde nicht dahin kommen, ich. O welches Elends zu sagen, daß das ihr Schuh ist, und sonst nichts weiter!«

Die Unglückliche hatte sich auf diesen Schuh, ihren Trost und ihre Verzweiflung so viele Jahre hindurch, niedergeworfen, und ihr Herz zerriß vor Jammer, wie am ersten Tage. Denn für eine Mutter, welche ihr Kind verloren hat, bleibt das immer der erste Tag. Dieser Schmerz bleibt ja immer neu. Die Trauergewänder können sich wohl abtragen und verbleichen, das Herz bleibt immer in Trauer.

In diesem Augenblicke zogen frische und fröhliche Kinderstimmen an der Zelle vorüber. Jedesmal, wenn Kinder ihr in die Augen fielen, oder deren Lärm ihr Ohr traf, stürzte die arme Mutter in den finstersten Winkel ihres Grabes, und man hätte behaupten mögen, daß sie ihr Haupt in die Mauer zu verstecken versuchte, um sie nur nicht zu hören. Diesmal richtete sie sich im Gegentheil plötzlich in die Höhe und horchte begierig. Einer der kleinen Knaben hatte eben gesagt:

»Heute wird man eine Zigeunerin hängen.«

Mit dem raschen Sprunge jener Spinne, die wir beim Zittern ihres Netzes sich auf eine Fliege haben stürzen sehen, eilte sie an ihre Luke, die, wie man weiß, auf den Grèveplatz hinausging. In der That war eine Leiter an dem ständigen Galgen aufgerichtet, und der Henker war damit beschäftigt, die vom Regen verrosteten Ketten wieder in Ordnung zu bringen. Ringsherum standen einige Leute als Zuschauer. Der muntere Kinderhaufen war schon in der Ferne. Die Nonne suchte mit den Augen nach einem Vorübergehenden, den sie befragen könnte. Sie wurde dicht neben ihrer Zelle, einen Priester gewahr, der sich anscheinend damit beschäftigte, in dem öffentlichen Gebetbuche zu lesen, der aber viel weniger mit dem »eisenvergitterten Andachtsbuche«, als mit dem Galgen beschäftigt war, auf den er von Zeit zu Zeit einen düstern und wilden Blick warf. Sie erkannte den Herrn Archidiaconus von Josas, einen heiligen Mann.

»Mein Vater,« fragte sie, »wen will man da hängen?«

Der Priester sah sie an und antwortete nicht; sie wiederholte ihre Frage. Da sagte er:

»Ich weiß es nicht.«

»Es waren Kinder hier, die da sagten, daß es eine Zigeunerin wäre,« fuhr die Büßerin fort.

»Ich glaube, es ist dem so,« sagte der Priester.

Da brach Paquette la Chantefleurie in ein Hyänenlachen aus.

»Meine Schwester,« sagte der Archidiaconus, »Ihr haßt also wohl die Zigeunerinnen?«

»Ob ich sie hasse!« rief die Büßerin aus; »es sind Hexen, Kinderräuberinnen! Sie haben meine kleine Tochter gefressen, mein Kind, mein einziges Kind! Ich habe kein Herz mehr, sie haben es mir aufgezehrt!«

Sie war schrecklich anzusehen. Der Priester betrachtete sie kaltblütig.

»Vor allem ist es eine von ihnen, die ich hasse, und die ich verflucht habe,« fuhr sie fort; »es ist eine junge, so alt, wie meine Tochter sein würde, wenn ihre Mutter mein Kind nicht gefressen hätte. Jedesmal, wenn diese junge Viper vor meiner Zelle vorbeigeht, bringt sie mir das Blut zum kochen.«

»Nun gut! meine Schwester, freuet Euch,« sagte der Priester eisig wie eine Grabbildsäule, »sie ist es, die Ihr sterben sehen sollt.«

Sein Kopf sank auf seine Brust nieder, und er entfernte sich langsam.

Die Büßerin rang sich die Arme vor Freude. »Ich habe es ihr prophezeit, daß sie da hinaufsteigen würde! Schönen Dank, Priester!« rief sie ihm nach.

Und nun begann sie in großen Schritten hinter den Gitterstäben ihrer Luke auf- und abzugehen, während ihr Haar flog, ihr Auge flammte und sie mit der Schulter an die Mauer stieß. Ihr fahles Antlitz aber hatte den Ausdruck einer Wölfin im Käfig angenommen, die seit langem hungert und merkt, daß die Stunde der Fütterung herankommt.

6. Drei verschieden gebildete Menschenherzen.

Phöbus indessen war nicht gestorben. Menschen dieses Schlages haben ein zähes Leben. Als Meister Philipp Lheulier, der peinliche Anwalt des Königs, zur armen Esmeralda gesagt hatte: »Er liegt im Sterben«, so war das aus Irrthum oder aus Scherz geschehen. Als der Archidiaconus der Verurtheilten wiederholt gesagt hatte: »Er ist todt«, so wußte er tatsächlich nichts davon, glaubte es aber, rechnete darauf, zweifelte nicht daran, hoffte es ganz gewiß. Es wäre für ihn doch gar zu hart gewesen, dem Weibe, welches er liebte, gute Nachrichten über seinen Nebenbuhler zu hinterbringen. Jeder Mann an seiner Stelle hätte ebenso gehandelt.

Nicht etwa, als ob die Verwundung des Phöbus nicht gefährlich gewesen wäre, aber sie war es nicht in dem Maße gewesen, wie der Archidiaconus sich schmeichelte. Der Heilkünstler, zu welchem die Soldaten der Wache ihn im ersten Augenblicke getragen, hatte acht Tage lang für sein Leben gefürchtet, und er hatte ihm das sogar auf Lateinisch gesagt. Gleichwohl hatte seine Jugend wieder die Oberhand gewonnen; und, was ungeachtet Vermuthungen und Krankheitszeichen häufig vorkommt: die Natur hatte sich gefallen, trotz des Arztes den Kranken zu retten. Während er noch auf dem Krankenbette beim Heilkünstler lag, hatte er sich dem Verhöre Philipp Lheuliers und der Untersuchungsrichter des geistlichen Gerichtes unterzogen, was ihn sehr gelangweilt hatte. Daher hatte er an einem schönen Morgen, als er sich besser fühlte, dem Pillendreher seine goldenen Sporen als Zahlung überlassen, und hatte sich davongemacht. Das hatte übrigens bei der Einleitung des Processes keine Störung verursacht. Die Gerechtigkeitspflege von damals beunruhigte sich sehr wenig über die Deutlichkeit und Reinlichkeit eines Criminalprocesses. Wenn der Angeklagte nur gehangen wurde, so war ihr das vollkommen genügend. Nun, die Richter hatten hinreichende Beweise gegen die Esmeralda. Sie hatten den Phöbus für todt gehalten, und damit war alles gesagt worden.

Phöbus seinerseits hatte keine große Flucht unternommen. Er war ganz einfach bei seiner Compagnie wieder eingetroffen, die zu Queue-en-Brie, in der Provinz Ile-de-France, einige Stationen von Paris, in Garnison lag.

Nach allem behagte es ihm ganz und gar nicht, in diesem Processe zu erscheinen. Er fühlte dunkel, daß er darin eine lächerliche Rolle spielen würde. Im Grunde wußte er nicht hinlänglich, was er über die ganze Angelegenheit denken sollte. Als Weltkind und abergläubischer Mensch, wie jeder Soldat, der nichts als Soldat ist, war er, wenn er sich über dieses Abenteuer befragte, nicht eins mit sich hinsichtlich der Ziege; ferner über die befremdliche Art, mit der er mit Esmeralden zusammengetroffen war; über die nicht minder sonderbare Weise, mit der sie ihm ihre Liebe hatte errathen lassen; über ihren Stand als Zigeunerin; endlich hinsichtlich des gespenstigen Mönches. Er sah in dieser Geschichte viel mehr Zauberei, als Liebe; aller Wahrscheinlichkeit nach eine Hexe; vielleicht den Teufel selbst; zuletzt eine Komödie, oder um die Sprache von damals zu reden, ein höchst unangenehmes Schauspiel, in dem er eine sehr unbeholfene Rolle, nämlich die des Geprügelten und Gefoppten, spielte. Der Hauptmann war darüber ganz beschämt; er fühlte die Art Scham, die der berühmte Fabeldichter La Fontaine so treffend gekennzeichnet hat:

»Beschämt ganz wie ein Fuchs, den ein Huhn hätt‘ überrascht.«

Er hoffte übrigens, daß die Angelegenheit nicht ruchbar werden würde; daß sein Name, bei seiner Abwesenheit, kaum dabei genannt werden, und in jedem Falle nicht über den Verhandlungssaal im Tournelle hinaus erschallen würde. In diesem Punkte täuschte er sich auch wirklich nicht; es gab damals überhaupt noch keine »Gerichtszeitungen«, und weil kaum eine Woche vorüberging, ohne daß in einem der zahllosen Criminalgerichte von Paris nicht ein Falschmünzer zum Lebendiggesottenwerden, oder eine Hexe zum Galgen, oder ein Ketzer zum Scheiterhaufen verurtheilt worden wäre, so war man dermaßen daran gewöhnt, zu sehen, wie die alte, feudale Themis 49 auf allen Kreuzwegen in nackten Armen und aufgestreiften Aermeln ihr Geschäft mit Gabeln, auf Leitern und an Prangern verrichte, daß man kaum noch Acht darauf gab. Die schöne Welt jener Zeit wußte kaum den Namen des armen Sünders, der an der Straßenecke vorüberging; und höchstens ergötzte sich der große Haufe an diesem krassen Schauspiele. Eine Hinrichtung war ein gewöhnlicher Vorfall auf dem öffentlichen Platze, gerade wie die Glutpfanne eines Pastetenbäckers oder das Schlachthaus eines Schinders. Der Henker war nichts weiter als eine Art Schlächter, nur ein bißchen bewanderter, als ein anderer.

Phöbus beruhigte seinen Geist also ziemlich bald über die Zauberin Esmeralda, oder Similar, wie er zu sagen pflegte; über den Dolchstich der Zigeunerin oder des gespenstigen Mönchs (es lag wenig daran), und über den Ausgang des Processes. Aber sobald als sein Herz nach dieser Seite hin frei war, kehrte das Bild von Fleur-de-Lys dahin zurück. Das Herz des Hauptmanns Phöbus hatte, wie die damalige Physik, Schrecken vor der Leere.

Uebrigens gab es keinen abgeschmackteren Aufenthaltsort, als Queue-en-Brie. Es war ein Dorf, von Hufschmieden und Kuhhirtinnen mit rauhen Händen bewohnt; eine lange Reihe kleiner Häuser und Strohhütten, welche die lange Landstraße von beiden Seiten eine halbe Meile hin einfassen, – mit einem Worte: am Weltende.

Fleur-de-Lys war seine vorletzte Liebe: ein hübsches Mädchen mit einer allerliebsten Mitgift; eines schönen Morgens also langte der verliebte Cavalier, nachdem er vollständig genesen war, und wohl vermuthen konnte, daß die Angelegenheit mit der Zigeunerin vorbei und vergessen sein dürfte, hoch zu Rosse vor der Thüre des Hauses Gondelaurier an. Er achtete nicht auf eine ziemlich zahlreich versammelte Menschenmenge, welche sich auf dem Platze des Vorhofes, vor dem Haupteingange von Notre-Dame, drängte; es fiel ihm ein, daß man im Monat Mai war; er vermuthete irgend einen festlichen Aufzug, eine Pfingstfeierlichkeit, ein Fest, band sein Pferd an den Pfortenring der Vorhalle und stieg wohlgemuth in die Wohnung seiner schönen Braut hinauf.

Sie war allein mit ihrer Mutter.

Fleur-de-Lys hatte immer noch die Scene mit der Hexe, ihre Ziege, ihr verwünschtes Alphabet und die lange Abwesenheit des Phöbus auf dem Herzen. Als sie daher ihren Hauptmann eintreten sah, fand sie ein so gutes Aussehen, einen so neuen Waffenrock, ein so glänzendes Wehrgehenk und ein so verliebtes Aussehen an ihm, daß sie vor Lust erröthete. Das edle Fräulein war gleichfalls liebreizender, denn jemals. Ihre prächtigen blonden Haare waren zum Entzücken geflochten, sie war ganz in jenes Himmelblau gekleidet, welches die Blondinen so gut kleidet: eine Koketterie, in die sie Colombe eingeweiht hatte; und ihr Auge schwamm in jener Liebessehnsucht, die ihnen noch besser steht.

Phöbus, welcher, was Schönheit anlangt, außer den plumpen Greten von Queue-en-Brie nichts gesehen hatte, war von Fleur-de-Lys berauscht, und das gab unserem Offiziere ein so dienstfertiges und liebenswürdiges Benehmen, daß sie sofort versöhnt war. Frau von Gondelaurier selbst, die immer, wie eine Mutter pflegt, in ihrem großen Lehnstuhle saß, hatte nicht die Kraft, mit ihm zu schmollen. Was Fleur-de-Lys‘ Vorwürfe betraf, so erstarben sie unter zärtlichen Liebkosungen. Das junge Mädchen saß am Fenster und stickte immer noch an ihrer Grotte des Neptun. Der Hauptmann hatte sich auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, und sie richtete mit halber Stimme ihre zärtlichen Vorwürfe an ihn.

»Was in aller Welt habt Ihr denn seit zwei langen Monaten angefangen, Ihr böser Mann?«

»Ich schwöre Euch,« antwortete Phöbus, der durch diese Frage ein wenig in Verlegenheit gerathen war, »daß Ihr schön seid, um einen Erzbischof in Schwärmerei zu versetzen.«

Sie konnte sich nicht enthalten, zu lächeln.

»Es ist gut, ist gut, mein Herr. Lasset das mit meiner Schönheit und antwortet mir. Das muß eine rechte Schönheit sein, wahrhaftig!«

»Nun gut! theure Base, ich bin nach meiner Garnison abberufen worden.«

»Und wo ist denn das, wenn ich fragen darf? Und warum seid Ihr nicht vorgesprochen, um Abschied zu nehmen?«

»In Queue-en-Brie.«

Phöbus war froh, daß die erste Frage ihm half, sich um die zweite herumzudrücken.

»Aber das ist ja ganz in der Nähe, Herr Hauptmann. Wie kommt das, daß Ihr mich nicht ein einziges Mal besucht habt?«

Jetzt wurde Phöbus ziemlich ernstlich verlegen.

»Weil … der Dienst … und außerdem, liebenswürdige Cousine, bin ich krank gewesen.«

»Krank!?« entgegnete sie erschrocken.

»Ja … verwundet.«

»Verwundet!?«

Das arme Kind war ganz außer Fassung gerathen.

»Oh! erschreckt deshalb nicht,« sagte Phöbus kalt, »es hat nichts auf sich. Ein Streit, ein Degenstich; doch, was kümmert das Euch?«

»Was mich das kümmert?« rief Fleur-de-Lys, während sie ihre schönen Augen thränengefüllt aufschlug. »Ach! Ihr sagt mir nicht, was Ihr damit beabsichtigt, wenn Ihr so sprecht. Was hat das mit diesem Degenstiche für eine Bewandtnis? Ich will alles wissen.«

»Nun gut! theure Schöne, ich habe Streit mit Mahé Fédy gehabt, Ihr wißt ja? dem Lieutenant aus Saint-Germain-en-Laye; wir haben uns jeder ein wenig die Haut zerfetzt. Das ist alles.«

Der verlegene Hauptmann wußte nur zu wohl, daß eine Ehrensache den Mann stets in den Augen einer Frau an Achtung gewinnen läßt. In Wahrheit sah ihm Fleur-de-Lys, vor Scheu, Vergnügen und Bewunderung ganz erregt, ins Gesicht. Sie war indessen noch nicht vollkommen wieder beruhigt.

»Wenn Ihr nur vollkommen wieder hergestellt seid, mein Phöbus!« sagte sie. »Ich kenne Euren Mahé Fédy nicht, aber er ist ein abscheulicher Mensch. Und woher kam denn dieser Streit?«

Hier begann Phöbus, dessen Einbildungskraft nur sehr mittelmäßig im Erfinden war, nicht mehr zu wissen, wie er sich aus seiner Heldenthat herausziehen sollte.

»Ach! was weiß ich? … ein Nichts, ein Pferd, ein übereiltes Wort! … Schöne Base,« rief er, um den Gesprächsstoff zu wechseln, »was bedeutet denn der Lärm da auf dem Vorhofe?«

Er näherte sich dem Fenster.

»Ach! mein Gott, schöne Base, sehet einmal die große Menge Volks auf dem Platze!«

»Ich weiß nicht,« sagte Fleur-de-Lys; »es scheint, daß es sich um eine Hexe handelt, die heute morgen vor der Kirche öffentlich Buße thut und nachher gehangen werden soll.«

Der Hauptmann glaubte die Angelegenheit mit der Esmeralda so völlig abgethan, daß er durch die Worte Fleur-de-Lys‘ nur ganz wenig in Bewegung gerieth. Er that indeß noch eine oder die andere Frage.

»Wie heißt diese Hexe?«

»Ich weiß nicht,« antwortete sie.

»Und was sagt man, daß sie begangen hat?«

Sie zuckte noch einmal ihre weißen Schultern.

»Ich weiß nicht.«

»Oh, mein lieber Herr Jesus!« sagte die Mutter, »es giebt jetzt so viele Hexen, daß man sie verbrennt, glaube ich, ohne ihre Namen zu wissen. Es würde sich ebenso verlohnen, als ob man den Namen jeder Wolke am Himmel wissen wollte. Ueberhaupt kann man ruhig sein. Der liebe Gott führt sein Register.« Hier erhob sich die ehrenwerthe Dame und trat ans Fenster. »Herr des Himmels!« sagte sie, »Ihr habt recht, Phöbus. Das ist ein großer Haufen Volks. Einige von ihnen, Gott sei gepriesen! stehen sogar auf den Dächern … Wißt Ihr, Phöbus? das erinnert mich an meine Jugend; an den Einzug Karls des Siebenten, wo auch so viel Menschen auf den Straßen waren … Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahre. Wenn ich mit Euch davon spreche, nicht wahr? so macht das auf Euch den Eindruck von etwas Altem, auf mich aber den von etwas Jugendlichem … Oh! das war ein weit hübscheres Volk, als das jetzige. Es standen sogar einige von ihnen auf den Vertheidigungserkern des Thores Saint-Antoine. Der König hatte die Königin hinter sich auf dem Pferde, und nach Ihren Hoheiten kamen alle Damen, die gleichfalls hinter ihren Herren auf den Pferden saßen. Ich erinnere mich, daß man gewaltig lachte, als neben Amanyon von Garlande, der ein Mann von sehr kurzer Statur war, der Herr von Matefelon, ein Ritter von riesenhafter Erscheinung, ritt, welcher die Engländer haufenweise getödtet hatte. Das war sehr schön. Ein Zug aller Edelleute von Frankreich mit ihren Oriflammen, 50 welche in die Augen leuchteten, folgte. Es waren einige mit dem Fähnlein und andere mit dem Banner dabei. Was weiß ich? der Herr von Calan mit dem Fähnlein, Johann von Châteaumorant mit dem Banner, der Herr von Coucy mit dem Banner, und dieser reicher gekleidet, als irgend einer der andern, mit Ausnahme des Herzogs von Bourbon … Ach! was ist es doch für ein traurig Ding, denken zu müssen, daß alles das dagewesen und nichts mehr davon vorhanden ist!«

Die beiden Liebesleute hörten nicht auf die ehrwürdige Witwe hin. Phöbus war zurückgetreten und hatte sich wieder auf die Lehne des Stuhles seiner Braut gestützt, und hier einen reizenden Platz gefunden, von wo aus sein frivoles Auge sich in alle Oeffnungen von Fleur-de-Lys‘ Busentuch versenken konnte. Dieses Halstuch öffnete sich gerade so recht und zeigte ihm so köstliche Dinge, ließ ihm auch so viele andere errathen, daß Phöbus von dieser sammetweichen Haut ganz geblendet, zu sich sprach: »Wie kann man etwas anderes, als eine Hellfarbige lieben?« Alle beide verharrten in Schweigen. Das junge Mädchen richtete von Zeit zu Zeit entzückte und sanfte Blicke auf ihn, und in ihre Haare mischte sich ein Strahl der Frühlingssonne.

»Phöbus,« sagte Fleur-de-Lys plötzlich mit leiser Stimme, »wir sollen uns in einem Vierteljahre heirathen; schwört mir, daß Ihr niemals ein anderes Weib geliebt, als mich.«

»Ich schwöre es Euch, schöner Engel!« antwortete Phöbus, und sein leidenschaftlicher Blick verband sich, um Fleur-de-Lys zu überzeugen, mit dem aufrichtigen Tone seiner Stimme. Er glaubte in diesem Augenblicke vielleicht an seine eigenen Worte.

Währenddem hatte die gute Mutter, erfreut, die Verlobten in so vollkommenem Einverständnisse zu sehen, das Zimmer eben verlassen, um einige häusliche Kleinigkeiten zu besorgen. Phöbus merkte das, und diese Einsamkeit machte den unternehmenden Hauptmann so kühn, daß ihm sehr seltsame Gedanken in den Kopf stiegen. Fleur-de-Lys liebte ihn; er war ihr Verlobter; sie war allein mit ihm; seine alte Neigung für sie war nicht nur in ihrer ganzen Frische, sondern auch in all ihrer Glut wieder erwacht; nach alledem war es ja kein großes Verbrechen, sein Getreide ein wenig grün zu verspeisen; ich weiß nicht, ob diese Gedanken ihm durch den Kopf gingen; aber so viel ist gewiß, daß Fleur-de-Lys auf einmal über den Ausdruck seines Blickes erschrocken war. Sie sah um sich und erblickte ihre Mutter nicht mehr.

»Mein Gott!« sagte sie erröthend und unruhig, »mir ist sehr heiß!«

»Ich glaube in der That,« antwortete Phöbus, »daß es nicht weit vom Mittag ist. Die Sonne wird lästig. Es bleibt nichts übrig, als die Vorhänge zu schließen.«

»Nein, nein,« rief die arme Kleine, »im Gegentheil habe ich frische Luft nöthig.«

Und wie eine Hindin, die das Schnauben der Meute merkt, erhob sie sich, lief zum Fenster, öffnete es und eilte auf den Balkon.

Phöbus, dem das ziemlich ärgerlich war, folgte ihr.

Der Platz des Vorhofes von Notre-Dame, nach welchem, wie man weiß, der Balkon hinausging, bot in diesem Augenblicke ein unheimliches und sonderbares Schauspiel dar, welches bei der furchtsamen Fleur-de-Lys rasch die Natur des Schreckens ändern ließ.

Eine ungeheure Menge, die in allen angrenzenden Straßen hin- und herwogte, bedeckte den eigentlich sogenannten Platz. Die kleine Mauer in Brusthöhe, welche den Vorhof umgab, würde nicht genügt haben, ihn frei zu halten, wenn sie nicht verdoppelt worden wäre von einer dichten Reihe von Polizeidienern der Einunddreißiger und der Büchsenschützen mit der Feldbüchse in der Faust. Dank diesem Verhaue von Piken und Arkebusen war der Vorhof leer. Der Zugang dazu wurde durch einen Haufen Hellebardiere in den Farben des Bischofs bewacht. Die großen Thüren der Kirche waren geschlossen, was im Gegensatze zu den zahllosen Fenstern des Platzes stand, welche, bis zu den Giebeln hinauf geöffnet, tausende von Köpfen zeigten, die ohngefähr wie Kugelhaufen in einem Artillerieparke übereinander geschichtet waren.

Das Aeußere dieses Menschenhaufens war grau, schmutzig und abschreckend. Das Schauspiel, welches er erwartete, gehörte offenbar zu denjenigen, die das Vorrecht haben, alles was an unreinen Elementen in der Bevölkerung vorhanden ist, herbeizuziehen und anzulocken. Nichts war abscheulicher, als der Lärm, der aus dem Gewoge dieser gelben Kappen und schmutzigen Kopfhaare sich erhob. In diesem Gedränge vernahm man mehr Gelächter als Geschrei, mehr Weiber als Männer.

Von Zeit zu Zeit drang eine scharfe und zitternde Stimme durch das allgemeine Geräusch.

*

»Heda! Mahiet Baliffre! Will man sie denn da hängen?«

»Einfaltspinsel! hier muß sie Kirchenbuße im Hemde thun! Der liebe Gott will ihr hier Latein ins Gesicht husten. Das geschieht hier immer, am Mittage. Wenn du den Galgen sehen willst, schere dich zum Grèveplatze.«

»Ich will nachher hingehen.«

*

»Sagt mir doch, La-Boucambry, ist es wahr, daß sie einen Beichtvater ausgeschlagen hat?«

»Wahrscheinlich ja, La-Bechaigne.«

»Seht Ihr, die Heidin?!«

*

»Herr, das ist Herkommen so. Der Amtmann des Justizpalastes ist verpflichtet, den völlig abgeurteilten Missethäter zur Hinrichtung an den Oberrichter beim Châtelet auszuliefern, wenn jener ein Laie ist; ist es ein Geistlicher, an den Gerichtsbeamten des Bischofssitzes.«

»Ich danke Euch, Herr.«

*

»Ach, mein Gott!« sagte Fleur-de-Lys, »das arme Geschöpf!«

Dieser Gedanke erfüllte den Blick, den sie über die Volksmasse schweifen ließ, mit Schmerz. Der Hauptmann, der viel zu sehr mit ihr, als mit jenem Volkshaufen beschäftigt war, zerrte von hinten an ihrem Gürtel. Sie wandte sich mit einem bittenden und lächelnden Blicke um.

»Ich bitte Euch, laßt mich, Phöbus! Wenn meine Mutter zurückkäme, würde sie Eure Hand erblicken!«

In diesem Augenblicke schlug es langsam zwölf an der Uhr von Notre-Dame. Ein freudiges Gemurmel lief durch die Menge. Das letzte Zittern des zwölften Schlages war kaum verklungen, als alle Köpfe wie die Wogen von einem Windstoße in Bewegung geriethen, und ein ungeheures Geschrei von der Straße, aus den Fenstern und von den Dächern sich erhob:

»Da ist sie!«

Fleur-de-Lys hielt, um nicht zu sehen, ihre beiden Hände vor die Augen.

»Meine Süße,« sagte Phöbus, »wollt Ihr wieder hereintreten?«

»Nein,« antwortete sie; und dieselben Augen, welche sie eben aus Furcht geschlossen hatte, öffnete sie wieder aus Neugierde.

Ein Karren, der von einem schweren, normannischen Gabelpferde gezogen und ganz von Reiterei in violetten Uniformen mit weißen Kreuzen umringt war, rollte soeben durch die Straße Saint-Pierre-aux-Boeufs auf den Platz. Die Diener der Wache machten ihm mit mächtigen Ruthenhieben unter dem Volkshaufen Platz. Neben dem Karren ritten einige Gerichts- und Polizeibeamte, die an ihrer schwarzen Tracht und an der linkischen Weise, mit der sie sich im Sattel hielten, kenntlich waren. Meister Jacob Charmolue stolzirte an ihrer Spitze einher. Auf dem verhängnisvollen Wagen saß ein junges Mädchen mit auf den Rücken gebundenen Händen, ohne einen Geistlichen an ihrer Seite. Sie war im Hemde; ihre langen schwarzen Haare (es war damals Gebrauch, sie erst am Fuße des Galgens abzuschneiden) fielen aufgelöst über ihre Brust und die halbentblößten Schultern herab.

Quer durch diesen wallenden Haarschmuck, der mehr als das Gefieder eines Raben glänzte, sah man einen dicken grauen und knotigen Strick sich drehen und winden, der ihre zarten Schulterknochen wund rieb, und sich um den reizenden Hals des armen Mädchens, wie ein Regenwurm um eine Blume, schlang. Unter diesem Stricke glänzte ein kleines, mit grünen Glasperlen verziertes Amulet, das ihr ohne Zweifel deshalb gelassen worden war, weil man denen, die zum Tode gehen, nichts mehr zu verweigern pflegt. Die Zuschauer, welche an den Fenstern standen, konnten auf dem Boden des Karrens ihre nackten Füße sehen, die sie, wie mit einem letzten weiblichen Instinkte, unter sich zu verbergen trachtete. Zu ihren Füßen lag eine kleine Ziege, die geknebelt war. Die Verurtheilte hielt mit ihren Zähnen das schlecht anschließende Hemd fest. Man hätte glauben sollen, daß sie in ihrem Unglücke sich noch darüber am unglücklichsten fühlte, daß sie fast nackt den Blicken aller preisgegeben war. Ach! für solche schaudervolle Lagen ist das Schamgefühl nicht geschaffen.

»Jesus!« sagte Fleur-de-Lys erregt zum Hauptmanne. »Sehet doch her, schöner Vetter, es ist die abscheuliche Zigeunerin mit der Ziege.«

Bei diesen Worten wandte sie sich nach Phöbus um. Dieser hatte die Augen starr auf den Karren gerichtet. Er war sehr blaß.

»Welche Zigeunerin mit der Ziege?« fragte er stotternd.

»Wie?« fuhr Fleur-de-Lys fort; »Ihr solltet Euch nicht mehr erinnern? …«

Phöbus unterbrach sie.

»Ich weiß nicht, was Ihr damit sagen wollt.«

Er machte einen Schritt, um ins Zimmer zurückzugehen; aber Fleur-de-Lys, deren unlängst von dieser Zigeunerin so heftig erregte Eifersucht eben wieder erwacht war, – Fleur-de-Lys warf ihm einen durchdringenden Blick voll Mißtrauen zu. Sie erinnerte sich in diesem Augenblicke dunkel, von einem Hauptmanne sprechen gehört zu haben, der in den Proceß dieser Hexe hineingezogen worden.

»Was habt Ihr?« sagte sie zu Phöbus; »man sollte glauben, daß Euch dieses Weib in Verwirrung gebracht habe.«

Phöbus zwang sich zu einem Hohngelächter.

»Mich? Nicht im geringsten! Ah! ganz gewiß!«

»Dann bleibt hier bei mir,« versetzte sie befehlerisch, »wir wollen bis zum Ende zusehen.«

Der Unglücksvogel von Hauptmann mußte wohl bleiben. Was ihn ein wenig beruhigte, war der Umstand, daß die Verurtheilte ihren Blick nicht vom Boden ihres Karrens erhob. Es war die Esmeralda – leider nur zu gewiß! Auf dieser letzten Stufe der Schande und des Unglücks war sie noch immer schön; ihre großen schwarzen Augen erschienen bei der Abmagerung ihrer Wangen noch größer; ihr bleiches Antlitz war rein und erhaben. Sie glich dem, was sie früher gewesen war, wie eine heilige Jungfrau Masaccio’s einer Jungfrau Raphaels gleicht: sie war schwächer, feiner, magerer geworden.

Uebrigens war nichts in ihrem Wesen, das nicht, so zu sagen, gewankt hätte, und das sie, mit Ausnahme ihrer Schamhaftigkeit, nicht dem Zufalle überlassen hätte: so vollständig war sie von Betäubung und durch Verzweiflung geknickt. Ihr Leib schlotterte bei allen Stößen des Karrens wie etwas Todtes oder Zerrissenes; ihr Blick war trüb und irrsinnig. Man sah in ihrem Auge noch eine Thräne, aber sie war unbeweglich und gleichsam wie gefroren.

Unterdessen war der fürchterliche Zug unter Freudenschreien und neugierigem Zusammendrängen der Menge durch dieselbe hindurchgelangt. Als wahrheitliebender Erzähler müssen wir gleichwohl berichten, daß viele, sogar von den Hartherzigsten, als sie sie so schön und niedergeschmettert sahen, vom Mitleide bewegt wurden. Der Karren war in den Vorhof hineingefahren. – Vor dem mittleren Portale hielt er an. Die Bedeckung stellte sich zu beiden Seiten in Schlachtordnung auf. Die Menge wurde todtenstill, und mitten in dieser Stille voll Feierlichkeit und Bangigkeit öffneten sich die beiden Flügel des großen Thores wie von allein in ihren knarrenden Angeln mit einem gellenden Geräusche. Da sah man, ihrer ganzen Länge nach, die tiefe, düstre Kirche, schwarz ausgeschlagen, kaum von einigen Kerzen erleuchtet, die auf dem Hauptaltare in der Ferne flimmerten, weit geöffnet wie einen Grabesschlund inmitten des lichtschimmernden Platzes. Ganz im Hintergrunde, im Dunkel des Chores, erblickte man ein gigantisches silbernes Kreuz, welches auf einem schwarzen Tuche, das von der Wölbung auf den Boden herabfiel, sich in die Höhe streckte. Das ganze Schiff war öde. Nur in den weit hinten gelegenen Chorstühlen sah man undeutlich einige Priesterköpfe sich bewegen, und im Augenblicke, wo das große Thor sich öffnete, entquoll der Kirche ein ernster, lauter und eintöniger Gesang, der gleichsam stoßweise über das Haupt der Verurtheilten Bruchstücke von Trauerpsalmen ausgoß:

» … Non timebo millia populi circumdatis me: exsurge Domine; salvum me fac, Deus!«

» … Salvum me fac,Deus, quoniam intraverunt aquae usque ad animam meam.«

» … Infixus sum in limo profundi; et non est substantia.« 51

Zu gleicher Zeit stimmte eine andere, vom Chore gesonderte Stimme auf der Stufe des Hochaltars das schwermüthige Offertorium an:

»… Qui verbun meum audit, et credit ei, qui misit me,
habet vitam aeternam et in judicium non venit, sed transit a morte in vitam.«
52

Dieser Gesang, den einige in der Dunkelheit verlorene Greise aus der Ferne über dieses schöne, von Jugend und Lebenslust erfüllte, von der warmen Frühlingslust umkoste, und von Sonnenschein überstrahlte Wesen ertönen ließen, war die Todtenmesse.

Das Volk hörte andächtig zu.

Die Unglückselige, die alle Fassung verloren hatte, schien ihren Blick und ihr Bewußtsein in die dunkele Tiefe der Kirche zu versenken. Ihre bleichen Lippen bewegten sich, als ob sie beteten; und als der Henkersknecht sich ihr näherte, um ihr beim Herabsteigen vom Karren behilflich zu sein, hörte er, wie sie mit leiser Stimme das Wort »Phöbus« wiederholte. Man band ihr die Hände los, ließ sie in Begleitung ihrer Ziege, die gleichfalls ihrer Fesseln entledigt war, und die vor Freude, sich frei zu fühlen, blökte, herabsteigen, und ließ sie dann barfuß über das holprige Pflaster bis zur untersten Stufe des Portales hingehen. Der Strick, welchen sie um den Hals trug, schleifte hinter ihr her. Man hätte ihn mit einer Schlange vergleichen können, die sie verfolgte.

Da brach der Gesang in der Kirche ab. Ein großes goldenes Kreuz und eine Reihe Kerzen setzten sich im dunkeln Hintergrunde des Schiffes in Bewegung. Man hörte die Hellebarden der buntgekleideten Domwächter erklirren; und einige Augenblicke darauf schritt ein langer Zug von Priestern in Meßgewändern und Diaconen in ihren Dalmatiken langsam und psalmodirend auf die Verurtheilte los, und stellte sich vor ihrem Gesichte und den Blicken der Volksmenge im Halbkreise auf. Aber ihr Auge hing an demjenigen, der an der Spitze des Zuges, unmittelbar hinter dem Kreuzträger, einherschritt. »Oh!« sagte sie ganz leise und schaudernd, »das ist er wieder! der Priester!«

Es war in der That der Archidiaconus. Zu seiner Linken hatte er den Unterkantor, zu seiner Rechten den Kantor, der mit seinem Amtsstabe ausgerüstet war. Den Kopf nach hinten gerichtet, die Augen starr und weit offen, schritt er vorwärts, während er mit lauter Stimme sang:

» De ventre inferi clamavi, et exaudisti vocem meam.«
»Et projecisti me in profundum in corde maris, et flumen circumdedit me.
« 53

Im Augenblicke, wo er im hellen Tageslichte unter dem gothischen Portale, eingehüllt in einen weiten Chorrock aus Silberstoff, erschien, wurde er so blaß, daß mehr als einer aus der Volksmenge dachte, es wäre einer der marmornen Bischöfe, welche auf den Grabsteinen des Chores auf den Knien liegen, der sich erhoben hätte, um diejenige an der Schwelle des Grabes zu empfangen, die zum Tode gehen sollte. Sie, die ebenso blaß war und ebenso sehr einer Bildsäule glich, sie hatte kaum gemerkt, daß man ihr eine schwere, gelbe, brennende Wachskerze in die Hand gesteckt; hatte die kreischende Stimme des Gerichtsschreibers nicht gehört, der ihr den verhängnisvollen Inhalt der Kirchenbuße vorlas; als ihr geheißen worden war, »Amen« zu sagen, hatte sie »Amen« geantwortet. Um ihr etwas Leben und Kraft wiederzugeben, mußte sie erst sehen, wie der Priester ihren Wächtern ein Zeichen gab, sich zu entfernen, und wie er allein an sie herantrat.

Da fühlte sie, wie das Blut in ihrem Haupte kochte, und wie ein letzter Rest von Empörung in ihrem schon erstarrten und todten Herzen aufflammte.

Der Archidiaconus näherte sich ihr langsamen Schrittes; sie sah, wie selbst im letzten Augenblicke sein von Wollust, Eifersucht und Verlangen funkelndes Auge über ihren nackten Leib hinglitt. Dann sprach er mit lauter Stimme zu ihr: »Junges Mädchen, habt Ihr Gott um Vergebung Eurer Fehler und Vergehen gebeten?« – Er neigte sich zu ihrem Ohre hin und fuhr fort (die Zuschauer glaubten, daß er ihre letzte Beichte empfinge): »Willst du mich? Ich vermag dich noch zu retten!«

Sie sah ihn starr an: »Hebe dich weg, Satan, oder ich zeige dich an.«

Er begann ein fürchterliches Lachen auszustoßen. »Man wird dir keinen Glauben schenken … Du wirst nichts erreichen, als zum Verbrechen eine Beschimpfung hinzuzufügen … Antworte schnell! Willst du mich?«

»Was hast du mit meinem Phöbus gemacht?«

»Er ist todt!« sagte der Priester.

In diesem Augenblicke richtete der nichtswürdige Archidiaconus unwillkürlich seinen Kopf in die Höhe und sah am andern Ende des Platzes, auf dem Balkone des Hauses Gondelaurier, den Hauptmann neben Fleur-de-Lys stehen. Er wankte, fuhr mit der Hand über die Augen, sah noch einmal hin, murmelte einen Fluch, und alle Züge seines Gesichtes zogen sich krampfhaft zusammen.

»Wohlan denn! stirb du!« sprach er durch die Zähne.

»Niemand soll dich besitzen.« Dann hob er die Hand über die Zigeunerin und rief mit einer Grabesstimme: » I nunc, anima anceps et sit tibi Deus misericors54

Das war die furchtbare Formel, mit der man diese düstren Ceremonien zu beschließen pflegte. Es war das Zeichen, mit dem der Priester sich an den Henker wandte.

Das Volk warf sich auf die Knien.

» Kyrie Eleison55 sprachen die Priester, die unter der Wölbung des Portales stehen geblieben waren.

» Kyrie Eleison,« wiederholte die Menge mit einem Gemurmel, das wie das Rauschen eines bewegten Meeres über die Köpfe hinlief.

»Amen!« sagte der Archidiaconus.

Er kehrte der Verurtheilten den Rücken zu, sein Kopf sank wieder auf die Brust herab, seine Hände legten sich kreuzweise ineinander; er vereinigte sich wieder mit dem Zuge der Priester, und einen Augenblick nachher sah man ihn mit dem Kreuze, den Kerzen und den Chorröcken unter den dunkeln Bogenwölbungen der Kathedrale verschwinden; seine klangvolle Stimme aber erstarb allmählich im Chore, welcher die hoffnungslose Liedstrophe anstimmte:

56

Zu gleicher Zeit verursachte der zeitweilige Klang der eisenbeschlagenen Hellebardenschäfte der Domwächter, der nach und nach unter den Zwischensäulen des Schiffes erstarb, die Wirkung eines Uhrhammers, welcher die letzte Stunde der zum Tode Verurtheilten schlug.

Unterdessen waren die Thüren von Notre-Dame offen geblieben, so daß man die leere, einsame Kirche im Trauergewande ohne Kerzenglanz und Menschenstimmen erblicken konnte.

Die Verurtheilte verharrte unbeweglich, und in der Erwartung, was man über sie beschließen würde, an ihrem Platze. Einer der stabtragenden Gerichtsdiener mußte Meister Charmolue davon benachrichtigen, der während dieser Scene sich damit beschäftigt hatte, das Basrelief des Hauptportales zu studiren, das, nach dem Urtheile einiger das Opfer Abrahams, nach dem anderer das Verfahren, den Stein der Weisen zu suchen, darstellt, indem die Sonne durch den Engel, das Feuer durch das Reisigbund, der Alchymist durch Abraham repräsentirt werden.

Es kostete ziemliche Mühe, ihn von dieser Betrachtung loszureißen; aber endlich wandte er sich um; und auf ein Zeichen, das er gab, näherten sich zwei in Gelb gekleidete Männer, die Knechte des Henkers, der Zigeunerin, um ihr wieder die Hände zu binden.

Die Unglückliche wurde im Augenblicke, wo sie den verhängnisvollen Wagen wieder besteigen und sich nach ihrem letzten Aufenthaltsorte auf den Weg begeben sollte, vielleicht vom herzzerreißendsten Schmerze ihres Lebens gepackt. Sie richtete ihre gerötheten und trocknen Augen zum Himmel, zur Sonne, zu den Silberwolken empor, die hier und da von tiefblauen Dreiecken und Trapezen zertheilt waren; dann schlug sie sie nieder, blickte um sich, zur Erde, auf die Menge, nach den Häusern hinüber … Plötzlich, während ihr der gelbe Mann die Ellbogen zusammenband, stieß sie einen furchtbaren Schrei, einen Freudenschrei, aus. Auf diesem Balkone, da unten, im Winkel des Platzes, hatte sie ihn, ihn, ihren Freund, ihren Herrn, Phöbus, den zweiten Anfang ihres Lebens, bemerkt! Der Richter hatte gelogen! Der Priester hatte gelogen! Das war er wohl, sie konnte nicht daran zweifeln; da stand er, schön, lebhaft, in seine schimmernde Uniform gekleidet, den Federbusch auf dem Kopfe, den Degen an der Seite.

»Phöbus!« rief sie, »mein Phöbus!« Und sie wollte ihre vor Liebe und Wonne bebenden Arme nach ihm ausstrecken, aber sie waren gefesselt.

Da sah sie, wie der Hauptmann die Augenbrauen runzelte, wie ein schönes junges Mädchen, das sich an ihn lehnte, ihn mit höhnischem Munde und gereizten Blicken anschaute; wie dann Phöbus einige Worte sprach, die nicht bis zu ihr drangen, und wie alle beide plötzlich hinter dem Fenster des Balkones verschwanden, und dasselbe geschlossen wurde.

»Phöbus!« rief sie ganz außer sich, »hältst du es für wahr? …

Ein furchtbarer Gedanke war eben in ihr wach geworden. Sie erinnerte sich, daß sie wegen Meuchelmordes an der Person des Phöbus von Châteaupers war verurtheilt worden.

Bis hierher hatte sie alles erduldet. Aber dieser letzte Schlag war zu furchtbar. Sie fiel leblos auf das Pflaster nieder.

»Wohlan denn!« sagte Charmolue, »traget sie in den Karren, und laßt uns ein Ende machen!« – –

Niemand hatte bis dahin in der Galerie der Königsstatuen, welche unmittelbar über den Wölbungen des Portales ausgehauen ist, einen seltsamen Zuschauer bemerkt, der bisher alles mit einer solchen Gefühllosigkeit, einem so vorgereckten Halse, einem so mißgestalteten Gesicht beobachtet hatte, daß man, ohne seine halb rothe und halb violette Kleidung, ihn für eines jener steinernen Ungeheuer hätte halten können, durch deren Rachen die langen Dachrinnen der Kathedrale seit sechshundert Jahren ihr Wasser ergießen. Dieser Zuschauer hatte nichts von alledem aus dem Auge gelassen, was seit Mittag vor dem Portale von Notre-Dame sich ereignet hatte. Und gleich in den ersten Augenblicken hatte er, ohne daß jemand daran dachte, ihn zu beobachten, an eine der Säulchen der Galerie ein dickes, mit Knoten versehenes Seil festgebunden, dessen Ende unten auf der Vortreppe schleifte. Nachdem das gethan war, hatte er begonnen, ruhig zuzusehen, und manchmal zu pfeifen, wenn eine Amsel vor ihm vorbeiflog. Plötzlich in dem Augenblicke, wo die Knechte des Henkers sich anschickten, den phlegmatischen Befehl Charmolue’s auszuführen, schwang er sich auf das Geländer der Galerie, faßte das Seil mit den Füßen, den Knien und den Händen; dann sah man, wie er, gleich einem Regentropfen, der an einer Fensterscheibe herabrollt, an der Façade hinunterglitt, mit der Schnelligkeit einer Katze, die vom Dache gefallen ist, auf die Henker zulief, sie mit zwei mächtigen Fausthieben zu Boden warf, die Zigeunerin mit einer Hand, wie ein Kind seine Puppe, aufraffte, und mit einem einzigen Satze bis in die Kirche hineinsprang, wobei er das junge Mädchen über seinen Kopf hob und mit fürchterlicher Stimme schrie: »Asyl!«

Das geschah mit einer solchen Schnelligkeit, daß, wenn es Nacht gewesen wäre, man alles bei dem Scheine eines einzigen Blitzes hätte sehen können.

»Asyl! Asyl!« wiederholte der Volkshaufen, und das Klatschen von zehntausend Händen ließ das einzige Auge Quasimodo’s vor Freude und Stolz funkeln.

Diese Erschütterung bewirkte, daß die Verurtheilte wieder zu sich kam. Sie schlug ihre Augenlider auf, sah Quasimodo an, dann schloß sie sie wieder, als ob sie vor ihrem Erretter erschrocken wäre.

Charmolue stand betäubt da, ebenso die Henker und die ganze Bedeckung. In der That war die Verurtheilte im Bereiche von Notre-Dame unverletzlich. Die Kathedrale war ein Zufluchtsort. Jede menschliche Gerichtsbarkeit hörte jenseit ihrer Schwelle auf.

Quasimodo war unter dem großen Portale stehen geblieben. Seine mächtigen Füße erschienen auf dem steinernen Boden der Kirche gerade so dauerhaft, wie die schweren romanischen Pfeiler. Sein dicker, haariger Kopf verschwand zwischen seinen Schultern wie derjenige der Löwen, die auch eine Mähne und keinen Hals haben. Er hielt das junge, über und über zitternde Mädchen schwebend zwischen seinen schwieligen Händen wie ein weißes Gewand; aber er trug sie mit so viel Vorsicht, daß es schien, als ob er sie zu zerbrechen oder ihr zu schaden fürchtete. Man hätte meinen sollen, daß er fühlte, sie wäre ein zartes, kostbares und köstliches Etwas, das für andere Hände, als die seinigen, geschaffen sei. Auf Augenblicke machte er den Eindruck, als ob er sie nicht zu berühren wage, selbst nicht mit dem Athem. Dann plötzlich drückte er sie mit Inbrunst in seine Arme, an seine eckige Brust, wie sein Gut, wie seinen Schatz, wie es die Mutter mit diesem Kinde gethan haben würde. Sein Gnomenauge, das sich auf sie senkte, überströmte sie mit Zärtlichkeit, mit Schmerz und mit Mitleid, und hob sich dann plötzlich voll funkelnden Glanzes. Da lachten und weinten die Frauen, die Menge rannte vor Begeisterung hin und her; denn in diesem Augenblicke besaß Quasimodo in Wahrheit auch seine eigenartige Schönheit. Er war wirklich schön: diese Waise, dieses Findelkind, dieser Ausgestoßene; er fühlte sich erhaben und stark, er sah dieser Gesellschaft, aus der er verbannt worden war, und in der er sich so mächtig ins Mittel schlug, ins Gesicht: dieser menschlichen Gerechtigkeit, der er ihre Beute entrissen hatte, allen diesen Tigern, die mit leeren Backen kauen mußten, diesen Bütteln, diesen Richtern, diesen Henkern, dieser ganzen königlichen Gewalt, die er, der Niedrigste, eben mit der Kraft Gottes gebrochen hatte, bot er Trotz.

Und überdies war es etwas Rührendes, daß dieser Beistand eines so mißgestalteten Wesens auf ein so unglückseliges gefallen, daß eine zum Tode Verurtheilte von einem Quasimodo gerettet worden war. Es waren die beiden höchsten Leiden der Natur und der Gesellschaft, die sich berührten und einander halfen.

Nach einigen Minuten des Triumphes war Quasimodo jedoch plötzlich mit seiner Bürde in der Kirche verschwunden. Das Volk, das in jede Heldenthat verliebt ist, suchte ihn mit den Augen in dem düstern Schiffe und bedauerte, daß er sich so schnell seinen Beifallsäußerungen entzogen hatte. Plötzlich sah man ihn an einem der äußersten Punkte der Galerie der Könige Frankreichs wieder auftauchen; er durchschritt sie, wie ein Unsinniger davonlaufend, und während er seine Eroberung in seinen Armen hochhielt, schrie er: »Asyl!« – Die Menge brach von neuem in Beifallsgeschrei aus. Nachdem er die Galerie durcheilt hatte, verschwand er wieder in das Innere der Kirche. Einen Augenblick darauf zeigte er sich von neuem auf der obern Plattform, immer mit der Zigeunerin in seinen Armen, immer wie ein Toller rennend und immer rufend: »Asyl!« Und die Menge klatschte Beifall. Endlich sah man seine Erscheinung zum dritten Male auf der Spitze des Glockenturmes; von da aus schien er stolzerfüllt der ganzen Stadt diejenige zu zeigen, welche er gerettet hatte, und seine donnernde Stimme, diese Stimme, die man so selten, und die er selbst niemals hörte, wiederholte dreimal mit einem bis in die Wolken dringenden Freudenjubel: »Asyl! Asyl! Asyl!«

»Juchhe! Juchhe!« schrie das Volk seinerseits, und dieses ungeheure Beifallgeschrei versetzte am andern Seineufer die Volksmenge auf dem Grèveplatze und die Büßerin, die das Auge auf den Galgen gerichtet immer noch wartete, in Erstaunen.

  1. Die Göttin der Gerechtigkeit bei den Alten. Anm. d. Uebers.
  2. Name kleiner rothseidener Fahnen der alten französischen Könige. Anm. d. Uebers.
  3. Lateinisch: Nicht werde ich die Schaaren des mich umringenden Volks fürchten: erhebe dich, Herr, rette mich, mein Gott!

    … Rette mich, Herr mein Gott, weil die Wogen meine Seele berührt haben.

    … Ich liege in der Tiefe des Abgrundes, und ist kein Halt unter meinen Füßen.

  4. Lateinisch: Wer mein Wort hört, und glaubt an den, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und geht nicht ins Gericht, sondern kommt vom Tode zum Leben. Anm. d. Uebers.
  5. Lateinisch: Aus der Tiefe der Hölle habe ich gerufen, und du hast meine Stimme erhöret.
    Und du hast mich in den Abgrund des Meeres geworfen, und der Strom hat mich umringt. Anm. d. Uebers.
  6. Lateinisch: Gehe nun hin, rathlose Seele, und Gott sei dir gnädig.
  7. Griechisch: Herr, erbarme dich.
  8. Lateinisch: Alle deine Gewässer und Ströme werden über mich hinfahren. Anm. d. Uebers.

1. Fieber.

Claude Frollo war nicht mehr in der Notre-Damekirche, als sein Adoptivsohn so rasch die verhängnisvolle Schlinge durchhieb, in welcher der unglückliche Archidiaconus die Zigeunerin und sich selbst gefangen hatte. Als er in die Sakristei zurückgekehrt war, hatte er sich Chorhemd, Chorrock und Stola vom Leibe gerissen, alles dem bestürzten Kirchendiener in die Hände geworfen, war durch die geheime Thüre des Klosters entwischt, hatte einem Bootführer im Terrain befohlen, ihn auf das linke Ufer der Seine überzusetzen, und sich in den hügeligen Straßen des Universitätsviertels verloren. Ohne zu wissen, wohin er ging, bleich, verstört, aufgeregter, geblendeter und grimmiger, als ein Nachtvogel, der am hellen Tage von einem Trupp Kinder aufgestört und verfolgt wird, traf er bei jedem Schritte aus Haufen von Männern und Weibern, die sich lustig und in der Hoffnung »noch zur rechten Zeit zu kommen«, nach der Sanct-Michaelsbrücke zu drängten, um die Hexe hängen zu sehen. Er wußte nicht mehr, wo er war, was er dachte, ob er träumte. Er ging, lief, eilte, schlug die Straßen auf gut Glück und ohne Wahl ein, immer nur von dem Gedanken an den Grèveplatz, an den schrecklichen Grèveplatz, den er in der Verwirrung hinter sich wähnte, vorwärts gestoßen.

Auf diese Weise ging er den Sanct-Genovevenberg entlang und verließ schließlich die Stadt durch die Pforte Saint-Victor. Er setzte seine Flucht so lange fort, als er, beim Rückwärtsschauen, den Thurmbereich des Universitätsviertels und die spärlichen Häuser der Vorstadt sehen konnte; aber als endlich eine Bodensenkung ihm dieses verhaßte Paris gänzlich aus dem Gesichtskreise brachte, als er sich hundert Meilen davon entfernt, in den Feldern, in einer Einöde wähnen konnte, da blieb er stehen und es schien ihm, als ob er wieder aufathmete.

Schreckliche Gedanken drängten sich jetzt in seinem Geiste. Er sah wieder klar in seine Seele, und er schauderte. Er dachte an dieses unglückliche Mädchen, das ihn und das er ins Verderben gestürzt hatte. Im Geiste warf er einen scheuen Blick auf den beiderseitigen verschlungenen Pfad, welchen das Verhängnis ihr jedesmaliges Schicksal hatte bis zu dem Schneidepunkte verfolgen lassen, wo es sie beide mitleidlos an einander zerschmettert hatte. Er dachte an die Thorheit ewiger Gelübde, an die Nichtigkeit der Keuschheit, der Wissenschaft, der Religion, der Tugend, an die Nutzlosigkeit Gottes. Mit Herzenslust versenkte er sich in die fürchterlichen Gedanken, und je tiefer er in sie hinabtauchte, desto mehr fühlte er, wie ein Satansgelächter in seinem Innern erschallte.

Und während er so sein Herz zerwühlte, als er sah, welchen weiten Spielplatz die Natur darin den Leidenschaften bereit gemacht hatte, lachte er noch bitterer. In der Tiefe seines Herzens rüttelte er seinen ganzen Haß, seine ganze Boshaftigkeit auf; und er erkannte mit dem kalten Blicke eines Arztes, der einen Kranken untersucht, daß dieser Haß, diese Boshaftigkeit nur verderbte Liebe wären; daß die Liebe, diese Quelle aller Tugenden im Menschen, im Herzen eines Priesters sich in Schrecknisse aller Art verwandelte, und daß ein Mensch, der geschaffen sei wie er, wenn er Priester werde, den Satan aus sich schüfe. Nun lachte er fürchterlich auf, und plötzlich erbleichte er wieder, als er die unheimlichste Seite dieser verhängnisvollen Leidenschaft: dieser zerstörenden, vergifteten, haßerfüllten, unversöhnlichen Liebe ins Auge faßte, welche für die eine nur zum Galgen, für den andern nur zur Hölle geführt hatte: sie, die verurtheilt, er, der verdammt war.

Und dann mußte er wieder lachen, wenn er daran dachte, daß Phöbus am Leben war, daß der Hauptmann nach alledem lebte, munter und vergnügt war, schönere Uniformen, als je trug, und eine neue Geliebte hatte, die er mitbrachte, um die alte hängen zu sehen. Sein Gelächter verdoppelte sich, wenn er bedachte, daß von den lebenden Wesen, deren Tod er bezweckt hatte, die Zigeunerin, das einzige Wesen, das er nicht haßte, auch die einzige war, die er nicht verfehlt hatte.

Dann schweiften seine Gedanken vom Hauptmanne zum Volke hin, und es packte ihn eine Eifersucht unerhörter Art. Er dachte daran, wie das Volk, das ganze Volk, das Weib, welches er liebte, im Hemde, fast nackt vor den Augen gehabt hätte. Er rang die Arme, wenn er sich vorstellte, daß dieses Weib, deren Formen von ihm allein in der Dunkelheit gesehen, die für ihn das höchste Glück gewesen wären, am hellen Tage, am hellen Mittage, gekleidet wie für eine wollüstige Nacht, dem ganzen Volke überlassen worden wäre. Er weinte vor Wuth über diese entweihten, besudelten, bloßgestellten und für immer geschändeten Geheimnisse der Liebe. Er weinte vor Wuth, wenn er sich vorstellte, wie viel unreine Blicke bei diesem ungenügend geschlossenen Hemde ihren Vortheil gefunden hätten; und daß dieses schöne Mädchen, diese ungebrochene Lilie, dieser Becher der Schamhaftigkeit und der Wonne, an den er seine Lippen nicht anders, als zitternd gesetzt, in eine Art gemeinsames Gefäß verwandelt worden sei, aus dem der niedrigste Pöbel von Paris, die Diebe, Bettler und Lakeien gemeinsam eine freche, unreine und verdorbene Lust zu stillen erschienen wären! Und wenn er versuchte, sich eine Vorstellung von dem Glücke zu machen, welches er auf Erden hatte finden können, wenn sie nicht Zigeunerin und er nicht Priester gewesen wäre, wenn es keinen Phöbus gegeben, und wenn sie ihn, den Archidiaconus, geliebt hätte; wenn er sich vorstellte, daß ein Leben voll Ruhe und Liebe für ihn, auch für ihn möglich gewesen wäre, daß es in diesem Augenblicke hier und da auf Erden glückliche Paare gäbe, die unter Orangenbäumen, am Ufer eines Baches, im Angesichte der untergehenden Sonne, einer gestirnten Nacht in ununterbrochene Plaudereien versunken seien; und daß, wenn Gott es gewollt hatte, er mit ihr eines dieser gesegneten Paare hätte bilden können, – da schwand sein Herz in Zärtlichkeit und in Verzweiflung hin.

»Ach! sie! sie ist es!« Das war die fixe Idee, die immer und immer wiederkehrte, die ihn marterte, ihm das Gehirn zernagte, die Eingeweide zerriß. Er bedauerte nichts, nichts bereute er; alles was er gethan hatte, war er bereit noch einmal zu thun; er wollte sie lieber in den Händen des Henkers, als in den Armen des Hauptmanns sehen. Aber er litt; er litt so sehr, daß er sich zeitweilig Büschel Haare ausriß, um sich zu überzeugen, ob sie nicht weiß würden.

Unter andern kam ein Augenblick, wo ihm in die Gedanken kam, daß dies vielleicht die Minute wäre, in der die fürchterliche Kette, die er am Morgen gesehen hatte, ihre eiserne Schlinge um diesen so zarten und zierlichen Hals zusammenziehen könnte. Dieser Gedanke ließ ihm den Schweiß aus allen Poren dringen.

Dann kam ein anderer Moment, wo er für sich in ein teuflisches Lachen ausbrach, wenn er sich auf einmal die Esmeralda vorstellte, wie er sie am ersten Tage gesehen hatte: lebhaft, sorglos, heiter, herausgeputzt, tanzend, beflügelt und mit sich im Einklänge, und die Esmeralda vom letzten Tage: im Hemde, den Strick um den Hals, langsam mit ihren nackten Füßen die eckige Leiter zum Galgen hinaufsteigend; er vergegenwärtigte sich dieses zwiefache Gemälde mit einer derartigen Lebendigkeit, daß er einen entsetzlichen Schrei ausstieß.

Während daß dieser Sturm der Verzweiflung alles in seiner Seele durcheinander warf, zerbrach, niederriß, umbog und entwurzelte, sah er in die Natur rings um sich. Zu seinen Füßen durchsuchten einige Hühner pickend das Gebüsch, krochen die Goldkäfer im Sonnenscheine fort; über seinem Haupte zogen Gruppen von Schäfchenwolken am blauen Himmel dahin; am Horizonte durchbrach der Thurm der Abtei Sanet-Victor die Hügellinie mit seinem Schieferobeliske; und der Windmüller auf dem Hügel Copeaux sah pfeifend zu, wie sich die arbeitenden Flügel seiner Mühle drehten. Dieses ganze thätige, geordnete, ruhige, um ihn unter tausend Formen sich wiederholende Leben that ihm weh. Er begann sich von neuem auf die Flucht zu begeben.

So lief er quer durch die Felder bis zum Abende. Diese Flucht vor der Natur, vor dem Leben, vor sich selbst, vor dem Menschen, vor Gott, vor allem währte den ganzen Tag. Manchmal warf er sich mit dem Gesichte zur Erde nieder und riß mit seinen Nägeln das junge Getreide aus dem Boden. Bisweilen hielt er in einer öden Dorfstraße Rast; und seine Gedanken wurden so unerträglich, daß er mit beiden Händen nach seinem Kopfe faßte und versuchte, ihn von seinen Schultern zu reißen, um ihn auf dem Pflaster zu zerschmettern. Um die Stunde, wo die Sonne hinabsank, prüfte er sich von neuem, und er hielt sich für beinahe wahnsinnig. Der Sturm, welcher in seinem Innern seit dem Augenblicke wüthete, wo er die Hoffnung und die Willenskraft verloren hatte, die Zigeunerin zu retten, dieser Sturm hatte in seinem Bewußtsein nicht einen einzigen gesunden Begriff, nicht einen einzigen vernünftigen Gedanken übrig gelassen. Sein Verstand lag fast ganz zerstört in ihm darnieder. Es fanden sich nur noch zwei deutliche Vorstellungen in seinem Geiste: die Esmeralda und der Galgen; alles andere war dunkel. Diese miteinander verbundenen Bilder stellten sich ihm als eine entsetzliche Gruppe dar; und je mehr er das, was ihm an Aufmerksamkeit und Denkkraft geblieben war, darauf richtete, desto mehr sah er sie, zufolge eines phantastischen Fortganges, wachsen: die eine an Anmuth, an Reiz, an Schönheit, an Glanz, den andern an Schrecken; so daß schließlich die Esmeralda ihm wie ein Stern, der Galgen, wie ein ungeheurer, dürrer Arm erschien.

Ein merkwürdiger Umstand war dabei, daß während dieser ganzen qualvollen Lage der ernstliche Gedanke zu sterben ihm fern blieb. So war der Elende fertig. Er hing am Leben. Vielleicht sah er wirklich die Hölle im Hintergrunde.

Unterdessen ging der Tag immer mehr zur Neige. Das lebende Dasein, welches noch in ihm vorhanden war, dachte verwirrt an die Rückkehr. Er glaubte sich weit von Paris weg; aber als er sich über die Gegend orientirte, merkte er, daß er nichts anderes gethan hatte, als um die Umfassungsmauer des Universitätsviertels herumzugehen. Die Thurmspitze von Saint-Sulpice und die drei hohen Thürme von Saint-Germain-des-Prés ragten zu seiner Rechten über den Horizont hervor. Er wandte sich nach dieser Seite hin. Als er das »Wer-da?« der Ritter des Abtes um den zinnengeschmückten Wall von Saint-Germain herum vernahm, wandte er sich ab, schlug einen Pfad ein, welcher sich ihm zwischen der Mühle der Abtei und dem Spitale des Fleckens zeigte, und befand sich nach Verlauf einiger Augenblicke am Rande der Studentenwiese. Diese Wiese war wegen der Unruhen, die Tag und Nacht auf ihr sich ereigneten, berühmt; es war die Hyder der armen Mönche von Saint-Germain. ( Quod monachis Sancti Germani pratensis hydra fuit, clericis nova semper dissidorum capita suscitantibus.) 57 Der Archidiaconus fürchtete dort jemandem zu begegnen; er hatte vor jedem menschlichen Angesichte Furcht; eben war er dem Universitätsviertel, dem Flecken Saint-Germain ausgewichen; er wollte erst so spät wie möglich in die Straßen zurückkehren. Er ging längs der Studentenwiese hin, schlug den einsamen Pfad ein, welcher sie von Dieu-Neuf trennte, und langte endlich am Ufer des Wassers an. Da fand Dom Claude einen Fährmann, welcher ihn für einige Pariser Heller die Seine bis zur Spitze der Altstadt hinauffuhr, und ihn auf jener einsamen Landzunge absetzte, wo der Leser bereits Gringoire hat träumen sehen, und die sich jenseits der königlichen Gärten, gleichlaufend mit der Insel des Viehfährmanns, hinerstreckte.

Das einförmige Wiegen des Kahnes und das Rauschen des Wassers hatten den unglücklichen Claude gewissermaßen eingeschläfert. Als der Fährmann sich entfernt hatte, blieb er betäubt am Uferrande stehen, blickte vor sich hin und nahm die Gegenstände nur noch durch Vergrößerungsoscillationen wahr, die ihm aus allem eine Art Gaukelspiel machten. Nicht selten bringt die Ermüdung, welche ein großer Schmerz nach sich zieht, diese Wirkung auf den Geist hervor.

Die Sonne war hinter dem hohen Nesle-Thurme untergegangen. Die Abenddämmerung hatte begonnen. Der Himmel war blaß und ebenso das Wasser des Flusses. Zwischen diese zwei weißen Flächen schob das linke Seineufer, auf das er die Blicke geheftet hatte, seine düstere Masse hinein und streckte sich, durch die Perspective immer schmäler und schmäler geworden, wie ein schwarzer Pfeil in den Nebel des Horizontes hinaus. Dieses Ufer war mit Häusern bedeckt, von denen man nur den dunkeln Schattenriß erkannte, der sich in der Abenddämmerung scharf auf dem hellen Grunde des Himmels und des Wasserspiegels abhob. Hier und da begannen Fenster sich wie Feuerlöcher zu erhellen. Jener ungeheure, schwarze Obelisk, der zwischen den zwei weißen Flächen des Himmels und des Flusses isolirt, und an dieser Stelle sehr breit, dalag, machte auf Dom Claude einen sonderbaren Eindruck, der dem ähnlich war, was ein Mensch empfinden müßte, der, am Fuße des Straßburger Münsters auf dem Rücken liegend, die riesige Spitze über seinem Haupte sich in die Halbschatten der Abenddämmerung erheben sehen würde. Hier nur war es Claude, welcher aufrecht stand, und der Obelisk, welcher lag; aber da der Fluß, der den Himmel wiederspiegelte, die Tiefe unter ihm vergrößerte, so schien das ungeheure Vorgebirge ebenso kühn in die Leere emporgeschwungen, wie jeder Münsterthurm, und der Eindruck war derselbe. Dieser Eindruck hatte sogar das Seltsame und das mächtiger Wirkende an sich, als ob es wohl der Straßburger Münsterthurm, aber ein Straßburger Münster von zwei Meilen Höhe wäre, – d. h. also etwas Unerhörtes, Gigantisches, Unermeßliches; ein Bauwerk, wie kein menschliches Auge es gesehen hat, ein wahrer babylonischer Thurm! Die Schornsteine der Häuser, die Zinnen der Mauern, die zugespitzten Giebel der Dächer, der Thurm des Augustinerklosters, der Nesle-Thurm: alle diese Erhöhungen, welche aus dem Profile des kolossalen Obelisken heraustraten, trugen zur Täuschung bei, indem sie in seltsamer Weise dem Auge die Einschnitte einer phantastischen und sonnenbunten Sculptur darstellten. Claude glaubte im Zustande der Sinnestäuschung, in dem er sich befand, den Thurm der Hölle zu sehen, mit seinen leiblichen Augen zu sehen; die Tausende von Lichtern, die über die ganze Höhe des ungeheuern Thurmes zerstreut waren, erschienen ihm als ebenso viele Hallen im Innern des ungeheuern Brennofens; die Stimmen und der Lärm, welcher daraus erschallte, als ebenso viel Geschrei und Röcheln der Verdammten. Da packte ihn die Furcht, er hielt sich mit den Händen die Ohren zu, um nichts mehr zu hören, wandte den Rücken, um nichts mehr zu sehen, und entfernte sich mit großen Schritten von der furchtbaren Erscheinung.

Doch die Vision war in seinem Innern.

Als er in die Straßen zurückkehrte, machten ihm die Leute, die sich im Scheine der Schaufenster durcheinander drängten, den Eindruck eines ewigen Hin- und Herrennens von Gespenstern um ihn herum. Er hörte seltsames Geräusch in seinen Ohren; sonderbare Bilder verwirrten seinen Geist. Er sah weder die Häuser, noch die Straße, noch Wagen, weder Männer noch Frauen, sondern ein Chaos von unbestimmten Gegenständen, die an den Rändern ineinander verschwammen. An der Ecke der Rue-de-la-Barillerie befand sich ein Materialwaarenladen, dessen Wetterdach seit undenklichem Herkommen in seinem Umfange mit blechernen Bügelhaken versehen war, an denen ein Kreis aus Holz nachgemachter Lichter hängt, die im Winde aneinander stoßen und wie Castagnetten klappern. Er glaubte in der Dunkelheit zu hören, wie die Skeletthaufen in Montfaucon aneinanderschlügen.

»Ach!« murmelte er, »der Nachtwind treibt sie gegen einander und vermischt den Lärm ihrer Ketten mit dem Lärme ihrer Knochen! Sie ist vielleicht auch da unter ihnen!«

In seinem Wesen ganz bestürzt, wußte er nicht, wohin er ging. Nachdem er einige Schritte gethan, befand er sich auf der Sanct-Michaelsbrücke. Am Fenster eines Erdgeschosses stand ein Licht; er trat heran. Durch eine zersprungene Scheibe sah er ein großes schmutziges Zimmer, das eine verworrene Erinnerung in seinem Geiste wach rief. In diesem Zimmer, das von einer kärglichen Lampe schlecht erleuchtet wurde, befand sich ein junger, blonder und kräftiger Mann, von fröhlichem Aussehen, der unter lautem Gelächter ein junges, sehr frech aufgeputztes Mädchen im Arme hatte; und bei der Lampe saß eine alte Frau, welche spann und mit meckernder Stimme dazu sang. Da der junge Mann nicht immer lachte, so gelangte das Lied der Alten bruchstückweise zum Ohre des Priesters; es enthielt unverständliches und abscheuliches Zeug:

Diebe schleichen durch die Nacht –
Spinn‘, mein Rädchen, spinn‘ mit Macht;
Spinn‘ dem Henker seinen Strick,
Frisch! es drängt der Augenblick. –
Diebe schleichen durch die Nacht.

Gebet Hanf zum Henkerband. –
Säet Hanf drum rings im Land;
Hanf nur sä’t und kein Getreide.
Manchem schnurrt mein Rad zum Leide
Gebet Hanf zum Henkerband.

Diebe schleichen durch die Nacht –
Schönes Mädchen, hab‘ nur Acht.
Die sich deiner Lieb‘ heut freuen,
Morgen dich dem Galgen weihen. –
Diebe schleichen durch die Nacht.

Darauf lachte der junge Mann und liebkoste das Mädchen. Die Alte war die Falourdel, das Mädchen eine öffentliche Dirne, der junge Mann war sein Bruder Johann.

Er sah unverwandt hinein. Dieses Schauspiel war eins wie alle andern.

Er sah, wie Johann nach einem Fenster hinging, das im Hintergrunde des Zimmers war, es öffnete, einen Blick auf den Flußdamm warf, wo in der Ferne tausende von erleuchteten Fenstern schimmerten; und er hörte dann, während dieser das Fenster schloß, wie er sagte:

»Bei meiner Seele! da haben wir’s, es ist Nacht. Die Bürger zünden ihre Lichter und der liebe Gott seine Sterne an.«

Dann kam Johann zu der Dirne zurück und zerbrach eine Flasche, die auf dem Tische stand, wobei er ausrief:

»Schon leer, Donnerwetter! und ich habe kein Geld mehr! Isabeau, mein Liebchen, ich werde erst dann mit Jupiter zufrieden sein, wenn er Eure beiden weißen Brüste in zwei schwarze Flaschen verwandelt hat, aus denen ich Tag und Nacht Beaune-Wein 58 saugen will.«

Dieser hübsche Scherz brachte das Freudenmädchen zum Lachen, und Johann ging weg.

Dom Claude hatte nur so viel Zeit, sich auf die Erde zu werfen, um von seinem Bruder nicht getroffen, ins Gesicht gesehen und erkannt zu werden. Glücklicherweise war die Straße dunkel, und der Student war betrunken. Er bemerkte jedoch den Archidiaconus, der auf dem Pflaster im Schmutze lag.

»Oh! Oh!« sagte er, »da liegt einer, der heute ein lustiges Leben geführt hat.«

Er bewegte mit dem Fuße den Archidiaconus, der seinen Athem anhielt.

»Toll und voll,« fuhr Johann fort. »Wirklich, er ist dick. Der reine Blutegel, der von einer Tonne abgefallen ist. Es ist ein Kahlkopf,« fügte er, sich bückend, hinzu; »es ist ein Greis! Fortunate senex!« 59

Darauf hörte Dom Claude, wie er sich mit den Worten entfernte:

»Es ist einerlei: die Vernunft ist eine herrliche Sache, und mein Bruder, der Archidiaconus, ist sehr glücklich, weil er weise ist und Geld hat.«

Der Archidiaconus erhob sich nun und lief in einem Athem nach Notre-Dame hin, deren mächtige Thürme er in der Dunkelheit sich über die Häuser erheben sah.

Im Augenblicke, wo er ganz athemlos auf dem Platze ankam, wich er zurück und wagte nicht die Blicke auf das unselige Gebäude zu erheben.

»Ach!« sagte er mit schwacher Stimme, »ist es denn wirklich wahr, daß sich so etwas heute, an diesem Morgen sogar, hier zugetragen hat?«

Indessen erkühnte er sich, die Kirche anzusehen. Die Façade war in Dunkel gehüllt; im Hintergrunde funkelte der Himmel im Sternenlichte. Die Mondsichel, welche sich eben über den Horizont erhob, stand in diesem Augenblicke über der Spitze des Thurmes zur Rechten, und schien wie ein leuchtender Vogel auf dem Rande des in Kleeblattform durchbrochenen Geländers zu sitzen.

Die Thür zum Kloster war verschlossen; aber der Archidiaconus hatte den Schlüssel zum Thurme, in dem sich sein Laboratorium befand, immer bei sich. Er bediente sich dessen jetzt, um in die Kirche hineinzugelangen.

In der Kirche befand sich alles in der Dunkelheit und Stille eines Grabes. An den langen Schatten, die von allen Seiten in breiten Streifen herabfielen, erkannte er, daß die Behänge der Feierlichkeit vom Morgen noch nicht abgenommen worden waren. Das große silberne Kreuz funkelte hinten in der Dunkelheit, von einigen schimmernden Punkten überstreut, wie die Milchstraße dieser Grabesnacht. Die langen Chorfenster zeigten über den schwarzen Behängen die äußerste Bogenspitze, deren Scheiben, in die ein Mondstrahl fiel, nur die zweifelhaften Farben der Nacht: eine Art Violet, Weiß und Blau, als jene Farbe, die man nur auf Todtengesichtern findet, erkennen ließen. Als der Archidiaconus ringsum im Chore diese bleichen Bogenspitzen bemerkte, glaubte er die Mützen verdammter Bischöfe zu sehen. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, glaubte er, daß sie einen Kreis blasser Gesichter bildeten, die ihn anschauten.

Er begann quer durch die Kirche zu fliehen. Da schien es ihm, als ob die Kirche gleichfalls wankte, sich bewegte, sich beseelte und lebte; als ob jede große Säule eine ungeheure Tatze würde, die den Boden mit ihrer breiten Steinsohle berührte, und als ob die gigantische Kathedrale nur eine Art riesenhafter Elephant wäre, der schnob und auf seinen Säulen anstatt Füßen, mit seinen zwei Thürmen anstatt Rüssel, und in dem ungeheuern schwarzen Tuche anstatt Schabracke, einherwandle.

So war das Fieber oder die Verrücktheit zu einem solchen Stärkegrade gelangt, daß die äußere Welt für den Unglücklichen nur noch eine Art sichtbarer, greifbarer, schrecklicher Apokalypse wurde.

Einen Augenblick lang fühlte er Linderung. Als er in eines der niedrigen Seitenschiffe eintrat, bemerkte er hinter einem Pfeilerschafte einen röthlichen Schimmer. Er eilte wie auf einen Stern darauf los. Es war die ärmliche Lampe, die Tag und Nacht das öffentliche Gebetbuch von Notre-Dame unter dem eisernen Gitter beleuchtete. Er warf sich begierig über das heilige Buch, in der Hoffnung, etwas Trost oder einige Ermuthigung darin zu finden. Das Buch war an jener Stelle des Hiob geöffnet, welche sein starres Auge überflog:

»Und ein Geist ging vor meinem Angesichte vorüber, und ich vernahm einen leisen Odem, und die Haare meines Leibes sträubten sich.«

Beim Lesen dieser Klageworte empfand er das, was der Blinde empfindet, der sich von dem Stabe, den er aufgehoben hat, verwundet fühlt. Seine Knie brachen unter ihm zusammen, und er sank auf die Steinplatten nieder, als er an diejenige dachte, die im Laufe des Tages gestorben war. Er fühlte in seinem Gehirne so viele entsetzliche Dünste vorüberfliegen und aussteigen, daß es ihm vorkam, als ob sein Kopf eine der Essen der Hölle geworden wäre.

In dieser Lage, scheint es, blieb er ziemlich lange, ohne mehr zu denken, in sich selbst versunken und machtlos in der Gewalt des Teufels. Endlich erlangte er einige Kraft wieder; er dachte daran, seine Zuflucht in den Thurm, zu seinem treuen Quasimodo zu nehmen. Er erhob sich und weil er Furcht hatte, nahm er, um sich auf dem Wege zu leuchten, die Lampe neben dem Gebetbuche mit. Das war ein Frevel; aber er dachte nicht mehr daran, auf so Geringfügiges zu achten.

Er klomm langsam die Treppe zu den Thürmen empor, von einem geheimen Schrecken erfüllt, der sich selbst den vereinzelten Passanten des Vorhofes mittheilen mußte, als das geheimnisvolle Licht seiner Lampe so spät von Luke zu Luke nach der Höhe des Glockenturmes sich noch fortbewegte.

Plötzlich fühlte er einen kalten Luftzug in seinem Gesichte, und befand sich unter der Thür zur höchsten Galerie. Die Luft war kalt, am Himmel zogen Wolken hin, deren große, weiße Wellen eine über die andere strömten, während sie sich an den Ecken zerdrückten und den Eisgang eines Flusses im Winter darstellten. Die Mondsichel, die mitten in diesen Wolken schwebte, machte den Eindruck eines himmlischen Schiffes, das in diesen luftigen Eisschollen festsaß.

Er senkte den Blick und betrachtete einen Augenblick lang, zwischen dem Gitter von Säulchen hindurch, welches die beiden Thürme verband, in der Ferne durch einen Dunst und Nebelschleier hindurch, die Menge schweigender Dächer von Paris, die spitz, zahllos, aneinandergequetscht und klein, wie die Wogen eines ruhigen Meeres in einer Sommernacht sich hinzogen. Der Mond warf einen schwachen Schein, der dem Himmel und der Erde ein aschfarbiges Aussehen verlieh.

In diesem Augenblicke ließ die Thurmuhr ihre helle und schrillklingende Stimme erschallen. Mitternacht ertönte. Der Priester dachte an Mittag; es waren die zwölf Schläge, welche wiederkehrten.

»Ach!« sagte er sich ganz leise, »sie muß jetzt kalt sein!«

Plötzlich löschte ein Windstoß seine Lampe aus, und fast zur selben Zeit sah er im entgegengesetzten Winkel des Thurmes einen Schatten, eine weiße Gestalt, ein Weib erscheinen. Er zitterte. Neben diesem Weibe befand sich eine kleine Ziege, die ihr Blöken mit dem letzten Schlage der Glocke vereinigte.

Er hatte die Stärke hinzusehen. Sie war es.

Sie war blaß und schwermüthig. Ihre Haare fielen auf die Schultern, wie am Morgen; aber am Halse hatte sie keinen Strick mehr, ihre Hände waren nicht mehr gebunden: sie war frei, sie war todt.

Sie war in Weiß gekleidet und hatte einen weißen Schleier auf dem Haupte. Sie kam langsam auf ihn zu, wobei sie die Blicke zum Himmel hob. Die geisterhafte Ziege folgte ihr. Er fühlte sich versteinert und zu unbeholfen, um zu fliehen. Bei jedem Schritte, den sie vorwärts that, machte er einen rückwärts, und das war alles. So kam er unter das dunkle Treppengewölbe zurück. Er war bei dem Gedanken erstarrt, daß sie vielleicht auch dorthin folgen könnte; wenn sie es gethan hätte, wäre er vor Schrecken todt gewesen.

Sie kam in der That vor die Thür der Treppe, blieb dort einige Augenblicke stehen, sah starr in das Dunkel, aber ohne daß sie den Priester da zu sehen schien, und ging vorbei. Sie erschien ihm viel größer, als da sie am Leben war; er sah den Mond durch ihr weißes Gewand; er hörte ihren Athem.

Als sie vorüber war, begann er mit der Langsamkeit, die er an dem Gespenst gesehen hatte, die Treppe wieder herabzusteigen. Scheu, das Haar ganz gesträubt, die erloschene Lampe immer noch in der Hand, hielt er sich selbst für ein Gespenst; und während er so die Wendeltreppe herabstieg, hörte er. ganz deutlich in seinem Ohre eine Stimme, die lachend die Worte wiederholte:

»… Ein Geist ging vor meinem Angesichte vorüber, und ich hörte einen leisen Odem, und die Haare an meinem Leibe sträubten sich.«

  1. Lateinisch: Weil die Wiese für die Mönche von Saint-Germain die Hyder war, welche beim Streite der Studenten immer wieder von neuem die Köpfe erhob. Anm. d. Uebers.
  2. Beaune-Wein, berühmter Rothwein aus dem Departement Côte d’or (Südfrankreich).
  3. Lateinisch: Glückseliger Greis. Anm. d. Uebers.

2. Bucklig, einäugig, lahm.

Jede Stadt im Mittelalter, und bis auf Ludwig den Zwölften jede Stadt in Frankreich, hatte ihre Zufluchtsorte. Diese Freistätten waren inmitten der Sündflut von Strafgesetzen und barbarischen Rechtsprechungen welche, die Stadt überschwemmten, gewissermaßen Inseln, welche sich über das Niveau der menschlichen Gerechtigkeit erhoben. Jeder Verbrecher, der eine solche Stätte betrat, war gerettet. Es gab in einer Bannmeile fast ebenso viele Freistätten, als Richtplätze. Es fand ein Mißbrauch der Straflosigkeit neben dem Mißbrauche der Strafverhängung statt: zwei Uebelstände, die sich einer durch den andern zu bessern suchten. Die Paläste des Königs, die Schlösser der Prinzen, vor allem die Kirchen hatten Asylrecht. Bisweilen machte man aus einer ganzen Stadt, welche man wiederbevölkern mußte, zeitweilig eine Zufluchtsstätte. Ludwig der Elfte machte Paris im Jahre 1467 zum Asyle.

Hatte der Verbrecher einmal den Fuß in der Freistätte, so war seine Person geheiligt; aber er mußte sich hüten, sie zu verlassen: ein Schritt aus dem Heiligthume heraus, und er fiel in die Flut zurück. Das Rad, der Galgen, der Wippgalgen hielten gute Wache rings um eine Zufluchtsstätte, und warteten unaufhörlich auf ihre Beute, wie die Haifische um ein Schiff herum. Man hat Verurtheilte gesehen, welche auf diese Weise in einem Kloster, auf der Treppe eines Palastes, im Bezirke einer Abtei, unter der Vorhalle einer Kirche ergrauten; in dieser Art war das Asyl freilich ein Gefängnis, wie jedes andere. Manchmal ereignete es sich auch, daß ein feierlicher Parlamentsbeschluß das Asylrecht verletzte und den Verurtheilten wieder dem Henker überlieferte; aber der Fall war selten. Die Parlamente scheuten sich vor den Bischöfen; und wenn jene zwei Talare sich darüber ja entzweiten, so hatte das Amtskleid kein leichtes Spiel mit dem Priestergewande. Bisweilen jedoch, wie im Processe der Mörder des Kleinen Johann, des Henkers von Paris, und in dem Emery Rousseau’s, des Mörders von Johann Valletet, sprang die Gerechtigkeit über die Kirche weg und schritt zur Vollstreckung ihrer Urtheile vor; aber war kein Parlamentsbeschluß vorhanden, wehe demjenigen, welcher mit bewaffneter Hand eine Zufluchtsstätte verletzte! Man weiß, welcher Art der Tod Roberts von Clermont, des Marschalls von Frankreich, und Johanns von Châlons, des Marschalls der Champagne, war; und dennoch handelte es sich dabei nur um einen gewissen Perrin Marc, einen Wechslerdiener, einen elenden Mörder; aber die zwei Marschälle hatten die Thüren von Saint-Méry erbrochen. Darin lag das ungeheure Verbrechen.

Es herrschte rings um alle Zufluchtsstätten eine solche Scheu, daß, um mit der Sage zu reden, sie manchmal sogar die Thiere ergriff. Aymoin erzählt, daß, als ein von König Dagobert gejagter Hirsch sich zum Grabe des heiligen Dionysius geflüchtet hatte, die Meute plötzlich in der Verfolgung anhielt. Die Kirchen hatten gewöhnlich ein für die Aufnahme solcher Hilfesuchenden hergerichtetes Zellchen. Im Jahre 1407 ließ ihnen Nicolaus Flamel über den Wölbungen der Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie ein Zimmer bauen, das ihm vier Livres sechs Sous und sechzehn Heller Pariser Münze kostete.

In Notre-Dame war eine Zelle über dem Dache der Abseiten unter den Strebepfeilern, im Angesicht des Klosters und gerade an der Stelle hergerichtet, wo sich die Frau des gegenwärtigen Thurmwächters einen Garten angelegt hat, der sich zu den hängenden Gärten von Babylon verhält, wie eine Salatstaude zu einem Palmbaume, wie eine Pförtnerin zur Königin Semiramis.

Hier, an dieser Stelle, hatte Quasimodo nach seinem tollen Siegeslaufe durch die Thürme und Galerien die Esmeralda niedergesetzt. So lange dieser Lauf gedauert, hatte das junge Mädchen ihrer Sinne nicht mächtig werden können; halb im Schlafe, halb wachend, empfand sie nichts weiter, als daß sie in die Luft emporstieg, daß sie in ihr schwamm, in ihr flog, daß etwas sie über die Erde emporhob. Von Zeit zu Zeit hörte sie das ausbrechende Gelächter, die donnernde Stimme Quasimodo’s in ihrem Ohre; sie öffnete ihre Augen, dann sah sie undeutlich unter sich Paris mit seinen Tausenden von Schiefer- und Ziegeldächern wie ein aus roth und blau zusammengesetztes Mosaik, über ihrem Kopfe blickte sie in Quasimodo’s abstoßendes und vergnügtes Gesicht. Dann fielen ihr die Augenlider wieder zu; sie glaubte, daß alles zu Ende wäre, daß man sie während ihrer Ohnmacht hingerichtet hätte, und daß der mißgestaltete Geist, welcher ihr Geschick gelenkt, sie wieder gepackt hätte und sie davontrüge. Sie wagte nicht ihn anzublicken und überließ sich ihm ganz.

Aber als der wilde und keuchende Glöckner sie in der Zelle des Asyles niedergesetzt hatte, als sie fühlte, wie seine plumpen Hände den Strick losmachten, der ihr in die Arme schnitt, da empfand sie jene eigentümliche Erschütterung, die plötzlich die Passagiere eines Schiffes weckt, das mitten in einer dunkeln Nacht auf den Grund fährt. Ihre Gedanken erwachten gleichfalls wieder und kehrten einer nach dem andern zurück. Sie sah, daß sie sich in der Kirche Notre-Dame befand; sie erinnerte sich, aus den Händen des Henkers entrissen worden zu sein; daß Phöbus noch am Leben sei, daß Phöbus sie nicht mehr liebte; und während diese beiden Gedanken, von denen der eine so viel Bitternis über den andern ergoß, auf einmal vor die Seele der armen Sünderin traten, wandte sie sich an Quasimodo, der vor ihr stand, und der ihr Furcht einjagte; sie sagte zu ihm:

»Warum habt Ihr mich gerettet?«

Er blickte sie voll Beklemmung an, als ob er zu errathen suche, was sie zu ihm sage. Sie wiederholte ihre Frage. Da warf er ihr einen unendlich traurigen Blick zu und entfloh.

Sie blieb erstaunt sitzen.

Nach einigen Augenblicken kam er wieder und brachte ein Bündel, welches er zu ihren Füßen niederlegte. Es waren Kleider, welche mitleidige Frauen für sie auf der Schwelle der Kirchenthüre niedergelegt hatten. Da senkte sie ihre Blicke auf sich selbst nieder, sah, daß sie fast nackt war und erröthete. Die Lust zum Leben kam wieder.

Quasimodo schien etwas von dieser Schamhaftigkeit zu empfinden. Er bedeckte sein Auge mit seiner breiten Hand und entfernte sich noch einmal, aber mit langsamen Schritten.

Sie kleidete sich schnell an. Es war ein weißes Gewand mit einem weißen Schleier: ein Kleid, wie es die Novizen im Hôtel-Dieu 60 trugen.

Sie war kaum damit zu Ende, als sie Quasimodo zurückkommen sah. Unter dem einen Arme trug er einen Korb, unter dem andern eine Matratze. In dem Korbe befanden sich eine Flasche, Brot und anderer Vorrath. Er setzte den Korb zur Erde und sprach: »Esset.« Dann breitete er das Lager auf dem Boden aus und sagte: »Schlafet.« Es war sein eigenes Mahl und sein eigenes Bett, das der Glöckner geholt hatte.

Die Zigeunerin hob die Augen auf ihn, um ihm Dank zu sagen; aber sie konnte nicht ein Wort hervorbringen. Der arme Teufel war wahrhaft schrecklich anzusehen. Sie ließ den Kopf mit einem Schauder des Schreckens sinken.

Jetzt sagte er zu ihr:

»Ich flöße Euch Furcht ein. Ich bin sehr häßlich, nicht wahr? Sehet mich gar nicht an; hört mir nur zu. Am Tage müßt Ihr hier bleiben; des Nachts könnt Ihr durch die ganze Kirche wandern. Aber verlaßt weder am Tage noch des Nachts die Kirche. Ihr würdet verloren sein. Man würde Euch tödten, und ich würde sterben.«

Bewegt hob sie den Kopf, um ihm zu antworten. Er war verschwunden. Sie fand sich wieder allein, sann über die sonderbaren Worte dieses fast entsetzlichen Wesens nach, und war betroffen von dem Tone seiner Stimme, die so rauh und doch so sanft erklang.

Nun betrachtete sie ihre Zelle. Es war ein Zimmer von ohngefähr sechs Fuß im Geviert, mit einem kleinen Lukenfenster und einer Thür in der Wand des sanft geneigten Daches aus flachen Steinen. Mehrere Dachrinnen, in Form von Thiergestalten, schienen sich nach ihr herumzuneigen und den Hals vorzustrecken, um sie durch das Fenster zu betrachten. Am Rande ihres Daches bemerkte sie die Spitzen von Tausenden von Kaminen, die unter ihren Augen den Rauch aller Feuerstellen von Paris in die Luft steigen ließen: ein trauriges Schauspiel für die arme Zigeunerin, das Findelkind, die zum Tode Verurtheilte, das unglückselige Geschöpf ohne Vaterland, ohne Familie, ohne Heimat.

In dem Augenblicke, wo der Gedanke an ihre Absonderung sich ihr so, und schmerzlicher als jemals, aufdrängte, fühlte sie einen zottigen und bärtigen Kopf über ihre Hände und Knien gleiten. Sie erschrak (denn alles erschreckte sie jetzt) und sah sich um. Es war die arme Ziege, die behende Djali, die hinter ihr in dem Augenblicke entwischt war, als Quasimodo die Schaar Charmolue’s auseinander gejagt hatte, und die sich seit fast einer Stunde zu ihren Füßen in Liebkosungen erschöpfte, ohne nur einen Blick von ihr empfangen zu können. Die Zigeunerin bedeckte sie mit Küssen. »Ach, Djali!« sagte sie, »wie habe ich dich vergessen! Du denkst doch immer noch an mich! Ach! du, du bist nicht undankbar!« Zu gleicher Zeit begann sie zu weinen, als ob eine unsichtbare Hand die Last von ihr genommen hätte, welche die Thränen seit so langem in ihrem Herzen zurückhielt; und in dem Maße, wie ihre Thränen flossen, fühlte sie damit das Herbste und Bitterste ihres Schmerzes verschwinden. Als der Abend gekommen war, fand sie die Nacht so schön, den Mond so mild, daß sie auf der obern Galerie, welche die Kirche umgiebt, einen Rundgang machte. Sie empfand darin eine Beruhigung, so ruhig erschien ihr, von dieser Höhe herab gesehen, die Erde.

  1. Name des großen, noch heute bestehenden Krankenhauses der Stadt Paris. Anm. d. Uebers.

3. Taub.

Am folgenden Tage merkte sie, als sie erwachte, daß sie geschlafen hatte. Es war so lange Zeit her, daß sie des Schlafes entwöhnt war! Ein freundlicher Strahl der aufgehenden Sonne drang durch ihre Luke herein und streifte eben ihr Angesicht. Zu gleicher Zeit mit der Sonne bemerkte sie an diesem Fensterchen einen Gegenstand, der sie in Schrecken versetzte: das schreckliche Gesicht Quasimodo’s. Unwillkürlich schloß sie die Augen wieder, aber vergebens; sie glaubte immer durch ihr rosiges Augenlid dieses einäugige, zahnlückige Gnomengesicht zu sehen. Weil sie jedoch ihre Augen immer geschlossen hielt, hörte sie nun eine rauhe Stimme, welche in sehr sanftem Tone sprach:

»Fürchtet Euch nicht. Ich bin Euer Freund. Ich war gekommen, um Euch schlafen zu sehen. Das ist Euch nicht unangenehm, nicht wahr, daß ich komme, um Euch schlafen zu sehen? Wie kann Euch das zuwider sein, daß ich hier bin, wenn Ihr die Augen geschlossen habt? Jetzt will ich davongehen. So, ich habe mich hinter die Mauer gesetzt. Ihr könnt jetzt die Augen öffnen.«

Im Tone, mit dem diese Worte gesprochen wurden, lag noch etwas Klagenderes, als in ihnen selbst. Die Zigeunerin öffnete gerührt die Augen. Er war in Wirklichkeit nicht mehr an der Luke. Sie ging jetzt zum Fenster hin und sah den armen Buckligen in einer schmerzlichen und gefaßten Haltung in einer Mauerecke niedergeduckt. Sie machte eine Anstrengung, um die Abneigung zu überwinden, die er ihr einflößte. »Kommt,« sagte sie in sanftem Tone zu ihm. Bei der Bewegung der Lippen der Zigeunerin glaubte Quasimodo, daß sie ihn forttrieb; darauf erhob er sich und zog sich hinkend, langsamen Schrittes und mit gesenktem Kopfe zurück, ohne daß er wagte, selbst einen verzweiflungsvollen Blick auf das junge Mädchen zu werfen. »Kommt doch,« rief sie. Aber er entfernte sich immer weiter. Jetzt sprang sie aus ihrer Zelle heraus, eilte auf ihn zu und ergriff ihn am Arme. Als er sich von ihr berührt fühlte, zitterte Quasimodo an allen Gliedern. Er erhob sein Auge mit flehendem Ausdrucke zu ihr, und als er sah, daß sie ihn zu sich zurückführte, strahlte sein ganzes Antlitz vor Freude und Zärtlichkeit. Sie wollte ihn in ihre Zelle hineinführen, aber er bestand darauf, auf der Schwelle zu bleiben.

»Nein, nein,« sagte er, »die Eule dringt nicht in das Nest der Lerche.«

Dann kauerte sie sich zierlich mit der Ziege, die zu ihren Füßen eingeschlafen war, auf das Lager nieder. Alle beide verharrten einige Augenblicke bewegungslos und betrachteten einander, er so viel Anmuth, sie so viel Häßlichkeit, in Stillschweigen. Mit jeder Minute entdeckte sie an Quasimodo irgend eine Häßlichkeit mehr. Ihr Blick streifte von den krummen Knien zu dem buckligen Rücken, von diesem zu dem einzigen Auge. Sie konnte nicht fassen, daß ein so übel geschaffenes Wesen existiren könnte. Und dabei war über dies Ganze so viel Traurigkeit und Milde ausgegossen, daß sie begann, sich daran zu gewöhnen.

Er brach zuerst das Schweigen.

»Ihr sagtet mir also, daß ich wiederkommen sollte.«

Sie machte mit dem Kopfe ein bejahendes Zeichen und sagte: »Ja.«

Er verstand das Kopfnicken.

»Ach!« sagte er, wie zögernd um zu endigen, »ich … ich bin taub.«

»Armer Mann!« rief die Zigeunerin mit dem Ausdrucke wohlwollenden Mitleides.

Er begann schmerzlich zu lächeln.

»Ihr findet, daß mir nur das noch fehlte, nicht wahr? Ja, ich bin taub. So bin ich nun einmal geschaffen. Es ist schrecklich, nicht wahr? Und Ihr, Ihr seid so schön!«

Es lag in dem Tone des Unglückseligen ein so tiefes Gefühl seines Elendes, daß sie nicht die Kraft hatte, ein Wort zu sprechen. Uebrigens würde er es nicht gehört haben. Er fuhr fort:

»Niemals habe ich meine Häßlichkeit bemerkt, wie jetzt. Wenn ich mich mit Euch vergleiche, habe ich wohl Mitleiden mit mir: so ein armes unglückliches Ungeheuer, wie ich bin! Ich muß auf Euch den Eindruck eines Thieres machen, sagt selbst … Ihr, die Ihr ein Sonnenstrahl, ein Thautropfen, das Lied eines Vogels seid! Ich, ich bin etwas Abscheuliches, weder Mensch noch Thier, ich bin, ich weiß nicht warum, etwas Härteres, etwas mehr mit den Füßen Getretenes und Mißgestalteteres, als ein Kieselstein!«

Dann begann er zu lachen, und dieses Lachen war so, wie man es sich nicht herzzerreißender in der Welt denken kann. Er fuhr fort:

»Ja, ich bin taub; aber Ihr könnt durch Geberden, durch Zeichen mit mir sprechen. Ich habe einen Herrn, welcher auf diese Weise mit mir sich unterhält. Und dann werde ich sehr bald Euern Willen an der Bewegung Eurer Lippen, an Eurem Blicke erkennen.«

»Nun gut!« versetzte sie, dazu lächelnd, »sagt mir, warum Ihr mich gerettet habt.«

Er sah sie aufmerksam an, während daß sie sprach.

»Ich habe verstanden,« antwortete er. »Ihr fragt mich, warum ich Euch gerettet habe. Ihr habt jenen Elenden vergessen, der versucht hat, Euch eines Nachts zu entführen; jenen Elenden, dem Ihr sogar Tags darauf an ihrem schändlichen Pranger Beistand geleistet habt. Ein Tropfen Wasser und ein wenig Mitleid: das ist mehr, als daß ich es mit meinem Leben bezahlen könnte. Ihr habt diesen Elenden vergessen; er – er hat sich dessen erinnert.«

Sie hörte ihm mit tiefer Rührung zu. Eine Thräne trat in bas Auge des Glöckners, aber sie rollte nicht herab. Er schien eine Art Ehrensache daraus zu machen, sie zurückzudrängen.

»Höret,« fuhr er fort, als er nicht mehr fürchtete, daß diese Thräne herabfließen könnte, »wir haben hier sehr hohe Thürme; ein Mensch, der von ihnen herunterfallen würde, wäre todt, ehe er das Pflaster berührte; wenn es Euch Vergnügen machen sollte, daß ich mich hinabstürze, braucht Ihr nicht einmal ein Wort zu sagen, ein Blick Eures Auges soll genügen.«

Nun erhob er sich. Dieses sonderbare Wesen erweckte in der Zigeunerin, so unglücklich sie auch selbst war, etwas Mitleiden. Sie gab ihm ein Zeichen zu bleiben.

»Nein, nein,« sagte er, »ich darf nicht zu lange bleiben. Ich fühle mich nicht wohl hier. Es geschieht nur aus Mitleid, daß Ihr die Augen nicht von mir wendet. Ich gehe irgend wohin, von wo aus ich Euch werde sehen können, ohne daß Ihr mich erblickt: das wird besser sein.«

Er zog aus seiner Tasche eine kleine metallene Pfeife.

»Da,« sagte er, »wenn Ihr meiner bedürfen solltet, wenn Ihr wollt, daß ich kommen soll, wenn es Euch nicht zu viel Abscheu verursachen wird, mich zu sehen, so möget Ihr damit pfeifen. Ich höre dieses Geräusch da.«

Er legte die Pfeife auf dem Boden nieder und entfloh.

1. Es ist gefährlich, sein Geheimnis einer Ziege anzuvertrauen.

Mehrere Wochen waren verflossen. Es war in den ersten Tagen des März. Die Sonne, welche Dubartas, dieser klassische Vorfahr der Umschreibung, noch nicht »den Großherzog unter den Lichtern« genannt hatte, war deswegen nicht weniger freudig und strahlend. Es war einer von den Frühlingstagen, die so mild und schön sind, daß ganz Paris sie auf Plätzen und Spaziergängen wie Sonntage feiert. An solchen hellen, warmen und heitern Tagen ist es vorzüglich eine bestimmte Stunde, wo man das Portal von Notre-Dame bewundern muß. Es ist der Augenblick, wo die schon zum Untergange sich neigende Sonne der Kathedrale gerade gegenüber steht. Ihre immer wagrechter fallenden Strahlen entfernen sich allmählich vom Pflaster des Platzes und steigen senkrecht längs der Façade in die Höhe, wo sie die unzähligen runden Erhöhungen aus ihrem Schatten hervortreten lassen, während die große Mittelrosette wie ein im Wiederscheine der Schmiedeesse glühendes Cyklopenauge flammt.

Es war um jene Stunde.

Gegenüber der hohen, vom Abendstrahle gerötheten Kathedrale, auf dem steinernen Balkone, der über der Thürhalle eines reichen gothischen Hauses, das die Ecke des Platzes und der Domhofstraße bildete, angebracht war, saßen lachend und allerlei Scherz treibend mehrere hübsche, junge Mädchen. An der Länge des Schleiers, welcher von der Spitze der perlenumwundenen Haube bis auf die Hacken fiel, an der Feinheit des gestickten Hemdchens, welches ihre Schultern bedeckte, und nach der einnehmenden Mode von damals die Rundung des jungfräulich schönen Busens erkennen ließ; an dem Reichthume ihrer Unterkleider, welche (merkwürdiger Geschmack!) noch kostbarer waren, als das Oberkleid, an der Gaze, Seide, dem Sammet, mit dem alles ausstaffirt war, – vor allem aber an der Weiße ihrer Hände, welche ein müßiges und arbeitsloses Dasein bezeugten, war es leicht, adlige und reiche Erbinnen zu errathen. In der That war es Fräulein Fleur-de-Lys von Gondelaurier und ihre Gespielinnen: Diane von Christeuil, Amelotte von Montmichel, Colombe von Gaillefontaine und die Kleine von Champchevrier, – alles Mädchen aus gutem Hause, die in diesem Augenblicke bei der verwitweten Frau von Gondelaurier versammelt waren, des durchlauchtigen Herrn von Beaujeu und seiner Frau Gemahlin wegen, die im Monate April nach Paris kommen und hier ein Ehrengeleit für die Frau Kronprinzessin Margarethe auswählen sollten, da man diese in der Picardie aus den Händen der Flamländer in Empfang nehmen mußte. Nun bewarben sich alle Krautjunker auf dreißig Meilen in der Runde um diese Ehre für ihre Töchter, und eine große Zahl von ihnen hatte dieselben schon nach Paris gebracht oder geschickt. Diese hier waren von ihren Eltern der vorsichtigen und treuen Obhut der Frau Aloise von Gondelaurier anvertraut worden, der Witwe eines frühern Hauptmanns der königlichen Bogenschützen, die sich mit ihrer einzigen Tochter in ihr Haus am Domplatze von Notre-Dame in Paris zurückgezogen hatte.

Der Balkon, wo sich die jungen Mädchen befanden, öffnete sich auf ein Zimmer, das mit gelbfarbigem, goldgepreßten flandrischen Leder reich tapezirt war. Die Deckenbalken, welche parallel neben einander herliefen, ergötzten das Auge durch ihre tausend seltsamen, farbigen und vergoldeten Schnitzereien. An den geschnitzten Truhen schillerten hier und da glänzende Stücke Email; ein Eberkopf aus Fayence krönte einen prachtvollen Schenktisch, dessen zwiefache Stufen anzeigten, daß die Besitzerin des Hauses Gemahlin oder Witwe eines Ritters aus des Königs Heerbann wäre. Im Hintergrunde, zur Seite eines wappengeschmückten und von oben bis unten mit Schildereien bedeckten Kamins, saß in einem reichen, rothsammetnen Lehnstuhle Frau von Gondelaurier, deren fünfzig Jahre an ihrem Anzuge sowohl, wie auf ihrem Antlitze erkennbar waren. Neben ihr stand ein junger Mann von ziemlich stolzem Aussehen, wenn auch ein wenig eitel und großprahlerisch: einer von den hübschen jungen Herren, über die alle Frauen einig sind, wiewohl erfahrene Männer und Menschenkenner die Achseln über sie zucken. Der junge Mann trug das glänzende Gewand eines Ordonnanz-Hauptmanns der königlichen Bogenschützen, welches dem Costüme Jupiters, wie wir es schon im ersten Buche dieser Geschichte kennen gelernt haben, zu ähnlich sah, als daß wir den Leser mit einer zweiten Beschreibung desselben langweilen möchten.

Die jungen Mädchen saßen theils im Zimmer, theils auf dem Balkone; die einen auf Polstern von Utrechter Sammet mit goldenen Eckzieraten, die andern auf Fußschemeln aus Eichenholze, die mit Blumen- und Figurenschnitzereien geschmückt waren. Jede von ihnen hielt auf dem Schooße einen Zipfel von einer großen Nadelstickerei, an welcher sie gemeinschaftlich arbeiteten, und von der ein großes Stück auf die Strohmatte hinabfiel, womit der Fußboden bedeckt war.

Sie plauderten unter einander mit der zischelnden Stimme und dem leisen, erstickten Lachen einer Gesellschaft junger Mädchen, in deren Mitte sich ein junger Mann befindet. Der junge Mann, dessen Gegenwart hinreichte, alle weiblichen Eitelkeiten anzuregen, schien sich selbst wenig um sie zu kümmern; und während die hübschen Mädchen überlegten, auf welche er seine Aufmerksamkeit wohl lenken würde, schien er hauptsächlich damit beschäftigt, mit seinem Handschuh von Damhirschleder die Schnalle seines Degengehenkes zu putzen.

Von Zeit zu Zeit richtete die alte Dame ganz leise das Wort an ihn, und er antwortete ihr nach Möglichkeit mit einer gewissen linkischen und erzwungenen Höflichkeit. Am Lächeln, an dem kleinen Zeichen des Einverständnisses, an dem Augenzwinkern, welches Frau Aloïse an ihre Tochter Fleur-de-Lys richtete, während sie leise mit dem Hauptmanne sprach, konnte man leicht ersehen, daß es sich um eine abgeschlossene Verlobung, um eine wahrscheinlich nahe Verheiratung zwischen dem jungen Manne und Fleur-de-Lys handelte. Aber an der angenommenen Gleichgültigkeit des Offiziers konnte man, von seiner Seite wenigstens, leicht ersehen, daß von Liebe keine Rede sein konnte. Sein ganzes Geberdenspiel drückte Verlegenheit und Langeweile aus: ein Etwas, das unsere Garnisonlieutenants von heute eigentümlicherweise mit »Welche Hundelangeweile!« in ihrer Sprache bezeichnen würden.

Die gute Frau, welche von ihrer Tochter so eingenommen war, wie es eine arme Mutter nur sein kann, bemerkte die geringe Begeisterung des Offiziers nicht, und bemühte sich, ihm ganz leise die unendliche Geschicklichkeit bemerklich zu machen, mit welcher Fleur-de-Lys ihre Nadel handhabte und ihre Strähne aufwickelte.

»Sehet, Cousinchen,« sagte sie, indem sie ihn am Aermel zog, um ihm ins Ohr zu flüstern, »betrachtet sie doch, wie sie sich auf die Arbeit bückt.«

»In der That,« antwortete der junge Mann und verfiel wieder in sein zerstreutes und eisiges Schweigen.

Einen Augenblick darauf mußte er sich wieder herunterneigen und Frau Aloise sagte zu ihm:

»Habt Ihr je ein einnehmenderes und anmuthigeres Wesen gesehen, als Eure Braut? Kann man weißer und blonder sein? Sind ihre Hände nicht tadellos? Und nimmt der Hals da zum Entzücken nicht alle Biegungen des Schwanes an? Wie beneide ich Euch manchmal! Und was seid Ihr glücklich, ein Mann zu sein, kleiner Leichtfuß, Ihr! Ist meine Fleur-de-Lys nicht schön zum anbeten, und seid Ihr nicht sterblich in sie verliebt?«

»Zweifelsohne,« antwortete er und dachte an etwas ganz anderes.

»Aber sprecht doch mit ihr,« sagte plötzlich Frau Aloïse und schob ihn an der Schulter vor, »sagt ihr doch etwas; Ihr seid recht schüchtern geworden.«

Wir können unsern Lesern die Versicherung geben, daß Schüchternheit weder eine Tugend noch ein Fehler des Hauptmanns war. Er versuchte jedoch zu thun, was man von ihm verlangte.

»Schöne Cousine,« sagte er, indem er zu Fleur-de-Lys trat, »was ist der Gegenstand dieser Stickereiarbeit, die Ihr da ausführt?«

»Schöner Vetter,« entgegnete Fleur-de-Lys mit unwilligem Tone, »ich habe es Euch schon dreimal gesagt: es ist die Grotte des Neptunus.«

Offenbar las Fleur-de-Lys viel deutlicher, als ihre Mutter in dem kalten und zerstreuten Betragen des Hauptmanns. Er fühlte die Nothwendigkeit irgend welche Unterhaltung zu beginnen.

»Und für wen ist diese ganze Neptunerei?« fragte er.

»Für die Abtei Sanct-Antoine-des-Champs sagte Fleur-de-Lys, ohne die Augen aufzuschlagen.

Der Hauptmann faßte einen Zipfel der Stickerei.

»Wer ist, meine schöne Cousine, der dicke Gendarm, der mit vollen Backen in eine Trompete bläst?«

»Das ist Triton,« antwortete sie.

Es war immer noch ein schmollender Ton in den kurzen Worten von Fleur-de-Lys. Der junge Mann begriff, daß es unerläßlich wäre, ihr irgend etwas ins Ohr zu flüstern: eine Abgeschmacktheit, eine Galanterie, gleichgiltig was. Er neigte sich also zu ihr; aber er konnte nichts Zarteres und Vertraulicheres in seiner Einbildungskraft finden, als folgendes: »Warum trägt Eure Mutter immer noch ein solches wappengeziertes Rockwunder, wie unsere Großmutter zur Zeit Karls des Siebenten? Sagt ihr doch, schöne Cousine, daß das jetzt nicht mehr geschmackvoll ist, und daß der als Wappen aufs Kleid gestickte Haspen und Lorbeerbaum ihr das Ansehen eines wandelnden Kaminmantels geben. Wahrhaftig, man setzt sich nicht mehr so auf sein Bannerwappen, ich schwöre es Euch.«

Fleur-de-Lys schlug ihre schönen Augen mit dem Ausdrucke des Tadels auf:

»Ist das alles, was Ihr mir schwört?« sagte sie mit leiser Stimme.

Währenddem sagte die gute Frau Aloise, die beide zu einander geneigt und flüstern sah, während sie mit dem Schließen ihres Gebetbuches spielte:

»Rührendes Bild der Liebe!«

Der Hauptmann, welcher immer verlegener wurde, wendete sich plötzlich nach der Stickerei hin und rief: »Das ist wahrlich eine reizende Arbeit.«

Bei dieser Gelegenheit wagte Colombe von Gaillefontaine, eine andere schöne Blondine mit weißem Teint, die in ein schönes blaues Damastgewand gekleidet war, schüchtern ein Wort an Fleur-de-Lys zu richten, in der Hoffnung, daß der schöne Hauptmann darauf antworten möchte: »Meine liebe Gondelaurier, habt Ihr die Stickereien im Hotel von la Roche-Guyon gesehen?«

»Ist das nicht das Hotel, wo der Garten der Weißzeugaufseherin des Louvre eingeschlossen ist?« fragte lachend Diana von Christeuil, die schöne Zähne hatte und daher bei jeder Gelegenheit lachte.

»Und wo jener große alte Thurm der alten Festungsmauer von Paris ist?« fügte Amelotte von Montmichel hinzu, eine reizende, lockige Brünette, die gewöhnlich, und ohne zu wissen warum, seufzte, während die andern lachten.

»Meine liebe Colombe,« entgegnete Frau Aloise, »meint Ihr etwa das Hotel, welches zur Zeit Karls des Sechsten dem Herrn von Bacqueville gehörte? Da sind allerdings die köstlichsten Haute-Lice-Stickereien zu sehen.«

»Karl der Sechste! Karl der Sechste!« murmelte der junge Hauptmann und strich sich den Schnurrbart, »mein Gott, an was für alte Geschichten sich die gute Frau erinnert!«

Frau von Gondelaurier fuhr fort: »Schöne Stickereien, in Wahrheit; eine Arbeit, die so hoch geschätzt wird, daß sie für einzig gilt!«

In diesem Augenblicke rief Bérangère von Champchevrier, ein schlankes kleines Mädchen von sieben Jahren, welches durch das Balkongitter aus den Platz hinabsah:

»Ach, sehet, liebe Pathe Fleur-de-Lys! Die hübsche Tänzerin, die da auf der Straße tanzt und mitten unter den Leuten ihr Tamburin schlägt!«

In der That hörte man das dumpfe Rasseln einer baskischen Trommel.

»Irgend eine Zigeunerin aus Böhmen,« sagte Fleur-de-Lys und wandte sich nachlässig nach dem Platze hin.

»Laßt sehen! laßt sehen!« riefen ihre lebhaften Gefährtinnen, und alle eilten sie an den Rand des Balkons, während Fleur-de-Lys, nachdenklich über die Kälte ihres Verlobten, ihnen langsam folgte; dieser aber, froh über diesen Zwischenfall, welcher eine lästige Unterhaltung abschnitt, zog sich mit der befriedigten Miene eines abgelösten Soldaten in den Hintergrund des Zimmers zurück. Es war doch eigentlich ein angenehmer und reizender Dienst, der bei der schönen Fleur-de-Lys, und er war ihm als solcher früher auch erschienen; aber der Hauptmann wurde nach und nach gleichgiltig; die Aussicht auf eine bevorstehende Heirath machte ihn von Tag zu Tag kälter. Uebrigens hatte er ein unruhiges Temperament und – es kann nicht verschwiegen werden – einen etwas gewöhnlichen Geschmack. Obgleich von sehr hoher Geburt, hatte er mit dem Harnisch manche Gewohnheiten des Kriegerstandes angenommen. Das Wirthshausleben gefiel ihm, und was damit zusammenhängt. Er fühlte sich nur wohl bei schlüpfriger Unterhaltung, soldatischen Liebeshändeln, gefälligen Schönen und leichten Eroberungen. Er hatte allerdings von Haus aus eine gewisse Erziehung und Bildung genossen, war aber zu jung eigener Herr geworden, zu jung in das Garnisonleben gekommen, und täglich schwand der edelmännische Schliff mehr unter den Reibungen seines Soldatenwehrgehänges. Wenn er Fleur-de-Lys auch noch zeitweilig und infolge eines Restes von freundlicher Achtung besuchte, so fühlte er sich doppelt befangen bei ihr: einmal weil er sein Liebesgefühl zu sehr an allerlei andern Orten vergeudete, und nur sehr wenig für sie übrig blieb; dann, weil er unter so vielen steifen, eleganten und sittsamen Frauen stets fürchtete, daß sein ans Fluchen gewöhnter Mund plötzlich einmal das Maul recht vollnehmen und ihm Schenkstubenredensarten entwischen möchten. Man denke sich die schöne Wirkung!

Uebrigens verband sich das alles bei ihm mit großen Ansprüchen auf Anmuth, Kleiderpracht und Schönheit. Das vereinige nun ein jeder, wie er kann; ich berichte es nur.

Er hatte sich also, wer weiß mit welchen Gedanken beschäftigt, seit einigen Augenblicken schweigend an die verzierte Kamineinfassung gelehnt, als sich Fleur-de-Lys plötzlich umdrehte und an ihn wandte. Das arme Mädchen schmollte nach alledem nur, weil es seinem Herzen Zwang anthat.

»Schöner Vetter, habt Ihr uns nicht von einer kleinen Zigeunerin erzählt, welche Ihr vor zwei Monaten bei der Nachtronde aus den Händen eines Dutzend Räuber gerettet habt?«

»Ich glaube, ja, schöne Cousine,« sagte der Hauptmann.

»Nun gut!« versetzte sie; »das ist vielleicht diese Zigeunerin, welche da unten auf dem Vorplatze tanzt. Kommt, seht selbst, ob Ihr sie wiedererkennt, schöner Vetter Phöbus.«

Es zeigte sich ein geheimer Wunsch nach Versöhnung in dieser sanften Aufforderung, welche sie an ihn richtete, zu ihr zu kommen, und in der Aufmerksamkeit, mit welcher sie ihn beim Namen rief. Der Hauptmann Phöbus von Châteaupers (denn er ist’s, den der Leser seit Anfang dieses Kapitels vor sich sieht) näherte sich langsamen Schrittes dem Balkone. »Da,« sagte Fleur-de-Lys zu ihm und legte sanft ihre Hand auf Phöbus‘ Arm, »sehet jene Kleine, welche da im Kreise tanzt. Ist das Eure Zigeunerin?«

Phöbus sah hin und sagte:

»Ja, ich erkenne sie an ihrer Ziege wieder.«

»Ach, die hübsche, kleine Ziege, in der That!« sagte Amelotte, indem sie vor Bewunderung die Hände zusammenschlug.

»Sind ihre Hörner wirklich von Gold?« fragte Bérangère.

Ohne sich von ihrem Stuhle zu erheben, nahm Frau Aloïse das Wort: »Ist sie nicht eine von den Zigeunerinnen, welche voriges Jahr durch das Gibard-Thor hereingekommen sind?«

»Liebe Frau Mutter,« sagte Fleur-de-Lys sanft, »dieses Thor heißt jetzt das Höllenthor.«

Fräulein von Gondelaurier wußte, wie sehr der Hauptmann an den veralteten Redeformen ihrer Mutter Anstoß nahm.

In der That begann er höhnisch lachend zwischen den Zähnen zu murmeln: »Gibard-Thor! Gibard-Thor! Wahrscheinlich eins, um König Karl den Sechsten einziehen zu lassen!«

»Pathe,« rief Bérangère, deren immer bewegliche Augen sich auf einmal nach der Spitze der Thürme von Notre-Dame erhoben hatten, »was ist das für ein schwarzer Mann da oben?«

Die jungen Mädchen sahen alle in die Höhe. In der That lehnte ein Mann an dem Dachgeländer des nördlichen Thurmes nach dem Grèveplatze zu. Es war ein Priester. Man unterschied deutlich seine Kleidung und das auf seine beiden Hände gestützte Gesicht. Uebrigens stand er gerade wie eine Bildsäule da. Sein Auge war starr auf den Platz in der Tiefe gerichtet. Er hatte etwas von der Unbeweglichkeit eines Thurmfalken an sich, welcher soeben ein Sperlingsnest entdeckt hat und dasselbe betrachtet.

»Das ist der Herr Archidiaconus von Josas,« sagte Fleur-de-Lys.

»Ihr habt gute Augen, wenn Ihr ihn von hier aus erkennt,« bemerkte die Gaillefontaine.

»Wie er die kleine Tänzerin betrachtet!« entgegnete Diana von Christeuil.

»Wehe der Zigeunerin!« sagte Fleur-de-Lys, »er liebt Aegypten nicht.«

»Es ist sehr schade, daß dieser Mann sie so ansieht,« warf Amelotte von Montmichel ein, »denn sie tanzt zum Entzücken!«

»Schöner Vetter Phöbus,« sagte auf einmal Fleur-de-Lys, »da Ihr die kleine Zigeunerin kennt, gebt ihr doch ein Zeichen heraufzukommen; das wird uns unterhalten.«

»Ach ja!« riefen die jungen Mädchen alle, indem sie in die Hände klatschten.

»Aber das ist ein närrischer Einfall,« antwortete Phöbus. »Sie hat mich gewiß vergessen, und ich weiß nicht einmal ihren Namen. Doch weil ihr es wünscht, werthe Fräulein, will ich’s versuchen.« Er beugte sich über die Balustrade des Balkons und begann zu rufen: »Kleine!«

Die Tänzerin schlug in diesem Augenblicke das Tamburin nicht. Sie wandte den Kopf nach der Richtung hin, von wo der Ruf zu ihr kam; ihr glänzender Blick hastete auf Phöbus, und ganz plötzlich hielt sie inne.

»Kleine!« wiederholte der Hauptmann und machte ihr mit dem Finger ein Zeichen, zu kommen.

Das junge Mädchen sah ihn wieder an, dann erröthete sie, als ob ihr eine Flamme in die Wangen gestiegen wäre; und während sie ihr Tamburin unter den Arm nahm, schritt sie mitten durch die verwunderten Zuschauer auf die Thür des Hauses zu, wo Phöbus sie rief; langsam war ihr Schritt und schwankend, ihr Blick verstört, wie der eines Vogels, welcher der Zauberwirkung einer Schlange folgt.

Einen Augenblick darauf hob sich der gestickte Thürvorhang und die Zigeunerin erschien roth, bestürzt, athemlos auf der Schwelle der Thür; ihre großen Augen waren niedergeschlagen; sie wagte keinen Schritt weiter zu thun.

Bérangère klatschte in die Hände.

Währenddem blieb die Tänzerin unbeweglich auf der Thürschwelle stehen. Ihre Erscheinung hatte auf die Gruppe der jungen Mädchen eine sonderbare Wirkung hervorgebracht. Sicher belebte ein undeutlicher und unbestimmter Wunsch, dem schönen Offizier zu gefallen, alle zugleich; gewiß war seine glänzende Uniform das Ziel aller ihrer Koketterien, und ebenso sicher war seit seiner Gegenwart eine gewisse geheime, versteckte Eifersucht bei ihnen vorhanden, welche sie sich selbst kaum zu gestehen wagten, die aber nichts desto weniger alle Augenblicke aus ihren Geberden und Worten hervorleuchtete. Doch, da sie beinahe alle an Schönheit auf derselben Stufe standen, so kämpften sie mit gleichen Waffen, und jede konnte auf Sieg hoffen. Die Ankunft der Zigeunerin störte sofort dieses Gleichgewicht. Sie war von so seltener Schönheit, daß in dem Augenblicke, wo sie am Eingange zum Zimmer erschien, es war, als ob sie da eine Art von ihr ganz eigenem Glänze ausstrahlte. In diesem engen Zimmer, in diesem düstern Rahmen von Tapeten und Wandtäfelungen war sie unvergleichlich schöner und strahlender, als auf dem freien Platze. Sie war wie eine Leuchte, welche soeben Tageshelle in die Dunkelheit gebracht hatte. Die adligen Fräulein wurden widerwillig davon hingerissen. Jede fühlte sich gewissermaßen an ihrer Schönheit verwundet. Daher änderte sich ihr Schlachtplan (man gestatte uns diese Bezeichnung) auf der Stelle, ohne daß sie ein Wort verloren. Aber sie verstanden sich wunderbarerweise. Die Gefühle der Frauen verstehen und entsprechen sich schneller, als der Geist der Männer. Es war für sie eine Feindin gekommen: alle fühlten es, alle verbanden sich. Wie ein Tropfen Wein genügt, um ein Glas Wasser zu röthen, so genügt das Erscheinen einer schönern Frau, um eine ganze Versammlung hübscher Weiber in eine gewisse Stimmung zu versetzen – zumal wenn sich nur ein Mann unter ihnen befindet.

Deshalb war der Empfang, welcher der Zigeunerin bereitet wurde, ein merkwürdig eisiger. Man betrachtete sie von Kopf bis zu Fuß, man sah sich dann unter einander an, und alles war gesagt: sie hatten sich verstanden. Indessen wartete das junge Mädchen, bis man sie anredete; und so bewegt war sie, daß sie nicht wagte die Augen aufzuschlagen.

Der Hauptmann brach das Schweigen zuerst. »Auf mein Wort,« sagte er mit seiner unerschrockenen Albernheit, »das ist ein reizendes Geschöpf! Was meint Ihr dazu, schöne Cousine?«

Diese Bemerkung, welche ein feinfühlenderer Bewunderer wenigstens leise gemacht hätte, war nicht derart, um die Eifersucht der Weiber zu verscheuchen, die vor der Zigeunerin auf der Lauer standen. Fleur-de-Lys antwortete dem Hauptmann mit einem süßlichen, affectirten Tone von Nichtachtung: »Nicht übel.«

Die andern zischelten.

Endlich sprach Frau Aloise, die aus Interesse für ihre Tochter nicht weniger eifersüchtig war, zu der Tänzerin: »Tritt näher, Kleine!«

»Tritt näher, Kleine!« wiederholte mit komischer Würde Bérangère, welche ihr vielleicht bis an die Hüfte reichen mochte.

Die Zigeunerin bewegte sich nach der Edelfrau hin.

»Schönes Kind,« sagte Phöbus ausdrucksvoll und that seinerseits einige Schritte nach ihr hin, »ich weiß nicht, ob ich das große Glück habe, von Euch wiedererkannt zu werden …«

Sie unterbrach ihn, indem sie ein Lächeln und einen Blick voll unendlicher Lieblichkeit auf ihn richtete. »Oh! ja!« sagte sie.

»Sie hat ein gutes Gedächtnis,« bemerkte Fleur-de-Lys.

»Nun ja,« entgegnete Phöbus, »Ihr seid mir an jenem Abende sehr flink entwischt. Habe ich Euch Furcht eingeflößt?«

»Ach, nein!« sagte die Zigeunerin.

In dem Tone, mit welchem dieses »Ach, nein« nach jenem »Oh, ja« gesagt wurde, lag etwas so Unaussprechliches, daß Fleur-de-Lys davon verletzt wurde.

»Ihr habt mir, meine Theure,« fuhr der Hauptmann fort, dessen Zunge sich im Gespräche mit einem Straßenmädchen löste, »an Eurer Stelle einen ziemlich sauertöpfischen, einäugigen und buckligen Schuft, den Glöckner des Bischofs, wie ich glaube, zurückgelassen. Man hat mir gesagt, er wäre der Bastard eines Archidiaconus und ein Teufel von Geburt an. Er hat einen spaßhaften Namen: er nennt sich Quatember, Palmsonntag, Fastnacht – was weiß ich! – kurzum mit dem Namen eines hohen Festtages. Er nahm sich also heraus, Euch zu entführen, als ob Ihr für Kirchendiener geschaffen wäret! Das ist stark! Was, zum Teufel! wollte denn diese Nachteule von Euch? Wie? sagt doch!«

»Ich weiß nicht,« antwortete sie.

»Begreife man die Frechheit! Ein Glockenläuter ein Mädchen entführen, wie ein Baron! Ein Bauer das Wild der Edelleute wilddieben! Das ist einzig! Uebrigens, er hat es theuer bezahlt! Meister Pierrat Torterue ist der roheste Stallknecht, der jemals einen Schurken gestriegelt hat; und ich kann Euch sagen, wenn’s Euch angenehm ist, daß das Fell Eures Glöckners ihm artig durch die Hände gegangen ist.«

»Der arme Mensch,« sagte die Zigeunerin, bei der diese Worte die Erinnerung an die Scene beim Pranger zurückriefen.

Der Hauptmann brach in Lachen aus. »Beim Horne des Teufels! hier wäre Mitleid ebenso angebracht, wie eine Feder am Hintern eines Schweines! Ich will ein Dickbauch sein, wie der Papst, wenn …«

Er hielt plötzlich inne. »Verzeihung, meine Damen! Ich glaube, mir ist eine Dummheit entschlüpft.«

»Pfui, Herr!« sagte die Gaillefontaine.

»Er spricht mit diesem Geschöpfe in seiner Sprache,« setzte Fleur-de-Lys, deren Verdruß von Minute zu Minute wuchs, mit halber Stimme hinzu. Dieser Verdruß wurde nicht geringer, als sie sah, wie der Hauptmann, ganz und gar von der Zigeunerin, und namentlich von sich selbst entzückt, sich auf den Hacken herumdrehte und mit dreister, soldatisch-offener Artigkeit wiederholte:

»Ein schönes Mädchen, bei meiner Seele!«

»Nur recht verwildert gekleidet,« sagte Diana von Christeuil mit dem Lächeln, das ihre schönen Zähne zeigte.

Diese Bemerkung war ein Lichtstrahl für die andern. Sie zeigte ihnen die schwache Seite der Zigeunerin: denn weil sie auf ihre Schönheit nicht sticheln konnten, so fielen sie über ihre Kleidung her.

»Das ist freilich wahr, Kleine,« sagte die Montmichel, »wie hast du’s über dich gewinnen können, so ohne Hals- und Busentuch durch die Straßen zu ziehen?«

»Dein Rock ist ja erschrecklich kurz,« fügte die Gaillefontaine hinzu.

»Meine Liebe,« fuhr Fleur-de-Lys ziemlich bitter fort, »Ihr werdet schuld sein, daß Euch wegen Eures goldenen Gürtels die Häscher von der Zwölferwache aufgreifen.«

»Kleine, Kleine,« bemerkte die Christeuil mit unversöhnlichem Lächeln, »wenn du anständigerweise einen Aermel über deinen Arm zögest, würde er nicht so von der Sonne verbrannt werden.«

Es war sicher ein Schauspiel, das einen verständigern Zuschauer, als Phöbus, verdient hätte: so zu sehen, wie diese hübschen Mädchen mit ihren giftigen und bösen Zungen schlangengleich sich um die Straßentänzerin drehten und wanden; gefühllos und lächelnd suchten und stöberten sie hämisch an ihrem armseligen und närrischen Flitter- und Rauschegoldstaate herum. Das war ein Lachen und Spotten und endloses Demüthigen! Beißende, herablassende Redensarten und boshafte Blicke regnete es förmlich über die Zigeunerin her. Man hätte glauben sollen, jene jungen Römerinnen vor sich zu sehen, welche sich damit ergötzten, goldene Nadeln in den Busen einer schönen Sklavin zu bohren. Man hätte sie mit vornehmen Jagdwindspielen vergleichen mögen, die mit weiten Nüstern und glühenden Augen eine arme Hindin umkreisen, welche zu zerreißen der Blick des Herrn verbietet.

Was war sie denn im Vergleiche mit diesen Töchtern hoher Familien anders, als eine elende, öffentliche Tänzerin? Sie schienen auf ihre Anwesenheit keine Rücksicht zu nehmen, und sprachen von ihr, in ihrer Gegenwart, mit ihr und mit lauter Stimme, wie von etwas ziemlich Unreinlichem, Niedrigem und hinlänglich Ergötzlichem. Die Zigeunerin war gegen diese Nadelstiche nicht unempfindlich. Von Zeit zu Zeit flammte eine Schamröthe, ein Zornfunkeln auf ihren Wangen, in ihren Augen; ein verächtliches Wort schien auf ihren Lippen zu schweben; sie machte jene verächtliche, kleine Grimasse, welche der Leser an ihr kennt; aber sie blieb unbeweglich und heftete einen resignirten, traurigen und sanften Blick auf Phöbus. In diesem Blicke lag zugleich Glück und Zärtlichkeit. Man hätte glauben mögen, daß sie sich mäßigte, aus Furcht hinausgejagt zu werden. Phöbus selbst lachte und nahm mit einer Mischung von Ungezogenheit und Mitleid Partei für die Zigeunerin.

»Laßt sie reden, Kleine!« wiederholte er und ließ seine goldenen Sporen erklingen, »freilich ist Euer Anzug ein wenig ausschweifend und wild; aber was thut das bei einem reizenden Mädchen, wie Ihr seid?«

»Mein Gott!« rief die blonde Gaillefontaine und wandte ihren Schwanenhals mit bitterm Lächeln um, »ich sehe, daß die Herren Bogenschützen vom Commando des Königs an den hübschen Zigeuneraugen leicht Feuer fangen.«

»Warum denn nicht?« sagte Phöbus.

Bei dieser Antwort, die von dem Hauptmanne gleichgiltig, wie ein Steinblock, den man nicht einmal fallen sieht, hingeworfen wurde, fing Colombe, auch Diana und Amelotte und Fleur-de-Lys zu lachen an, welcher zugleich Thränen in die Augen traten.

Die Zigeunerin, welche bei den Worten Colombens von Gaillefontaine den Blick zur Erde gesenkt hatte, hob ihn strahlend vor Freude und Stolz empor und richtete ihn von neuem auf Phöbus. Sie war in diesem Augenblicke sehr schön.

Die alte Dame, welche diese Scene beobachtet hatte, fühlte sich verletzt und fand sie nicht begreiflich.

»Heilige Jungfrau!« schrie sie plötzlich, »was ist denn das da, was mir zwischen die Beine kommt? O weh! das häßliche Thier!«

Die Ziege war es, welche, auf der Suche nach ihrer Herrin, soeben erschienen war, und die auf sie losspringend sich mit ihren Hörnern in der Tuchmasse verwickelt hatte, welche die Kleider der sitzenden Edelfrau zu ihren Füßen am Boden aufthürmten.

Das verursachte eine Ablenkung. Die Zigeunerin befreite sie, ohne ein Wort zu sagen.

»O, das ist die kleine Ziege, welche goldene Füße hat,« rief Bérangère und sprang vor Freude umher.

Die Zigeunerin kauerte auf die Knien nieder und drückte den schmeichelnden Kopf der Ziege an ihre Wange. Man hätte glauben mögen, sie bäte diese um Verzeihung, weil sie sie verlassen hatte.

Währenddessen hatte sich Diana zu Colombe’s Ohre geneigt.

»Ach, mein Gott! warum habe ich nicht eher daran gedacht? Es ist die Zigeunerin mit der Ziege. Man sagt, sie sei eine Hexe, und ihre Ziege mache sehr merkwürdige Kunststücke.«

»Nun gut!« sagte Colombe, »die Ziege soll uns jetzt unterhalten und ein Wunder thun.«

Diana und Colombe wandten sich lebhaft an die Zigeunerin:

»Kleine, laß doch deine Ziege ein Wunder thun!«

»Ich weiß nicht, was Ihr sagen wollt,« entgegnete die Zigeunerin.

»Ein Wunder, eine Zauberei, eine Hexerei mit einem Worte.«

»Ich verstehe nicht.« Und sie fing an, ihr niedliches Thier zu liebkosen und rief wiederholt: »Djali! Djali!«

In diesem Augenblicke bemerkte Fleur-de-Lys ein Säckchen aus gesticktem Leder, welches am Halse der Ziege hing. »Was ist das?« fragte sie die Zigeunerin.

Die Zigeunerin richtete ihre großen Augen auf sie und antwortete ernst: »Das ist mein Geheimnis.«

»Ich möchte wohl wissen, was dein Geheimnis ist,« dachte Fleur-de-Lys.

Währenddessen war die alte Frau ärgerlich aufgestanden.

»Nun denn, Zigeunerin! wenn du und deine Ziege uns nichts vortanzen wollt, was macht ihr denn hier?«

Die Zigeunerin ging, ohne ein Wort zu sagen, langsam nach der Thüre hin. Aber je mehr sie sich ihr näherte, desto mehr zögerte ihr Schritt. Ein unwiderstehlicher Magnet schien sie zurückzuhalten. Plötzlich richtete sie ihre thränenfeuchten Augen auf Phöbus und blieb stehen.

»Wahrhaftiger Gott!« rief der Hauptmann, »so geht man nicht weg. Kehrt um und tanzt uns etwas vor. Doch, meine Schöne, wie heißt Ihr denn?«

»Die Esmeralda,« sagte die Zigeunerin, ohne den Blick von ihm zu wenden.

Bei diesem fremdklingenden Namen erscholl ein tolles Gelächter unter den jungen Mädchen.

»Höre einer,« sagte Diana, »was das für ein schrecklicher Name für ein Mädchen ist.«

»Ihr sehet also,« entgegnete Amelotte, »daß es eine Tänzerin ist.«

»Meine Liebe,« rief Frau Aloïse feierlich, »Eure Eltern haben diesen Namen da nicht aus dem Becken des Taufsteines aufgefischt.«

Seit einigen Minuten, und ohne daß jemand es beachtete, hatte Bérengère unterdessen die Ziege mit etwas Marzipan in einen Winkel des Zimmers gelockt. In einem Augenblicke waren alle beide gute Freundinnen geworden. Das neugierige Kind hatte das am Halse der Ziege hängende Säckchen losgemacht, es geöffnet und seinen Inhalt auf die Strohmatte des Bodens ausgeleert: es war ein Alphabet, von dem jeder Buchstabe auf ein kleines Buchsbaumtäfelchen besonders eingeritzt war. Kaum war dieses Spielzeug auf der Matte ausgekramt, als das Kind mit Erstaunen sah, wie die Ziege, zu deren »Wundern« es wahrscheinlich gehörte, mit ihrem vergoldeten Fuße gewisse Buchstaben herauszog, sie vertheilte und nach bestimmter Ordnung leise zusammenschob. Nach Verlauf eines Augenblickes entstand ein Wort, das zu bilden die Ziege geübt schien, so wenig stockte sie, es zusammenzustellen, und Bérangère rief plötzlich, indem sie die Hände vor Bewunderung zusammenschlug:

»Pathe Fleur-de-Lys, sehet nur, was die Ziege soeben gemacht hat!«

Fleur-de-Lys eilte hinzu und bebte zusammen. Die auf dem Fußboden aneinander gereihten Buchstaben bildeten das Wort:

Phöbus.

»Ist es die Ziege, die das geschrieben hat?« fragte sie mit erregter Stimme.

»Ja, Pathe,« antwortete Bérangère.

Es war unmöglich, daran zu zweifeln; das Kind konnte nicht schreiben.

»Das also ist das Geheimnis!« dachte Fleur-de-Lys.

Indessen war auf den Schrei des Kindes alles herbeigeeilt: die Mutter, die jungen Mädchen, die Zigeunerin und der Offizier.

Die Zigeunerin sah den Streich, welchen ihr die Ziege soeben gespielt hatte. Sie wurde roth, dann blaß und fing an wie eine Schuldige vor dem Hauptmanne zu zittern, der sie mit einem Lächeln der Zufriedenheit und des Staunens betrachtete.

»Phöbus!« zischelten die jungen Mädchen erstaunt, »das ist der Name des Hauptmanns!«

»Ihr habt ein bewundernswertes Gedächtnis!« sagte Fleur-de-Lys zu der versteinerten Zigeunerin. Dann brach sie in Schluchzen aus. »Ach!« klagte sie schmerzbewegt und verbarg ihr Gesicht in ihren schönen Händen, »sie ist eine Zauberin!« Und in der Tiefe ihres Herzens vernahm sie eine noch schrecklichere Stimme, welche ihr sagte: sie ist eine Nebenbuhlerin!

Sie brach ohnmächtig zusammen.

»Meine Tochter! meine Tochter!« schrie die entsetzte Mutter. »Hinaus, höllische Zigeunerin!«

Die Esmeralda raffte in einem Augenblicke die unheilvollen Buchstaben zusammen, gab Djali ein Zeichen und ging durch die eine Thür davon, während man Fleur–de– Lys durch die andere hinaustrug.

Der Hauptmann Phöbus, der allein zurückgeblieben war, stand einen Augenblick unschlüssig zwischen beiden Thüren; – dann folgte er der Zigeunerin.

2. Fortsetzung der Geschichte vom Thaler, der in ein dürres Blatt verwandelt wurde.

Nachdem man mehrere Treppen in so dunkeln Gängen hinauf- und hinuntergestiegen, daß sie am hellen Tage mit Lampen erleuchtet waren, wurde die Esmeralda, die immer von ihrem traurigen Gefolge umringt war, von den Dienern des Justizpalastes in ein unheimlich finsteres Zimmer hineingestoßen. Dieses Zimmer, von runder Gestalt, nahm das Erdgeschoß eines jener dicken Thürme ein, welche noch in unserem Jahrhunderte durch die moderne Gebäudeschicht dringen, mit welcher das neue Paris das alte zugedeckt hat. Kein Fenster war in diesem Keller, keine andere Oeffnung, als der niedrige und von einer ungeheuern eisernen Thüre verschlossene Eingang. An Helligkeit fehlte es hier jedoch nicht: ein Ofen war in der dicken Mauer angebracht, ein großes Feuer darin angezündet, welches den Keller mit seinem rothen Wiederscheine füllte und ein elendes Licht, welches in der Ecke stand, alles seines Schimmers beraubte. Das eiserne Fallgitter, welches dazu diente, den Ofen zu verschließen und in diesem Augenblicke in die Höhe gezogen war, ließ in der Oeffnung des Feuerloches, das über der Untermauer flammte, nur die untern Spitzen seiner Stäbe wie eine Reihe schwarzer, scharfer, einzeln stehender Zähne sehen, was dem Ofen das Aussehen eines jener Drachenrachen gab, die in den Sagen Flammen speien. Bei dem Lichte, welches aus seiner Oeffnung strahlte, sah die Gefangene ringsherum im Zimmer schreckliche Instrumente, deren Gebrauch sie nicht kannte. In der Mitte lag eine lederne Matratze fast auf der Erde aufgeschlagen, über welcher ein Riemen mit einer Schleife hing, der in einem kupfernen Ringe lief, welchen ein im Schlußsteine der Wölbung ausgehauenes, stumpfnasiges Ungeheuer im Maule hielt. Zangen, Scheeren, große Pflugeisen versperrten das Innere des Ofens und glühten durcheinander auf der Kohle. Der blutige Wiederschein des Ofens beleuchtete im ganzen Zimmer nur einen Wirrwarr schrecklicher Gegenstände.

Dieser Tartarus hieß einfach »die Folterkammer«.

Auf dem Bette hatte sich Pierrat Torterue, der beeidigte Foltermeister, behaglich niedergelassen. Seine Knechte, zwei Gnomen mit vierschrötigen Gesichtern, in Lederschürzen und leinenen Hosen, wendeten das Eisengeräth auf den Kohlen um. Das arme Mädchen hatte vergebens ihren Muth zusammengenommen; als sie in dieses Zimmer eintrat, packte sie das Entsetzen.

Die Schergen des Gerichtsvogtes stellten sich auf einer Seite, die Priester des geistlichen Gerichtes auf der andern Seite auf. Ein Schreiber, ein Tintenfaß und ein Tisch befanden sich in einem Winkel. Meister Jacob Charmolue näherte sich der Zigeunerin mit einem sehr sanften Lächeln.

»Mein liebes Kind,« sagte er, »Ihr beharrt also beim Läugnen?«

»Ja,« antwortete sie mit schon erloschener Stimme.

»In diesem Falle,« fuhr Charmolue fort, »wird es sehr schmerzlich für uns sein, Euch mit mehr Nachdruck zu befragen, als wir wünschen … Wollet so gut sein und Euch auf dieses Bett setzen … Meister Pierrat, macht der Jungfer Platz und schließet die Thüre zu.«

Pierrat erhob sich murrend.

»Wenn ich die Thüre schließe,« brummte er, »so wird mein Feuer verlöschen.«

»Nun gut, mein Lieber,« entgegnete Charmolue, »so lasset sie offen.«

Währenddem blieb die Esmeralda stehen. Das lederne Bett, auf dem sich so viele Unglückliche gekrümmt hatten, flößte ihr Entsetzen ein.

Der Schrecken erstarrte ihr das Mark in den Knochen; sie stand bestürzt und außer sich da. Auf ein Zeichen Charmolue’s ergriffen sie die beiden Knechte und setzten sie aufrecht auf das Bett. Sie thaten ihr nicht das Geringste zu leide; aber als diese Menschen sie angriffen, als das Leder sie berührte, fühlte sie all ihr Blut zum Herzen zurückströmen. Sie warf einen verstörten Blick rings im Gemache herum. Es schien ihr, als ob sie sähe, wie alle diese gräßlichen Folterinstrumente sich bewegten und auf sie losmarschirten, um ihr am Leibe in die Höhe zu kriechen, sie zu beißen und zu zwicken, – jene Marterinstrumente, die unter den Werkzeugen aller Art, welche sie bisher gesehen, das waren, was die Fledermäuse, die Tausendfüße und die Spinnen unter den Insekten und Vögeln sind.

»Wo ist der Arzt?« fragte Charmolue.

»Hier!« antwortete ein schwarzes Gewand, welches sie noch nicht bemerkt hatte.

Sie schauderte.

»Jungfer,« fuhr die schmeichelnde Stimme des Procurators beim Kirchengerichtshofe fort, »zum dritten Male: beharret Ihr dabei, die Thaten zu läugnen, deren Ihr angeklagt seid?«

Dieses Mal vermochte sie nur mit dem Kopfe ein Zeichen zu geben. Die Stimme versagte ihr.

»Ihr beharret dabei?« sagte Jacob Charmolue. »Dann muß ich aber, so unendlich leid es mir thut, die Pflicht meines Amtes erfüllen.«

»Herr Procurator Seiner Majestät,« sagte Pierrat barsch, »womit sollen wir anfangen?«

Charmolue bedachte sich einen Augenblick mit der zweideutigen Grimasse jemandes, der einen Reim sucht.

»Mit dem spanischen Stiefel,« sagte er endlich.

Die Unglückliche fühlte sich so vollkommen von Gott und den Menschen verlassen, daß ihr Haupt, wie ein lebloses Etwas, das keine Kraft in sich hat, auf die Brust herabsank.

Der Foltermeister und der Arzt näherten sich ihr zugleich. Gleichzeitig begannen die zwei Knechte in ihrer gräßlichen Rüstkammer herumzuwühlen. Beim Gerassel dieses fürchterlichen Eisengeräthes zitterte das unglückliche Mädchen, wie ein todter Frosch, der galvanisirt wird.

»Ach!« murmelte sie, und so leise, daß niemand es hörte, »ach mein Phöbus!« Dann versank sie wieder in ihr Schweigen und ihre marmorgleiche Unbeweglichkeit. Dieses Schauspiel hätte jedes andere Herz, als das der Richter zerrissen. Man hätte sie mit einer armen sündigen Seele vergleichen mögen, die vom Satan an der Pforte der flammenden Hölle befragt wird. Der elende Leib, welchen die fürchterliche Menge Sägen, Räder und Folterwerkzeuge zu umklammern sich anschickte, das Wesen, welches die gierigen Krallen der Henker und Zangen packen sollten, – es war ja doch jenes süße, reine und schwache Geschöpf, das arme Hirsenkorn, welches die menschliche Gerechtigkeit den gräßlichen Mühlsteinen der Folter zur Zermalmung überlieferte!

Inzwischen hatten die schwieligen Fäuste der Knechte Pierrat Torterue’s in roher Weise dieses reizende Bein, diese Füßchen entblößt, welche die Straßenpassanten so viele Male wegen ihrer Anmuth und Schönheit an den Straßenecken von Paris bewundert hatten.

»Wie schade!« murmelte der Foltermeister, als er diese zarten und feinen Formen betrachtete.

Wenn der Archidiaconus zugegen gewesen wäre: fürwahr, er würde sich in diesem Augenblicke seines Gleichnisses von der Spinne und der Fliege erinnert haben. Bald sah die Unglückliche durch einen Schatten hindurch, welcher sich auf ihre Augen lagerte, den »spanischen Stiefel« herbeibringen; bald sah sie ihren Fuß, der zwischen die eisenbeschlagenen Bretter geschnürt worden, unter der fürchterlichen Vorrichtung verschwinden. Da gab ihr der Schrecken die Kraft wieder.

»Nehmt mir das weg!« schrie sie mit Ungestüm; und indem sie sich ganz wild in die Höhe richtete: »Gnade!«

Sie sprang vom Bette in die Höhe, um sich dem Procurator des Königs vor die Füße zu werfen, aber ihr Bein wurde in dem plumpen, eisenbeschlagenen Eichenklotze festgehalten, und sie sank matter auf das Foltergeräth hin, als eine Biene, die eine Bleikugel am Flügel haben würde.

Auf ein Zeichen Charmolue’s legte man sie wieder auf das Bett, und zwei rohe Fäuste befestigten an ihrem zarten Leibe den Riemen, der von der Decke herab hing.

»Zum letzten Male frage ich: Gesteht Ihr die Tatsachen des Processes ein?« sprach Charmolue mit unerschütterlicher Leutseligkeit.

»Ich bin unschuldig.«

»Nun, Jungfer, wie erklärt Ihr die Euch zur Last gelegten Umstände?«

»Ach! gnädiger Herr! ich weiß es nicht.«

»Ihr läugnet also?«

»Alles!«

»Thut, was Eures Amtes,« sprach Charmolue zu Pierrat.

Pierrat drehte den Griff der Schraubenwinde an, der spanische Stiefel zog sich fester zusammen, und die Unglückliche stieß einen jener fürchterlichen Schreie aus, die in keiner menschlichen Sprache beschrieben werden können.

»Haltet ein,« sagte Charmolue zu Pierrat. »Gesteht Ihr?« fragte er die Zigeunerin.

»Alles!« rief das elende Mädchen. »Ich gestehe! ich gestehe! Gnade!«

Sie hatte ihre Kräfte nicht berechnet, als sie der Folter Trotz bot. – Armes Kind, dessen Leben bis hierher so freudig, so sanft, so angenehm gewesen war: der erste Schmerz hatte dich überwältigt!

»Die Menschlichkeit verpflichtet mich, Euch zu sagen,« bemerkte der Procurator des Königs, »daß, wenn Ihr ein Geständnis ablegt, Ihr den Tod erwarten dürfet.«

»Ich hoffe wohl darauf,« sagte sie. Dem Tode nahe, am ganzen Leibe gebrochen und in dem um ihre Brust geschlungenen Riemen hängend, fiel sie wieder auf das Lederbett zurück.

»Frisch, meine Schöne, haltet Euch ein wenig aufrecht,« sagte Meister Pierrat, während er sie aufrichtete: »Ihr seht ja wie der goldene Schöps 42 aus, den der Herr von Burgund um den Hals trägt.«

Jacob Charmolue erhob seine Stimme.

»Gerichtsschreiber, schreibt … Junges Zigeunermädchen, Ihr gestehet Eure Theilnahme an den Liebesmahlen, Sabbathen und Zaubereien der Hölle, mit den Gespenstern, Hexen und Nachtgeistern ein? Antwortet.«

»Ja,« sagte sie so leise, daß sich ihr Wort in einem Hauche verlor.

»Ihr gestehet, den Bock gesehen zu haben, welchen Beelzebub in den Wolken erscheinen läßt, um die Hexenversammlung zusammenzurufen, und der nur von Hexen gesehen wird?«

»Ja.«

»Ihr bekennet die Baphometsköpfe, diese abscheulichen Götzenbilder der Templer, 43 angebetet zu haben?«

»Ja.«

»Fleischlichen Umgang mit dem Teufel unter der Gestalt einer Lieblingsziege, welche in den Proceß mit verwickelt ist, gepflogen zu haben?«

Ja.«

Endlich gestehet und bekennt Ihr, mit Hilfe des Teufels und des Gespenstes, welches vom Volke ›der gespenstige Mönch‹ genannt wird, in der Nacht des letzten neunundzwanzigsten März einen Hauptmann, Phöbus von Châteaupers mit Namen, erdolcht und ermordet zu haben?«

Sie erhob ihre großen starren Augen auf den Beamten und antwortete wie mechanisch, ohne Zuckung und ohne Zittern: »Ja.« – Es war offenbar, daß ihr ganzes Innere gebrochen war.

»Schreibt, Gerichtsschreiber,« sagte Charmolue. Und während er sich an die Henker wendete: »Man mache die Gefangene los und führe sie in den Gerichtssaal zurück.« Als die Gefangene vom »spanischen Stiefel« befreit worden war, untersuchte der Procurator beim Kirchengerichtshofe ihren vom Schmerze noch steifen Fuß: »Sehet da!« sagte er, »der Schaden ist nicht groß. Ihr habt zur rechten Zeit geschrien. Ihr werdet noch tanzen können, meine Schöne!« Dann wandte er sich zu seinen Begleitern vom geistlichen Gerichte: »Sehet, endlich ist die Gerechtigkeit an den Tag gekommen! Das ist ein Trost, ihr Herren! Die Jungfer wird uns das Zeugnis geben, daß wir mit aller möglichen Milde verfahren sind.«

  1. Anspielung auf den Orden vom Goldenen Vließe. Derselbe besteht bekanntlich aus einem goldenen Lamme (symbolisch für unsern Heiland), welches an einer goldenen Kette um den Hals getragen wird. Anm. d. Uebers.
  2. Im dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderte wurden die letzten Tempelritter in Paris von der nach ihren Reichthümern lüsternen Krone und Kirche wiederholt der Zauberei beschuldigt und mit dem Feuertode bestraft. Anm. d. Uebers.

3. Ende der Geschichte vom Thaler, der in ein dürres Blatt verwandelt wurde.

Als sie blaß und hinkend in den Gerichtssaal zurückkehrte, empfing sie ein allgemeines Freudengemurmel. Von Seiten der Zuhörerschaft war es die Empfindung befriedigter Ungeduld, welche man im Theater erleidet, wenn der letzte Zwischenakt des Lustspieles vorüber ist, der Vorhang sich hebt und das Ende herannaht. Von Seiten der Richter war es die Hoffnung, bald zum Abendessen kommen zu können. Selbst die kleine Ziege meckerte vor Freude. Sie wollte auf ihre Herrin loseilen, aber man hatte sie an die Bank festgebunden.

Die Nacht war völlig hereingebrochen. Die Kerzen, deren Zahl man nicht vermehrt hatte, verbreiteten so wenig Licht, daß man die Mauern des Verhandlungssaales nicht sehen konnte. Die Finsternis verhüllte alle Gegenstände darin mit einer Art Nebel. Einige gefühllose Richtergesichter traten zur Noth daraus hervor. Ihnen gegenüber, am Ende des langen Saales, konnte man einen verschwimmenden weißen Punkt vom dunkeln Hintergrunde sich abheben sehen. Es war die Angeklagte. Die hatte sich zu ihrem Platze hingeschleppt. Als Charmolue mit herrischer Geberde den seinigen wieder eingenommen hatte, setzte er sich nieder; dann erhob er sich wieder und sprach, ohne gerade allzuviel Eitelkeit über seinen Erfolg durchblicken zu lassen: »Die Angeklagte hat alles gestanden.«

»Zigeunermädchen,« nahm der Präsident jetzt das Wort, »Ihr habt alle Eure Thaten der Zauberei, der Unzucht und des an Phöbus von Châteaupers begangenen Meuchelmordes eingestanden?«

Ihr Herz krampfte sich zusammen. Man hörte sie in der Dunkelheit schluchzen.

»Alles, was Ihr nur wollt,« antwortete sie matt, »aber tödtet mich schnell!«

»Herr Procurator des Königs beim Kirchengerichtshofe,« sagte der Präsident, »die Kammer ist bereit, Euch und Eure Anträge zu vernehmen.«

Meister Charmolue legte ein fürchterliches Heft vor sich nieder, begann mit vielen Gestikulationen und übertriebener Betonung der Sachwalterkunst eine lateinische Rede vorzulesen, in welcher alle Beweise des Processes sich auf ciceronischen Umschreibungen, die mit Citaten aus Plautus, seinem Lieblingskomiker, geschmückt waren, aufbauten. Wir bedauern, unsern Lesern dieses merkwürdige Schriftstück nicht mittheilen zu können. Der Redner trug es mit einer sonderbaren Lebendigkeit vor. Er hatte den Eingang noch nicht beendigt, als ihm schon der Schweiß von der Stirne rann, und die Augen aus dem Kopfe heraustraten. Plötzlich brach er, gerade in der Mitte einer Periode, ab, und sein für gewöhnlich ziemlich sanfter, ja sogar dummer Blick nahm einen niederschmetternden Ausdruck an. »Meine Herren,« rief er aus (diesesmal auf französisch, denn diese Worte standen nicht im Hefte), »der Satan ist dermaßen in diese Angelegenheit verwickelt, daß wir sehen, wie er sich in unsere Verhandlungen mischt und mit ihrer Würde Aeffereien treibt. Sehet doch!« Bei diesen Worten zeigte er mit der Hand auf die kleine Ziege hin, welche, als sie Charmolue gesticuliren sah, in Wahrheit gemeint hatte, daß es an der Zeit sei, es ebenso zu machen, sich auf das Hintertheil niedergelassen hatte, und so gut sie es vermochte, mit ihren Vorderfüßen und dem bärtigen Kopfe das pathetische Geberdenspiel des königlichen Procurators beim Kirchengerichtshofe nachäffte. Dies war, wie man sich dessen erinnern wird, eine ihrer hübschesten Kunstleistungen. Dieser Zwischenfall, dieser letzte »Beweis« brachte große Wirkung hervor … Man band der Ziege die Beine, und der Procurator des Königs nahm den Faden seiner Beredtsamkeit wieder auf. Diese wurde sehr lang, aber der Schluß war bewunderungswürdig. In Folgendem geben wir den letzten Satz, zu dem man die heisere Stimme und die athemlosen Bewegungen Meister Charmolue’s sich hinzudenken möge: » Ideo, domini, coram stryga demonstrata, crimine patente, intentione criminis existente, in nomine sanctae ecclesiae Nostrae-Domniae Parisiensis, quea est in saisina habendi onmimodam altam et bassam justitiam in illa hac intemerata Civitatis insula, tenore praesentium declaramus nos requirere, primo, aliquandam pecuniariam indemnitatem; secundo, amendationem honorabilem ante portalium maximum Nostrae-Dominae, ecclesiae cathedralis; tertio, sententiam, in virtute cujus ista stryga cum sua capella, seu in trivio vulgariter dicto »la Grève«, seu in insula exeunte in fluvio Secanae, juxta pointam jardini regalis, executatae sint!« 44

Er setzte sein Barett wieder auf und ließ sich wieder auf seinen Stuhl nieder.

» Eheu,« seufzte Gringoire tief betrübt, » bassa latinitas!« 45

Ein anderer Mann im schwarzen Gewande erhob sich neben der Angeklagten; es war ihr Vertheidiger. Die nüchternen Richter begannen zu murren.

»Vertheidiger, haltet Euch kurz,« sagte der Präsident.

»Herr Präsident,« entgegnete der Advocat, »weil die Beklagte das Verbrechen eingestanden hat, so habe ich den Herren nur noch ein Wort zu sagen. Folgendermaßen lautet der Text des salischen Gesetzes: »Wenn eine Unholde einen Menschen gefressen hat, und ist dessen überführt, so soll sie eine Buße von achttausend Hellern bezahlen, welche zweihundert Goldsous betragen.« Es gefalle der Kammer, meine Clientin zu dieser Buße zu verurtheilen.«

»Ein abgeschafftes Gesetz,« sagte der peinliche Anwalt des Königs.

» Nego,« 46 entgegnete der Vertheidiger.

»Zur Abstimmung!« sagte ein Rath; »das Verbrechen ist offenbar, und es ist spät.«

Man schritt zur Abstimmung, ohne den Saal zu verlassen. Die Richter sagten zu allem »ja«, ohne Bedingung; sie hatten es eilig. Man sah ihre barettgeschmückten Häupter sich eins nach dem andern in der Dunkelheit entblößen, als ihnen der Präsident ganz leise die furchtbare, entscheidende Frage vorlegte. Die arme Angeklagte schien sie anzublicken, aber ihr trübes Auge sah nichts mehr.

Darauf begann der Gerichtsschreiber etwas niederzuschreiben; sodann überreichte er dem Präsidenten eine lange Pergamentrolle. Hierauf hörte die Unglückliche, wie das Volk in Bewegung gerieth, die Hellebarden zusammenschlugen, und wie eine eisige Stimme folgendermaßen sprach:

»Zigeunermädchen, an dem Tage; welchen der König, unser Herr, bestimmen wird, zur Mittagsstunde, sollt Ihr auf einem Karren, im Hemde, barfüßig, den Strick um den Hals, vor das große Portal von Notre-Dame geführt werden, dort sollt Ihr mit einer zwei Pfund schweren Wachskerze in der Hand öffentliche Buße thun, und von da sollt Ihr nach dem Grèveplatze geführt werden, wo Ihr am Galgen der Stadt gehenkt und erdrosselt werden sollt; und Eurer Ziege soll gleiches geschehen. Auch sollt Ihr dem geistlichen Gerichte als Genugthuung für die von Euch begangenen und von Euch eingestandenen Verbrechen der Zauberei, der Magie, der Unzucht und des an der Person des Herrn Phöbus von Châteaupers begangenen Mordes drei goldene Löwenthaler bezahlen. Möge Gott Eurer Seele gnädig sein!«

»Ach! es ist ein Traum!« murmelte sie; und sie fühlte, wie rohe Fäuste sie davonstießen.

  1. Lateinisch: Deshalb, ihr Herren, und da die Hexe öffentlich vor aller Augen überwiesen, das Verbrechen offenkundig, das Vorhaben eines Verbrechens vorhanden ist, so erklären wir im Namen der heiligen Kirche Notre-Dame in Paris, welche das Recht hat, hohe und niedere Gerichtsbarkeit in dieser besagten, unentweihten Stadtinsel zu üben, verlangen, erstens: eine Geldentschädigung; zweitens: öffentliche Buße vor dem Haupteingange der Hauptkirche Notre-Dame: drittens: einen Urteilsspruch, kraft dessen jene Hexe und ihre Ziege entweder auf der Stelle, welche gewöhnlich »der Grèveplatz« genannt wird, oder auf der in den Seinefluß auslaufenden Insel dicht an der Spitze des königlichen Parkes hingerichtet werden!
  2. Lateinisch: O, das Mönchslatein!
  3. Lateinisch: Nein! sage ich. Anm. d. Uebers.