I. Was man sieht, wenn man von Nivelles kommt.

An einem schönen Maimorgen des vergangenen Jahres (1861) machte ein Reisender, derselbe, welcher diese Geschichte erzählt, die Tour von Nivelles nach La Hulpe. Er ging zu Fuß. Der Weg ging zwischen zwei Baumreihen auf einer großen gepflasterten Chaussée hin, welche wellenförmig sich über Hügel hinaufschlängelt. Lillois und Bois-Seigneur-Isaac hatte er schon passirt. Im Westen gewahrte er den aus Schiefer gebauten Kirchthurm von Braine-l’Alleud, welcher die Gestalt einer umgekehrten Vase hat. Er hatte so eben ein auf einer Anhöhe befindliches Gehölz und an der Wende eines Seitenweges neben einer Art wurmstichigen Galgens, welcher die Inschrift »Alte Barriere Nr. 4« trug, ein Wirthshaus hinter sich gelassen, welches an seiner Vorderseite folgendes Schild hatte: »Zu den vier Wänden. Echabeau, Kaffeehaus.«

Eine Viertelstunde weiter kam er in einen Thalgrund, wo unter einem Brückenbogen Wasser in den Straßengraben fließt. Die einzelnen grünen Bäume, welche nach der Chaussée zu das Thal ausfüllen, zerstreuen sich nach der anderen Seite zu in den Wiesen und ziehen sich unordentlich und anmuthsvoll nach Braine-l’Alleud zu.

Rechts an der Straße stand ein Wirthshaus, davor ein vierrädriges Fuhrwerk, ein großes Bündel Hopfenstangen, ein Pflug, ein Haufen dürres Reisholz neben einer lebendigen Hecke, Kalk, der in einer viereckigen Grube rauchte und eine an einem strohenen Schuppen angebrachte Leiter. Ein junges Mädchen jätete auf dem Felde, wo ein großer gelber Zettel, wahrscheinlich die Ankündigung einer Kirmiß enthaltend, im Winde herum flatterte. Von der Ecke des Wirthshauses, neben einer Pfütze hin, in welcher zahlreiche Enten schwammen, führte ein schlecht gepflasterter Weg in das Gebüsch. Der Wanderer betrat dasselbe.

Nachdem er so etwa hundert Schritte längs einer Mauer aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit spitzem Ziegeldache gemacht hatte, befand er sich einer großen gewölbten Steinpforte gegenüber mit einer gradlienigen Imposte im ernsten Style Ludwig XIV., an beiden Seiten mit zwei hervorragenden runden Flächen versehen, in welcher Brustbilder angebracht waren. Auf dem Boden vor der Pforte lagen drei Eggen, durch welche hindurch alle Blumen des Mai durcheinander wuchsen. Die Pforte war verschlossen. Sie hatte zwei alte morsche Flügelthüren zum Verschluß, welche mit einem alten verrosteten Klopfer geschmückt waren.

Die Scene war reizend; die Aeste hatten jenes sanfte Zittern des Mai, welches mehr von den Nestern als vom Winde herzukommen scheint. Auf einem Baume sang ein braver kleiner, wahrscheinlich verliebter Vogel, so eifrig wie er nur konnte.

Der Reisende bückte sich und betrachtete in dem links daliegenden Stein am rechten Thürflügel eine ziemlich große runde Aushölung, welche einer runden Honigzelle nicht unähnlich sah. In diesem Augenblicke öffneten sich die Thorflügel und eine Bäuerin trat heraus.

Sie sah den Reisenden und bemerkte, daß er sich in Betrachtungen erging.

»Eine französische Kugel hat das gethan,« sagte sie zu ihm.

»Was Sie da höher oben an der Thür sehen,« fügte sie hinzu, »neben einem Loche, das rührt von einer großen Kartätschenkugel her, welche aber nicht ganz durch das Holz durchgegangen ist.«

»Wie heißt der Ort?« fragte der Reisende.

»Hougomont,« sagte die Bäuerin.

Der Reisende richtete sich auf, ging einige Schritte weiter, sah über die Hecken und gewahrte am Horizont zwischen den Bäumen hindurch eine Art Hügel und auf demselben Etwas, das von Ferne wie ein Löwe aussah. Er befand sich auf dem Schlachtfelde von Waterloo.

X. Das Plateau von Mont-Saint-Hean.

Gleichzeitig mit dem Hohlwege wurde die Batterie demaskirt.

Sechzig Kanonen und dreizehn Carré’s feuerten auf die Cuirassire, welchen die Geschosse so zu sagen beinahe auf die Brust gesetzt wurden. Der unerschrockene General Delord machte der englischen Batterie seinen militairischen Gruß.

Die ganze fliegende englische Artillerie hatte sich im Galopp in die Carrés begeben. Die Cuirassire hatten nicht einmal Zeit festen Fuß zu fassen. Das Unglück im Hohlwege hatte sie zwar decimirt, aber nicht entmuthigt. Je geringer ihre Zahl wurde, desto größer wurde ihr Muth.

Im gestreckten Galopp, mit losgelassenen Zügeln, den Säbel zwischen den Zähnen, die Pistole in der Faust stürzten sie sich auf die englischen Carrés.

Es giebt in den Schlachten Augenblicke, wo die Seele den Körper bis zu dem Grade verhärtet, daß sie den Soldaten zu einer Statue macht, an welcher alles Fleisch Granit geworden ist.

Aber auch die in so heftiger Weise angegriffenen englischen Bataillone wichen nicht.

Es war schrecklich.

Alle Fronten der englischen Armee wurden zugleich angegriffen. Ein rasender Wirbel umhüllte sie. Die Infanterie aber blieb kalt und wankte nicht. Das erste Glied war nieder gekniet und empfing die Cuirassire mit dem Bajonett, während das zweite auf sie feuerte. Hinter diesem stand die Artillerie.

Von Zeit zu Zeit öffnete sich die Front des Carrés, ließ den Ausbruch einer Kartätschenladung durch und schloß sich wieder. Die Kuirassire blieben die Antwort nicht schuldig, wüthend säbelten sie Alles vor sich nieder. Mit ihren sich bäumenden Pferden setzten sie über die Bajonette, über die Glieder des Carrés mitten in dasselbe hinein, mitten in jene vier lebenden Mauern. Die Kugeln der Infanterie durchlöcherten die Reihen der Cuirassire, die Cuirassire brachen Bresche in die Carrés. Die durch die wüthende Kavallerie zusammengehauenen Carré’s zogen sich ohne zu wanken zusammen. Unerschöpflich im Schuß bewirken sie mitten unter den Angreifenden Explosionen. Sie waren Krater, die angreifende Kavallerie ein Sturm: die Lava kämpfte mit dem Blitz.

Das letzte Carré rechts, welches am meisten von allen ausgesetzt war, wurde schon beim ersten Anprall beinahe gänzlich vernichtet. Es war aus dem fünfundsiebzigsten Hochländer-Regiment gebildet. Der Dudelsackpfeifer saß in der Mitte auf einer Trommel und spielte, mit seinem melancholischen Auge, in welchem See und Hain der Heimath sich spiegelten, in tiefe Erinnerungen versunken, achtlos auf seine schreckliche Umgebung, Melodien der heimathlichen Berge, bis der Säbel eines Cuirassirs Sang und Sänger tödtete. Diese Schotten starben mit Erinnerungen an Ben Lothian wie die Griechen mit Erinnerungen an Argos. Die verhältnißmäßig wenig zahlreichen Cuirassire, welche durch die Katastrophe im Hohlwege noch mehr geschmolzen waren, hatten beinahe die ganze englische Armee gegen sich. Jeder aber galt so viel wie zehn. Das vergrößerte ihre Anzahl. Indessen begannen einige Hanoversche Regimenter zu weichen. Wellington sah es und dachte an seine Cavallerie. Hätte Napoleon in diesem Augenblicke an seine Infanterie gedacht, er würde die Schlacht gewonnen haben. Dieses Vergessen war ein großer verhängnißvoller Fehler von ihm.

Plötzlich sahen die angreifenden Kuirassire sich angegriffen. Die englische Cavallerie erschien hinter ihnen. Vor ihnen die Carré’s, hinter ihnen Somerset, d. h. vierzehnhundert Garde-Dragoner. Zu seiner Rechten hatte Somerset Dörnberg mit den deutschen Cheveauxlegers, zur Linken Trip mit den belgischen Carabiniers. So mußten die von allen Seiten angegriffenen Kuirassire nach überall hin Front machen. Was ging es sie an! Sie waren ein Wirbelwind.

Die hier auf allen Seiten bewiesene Tapferkeit ist unbeschreiblich: für solche Franzosen mußte es wenigstens solche Engländer geben.

Obwohl Ney mit Unterstützung herbeieilte und zwölf Angriffe erfolgten, hielten, sich die Carré’s immer noch. Ney wurden vier Pferde unter dem Leibe getödtet, die Hälfte der Kuirassire blieb auf dem Platze. Zwei Stunden dauerte der Kampf. Die Lage Wellingtons hatte sich verschlimmert. Diese seltsame Schlacht war wie ein Duell zwischen zwei bis auf den Tod erbitterter Verwundeten, die, ohne daß einer nachgiebt, bis auf den letzten Blutstropfen mit einander kämpfen. Wer von ihnen beiden wird zuerst fallen?

Wellington fühlte sich seinem Untergänge nahe: die Krisis war im Anzüge.

Die Kuirassire hatten zwar insofern ihren Zweck nicht erreicht, als sie das Centrum nicht durchbrochen hatten und sogar der größte Theil des Plateau’s, das Dorf und der Höhepunkt, den Engländern gehörte, während Ney nur den Abhang und den Kamm inne hatte. Die Schwächung der Engländer schien jedoch unheilbar, der Blutverlust dieser Armee war schrecklich. Die wüthenden Stöße der gewaltigen, eisenbepanzerten Schwadronen hatten die Infanterie zermalmt. Um fünf Uhr zog Wellington seine Uhr aus der Tasche und man hörte ihn dabei die düstern Worte murmeln: »Blücher oder die Nacht!«

Beinah in demselben Augenblicke blitzte in der Entfernung auf den Höhen nach Frischemont zu eine Bajonetlinie.

Das ist der Wendepunkt in diesem riesigen Drama.

XI. Napoleon hat einen schlechten, Bülow einen guten Führer.

Man kennt die schmerzliche Enttäuschung Napoleons: Grouchy wird erwartet, Blücher erscheint; der Tod statt des Lebens. Das Schicksal hat solche Wandlungen. Man erwartet den Thron der Weltherrschaft und sieht St. Helena vor sich. Wenn der kleine Hirte, welcher Bülow als Führer diente, diesem gerathen hätte, lieber oberhalb Frischemont statt unterhalb Planchenois aus dem Walde herauszukommen, so würde das neunzehnte Jahrhundert vielleicht eine andere Gestalt erhalten haben. Napoleon hätte die Schlacht von Waterloo gewonnen. Auf jedem andern Wege als auf dem unterhalb Planchenois wäre die preußische Armee auf eine für die Artillerie unübersteigliche Schlucht gestoßen und Bülow wäre nicht eingetroffen.

Eine einzige Stunde später – erklärt der preußische General Müffling – und Blücher hätte Wellington nicht mehr gefunden, »die Schlacht wäre verloren gewesen.«

Es war, wie man sieht, die höchste Zeit, daß Bülow ankam. Uebrigens war er sehr aufgehalten worden. Er hatte in Dion-le-Mont bivouakirt und war mit Anbruch des Tages aufgebrochen. Die Wege aber waren ungangbar und die Divisionen waren im Koth stecken geblieben. Die Gleise gingen bis an die Achsen der Kanonen. Außerdem hatte man den Dyle über die schmale Brücke zu Wavre passiren müssen; die zur Brücke führende Straße war von den Franzosen in Brand gesteckt; die Pulverwagen, die zwischen zwei Reihen brennender Häuser nicht hindurchfahren konnten, mußten warten, bis der Brand gelöscht war. Es war Mittag, als die Avantgarde Bülow’s Chapelle-Saint-Lambert noch nicht hatte erreichen können.

Wäre die Schlacht zwei Stunden früher begonnen worden, so würde sie um vier Uhr zu Ende gewesen und Blücher würde auf dem Schlachtfelde angelangt sein, wenn sich dasselbe bereits in den Händen des siegreichen Napoleon befunden. So sind diese unermeßlichen Zufälligkeiten mit dem Unendlichen in Uebereinstimmung gebracht, welches unserem sterblichen Auge entgeht.

Schon seit Mittag hatte der Kaiser zuerst mit seinem Fernrohre am äußersten Horizonte Etwas bemerkt, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Er sagte: »ich sehe da unten eine Wolke, die mir von Truppen herzurühren scheint.« Dann fragte er den Herzog von Dalmatien: »Soult, was sehen Sie in der Richtung nach Chapelle-Saint-Lambert zu?« – Der Marschall richtete sein Fernrohr dahin und antwortete: »Vier bis fünftausend Mann, Sire. Offenbar Grouchy,« Jenes Etwas blieb indeß unbeweglich in dem Nebel. Alle Fernrohre des Generalstabes beobachteten die von dem Kaiser bemerkte »Wolke«. Einige sagten: »es sind Colonnen, die Halt machen.« Die Meisten erklärten aber: »es sind Bäume.« Allerdings bewegte sich die Wolke nicht und der Kaiser sandte Domons Division leichter Reiterei auf Recognoscirung dieses dunkeln Punktes aus.

Bülow hatte sich in der That nicht gerührt. Seine Avantgarde war sehr schwach und vermochte nichts. Er mußte auf das Gros des Armeecorps warten und hatte den Befehl, sich zu concentriren, ehe er in die Schlachtlinie einrücke. Um fünf Uhr aber befahl Blücher, da er die Gefahr Wellingtons sah, Bülow, anzugreifen und sprach dabei das beachtenswerthe Wort: »Man muß der englischen Armee Luft machen.«

Bald nachher entfalteten sich die Divisionen Losthin, Hiller, Hacke und Ryssel vor dem Lobau’schen Corps, die Cavallerie des Prinzen Wilhelm von Preußen brach aus dem Walde hervor, Planchenois stand in Flammen und die preußischen Kugeln begannen selbst bis in die Reihen der Garde-Reserve hinter Napoleon hinein zu regnen.

XII. Die Garde.

Das Uebrige kennt man: daß eine dritte Armee einbrach, die Schlacht verschoben wurde, plötzlich sechs und achtzig Feuerschlünde donnerten, Pirch I. mit Bülow und die Kavallerie Ziethens unter. Blüchers eigener Führung die Franzosen überraschte; daß die Franzosen zurückgeworfen, Macognet von dem Plateau Ohains hinweggefegt, Darutte aus Papolette vertrieben wurde, daß Donzelot und Quiot wichen und mit Einbruch der Nacht eine neue Schlacht sich auf die ermatteten französischen Regimenter stürzte; daß die ganze englische Linie von Neuem die Offensive ergriff und, vorwärts gedrängt, in die französische Armee wie ein gigantischer Keil einbrach; wie die englischen und preußischen Kartätschen einander unterstützten zur Vernichtung der Franzosen; wie endlich bei diesem Unglück auf allen Seiten die Garde in diesem entsetzlichen Zusammensturz, in die Schlachtlinie einrückte.

Da sie fühlte, daß sie in den Tod gehe, rief sie: »es lebe der Kaiser!« Die Geschichte kennt nichts Ergreifenderes als diesen in Jubelrufe ausbrechenden Todeskampf.

Der Himmel war den ganzen Tag über bedeckt gewesen. Plötzlich und grade in diesem Augenblicke, es war acht Uhr Abends, zogen sich die Wolken vom Horizont zurück und ließen durch die Ulmen an der Straße von Nivelles den mächtigen unheimlichen rothen Glanz der untergehenden Sonne durchdringen. In Austerlitz hatte man sie aufgehen sehen.

Jedes Bataillon der Garde war bei diesem Entscheidungskampf von einem General commandirt. Es waren Friant, Michel, Roquet, Harlet, Mallet, Poret von Morvan. Als die hohen Mützen der Grenadiere der Garde mit der breiten Adlerplatte, symmetrisch in schnurgrader Linie, ruhig, im Düster dieses Gedränges erschienen, fühlte der Feind Achtung vor Frankreich; man glaubte zwanzig Siege mit entfalteten, flatternden Fahnen auf dem Schlachtfelde erscheinen zu sehen, und diejenigen, welche die Sieger waren, hielten sich für besiegt und wichen zurück. Wellington aber rief: »Auf Garden, zielt gut!« Das rothe Regiment der englischen Garde, das hinter den Hecken lag, erhob sich, und ein Hagel von Kugeln durchlöcherte die dreifarbige, um die französischen Adler zitternd flatternde Fahne, Alles stürzte hervor – das letzte Gemetzel begann. Die kaiserliche Garde fühlte im Dunkel, daß die Armee um sie her wankte, die beginnende Verwirrung der ungeheuren Flucht; sie vernahm das sauve qui peut (es rette sich wer kann), das «n die Stelle des »es lebe der Kaiser!« getreten war. Während man hinter ihr floh, rückte sie vor, mehr und mehr niedergeschmettert, von Schritt zu Schritt dem Tode näher rückend. Zögernde und Furchtsame gab es da nicht. Der Soldat in dieser Truppe war ein ebenso großer Held wie sein General. Kein Mann entzog sich dem Tode, welcher hier einem Selbstmorde in gewisser Beziehung nicht unähnlich war. Ney, außer sich, groß im großartigen Bewußtsein des freiwilligen Todes, bot sich in diesem Unwetter allen Kugeln dar. Das fünfte Pferd schon war unter ihm gefallen. Mit flammenden Augen, triefend von Schweiß, Schaum auf den Lippen, mit aufgeknöpfter Uniform, eine seiner Epauletten von einem englischen Cavalleristenhiebe halb durchschnitten, sein Ordenstern auf der Brust durch eine Kugel verbogen, blutend, von Schmutz bedeckt, großartig, einen zerbrochenen Degen in der Hand, rief er: »Seht, wie ein Marschall Frankreichs auf dem Schlachtfelds stirbt!« Es war jedoch vergebens, er starb nicht. Wild und aufgebracht fragte er Drouet von Erlon: »Läßt Du Dich denn nicht tödten?« Mitten unter dieser Kanonade, welche diese Handvoll Männer niederwarf, rief er: »Giebt es denn nichts für mich? Ach! daß doch alle diese englischen Kugeln mir in den Leib führen!«. Unglücklicher! Du warst für französische Kugeln aufgespart!

XIII. Die Katastrophe.

Die Flucht hinter der Garde war schauerlich. Die Armee zog sich plötzlich auf allen Zeiten zurück, von La Haie-Sainte, von Papelotte, von Planchenois. Dem Rufe: Verrath! folgte der andere: Rette sich wer kann! Eine Armee, die sich auflöset, ist wie Eisgang. Alles zerreißt, zerspringt, senkt sich, schwimmt, fällt, stößt, wälzt und überstürzt sich. Unerhörte Auflösung! Ney, borgt sich ein Pferd, springt auf dasselbe und ohne Hut, ohne Halsbinde, ohne Degen stellt er sich quer auf die Straße nach Brüssel und hielt zugleich die Engländer und die Franzosen auf. Er bemühte sich die Armee zu halten; er rief sie an, er schimpfte sie, krampfhaft hängt er sich an die Flucht, um sie aufzuhalten. Diese aber überfluthet ihn. Die Soldaten wichen ihm aus, und riefen: »es lebe der Marschall Ney!« Zwei Regimenter Durutte’s zogen hin und her wie herumgeworfen zwischen den Säbeln der Uhlanen und den Kugeln der Brigaden Kempt, Best, Pack und Rylandt. Das schlimmste Gedränge ist die Flucht. Freunde ermorden sich, um fliehen zu können; die Schwadronen und Bataillone lösen sich auf und zerstreuen sich unter- und gegeneinander wie ungeheurer Schaum der Schlacht. Lobau an dem einen und Reille an dem anderen Ende werden in die Flut hineingezogen. Vergebens baut Napoleon mit dem Reste der Garde, die ihm geblieben, Mauern auf; vergebens verschwendet er seine Schwadronen zu einer letzten Anstrengung. Guyot, der die Kaiser-Schwadronen zum Angriffe führte, fällt unter den Hufen der englischen Dragoner. Napoleon galoppirt an den Fliehenden hin, redet sie an, drängt, droht, bittet. Jeder Mund, der des Morgens »es lebe der Kaiser!« gerufen hatte, blieb stumm. Man kannte ihm kaum. Die frisch angekommene preußische Cavallerie stürzt im Fluge herbei, säbelt nieder, zerhackt, mordet, vernichtet. Die Kanonen fliehen. Die Trainsoldaten spannen die Pferde ab und retten sich auf denselben; allerlei umgestürzte Wagen versperren die Straße und werden Veranlassung zu neuen Metzeleien. Einer tritt den Anderen, man metzelt sich gegenseitig nieder. Man läuft über Lebende und Todte hinweg. Die Arme wissen nicht was sie thun. Eine vom Schwindel ergriffene Menge füllt die Straßen und Wege, die Brücken, die Ebenen, die Hügel, die Thäler und die Wälder aus, welche von dieser Flut verdunkelt werden. Wilde Rufe, ins Getreide weggeworfne Tornister und Gewehre, keine Kameraden, keine Offiziere, keine Generäle mehr, nichts als ein unaussprechlicher Schrecken! Mit Säbeln bahnt man sich einen Weg. Ziethen säbelt Frankreich mit aller Bequemlichkeit nieder. Aus den Löwen sind Lämmer geworden. Das war die Flucht.

In Genappe versuchte man sich umzuwenden, Front zu machen, sich zu sammeln, Lobau sammelte dreihundert Mann. Man verbarricadirte den Eingang des Dorfes, aber schon beim ersten Einschlagen der preußischen Kugeln wendete man sich von Neuem zur Flucht und Lobau wurde gefangen genommen.

Die Preußen stürzten sich nach Genappe, wüthend ohne Zweifel, daß sie so wenig gesiegt. Die Verfolgung war grauenhaft. Blücher befahl Alles nieder zu machen. Roguet hatte zuerst jenes betrübende Beispiel gegeben, als er gedroht, jeden französischen Grenadier erschießen zu lassen, der ihm einen preußischen Gefangenen bringe. Blücher übertraf Roguet. Der General der jungen Garde, Duhesme, lehnte an der Thür eines Wirthshauses in Genappe, übergab seinen Degen einem Todten-Husaren, der den Degen nahm und den Gefangenen niederstach. Nach dem Siege die Niedermetzelung der Besiegten. Wir sind die Geschichte. Deshalb wollen wir strafend das Wort aussprechen: »der alte Blücher befleckte seine Ehre.« Diese Grausamkeit setzte dem Unglück die Krone auf. Die verzweiflungsvolle Flucht ging durch Genappe, Quatre-Bras, Sombresse, durch Frasnes, Thuin Charleroi, und machte erst an der Grenze Halt. Ach! und wer floh in solcher Weise? Die große Armee!

Hat dieser Schwindel, dieser Schrecken, dieser Sturz der höchsten Tapferkeit, welche jemals die Geschichte in Erstaunen setzte, keine Ursache? Nein! Der Schatten des gewaltigen Rechts wirft sich auf Waterloo. Es ist der Tag des Geschickes. Die Macht über den Menschen schuf diesen Tag. Daher die allgemeine Verwirrung; daher kommt es, daß alle diese großen Seelen ihre Waffen streckten. Die, welche Europa besiegt hatten, waren niedergeworfen. Sie hatten nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu thun; sie ahnten im Dunkel das Dasein von etwas Schrecklichem. Hoc erat in fatis. (So wollte es das Schicksal.) An diesem Tage änderte sich die Perspective des menschlichen Geschlechts. Waterloo ist der Angelpunkt des neunzehnten Jahrhunderts.

Der große Mann mußte verschwinden, damit das große Jahrhundert erscheinen konnte. Einer übernahm es, dem man niemals wiederspricht. Daraus erklärt sich der panische Schrecken der Heroen. In der Schlacht von Waterloo sehen wir mehr als eine Wolke, wir sehen ein Meteor. Gott war in derselben. Bei einbrechender Nacht ergriffen Bernard und Bertrand auf einem Felde bei Genappe einen in Gedanken versunkenen, finstern, düster blickenden Mann, welcher, von der Strömung der Flucht mit fortgetrieben, so eben von seinem Pferde abgestiegen war und den Zügel seines Pferdes unter dem Arm, neben demselben her zu Fuß und allein nach Waterloo hin zurückging. Es war Napoleon, welcher noch vorwärts zu gehen versuchte: schlafwandelnder Titan gestürzten Traumes.

XIV. Das letzte Carré.

Einige Carrés der Garde, unbeweglich in der Fluth der Flucht, wie Felsen im fließenden Wasser, hielten aus bis zur Nacht. In der Nacht erwarteten auch sie den Tod und unerschütterlich ließen sie sich einhüllen von diesem zweifachen Dunkel.

Ein jedes Regiment starb für sich, denn die Verbindungen mit den andern waren abgebrochen. Einige hatten auf den Höhen von Rossomme, andere in der Ebene Mont-Saint-Jean Stellung genommen, um diesen letzten Kampf zu kämpfen. Hier kämpften diese düsteren Carrés, verlassen, besiegt, schrecklich, einen furchtbaren Todeskampf. Ulm, Wagram, Jena, Friedland starben in ihm.

Gegen neun Uhr Abends in der Dämmerung war unten am Plateau von Mont-Saint-Jean noch Eines übrig. In diesem düstern, von englischen Massen übergossenen Thale am Fuße des Abhanges, welchen die Kürassiere erklommen hatten, kämpfte dieses Carré unter dem Kreuzfeuer der siegreichen feindlichen Artillerie, unter einem furchtbar dichten Kugelregen. Der Commandant desselben hieß Cambronne, ein unbekannter Offizier. Mit jeder Kugelladung wurde das Carré kleiner. Es gab jedoch Widerpart. Den Kartätschenkugeln antwortete es mit Flintenkugeln und dabei zog es seine vier Mauern immer mehr zusammen. Von Fern hörten die Fliehenden, wenn sie erschöpft einen Augenblick stehen blieben, dieses in der Dunkelheit schwächer und schwächer werdende, düstere Donnern.

Als diese Legion nur noch eine Hand voll Soldaten war, ihre Fahne nur noch ein Fetzen, ihre Gewehre wegen Mangel an Munition nur noch Stücke, als der Haufen der Gefallenen größer war als die Gruppe der Lebenden, empfanden die siegreichen Gegner diesen erhabenen Sterbenden gegenüber einen heiligen Schrecken. Die englische Artillerie schwieg. Es war ein Aufschub.

Die Kämpfenden hatten um sich herum gleichsam ein Gewimmel von Gespenstern, Silhouetten von Menschen zu Pferde, die dunkeln Umrisse der Kanonen, den zwischen Rädern und Lafetten hindurch schimmernden hellen Himmel. Der colossale Kopf des Todes, welchen die Helden im Pulverdampfe im Hintergrunde der Schlacht stets undeutlich erblickten, näherte sich ihnen immer mehr und schaute sie an.

Im Dämmerungsdunkel konnten sie die neue Ladung der Kanonen hören; die angezündeten Lunten, welche in dem Dunkel der Nacht wie Tiegeraugen aussahen, bildeten einen Kreis um ihre Köpfe. Alle Lunten wurden dicht an die Kanonen gebracht. Da rief in höchster Erregung ein englischer General (nach einigen Colville, nach andern Maitland), die letzte über dem Haupte der Helden schwebende Minute aufhaltend: »Ergebt Euch, tapfere Franzosen!« Cambronnes Antwort lautete: »Dreck!«

XV. Cambronne.

Mit Erlaubniß des französischen Lesers sei es gesagt, daß das schönste Wort, welches vielleicht je ein Franzose ausgesprochen, nicht einmal wiederholt werden kann; daß es verboten ist, das Erhabene in die Geschichte niederzulegen. Wir haben uns auf unsre Gefahr von diesem Verbot dispensirt.

Unter jenen Riesen gab es einen Titanen und dieser war Cambronne.

Was giebt es Größeres, als dieses Wort zu sagen und dann zu sterben! Denn sterben heißt, sterben wollen, es ist nicht seine Schuld, wenn er die Kanonade überlebt.

Der Mann, welcher die Schlacht von Waterloo gewonnen hat, ist nicht der fliehende Napoleon, nicht Wellington, welcher um 4 Uhr zu weichen begann und um 5 Uhr verzweifelte; es ist nicht Blücher, der sich gar nicht geschlagen hat! Der Mann, welcher die Schlacht von Waterloo gewonnen hat, ist Cambronne. Ein solches Wort dem euch tödtenden Donner ins Gesicht zu schleudern, heißt siegen. Diese Antwort der Catastrophe geben, dieses dem Schicksal ins Gesicht sagen, ironisch im Grabe zu sein, in einer Silbe die europäische Coalition zu ertränken, aus dem Letzten der Worte das Erste zu machen, Leonidas durch Rabelais zu vervollständigen, auf eigene Faust Waterloo mit einem Fastnachtsdienstag zu beschließen, diesen Sieg in ein letztes, unmöglich auszusprechendes Wort zusammen zu fassen, den Boden unter den Füßen zu verlieren und dabei die Geschichte im Auge zu behalten, nach solcher Metzelei die Lacher für sich zu haben – das ist ungeheuer, es ist eine dem Blitz angethane Beschimpfung, das ist äschyleische Größe. Das Wort Cambronnes brach verachtungsvoll hervor aus der Brust, in welcher der Todeskampf wüthete. Wer hat gesiegt? Wellington? Nein, denn ohne Blücher wäre er verloren gewesen. Blücher? Nein, denn wenn Wellington nicht begonnen hätte, hätte er nicht endigen können. Dieser Cambronne, welcher in der letzten Stunde erscheint, dieser unbekannte Soldat, dieser unendlich kleine Kriegsmann fühlt, daß die Catastrophe eine Lüge enthalt, welche ihn doppelt peinigt. Und in dem Augenblicke, wo er darüber vor Zorn außer sich geräth, bietet man ihm zum Hohn das Leben. Wie sollte er da nicht auffahren! Da suchte er nach einem Worte, wie man nach einem Schwerte sucht. Der Schaum kommt ihm auf die Lippen und dieser Schaum ist das Wort. Vor diesem großen und doch mittelmäßigen Siege, vor diesem Siege ohne Sieger richtet sich dieser Verzweifelte in die Höhe, er unterliegt der Massenhaftigkeit, er constatirt aber ihr Nichts. Und das heißt, Sieger sein.

Auf das Wort Cambronne’s antwortete die englische Stimme: »Feuer!« Die Batterien flammten, der Hügel zitterte, ein letztes schreckliches Geheul entstieg allen diesen Rachen von Erz. Eine ungeheure Rauchwolke, matt erleuchtet von dem aufgehenden Mond, rollte dahin. Als der Rauch sich verzog, war nichts mehr da. Jener ungeheure Ueberrest war vernichtet, die Garde war todt.

So endeten die französischen Legionen, welche höher zu stellen sind als die römischen, zu Mont-Saint-Jean auf der von Regen und Blut getränkten Erde an der Stelle, wo heut zu Tage 4 Uhr früh, pfeifend und lustig mit der Peitsche knallend der Postillon mit der Post, welche von Nivelles kommt, vorüberfährt.

Zweites Buch. Die Arbeit.


Erstes Capitel. Die Hülfsmittel dessen, dem Alles mangelt.

Die Grotte entließ ihre Besucher nicht ohne Weiteres. Der Eintritt war nicht bequem gewesen, doch der Ausgang bot noch viel bedeutendere Schwierigkeiten. Gilliatt legte dennoch den Heimweg zurück und begab sich niemals wieder in die Höhle. Er hatte darin nicht gefunden, was er suchte, und seine Zeit gestattete ihm keine weitere Befriedigung seiner Neugier.

Ohne Säumen begann er seine Schmiedearbeit. Da ihm Handwerkszeug fehlte, mußte er dasselbe anfertigen.

Das Wrack lieferte ihm das Brennmaterial, die See war sein Triebrad, der Wind sein Blasebalg, ein Felsblock ersetzte den Amboß, sein natürliches Talent diente ihm statt der Wissenschaft, seine Willenskraft als Macht.

Gilliatt begann seine Arbeit mit brennendem Eifer.

Das Wetter zeigte sich seinem Streben geneigt. Es war immer noch trocken und die Aequinoctialwinde übten ihre Herrschaft auf die schonendste Weise. Trotz der Märzzeit blieb es stille. Die Tage nahmen zu. Das Himmelsblau, die sanfte Bewegung des Meeres, die Heiterkeit des Mittags, schienen jede böse Absicht auszuschließen. Die See lächelte im Sonnenschein. Ein zärtliches Vorspiel würzt künftigen Verrath. Das Meer ist mit dergleichen Liebkosungen nicht geizig. Hat man es mit diesem Weibe zu thun, so hüte man sich vor seinem Lächeln.

Es wehten nur gelinde Lüfte; der hydraulische Blasebalg arbeitete um so besser. Starker Wind wäre hinderlich gewesen.

Gilliatt hatte eine Säge. Er verfertigte sich eine Feile. Mit ersterer bearbeitete er das Holz, mit letzterer die Metalle. Auch bediente er sich der Feuer- und der Kneipzange, dieser eisernen Hände des Schmieds. Erstere packt, letztere formt; die eine versieht die Dienste des Daumens, die andere vertritt den Zeigefinger.

Das Handwerkszeug ist ein Organismus. Gilliatt verschaffte sich allmälig Hülfstruppen und schmiedete sich seine Waffenrüstung.

Aus einem Reifholz machte er ein Schirmdach für seinen Feuerheerd.

Eine seiner ersten Sorgen war das Aussondern und Ausbessern der Blockrollen. Auch setzte er die Räder und Kästen der Flaschenzüge wieder in Stand, trennte alles Splitterwerk von den zerbrochenen Balken und stutzte ihre Enden zu; wie wir schon sagten, besaß er zur Ausführung seiner Zimmerarbeiten eine Menge Schiffstrümmer, die er früher aufgespeichert und ihren Formen und Stoffen gemäß geordnet hatte. Das Holz der Strandeiche und Kiefer lag auf seinem bestimmten Platz, wie Krummhölzer, Katzsparren und Decklukeinfassungen auf dem ihrigen. Er konnte dieser Hülfsmittel seiner Zeit nothwendig bedürfen. –

Jeder, der eine Zugwinde herstellen will, muß nicht nur Balken und Flaschenzüge, sondern auch Seile haben. Gilliatt verbesserte die Kabeltaue und Grelinge. Er spannte die zerrissenen Segel und es gelang ihm, die aus ihren Säumen gezogenen Halbseile zu Troß umzuarbeiten. Mit diesem fügte er das Tauwerk zusammen. Leider konnten diese künstlichen Ausbesserungen sich nicht lange halten, ohne zu verfaulen, weshalb Gilliatt eilen mußte, sie in Tätigkeit zu setzen. Aufgelöste Seile hatte er freilich benutzt, aber es fehlte ihm an Theer.

Als das Tauwerk hergestellt war, setzte Gilliatt die Ketten in Stand.

Dank des spitzen Vorsprungs seines Ambosses gelang es ihm, plumpe, aber haltbare Ringe zu schmieden. Mit diesen verband er die Enden der zerrissenen Ketten und verlängerte sie.

Auf eigene Hand schmieden, ist mehr als unbequem. Dennoch kam Gilliatt zum Ziel. Freilich hatte er nur kleine, wenig massenhafte Gegenstände herzustellen, die er mit Hammer und Zange formte, indem er jedes dieser Werkzeuge in einer Hand gefaßt hielt.

Weshalb wandte er alle diese Mühe an? Wir werden es erfahren.

Er mußte die Schneide seiner Axt und die Zähne seiner Säge mehrmals schärfen. Um die Letzteren spitzen zu können, hatte er sich eine dreieckige Feile verfertigt.

Bei irgend einer Gelegenheit bediente er sich des Gangspills der Durande. Der Kettenhaken zerbrach. Er schmiedete einen neuen daraus. Mit Hülfe seiner Zangen und seines Meißels, den er in der Weise eines Schraubenschlüssels anwandte, unternahm er es, die beiden Räder des Schiffes zu zerlegen. Es gelang ihm. Man wird nicht vergessen haben, daß dies keine Unmöglichkeit war. Die Räder hatten eine eigenthümliche Construction. Die Treträder, welche sie umgaben, schützten sie. Aus den Brettern der Letzteren zimmerte Gilliatt zwei Kisten, in denen er alle Theile der beiden Laufräder, sorgfältig numerirt, aufbewahrte.

Sein Stück Kreide leistete ihm hierbei kostbare Dienste. Die beiden Kisten stellte er auf den sichersten Platz des Schiffsverdecks.

Nach Beendigung dieser Vorarbeiten stand Gilliatt der Hauptschwierigkeit seines Unternehmens gegenüber.

Es war ein Leichtes gewesen, die Räder zu zerlegen; schwer hielt es aber, dasselbe mit der Maschine zu thun.

Ueberdies hatte Gilliatt keine klare Anschauung von dem Bau des Getriebes.

Wenn er auf’s Gerathewohl zu Werke ging, konnte er der Maschine unverbesserlichen Schaden zufügen, und selbst, wenn er die Unklugheit eines Versuchs hätte begehen wollen, mußte er andere Werkzeuge haben als solche, wie man sie in einer Höhle statt der Schmiede, mit Hülfe eines Zugwindes statt des Blasebalges und auf einem als Amboß dienenden Kiesel anfertigen kann. Das Streben, die Maschine auseinanderzulegen, war von der Gefahr, dieselbe zu zerstören, begleitet.

Man glaubte einer unausführbaren Sache in’s Auge zu sehen.

Dem Anschein nach stand Gilliatt vor einer Schranke, die Unmöglichkeit heißt.

Was war zu beginnen?

Er hatte seine Idee.

Nicht wissen, was thun, treibt zum Versuchen. Die Unentschlossenheit ist eine Träumerei und wird durch ihre Neugierde zur Kraft. Wissen bringe manchmal aus der Fassung giebt oft schlechten Rath. Hätte Gama Kenntnisse gehabt, so wäre er vor dem Vorgebirge der Stürme zurückgewichen, und Columbus würde Amerika nicht entdeckt haben, wenn er ein guter Kosmograph gewesen wäre.

Der zweite Besteiger des Montblanc war ein Gelehrter, Saussure; der erste ein Schäfer, Balmat.

Diese Fälle bilden gleichwohl, wie wir im Vorbeigehen bemerken wollen, die Ausnahme und verringern den Werth der eigentlichen Wissenschaft nicht im Geringsten. Der Unwissende kann finden, der Gelehrte allein kann erfinden.

Die Barke lag immer noch in der Bucht des »Mannes«, wo ihr das Meer nichts anhaben konnte, vor Anker und Gilliatt hatte, wie man sich erinnern wird, Alles so hergerichtet, daß sie ihm völlig bequem zur Hand war. Er ging hin und maß sorgsam die Größe ihres Querbalkens an mehreren Stellen, namentlich die Hauptkoppel, dann kehrte er zur Durande zurück und maß den großen Durchmesser des Maschinenbodens, welchen er, ohne die Räder, um zwei Fuß schmäler als den größten Querbalken der Barke fand, so daß die Maschine in dieser Platz hatte.

Wie konnte man sie aber hineinschaffen?

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Zweites Capitel. Gilliatt’s Meisterstück kommt dem des Lethierry zu Hülfe.

Kurze Zeit darauf hätte ein Fischer, welcher toll genug gewesen wäre, sich zu solcher Jahreszeit in dieser Gegend aufzuhalten, seine Kühnheit durch den Anblick einer ganz eigentümlichen Geschichte zwischen den Douvres-Felsen belohnt gefunden.

Er hätte nämlich Folgendes wahrgenommen: Vier starke Balken gingen in gleichen Zwischenräumen von der einen Klippe zur andern und waren auf die haltbarste Art, durch Einzwängen in die Felsen, befestigt. An dem kleinen Douvre ruhten und endigten ihre äußersten Spitzen gegen Vorsprünge des Felsens; an dem großen Douvre waren ihre andern Enden von einem kräftigen Arbeiter, der auf dem einzurammenden Balken selbst stehen mußte, mit starken Hammerschlägen in die steilen Böschungen getrieben worden.

Diese Balken waren etwas länger, als der Zwischenraum breit war, so daß sie äußerst fest hielten und etwas schräg lagen. Ihr spitzer Winkel war dem großen und ihr stumpfer dem kleinen Douvre zugekehrt. Sie schossen schwach und ungleichmäßig ab, was ein Fehler war. Davon abgesehen, hätte man glauben können, sie seien zur Aufnahme eines Docks angelegt worden. An diesen vier Balken waren vier Krahnen angebracht, alle mit Tauen und Hemmungen; gewagt und sonderbar schien dabei nur das zu sein, daß sich der Flaschenzug mit den beiden Rollen an dem einen und der einfache Kloben am entgegengesetzten Ende des Balkens befand. Dieses Abweichen von der Regel war zu groß, um nicht gefährlich werden zu können, wahrscheinlich aber für das Unternehmen, welches hier ausgeführt werden sollte, zweckdienlich. Die Flaschenzüge waren stark und die Kloben fest.

An diesen Krahnen befanden sich Kabel, welche von Weitem wie Fäden aussahen, und unter diesem luftigen Apparate von Flaschenzügen und Gerüsten glaubte man an jenen Fäden den gestrandeten Rumpf der Durande hangen zu sehen.

Aber so weit war es noch nicht. Senkrecht unter den Balken waren acht Oeffnungen in dem Deck angebracht, vier Backbord und vier Tribord von der Maschine, und acht andere gerade unter diesen im Kiele. Die Taue, welche senkrecht von den Flaschenzügen herabliefen, wurden durch die Tribordöffnungen in den Schiffsraum eingeführt, gingen dann unter dem Kiele und der Maschine fort, gelangten wieder durch die Oeffnungen am Backbord in das Schiff, stiegen von Neuem durch das Deck in die Höhe und waren schließlich um die vier Kloben an den Balken geschlungen; hier faßte sie eine Art Hißtau und vereinigte sie zu einem einzigen Kabel, welches ein einziger Arm lenken konnte. Ein Haken und eine durchbohrte Rolle, durch deren Loch dies Kabel lief und sich abhaspelte, vollendeten den Apparat und hemmten ihn nötigenfalls.

Durch dieses Zusammenlaufen der Taue mußten die vier Krahnen zu gleicher Zeit arbeiten und so die Arbeit gleichmäßig vertheilt werden. Es gehörte die richtige Zügelung der vorhandenen Kräfte, ein starkes Steuerruder in der Hand eines gewandten Piloten dazu, dies Unternehmen auszuführen. Die sehr geniale Befestigung des Hißtaues hatte einiges von den vereinfachenden Eigenschaften der heutigen Weston-Winden und des alten, von Vitruve erfundenen Polyspaston. Gilliatt war darauf gekommen, ohne Vitruve, der nicht mehr, und ohne Weston, der noch nicht lebte, zu kennen. Die Länge der Kabel wechselte mit der ungleichen Abschüssigkeit der Balken und hob diesen Fehler zum Theil wieder auf. Taue waren gefährlich, die weißen Stricke konnten reißen; Ketten wären besser gewesen, aber sie hätten sich schlecht von den Winden abgehaspelt.

Dies Alles war zwar voller Fehler, aber als die That eines einzigen Menschen staunenerregend.

Uebrigens wollen wir die Beschreibung jetzt abbrechen.

Man wird es begreiflich finden, daß wir viele Einzelheiten, welche die Sache zwar für Fachgenossen deutlicher, für Andere aber unverständlicher macht, mit Schweigen übergehen.

Die Spitze des Maschinenrauchfangs ging zwischen den beiden Mittelbalken hindurch.

Gilliatt hatte, ohne es zu ahnen, und unbewußt Unbekanntes nachahmend, nach drei Jahrhunderten den Mechanismus des Zimmermans von Salbris wiederhergestellt, jenen rohen und fehlerhaften Mechanismus, gefährlich für den, welcher wagen sollte, mit ihm zu arbeiten.

Aber selbst die gröbsten Fehler verhindern eine Maschine nicht, so gut als möglich zu arbeiten; sie hinkt, aber es geht doch. Der Obelisk auf dem Sanct-Peter-Platze zu Rom ist gegen alle Regeln der Statik aufgestellt worden. Czaar Peter’s Wagen war so gebaut, daß er bei jedem Schritt umzufallen schien, und doch rollte er vorwärts. Wie viele Ungehörigkeiten an der Maschine zu Marly! Alles an ihr war falsch und doch gab sie Ludwig XIV. zu trinken.

Wie dem auch sei, Gilliatt hatte Vertrauen und war sogar von dem Erfolge so fest überzeugt, daß er am Tage seiner Abreise in den beiden Bordseiten der Barke zwei Paar eiserner Ringe einließ, welche eben so weit von einander abstanden, als die vier Ringe auf der Durande, welche die vier Ketten des Rauchfangs festhielten.

Gilliatt hatte seinen Plan jedenfalls schon fix und fertig; denn da alle Aussichten gegen ihn waren, so wollte er wenigstens alle Vorsicht auf seiner Seite haben.

Er that Dinge, welche unnütz schienen; ein Beweis aufmerksamen Vorbedachtes!

Seine Art, vorwärts zu gehen, hätte, wie wir schon bemerkt haben, einen einfachen Beobachter, ja sogar einen Sachverständigen, außer Fassung gebracht.

Ein Zeuge seiner Arbeiten, der zum Beispiel gesehen hätte, wie er mit unerhörter Anstrengung und mit Lebensgefahr acht bis zehn große Nägel, welche er selbst geschmiedet hatte, in den Fuß der beiden Douvres beim Anfange der Durchfahrt einschlug, hätte schwerlich verstanden, wozu sie dienen sollten, und sich wahrscheinlich gefragt, was diese ganze Arbeit bezwecke.

Hätte er dann gesehen, wie Gilliatt das Stück des Vordertheils, welches, wie man sich erinnert, am Strande festhaftete, maß, hieraus ein sehr festes Greling an seinem obern Rande befestigte, mit Axtschlägen die ausgefugten Balken, welche es festhielten, lostrennte, es mit Hülfe der abnehmenden Fluth, welche es von unten vorwärts stieß, während er nach oben zog, aus der Straße schleppte und schließlich mit großer Mühe dieses schwere Planken- und Balkengerüst, welches breiter, als die Einfahrt in die Meerenge selbst war, mittelst des Greling an den Nägeln, welche er in dem Grund des kleinen Douvre eingetrieben hatte, befestigte; dies Alles würde ein Beobachter vielleicht noch weniger verstanden und sich gesagt haben, daß, wenn Gilliatt, um sich seine Arbeit zu erleichtern, die Straße zwischen den Douvres durch diese Barrikade isoliren wollte, er nur nöthig gehabt hätte, sie während der Fluth fallen zu lassen, die sie dann stromabwärts geführt hätte.

Gilliatt hatte aber wahrscheinlich seine Gründe für seine Arbeit.

Um die Nägel in den Grund des Douvre einzutreiben, benutzte er alle Spalten in dem Granit, vergrößerte sie nach Bedürfniß und trieb zuerst Holzkeile und dann in diese die eisernen Nägel hinein.

Dasselbe machte er an den beiden andern Felsen, welche sich östlich, auf dem andern Ende der Klippenreihe befanden; er schlug in alle Sprünge Holzstückchen ein, als wenn er auch diese Risse für eine etwaige Aufnahme von Krampen vorbereiten wollte; dies schien aber nur eine einfache Voraussetzung zu sein; denn er befestigte keine Nägel in ihnen. Selbstverständlich konnte er kluger Weise in seiner schlimmen Lage seine Materialien nur im Augenblick der höchsten Noth und je nach Maß und Bedürfniß verwenden. Noch eine neue Schwierigkeit zu allen schon vorhandenen.

Nach Vollendung der ersten Arbeit begann eine zweite. Gilliatt ging unverzüglich von der einen an die andere und unternahm entschlossen dieses Riesenwerk. –

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Drittes Capitel. Sub re.

Der Mensch, welcher sich all diesen Arbeiten unterzog, hatte ein schreckliches Aussehen bekommen.

Gilliatt rieb bei diesen vielfachen Anstrengungen seine ganzen Kräfte auf einmal auf und konnte sie nur schwer wiederersetzen.

Einerseits hatten ihn Entbehrungen, anderseits Erschöpfung abgemagert. Sein Kopf- und Barthaar war lang geworden. Er besaß nur noch ein ganzes Hemde. Seine Füße waren bloß; denn den einen Schuh hatte ihm der Wind und den andern das Meer entführt. Splitterchen sprangen während der Arbeit von dem rohen und sehr gefährlichen Ambosse, dessen er sich bediente, los und brachten ihm an Händen und Armen kleine Wunden bei, welche eigentlich mehr Schrammen, als Wunden waren, aber in Folge der scharfen Luft und des Seewassers sehr schmerzten.

Er war hungrig, durstig und es fror ihn.

Sein Behälter mit süßem Wasser war leer, sein Roggenmehl aufgebraucht, er besaß nur noch etwas Biskuit, das er mit den Zähnen zerbrechen mußte, da es ihm an Wasser, um es aufzuweichen, fehlte.

Allmälig, Tag für Tag nahmen seine Kräfte ab und entzog ihm der fürchterliche Felsen die Lebenskraft.

Trinken, Essen, Schlafen, nichts war für ihn nothwendiger geworden.

Er aß, wenn es ihm gelang, eine Seemuschel oder Krabbe zu fangen, und trank, wenn er sah, daß sich ein Seevogel auf einer Felsenspitze niederließ. Er kletterte dann dort hin und fand daselbst eine Lache mit etwas süßem Wasser. Er trank nach dem Vogel, bisweilen auch mit ihm zusammen, denn die Möven und Schwalben hatten sich an ihn gewöhnt und flogen nicht fort, wenn er sich näherte. Gilliatt fügte ihnen, selbst wenn er ganz ausgehungert war, nichts Böses zu. Wie man sich erinnern wird, war er in Bezug auf Vögel abergläubisch, während sich diese ihrerseits vor seinen verwirrten und zerzausten Haaren und seinem langen Barte nicht mehr fürchteten, denn diese Umwandlung in seinem Aussehen beruhigte sie; sie fanden in ihm keinen Menschen mehr, sondern hielten ihn für ein wildes Thier.

Die Vögel und Gilliatt waren jetzt gute Freunde. Diese Armen halfen sich gegenseitig. So lange Gilliatt Gerste gehabt, hatte er ihnen kleine Brocken von den Kuchen, die er sich machte, hingeworfen; dafür zeigten sie ihm jetzt die Stellen, an denen sich Wasser fand.

Er aß die Muscheln, welche in gewisser Beziehung den Durst löschten, roh; die Krabben kochte und röstete er zwischen zwei glühend gemachten Steinen, da er keinen Topf hatte, wie die Wilden auf der Insel Feroë.

Unterdessen näherten sich einige Vorboten des Aequinoctiums. Es war Regen eingetreten, aber ein feindlicher. Kein Guß- und Platzregen, sondern lange, feine, gefrorne, durchdringende, scharfe Spitzen, welche Gilliatts Kleider bis auf die Haut und seine Haut bis auf die Knochen durchbohrten. Dieser Regen gab ihm wenig zu trinken und durchnäßte ihn sehr.

Hülfe ließ dieser des Himmels unwürdige Regen ihm nicht zu Theil werden; dagegen barg er viel Elend für Gilliatt und verfolgte ihn länger, als eine Woche hindurch, bei Tage und bei Nacht. Dieser Regen war eine schlechte That von oben.

Nachts schlief er in seinem Felsloche nur, wenn er sich bei der Arbeit zu sehr angestrengt hatte. Die großen Seemücken stachen ihn und er erwachte mit Pusteln bedeckt.

Er hatte das Fieber, es hielt ihn aufrecht; denn das Fieber regt auf und doch tödtet es. Instinktmäßig kaute er Flechten oder sog an den Blättern der wilden Cochlearia, den magern Schößlingen der trockenen Spalten auf den Klippen. Im Uebrigen beschäftigte er sich wenig mit seinen Leiden, denn er hatte keine Zeit, sich ihretwegen von seiner Beschäftigung abzuhalten. Die Maschine der Durande befand sich in gutem Zustande. Das genügte ihm.

In jedem Augenblicke zwang ihn seine Arbeit, sich bald im Nassen, bald im Trocknen aufzuhalten. Er ging in das Wasser und wieder aus ihm, wie man aus einem Zimmer seiner Wohnung in ein anderes geht.

Seine Kleider trockneten aber nicht mehr. Sie waren von dem Regenwasser, welches nie versiegte, und von dem Seewasser, welches nie trocknet, durchdrungen, so daß Gilliatt völlig im Nassen lebte.

Man gewöhnt sich daran, im Nassen zu leben. Die armen Irländer: fast nackte Greise, Mütter, junge Mädchen, Kinder, welche den Winter in freier Lust unter Platzregen und Schnee, in den Häuserwinkeln der Straßen London’s eng zusammengekauert zubringen, sind stets durchnäßt und leben und sterben so.

Naß sein und Durst haben. Gilliatt ertrug diese sonderbare Qual. Er biß manchmal in den Aermel seiner Theerjacke.

Das Feuer, welches er anmachte, erwärmte ihn kaum; denn in freier Luft ist es nur eine halbe Hülfe; man verbrennt auf der einen Seite und erfriert auf der andern.

Gilliatt, schweißtriefend, zitterte vor Kälte.

Alles ringsum widerstand ihm in einer Art furchtbaren Schweigens. Er fühlte sich überall angefeindet.

Die Dinge haben ein finsteres Non possumus und ihre Trägheit ist eine dunkle Warnung.

Ein unendlicher schlechter Willen umgab Gilliatt. Er hatte Hitze und Frost. Das Feuer verzehrte ihn, das Wasser machte ihn erstarren, der Durst brachte ihm Fieber, der Wind zerriß seine Kleider und der Hunger durchwühlte seinen Magen. Er hielt den Druck einer erschöpfenden Gesammtheit aus. Ein ruhiger und großartiger Widerstand, der augenscheinlich die Unverantwortlichkeit des Unglücks besaß, aber voll einer gewissen wilden Einmüthigkeit war, drängte von allen Seiten auf Gilliatt ein, der es fühlte, wie er sich unerbittlich auf ihn stützte. Kein Mittel, um sich ihm zu entziehen. Er war fast wie eine Person. Gilliatt hatte die Empfindung, als ob ein dunkler Haß und Widerwillen danach strebe, ihn zu verkleinern und der ihn nur zur Flucht treiben wollte; aber, da er blieb, seine unbesiegbaren Feindseligkeiten auf ihn ausschüttete. Da man ihn nicht hinauswerfen konnte, so warf man ihn zu Boden. Welches »Man?« Das Unbekannte. Das würgte und drückte ihn zusammen und nahm ihm Platz und Athem. Er wurde von der Unsichtbarkeit gefoltert. Jeden Tag drückte sich diese geheimnißvolle Schraube um eine Umdrehung tiefer.

Gilliatt’s Lage mitten unter solchen beunruhigenden Ereignissen glich einem unehrlichen Zweikampfe, in welchem ein Verräther hilft.

Das Bündniß der finstern Mächte hatte ihn umschlossen. Er faßte den Plan, sich ihrer zu entledigen. So jagt der Gletscher die erratischen Blöcke fort.

Scheinbar, fast ohne damit in Berührung zu kommen, zerfetzte und zerriß ihn dies geheime Bündniß, es brachte ihn zum Aeußersten und machte ihn, so zu sagen, vor dem Kampfe kampfunfähig. Deshalb arbeitete er doch mit weniger Unterbrechungen, als früher; aber je mehr das Werk vorrückte, desto mehr ging es mit dem Arbeiter zurück.

Der doppelte Douvre, dieser Drachen aus Granit mitten auf offener See, hatte Gilliatt aufgenommen, erhalten, eintreten und ihn arbeiten lassen. Dieser Empfang glich der Gastfreundschaft eines offenen Rachens.

Die Wüste, das weite Meer, der Raum, wo es für den Menschen Gefahren giebt, die stille Unfreundlichkeit der Erscheinungen, welche ihrem Laufe folgen, das große allgemeine Gesetz der Unversöhnlichkeit und des Widerstandes, die Ebbe und Fluth, die Klippe, jene schwarze Plejade, von der jede Spitze einen Drehstern, den Mittelpunkt unzähliger, allen Richtungen zueilender Sterne bildet, ein unverständliches Bündniß der Gleichgültigkeit der Dinge gegen die Verwegenheit eines Wesens, der Winter, das Unwetter und die ringsum wogende See hüllten Gilliatt ein, umzogen ihn immer dichter, schlossen sich gewissermaßen über ihm und schlossen ihn von den Lebenden ab, wie eine Zelle, welche um einen Menschen in die Höhe steigt. Alles gegen, nichts für ihn; er war allein, verlassen, schwach, zerschlagen, vergessen; seine Proviantkammer leer, sein Handwerkszeug zerbrochen oder unbrauchbar; Hunger und Durst quälten ihn am Tage, und die Kälte in der Nacht; er hatte Wunden und Risse, Lumpen auf seinen Geschwüren, Löcher in den Kleidern und Wunden im Fleische, zerrissene Hände, blutende Füße, abgemagerte Glieder, bleiche Gesichtsfarbe und Feuer in den Augen.

Ein herrliches Feuer: den sichtbaren Willen. Das Auge des Menschen ist so beschaffen, daß sich in ihm die Tugend des Menschen wiederspiegelt; es sagt uns, was für ein Mensch in uns lebt. Wir versichern uns durch das Licht, welches unter unsern Lidern ruht. Kleine Geister blinzeln mit den Augen, große schleudern Blitze. Glänzt nichts hinter der Pupille, so denkt auch nichts im Gehirne und es liebt nichts im Herzen. Wer liebt, will; und wer will, blitzt und leuchtet. Der Entschluß bringt dem Blicke jenes wunderbare Feuer, welches aus dem Verbrennen der furchtsamen Gedanken entsteht.

Die Beharrlichen sind die Erhabensten. Wer tapfer ist, hat nur einen Antrieb; der Wachsame nur ein Mittel, der Muthige nur eine Tugend; der in Wahrheit Beharrliche ist hingegen wirklich groß. Fast das ganze Geheimniß großer Herzen liegt in dem einen Worte: Perseverando. Die Beständigkeit ist für den Muth, was die Rolle für den Hebel: die beständige Erneuerung des Stützpunktes. Möge das Ziel auf der Erde oder im Himmel sein; ihm entgegenstreben, darin beruht Alles; im ersten Falle ist es ein Columbus, im zweiten ein Jesus. Das Kreuz ist so einfach, daher sein Ruhm. Sein Gewissen nicht überlegen und seinen Willen nicht entwaffnen lassen, dadurch leidet und siegt man. In moralischen Dingen schließt Fallen ein Steigen nicht aus. Aus dem Falle entspringt die Auferstehung. Die Mittelmäßigen lassen sich durch ein scheinbares Hinderniß zurückschrecken; die Starken nicht. Untergang ist ihnen nur Möglichkeit, Sieg Gewißheit. Man konnte Stephan alle möglichen guten Gründe anführen, damit er sich nicht steinigen lasse. Die Verachtung vernünftiger Gegengründe schafft jenen erhabenen besiegten Sieg, welcher Märtyrerthum heißt.

Alle Anstrengungen Gilliatt’s schienen sich an das Unmögliche anzuklammern, der Erfolg war gering oder langsam und er mußte viel ausgeben, um wenig zu erhalten; aber eben das läßt ihn als großartig und leidenschaftlich erscheinen.

Um vier Balken über einem Wracke aufzurichten, und in diesem den rettbaren Theil loszulösen und für sich allein herzustellen, um an diesem Strande wieder Krahnen mit ihren Tauen anzubringen, dazu hätte es so vieler Vorbereitungen, Arbeiten und Anstrengungen, so vieler Nächte auf hartem Lager und so vieler Tage voller Qual bedurft, daß darin das Elend der einsamen Arbeit bestand. Unheil in der Ursache, Noth in der Folge. Gilliatt hatte mehr gethan als das Elend angenommen, er hatte es gewollt. Aus Furcht vor einem Mitarbeiter, denn ein Mitarbeiter hätte zum Nebenbuhler werden können, suchte er keinen Genossen. Das vernichtende Unternehmen, die Gefahr, den Zweifel, die sich selbst vervielfältigende Arbeit, den möglichen Untergang des Retters bei der Rettung, den Hunger, das Fieber, die Entbehrungen, den Widerstand, alles das auf sich allein zu nehmen, hatte er die Selbstsucht gehabt.

Er befand sich unter einer Art von furchtbarer Luftpumpe. Die Lebenskraft zog sich allmälig von ihm zurück, aber er bemerkte es kaum.

Die Erschöpfung der Kräfte erschöpft nicht den Willen. Glauben ist erst die zweite Macht; Wollen die erste. Die Berge, welche nach dem Sprüchworte der Glauben versetzt, sind nichts gegen das, was der Willen thut. Alles was Gilliatt an Kraft verlor, gewann er an zäher Ausdauer wieder. Das Zusammenschrumpfen des physischen Menschen unter der zurückschreckenden Wirkung dieser wilden Natur diente nur zur Vergrößerung des moralischen Menschen.

Gilliatt fühlte keine Müdigkeit oder, um besser zu sagen, er erkannte sie nicht an. Die Weigerung der Seele, den abnehmenden Kräften des Körpers zuzustimmen, ist eine unendliche Kraft.

Gilliatt sah die Fortschritte, welche seine Arbeit machte, aber nur diese. Er war elend, ohne es zu wissen. Sein Ziel, welches er beinahe erreicht hatte, wich ihm nicht aus den Augen. Er litt all jenes Leiden, ohne daß ihm ein anderer Gedanke als der »Vorwärts« kam. Sein Werk stieg ihm zu Kopfe. Der Willen wurde trunken. Man kann sich auch geistig berauschen und ein solcher Rausch heißt Heldenmuth.

Gilliatt war gewissermaßen ein Hiob des Oceans; aber ein Hiob, welcher stritt, kämpfte, den Widerwärtigkeiten Trotz bot, siegte und wenn das Wort für einen armen Matrosen, welcher Krabben und Muscheln fischte, nicht zu groß ist – ein Hiob Prometheus.

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Viertes Capitel. Sub umbra.

Nachts öffnete Gilliatt manchmal seine Augen, betrachtete den Schatten und fühlte sich fremdartig bewegt.

Es bemächtigte sich seiner die Angst.

Der Schatten übt einen gewissen Druck aus.

Das tiefe Dunkel, das zu durchdringen unmöglich ist, eine Mischung von Licht mit diesem Dunkel; man weiß nicht, welchem besiegten und düstern Licht; aufgelöste Helle, bei der es undeutlich ist, ob sie Sonne oder Asche; Millionen von Lichtern und doch kein Licht; ein weiter Brand, welcher sein Geheimniß nicht sagt: ein Zerstieben des Feuers in Staub, der einem stillstehenden Fluge von Funken gleicht, die Unordnung des Strudels und die Unbeweglichkeit des Grabes, die Aufgabe, welche eine Oeffnung im Abgrunde bietet, ein Räthsel, welches sein Gesicht zeigt und verbirgt, die verschleierte Unendlichkeit der Finsterniß: das ist die Nacht. Dieses Bündniß drückt auf den Menschen.

Diese Bereinigung aller Geheimnisse auf ein Mal, der Geheimnisse der Welt und des Unheils häuft sich über dem Menschen zusammen.

Der Druck des Schattens wirkt umgekehrt auf die verschiedenen Gattungen der Seele. Der Mensch erkennt sich unvollkommen vor der Nacht. Er sieht das Dunkel und fühlt die Schwäche. Der schwarze Himmel ist der blinde Mensch, der Mensch, welcher der Nacht in’s Angesicht blickt, stürzt hin, kniet nieder, wirft sich zu Boden, legt sich flach auf die Erde, verkriecht sich in ein Loch oder sucht Flügel. Fast immer will er dieser ungestalteten Gegenwart des Unbekannten entfliehen; frägt sich, was es ist, zittert, beugt sich, ist unwissend; bisweilen will er auch fortgehen.

Wohin gehen?

Dorthin.

Dorthin? Was ist das und was giebt es dort?

Diese Neugierde sucht augenscheinlich verbotene Dinge, denn auf dieser Seite sind alle Brücken rings um den Menschen abgebrochen. Die Arche der Unendlichkeit fehlt; aber das Verbotene zieht an, denn es ist ein Strudel. Wohin der Fuß nicht geht, kann der Blick dringen; wo der Blick still steht, kann der Geist noch weiter. Es giebt keinen Menschen, der nicht wagt, so schwach und gebrechlich er auch immer sein mag; seiner Natur nach, spürt und sucht der Mensch vor der Nacht. Für die Einen ist sie ein Fallen, für die Andern ein Steigen. Das Schauspiel ist düster. Das Unbestimmbare mischt sich hinein.

Ist die Nacht heiter, ist sie ein Schattengrund. Ist sie stürmisch, ist sie ein Nebelgrund. Die Unbegrenztheit entzieht sich und bietet sich zu gleicher Zeit an, verschlossen für die Versuche und geöffnet für die Vermuthungen. Unzählige Lichtstreifen machen die bodenlose Dunkelheit noch schwärzer. Blitzende und funkelnde Gestirne. Dinge, welche erwiesenermaßen in dem Unbekannten existiren; schreckliche Herausforderung, eine Berührung dieser Helle zu versuchen. Es sind die Maßstäbe der Schöpfung in dem Absoluten, die Marken der Entfernung, dort wo es keine Entfernungen mehr giebt; ein scheinbar unmögliches und doch wirkliches Aufzählen der Ebbe der Tiefen. Ein mikroskopischer Punkt, welcher glänzt, dann ein andrer, noch ein andrer und wiederum ein andrer, es ist die Undurchdringlichkeit, die Endlosigkeit. Dieses Licht ist ein Heerd, dieser Heerd ein Stern, dieser Stern eine Sonne, diese Sonne ein All, dieses All ein Nichts. Jede Zahl ist in der Unendlichkeit Null.

Dieser Welten, welche nichts sind, giebt es wirklich. Indem man sie anerkennt, fühlt man den Unterschied, welcher das Nichtssein von dem Nichtsein trennt.

Das Unerreichbare mit dem Unerklärbaren bildet den Himmel.

Aus dieser Betrachtung löst sich eine erhabene Erscheinung los: Das Großwerden der Seele durch das Staunen.

Die Scheu vor dem Heiligen ist dem Menschen eigentümlich; das Thier kennt sie nicht. Die Vernunft findet in diesem erhabenen Schrecken ihren Untergang und ihren Prüfstein.

Der Schatten ist einfach, daher der Schreck; zu gleicher Zeit ist er auch zusammengesetzt, daher die Ohnmacht. Seine Einheit drückt auf unsern Geist und raubt ihm die Lust, Widerstand zu leisten. Durch seine Vielfältigkeit bewirkt er, daß man ihn rings um sich, auf allen Seiten, erblickt; man scheint seine plötzliche Ankunft fürchten zu müssen. Man giebt sich so zu sagen hin und hütet sich. Man ist in der Gegenwart des Alls, daher die Unterwerfung, und in der Wahrheit, daher das Mißtrauen. Die Einheit des Schattens enthält ein Vielfaches. Geheimnißvolles Vielfaches, sichtbar in der Materie, fühlbar im Geiste. Das bewirkt Schweigen; ein Grund, noch wachsamer zu sein.

Die Nacht – der Verfasser hat es schon an andern Stellen gesagt – ist der eigentliche und normale Zustand der abgesonderten Schöpfung, von welcher wir einen Theil ausmachen. Der Tag, kurz in der Dauer, wie im Raume, ist nur eine Sternennähe.

Das nächtliche Wunder des Alls vollführt sich nicht ohne Reibung und jede Reibung einer solchen Maschine ist eine Verletzung des Lebens. Diese Reibungen der Maschine nennen wir das Böse. Wir fühlen in dieser Dunkelheit das Uebel, das geheime Leugnen der Gottheit, die verhüllte Schmähung der Thatsachen lehnt sich gegen das Ideale auf. Das Uebel macht durch eine unbestimmbare, tausendköpfige Teratologie die weite Gesammtheit des Alls, verwickelt sich und findet sich überall ein, um Widerstand zu leisten. Es ist der Sturm und verzögert den Gang des Schiffes, es ist das Chaos und fesselt das Entstehen einer Welt. Das Gute hat die Einheit, das Böse die Allgegenwart. Das Böse zerstört das Leben, was ganz logisch ist; es bewirkt, daß die Fliege von dem Vogel und der Planet vom Komet verschlungen wird. Das Uebel ist ein Strich durch die Schöpfung.

Die nächtliche Dunkelheit macht vollkommen schwindlig. Wer in sie eindringt, sinkt in ihr unter und geht in ihr zu Grunde. Keine Anstrengung hält einen Vergleich mit dieser Prüfung der Dunkelheit aus. Es ist das Studium eines Nichts.

Kein bestimmter Ort, wo der Geist ruhen könnte; Ausgangspunkte ohne Endpunkt; ein Gewirr sich widersprechender Lösungen; alle Verzweigungen des Zweifels, sich zu derselben Zeit einstellend, die Verästelung der Erscheinungen, welche sich ohne aufzuhören unter einem unbestimmten Drucke entblättern, alle Gesetze, sich gegenseitig ineinander stürzend, ein unergründliches Durcheinander, welches ein Vegetiren der Mineralien und Lebendigwerden der Vegetation bewirkt, den Gedanken wägt, die Liebe strahlen läßt und die Anziehung liebt; die ungeheure Reihe von Angriffen aller Fragen, welche sich in der endlosen Dunkelheit entwickeln. Das Ungewisse, welches das Unbekannte zur Welt bringt; die kosmische Gleichzeitigkeit in voller Erscheinung, nicht für den Blick, sondern für die Vernunft, in dem großen unendlichen Raum und das sichtbar geordnete Unsichtbare, das ist die Finsterniß. Der Mensch steht unter ihr.

Er kennt nicht die Einzelheiten, trägt aber, im Verhältnis zu seinem Geiste, das furchtbare Gewicht der Gesammtheit. Dieser Druck trieb die chaldäischen Schäfer zur Sternkunde. Unfreiwillige Enthüllungen dringen aus den Poren der Schöpfung; ein Austritt der Wissenschaft findet gewissermaßen von selbst statt und gewinnt den Unwissenden. Jeder Einsiedler wird unter diesen geheimnißvollen Eindrücken, oft ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, ein Naturphilosoph.

Die Dunkelheit ist untheilbar; bewohnt, ohne Ortswechsel von dem Absoluten, und auch mit Ortswechsel. Man bewegt sich in ihr, das beunruhigt. Eine heilige Bildung durchläuft ihre Entwicklungsstufen daselbst. Vorbedachtsamkeiten, Mächte und gewollte Bestimmungen arbeiten dort gemeinsam ein unermeßliches Werk aus. Ein fürchterliches und schreckliches Leben ist darin. Es giebt dort große Zusammenhäufungen unter den Gestirnen, die Sternen-, die Planetenfamilie, die Milchstraße, das Quid divinum der Strömungen, der Ausflüsse der Polarisationen und der Anziehungen; die Umarmung und die Abstoßung, eine prächtige Ebbe und Fluth allgemeinen Gegensatzes, die Unwägbarkeit frei mitten unter Brennpunkten; die Lebenskraft in den Kugeln, das Licht außerhalb der Kugeln, das umherirrende Atom, das zerstreute Samenkorn, befruchtende Curven, Begegnungen des Zusammendringens und des Kampfes, unerhörte Vorbereitungen, Entfernungen, welche Träumen gleichen, schwindelnde Umkreisungen, Versinken ganzer Welten in das Unberechenbare, Wunder, welche sich gegenseitig in der Dunkelheit verfolgen, einen Mechanismus, stetes Sphärenrauschen auf der Flucht, Räder, deren Umdrehungen man fühlt; der Gelehrte behauptet, der Unwissende fühlt und zittert; es besteht und entfernt sich; es ist unerkämpfbar, unerreichbar, unnahbar. Man ist bis zur Niedergeschlagenheit überzeugt, fühlt eine unbestimmte, schwarze Erscheinung auf sich, kann nichts fassen und wird durch das Ungreifbare zerdrückt.

Ueberall das Unbegreifliche, nirgends das Unverständliche.

Und dazu tritt noch die furchtbare Frage: Ist dieses Innewohnen ein Wesen?

Man ist im Dunkel, man hört und sieht es.

Indessen geht und rollt die dunkle Erde weiter; die Blumen sind sich dieser riesenhaften Bewegung bewußt; das Leinkraut öffnet sich um elf Uhr Abends und die Meerlilie um fünf Uhr Morgens. Ueberwältigende Regelmäßigkeit.

In andern Tiefen schafft sich der Wassertropfen eine Welt, keimt das Aufgußthierchen, tritt die großartige Fruchtbarkeit aus dem Samenfaden, bereitet das Unergründbare seine Größe aus und offenbart sich die Umkehrung der Unendlichkeit; eine Diatrome erzeugt in einer Stunde dreizehnhundert Millionen neue.

Welche Zusammenstellung aller Räthsel auf ein Mal!

Das Unverkleinerliche zeigt sich.

Man wird zum Glauben gezwungen. Glauben aus Zwang, das ist der Erfolg. Aber glauben genügt nicht, um ruhig zu sein. Der Glauben hat eine unbeschreibbare und merkwürdige Sucht nach Formen. Daher die Religionen. Nichts ist so drückend, als ein Glauben ohne Umriß.

Was man auch immer denkt und will, welchen Widerstand man auch immer in sich fühlt; den Schatten anblicken, heißt nicht anblicken, sondern betrachten.

Was soll man aus diesen Erscheinungen machen! Wie sich unter ihrem Zusammentreffen bewegen! Dieses Räthsel zu lösen, ist unmöglich. Welche Träumerei allen diesen Endpunkten anpassen? Wie viele tief verborgne, gleichzeitige, stammelnde, sich durch ihre eigne Menge verdunkelnde Enthüllungen, scheinbares Lallen des Wortes! Der Schatten ist ein Schweigen, aber dieses Schweigen sagt Alles. Eine Mittelkraft löst sich davon majestätisch ab: Gott ist der unbegreifbare Begriff, der im Menschen lebt. Die Vernunftschlüsse, die Anklagen, die Verneinungen und die Religionen gehen darüber hinfort, ohne ihn zu verringern. Diesen Begriff bestätigt der Schatten in seiner Gesammtheit, aber Verwirrung liegt auf allem Uebrigen. Furchtbare Immanenz. Der unbeschreibbare Einklang der Kräfte offenbart sich durch das Bestehen des Gleichgewichts in dieser ganzen Dunkelheit. Das All schwebt; nichts fällt. Die unaufhörliche und unermeßbare Ortsveränderung geht ohne Unfall und Bruch vor sich. Der Mensch nimmt an dieser Bewegung des Vorrückens Theil und die Menge der Schwankungen, welche er erfährt, nennt er das Geschick. Wo fängt das Geschick an? Wo hört die Natur auf? Welchen Unterschied giebt es zwischen einem Ereigniß und einer Zeit, zwischen einem Kummer und einem Regen, zwischen einer Tugend und einem Stern? Ist eine Stunde nicht eine Welle? Die sich bewegenden Räder greifen beständig ineinander ein und setzen, ohne dem Menschen zu antworten, ihre hartherzigen Umdrehungen fort. Der Sternenhimmel ist eine Erscheinung von Rädern, Balanciers und Gegengewichten; die höchste Betrachtung, verdoppelt durch das höchste Nachsinnen; die ganze Wirklichkeit; noch mehr: das ganze Insichversenken. Nichts geht darüber hinaus. Man fühlt sich ergriffen in der Gewalt dieses Schattens ohne die Möglichkeit eines Entweichens; sieht sich in den Zähnen dieses Rades, bildet einen wesentlichen Bestandteil eines unbeachteten Alls und fühlt das Unbekannte in sich mit einem Unbekannten außer sich geheimnißvoll Brüderschaft schließen. Das ist die höchste Verkündigung des Todes. Welche Qual und welches Entzücken zu gleicher Zeit! Dem Unendlichen anhängen und dadurch dazu geführt werden, sich selbst eine notwendige Unsterblichkeit, vielleicht eine mögliche Ewigkeit zuzuschreiben; in dem wunderbaren Wogen dieser Sündfluth des allgemeinen Lebens die unertränkbare Beharrlichkeit des Ich fühlen! Die Sterne betrachten und ausrufen: Ich bin eine Seele, wie Ihr! Die Finsterniß betrachten und ausrufen: Ich bin ein Abgrund, wie Du!

Dieses Riesenhafte ist die Nacht.

Das Alles, durch die Einsamkeit noch vergrößert, drückte auf Gilliatt.

Verstand er es? Nein.

Fühlte er es? Ja.

Gilliatt war ein großer, wirrer Geist und ein großes, wildes Herz.

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Fünftes Capitel. Gilliatt weis’t der Barke ihr Stellung an.

Die von Gilliatt ausgesonnene Rettung der Maschine war, wie wir schon sagten, ein ächtes Riesenunternehmen; und man kennt seine Geduld bei diesem Riesenunternehmen und ebenso seinen Fleiß. Der Fleiß geht bis in das Wunderbare, die Geduld bis in den Tod. So fand zum Beispiel ein Gefangener, Thomas, auf dem St. Michaelsberge Mittel, die Hälfte einer Mauer in einen Strohsack zu stecken. Zu Tulle schnitt im Jahre 1820 ein anderer Gefangener Blei auf der als Spazierplatz dienenden Plattform des Gefängnisses. Woher nahm er das Messer? Man kann es nicht ahnen. Er schmolz dieses Blei; aber mit welchem Feuer? Man weiß es nicht. Er goß dieses geschmolzene Blei, aber in was für eine Form? Man weiß es. In eine Form aus Brodkrume; und mit Hülfe dieses Bleies und dieser Form machte er einen Schlüssel und öffnete damit ein Schloß, von dem er nie etwas anders sah, als das Loch. Solch unerhörte Geschicklichkeit besaß auch Gilliatt. Er wäre die steile Böschung von Boisrosé hinauf- und wieder hinabgeklettert. Er war der Trenck einer Brandung und der Latude einer Maschine.

Das Meer, sein Gefangenwärter, überwachte ihn.

Uebrigens, wir müssen es gestehen, so undankbar und schlecht auch der Regen war, so zog Gilliatt doch Vortheil aus ihm. Er hatte seinen Vorrath von süßem Wasser einigermaßen wieder hergestellt; aber sein Durst war unlöschbar und er leerte seinen Wasserbehälter fast eben so schnell, als er ihn füllte.

Eines Tages, ich glaube, es war am letzten April oder ersten Mai, war Alles fertig.

Die Maschine war zwischen den acht Tauen der Krahnen auf jeder Seite zwischen vier gleichsam eingeschlossen. Die sechszehn Oeffnungen, durch welche diese Kabel liefen, waren auf der Brücke und unter dem Kiele durch Schnitte mit der Säge angebracht, die Dielen gleichfalls mit der Säge, das Gerüst mit der Axt, das Eisenwerk mit der Feile und die Fütterung mit zwei Meißeln bearbeitet worden. Der Theil des Kiels, über welchem sich die Maschine befand, war viereckig losgetrennt, so daß er mit der Maschine gehoben werden konnte und ihr als Stütze diente. Diese ganze furchtbare Last hielt nur an einer Kette, welche selbst nur noch mit einem Feilenstriche zusammenhing. Ist Alles so weit vorgeschritten und dem Ende so nahe, dann ist Eile Klugheit.

Das Meer stand niedrig, der Augenblick war günstig.

Es war Gilliatt gelungen, den Radbaum, dessen äußerste Enden hinderlich sein und das Aufwinden stören konnten, loszumachen und dieses schwere Stück senkrecht im Innern der Maschine selbst anzubringen.

Es war Zeit, zu Ende zu kommen. Zwar fühlte sich Gilliatt, wie wir schon gesagt haben, nicht matt, da er es nicht sein wollte, aber wie sah es mit seinem Handwerkszeug aus. Die Schmiede war allmälig unbrauchbar geworden, der Amboß gesprungen, der Blasebalg begann schlecht zu arbeiten und da der kleine Wasserfall Meerwasser enthielt, so hatte sich in den Gelenken des Apparats Salz niedergeschlagen und hinderte deren Spiel.

Gilliatt ging zum »Mann,« musterte die Barke, überzeugte sich, daß in ihr Alles in Ordnung war, besonders die vier Ringe am Tri- und Backbord, lichtete dann den Anker und kehrte rudernd mit ihr zu den beiden Douvres zurück, deren Zwischenraum sie durchließ, da das Wasser tief und die Oeffnung breit genug war. Gilliatt wußte bereits seit dem ersten Tage, daß man die Barke bis unter die Durande bringen konnte.

Dies Unternehmen war jedoch sehr schwer; es erforderte die Genauigkeit eines Juweliers; und das Einführen der Barke in die Klippe war um so mißlicher, als es für Gilliatts Zwecke mit dem Sterne, also mit dem Steuer zuerst geschehen mußte. Auch war es wichtig, daß ihr Mast und Takelwerk vor dem Wracke, auf der Seite des Schlupfhafens, blieben.

Diese vermehrten Schwierigkeiten machten das Unternehmen selbst für Gilliatt unbequem. Es handelte sich nicht mehr, wie bei der Klippe »der Mann,« um einen Barrenschlag, man mußte Alles zusammen thun: stoßen, ziehen, schleppen und sondiren. Gilliatt gebrauchte nicht weniger als eine Viertelstunde dazu, aber Alles lief gut ab.

In fünfzehn bis zwanzig Minuten war die Barke unter der Durande angebracht und von ihr beinahe festgeschlossen. Gilliatt gabelte sie mit ihren beiden Ankern so ein, daß der stärkste dem heftigsten Winde, welchen er zu fürchten hatte, dem West, entgegenarbeitete. Hierauf senkte er mit einem Hebel und der Winde die beiden Kisten in die Barke hinab, welche die abgenommenen Räder enthielten und deren Schlingen ganz fest waren. Diese beiden Kisten sollten als Ballast dienen.

Dann befestigte Gilliatt an dem Haken der Ketten der Winde die Schlingen des Balancirtaues, welches für die Krahne als Hemmung bestimmt war.

Für das, was Gilliatt vorhatte, waren die Fehler der Barke ebenso viele gute Eigenschaften; sie hatte kein Deck, die Belastung mußte auf den Kiel drücken und sie dadurch mehr Fahrwasser erhalten. Da sich ihr Mast vorn, vielleicht zu weit nach vorn, befand, so mußte die Belastung leichter von Statten gehen und da sich der Mast außerhalb des Wracks befand, so konnte nichts die Abfahrt hindern. Die Barke war wie ein Huf, auf dem Meere ist nichts so fest und beständig, als diese Hufform.

Plötzlich bemerkte Gilliatt, daß das Meer stieg. Er blickte sich um, woher der Wind komme.

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Sechstes Capitel. Plötzlich eine Gefahr.

Nur eine schwache Brise wehte, und zwar aus Westen; eine schlechte Gewohnheit, welche der Wind aber zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche liebt.

Die Fluth in der Douvre-Klippe verhält sich beim Steigen, je nach der Richtung des Windes, verschieden. Je nachdem sie die Brise treibt, dringt die See bald von Ost und bald von West in diese Meeresenge ein. Kommt sie von Ost, so ist sie gut und sanft; von West hingegen ungestüm. Das kommt daher, weil der Ost, welcher vom Lande herweht, wenig Kraft hat, der West aber, welcher über dem atlantischen Ocean streicht, das ganze Wehen der Unendlichkeit mit sich bringt. Selbst eine scheinbar ganz leichte Brise, welche aus Westen kommt, ist beunruhigend. Sie rollt die großen Wellen aus unbegrenzter Ferne herbei und treibt zu viel Wasser auf ein Mal in den engen Schlund.

Ein Wasser, welches sich in einem Abgrund verliert, ist immer furchtbar. Es ist mit dem Wasser, wie mit der Menge, welche auch flüssig ist. Das, was eindringen kann, ist geringer, als das, was eintreten will, daraus entsteht die Vernichtung für die Menge und das Zucken für das Wasser. So lange der West regiert und wäre es der schwächste Hauch, so haben die Douvres täglich zweimal diesen Angriff auszuhalten. Das Meer hebt sich, die Fluth steigt; der Felsen widersteht; der kleine Hafen öffnet sich nur spärlich, die mit Gewalt eingetriebene Woge springt und brüllt und die hohle See schlägt rasend die beiden innern Seiten der Straße. Bei dem geringsten Westwinde bieten die beiden Douvres folgendes eigenthümliche Schauspiel; draußen auf dem Meere die Ruhe; innen die Aufregung. Diese beschränkte und unbegrenzte Wuth hat nichts mit einem Sturm gemein; sie ist nur eine Rebellion der Wogen, aber schrecklich. Die Winde aus Nord und Süd fassen die Klippe von der Seite und regen die Wellen in der Straße nur wenig auf. Im Osten grenzt der Eingang, wie man sich erinnern wird, an den Felsen »der Mann;« die gefährliche Oeffnung des Westens befindet sich an dem entgegengesetzten Ende, genau zwischen den beiden Douvres.

An dieser Westöffnung befand sich Gilliatt mit der gescheiterten Durande und der festgeankerten Barke.

Ein Unglück schien unvermeidlich und drohte schon, denn es verfügte über eine zwar geringe, aber doch hinreichende Menge des ihm nothwendigen Windes.

Binnen wenig Stunden mußte das Anschwellen der wachsenden Fluth einen furchtbaren Kampf in der Douvres-Enge beginnen. Die ersten Wellen brandeten schon. Dieses Anschwellen, die Springfluth des ganzen atlantischen Oceans, hatte die Gesammtheit des Meeres hinter sich. Kein Windstoß, kein Zorn, sondern eine einfache Alles beherrschende Welle, mit einer Schnellkraft in sich, welche Amerika verläßt, um an Europa sich zu brechen und einen Schlag von zweitausend Meilen besitzt. Diese Welle, die Riesenbrandung des Oceans, mußte auf die Oeffnung in der Klippe stoßen, sich an den beiden Douvres, den Eingangsthürmen und Pfeilern der Straße, brechen, durch die Fluth und das Hinderniß anschwellen, von den Felsen zurückgeworfen und von dem Winde übertrieben der Klippe Gewalt anthun, mit dem ganzen Strudel des besiegten Widerstandes und der vollen Wuth der gefesselten Welle zwischen den beiden Mauern eindringen, dort die Durande und die Barke finden und beide zerbrechen.

Gegen diese Möglichkeit bedurfte es eines Schildes, den Gilliatt besaß.

Man mußte die Fluth daran verhindern, mit ihrer ganzen Gewalt einzudringen, ihr verbieten zu steigen, wodurch sie zerstören mußte, ihr den Durchgang verlegen, ohne ihr den Eintritt zu verweigern, ihr widerstehen und nachgeben, dem Drucke der Welle auf den Schlupfhafen, worin die ganze Gefahr bestand, zuvorkommen, an Stelle des Einstürmens ein gemächliches Eindringen setzen, der Woge ihre Aufregung und rohe Kraft nehmen, diese Wuth zur Sanftmuth zwingen und das aufregende Hinderniß durch ein beruhigendes ersetzen.

Gilliatt, der stärker als der Starke, Gemsenmanöver in den Gebirgen und Sapajou-Unternehmen in den Wäldern vollführte, der bei den schwankend und schwindelig machenden Sprüngen den kleinsten Kieselstein zu benutzen wußte, der in das Wasser sprang, aus dem Wasser sprang, im Kielwasser schwamm und den Felsen, mit einem Strick zwischen den Zähnen und einem Messer in der Hand, zu erklettern verstand, – löste mit der ihm eigenthümlichen Geschicklichkeit das Greling, welches, schwebend und an die Böschung des kleinen Douvre gelehnt, den Vordertheil der Durande hielt; machte aus dicken Tauenden eine Art von Haspeln, welche dies Panneau an den großen, in den Granit eingelassen Nägeln befestigen sollten, ließ auf diesen Haspeln jene, einer Schleusenthür ähnliche Planken-Armatur spielen, bot ihre Seite, wie man es mit dem Backen eines Steuerruders macht, dem Wasser dar, welches eines ihrer Enden vorwärts trieb und an den großen Douvre führte, während die Tauhaspeln auf dem kleinen Douvre ihr anderes Ende zurückhielten, bewerkstelligte auf dem großen Douvre, mit Hülfe der schon im Voraus eingeschlagenen Nägel, dieselbe Art der Befestigung, wie auf dem kleinen, schloß dieses mächtige Balkengerüst innig an den doppelten Pfeiler des Schlupfhafens auf, kreuzte auf dieser Barre eine Kette, wie ein Degengehänge über einem Panzer, und in weniger als einer Stunde wendete sich dieser Verschluß gegen die Fluth und vertrat den Eingang in die Straße zwischen den Klippen, wie eine Thür.

Dieses mächtige Gerüst einer gewaltigen Masse von Balken und Planken, welches liegend ein Floß und stehend eine Mauer bildete, war von Gilliatt mit Hülfe der Fluth und mit zauberhafter Geschicklichkeit angebracht worden. Das Kunststück war fertig geworden, bevor die steigende Fluth Zeit hatte, es wahrzunehmen.

In diesem Falle hätte Jean Bart wieder das berühmte Wort angewandt, welches er jedesmal dem Meere zurief, wenn er einen Schiffbruch geschickt vermied: » Angeführt den Engländer!« Wie man weiß, nannte Jean Bart den Ocean, wenn er ihn beleidigen wollte, den Engländer.

Nachdem Gilliatt die Meerenge so versperrt hatte, dachte er an die Barke. Er rollte genug Kabel auf die beiden Anker ab, daß sie mit der Fluth steigen konnte, ein ähnliches Verfahren, wie das, welches die alten Seeleute »mit Knoten ankern« nannten. Bei alle dem wurde Gilliatt nicht überrascht, denn er hatte an Alles schon vorher gedacht; ein Sachverständiger hätte es an den beiden, mit ihren glatten Klobenwerken an dem Sterne der Barke befestigten Rollen gesehen, über welche zwei Grelinge liefen, deren Enden schief durch die Ringe der beiden Anker gingen.

Indessen war die Fluth schon bis zur halben Höhe gestiegen; in einem Augenblicke kann schon der Schlag ihrer Wellen, selbst wenn sie ruhig sind, kräftig werden. Was Gilliatt erwartet hatte, ging in Erfüllung. Die Fluth rollte kräftig gegen die Barke, stieß gegen sie, stauchte sich an ihr auf und ging dann unter ihr durch. Draußen war es die hohle See, drinnen ein Eintröpfeln. Gilliatt hatte eine Art von caudinischen Engpässen für das Meer ersonnen und es dadurch besiegt.

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Siebentes Capitel. Eher Entwickelung, als Lösung.

Der schreckliche Augenblick war gekommen.

Es handelte sich jetzt darum, die Maschine in die Barke zu bringen.

Einige Augenblicke hindurch stützte Gilliatt seine Stirn auf seine linke Hand, den linken Ellbogen auf die rechte Hand und dachte nach; dann stieg er auf das Wrack, von dem ein Theil, die Maschine, losgemacht werden, der andere aber, der Rumpf, zurückbleiben sollte, und schnitt die vier Seile, welche am Back- und Tribord der Durande die vier Ketten des Schlotes festhielten, durch. Da die Seile nur aus Hanf bestanden, so gelang ihm das mit seinem Messer.

Die vier Ketten hingen frei und ohne Anhang an dem Schlote hinab.

Von dem Wracke stieg er in den Apparat, welchen er gemacht hatte, schlug mit dem Fuße gegen die Balken, untersuchte die Flaschenzüge und Rollen, berührte die Kabel, prüfte die Ansatzstücke, überzeugte sich, daß das weiße Tauwerk nicht tief durchnäßt war, daß nichts fehlte und sich nichts bog, sprang dann von dem hohen Lukenrande auf das Deck und stellte sich neben die Winde in den Theil der Durande, welcher an den Douvres bleiben sollte. Dort war sein Platz während der Arbeit.

Ernst und nur von nützlicher Erregung erregt, warf er einen Blick auf die Krahne, ergriff hierauf eine Feile und begann die Kette, welche Alles in der Schwebe hielt, zu durchschneiden.

Man hörte das Knirschen der Feile unter dem Grollen des Meeres.

Die Kette der Winde, welche an dem Balancir-Tau befestigt war, befand sich dicht neben seiner Hand, so daß er sie leicht fassen konnte.

Plötzlich hörte man ein Krachen. Die Kette, welche von der Feile zerschnitten wurde, war mehr als halb durchgefeilt und eben gerissen; der ganze Apparat fing zu schwanken an. Gilliatt hatte nur noch Zeit, sich auf das Balancirtau zu stürzen.

Die zerrissene Kette peitschte den Felsen, die acht Kabel dehnten sich aus, der ganze losgesägte und losgeschnittene Theil riß sich vom Wracke los, der Bauch der Durande öffnete sich und der auf die Kabel drückende Eisenboden der Maschine erschien unter dem Kiele.

Hätte Gilliatt nicht zeitig das Tau ergriffen, so wäre ein Sturz erfolgt. Jetzt war aber seine furchtbare Hand da und so wurde es nur ein Herabsinken.

Als Jean Bart’s Bruder, Peter Bart, jener starke und kluge Trunkenbold, jener arme Fischer aus Dünkirchen, welcher den Großadmiral von Frankreich duzte, die in der Bai von Ambleteure verlorene Galeere Langeron rettete und um diese schwere schwimmende Masse aus der Mitte der Brandung jener gefährlichen Bai herauszuschaffen, das große Segel im Flattern mit Meerbinsen zusammenband, als er wollte, daß diese Binsen, sich selbst zerbrechend, das Segel dem Winde zum freien Spiel überließen, vertraute er sich dem Brechen der Binsen ebenso an, wie Gilliatt dem Reißen der Kette; es war dieselbe merkwürdige Kühnheit, von demselben überraschenden Erfolge gekrönt.

Das Tau, welches Gilliatt gefaßt hatte, hielt gut und arbeitete wunderbar. Wie man sich erinnern wird, war es dazu bestimmt, den Kräften, welche aus mehreren in eine zusammengezogen waren und einer gemeinsamen Bewegung gehorchten, das Gleichgewicht zu halten. Es hatte einige Aehnlichkeit mit einer Boyleine, wirkte aber nicht auf ein Segel, sondern auf einen Mechanismus.

Gilliatt stehend und die Hand an der Winde, fühlte, so zu sagen, dem Apparate den Puls.

Hier zeigte sich Gilliatt’s Erfindungsgabe auf das Deutlichste.

Ein auffallendes Ineinandergreifen fand statt.

Während die völlig losgelöste Maschine der Durande gegen die Barke hinabstieg, hob sich diese gegen jene hin. Das Wrack und das Rettungsboot halfen sich gegenseitig, gingen einander entgegen, suchten sich und ersparten sich die halbe Arbeit.

Die Fluth schwoll ohne Geräusch zwischen den beiden Douvres an, hob die Barke und näherte sie der Durande; sie war mehr als besiegt, sie war gezähmt. Der Ocean bildete einen Theil des Mechanismus.

Das steigende Wasser hob die Barke nicht rückwärts, sondern sanft und beinahe vorsichtig, als wenn sie aus Porzellan gewesen wäre.

Gilliatt hatte die Kräfte dieser beiden Arbeiter, des Wassers und des Apparates, vereint, gegeneinander abgemessen und regelte, unbeweglich an der Winde stehend, gleich einer fürchterlichen Bildsäule, der alle Bewegungen auf einmal gehorchen, die Geschwindigkeit des Sinkens nach der des Steigens.

Kein Springen in der Fluth, kein Schwanken in den Krahnen. Es war ein merkwürdiges Zusammenspielen aller dienstbar gemachten Naturkräfte. Einerseits war die Anziehungskraft der Maschine, andererseits die Fluth das Boot. Die Anziehungskraft der Gestirne – die Fluth – und die der Erde – die Schwere – schienen sich mit einander verständigt zu haben, um Gilliatt zu dienen. Ihr Gehorsam kannte weder Zögerung noch Aufenthalt, und durch den Willen eines Geistes wurden diese unthätigen Kräfte zu thätigen Hülfsmitteln. Von Minute zu Minute schritt das Werk vor; der Zwischenraum zwischen der Barke und dem Wrack verminderte sich unmerklich. Die Annäherung geschah schweigend und gewissermaßen für den Menschen, welcher zugegen war, furchtbar. Das Element hatte einen Befehl erhalten und führte ihn aus.

Fast in demselben Augenblick, als die Fluth zu steigen aufhörte, hörten auch die Kabel auf sich abzurollen. Plötzlich, aber ohne Bewegung, standen die Flaschenzüge still. Die Maschine hatte, wie unter der Leitung einer Hand, in der Barke Platz genommen. Sie stand in ihr gerade, aufrecht, unbeweglich und fest. Die Stützplatte ruhte mit ihren vier Ecken senkrecht auf dem Kiele.

Es war vollbracht.

Gilliatt blickte überwältigt hin.

Das arme Wesen war von der Freude nicht verwöhnt. Er beugte sich unter einem unermeßlichen Glücke, fühlte, wie alle seine Glieder zitterten, und er, der bis dahin keine Verwirrung gekannt hatte, begann vor seinem Siege zu beben.

Er betrachtete die Barke unter dem Wracke und die Maschine in der Barke. Er schien es nicht zu glauben. Man hätte sagen können, er war auf das nicht vorbereitet, was er gethan hatte. Ein Wunder war unter seinen Händen hervorgegangen und er erblickte es mit Staunen.

Dieses Staunen dauerte nur kurze Zeit.

Gilliatt machte eine Bewegung wie Jemand, der erwacht, stürzte auf die Säge zu, schnitt die acht Taue durch, sprang dann in die Barke, von welcher ihn jetzt, Dank ihrem Steigen durch die Fluth, eine Entfernung von höchstens zehn Fuß trennte, ergriff eine Rolle mit Troß, machte vier Schlingen, steckte sie durch die Ringe, welche er schon früher angebracht hatte, und befestigte an Bord der Barke auf beiden Seiten die vier Ketten des Schlotes, welche noch vor einer Stunde an Bord der Durande festsaßen.

Nachdem der Rauchfang angeschlossen war, machte Gilliatt den oberen Theil der Maschine los. Ein viereckiges Stück der Brückenplatte der Durande hing daran fest. Gilliatt schlug es ab und befreite die Barke von diesem überflüssigen Ballaste von Planken und Brettern, welche er auf den Felsen warf. Nützliche Erleichterung!

Uebrigens war die Barke, wie man wohl erwarten konnte, unter der großen Last der Maschine fest geblieben und hatte sich nur wenig gesenkt. Die Maschine der Durande war zwar schwer, aber nicht so wuchtig, als der Steinhaufen und die Kanone, welche die Barke schon früher von Herm geholt hatte.

So war Alles beendet und er brauchte die Maschine nur noch fortzufahren.

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Achtes Capitel. Der Erfolg eben so schnell wiedergenommen, als gegeben.

Alles war noch nicht beendigt.

Gilliatt mußte den Schlupfhafen wieder öffnen, welchen das Vordertheil der Durande verschloß, und die Barke sofort aus der Klippe schaffen, das lag klar auf der Hand. Auf offenem Meere ist jede Minute kostbar. Der Wind war schwach, kaum ein Kräuseln zeigte sich auf hoher See; der sehr schöne Abend versprach eine ebenso schöne Nacht. Das Meer war stillstehend, aber die Ebbe begann sich schon fühlbar zu machen; der Augenblick war für die Abfahrt äußerst günstig. Er verließ mit der Ebbe die Douvres, landete mit der Fluth in Guernesey und konnte mit Tagesanbruch in St. Sampson sein.

Aber ein unerwartetes Hinderniß stellte sich ein. Trotz seiner Vorsicht hatte Gilliatt eine Kleinigkeit vergessen.

Die Maschine war frei, der Rauchfang aber nicht.

Die Fluth hatte dadurch, daß sie die Barke dem in der Luft schwebenden Wrack näherte, die Gefahren des Herablassens verringert und die Rettung abgekürzt; aber in Folge dieser Verminderung des Zwischenraums blieb der obere Theil des Schlotes in dem klaffenden Rahmen stecken, welchen gewissermaßen der offene Kiel der Durande bildete. Der Rauchfang wurde von ihm festgehalten, als ob er zwischen vier Mauern gesteckt hätte.

Die Dienstleistung der Wellen wurde durch diesen hinterlistigen Streich gestört.

Wie es schien, hatte das zum Gehorsam gezwungene Meer einen Hintergedanken. Die Ebbe konnte das Werk der Fluth vielleicht zerstören.

Der etwas mehr als drei Klafter hohe Schornstein steckte acht Fuß tief in der Durande; das Niveau des Wassers war im Begriff um zwölf Fuß zu sinken und der Schornstein, indem er mit dem Holländer dem Meeresgrund näher kam, gewann oben einen Spielraum von vier Fuß, konnte also in’s Schwanken gerathen.

Wie lange mochte es währen, ehe er diese Freiheit erlangte? – Sechs Stunden.

Nach Verlauf derselben war es nicht weit mehr von Mitternacht. Doch wie konnte man zu jener Zeit eine Ausschiffung versuchen? In welchen Canal sollte das Fahrzeug sich durch die Klippen winden, in denen sich schon bei Tage Niemand zurechtfand? Und wer wollte sich in jenen Hinterhalt von Untiefen wagen?

Gilliatt war gezwungen, den folgenden Tag abzuwarten.

Sechs verlorene Stunden konnten ihm mindestens zwölf andere kosten.

Er durfte nicht einmal daran denken, den Eingang des Felsgäßchens zu öffnen, um weiter arbeiten zu können.

Gilliatt mußte sich auch ausruhen.

So lange er sich zwischen den Douvresklippen befand, hatte er alles Andere gethan, nur nicht die Arme gekreuzt; dies that er jetzt zum ersten Mal.

Diese gezwungene Pause erzürnte und empörte ihn fast, als hätte er selber sie verschuldet. Was würde Deruchette sagen, sähe sie mich hier müßig stehen? fragte er sich.

Und doch bedurfte er so nothwendig des Sammelns neuer Kräfte.

Der Holländer stand jetzt zu seiner Verfügung und er beschloß die Nacht auf ihm zu verbringen.

Er holte sein Schaffell von dem großen Douvre, speiste einige Schlüsselmuscheln und Seekastanien und trank, da er großen Durst halte, fast den ganzen Wasserrest seiner Schiffsflasche. Dann hüllte er sich in das Fell, dessen Wolle ihm wohl that, legte sich wie ein Wächterhund in die Nähe seiner Maschine, zog die Galerienue über seine Augen und sank in Schlummer.

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Neuntes Capitel. Die Warnungen der See.

Wie von einer Springfeder emporgeschnellt, erwachte er plötzlich inmitten der Nacht.

Er öffnete die Augen.

Die Douvres über seinem Haupt erglänzten wie vom Wiederschein einer starken, hellen Kohlengluth. Die ganze schwarze Façade war von diesem Licht beleuchtet.

Woher kam dies Feuer?

Aus dem Wasser.

Das Meer schien in Flammen zu stehen. So weit das Auge reichte, wogte es wie Feuersgluth, doch hatte dieselbe nicht den gewöhnlichen rothen Schein, auch kein Knistern, keine Hitze und Purpurröthe, nicht das kleinste Geräusch begleitete sie. Ein weitverbreiteter bleicher Glanz zitterte über dem Wasser. Es war keine Feuersbrunst, sondern ein Seegespenst.

Die Erscheinung glich der fahlen Gluth, welche eine Flamme, das Erzeugniß eines Traumes, in dem Innern einer Todtengruft entzündete.

Man mache sich eine Vorstellung von einer in Brand gesetzten Finsterniß.

Die Nacht, die unermeßliche, aufgestörte und verwirrte Nacht, schien der Brennstoff des eisigen Feuers zu sein. Das Dunkel trat als Element in dies Lichtphantom. Alle Fischer des Canals kennen das phosphorische Leuchten, welches Warnungen für die Seefahrer enthält.

Bei diesem Leuchten verlieren alle Gegenstände ihre wirkliche Beschaffenheit. Ein geisterhaftes Wesen durchdringt sie und läßt sie durchsichtig erscheinen. Die Felsen sind nur noch Umrisse. Ankertaue gleichen rothglühenden Eisenstangen. Fischernetze glänzen im Wasser wie ein Maschenwerk von Feuer. Die eine Hälfte des Ruders ist Ebenholz, die andere, im Wasser befindliche, funkelt wie Silber. Tropfen, die in’s Meer zurückfallen, verwandeln sich in Sterne. Jede Barke läßt einen Kometenschweif hinter sich. Matrosen, deren Kleider durchfeuchtet sind, gleichen brennenden Menschen. Taucht man seine Hände in die Fluth, so tragen sie beim Herausziehen glühende Handschuhe, doch ist es ein todtes Feuer, das nicht brennt. Der nasse Arm wird zum glimmenden Brand. Alle im Meer befindlichen Dinge rollen mit der Flammenströmung hinweg. Die Fische sind feurige Zungen und zerrissene Blitze, welche in einem bleichen Abgrund züngeln.

Jenes helle Leuchten war durch Gilliatt’s geschlossene Augenlider gedrungen. Nur ihm verdankte er sein Erwachen. Es war hohe Zeit aufzustehen.

Nach der Ebbe folgte jetzt eine neue Fluth.

Der Schornstein der Maschine, welcher während Gilliatt’s Schlaf frei geworden war, stand im Begriff, von dem über ihm gähnenden Wrack gepackt zu werden.

Er stieg langsam empor.

Nur noch ein Fuß fehlte und er fuhr wieder in die Durande.

Die Fluth braucht etwa eine halbe Stunde, um einen Fuß hoch zu steigen. Längere Zeit blieb Gilliatt also nicht, wenn er die schon in Frage stehende Rettung völlig ausführen wollte.

Er richtete sich blitzschnell empor.

So sehr die Verhältnisse ihn auch drängten, konnte er doch nicht umhin, das Meerleuchten einige Minuten nachdenklich zu betrachten.

Er kannte die See aus dem Grunde. Wider ihren Willen und oft von ihr gemißhandelt, war er lange Zeit ihr Gefährte gewesen. Das geheimnißvolle Wesen, welches Ocean heißt, konnte nichts beabsichtigen, was Gilliatt verborgen geblieben wäre.

Er eilte schnell zu den Hißtauen, ließ sie langsam nach, ergriff dann, da der Gabelanker ihn nicht mehr hinderte, den Bootshaken des Holländers, stützte sich an die Felswand und steuerte nach dem, einige Klafterlängen jenseits der Durande liegenden Ausgang des Felsengäßchens. Es machte Raum, wie die Matrosen von Guernesey sagen. In weniger als zehn Minuten war der Holländer aus dem Bereich unterhalb des Wrack. Es stand nicht länger zu befürchten, daß der Schornstein wieder in die Schlinge der Durande gerieth. Mochte die Fluth immerhin steigen.

Er betrachtete erst das Meerleuchten und lichtete dann die Anker, doch nicht um abzufahren, sondern weil er den Holländer auf’s Neue und zwar in der Nähe des Ausgangs befestigen wollte.

Bisher hatte er sich nur der beiden Anker seines eigenen Fahrzeuges bedient, ohne den kleinen Anker der Durande zu benutzen, welchen er, wie man weiß, in den unterseeischen Klippen auffand. Er bewahrte ihn für dringende Fälle in einem Winkel des Holländers, nebst einem Vorrath von dreidrähtigen Seilen und Hißtau-Blockrollen und seinem Ankertau, das er im Voraus mit sehr spröden Feuerflaschen versehen hatte. Gilliatt warf auch diesen dritten Anker, was auf lebhafte Besorgniß und doppelte Vorsicht schließen ließ.

Das phosphorische Leuchten, welches er überwachte und unverwandt beobachtete, bedrohte ihn vielleicht, während es ihm zu gleicher Zeit nützte. Ohne dasselbe wäre er ein Gefangener des Schlafs geblieben und die Nacht hätte ihn betrogen. Jenes Licht erweckte und erleuchtete ihn. Es bewirkte in den Klippen eine trübe Tageshelle, die Gilliatt zwar beunruhigte, ihm aber insofern diente, als sie die Gefahr zeigte und seinen Abzug möglich machte. Wollte er von nun an die Segel spannen, war der Holländer mit der Maschine frei und unbehindert.

Gilliatt schien indeß weniger und weniger an eine Abreise zu denken. Als er den Holländer quer vor Anker gelegt hatte, holte er die stärkste Kette aus seinem Lagerhaus, befestigte jedes ihrer Enden an zwei Nägeln, von denen der eine in den kleinen, der andere in den großen Douvre geschlagen war und verstärkte so das Bollwerk von Futterdielen und Balken, welches die an der Außenseite kreuzweis gespannte Kette bereits sicherte. Weit entfernt, die Einfahrt zu öffnen, versperrte er dieselbe vollends.

Das Meerleuchten dauerte zwar noch fort, nahm aber allmählig ab. Der Tag begann zu dämmern.

Plötzlich lauschte Gilliatt.

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Zehntes Capitel. Wen’s juckt, der kratze sich.

Er glaubte in unermeßlicher Ferne ein schwaches, undeutliches Geräusch zu hören.

Bisweilen entsteigen der Tiefe grollende Laute.

Er lauschte zum zweiten Mal. Das leise Tönen ließ sich wieder vernehmen. Gilliatt schüttelte den Kopf, wie Jemand, der da weiß, um was es sich handelt.

Einige Minuten später befand er sich am entgegengesetzten Ende des Felsgäßchens, das bis jetzt offen war und trieb mit starken Hammerschlägen große Nägel in den Granit der beiden Eisfelsen, dieses, dem Mann benachbarten Ausgangs, eine Vorkehrung, die er früher an der Einfahrt der Douvres getroffen hatte.

Die Spalten dieser Felsen waren alle ausgebessert und mit kernigem Eichenholz gefüllt. Da die Klippe gerade hier aus sehr mürbem Gestein bestand, diente sie vielen Eidechsen zur Wohnung und Gilliatt war im Stande, noch mehr Nägel darin anzubringen, als am entgegengesetzten Fundament der beiden Douvres.

Plötzlich, als würde es ausgelöscht, endigte das Meerleuchten und die mit jedem Augenblick abnehmende Morgendämmerung herrschte an seiner Stelle.

Als Gilliatt die Nägel eingeschlagen hatte, schleppte er Balken, Taue und Ketten herbei und begann, ohne die Augen eine Secunde von seiner Arbeit zu wenden, den Ausgang des Passes mit Bohlen zu versperren, indem er diese in horizontaler Richtung befestigte und durch Taue zusammenfaßte, eine der lockern Verschanzungen, welche die heutige Wissenschaft anerkennt und mit dem Namen Wellenbrecher belegt hat.

Wer mit eigenen Augen – zum Beispiel in Rocquaine, Guernesey oder Bourg-d’eau in Frankreich, die Wirkung beobachtet hat, welche einige in den Fels gerammte Pfähle hervorbringen, begreift die Bedeutung dieser so einfachen Vorkehrung. Der Wellenbrecher ist eine Zusammensetzung der Verschärfung, die man in Frankreich épi und in England dick nennt. Wellenbrecher sind die »spanischen Reiter« der Festungswerke, die im Wasser zur Abwehr des Sturmes erbaut werden. Nur mit Hülfe dieser Macht kann man gegen das Meer kämpfen.

Die Sonne hatte inzwischen vollkommen heiter ihre Himmelsbahn betreten. Das Meer war still, die Luft klar.

Gilliatt beschleunigte seine Arbeit. Auch er war ruhig und doch lag Angst in seiner Hast.

Mit großen Sätzen eilte er von Fels zu Fels, von der Verschanzung zum Magazin und wieder zurück nach der Verschanzung. Bald schleppte er einen Katzsparren, bald eine Verdeckslukeneinfassung herbei. Die Nützlichkeit seiner Ansammlung von Zimmerwerk erwies sich. Es war klar, daß Gilliatt einem vorhergesehenen Ereigniß gegenüber stand.

Eine starke Eisenstange diente ihm als Hebebaum, mit dessen Hülfe er die Balken fortschaffte.

Das Werk ging so schnell von Statten, daß man sagen konnte, es wuchs empor, anstatt ausgeführt zu werden. Wer nie der Arbeit eines Pioniers zugesehen hat, kann sich keine Vorstellung von einer solchen Eile machen.

Der östliche Eingang war noch enger als der westliche. Er hatte nur eine Breite von fünf oder sechs Fuß. Dies kam Gilliatt zu Statten. Da der zu befestigende Platz nur klein war, mußte die Verschanzung jedenfalls besser Stich halten, und konnte überdies leichter hergestellt werden. Die querliegenden Bohlen genügten also, senkrecht einzurammende waren überflüssig.

Als Gilliatt die ersten Balken vor dem Eingang angebracht hatte, stieg er auf dieselben und lauschte.

Das Grollen der See ließ sich deutlicher vernehmen.

Gilliatt setzte seine Arbeit fort. Er vervollständigte sie durch die beiden Krahnbalken der Durande, welche er mit dem Querbalken zusammenfügte, indem er durch die Blockrollenräder der letzteren Hißtaue zog, und diese um das Gebälk befestigte. Das Ganze durchschürzte er dann mit Ketten.

Das vollständige Machwerk war nichts Anderes als eine Art Geflechte, dessen Stäbe durch Bohlen vertreten wurden, während Ketten die Weidengerten waren.

Gilliatt vervielfachte die Befestigungen und schlug die fehlenden Nägel in die Verschanzung.

Da er viele Eisenstangen in dem Wrack vorgefunden hatte, konnte er einen großen Vorrath von Nägeln schmieden.

Während seiner Arbeit zermalmte er Schiffszwieback mit den Zähnen. Er hatte Durst, ohne ihn löschen zu können, denn es fehlte ihm an süßem Wasser. Den Rest in seiner Schiffsflasche trank er bereits am vorigen Abend.

Er fügte noch vier oder fünf Balken zu den übrigen und stieg dann zum zweiten Mal auf die Verschanzung, um zu lauschen.

Das ferne Geräusch war verstummt. Alles schwieg.

Das Meer lag in stiller Herrlichkeit da. Es verdiente jedes Madrigal, welches die Bürger ihm widmen, wenn sie mit seinem Betragen zufrieden sind: »ein Spiegel« – – – »ein See« – – – »Oel« – – – »ein Schäker« – – – »ein Hammel« – – Die tiefe Himmelsbläue war des dunkeln Meergrüns würdig – Saphir und Smaragd, die einander bewundern durften. Sie hatten einander nichts vorzuwerfen. Kein Wölkchen in den Lüften, keine Schaumflocken aus dem Wasser. Eine strahlende Aprilsonne stieg über all‘ dieser Pracht empor. Das Wetter konnte nicht schöner sein.

Am äußersten Horizont strich eine lange schwarze Reihe von Zugvögeln dahin. Sie flogen schnell und näherten sich der Erde. Es hatte den Anschein, als wären sie auf der Flucht.

Gilliatt fuhr fort, den Wellenbrecher zu erhöhen, so weit die Krümmung der Felsen es gestattete.

Gegen Mittag dünkte ihm der Sonnenschein heißer, als natürlich war.

Die Mittagsstunde ist entscheidend für den Tag. Gilliatt stand auf dem festen Flechtwerk, das er soeben vollendet hatte, und begann seine unbegrenzte Umgebung zu beobachten.

Das Meer war nicht nur ruhig, sondern träge. Kein Segel ließ sich erblicken. Der Himmel war noch immer klar, doch hatte das Blau sich in Weiß verwandelt. Dieser Umstand befremdete ihn. Am westlichen Horizont zeigte sich ein kleiner Fleck von krankhafter Farbe. Er behauptete unbeweglich seinen Platz, nahm aber an Umfang zu. In der Nähe der unterseeischen Klippen bemerkte man ein sanftes, leises Kräuseln der Fluth. Gilliatt hatte wohl gethan, seinen Wellenbrecher zu bauen.

Ein Unwetter zog herauf.

Der Abgrund hatte sich entschieden, eine Schlacht zu liefern.

Sechstes Buch. Der betrunkene Steuermann und der nüchterne Capitän.


Erstes Capitel. Die Douvresfelsen.

Fünf Meilen von der Küste entfernt im Süden von Guernesey zwischen den Inseln des Canals und St. Malo liegt eine Gruppe von Klippen, unter dem Namen der Douvresfelsen bekannt. Diese Stelle ist sehr gefährlich.

Denselben Namen führen eine Menge Klippen und Brandungsplätze. Auf einem Douvresfelsen an der Nordküste wird gegenwärtig ein Leuchtthurm erbaut. Auch dieser Punkt ist unheilvoll, doch darf man ihn nicht mit den obenerwähnten Klippen verwechseln.

Das Cap Bréhant an der französischen Küste liegt den Douvresfelsen am nächsten. Die Douvresfelsen liegen ein wenig weiter von der Küste Frankreichs als von der ersten Insel des Archipels der Normandie. Eine große Diagonale, von Jersey aus gezogen, berührt fast jene Klippen. Wenn Jersey sich wie auf einer Thürangel nach Corbière hin herumdrehte, so würde die Landspitze St. Katharina beinahe auf die Douvresfelsen stoßen. Die Entfernung zwischen beiden Punkten beträgt etwa vier Meilen.

Selbst die wüstesten Felsen vielbefahrener Meere pflegen selten verlassen zu sein. Auf Hagot findet man Schmuggler, auf Binic Zollbeamte. Auf Cancale giebt es Austernzüchter, auf Césambre, der Insel Casars, Kaninchenjäger, Krabbensammler auf Brecqhou; Minquier und Ecrehou werden von Netzfischern und Anglern aufgesucht. Nur die Douvresfelsen sind menschenleer.

Die Seevögel haben dort ihr Reich.

Es giebt nichts Gefürchteteres. Die Helme, wo dem Glauben nach die » Blanche Nef« untergegangen ist, die Bank von Calvados, die Stacheln der Insel Wight, La Ronesse, welche die Küste von Beaulieu so sehr gefährdet, die Untiefe von Preel, welche die Einfahrt nach Merquel in einer Weise einengt, daß man dort zwanzig Klafter lange, roth gestrichene Baken vorlegen mußte, die gefährliche Strecke zwischen Etables und Plouha, die beiden »Druiden« im Süden von Guernesey, der alte und der kleine Anderlo, die Ratten-Insel, welche durch das Sprüchwort: »Wenn Du auch durch die Ratte kömmst ohne zu sterben, so zitterst Du wenigstens,« als Gegenstand des Schreckens bezeichnet wird, die todten Weiber, die Straße zwischen La Boue und la Frouquie, der Irrweg zwischen Guernesey und Jersey, das »böse Pferd« neben Boulay-Bay und Barneville sind weniger gefürchtet. Darum würde man lieber alle diese Orte befahren, als die Douvresklippen auch nur einmal berühren.

In dem ganzen gefährlichen Gewässer des Canals la Manche, dieses Archivels des Abendlandes, finden die Douvresfelsen nur ihres Gleichen an der furchtbaren Paternosterklippe zwischen Guernesey und Serk. Und doch kann man von letzterm Punkt aus wenigstens Signale geben, darf daher auf Hülfe in Gefahr hoffen. Nach Norden hin entdeckt man die Landzunge von Dicard oder Icare und im Süden die »Dicke Nase.« Von den Douvresfelsen aus steht das Auge nichts als Himmel und Wasser. Wasser, Windstöße, Regenwolken, Leere und Unbegrenztheit!

Nur ein Verschlagener nähert sich den Douvresklippen. Die Granitfelsen sind von einer gräßlich rohen Form, überall unzugänglich steil.

Und das Meer rings umher. Wasser von grundloser Tiefe. Eine so völlig verlorne Klippe, wie die der Douvres lockt und hegt Geschöpfe, welche nicht werth sind, in der Nähe menschlicher Wesen zu leben. Sie ist eine Art unterseeischer, unbegrenzter, riesiger Madrepore, ein ertrunkenes Labyrinth. In einer Tiefe, wohin die Taucher nur mit Mühe gelangen, finden sich unterirdische Höhlen, Löcher, Schlupfwinkel, verschlungene Gänge und düstre Gassen. Geschlechter von Ungeheuern erzeugen sich dort in üppigen Massen und verschlingen einander. Krabben fressen Fische und werden von diesen vertilgt. Erschreckende Gebilde, die nicht geschaffen sind, um von Menschenaugen angeschaut zu werden, treiben hier ihr Wesen. Eigenthümliche Formen von Rachen, Fühlfäden, Flossen, Schwimmblasen, aufgesperrten Kiefern, Fängen, Schuppen und Krebsscheeren schwimmen, zittern, wachsen oder zergehen und verschwinden in dem flüssigen, unheilbringenden Element. Grauenhafte Schwärme tummeln darin umher und gehen ihren Verrichtungen nach. Das Ganze ist ein riesiges Nest von Ungeheuern.

Das Abscheuliche ist dort das Ideal.

Man vergegenwärtige sich, wenn es möglich ist, ein ameisenartiges Gewimmel von Meernesseln und Quallen.

Einen Blick in das Innere des Oceans werfen, heißt die Phantasiewelt einer unbekannten Größe kennen lernen, das Reich der Schrecken betreten. Seine Abgründe gleichen der Nacht. Auch im Meere giebt es Schlaf, wenigstens einen scheinbaren Schlaf der Schöpfung. Dort vollziehen sich in vollkommener Sicherheit die Verbrechen von Creaturen, die keine Rechenschaft ablegen. Dort üben die schwächsten lebenden Gebilde, Phantome und doch ganze Teufel, wilde Werke der Finsterniß.

Vor vierzig Jahren bezeichneten zwei Felsen von sonderbarer Form den Vorüberfahrenden die Klippen der Douvres. Es waren zwei senkrecht emporragende Spitzen, die sich hoch oben krümmten und einander zuneigten. Man glaubte die Fangzähne eines ertrunkenen Elephanten aus dem Meere emporragen zu sehen, nur waren sie thurmhoch, als gehörten sie einem Thiere von der Größe eines Gebirgsarmes. Diese beiden von der Natur gebildeten Thürme der unbekannten, von Unthieren bewohnten Stadt, gestatteten nur einen schmalen Durchgang, in dem die Sturzwellen sich brachen. Er war winklig und krumm, wie eine zwischen zwei Mauern eingeengte Straße. Man nannte diese Zwillingsfelsen die beiden Douvres, den kleinen und den großen. Der eine war sechszig, der andere vierzig Fuß hoch. Das An- und Abprallen der Wogen hat dem Fundament dieser Thürme Zähne wie die einer Säge eingeprägt. Der heftige Aequinoctialsturm des 26. Octobers 1859 stürzte den einen. Der kleinere steht noch heute verstümmelt und verwittert an seinem Platz.

Am eigenthümlichsten gestaltet tritt aus der Douvresgruppe ein Fels unter dem Namen »der Mann« hervor. Auch er steht noch. Im vorigen Jahrhundert fanden Fischer, welche nach diesen Klippen verschlagen wurden, auf jenem Felsen den Leichnam eines Mannes und eine Menge leerer Muscheln neben ihm. Er mußte sich als Schiffbrüchiger dorthin gerettet haben und nährte sich kurze Zeit von dem Inhalt der Schaalen, bis er starb. Diese Begebenheit gab dem Fels den Namen »der Mann.«

Die Einsamkeit des Meeres ist schaurig. Aufruhr und Schweigen herrschen in ihm. Was innerhalb seines Bereichs geschieht, steht in keiner Beziehung zu dem Menschengeschlecht.

Das sind die schauerlichen Douvresfelsen. So weit das Auge reicht, entdeckt es nichts, als eine endlose, arbeitende, gepeinigte Wassermasse.

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Zweites Capitel. Unverhoffter Fund einer Cognacflasche.

Am Freitag früh, dem Tage nach der Abfahrt des Tamaulipas, ging die Durande nach Guernesey ab.

Um neun Uhr verließ sie St. Malo.

Das Wetter war klar, ohne Nebel. Der alte Capitän Gertrais-Gaboureau schien nicht richtig prophezeit zu haben.

Sieur Clubins wichtige Nebengeschäfte ließen ihn sein Amt augenscheinlich ein wenig versäumen. Er hatte erst einige Ballen aus Paris mit allerhand Dingen für Galanterieläden in St. Pierre geladen, sowie drei Kisten für das Krankenhaus auf Guernesey, von denen die eine gelbe Seife, die andere gezogene Lichte und die dritte französisches Sohlen- und feines Corduanleder enthielt. Von seiner letzten Fahrt nahm er einen Kasten voll gemahlenen Zuckers und drei Kisten Conjou-Thee mit zurück, Gegenstände, deren Einfuhr das französische Zollamt nicht gestatten wollte. Sieur Clubin hatte außer einigen Ochsen kein Vieh eingeschifft. Jene Thiere standen ziemlich nachlässig eingesperrt im untern Schiffsraum.

Sechs Passagiere waren an Bord: ein Guerneseyer, zwei Viehhändler aus Malouins, ein »Tourist,« wie man schon damals sagte, ein Pariser Halbbürger, wahrscheinlich Handelsreisender und ein Amerikaner, der Bibeln verbreitete und austheilte.

Die Mannschaft der Durande zählte, Clubin nicht mitgerechnet, sieben Personen: einen Steuermann, zwei Maschinenheizer, den Zimmermann und Kohlenbrenner – beide versahen zugleich Matrosendienste – einen Koch, einen Bootsmann und den Schiffsjungen. Einer der Heizer war zugleich Mechanikus und seiner Abstammung nach ein Neger, der einst aus den Zuckersiedereien in Surinam entwischte und Holländer wurde, ein sehr ehrenwerther, höchst gescheidter Mann, Namens Imbrancam. Er verstand sich vortrefflich auf die Maschine und versah sie auf’s Beste. Seine ganz schwarze Erscheinung im Maschinenraum trug in der ersten Zeit nicht wenig dazu bei, der Durande ein teuflisches Ansehen zu geben.

Der Steuermann, aus Jersey gebürtig, und seinem Ursprung nach ein Cotentin, hieß Tangrouille. Tangrouille gehörte zum hohen Adel.

Dies ist buchstäblich wahr. Auf den Inseln des Canals wie in England herrscht Hierarchie. Es giebt dort noch Kasten. Kasten haben ihre Ideen, durch welche sie sich behaupten. Diese Ideen sind überall dieselben, in Indien wie in Deutschland. Der Adel wird mit dem Degen erworben und durch die Arbeit ausgetilgt. Nur im Müßiggang erhält er sich. Nichtsthun heißt erhaben leben; wer nicht arbeitet, wird geehrt. Ein Handwerk treiben ist erniedrigend. In Frankreich bildeten die Glasfabrikanten früher eine Ausnahme von der Regel. Flaschenleeren war gewissermaßen der Ruhm eines Edelmannes und Flaschenmachen entehrte ihn keinesweges. Wenn Jemand in der Grande-Bretagne und auf den Inseln des Canals adlig sein will, muß er Reichthum besitzen. Ein Arbeiter kann kein Herr sein. Ein Matrose ist nur Matrose, selbst wenn er von einem Bannerritter abstammt. Vor dreißig Jahren sammelte in Aurigny ein Gorges, der rechtmäßige Ansprüche auf die von Philipp August eingezogene Herrschaft Gorges gehabt hatte, mit nackten Füßen im Wasser stehend, Meergras. Ein Carteret ist Kärrner in Serk. In Jersey und Guernesey leben zwei Männer Namens Gruchy, der erste ist Tuchweber, letzterer Schuhmacher und beide erklären sich für Grouchy’s, Vettern des Marschalls von Waterloo. Die alten Pfründenregister des Bisthums von Coutances erwähnen einer Lehnsherrschaft Tangroville, welche jedenfalls mit der von Tancarville an der Basse-Seine zusammenhängt. Letztere ist als Montmorency bekannt. Im fünfzehnten Jahrhundert trug Johann von Héroudeville, der Bogenschütz des Sire von Tangroville, diesem »seine Panzer und die übrige Rüstung« an und 1371 versah ein Herr von Tangroville bei dem Proberitt Bertrand du Guesclin’s den Dienst eines Edelknappen.« Auf den normännischen Inseln entledigen die Leute sich ihres Adels sehr bald, wenn das Elend ihnen über den Kopf wächst. Eine Veränderung ihres Namens genügt, um sie davon zu befreien. Aus Tangroville entstand Tangrouille. So verhielt es sich mit dem Namen des Steuermanns der Durande.

Tangrouille, dieser wahrscheinliche Tancarville und mögliche Montmorency, besaß eine altadlige Eigenschaft, die ihm, als einem Steuermann, zum großen Fehler gereichte: er trank.

Es war Sieur Clubin’s beständige Aufgabe, ihn zu bewachen. Er hatte sich Mess Lethierry gegenüber hierzu verpflichtet.

Der Steuermann Tangrouille verließ das Schiff nie und schlief sogar am Bord.

Als Sieur Clubin am Abend vor der Abreise zu später Stunde einen Besuch auf dem Fahrzeug machte, lag Tangrouille in seiner Hängematte und schlief. In der Nacht erwachte er, seiner Gewohnheit gemäß. Jeder, seiner Freiheit beraubte Trunkenbold hat seinen Versteck. Auch Tangrouille besaß einen solchen und nannte ihn seine Proviantkammer. Dieser geheime Ort befand sich in dem Schiffsraum, wo das Wasser aufbewahrt wird. Er hatte ihn dorthin verlegt, um keinen Verdacht zu erregen und glaubte, Niemand außer ihm kenne diesen Versteck. Der Capitän Clubin, ein mäßiger Mann, war strenge. Die wenigen Tropfen Rum und Gin, welche der Steuermann dem wachsamen, hinterlistigen Wächter zu entwenden vermochte, verbarg er in einer Senkkufe, die ihren Platz in dem geheimnißvollen Winkel des Schiffsraumes mit den Wasserbehältern hatte, und fast alle Nacht stattete er diesem Versteck einen zärtlichen Besuch ab. Die Ueberwachung war strenge; für gewöhnlich beschränkten sich die nächtlichen Ausschweifungen Tangrouille’s auf zwei oder drei eilig hinuntergestürzte Schluck Rum. Zuweilen hatte er nicht den kleinsten Vorrath in seiner Proviantkammer. Heute Nacht fand er darin unverhofft eine Flasche Branntwein. Seine Freude war groß, noch größer sein Erstaunen. Aus welchem Himmel war diese Flasche gefallen? Er konnte sich nicht erinnern, wann und auf welche Weise er sie auf das Fahrzeug geschafft hatte, doch leerte er sie unverzüglich. Die Klugheit trieb ihn gewissermaßen dazu, indem er fürchtete, man könne den Branntwein entdecken und sich desselben bemächtigen. Die Flasche warf er in die See. Als Tangrouille am nächsten Morgen die Ruderpinne ergriff, verspürte er eine Art Schwindel, regierte aber trotzdem das Steuer fest, wie gewöhnlich.

Clubin war an jenem Abend, wie schon gesagt, nach Jean’s Wirthshaus gegangen, um darin zu schlafen. Er trug unter seinem Hemde Tag und Nacht einen ledernen Reisegurt, worin er diesmal zwanzig Guineen aufbewahrte. Auf die innere rauhe Seite dieses Ledergürtels hatte er mit zäher unvertilgbarer Druckerschwärze seinen Namen »Sieur Clubin« geschrieben. Als er am Morgen seiner Abreise aufstand, steckte er die eiserne Dose mit den sechszigtausend Francs in Banknoten in den Gurt und schnallte diesen, seiner Gewohnheit gemäß, um den Leib.

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Drittes Capitel. Gestörte Unterhaltung.

Die Abfahrt ging heiter von Statten. Sobald die Reisenden ihre Felleisen und Mantelsäcke unter oder auf den Bänken in Sicherheit gebracht hatten, unterwarfen sie das Fahrzeug jener Prüfung, von der man glauben sollte, sie sei einem Jeden zur Bedingung gemacht, so allgemein und eifrig ward sie angestellt. Der Tourist und auch der Pariser hatten bisher noch kein Dampfschiff gesehen. Als das Rad sich zu drehen begann, bewunderten sie den Schaum, später den Rauch. Hierauf untersuchten sie auf dem Deck und im Zwischenraum mit haarscharfer Gründlichkeit alle Schiffsbestandtheile: die Ringe, Klammern, Haken und Bolzen, die so sauber und zierlich gearbeitet sind, daß sie den Eindruck kolossaler Schmuckgegenstände machen; es sind in der That eiserne Geschmeide, die das Unwetter mit goldenem Rost überzogen hat. Sie betrachteten von allen Seiten die Lärmkanone, welche angeschlossen auf dem Verdeck lag; »wie ein Hund an der Kette,« bemerkte der Tourist, und »mit einer Blouse von getheerter Leinwand bekleidet, um sich vor Erkältung zu schützen,« fügte der Pariser hinzu. Als man sich mehr und mehr von der Küste entfernte, wichen den gewöhnlichen Bemerkungen Betrachtungen über die Ansicht von St. Malo. Ein Reisender äußerte, die Entfernungen zur See seien trügerisch und eine Meile vom Lande gesehen, gliche Dunkerque auf’s Täuschendste Ostende. Er vervollständigte das, was er über letztgenannten Ort zu sagen hatte, durch die Mittheilung, daß die beiden dortigen Wachtthürme rothgestrichen seien und die Namen Ruytingen und Mardyk führten.

St. Malo rückte dem Auge immer ferner und endlich war es ganz verschwunden.

Die See war ruhig. Das Kielwasser bildete hinter dem Schiff eine lange mit Schaum bekränzte Gasse, die fast ohne Windungen hinlief, so weit der Blick reichte.

Guernesey wird von einer graden Linie durchschnitten, die man sich von St. Malo in Frankreich, nach Exeter in England gezogen denkt. Eine solche Linie kann man auf dem Meere nicht ziehen. Dennoch können Dampfschiffe bis zu einem gewissen Grade eine bestimmte, gerade Richtung innehalten, was Segelschiffe nicht vermögen.

Das Meer ist in Gemeinschaft mit dem Wind eine Verunreinigung von Kräften, das Schiff eine Zusammensetzung von Maschinen. Naturkräfte sind Maschinen von unbegrenzter Macht, die Kraft der gewöhnlichen Maschine ist beschränkt. Durch Verbindung dieser beiden Organismen, von denen der eine unerschöpflich, der andere beschränkt ist, bildet sich der Kampf, den man die Schifffahrt nennt. Die Willenskraft in letzterem Organismus hält dem Unendlichen das Gegengewicht. Auch das Unendliche hat seinen Mechanismus. Die Elemente kennen ihre Bestimmung. Keine Naturkraft ist blind. Der Mensch soll ihre Kräfte erforschen und ihre Bestimmung entdecken.

Während man bemüht ist, die Naturgesetze zu ergründen, besteht jener Kampf fort und in ihm bildet die Dampfschifffahrt eine Art siegender Herrschaft, die der menschliche Geist stündlich über alle Meerestheile ausübt. Das Bewundernswerthe an ihr ist die Zucht, in der sie das Fahrzeug hält. Sie gehorcht den Winden weniger als den Menschen.

Niemals hatte die Durande besser gearbeitet, als heute.

Gegen elf Uhr befand sie sich mit Hülfe einer frischen Nord-West Brise den Minquiers gegenüber und trieb, wenig Rauch gebend, die Steuerbordhalsen zugesetzt, dem Wind fast entgegen nach Westen. Das Wetter war noch immer hell und schön. Nach und nach, als dächte Jeder nur daran, den Hafen wieder zu erreichen, verschwanden die Fahrzeuge von der See.

Man konnte nicht behaupten, daß die Durande genau ihren gewohnten Strich fuhr. Die Mannschaft wurde zwar durch nichts von ihrem Dienst abgezogen, und das Vertrauen zum Capitän war ein unbedingtes. Vielleicht durch die Schuld des Steuermannes fand eine kleine Abweichung von dem gewöhnlichen Wege statt. Die Durande schien eher die Richtung nach Jersey zu verfolgen, als nach Guernesey zu steuern. Bald nach elf Uhr verbesserte der Capitän den Fehler und das Schiff ging geradesweges auf das Cap von Guernesey zu. Man hatte nicht viel Zeit verloren. Er war ein schöner Februarsonnenschein.

Tangrouille befand sich in seinem gegenwärtigen Zustand weder auf sehr festen Füßen, noch vermochte er seinen Arm tüchtig zu gebrauchen. Es war also natürlich, daß er bald nach links, bald nach rechts steuerte, wodurch die Fahrt verzögert ward.

Der Wind hatte sich fast ganz gelegt.

Der Reisende aus Guernesey, welcher ein Fernrohr in der Hand hielt, richtete dasselbe von Zeit zu Zeit auf eine kleine Flocke grauen Schaumes, die der Wind westlich am äußersten Horizont langsam hin und her trieb. Sie glich einem Häufchen staubiger Watte.

Capitän Clubin zeigte wie gewöhnlich seine strenge, puritanische Miene. Er schien seine Aufmerksamkeit zu verdoppeln. Am Bord der Durande war alles heiter; die Passagiere plauderten. Wer bei einer Seefahrt die Augen schließt, kann die Beschaffenheit des Meeres aus der Unterhaltung der Reisenden errathen. Die volle Geistesfreiheit entspricht der vollkommenen Ruhe der See.

Es ist zum Beispiel unmöglich, daß eine Unterhaltung wie folgende stattfinden kann, wenn nicht Windstille herrscht:

– Mein Herr, sehen Sie dort jene niedliche grün und rothe Fliege?

– Sie hat sich auf’s Meer verirrt und ruht auf dem Schiffe aus.

Eine Fliege ermüdet nur wenig.

Gewiß; sie ist so leicht.

Mein Herr, man hat einmal eine Unze Fliegen gewogen und gezählt und fand ihrer sechstausend zweihundert achtundsechszig.

Der Guerneseyer mit dem Fernrohr hatte die Viehhändler aus Malouins angeredet und führte mit ihnen etwa folgende Unterhaltung:

– Der Aubracer Ochse hat einen runden untersetzten Rumpf, kurze Beine und eine falbe Haut. Wegen seiner kurzen Beine ist er etwas langsam bei der Arbeit.

– In diesem Punkt steht’s mit dem Salers-Ochsen besser als mit dem Aubracer.

– Mein Herr, ich habe in meinem Leben zwei schöne Ochsen gesehen. Der erste hatte niedrige Beine, einen dicken Vorderleib, ein volles Schwanzstück, breite Hacken, eine tüchtige Kreuz- und Nackenlänge, kräftige Bewegungen und ein losesitzendes Fell. Der zweite besaß alle Eigenschaften eines tüchtigen Mastochsen: untersetzten Rumpf, starken Hals, leichte Beine, Senkrücken, roth und weißes Fell.

– Dies ist die Contentiner Race.

– Ja, doch ist eine gewisse Aehnlichkeit mit den Stieren von Angus und Suffo vorhanden.

Mein Herr, wollen Sie mir glauben, daß es im Süden Concurrenz-Esel giebt?

Esel?

Esel! Wie ich die Ehre hatte, Ihnen zu sagen.

Man schenkt den häßlichen den Vorzug.

So macht man es auch mit den Mauleselinnen. Die häßlichsten sind die besten.

Richtig! Wie bei den Stuten von Poitevin. Dicken Bauch, dicke Beine.

Die beste Mauleselin ist wie eine dicke, von vier Stützen getragene Wulst.

Bei den Menschen verhält sich’s mit der Schönheit anders als bei den Thieren.

Namentlich bei Frauen.

– Das ist wahr.

– Ich verlange von einer Frau, daß sie niedlich ist.

– Und ich sehe auf einen hübschen Anzug.

– Ja; zierlich, sauber und geputzt wie eine Puppe muß sie sein.

– Und immer frisch aussehen. Ein junges Mädchen sollte stets den Eindruck machen, als wäre es aus dem Ei geschält.

– Um wieder auf meine beiden Ochsen zurückzukommen, muß ich Ihnen sagen, daß ich mit ansah, wie man sie auf dem Markt in Thouars verkaufte.

– Ich kenne den Markt. Die Banneau’s und Babu’s aus La Rochelle und die Getreidehändler von Marans – ich weiß nicht, ob Sie von ihnen gehört haben – besuchen ihn.

Der Tourist und der Pariser plauderten mit dem Bibel-Amerikaner. Auch jene Unterhaltung zeugte davon, daß schönes Wetter war.

Mein Herr, sagte der Tourist, mit der schwimmenden Tonnenzahl verhält sich’s folgendermaßen: Frankreich hat 716,000 Tonnen, Deutschland eine Million, das vereinigte Amerika fünf Millionen, England fünf Millionen fünf tausend. Rechnen wir noch die Fracht der übrigen kleinen Fahrzeuge hinzu, so erhalten wir die Gesammtsumme von zwölf Millionen neun hundert und vier tausend Tonnen, welche auf hundert fünfundvierzig tausend Fahrzeuge vertheilt, auf dem Gewässer des Erdballs umhertreiben.

Der Amerikaner unterbrach ihn.

– Mein Herr, die vereinigten Staaten allein haben fünf Millionen fünftausend Schiffe.

– Zugegeben, sagte der Tourist. Sie sind Amerikaner?

– Ja, mein Herr.

– Ich pflichte Ihnen noch einmal bei.

Es entstand eine Pause. Der amerikanische Missionar fragte sich, ob es wohl zweckmäßig sei, Bibeln anzubieten.

– Mein Herr, ergriff der Tourist das Wort, ist es wahr, daß die Amerikaner eine große Vorliebe für Spitznamen haben, um selbst ihre berühmten Männer dadurch lächerlich zu machen? Nennen Sie Ihren großen Banquier Thomas Benton in Missouri wirklich »die alte Metallbarre?«

– Gewiß, und Zacharias Taylor »den alten Zach.«

– Und General Harrison den »alten Tip,« nicht wahr? oder General Jackson den »alten Hickory?«

– Und zwar, weil Jackson hart wie das Holz des Hickorybaums ist, während Harrison die Rothhäute bei Tippecanon geschlagen hat.

– Sie folgen dabei einem byzantischen Gebrauch.

– Es ist unser eigener. Wir nennen Van Buren den »kleinen Hexenmeister,« Seward, der kleine Einschnitte in die Bankzettel machen ließ, »den kleinen »Bankzettel«, und Douglas, der demokratische Senator von Illinois, welcher vier Fuß hoch ist und große Beredsamkeit besitzt, heißt bei uns der »kleine Riese.« Sie können von Texas nach Maine wandern, ohne einem Menschen zu begegnen, der die Namen Caß und Clay ausspricht. Statt des ersteren sagt man der »große Michiganer« und letzterer heißt stets der »Müllerjunge mit der Schnarre.« Clay ist nämlich der Sohn eines Müllers.

– Ich würde der Kürze wegen Clay und Caß vorziehen, erwiederte der Pariser.

– Das wäre ein Verstoß gegen die allgemeine Sitte. Wir nennen Corvin, den Sekretär der Schatzkammer den »Karrenburschen« und Daniel Webster heißt der »schwarze Dan.« Was Winfield Scott betrifft, so hat er den Spitznamen »Schnell-einen-Teller-Suppe,« weil, nachdem er die Engländer bei Chippeway geschlagen hatte, sein erster Gedanke der war, sich zum Essen zu setzen.

Die in der Ferne sichtbare Schaumflocke war gewachsen. Sie nahm jetzt am Horizont etwa eine Ausdehnung von fünfzehn Graden ein. Es war, als ob in Folge einer Windstille ein Gewölk über dem Wasser stände. Kaum ein Lüftchen regte sich. Das Meer war noch unbewegt. Obgleich die Sonne im Mittag stand, schien sie zu ermatten. Sie schien zwar noch, wärmte aber nicht mehr.

– Ich glaube, das Wetter ändert sich, sagte der Tourist.

– Vielleicht bekommen wir Regen, fügte der Pariser hinzu.

– Oder Nebel, meinte der Amerikaner.

– Mein Herr, nahm der Tourist das Wort, zu Molfetta in Italien regnet es weniger und in Tolmezzo mehr als sonst irgendwo.

Um die Mittagszeit läutete, nach der Sitte des Archipels, die Mittagsglocke. Wer Lust hatte, konnte essen. Einige Reisende hatten bei sich, was sie brauchten und speisten heiter auf dem Verdeck. Clubin aß nie zu Mittag.

Auch während des Speisens ging die Unterhaltung ihren Gang.

Der Guerneseyer, welcher die Bibeln witterte, hatte sich wieder dem Amerikaner genähert und dieser fragte ihn:

– Sie kennen dies Meer?

– Gewiß, ich bin ja hier zu Hause.

– Ich auch, sagte der Reisende von Malouins.

Der Guerneseyer machte eine zustimmende Verbeugung und fügte hinzu: Wir find jetzt den Minquiers gegenüber; aber ich wünsche mir keinen Nebel, ehe sie uns zur Seite liegen.

– Die Inselbewohner sind besser mit dem Meer vertraut, als die Küstenbewohner, sagte der Amerikaner zu dem Malouinesen.

– Freilich, wir Küstenbewohner haben nur das halbe Bord.

– Was versteht man unter den Minquiers? fragte der Amerikaner.

– Sehr böse Kieselsteine, erwiederte der Malouinese.

– Wir haben auch solche, die Grelets heißen, fügte der Guerneseyer hinzu.

– Verdammt! rief der Andere.

– Und die Chouas, sagte der Guerneseyer.

Der Malouinese lachte.

– Die Sauvages gehören auch dahin.

– Und die Moines – bemerkte der Guerneseyer.

– Auch der Canard, rief der Andere.

– Mein Herr, sagte der Guerneseyer, Sie wissen auf Alles zu antworten.

– Malouin – malin, erwiederte der Malouinese, mit den Augen blinzelnd.

Der Tourist unterbrach die Beiden.

– Müssen wir durch diese Felsgruppen schiffen?

– Bewahre! wir haben sie bereits südöstlich liegen lassen.

Der Guerneseyer fuhr fort:

– Große und kleine Felsen mitgerechnet, zählen die Grelets siebenundfünfzig Spitzen.

– Und die Minquiers achtundvierzig, sagte der Malouinese.

Jetzt nahm die Unterhaltung zwischen den beiden Männern einen bestimmteren Charakter an.

– Wie es scheint, mein Herr, von St. Malo, vergessen Sie drei Felsen mitzurechnen.

– Ich zähle jeden mit.

– Die Dérée von der Mâitre-Insel?

– Ja.

– Und die Maisons?

– Sieben Felsen inmitten der Minquiers.

– Sie kennen die Steine, wie ich sehe.

– Wenn ich sie nicht kennte, müßte ich nicht in St. Malo wohnen.

– Es ist ergötzlich, die Beweisgründe der Franzosen zu hören.

Der Malouinese verbeugte sich und sagte:

– Die Sauvages sind drei Felsen.

– Und die Moines zwei.

– Der Canard ist ein einziger.

– Ja, er steht allein.

– Nein, denn die Suarde besteht aus vier Felsen.

– Was nennen Sie die Suarde? fragte der Guerneseyer.

– Die Felsen, welche bei Ihnen die Chouas heißen.

– Zwischen den Chouas und dem Canard ist nicht gut durchzuschiffen.

– Nur die Vögel können es.

– Und die Fische.

– Nicht leicht. Bei Unwetter stoßen sie sich an dem Seitengestein.

– Die Minquiers haben Sandgrund.

– Auch die Maisons.

– Dies sind acht Felsen, die man von Jersey aus sehen kann.

– Richtig, vom Sandufer d’Azette. Doch sind es sieben, nicht acht.

– Zur Ebbezeit kann man zwischen den Minquiers spazieren gehen.

– Ohne Zweifel; es giebt dort trockene Stellen.

– Und die Dirouilles?

– Haben nichts mit den Minquiers zu schaffen.

– Ich will nur sagen, daß sie gefährlich sind.

– Das heißt in der Richtung der Küste von Granville.

– Man sieht, daß ihr Leute von St. Malo ebenso, wie wir, es liebet, in diesen Gewässern umherzufahren.

– Ja, nur mit dem Unterschied, daß wir sagen: »wir haben die Gewohnheit,« während Ihr sagt: »wir lieben es,« erwiederte der Malouinese.

– Ihr seid gute Schiffer.

– Ich bin Ochsenhändler.

– Wer stammt doch gleich aus St. Malo?

– Surcouf.

– Noch ein Anderer?

– Duguay-Trouin.

Hier mischte sich der Pariser in die Unterhaltung.

– Duguay-Trouin? Er wurde von den Engländern gefangen genommen und war ebenso liebenswürdig als tapfer. Eine Engländerin, deren Herz er gewonnen, befreite ihn aus seiner Haft.

In diesem Augenblick schrie eine Donnerstimme:

– »Du bist betrunken!«

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Viertes Capitel. Worin der Capitän Clubin alle seine Eigenschaften entfaltet.

Alle Reisenden wandten sich um.

Es war der Capitän Clubin, der jene Worte an den Steuermann richtete.

Sieur Clubin duzte sonst keinen. Daß er dies Fürwort auf den Steuermann Tangrouille anwandte, ließ erkennen, daß er sehr zornig war oder sich den Anschein geben wollte, es zu sein.

Ein Zornausbruch vermindert die Verantwortlichkeit dessen, der ihn sich zu Schulden kommen läßt, und hebt dieselbe zuweilen sogar auf. Der Capitän stand auf seinem Commandoplatz zwischen den beiden Laufrädern und sah den Steuermann fest an. Trunkenbold! wiederholte er zwischen den Zähnen.

Der ehrliche Tangrouille senkte den Kopf.

Der Nebel war mehr und mehr gestiegen und nahm jetzt fast die Hälfte des Horizonts ein. Er griff nach allen Richtungen um sich. Ein solcher Nebel gleicht einem Oeltropfen. – Unfühlbar dehnte er sich aus. Der Wind trieb ihn geräuschlos und langsam vorwärts. Nach und nach nahm er von der ganzen Meeresfläche Besitz. Er kam aus Nordwesten und das Fahrzeug eilte ihm entgegen. Man hätte ihn mit einem steilen Uferabhang vergleichen können. Wie eine Mauer durchschnitt er das Meer. An einer bestimmten Stelle schien das Wasser in diese Nebelwand zu dringen und darin zu verschwinden.

Jener Punkt war ungefähr eine halbe Meile weit von dem Schiff entfernt. Es gab eine Möglichkeit, dem Nebel zu entkommen. Das Drehen des Windes war Bedingung, doch mußte es unverzüglich geschehen. Der halbmeilenweite Zwischenraum füllte sich und nahm zusehends ab. Der Nebel eilte vorwärts und die Durande ebenfalls. Beide kamen einander entgegen.

Clubin befahl den Dampf zu verstärken und westlich zu steuern. Auf diese Weise schiffte man einige Zeit längs der Nebelwand hin, doch diese näherte sich mehr und mehr. Bis jetzt fuhr der Dampfer jedoch noch im Sonnenlicht dahin.

Ueber diesem Ausweichen, das schwerlich Stich halten konnte, verstrich die Zeit. Im Februar bricht der Abend schnell herein.

Der Guerneseyer beobachtete die bewegliche Mauer und sagte dann zu dem Malouinesen:

– Ein tüchtiger Nebel!

– Auf der See ein widerwärtiges Ding, erwiederte einer der Malouinesen und der erste fügte hinzu:

– Das die Ueberfahrt hindert.

Der Guerneseyer näherte sich Clubin.

– Capitän Clubin, ich fürchte, wir gerathen in den Nebel.

Clubin antwortete:

– Ich wollte in St. Malo bleiben, aber man rieth mir, in die See zu gehen.

– Wer rieth es?

– Die Alten.

– Natürlich war es recht, daß Sie ausreisten. Wer kann wissen, ob morgen kein Sturm ist? In dieser Jahreszeit muß man auf jede Witterung gefaßt sein.

Nach einigen Minuten tauchte die Durande in die Nebelbank.

Es war ein seltsamer Augenblick. Die auf dem Hinterdeck befindlichen Personen sahen die auf dem Vordertheil plötzlich verschwinden. Eine weiche, graue Scheidewand theilte das Schiff in zwei Hälften und alsbald war das ganze Fahrzeug in Nebel gehüllt. Die Sonne schien nur noch eine Art großen Mondes zu sein.

Jeder fühlte plötzlich Frostschauern. Die Reisenden warfen ihre Ueberzieher, die Matrosen ihre Jacken von Ochsenhaut über die Schultern. Das vollständig unbewegliche Meer lag in drohend kalter Ruhe da. Alles war bleich und grau. Die schwarzen Schornsteine und der Rauch kämpften gegen die Bleifarbe, welche das Schiff einhüllte.

Von jetzt an war es nutzlos, östlich zu steuern. Der Capitän schlug die Richtung nach Guernesey ein und verstärkte den Dampf.

Der Reisende aus jenem Orte hörte, als er um den Maschinenraum streifte, eine Unterredung zwischen dem Neger Imbrancam und seinem Cameraden, dem Heizer. Ersterer sagte:

Heute Vormittag bei Sonnenschein fuhren wir langsam und jetzt im Nebel schnell.

Der Guerneseyer begab sich zu Sieur Clubin.

– Capitän Clubin, es steht zwar nichts zu befürchten, geben wir aber nicht zu vielen Dampf?

– Was soll man machen, mein Herr? Die Zeit, welche jener Trunkenbold von Steuermann versäumt hat, muß wieder eingebracht werden.

– Freilich Capitän Clubin.

Ich beeile mich, nach Guernesey zu gelangen. Wir haben so viel Nebel, daß es bis dahin finster wird.

Der Guerneseyer suchte die Malouinesen auf und sagte zu ihnen:

– Wir haben einen ausgezeichneten Capitän.

Von Zeit zu Zeit trieben plötzliche, dicke Nebelwellen heran – Ballen gekämmter Wolle ähnlich – und verbargen die Sonne. Krankhaft aussehend und noch bleicher als vorher, kam sie dann und wann wieder zum Vorschein. Vom Himmel sah man nur noch zuweilen Streifen, die einer schmutzigen und ölfleckigen Theaterdecoration anzugehören schienen.

Die Durande gelangte in die Nähe eines Kutters, der aus Vorsicht Anker geworfen hatte. Es war der »Shealtiel« aus Guernesey. Der Capitän dieses Fahrzeuges bemerkte die schnelle Fahrt der Durande. Auch dünkte es ihm, daß diese nicht die gewöhnliche Richtung verfolgte. Sie schien zu weit westlich zu gehen. Dies mit voller Dampfkraft treibende Schiff setzte ihn in Erstaunen.

Gegen zwei Uhr war der Nebel so dicht geworden, daß Capitän Clubin sich gezwungen sah, seinen Stand zu verlassen und sich dem Steuermann zu nähern. Die Sonne schien gar nicht mehr. Auf der Durande herrschte eine Art blasser Finsterniß. Man schiffte in flüssiger Bleifarbe und sah weder Himmel noch Meer. Der Wind hatte sich völlig gelegt. Die an einem Ring unter dem Wetterdach der Laufräder hängende Flasche mit Terpentinöl zeigte nicht die leiseste Schwingung.

Die Reisenden waren verstummt.

Der Pariser trillerte ein Lied von Beranger vor sich hin: »An einem Tag erwachte Gott.«

– Der Herr kommt wohl aus Paris? fragte ihn einer der Malouinesen.

– Ja, mein Herr.

– Was treibt man in Paris?

– In Paris, mein Herr, geht alles verkehrt.

– Es ist also auf dem Lande nicht anders als auf dem Meer.

Wir haben allerdings einen bösen Nebel.

– Woraus Unglück entstehen kann.

Der Pariser rief:

– Aber weshalb denn Unglück! Wozu dient das Unglück? Was nützt es? Warum brannte das Odeum nieder? Weshalb giebt es Familien, die auf Stroh liegen? Ist das Gerechtigkeit? Ich kenne Ihre Religion nicht, mein Herr, aber ich selber fühle mich durch die meinige nicht befriedigt.

– Ich ebensowenig, entgegnete der Malouinese.

– Alles was auf Erden vorgeht, macht den Eindruck der Verkehrtheit. Der gute Gott ist, wie mir scheint, nicht an seinem Platz.

Der Malouinese kratzte sich den Kopf, als suche er über die Sache klar zu werden.

– Der gute Gott ist verreist. Man müßte ihn durch irgend einen Beschluß zum Daheimbleiben zwingen. Er lebt in seinem Landhaus und kümmert sich nicht um uns. Daher geht alles verkehrt. Es liegt auf der Hand, mein werther Herr, daß der gute Gott nicht mehr das Regiment führt. Er macht eine Ferienreise und sein Stellvertreter, irgend ein Engeleleve, ein Cretin mit Sperlingsflügeln, versieht seine Geschäfte.

Capitän Clubin näherte sich den beiden Sprechern und legte seine Hand auf die Schulter des Parisers.

– Stille! sagte er. Ueberlegen Sie ihre Worte, mein Herr. Wir sind auf der See.

Alles schwieg.

Nach fünf Minuten flüsterte der Guerneseyer, welcher jedes Wort mit angehört hatte, dem Malouinesen in’s Ohr:

– Ein frommer Capitän!

Es regnete nicht und doch war alles durchnäßt. Man merkte nur an der zunehmenden Unbehaglichkeit, daß die Zeit verstrich und die Reise fortdauerte. Alles schien in Schwermuth zu verfallen. Der Nebel bewirkt tiefe Ruhe auf dem Ocean; er schläfert die Wellen ein und erstickt den Wind. Das Geräusch des Dampfers hatte in der lautlosen, ringsumher herrschenden Stille etwas Klägliches, Beängstigendes.

Einem Fahrzeug begegnete man nicht mehr. Selbst wenn an den fernen Küsten von St. Malo oder Guernesey Schiffe außerhalb des Nebels auf der See gewesen wären, hätten sie die Durande nicht entdecken können und der lange Schweif von Rauch würde ihnen, da er keinen Zusammenhang mit einem sichtbaren Körper hatte, den Eindruck eines schwarzen Kometen an einem blassen Himmel gemacht haben.

Plötzlich schrie Clubin:

– Hund, Du steuerst falsch! Wir werden Haferei machen! Du verdienst in Ketten gelegt zu werden. Fort mit Dir!

Mit diesen Worten ergriff er die Ruderpinne.

Der gedemüthigte Steuermann flüchtete sich unter das Takelwerk des Vorderdeckes.

– Wir sind gerettet, sagte der Guerneseyer.

Das Schiff ging mit reißender Schnelligkeit vorwärts.

Nach drei Stunden hob sich die untere Nebelschicht und man sah wieder Meer.

– Dies gefällt mir nicht, sagte der Guerneseyer.

Der Nebel kann in der That nur durch die Sonne oder den Wind geschlichtet werden. Der erste Fall ist der glücklichere. – Aber für die Sonne war es zu spät. Im Februar um drei Uhr Nachmittags ist ihre Kraft schwach und zu dieser Tageszeit wünscht man nicht das Sichwiedereinstellen des Windes, weil er oft den Orkan ankündigt. Wehte übrigens ein Lüftchen, so konnte man es jedenfalls kaum spüren.

Clubin hielt das Steuerruder und murmelte, das Auge auf den Compaß gerichtet, allerhand Worte, von denen folgende das Ohr der Reisenden erreichten:

– Es ist keine Zeit zu verlieren. Dieser Trunkenbold hat die Reise verzögert.

Seine Züge waren jedoch vollkommen ausdruckslos.

Das Meer lag nicht länger unter dem Nebel in tiefem Schlaf. Hin und wieder spielte eine Welle. Auf ruhigen Stellen schwammen glänzende, glatte Lichtflecken. Sie pflegen den Schiffern Besorgniß zu erregen, denn sie beweisen, daß der Wind von oben her Oeffnungen in die Nebeldecke gearbeitet hat. Die Nebeldecke lüftete sich, um nur noch schwerer und dichter niederzusinken. Die Dunkelheit war vollständig. Zuweilen öffnete sich die furchtbare Mauer wie eine Zange und ließ ein Stück Horizont sehen, worauf sie sich dann wieder zusammen fügte.

Der Guerneseyer stand, mit seinem Fernrohr bewaffnet, wie eine Schildwache auf dem Vorderdeck.

Plötzlich wurde es hell und gleich darauf finster.

Der Guerneseyer wandte sich erschrocken um.

– Capitän Clubin!

– Was giebt es?

– Wir steuern auf die Hanoisfelsen zu.

– Sie irren sich, entgegnete der Capitän kalt.

– Ich bin davon überzeugt.

– Unmöglich.

– Ich entdeckte soeben am Horizont Klippen.

– Wo?

– Dort!

– Unmöglich; in jener Richtung liegt offenes Meer.

Und Clubin hielt die Richtung nach dem bezeichneten Punkt inne.

Der Guerneseyer sah wieder durch sein Fernrohr.

– Capitän!

– Nun?

– Wechseln Sie die Richtung!

– Warum?

– Ich bin sicher, daß ich den Felsen hoch und drohend ganz in der Nähe sah. Es ist der große Hanois.

– Sie irren sich. Es wird eine dichtere Nebelstelle sein.

– Im Namen des Himmels, wenden Sie um; es ist der große Hanois!

– Clubin gab der Ruderpinne einen Stoß.

————

Fünftes Capitel. Clubin erwirbt sich durch sein ferneres Verhalten den höchsten Grad der Bewunderung.

Man hörte ein Gekrache. Es giebt kein schaurigeres Geräusch als das Zerbersten eines auf eine Untiefe gerathenen Schiffes. Die Durande stand unbeweglich da. Mehrere Passagiere taumelten von dem Stoß und fielen auf das Verdeck hin.

Der Guerneseyer erhob die Hände zum Himmel.

– Auf dem Hanois, wie ich sagte!

Ein langer Schrei erscholl.

– Wir sind verloren!

Clubins kalte und harte Stimme übertönte Alles.

– Niemand ist verloren! Stille!

Der schwarze, bis zum Gürtel nackte Oberkörper Imbrancams zeigte sich in der viereckigen Oeffnung des Ofenraums. Mit ruhiger Stimme sagte er:

– Capitän, das Wasser dringt in’s Schiff. Das Feuer erlischt.

Ein furchtbarer Augenblick!

Der Stoß konnte nicht furchtbarer gedacht werden. Er glich einem Selbstmord. Die Durande war auf den Felsen gerannt, als hätte sie ihn angreifen wollen. Eine Klippenspitze durchbohrte sie wie ein Nagel. Ein Quadrat, das über eine Klafter maß, befand sich im Schiffsboden, der Vordersteven war zerschmettert, das Vorderdeck eingeschlagen und mit grauenhaftem Gepolter drängte sich das Meerwasser in eine Oeffnung des Rumpfes – in die Todeswunde des Schiffes. Der Rückprall war so heftig gewesen, daß er die Leittaue des abgelösten, hin und her treibenden Steuerruders zerrissen hatte. Ein dichter, schwerer und jetzt fast schwarzer Nebel hüllte das von der Klippe durchbohrte und festgehaltene Fahrzeug ein. Die Nacht zog über das Meer.

Das Vorderdeck des Dampfers senkte sich in die Wogen, ähnlich wie ein Roß, das die Hörner eines Stiers in seinen Eingeweiden fühlt. Die Durande war verloren.

Während eines Schiffbruchs ist Niemand berauscht. Tangrouille stieg entnüchtert in das Zwischendeck hinab, erschien bald wieder oben und sagte:

– Capitän, das Wasser ist bis an die Deckbalken des Schiffsraums gedrungen, in zehn Minuten wird es das Speigatt erreicht haben.

Händeringend und vor Entsetzen außer sich liefen die Reisenden auf dem Verdeck umher, beugten sich über Bord, betrachteten die Maschine und führten Dinge aus, die unnöthig und nur Folgen ihres Schreckens waren.

Der Tourist lag in Ohnmacht.

Clubin gebot durch ein Zeichen mit der Hand Schweigen und man folgte ihm.

– Wie lange kann die Maschine noch arbeiten? fragte er Imbrancam.

– Fünf oder sechs Minuten.

– Ich war am Ruderstock, fuhr der Capitän zu dem Guerneseyer gewandt, fort; Sie beobachteten den Felsen. Auf welcher Klippe des Hanois sitzen wir?

– Auf der Mauve. Ich habe sie vorhin bei der Helle deutlich erkannt.

– Dann liegt der große Hanois am Backbord und der kleine am Steuerbord. Wir befinden uns eine Meile vom Lande.

Das Auge auf den Capitän geheftet, folgten Reisende und Schiffsleute mit angstvoller Aufmerksamkeit der Unterredung.

Das Fahrzeug flott zu machen, war unmöglich und zwecklos. Um die Ladung in’s Meer werfen zu können, hätte man die Stückpforten öffnen und sich bemühen müssen, in tieferes Wasser zu gelangen. Ankerwerfen nützte nichts, denn das Schiff war fest genagelt. Da die Maschine als unbeschädigt dem Schiff zur Verfügung stand, so lange das Feuer nicht erlosch, konnte man mit Hülfe der Räder und des Dampfes zurückweichen und sich vom Felsen losreißen, doch wäre das Schiff durch solch Beginnen sofort umgestürzt. Die Klippenspitze füllte die Oeffnung bis zu einem gewissen Grade und hinderte das Eindringen des Wassers. Wurde jenes Hemmniß entfernt, so gab es keine Möglichkeit, den Leck zu verstopfen und die Pumpen arbeiten zu lassen. Wer den Pfeil aus der Herzenswunde zieht, tödtet den Getroffenen auf der Stelle. Sich von dem Felsen losmachen, hieße auf den Grund gehen.

Die Stiere im untern Schiffsraum, welche das Wasser fühlten, fingen an zu brüllen.

– Die Schaluppe in’s Meer! commandirte Clubin.

Imbrancam und Tangrouille stürzten vorwärts und lösten die Bindseile. Der Rest der Mannschaft stand regungslos vor Schreck da und sah dem Thun der Beiden zu. Clubin commandirte mit kaltem Ton und in den Ausdrücken jener veralteten Sprache, welche die Schiffer der Jetztzeit nicht mehr kennen:

– Holt an! – Schürzt Knoten in die Taue, wenn die Spille nicht mehr arbeiten kann. – Raum genug für den Ganspill. – Hütet die ungetheerten Thaue vor den Blockrollen. – Segel nieder. – Schnell zwei Tonnen Süßwasser hinein. – Zuviel Reibung. – Den Takelläufer zur Hand. – Achtung. –

Die Schaluppe war im Meer.

In demselben Augenblick stockten die Räder der Durande, der Rauch hörte auf, die Maschine stand im Wasser. Die Reisenden glitten die Leiter hinab oder fielen, an dem laufenden Tauwerk klammernd, mehr in die Schaluppe, als sie hinabstiegen. Imbrancam hob den ohnmächtigen Touristen vom Boden auf, trug ihn in das Fahrzeug und stieg dann wieder in’s Schiff. Die Matrosen stürzten den Reisenden nach. Der Schiffsjunge war zu Boden geworfen und wurde mit Füßen getreten. Imbrancam versperrte den Forteilenden den Weg.

– Niemand geht einen Schritt vorwärts! sagte er und drängte mit seinen schwarzen Armen die Matrosen. Er hob das Kind empor und reichte es dem Guerneseyer, der in der Schaluppe stand. Als der Schiffsjunge gerettet war, trat Imbrancam bei Seite und rief:

– Jetzt geht!

Clubin war indessen in seine Cajüte getreten, um die Schiffspapiere und Urkunden hervorzuholen. Auch den Compaß nahm er aus dem Häuschen und gab die Schriften Imbrancam, den Compaß aber Tangrouille und sagte: Steigt in die Schaluppe.

Sie gehorchten. Die übrige Mannschaft war bereits darin untergebracht, kaum ein Platz war noch leer. Die Wellen streiften den Bord.

– Jetzt stoßt ab! rief Clubin.

Ein allgemeiner Schrei tönte aus der Schaluppe.

– Und Sie, Capitän?

– Ich bleibe.

Schiffbrüchige haben wenig Zeit zu Berathungen und noch weniger zum Mitleid. Doch die Mannschaft in der Schaluppe fühlte im Bewußtsein eigener wahrscheinlicher Sicherheit eine selbstlose Bewegung. Alle erhoben ihre Stimmen zu dem bittenden Ruf:

– Begleiten Sie uns, Capitän!

– Ich bleibe.

Der Guerneseyer, welcher das Meer genau kannte, erwiederte:

– Capitän, hören Sie mich! Sie sind auf die Hanoisfelsen geworfen. Ein Schwimmer hat bis Plainmont eine Meile, aber zu Schiff kann man nur in Rocquaine, zwei Meilen von hier landen. Klippen und Nebel machen den Weg gefährlich. Die Schaluppe kann nicht vor zwei Stunden in Rocquaine anlangen. Dann wird es finstere Nacht sein. Heftiger, plötzlicher Sturm ist im Anzuge. Wie gerne kämen wir, um Sie abzuholen, aber wenn das Unwetter losbricht, ist es unmöglich. Wenn Sie bleiben, sind Sie verloren. Begleiten Sie uns.

Der Pariser mischte sich ein.

– Die Schaluppe ist allerdings voll, zu voll und ein Mensch mehr ist ein Mensch zu viel. Wir sind jedoch unserer Dreizehn, eine böse Zahl für die Barke und es ist deshalb besser, sie durch einen Menschen, als durch eine Zahl zu gefährden. Kommen Sie, Capitän.

– Ich trage die ganze Schuld, nicht Sie, Capitän Clubin. Es ist ungerecht, daß Sie zurückbleiben! rief Tangrouille.

– Ich weiche nicht von meinem Platz. In der Nacht wird der Orkan das Fahrzeug zertrümmern. Ich werde es nicht verlassen. Wenn der Capitän sein Schiff verloren hat, ist er todt. Man wird von mir sagen: er that seine Pflicht bis an’s Ende. Tangrouille, ich verzeihe Ihnen!

Und die Arme kreuzend rief er: Gebt Acht auf das Commando! Stoßt ab! Geht in die See!

Die Schaluppe setzte sich in Bewegung. Imbrancam ergriff das Steuer. Alle Hände, die kein Ruder führten, streckten sich dem Capitän entgegen und jeder Mund rief: Ein Hoch dem Capitän Clubin, hurrah!

– Ein bewunderungswürdiger Mann, sagte der Amerikaner.

– Mein Herr, rief der Guerneseyer, es giebt auf der ganzen See keinen ehrenwertheren.

Tangrouille weinte. – Hätte es mir nicht an Muth gefehlt, so wäre ich bei ihm geblieben, murmelte er vor sich hin.

Die Schaluppe verlor sich im Nebel und man sah nichts mehr von ihr. Auch das Geräusch des Ruderschlags verhallte und verstummte.

Clubin war allein.

————

Sechstes Capitel. Ein heller Blick in einen Seelen-Abgrund.

Als Clubin auf der nebelumhüllten Klippe mitten auf dem Meer, fern vom Geräusch der Welt und fern von jedem lebenden Wesen, den Tod sicher vor Augen sah, ergriff ihn eine glühende Freude.

Er hatte sein Ziel erreicht. Sein Traum war erfüllt. Der schon verfallene Wechsel, den er auf das Schicksal gezogen hatte, wurde ihm nun bezahlt.

Verlassen sein, hieß für ihn befreit sein. Er befand sich auf den Hanoisfelsen, eine Meile vom Lande entfernt, und hatte fünfundsiebzigtausend Franken bei sich. Nie gab es einen Schiffbruch, der sich in strengeren Formen vollzogen hätte, es war der regelrechteste Schiffbruch der Welt. Es hatte nichts gefehlt, um ihn vollständig zu machen; Alles war fein eingeleitet. – Clubin verfolgte seit seiner Jugend Ein Ziel. Rechtschaffenheit war sein Einsatz in dem Roulette des Lebens. Er wollte als ehrlicher Mann gelten, der das Glück abwartet und nur bei jedesmaligem Spiel den Satz verdoppelt, die Sache am rechten Ende anfängt, den günstigen Augenblick benutzt, nicht blindlings umhertappt, sondern beherzt zugreift. Einen »Coup« wollte er wagen, doch nur einen einzigen und mit diesem wollte er über alle Schwachköpfe triumphiren. Ihm sollte auf einen Streich gelingen, was gaunerischen Schwachköpfen zwanzig Mal nacheinander mißglückte; ihr Thun fand den Schluß am Galgen, das seinige endete im Hafen des Glücks. Das Zusammentreffen mit Rantaine hatte ihm Licht über sein künftiges Verhalten gegeben.

Unverzüglich entwarf er seinen Plan, der dahin ging, Rantaine zu stürzen und selber zu verschwinden, um etwaige Enthüllungen zu nichte zu machen. Er wollte für todt gelten – das ist die beste Art des Verschwindens. Zu diesem Zwecke mußte er die Durande vernichten. Indem er sogar einen guten Ruf hinterließ, krönte er seine ganze Vergangenheit. Wer Clubin in diesem Schiffbruch sah, hätte ihn für einen beglückten Dämonen gehalten.

Er hatte sein ganzes Leben auf diese Minute gewartet.

Endlich! Dies eine Wort drückte den ganzen Inhalt seiner Empfindungen aus. Eine abschreckende Heiterkeit erhellte seine düstere Stirn. Sein glanzloses Auge, in dem man sonst nichts lesen konnte, nahm einen sonderbaren Ausdruck an. Die lodernde Gluth seiner Seele spiegelte sich darin wieder. Die innere, wie die äußere Natur des Menschen hat ihre elektrischen Spannungen. Eine Idee ist ein Meteor. Der Erfolg ist das Resultat aus verschiedenen Betrachtungen, welche sie vorbereitet haben. Es ist ein Glück, wenn Diejenigen, welche das Böse in sich hegen und pflegen und eine geheime Beute desselben sind, durch solch einen zündenden Funken ihr Wesen offenbaren; ein unedler Gedanke, zur Ausführung gelangt, belebt das Gesicht; gewisse gelungene Berechnungen, wilde Befriedigungen, glücklich errungene Erfolge kündigen sich durch einen düstern Glanz der Augen an.

Dieser Glanz zeigte sich in Clubin’s Blicken. Weder auf Erden noch in andern Regionen konnte man ein ähnliches Leuchten finden.

Der in Clubin verborgene Schurke enthüllte sich durch diesen Glanz.

Er sah in die unergründliche Finsterniß hinein und konnte ein leises, unheilvolles Lachen nicht unterdrücken.

Er war frei und reich!

Sein eigentliches »Ich« sprengte seine Fesseln. Er hatte seine Aufgabe gelöst.

Zeit genug lag vor ihm. Die steigende Fluth mußte der Durande zu Hülfe kommen, indem sie dieselbe von dem Felsen löste und endlich emporhob. Doch konnte dies nicht schnell geschehen, da das Fahrzeug fest auf der Klippe haftete. Die Gefahr umzuschlagen, war nicht vorauszusehen. Das Rettungsfahrzeug mußte hinreichende Zeit haben, sich von den Hanoisfelsen zu entfernen, vielleicht unterzugehen. Clubin hoffte es.

Auf der gescheiterten Durande stehend, kreuzte er die Arme und schwelgte in dem Gefühl, sich in dieser Finsterniß einsam und verloren zu wissen.

Dreißig Jahre hatte die Heuchelei diesen Mann gedrückt. Er war ein Bösewicht, der sich mit der Rechtschaffenheit vermählt hatte und für die Tugend den Haß eines unglücklichen Ehemanns hegte. Er trug sich von jeher mit verbrecherischen Berechnungen; so lange er Mann war, verschanzte er sich hinter der starren Rüstung des Scheins. Innerlich war er ein Ungeheuer. Er hatte sich in die Haut eines vortrefflichen Mannes gesteckt und trug ein Banditenherz in seiner Brust. Er war ein Seeräuber von sanften Geberden, ein Gefangener der Redlichkeit und lag eingezwängt in dem Mumiensarg der Unschuld. Auf dem Rücken wuchsen ihm Engelflügel, deren Last ihn, den Taugenichts, zu Boden zog. Die öffentliche Achtung erdrückte ihn fast. Es ist hart, in solchem Fall als unbescholtener Mann dazustehen. Welche Arbeit, sich im Gleichgewicht zu halten; Böses denken und Gutes reden! Er stellte bisher das Phantom der Redlichkeit vor, während er eigentlich das Gespenst des Verbrechens war. Zu diesem Widerspruch hatte das Schicksal ihn verdammt. Er war gezwungen, gute Haltung anzunehmen, wohlanständig zu sein, über der Mittelmäßigkeit zu stehen und heimlich mit den Zähnen zu knirschen. Es war der Fluch der Tugend, welcher ihn zu ersticken drohte. Sein Leben lang hatte er Lust verspürt, in die auf seinen Mund gedrückte Hand zu beißen.

Und doch mußte er sie küssen.

Gelogen und gelitten haben ist eins. Ein Heuchler ist im doppelten Sinn des Worts ein Leidender: er müht sich ab, einen Triumph zu erringen und erduldet dabei Todespein. Die schwankende Berechnung eines schlechten Streichs unter dem Anscheine von Sittenstrenge und Festigkeit; innere Bosheit, die sich hinter einem vorzüglichen Ruf versteckt; das Streben, die Menschen zu täuschen, sein eigentliches Wesen verleugnen, ist eine beschwerliche Arbeit. Aus der ganzen schwarzen Bosheit seines Wesens ein Gebilde der Reinheit zu schaffen, liebkosend, versteckt, stets auf seiner Hut sein, sich unaufhörlich selbst bewachen, seinem geheimen Verbrechen eine gute Maske anlegen, diejenigen, welche uns verehren, am liebsten zerreißen wollen, die eigene Mißgestalt in Schönheit und die Nichtswürdigkeit in Vollkommenheit umwandeln, Gift versüßen, mit dem Dolche spielen, die Sanftheit seiner Geberden und den milden Klang seiner Stimme wahren – nichts ist schwieriger und trauriger! Die Abscheulichkeit der Heuchelei sättigt den Heuchler im Geheimen; nährt er sich jedoch beständig von der Milch seines Betruges, so wirkt dieselbe ekelerregend! Die Süßigkeit, welche die Arglist der Bosheit verleiht, widert den Bösewicht an, da er gezwungen ist, sie beständig im Munde zu führen, und es giebt Augenblicke, wo der Heuchler hochherzig genug ist, sich ihrer zu entledigen. Jenen Speichel verschlingen, ist abscheulich. Eingewurzelter Stolz kann diesen Zustand herbeiführen. Der Heuchler hat seine Zeiten der Selbstachtung. In der Schurkerei liegt eine unbegrenzte Selbstsucht. Der Wurm hat dieselben Schlangenbewegungen wie der Drache. Der Verräther ist nichts als ein eingeengter Despot, welcher seine Pläne nur verfolgen kann, indem er sich mit der zweiten Rolle begnügt; eine Kleinlichkeit, die auf unbegrenzte Geistesstärke schließen läßt. Der Heuchler ist Zwerg und Riese in einer Person. Clubin glaubte mit voller Ueberzeugung, ein Unterdrückter gewesen zu sein. Nach welchem Recht war er nicht reich geboren? Er hätte nichts Besseres verlangt, als von seinen Eltern hunderttausend Livres Renten zu beziehen. Weshalb war dies unmöglich? Der Fehler lag nicht an ihm. Warum wurde er gezwungen zu arbeiten, das heißt zu betrügen, zu verrathen und zu zerstören, indem man ihm alle Genüsse der Welt versagte? Weshalb verdammte man ihn auf diese Weise zur Marter des Schmeichelns, Kriechens, Beifallsuchens, des Strebens nach Liebe und Achtung, weshalb war er verurtheilt bei Tage und Nacht ein anderes Gesicht als das seinige zu tragen? Verstellung ist eine unterjochte Gewalt. Man haßt Denjenigen, welchen man belügt. Endlich schlug seine Stunde! Clubin rächte sich.

An wem? An Allen und an Allem.

Lethierry hatte ihm nur Gutes erwiesen. Um so schlimmer; er rächte sich an Lethierry und Allen, deretwegen er sich Zwang angethan hatte. Er schritt zur Vergeltung. Wer jemals Gutes von ihm gedacht, war sein Feind. Lethierry gehörte auch zu diesen.

Jetzt war Clubin frei und seinem Gefängniß entronnen. Er befand sich außerhalb des Bereichs der Menschen. Was man seinen Tod nennen würde, war sein Leben; er stand jetzt erst im Begriff, das Leben anzufangen. Der echte Clubin brach aus der Höhle des falschen hervor. Mit einem Schlage stand er da. Er hatte Rantaine mit einem Fußtritt in das Nichts gestoßen, Lethierry zu Grunde gerichtet, irdische Vergeltung unmöglich gemacht, die Meinung der Leute irre geleitet und sich aus dem Bereich der Menschheit entfernt. Er war mit der Welt fertig.

Was Gott betraf, so kannte er dies aus drei Buchstaben zusammengesetzte Wort kaum und kümmerte sich nicht darum.

Er hatte für einen religiösen Mann gegolten. Und jetzt?

Die Heuchelei hat ihre Schlupfwinkel oder sie ist vielmehr selber nur eine einzige Räuberhöhle.

Als Clubin allein war, öffnete sich die Höhle seines Innern. Er genoß einen Augenblick des Entzückens; seine Seele schöpfte frische Luft.

Er athmete die Luft seines Verbrechens mit vollen Zügen. Das versteckte Böse zeigte sich auf seinem Gesicht. In dieser Minute war Rantaine’s Blick im Vergleich mit dem seinen der Blick eines neugebornen Kindes! Welch‘ eine Befreiung, dies Abreißen seiner Maske! Sein Gewissen ergötzte sich an der eigenen gräßlichen Nacktheit und tauchte sich mit Behagen in die freie, volle Fluth des Bösen. Der Zwang, welchen ihm die langertragene Achtung der Menschen auferlegt hatte, flößte ihm, ehe er auf immer gehoben ward, eine rasende Lust an der Schamlosigkeit ein.

Der Verbrecher erreicht stets eine gewisse Art unmäßiger Frechheit. Es giebt in den fürchterlichen, so wenig sondirten sittlichen Abgründen eine gewisse sonderbare, abscheuliche Prahlerei, welche man die Unzucht des Lasters nennen kann. Das Unschmackhafte des falschen guten Rufes reizt den Appetit nach Schande. Man verachtet die Menschen so sehr, daß man wünscht, von ihnen verachtet zu werden und bewundert die Ungebundenheit, welche Entehrung gestattet. Mit gierigen Blicken betrachtet man die Schande, die es sich in öffentlicher Verworfenheit wohl sein läßt. Augen, die zum Niederschlagen gezwungen sind, werfen oft verstohlene Seitenblicke. Maria Alacoque folgt in nächster Linie auf Messalina. Vergleicht La Cadière und die Nonne von Louviers. Clubin hatte auch unter dem Schleier gelebt. Sein ehrgeiziges Streben ging nach Ausübung frecher Schamlosigkeit. Er beneidete die öffentliche Dirne und den Mann, der mit dreister Stirn seine Schandflecken trug. In seinem eigenen Innern fühlte er sich unzüchtiger, als eine jener Gefallenen und es widerte ihn an, für keusch zu gelten. Er war bisher der Tantalus des Cynismus gewesen. Jetzt endlich, auf diesem Felsen in dieser Einsamkeit konnte er aufrichtig sein und er war es. Welch‘ unendliches Behagen, unverstellt verabscheuungswerth dazustehen! In dieser Minute genoß Clubin alle erdenklichen teuflischen Freuden; die Zinsen der Heuchelei wurden ihm gezahlt; seine Falschheit war eine dem Satan vorgestreckte Summe, die er jetzt zurückerhielt. Er überließ sich dem Rausch der Frechheit; nur der Himmel war ja über ihm, die Menschen waren fern.

»Ich bin ein Schurke!« schrie er und fühlte sich befriedigt.

Nie sind wohl ähnliche Gewissensvorgänge bei einem Menschen vorgekommen. Keine Charakterenthüllung ist mit dem Abwerfen der Heuchelei zu vergleichen.

Er war glücklich, ganz allein zu sein und hätte doch nicht gezürnt, wäre Jemand neben ihm gewesen. Es würde ihm einen Genuß bereitet haben, vor Zeugen so verabscheuungswerth dazustehen.

Wie hätte es ihn beglückt, dem ganzen Menschengeschlecht das Wort » Schwachsinniger« zurufen zu können.

Die Abwesenheit der Menschen sicherte seinen Triumph, doch verminderte sie ihn. Er allein war der Zeuge seiner Herrlichkeit.

Es liegt ein Reiz darin, am Pranger zu stehen. Alle Welt weiß, daß man nichtswürdig ist. Die Menge zwingen, ihre Blicke auf Dich zu richten, heißt eine Macht ausüben. Der Galeerensklave, welcher die eiserne Kette am Hals im Bock auf dem Kreuzweg steht, ist der Despot aller Augen, die sich auf ihn richten. Dies Schaffott gleicht einem Piedestal. Ist es nicht ein herrlicher Triumph, der Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit zu sein? Diejenigen, welche vor dem Altar des Teufels opfern, sehen in der Schande einen Heiligenschein. Durch diesen erheben sie sich über die Menge. Er verhilft ihnen zur Herrschaft. Ein Schandpfahl, den die ganze Welt steht, erinnert an einen Thron. Vor Gericht stehen, heißt ein Gegenstand der Aufmerksamkeit sein. Ein schlechter Regent hat entschieden seine Schandpfahlfreuden. Nero, als er Rom anzündete, Ludwig XIV., als er Palatinat wie einen Verräther behandelte, Georg der Reichsverweser, indem er Napoleon langsam tödtete, Nicolaus, als er Angesichts der civilisirten Welt Polen den Hals brach, mußten etwas von der Wollust schmecken, in welcher Clubin jetzt schwelgte. Die Unbegrenztheit der öffentlichen Verachtung macht auf den Verachteten den Eindruck einer ihm dargebrachten großen Anerkennung. Entlarvt werden, ist eine Niederlage; sich selbst entlarven, heißt einen Sieg feiern. Der Sieg ist Trunkenheit, unverschämte, befriedigte Frechheit, gänzliche Nacktheit, die alles um sich her beleidigt. Ein übergroßes Glück.

Die Begriffe eines Heuchlers scheinen im Widerspruch mit einander zu stehen und doch ist seine ganze Schurkerei eine folgerechte. Er hat Honig auf den Lippen und Galle im Herzen. Der Heuchler, an sich grundschlecht, zeigt in seinem Wesen die zwei äußersten Grenzen der Verworfenheit. Er ist zugleich Priester und Courtisane. Als Teufel hat er ein doppeltes Geschlecht. Er ist der verabscheuungswürdige Hermaphrodit des Bösen und befruchtet, vermehrt und verwandelt sich selber. Wollt Ihr seine schöne Seite kennen lernen, wohlan! werft einen Blick auf ihn; wünscht Ihr seine Häßlichkeit zu betrachten, nun, so dreht ihn um!

Clubin’s Seele hatte dies Dunkel verworrener Vorstellungen. Ihm lag wenig daran, dasselbe zu lichten; er schwelgte darin.

Eine Reihe höllenentstiegener Feuerfunken konnte man die Folge seiner Gedanken nennen.

Er stand eine Zeit lang träumerisch da und betrachtete im Geist seine frühere Rechtschaffenheit mit dem Auge einer Schlange, die ihre eben abgeworfene alte Haut vor sich liegen sieht.

Jedermann, ja fast er selbst, hatte an seine Redlichkeit geglaubt.

Zum zweiten Mal brach er in ein Gelächter aus.

Man würde ihn für todt halten, während er in Reichthum lebte. Er galt für verloren und war gerettet. Welchen Streich hatte er dem albernen Menschengeschlecht gespielt!

Und zu diesem albernen Menschengeschlecht gehörte Rantaine. Clubin gedachte seiner mit einer grenzenlosen Verachtung. Der Marder verachtet den Tiger. Rantaine’s Flucht war in gewissem Sinne eine verfehlte; er, Clubin, führte die seine meisterhaft aus. Rantaine ging bestürzt, beschämt, Clubin triumphirend davon. Er hatte, was die Art der bösen That betraf, Rantaine’s Beispiel befolgt; allein das Glück war auf seiner Seite.

Hinsichtlich der Zukunft hatte er noch nichts Festes beschlossen. Die eiserne Büchse, welche er in seinem Gürtel trug, enthielt drei Banknoten; diese Gewißheit genügte. Er wollte seinen Namen ändern. Es giebt Länder, in denen siebenzigtausend Franken so viel bedeuten, als siebenhunderttausend. Es wäre nicht übel, in einen jener Winkel der Erde zu gehen, um von diesem, dem Räuber Rantaine abgejagten Gelde als ehrlicher Mann zu leben. Speculiren, Großhandel treiben, das Capital vermehren, im vollen Ernst Millionair werden, hatte auch etwas für sich.

In Costa-Rica, dem ersten Platz für Kaffeehandel, ließen sich zum Beispiel Tonnen Geldes erwerben. Er wollte die Sache überlegen.

Es eilte nicht. Er hatte Zeit, seine Pläne zu bilden. Das Schwerste war bereits gethan. Rantaine auszuplündern, mit der Durande verschwinden, dies hatte die größten Schwierigkeiten gemacht. Sie waren glänzend überwunden. Der Rest war einfach. Nichts stand zu befürchten, nichts konnte ihm zustoßen. Die Küste war durch Schwimmen zu erreichen. In der Nacht wollte er in Plainmont landen, das Felsufer erklimmen und sich unverzüglich in das Geisterhaus begeben, was ihm mit Hülfe eines Taues mit Knoten, das er schon in einer Felsöffnung versteckt hatte, ohne Mühe gelingen mußte. In jenem Hause fand er sein Felleisen mit trockenen Kleidern und Lebensmitteln. Dort wollte er die Ankunft spanischer Schmuggler abwarten, die, wie man ihn benachrichtigt hatte, vor Ablauf einer Woche Plainmont berühren würden. Diese Schmuggler sollten ihn für einige Guineen nicht nach Tor Bay schaffen, wie er, um etwaige Berechnungen zu verwirren, mit Blasko, einem der Gesellen verabredet hatte, sondern ihn bis Passages oder Bilboa befördern. Von dort wollte er sich nach Vera-Cruz oder New-Orleans begeben. – Jetzt kam der Augenblick, wo er sich in’s Meer stürzen mußte. Die Schaluppe war fern; eine Stunde lang schwimmen, hatte für Clubin nichts zu bedeuten. Nur eine Meile See trennte ihn vom Lande, denn er stand auf dem Hanoisfelsen. Als er mit diesen Gedanken beschäftigt war, zerriß die Nebelwand an einer Stelle. Der entsetzliche Douvresfelsen tauchte vor ihm auf.

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Siebentes Capitel. Ein unerwarteter Zwischenfall.

Clubin betrachtete ihn mit verstörtem Blick.

Es war wirklich die furchtbare einsame Klippe.

Wer konnte ihre mißgeformte Silhouette verkennen! Die beiden Douvreszwillinge starrten gräßlich empor und zeigten ihren, einer Fallgrube ähnlichen Engpaß, den man die Mörderhöhle des Oceans hätte nennen können.

Sie waren ganz in der Nähe. Der Nebel hatte sie versteckt, als seien sie Mitschuldige.

Die Undurchsichtigkeit der Luft war schuld, daß Clubin eine falsche Richtung einschlug. Ungeachtet aller Aufmerksamkeit erging es ihm wie den großen Seefahrern Gonzalez und Fernandez, von denen ersterer das weiße und letzterer das grüne Vorgebirge entdeckte. Der Nebel hatte ihn irregeleitet. Clubin fand ihn zur Ausführung seines Planes sehr vortheilhaft, doch schloß er Gefahr in sich. Der Capitän hatte geglaubt, die westliche Richtung innezuhalten, allein er täuschte sich und der Guerneseyer führte in der Meinung, den Hanois vor sich zu sehen, die letzte Schwenkung des Schiffes herbei. Die Durande stand von einer unterseeischen Klippe durchstoßen, nur einige Kabellängen von den beiden Douvresfelsen entfernt. Zweihundert Faden weiter bemerkte man einen plumpen Würfel von Granit. Die steilen Wände dieses Felsens zeigten Rillen und Vorsprünge, vermittelst deren er sich erklimmen ließ und die gradlinigen Ecken und rechten Winkel ließen auf seinem Gipfel ein Plateau vermuthen.

Es war der »Mann.«

Er überragt selbst die Douvresfelsen. Seine Plattform beherrscht ihre doppelten, unnahbaren Spitzen. Ihr Stand, der in Stufenform abfallend eine Art Gesims bildet, hat eine sonderbare, gewissermaßen kunstgerechte Regelmäßigkeit. Man kann sich nichts Oederes und Schaurigeres vorstellen als diesen Felsen. Die Sturzwellen der hohen See falten ihre Gewänder ungestört auf den viereckigen Fronten dieses riesigen schwarzen Sumpfes, einer Art Piedestal für die zahllosen Gespenster des Meeres und der Nacht.

Der ganze Ort hatte augenblicklich etwas Bedrückendes, Schläfriges. Kaum ein Luftzug, kaum ein Wellengekräusel. Man ahnte unter dieser stummen Wasserfläche ein reiches, verborgenes Leben der Finsterniß.

Clubin hatte die Douvresklippen oft von ferne gesehen.

Er täuschte sich nicht über die Stelle, an der er sich befand.

Kein Zweifel!

Plötzlicher, grauenhafter Wechsel. Die Douvresfelsen anstatt der Hanois. Nicht eine, nein, fünf Seemeilen vom Lande entfernt! Fünf Seemeilen! Unmöglich, nach dem Strand zu schwimmen. Die Douvresfelsen sind für den einsamen Schiffbrüchigen die sichtbare und fühlbare Gegenwart des letzten Augenblicks. Er darf und soll die Erde nicht wieder betreten.

Clubin schauderte. Er selbst hatte sich in den Rachen des Todes gestürzt. Keine Zuflucht als den »Mann.« Wahrscheinlich brach während der Nacht der Sturm los und die überladene Schaluppe der Durande schlug um. Keine Kunde von dem Schiffbruch erreichte den Strand. Es wurde nicht einmal bekannt, daß Clubin auf den Douvresklippen allein zurückgeblieben war. Keine Aussicht, als vor Kälte und Hunger umzukommen. Seine siebenzigtausend Franken verschafften ihm keinen Bissen Brot. All‘ seine mühsamen Zurüstungen fanden endlich in dieser Falle ihr Ziel. Er war der fleißige Baumeister seines eigenen Grabgewölbes. Keine Hülfe. Kein möglicher Glückfall. Sein Sieg bereitete ihm den Untergang; Gefangenschaft anstatt Erlösung; Todesnoth, wo er langes Lebensglück gehofft hatte. Ein Augenblick, die Zeit, welche ein Blitz zum Aufzucken nöthig hat, genügte, um seinen künstlichen Bau einzustürzen. Das geträumte Paradies dieses Dämons erschien ihm in seiner eigentlichen, wahren Gestalt – der Leichengruft.

Mittlerweile hatte sich der Wind wieder eingestellt. Der zerrissene, auseinandergetriebene Nebel jagte in großen, unförmlichen, wirren Ballen dem Horizont entgegen. Das ganze Meer war wieder sichtbar.

Die Ochsen, mehr und mehr durch die Fluth im Schiffsraum bedrängt, fuhren fort zu brüllen.

Die Nacht zog herauf und wahrscheinlich auch der Orkan.

Durch das steigende Meer allmählig emporgehoben, schwankte die Durande von links nach rechts, dann von rechts nach links, bis sie anfing, sich auf der Klippe zu drehen, als sei diese ein Zapfen.

Man sah den Augenblick kommen, wo eine Sturzsee sie losreißen und überfluthen würde.

Es war jetzt weniger finster, als zur Zeit des Schiffbruchs! Man konnte die Gegenstände deutlicher erkennen, obgleich der Abend vorgerückt war. Der Nebel hatte die Finsterniß durch sein Verschwinden gelichtet. Im Westen stand nicht mehr das kleinste Gewölk. Die Dämmerzeit gewährt uns oft einen schönen, klaren Himmel. Die Helle eines solchen erglänzte jetzt auf dem Meere. Das Schiff war in einer Weise gestrandet, daß der vordere Theil sich auf dem Grunde befand, während das Hinterdeck frei aus dem Wasser emporragte. Dort stellte Clubin sich auf und ließ sein Auge am Horizont haften.

Es ist eine Eigenheit des Heuchlers, daß er sich mit Hast an jede Hoffnung klammert. Er lebt in steten Erwartungen. Die ganze Heuchelei ist nichts als eine große verabscheuungswürdige Hoffnung; oder letztere bildet vielmehr das Fundament jener großen Lüge und wird in Verbindung mit derselben ein Laster.

Sonderbar, daß der Heuchler Zuversicht hegt; er verläßt sich auf die Gleichgültigkeit einer Vorsehung, welche das Böse zuläßt.

Clubin erblickte die Meeresfläche.

Die Lage war verzweifelt, seine düstere Seele war es nicht. Er sagte sich, daß die Schiffe, welche unter dem Nebel aufgebraßt lagen oder Anker geworfen hatten, ihre Fahrt fortsetzen und vielleicht in Sicht kommen würden.

Und so geschah es; in der Ferne zeigte sich ein Segel. Es kam aus Westen und bald konnte man die Gestalt des Fahrzeuges erkennen. In der Weise eines Schooners ausgerüstet, hatte es nur einen Mast und der Bugspriet war fast horizontal. Hieraus zu schließen, mußte es ein Kutter sein.

Noch vor Ablauf einer halben Stunde segelte er nahe an den Douvresfelsen vorüber.

Clubin sagte sich: Ich bin gerettet.

Wer sich in einer solchen Lage befindet, ist zunächst auf Erhaltung seines Lebens bedacht.

Der Kutter mochte vielleicht ein fremder sein. Wer weiß, ob er nicht Schmugglern gehörte, die nach Pleinmont reisten? Oder war es Blasco selber, der mit ihm segelte? In diesem Fall war nicht nur Clubin’s Leben gerettet, sondern auch sein Glück gemacht und er durfte seine Bekanntschaft mit den Douvresfelsen ein günstiges Ereigniß nennen, weil es den Abschluß seiner Flucht beschleunigte, ihn des Wartens in dem Geisterhause überhob und sein Abenteuer auf der See ihn bald vollenden ließ.

Die volle Gewißheit des Gelingens drang wieder mit wahnsinniger Gewalt in seine düstere Seele.

Es ist seltsam, wie leicht ein Schurke geneigt ist zu glauben, daß ihm der Erfolg nicht fehlen könne.

Eins blieb jedoch noch zu thun.

Die Durande vermischte, an der Klippe haftend, ihre Formen mit denen der Felsen und vermehrte die Zahl der Spitzen und Zacken noch um einige. Sie verlor sich unter der Menge und konnte in der Dämmerung möglicherweise von dem vorübersegelnden Schiffe nicht erkannt werden. Doch eine menschliche Gestalt, die auf dem Felsen des »Mannes« stehend, Zeichen der Verzweiflung machte und sich in der halbdämmerigen Luft schwarz vom Hintergrunde abhob, mußte die Aufmerksamkeit ohne Zweifel erregen. Man würde jedenfalls ein kleines Fahrzeug abschicken, um den Schiffbrüchigen einzuholen.

Der »Mann« maß nur zweihundert Klafter. Er war durch Schwimmen leicht zu erreichen und auch nicht schwierig zu erklimmen.

Das Vordertheil der Durande steckte im Wasser, deshalb mußte Clubin von der Höhe des Hinterdecks, wo er eben stand, in die See springen. Er warf ein Senkblei hinunter und sah, daß der Grund sehr tief war. Sehr kleine Muscheln, welche der Schlamm mit nach oben brachte, bewiesen durch ihre Frische und Unberührtheit, daß der Felsen tiefe Höhlen enthielt, in denen das Wasser, so bewegt auch die Oberfläche sein mochte, stets ruhig war.

Er entledigte sich seiner Kleider und ließ dieselben auf dem Verdeck. Auf dem Kutter hoffte er andere zu finden.

Nur seinen ledernen Gürtel behielt er um den Leib. Er schnallte ihn fest, tastete nach der eisernen Büchse, maß mit den Augen die Richtung, welche er zwischen den Brandungen und Wogen einzuschlagen hatte, um den »Mann« zu erreichen und stürzte dann, den Kopf vorgestreckt, sich in das Meer. Der Fall war ein tiefer.

Endlich erreichte er den Grund, ging einen Augenblick an den Felsen vorbei unter dem Wasser hin und gab sich dann einen Stoß, um die Oberfläche zu erreichen.

In diesem Augenblick fühlte er sich am Fuß ergriffen.

Siebentes Buch. Es ist unklug, Fragen an ein Buch zu richten.


Erstes Capitel. Die Perle in der Tiefe des Abgrundes.

Einige Minuten nach seiner kurzen Unterredung mit Sieur Landoys erschien Gilliatt in St. Sampson.

Er war unruhig bis zur Seelenangst. Was konnte vorgefallen sein?

St. Sampson glich einem aufgestörten Bienenschwarm. Alles war vor den Hausthüren. Die Weiber jammerten. Sah man irgendwo Personen, welche gesticulirten und etwas zu erzählen schienen, so schaarte man sich um dieselben. »Welch‘ Unglück!« riefen manche, andere lächelten.

Gilliatt richtete an Niemand eine Frage. Dies lag nicht in seinem Wesen. Außerdem war er zu erregt, um mit gleichgültigen Menschen zu sprechen. Er mißtraute nacherzählten Dingen und erfuhr lieber den ganzen Sachverhalt aus sicherer Quelle; deshalb ging er gerades Weges zum Hause der » Bravées

Seine Unruhe war so heftig, daß er sich nicht einmal fürchtete, dort einzutreten. Die auf den Hafendamm führende Thür des niedrigen Saales stand weit offen. Auf der Schwelle war ein Gewühl von Männern und Frauen. Jeder ging in das Haus, er machte es ebenso.

Bei seinem Eintritt fragte Sieur Landoys, der an der Thüreinfassung lehnte, ihn mit halber Stimme:

– Sie wissen wohl ohne Zweifel, was geschehen ist?

– Nein!

– Ich wollte es Ihnen unterweges nicht entgegenrufen, um keinen Unglücksvogel vorzustellen.

– Was giebt es denn?

– Die Durande ist gescheitert.

Der Saal war mit Menschen gefüllt.

Man sprach leise, wie in einem Krankenzimmer.

Die Versammelten – Nachbarn, Reisende und allerhand neugierige Menschen, die ihr Weg zufällig vorübergeführt hatte, hielten sich dichtgedrängt mit einer Art Scheu in der Nähe des Einganges und ließen den Hintergrund des Saales frei, wo man neben der weinenden Deruchette Mess Lethierry stehen sah.

Er lehnte mit dem Rücken an der Zwischenwand. Sein Matrosenhut war bis über seine Augenbrauen herabgezogen und eine Locke grauen Haares hing an seiner Wange herunter. Er sprach kein Wort. Seine Arme waren keiner Bewegung fähig und seinem Mund schien der Athem zu fehlen. Wie ein lebloses Bild stand er an der Mauer.

Man sah in ihm einen Menschen, dessen Lebensfaden sich abspann. Durande war nicht mehr, deshalb hatte Lethierry keinen Grund, weiter zu leben. Sein Herz hing an der See – jetzt stockte dies Herz – was sollte aus ihm werden?

Die Durande nicht mehr erwarten, nicht mehr abfahren, nicht mehr ankommen sehen! Was ist ein Leben ohne Zweck? Essen und trinken – und dann? Dieser Mann hatte all‘ seine Arbeiten durch ein Meisterwerk gekrönt und durch die ganze Hingebung seiner selbst einen Erfolg errungen. Der Erfolg war vernichtet, das Meisterstück zerstört. Sollte er noch einige leere Jahre hinleben? Weshalb? Keine Arbeit künftig mehr! In seinem Alter fängt man nicht wieder von Neuem an zu schaffen; er war zu Grunde gerichtet. Armer, alter, braver Mann! Deruchette saß weinend auf einem Stuhl neben Mess Lethierry und hielt seine Faust in ihren beiden Händen. Die Hände waren gefaltet, die Faust fest geschlossen. Hierin zeigte sich die Gemüthsstimmung der beiden Niedergeschlagenen. Das Falten deutete auf einige Hoffnung hin, das Schließen sagte, daß alles zu Ende sei.

Mess Lethierry hatte Deruchette seine Hand überlassen. Er verhielt sich völlig unthätig und schien nicht mehr Lebensfähigkeit zu besitzen, als Jemand, den der Blitz trifft.

Wenn wir in der Tiefe des Unglücks gewisse Stufen erreichen, so werden wir den Lebenden entrückt. Die Menschen kommen in unser Zimmer und gehen darin umher, ohne daß wir ein deutliches Bild von ihnen haben; sie sind nur auf halbe Armlänge von uns getrennt und können doch nicht nahe an uns herantreten. Wir sind ihnen unerreichbar und sie sind uns in unzugängliche Gebiete entrückt. Glück und Verzweiflung können nicht in ein und demselben Luftstrich bestehen. Der Hoffnungslose lebt in weiter Entfernung von seinen Mitbrüdern, weiß kaum, daß sie da sind und verliert selbst das Gefühl seiner eigenen Existenz. Mag man auch in einer lebendigen Hülle stecken, die wirkliche Empfindung des Seins ist verschwunden; man führt ein Schattenleben. Mess Lethierry befand sich auf einem solchen Standpunkt.

Die Gruppen flüsterten. Man theilte einander die bekanntgewordenen Nachrichten mit.

Die Durande – so hieß es – war eine Stunde vor Sonnenuntergang in Folge des Nebels auf die Douvresfelsen gerannt und gescheitert. Mit Ausnahme des Capitains, der sein Schiff nicht verlassen wollte, wurden Mannschaft und Reisende durch die Schaluppe gerettet. Ein, nach dem Verschwinden des Nebels plötzlich ausbrechender Sturmwind brachte das Fahrzeug in Gefahr unterzugehen und trieb es jenseits Guernesey auf die hohe See. In der Nacht führte sein gutes Glück ihm den »Cashmir« entgegen, der die Reisenden aufnahm und nach St. Pierre-Port brachte. Die ganze Schuld traf Tangrouille, den Steuermann, der jetzt im Gefängniß saß. Clubin hatte hochherzig gehandelt.

Die unter der Menge stark vertretenen Lootsen legten einen besondern Ausdruck auf das Wort: Douvresklippen. – Schlechtes Wirthshaus! sagte einer unter ihnen.

Auf dem Tisch sah man einen Compaß und ein Packet Geschäftsbücher und Register – ohne Zweifel die der Durande zugehörigen, welche Clubin, Imbrancam und Tangrouille im Augenblick der Abreise übergeben hatte. Herrliche Selbstverläugnung jenes Mannes, im Augenblick, wo er sich dem Tode preisgab, alles, selbst die Papiere zu retten. Eine kleine Handlung und doch so groß; erhabenes Vergessen der eigenen Person!

Man vereinigte sich in der Bewunderung für Clubin und ebenso in dem Glauben, er sei trotz aller Gefahr gerettet. Der Kutter Shealtiel war eine Stunde nach dem Cashmire eingelaufen und brachte die letzten Nachrichten über die Durande. Er hatte während des Nebels vierundzwanzig Stunden unfern dieses Schiffes ausgeharrt und bei dem Sturm in jenen Gewässern lavirt. Der Führer des Shealtiel befand sich unter den Anwesenden. Er hatte Mess Lethierry Bericht über jene Vorgänge abgestattet und endigte denselben im Augenblick, als Gilliatt in den Saal trat.

Es war ein gründlicher Bericht.

Bei Tagesanbruch, als der Sturm nachließ, hörte der Führer des Shealtiel auf hoher See ein Gebrüll. Diese Töne, welche sonst wohl auf Wiesen erschallen, aus den Meereswellen zu vernehmen, befremdete ihn. Er steuerte nach jener Richtung und bemerkte inmitten der Douvresklippen die Durande. Die See war ruhig genug, um ihn bis in die Nähe vordringen zu lassen. Er kündigte sein Kommen durch das Sprachrohr an, allein nur das Brüllen der Ochsen, die im Schiffsraum mit dem Ertrinken kämpften, antwortete ihm. Er war überzeugt, daß sich kein menschliches Wesen am Bord der Durande befand. Das herrenlose Fahrzeug war zum Theil wohlerhalten und trotz der Heftigkeit des Sturmes hätte Clubin die Nacht darin verleben können. Er war nicht der Mann, seine Rechte sobald aufzugeben. Da er sich nicht auf dem Schiff befand, durfte man an seine Rettung glauben. Mehrere Slupen und Lugger von Granville und St. Malo mußten, dem Seenebel entronnen, am Abend des vorigen Tages ziemlich nahe an den Douvresfelsen vorübergekommen sein. Eins dieser Fahrzeuge hatte jedenfalls den Capitän aufgenommen. Man dürfe nicht vergessen, daß die mit Menschen angefüllte Schaluppe des gescheiterten Schiffes großen Gefahren entgegen ging und durch eine Person mehr überladen worden wäre, was ihr Umschlagen hätte herbeiführen können. Der Gedanke an diese Wahrscheinlichkeit bestimmte Clubin, auf dem Wrack zu bleiben; doch nach Erfüllung seiner Pflicht würde er keinenfalls gezögert haben, sich von einem rettenden Schiffe aufnehmen zu lassen. Er war ein Held, kein Dummkopf. Ein Selbstmord wäre um so ungereimter gewesen, als Clubin sich nichts vorzuwerfen hatte. Tangrouille war der Schuldige, nicht Clubin. Alles dies mußte den Menschen einleuchten. Der Führer des Shealtiel hatte unverkennbar Recht und Jedermann erwartete Clubin einen Augenblick um den andern. Es wurde beschlossen, ihn im Triumph auf den Händen zu tragen.

Zwei Gewißheiten gingen aus dem Bericht hervor: Clubin war gerettet, die Durande verloren.

Was letztere betraf, so mußte man sich in das Unvermeidliche fügen: die Vernichtung war eine völlige; der Führer des Shealtiel sah den letzten Vorgängen des Schiffbruchs zu. Der äußerst spitze Felsen, welcher die Durande wie ein Nagel durchbohrte, hatte während der ganzen Nacht Stich gehalten und den Windstößen widerstanden, als wolle er das herrenlose Schiff für sich behalten, aber am Morgen, wo der Shealtiel, überzeugt, daß Niemand seiner Hülfe bedürfe, sich von der Durande entfernte, hob eine einzige Sturzwelle – wie ein letzter Zornesausbruch des Ungewitters die Durande wüthend empor, riß sie von der Klippe und schleuderte sie mit der Schnelligkeit eines Pfeiles zwischen die beiden Douvresfelsen. – Man hörte ein teuflisches Gekrache, erzählte der Schiffer; – durch die Welle zu einer gewissen Höhe emporgehoben, war die Durande bis an die Rippen in den schmalen Paß der beiden Felsen niedergeschleudert und auf’s Neue festgenagelt, nur dauerhafter, als durch die unterseeische Klippe. Dort blieb sie in beklagenswerther Lage haften, allen Winden und Wogen preisgegeben.

Drei Viertel des Fahrzeuges waren nach Aussage der Mannschaft des Shealtiel bereits zerschmettert. Es wäre schon in der Nacht gänzlich vernichtet worden, hätten die Klippen es nicht festgehalten und unterstützt. Der Führer des Shealtiel hatte das Wrack genau durch sein Fernrohr betrachtet. Er schilderte alle Einzelheiten der Zerstörung mit seemännischer Genauigkeit. In einigen Tagen mußte von der Durande voraussichtlich jede Spur verloren sein.

Doch die Maschine war merkwürdiger Weise in der allgemeinen Verwüstung fast ganz wohlerhalten geblieben, ein Zeichen ihrer Tüchtigkeit. Der Führer des Shealtiel konnte auch dies versichern. Die Masten waren zerbrochen, doch der Schornstein stand noch an seinem Platz. Die Radgehäuse waren zerquetscht, die Treträder hatten gelitten, aber die Laufräder schienen nicht eine Schaufel verloren zu haben. Die Maschine war nach des Schiffsführers Ueberzeugung unverletzt und auch Inbrancam, der Heizer, welcher sich unter der Menge befand, theilte diesen Glauben. Der Neger, verständiger als mancher Weiße, war ein Bewunderer der Maschine. Er hob die Arme empor, breitete die zehn Finger seiner schwarzen Hände aus und sagte durch dieses stumme Zeichen zu Lethierry: »Meister, die Maschine lebt!«

Da Clubin gerettet zu sein schien und der Rumpf der Durande verloren war, bildete die Maschine den Hauptgegenstand der Unterhaltung. Man interessirte sich für sie, als sei sie eine Person und bewunderte ihre gute Construction. – Eine wackere Gevatterin! sagte ein Lootse. – Eine brauchbare! rief ein Guerneseyer Fischer. – Sie muß es schlau angefangen haben, sich mit zwei oder drei Schrammen aus dem Handel herauszuziehen, fügte ein Anderer hinzu. Nach und nach wurde alles Andere über der Maschine vergessen. Man nahm für und wider sie Partei. Sie hatte ihre Freunde und Feinde. Mehr als ein Besitzer eines guten, alten Segelkutters, welcher sich Hoffnung auf die Kundschaft der Durande machte, war nicht erzürnt darüber, daß die Douvresklippen der neuen Erfindung ihr Recht hatten angedeihen lassen. Das Geflüster ging in Geräusch über. Man erörterte die Sache mit vieler Lebendigkeit. Dennoch lag auch noch in diesem lauten Wesen eine gewisse Zurückhaltung und alle Stimmen senkten sich von Zeit zu Zeit unter dem Druck, welchen Lethierry’s Grabesschweigen ausübte.

Das Ergebniß der bis in’s Einzelne ausgeführten Erörterung stellte sich als folgendes heraus:

Die Maschine war sehr wichtig; man konnte vielleicht ein neues Fahrzeug bauen, doch die Maschine ließ sich nicht erneuern. Es gab keinen Ersatz für sie. Zur Anfertigung einer ähnlichen fehlte das Geld und mehr noch die Arbeiter. Man wußte, daß der Erbauer der Maschine gestorben war. Sie hatte vierzigtausend Francs gekostet. Niemand würde in Zukunft ein solches Capital an eine so unsichere Sache setzen und zwar um so weniger, als sich herausgestellt hatte, daß Dampfer ebenso leicht zu Grunde gehen, als Segelschiffe. Das neueste Schicksal der Durande hob all‘ ihre früheren Erfolge auf. Dennoch war es zu beklagen, daß jene Maschine, gegenwärtig noch unbeschädigt, nach fünf bis sechs Tagen wahrscheinlich unbrauchbar sein würde, wie das Schiff. So lange sie noch vorhanden war, konnte man eigentlich von keinem Scheitern sprechen. Nur der Verlust der Maschine ließ sich nicht ersetzen. Sie retten, würde das Unglück gut machen heißen. – Retten! dies war leicht gesagt. Wer aber würde sich dazu hergeben? Ließ sich die Sache überhaupt ausführen? Unternehmen und Gelingen sind zweierlei, wie ein Traum leicht geträumt, aber schwer verwirklicht wird. Gab es irgend ein unverständiges, unsinniges Fantasiegebilde, so war es der Plan, die an den Douvres gescheiterte Maschine zu retten. Es wäre albern gewesen, ein Fahrzeug mit Arbeitern nach jenen Felsen zu schicken; denn die Jahreszeit der Stürme war da. Der erste Orkan hätte die Ankerketten an den Graten der unterseeischen Klippen zersägt und das Schiff wäre an dem Felsen zerschellt. Dies hieße dem ersten Wrack ein zweites nachschicken. In der Vertiefung des Plateaus der höchsten aller Douvresklippen, in welcher jener sagenhafte Schiffbrüchige einst Schutz fand und endlich Hungers starb, hatte kaum eine Person Platz. Um die Maschine zu retten, mußte also ein Mann nach dem Felsen schiffen und dort – in vollständiger Meereinsamkeit, fünf Meilen vom Strande ganze Wochen verleben, allein inmitten dieser furchtbaren Region hausen; unerwarteten und ungeahnten Ereignissen entgegensehen, ohne Erfrischungsmittel an Speise und Trank bei körperlicher Erschöpfung zur Hand zu haben, ohne sich in seiner Einsamkeit irgend einer Hülfsleistung Anderer zu erfreuen, geschieden von jeder Spur des Daseins menschlicher Wesen, außer jener alten, die der vor Hunger und Durst dahingeschiedene Schiffbrüchige, sein Genosse, auf dem Felsen zurückgelassen hatte. Und wie war, selbst wenn sich Jemand dazu bereit fände, diesen Gefahren zu trotzen, die Rettung der Maschine zu bewerkstelligen? Der Betreffende mußte Matrose und Schmied in einer Person sein. Und welch‘ eine Arbeit würde es sein? Der Mensch, welcher sich ihr unterzogen, hätte mehr als ein Held sein müssen. Ein Narr! Denn bei gewissen riesigen Unternehmungen, die übermenschliche Kräfte erfordern, ist der Muth der Unternehmung nicht Muth, sondern Wahnsinn. Wäre es, die Sache nach allen Seiten erwogen, nicht eine Ueberspannung, altem Eisenwerk zu Liebe, sein Leben auf’s Spiel zu setzen? Nein, Niemand würde sich entschließen, nach den Douvresfelsen zu gehen. Die Maschine mußte, wie das Uebrige, den Wellen preisgegeben werden. Ein Retter, wie man ihn brauchte, konnte nicht erscheinen. Wo wäre solch ein Mensch zu finden?

Obige Betrachtungen waren, in etwas anderer Form ausgedrückt, das Wichtigste der Unterhaltung, welche die Menge halblaut pflog.

Der Führer des Shealtiel, ein alter Lootse, drückte den gemeinsamen Grundgedanken durch folgenden lauten Ruf aus:

– Nein, es ist alles zu Ende! Der Mann, welcher nach den Felsen schiffen würde, um die Maschine zu retten, lebt nicht auf Erden.

– Wenn ich es nicht thue, so ist bewiesen, daß Niemand dorthin gehen kann, fügte Imbrancam hinzu.

Der Andere ergriff seine Hand und schüttelte dieselbe mit jener Derbheit, welche die Ueberzeugung der Unmöglichkeit ausdrücken sollte, indem er erwiederte:

– Wenn er sich fände – –

Deruchette wandte den Kopf nach ihm um.

– So würde ich ihn heirathen, sagte sie.

Ein Schweigen entstand.

Da trat ein Mann mit sehr bleichem Angesicht aus einer der Gruppen hervor und sagte:

– Sie würden ihn heirathen, Miss Deruchette?

Es war Gilliatt.

Alle Augen hatten sich erhoben. Mess Lethierry richtete sich kerzengerade empor. Ein seltsames Feuer schimmerte in seinen Blicken.

Er griff mit der Hand nach seinem Matrosenhut und warf ihn auf den Fußboden, sah dann mit feierlichem Ausdruck vor sich hin, ohne einen der Anwesenden in’s Auge zu fassen und rief:

– Deruchette würde ihn heirathen. Ich gebe dem guten Gott mein Ehrenwort darauf.

————

Zweites Capitel. Großes Erstaunen auf der Westküste.

In der Nacht, welche diesem Tage folgte, leuchtete der Mond von zehn Uhr Abends an. So günstig indeß die Nacht, der Wind und die See zu sein schienen, dachte kein Fischer von Hogue de la Perre, Bourdeaux, Houmet Bellet, Platon, Port Grat, Bason, Perrelle Bay, Pezeris, Tielles, Baie des Saints, Petit Bô und Guernesey daran, auf’s Meer zu fahren. Dies war natürlich, denn der Hahn hatte um Mitternacht gekräht.

Wenn nämlich zu außergewöhnlicher Zeit Hahnenschrei erschallt, geht der Fischfang fehl.

Bei Anbruch der Nacht erlebte ein nach Omptolle heimkehrender Fischer eine Ueberraschung.

Auf der Höhe von Houmet Paradis, jenseits der Broyes und Grunes, zwischen der Bake der Plattes Fougères, welche die Gestalt eines umgestülpten Trichters hat, und der von St. Sampson, welche eine Männerfigur darstellt, glaubte er eine dritte Bake zu bemerken. Was hatte dies für eine Bewandtniß? Wann war sie dort aufgepflanzt worden? Welche Untiefe bezeichnete sie? Die Bake selber gab Antwort auf seine Fragen, indem sie sich bewegte. Es war ein Mast. Das Erstaunen des Fischers ward nicht verringert. Eine Bake gab ihm zu denken, ein Mast noch mehr. Fischerei war unmöglich. Alle Welt begab sich nach Hause, einer nur zog aus. Wer? Weshalb?

Zehn Minuten später kam der sich langsam bewegende Mast in der Nähe des Fischers von Omptolle an. Die Barke war nicht zu erkennen, doch hörte man Ruderschläge. Nach dem Geräusch zu urtheilen, waren nur zwei Ruder thätig, also befand sich wahrscheinlich nur ein Mann in dem Fahrzeug. Der Wind kam aus Norden. Augenscheinlich legte der Mann es darauf an, jenseits der Landzunge von Fontenelle Gebrauch von den Segeln zu machen und beabsichtigte demnach, Ancresses und den Berg Crevel zu umschiffen. Was sollte dies bedeuten?

Der Mast zog vorüber und der Fischer langte daheim an.

In derselben Nacht machten Manche, die sich an der Westküste von Guernesey befanden, zu verschiedenen Stunden und von verschiedenen Punkten ebenfalls Beobachtungen.

Eine halbe Meile weit von der Stelle, wo der Fischer von Omptolle seine Barke anschloß, sah ein Meergraskärrner, der auf der einsamen Straße von Clôtures seine Pferde peitschte, daß in ziemlicher Ferne am Horizont ein Segel gespannt ward. Die Stelle wurde wenig befahren, denn der Roque-Rord und die Sablonneuse lagen in der Nähe. Der Fuhrmann schenkte diesem Umstand jedoch keine besondere Aufmerksamkeit, da es sich um ein Schiff und nicht um einen Wagen handelte.

Etwa eine halbe Stunde, nachdem der Kärrner jenes Segel bemerkte, befand sich ein Gipsmacher, der von seiner Arbeit aus der Stadt heimkehrte und am linken Ufer des Sumpfes von Pelée dahinging, plötzlich fast unmittelbar vor einer Barke, die sich mit großer Kühnheit zwischen die Klippen des rothen Meeres, der Gripe de Rousse und die Felsen von Quenon gewagt hatte. Die Nacht war finster, das Meer aber hell, – eine häufige Erscheinung, – und man konnte auf der hohen See die aussegelnden und heimkehrenden Schiffe unterscheiden.

Einige Zeit darauf fragte sich ein Seeheuschreckensammler, der seinen Kasten auf der Sandfläche niedersetzte, welche den Port Soif von dem Port Enfer trennt, worauf die Barke, die er zwischen der Boue Corneille und der Moulrette dahingleiten sah, wohl ausginge?

Man mußte ein tüchtiger Lootse sein und dringende Veranlassung zum Reisen haben, um sich solcher Gefahr auszusetzen.

Als es in Catel acht Uhr schlug, entdeckte der Schenkwirth von Cobo Bay mit einigem Erstaunen jenseits der Boue und Grunettes in der Nähe von Suzanne ein Segel.

Nicht weit von Cobo Bay auf der einsamen Landzunge von Houmet, welche die Bucht von Bason bildet, waren zwei Liebende im Begriff sich zu trennen und heimzukehren.

»Ich verlasse Dich, nicht weil ich ungern bei Dir bin, sondern weil ich nicht länger bleiben darf,« – sagte das Mädchen zu dem Burschen. Im Begriff, sich den Abschiedskuß zu geben, wurden sie durch eine ziemlich große Barke gestört, welche nahe an ihnen vorüberfuhr und nach den Messelettes steuerte.

Monsieur Le Peyre des Norgiots, der den Cotillon Pipet bewohnte, untersuchte um neun Uhr eine Oeffnung, welche Herumstreicher in die Hecke seines Hanffeldes, der Jennerotte, gemacht hatten. Doch selbst in dem Augenblick, wo er sich über den Schaden Gewißheit verschaffte, konnte er nicht umhin, eine Barke zu beobachten, die bei dieser Nachtzeit waghalsig den Crocq Point umschiffte.

Jene Straße war am Tage nach einem Unwetter, wo das Meer noch immer in einiger Erregung ist, sehr unsicher. Wer genaue Kenntniß des Fahrwassers hatte, handelte thöricht, die Fahrt zu unternehmen.

Ein Sacknetzfischer, der seine Geräthe heimtrug, mäßigte seine Schritte um halb zehn Uhr zu L’Equerrier, um einen zwischen Colombelle und Souffleresse sichtbaren Gegenstand zu beobachten, der ein Fahrzeug sein mußte. Dasselbe setzte sich großer Gefahr aus. In jener Gegend herrschten heftige und sehr verderbliche Windstöße. Der Felsen führt den Namen Souffleresse, weil der Wind in seiner Nähe die Barken ungestüm anbläst.

Als der Mond aufging und die kleine Meerenge Li-Hou durch die hohe Fluth gefüllt war, wurde der einsame Wächter der Insel Li-Hou in großen Schreck versetzt. Zwischen seiner eigenen Gestalt und dem Monde erschien eine lange, schmale, schwarze Figur. Sie glich einem ausgebreiteten, wandelnden Leichentuch. Langsam glitt sie oberhalb der Felswände hin, welche durch die dortigen Untiefen gebildet wurden. Der Wächter von Li-Hou glaubte die schwarze Dame zu erkennen.

Die Residenz der schwarzen Dame ist Tau de Pez d’Amont, die der grauen Dame Tau de Pez d’Aval, die rothe Dame bewohnt La Silleuse (im Norden der Bank Marquis) und die schwarze Dame lebt auf dem Grand-Etacré im Westen von Li-Houmet. Zur Nachtzeit, wenn der Mond scheint, verlassen diese Damen ihre Residenzen und begegnen einander bisweilen auf dem Wege. Streng genommen konnte diese schwarze Gestalt ein Segel sein. Die langen Felsmauern, auf welchen sie zu wandeln schien, konnten wirklich den Rumpf einer hinter ihnen dahingleitenden Barke verbergen. Aber der Wächter fragte sich, welch‘ Fahrzeug sich wohl zu dieser Stunde in das Fahrwasser zwischen Li-Hou, la Pécheresse, les Angullières und Lérée-Point wagen würde! Und zu welchem Zweck? Es dünkte ihm wahrscheinlicher, daß jene Gestalt die schwarze Dame sei.

Als der Mond hinter dem Glockenthurm von St. Pierre du Bois hervorkam, bemerkte der Sergeant des Schlosses Rocquaine, als er die Zugbrücke gerade zur Hälfte aufgezogen hatte, daß in der Bucht eine Barke segelte und zwar nicht so weit entfernt als Sambule, doch weiter als die Haute Canée von seinem gegenwärtigen Standpunkt war. Dem Anschein nach kam sie aus Norden und zog nach Süden.

Auf der Südküste von Guernesey, hinter Plainmont befindet sich in einer Bay, deren Ufer ganz aus Abgründen und Felsenwänden besteht, ein sonderbarer Hafen, der durch steil abfallende Uferabhänge gebildet wird. Ein Franzose, der sich auf dieser Insel seit 1855 aufhält, vielleicht derselbe, welcher diese Zeilen geschrieben hat, gab ihm den Namen »der Hafen zur vierten Etage,« eine Bezeichnung, deren man sich in jener Gegend heute allgemein bedient. Damals hieß er La Moie. Er besteht aus einem Felsplateau, das halb von der Natur gebildet, halb ausgehauen ist und vierzig Fuß hoch über dem Wasserspiegel liegt. Zu letzterem gelangt man auf zwei starken nebeneinander gelegten Bohlen, deren eines Ende auf dem Rande des Plateau’s ruht, während das andere in’s Meer gestützt ist. Die Barken werden auf diesen Balken durch Armkraft an Ketten an’s Land gezogen und gehen auf dieselbe Weise denselben Weg hinunter. Für die Menschen hat man dort eine Treppe angebracht. Dieser Hafen wurde damals häufig von Schmugglern besucht. Gerade seiner Unbequemlichkeit wegen war er ihnen recht.

Gegen eilf Uhr befanden sich auf der Plattform von La Moie Schleichhändler mit ihren Waarenballen. Vielleicht waren es dieselben Männer, auf deren Kommen Clubin gerechnet hatte. Wer betrügt, ist auf der Lauer. Die Schmuggler spähten umher, ob keine Gefahr im Anzug sei, und bemerkten mit Erstaunen, daß plötzlich, jenseits der schwarzen Silhouette des Cap Plainmont ein Segel auftauchte. Der Mond schien hell. In der Befürchtung, es gehöre vielleicht zu dem Fahrzeug eines Küstenwächters, der sich hinter dem großen Hanois in den Hinterhalt legen wolle, beobachteten die Schmuggler das Segel. Doch in nordöstlicher Richtung la Boue Blondel hinter sich lassend, glitt es an den Hanoisfelsen vorbei und zog über die offene See dem bleichen Nebel am Horizont zu.

– Wohin zum Teufel fährt diese Barke? fragten sich die Schmuggler.

An demselben Abend, bald nach Sonnenuntergang klopfte Jemand an die Mauerpforte des Bû de la Rue. Es war ein Knabe mit braunen Kleidern und gelben Strümpfen, welcher Anzug ihn als Schreiber der Pfarrei bezeichnete. Die Thür wie auch die Fensterläden des alten Hauses waren verschlossen. Eine alte Frau, die sich vom Sammeln des Meerauswurfs nährte, streifte, eine Laterne in der Hand, auf der Sandbank umher, redete den Knaben an und wechselte folgende Worte mit ihm:

– Was suchst Du, Bursche?

– Den Mann, der dies Haus bewohnt.

– Er ist nicht darin.

– Wo hält er sich auf?

– Ich weiß es nicht.

– Wird er morgen daheim sein?

– Ich weiß es nicht.

– Ist er verreis’t?

– Ich weiß es nicht.

– Ich frage nur danach, weil der ehrwürdige Ebenezer Caudray, der neue Rector des Kirchspiels, ihm einen Besuch zu machen wünscht.

– Ich weiß es nicht.

– Seine Ehrwürden schickt mich, um zu fragen, ob der Herr des Bû de la Rue morgen zu Hause sein wird.

– Ich weiß es nicht.

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Drittes Capitel. Der Besuch.

Während der nächsten vierundzwanzig Stunden nahm Mess Lethierry weder Speise noch Trank zu sich, auch kam kein Schlaf in seine Augen. Er küßte Deruchette’s Stirn, erkundigte sich, ob Nachrichten von Clubin eigelaufen seien, unterzeichnete eine Erklärung, welche besagte, daß er keine Klage beim Gericht einreichen wolle und ließ Tangrouille in Freiheit setzen. Am ganzen nächstfolgenden Tage lehnte er an dem Tisch des Bureau’s der Durande, ohne seine Stellung zu verändern und antwortete freundlich, wenn man mit ihm sprach. Als die Menge ihre Neugier befriedigt hatte, zog Einsamkeit in das Haus ein. Es gewährt großen Reiz, zu beobachten, mit welchem Eifer sich die Leute zum Mitleiden bewegen lassen. Die Thür war wieder geschlossen; man hatte Mess Lethierry mit Deruchette allein gelassen. Das Licht, welches die Blicke des Ersteren eine Weile aufhellte, war wieder jenem düstern Ausdruck gewichen.

Deruchette, die sich Sorge um Mess Lethierry machte, hatte auf Douce’s und Grace’s Rath ein Paar Strümpfe, an welchen er strickte, als ihn die Unglücksbotschaft traf, schweigend neben ihn auf den Tisch gelegt. Er lächelte bitter und sagte:

– Man hält mich also für närrisch!

Nach einem viertelstündigen Schweigen fügte er hinzu:

– Solche Dinge sind angebracht, wenn man glücklich ist.

Deruchette hatte das Strickzeug wieder fortgenommen und die Gelegenheit benutzt, den Compaß und die Schiffspapiere, welche Mess Lethierry zu viel betrachtete, verschwinden zu lassen.

Nachmittags, kurz vor der Theezeit öffnete sich die Thür und zwei schwarzgekleidete Männer, der eine jung, der andere alt, traten in’s Zimmer.

Den Einen haben wir wohl schon im Lauf der Erzählung kennen gelernt.

Das Aeußere dieser beiden Männer verrieth Ernst, doch hatte dieser Ernst einen verschiedenen Charakter. Man hätte sagen können, daß der des Greises ein Amtsernst, und der des Jünglings ein natürlicher war. – Das Kleid erzeugt den einen, der Gedanke den andern.

Ihre Tracht bezeichnete die Ankömmlinge als Männer der Kirche, die sich zu der gegenwärtig herrschenden Religion bekannten. An dem jungen Mann mochte den Beobachter zunächst der Umstand überraschen, daß der tiefe Ernst seines Auges, ein Ernst, dessen Ursprung unverkennbar in seiner Vernunft lag, kein Ergebniß seiner übrigen Natur war. Der Ernst rechtfertigt die Leidenschaft des Wesens und reißt zu derselben fort, indem er sie läutert; das Bemerkenswertheste nächst jener Eigenschaft war die Körperkraft des Jünglings. Als Priester mußte er wenigstens fünfundzwanzig Jahre alt sein; doch durfte man glauben, er zähle erst achtzehn. In ihm offenbarten sich die Harmonie und der Widerspruch einer Seele, die für Leidenschaft, und eines Körpers, der für Liebe geschaffen schien. Er war blond, rosig, frisch und erschien in seiner ernsten Tracht fein und geschmeidig. Seine Wangen waren die eines jungen Mädchens, seine Hände zeichnete Zartheit aus. Er hatte einen lebhaften, ungezwungenen und doch gezügelten Gang. Alles an ihm war reizend, schön, fast verführerisch. Sein ernst-edler Blick erhöhte noch die Anmuth seines Wesens. Das aufrichtige Lächeln, welches Zähne wie die eines Kindes sehen ließ, war gedankenvoll und fromm. Er vereinigte die Zierlichkeit eines Pagen mit der Würde eines Bischofs. Unter seinen dichten blonden Haaren, die einen so lebhaften Goldschein hatten, daß man sie »coquett« nennen konnte, wölbte sich ein wohlgeformter Schädel, der auf ein Gemüth ohne Falsch schließen ließ. Eine doppelte, leichte Furche zwischen seinen Augenbrauen erinnerte an die Gestalt eines Vogels, der die Gedanken seiner Seele tragend, mit entfaltenen Schwingen auf der Stirn schwebt.

Man fühlte bei seinem Anblick, daß er zu den wohlwollenden, unschuldsvollen und reinen Wesen gehörte, die im Gegensatz zu gröberen Naturen Täuschungen sich zur Belehrung dienen lassen und durch Lebenserfahrungen zu Enthusiasten gebildet werden.

Seine spiegelreine Jugend ließ geistige Reife durchschimmern. Beim erstern Blick hätte man ihn für den Sohn, beim zweiten für den Vater des ihn begleitenden grauhaarigen Geistlichen gehalten.

Dieser war Niemand, als der Doctor Jaquemin Herode. Er gehörte zur englischen Hochkirche, welche eigentlich den Papismus ohne Papst darstellt. Der Anglicanismus äußerte sich damals durch Tendenzen, welche seitdem geklärt und dann anerkannt wurden.

Der Doctor Jaquemin Herode bekannte sich zu der Secte des Anglicanismus, die fast eine Art Katholicismus ist. Er hielt sich für vollkommen, war hochfahrend, beschränkt und gebieterisch. Sein innerer Gesichtsstrahl durchdrang kaum die Materie. Der Buchstabe diente ihm statt des Geistes. Das Uebrige ersetzte seine Erhabenheit. Seine Persönlichkeit forderte Anerkennung. Er hatte weniger das Aussehen eines Geistlichen als das eines Monsignore. Sein rechter Platz wäre Rom gewesen. Der Schnitt seines Oberrockes war ganz der des Geistlichen. Er war geborner Kammerprälat. Man sah, daß er eigens erschaffen war, um einem Papste Glanz zu verleihen und mit dem ganzen päpstlichen Hofstaat in abitto paonazzo hinter dem Tragsessel einher zu marschiren. Der Zufall, als Engländer geboren zu sein, und eine mehr auf das alte als das neue Testament gegründete Ausbildung ließen ihn jene große Bestimmung verfehlen. Seine ganze Herrlichkeit bestand kurz zusammengefaßt darin, daß er Rector von Saint-Pierre-Port, Decan von Guernesey und Amtsgehülfe des Bischofs von Winchester war. Hierin lag ohne allen Zweifel große Herrlichkeit! Alles in allem betrachtet hinderte dieselbe M. Jaquemin indeß nicht, ein leidlich braver Mann zu sein.

Als Theologe erfreute er sich der Achtung Sachverständiger und galt am Hofe des Arches, diesem Sorbonne von England, fast als Autorität. Er zeigte die Miene eines Gelehrten, blinzelte in wichtigthuerischer und übertriebener Weise mit den Augen, besaß haarige Nasenlöcher, ließ beständig die Zähne sehen, hatte eine dünne Ober- und eine dicke Unterlippe, mehrere Diplome, eine reiche Pfründe, Freunde mit dem Barontitel, das Vertrauen des Bischofs und führte stets eine Bibel in seiner Tasche. Mess Lethierry war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß der Eintritt der beiden Priester ihn nur zu einem kaum merklichen Runzeln der Augenbrauen veranlaßte.

M. Jaquemin Herode trat näher, grüßte, meldete in einigen mäßig hochtönenden Worten seine neue Berufung und fügte dann bei, daß er der Sitte gemäß komme, um seinen Nachfolger, den neuen Rector von Saint-Sampson, Ehrwürden Joë Ebenezer Caudray, Mess Lethierry’s künftigen Pastor, bei den Standespersonen des Kirchspiels, insbesondere aber bei Mess Lethierry einzuführen.

Deruchette erhob sich.

Ehrwürden Ebenezer, der junge Priester, machte eine Verbeugung.

Mess Lethierry betrachtete ihn und murmelte zwischen den Zähnen: Schlechter Matrose.

Grace rückte Stühle heran. Die beiden Ehrwürden nahmen in der Nähe des Tisches Platz.

Doctor Herode fing sogleich ein Gespräch an.

Er hatte erfahren, daß die Durande zu Grunde gegangen war. Er kam in seiner Eigenschaft als Pastor, um zu trösten und zu rathen. Dieser Schiffbruch war ein Unglück und doch wieder ein Glück. Werfen wir einen prüfenden Blick in unser Inneres. Hatte der Wohlstand uns nicht aufgebläht? Die Gewässer der Glückseligkeit sind gefährlich. Man soll das Mißgeschick nicht als etwas Böses betrachten. Die Wege des Herrn sind dunkel. Mess Lethierry war zu Grunde gerichtet. Nun, was lag daran? Reich sein, heißt in Gefahr leben. Man hat falsche Freunde. Die Armuth verscheucht dieselben. So bleibt man allein! Solus eris. Die Durande brachte, wie es hieß, jährlich tausend Pfund Sterling ein. Zuviel für den Weisen. Fliehet die Versuchungen, verachtet das Gold. Nehmet den Ruin und die Verlassenheit dankbar hin. Vereinsamung bringt reiche Früchte. Man schmeckt in ihr die Gnade des Höchsten. In der Einsamkeit beim Hüten der Eselinnen seines Vaters Sebeon fand Ahia die heißen Quellen.

Lehnen wir uns nicht gegen die unergründlichen Bestimmungen der Vorsehung auf. Nachdem der heilige Hiob im Elend gelebt hatte, wurde sein Reichthum größer denn zuvor. Wer konnte wissen, ob der Verlust der Durande nicht durch andere, sogar zeitliche Güter ausgeglichen werden würde? – So sprach Doctor Jaquemin Herode. Er selber hatte bei sehr ergiebigen Unternehmungen in Sheffield Kapitalien angelegt; wenn Mess Lethierry mit dem Rest seiner Mittel sich an dem Geschäft betheiligen wollte, würde er sein Vermögen wieder gewinnen. Die Unternehmung bestand in einer großen Waffenlieferung an den Czaaren, der Polen zu unterdrücken suchte. Man gewann dabei dreihundert Procent. – Das Wort »Czaar« schien Lethierry emporzurütteln. Er unterbrach den Doctor Herode.

– Ich will keinen Czaaren.

Der ehrwürdige Herode antwortete:

– Mess Lethierry, die Fürsten sind durch Gottes Willen da. Es stehet geschrieben: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist. Czaar heißt Kaiser.

Letthierry war schon wieder halb und halb in seinen Traum versenkt.

– Was kümmert mich der Kaiser? Ich kenne ihn nicht! sagte er.

Der ehrwürdige Jaquemin Herode fuhr in seiner belehrenden Unterhaltung fort. Keinen Kaiser wollen, heißt Republikaner sein. Mess Lethierry war Republikaner. Er konnte auch sein Vermögen leichter in den vereinigten Staaten als in England wieder erwerben. Wenn er den Rest seines Geldes um das Zehnfache vermehren wollte, durfte er nur bei der großen Pflanzer-Compagnie in Texas, die zwanzigtausend Neger beschäftigte, Actien zeichnen.

– Ich will keine Sclaverei, sagte Lethierry.

– Die Sclaverei, entgegnete der ehrwürdige Herode, ist eine geheiligte Einrichtung. Es steht geschrieben: »Wenn der Herr seinen Sclaven züchtigt, darf ihm Niemand darum zu Rechenschaft ziehen; denn er ist sein Geld.«

Grace und Douce standen auf der Schwelle und hörten mit einer Art Begeisterung den Worten des ehrwürdigen Rectors zu.

Dieser setzte seine Rede fort. Alles in allem betrachtet war er, wie wir schon vorhin sagten, ein guter Mann und wie sehr seine Standes- und persönlichen Ansichten ihn auch von Mess Lethierry trennten, so spendete er demselben doch mit voller Aufrichtigkeit allen geistlichen und selbst zeitlichen Rath, der ihm, dem Doctor Jaqumin Herode, zu Gebot stand.

Wenn Mess Lethierry bis zu einem Grade ruinirt war, daß er keiner Speculation, sei es in Rußland oder in Amerika, mit Erfolg beitreten konnte, warum trat er dann nicht in den Dienst der Regierung und suchte ein Amt mit Gehalt? Eine solche Stellung ist ehrenvoll und Sr. Ehrwürden war bereit, Mess Lethierry dazu behülflich zu sein. Die Stellung eines Abgeordneten der Vice-Grafschaft war zu besetzen. Mess Lethierry genoß allgemeine Liebe und Achtung und der ehrwürdige Herode, Decan von Guernesey, Substitut des Bischofs, machte sich anheischig, ihm die Stelle zu verschaffen. Der Vice-Grafschafts-Abgeordnete ist ein Beamter von Bedeutung; er wohnt als Repräsentant Seiner Majestät den Hauptprozessen, den Debatten der Landgerichte und den Vollstreckungen der Urtheile des Obergerichtes bei.

Lethierry heftete sein Auge auf den Doctor Herode.

– Ich bin nicht für das Henken.

Der Doctor Herode, welcher seine bisherigen Worte in gleichmäßiger Betonung gesprochen hatte, legte auf die folgenden einen Ausdruck von Strenge und sagte mit erhöhter Stimme:

– Mess Lethierry, die Todesstrafe ist eine göttliche Verordnung. Der Herr hat dem Menschen das Schwert übergeben. Es steht geschrieben: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

Der ehrwürdige Ebenezer näherte seinen Stuhl unmerklich dem des ehrwürdigen Jaquemin und flüsterte, ohne daß die Andern es hören konnten:

– Dieser Mann sagt, was ihm zu sagen eingegeben wird.

– Von wem? Durch was? fragte der ehrwürdige Jaquemin in demselben Ton.

– Durch sein Gewissen, antwortete Ebenezer ganz leise.

Der ehrwürdige Herode suchte in seiner Tasche, zog ein mit Klammern geschlossenes Buch hervor, legte es auf den Tisch und sagte mit lauter Stimme:

– Hier ist das Gewissen!

Das Buch war eine Bibel.

Doctor Herode wurde ruhiger. Er wünschte, Mess Lethierry, den er sehr achtete, nützlich zu sein. Als Pastor hatte er die Pflicht und das Recht, Rath zu ertheilen, mochte Mess Lethierry dann thun, was er wollte.

Dieser, auf’s Neue von Niedergeschlagenheit und Gedankenabwesenheit erfaßt, hörte nichts mehr. Deruchette, die neben ihm saß und durch ihre eigenen Betrachtungen in Anspruch genommen, schlug die Augen nicht auf und brachte in die so wenig belebte Unterhaltung noch den Zwang, welchen ein stummer Zuhörer auszuüben pflegt. Ein Zeuge, der nichts spricht, ist eine unerklärliche Last. Uebrigens schien der Doctor Herode von derselben nicht gedrückt zu werden.

Lethierry antwortete nicht mehr, aber Doctor Herode fuhr fort:

Ein Mensch kann Rath ertheilen, doch Gott ist’s, von dem die Eingebung kommt. In den Rathschlägen eines Priesters liegt göttliche Weisheit. Es ist gut, sie anzunehmen, und gefährlich, sie zurückzuweisen. Sochoth war von elf Teufeln besessen, weil er die Ermahnungen des Nathanael verachtete. Tiberius wurde vom Aussatz befallen, weil er den Apostel Andreas aus seinem Hause gestoßen hatte. Barjesus, obgleich ein Zauberer, verlor das Gesicht, als er die Worte des heiligen Paulus verlachte.

Elxai nebst seinen Schwestern Martha und Marthene sitzen jetzt in der Hölle, weil sie nicht glaubten, als Valencianus ihnen klar wie der Tag bewies, daß ihr Jesus Christ, acht und dreißig Meilen über ihnen, ein Teufel sei. Oolibama, auch Judith genannt, befolgte die göttlichen Rathschläge. Ruben und Pheniel gehorchten der Stimme aus der Höhe; schon ihre Namen dienen als Beweis hierfür. Ruben heißt Sohn der Vision und Pheniel bedeutet Gottes Antlitz.

Mess Lethierry schlug mit der Faust auf den Tisch.

– Meiner Seel‘, es ist mein eigner Fehler! schrie er.

– Was wollen Sie hiermit sagen? fragte M. Jaquemin.

– Ich sage, daß es mein Fehler ist.

– Ihr Fehler? Inwiefern?

– Weil ich die Durande am Freitag heimfahren ließ.

M. Jaquemin flüsterte dem M. Ebenezer Caudray in’s Ohr:

– Der Mann ist abergläubisch.

Darauf erhob er wieder seine Stimme und sagte in belehrendem Ton:

– Mess Lethierry, es ist kindisch, an den Freitag zu glauben. Man soll nicht auf Fabeln bauen. Der Freitag ist ein Tag wie alle andern; oft sogar ein glückliches Datum. Melendez gründete die Stadt St. Augustin an einem Freitag, am Freitag übertrug Heinrich VII. an Johann Cabot seine Geschäfte; am Freitag langten die Pilger der »Maiblume« in Province Town an. Freitag den zwei und zwanzigsten Februar 1732 wurde Washington geboren; Christoph Columbus entdeckte am Freitag den 12. Oktober 1492 Amerika.

Nach diesen Worten erhob sich M. Jaquemin.

Ebenezer, sein Begleiter, that dasselbe.

Grace und Douce merkten, daß die ehrwürdigen Herren Abschied nehmen wollten und öffneten die beiden Thürflügel.

Mess Lethierry sah und hörte nichts.

M. Jaquemin Herode sagte bei Seite zu Ebenezer: Er grüßt uns nicht einmal! Dies ist nicht Kummer, sondern Geisteszerrüttung. Man muß glauben, daß er den Kopf verloren hat.

Während er dies sagte, nahm er seine kleine Bibel vom Tisch und hielt sie zwischen den ausgespannten Händen, wie man einen Vogel, der nicht entfliehen soll, zu halten pflegt. Diese Art und Weise erregte bei den Anwesenden eine gewisse Aufmerksamkeit. Grace und Douce reckten die Köpfe.

Doctor Herode’s Stimme that ihr Möglichstes, um majestätisch zu klingen.

– Mess Lethierry, wir werden uns nicht trennen, ohne eine Seite in dem heiligen Buch gelesen zu haben. Man wird in allen Lebenslagen durch Bücher erleuchtet. Die Gläubigen erhalten durch die Bibel Fingerzeige. Das erste, beste, auf gut Glück geöffnete Buch giebt uns einen Rath, die Bibel dagegen giebt uns göttliche Offenbarungen. Sie eignet sich vornehmlich für die betrübten Herzen. Man schöpft unfehlbar Linderung des Schmerzes aus der heiligen Schrift. Traurigen gegenüber muß man das heilige Buch befragen, ohne eine besondere Stelle auszuwählen und alsdann mit aufrichtigem Gemüth lesen, was das Auge zuerst erblickt. Gott wählt für den Menschen. Er weiß, was uns Noth thut. Sein unsichtbarer Finger zeigt auf die unerwarteten Worte, welche wir vor uns erblicken. Sei die Seite, welche sie wolle, sie erleuchtet uns unfehlbar. Halten wir uns an diese, ohne eine andere zu suchen. Der Text, den wir mit Vertrauen und Hoffnung heraufbeschwören, verkündet uns geheimnißvoll unser Schicksal. Mess Lethierry, Sie sind in Trübsal; hier ist das Buch des Trostes; Sie sind krank, sehen Sie hier das Buch der Gesundheit!

Der ehrwürdige Jaquemin Herode öffnete dann die Bibel, ließ einen Augenblick seine Hand auf der aufgeschlagenen Seite ruhen, sammelte sich, senkte die Augen mit würdevoller Miene und las dann mit lauter Stimme:

»Isaak aber kam vom Brunnen des Lebendigen und Sehenden, denn er wohnte im Lande gegen Mittag. – –

– Und Rebecca hob ihre Augen auf und sprach zu dem Knecht: Wer ist der Mann, der uns entgegen kommt?

– Da führte sie Isaak in die Hütte seiner Mutter und sie ward sein Weib und gewann sie lieb.« 1. Buch Moses 24, 62.

Ebenezer und Deruchette sahen einander an.