I


Ein Doppelquartett

I

In diesem Jahr heckten vier junge Pariser einen »guten Spaß« aus. Einer war von Toulouse, der zweite von Limoges, der dritte von Cahors, der vierte von Montauban. Aber sie waren Studenten, und wer Student sagt, sagt Pariser. In Paris studieren heißt in Paris geboren werden.

Die jungen Leute waren unbedeutend. Jeder hat solche Gesichter gesehen; vier Stichproben vom Typ des ersten besten. Nicht gut und nicht schlecht, nicht gelehrt und nicht ohne Kenntnisse, weder Genies noch Einfaltspinsel; schön von dem reizvollen April, den man »zwanzig Jahre alt sein« nennt. Es waren irgendwelche vier Oscars; denn damals gab es die Arthurs noch nicht. »Verbrenne ihm Arabiens Düfte«, sang die Romanze, »denn Oscar naht, und sehen darf ich ihn.« Man hatte den »Ossian« in sich aufgenommen, die Eleganz war skandinavisch und schottisch. Das reine englische Genre setzte sich erst später durch, und kaum hatte der erste Arthur, Wellington, in der Schlacht bei Waterloo gesiegt.

Diese Oscars nannten sich Félix Tholomyès, aus Toulouse; Listolier, aus Cahors; Fameuil, aus Limoges; der letzte, Blachevelle, aus Montauban. Natürlich hatte ein jeder seine Geliebte. Blachevelle liebte Favourite, die so hieß, weil sie nach England gereist war. Listolier betete Dahlia an, die als Kosenamen einen Blumennamen trug. Fameuil vergötterte Zéphine, eine Abkürzung von Joséphine. Tholomyès hatte Fantine, die Blonde genannt wegen ihres schönen, sonnengoldenen Haares.

Favourite, Dahlia, Zéphine und Fantine waren vier entzückende Mädchen, duftend und strahlend, noch ein wenig Näherinnen, da sie ihre Nadel nicht ganz niedergelegt hatten. Die Liebelei hatte sie ihrer Arbeit entfremdet, aber von ihren Gesichtern ging ein Rest des frohen Genügens aus, das mit ihr verbunden ist, und in ihren Seelen blühte noch die Blume der Ehrbarkeit, die im Weibe den Verlust der Jungfräulichkeit überlebt. Eine der vier nannte man die Junge, weil sie die geringste Zahl von Jahren hatte, und eine die Alte; die Alte war dreiundzwanzigjährig. Um nichts zu verheimlichen: Die drei anderen waren im Wirrwarr des Lebens erfahrener, leichtfertiger und oberflächlicher als die blonde Fantine, die noch an ihrer ersten Illusion hing.

Dahlia, Zéphine und zumal Favourite hätten das nicht von sich sagen können. Schon mehr als eine Episode wies ihr kaum begonnener Roman auf, und der Liebhaber, der im ersten Kapitel Adolphe hieß, hieß etwa Alphonse im zweiten, Gustave im dritten. Armut und Koketterie sind zwei schädliche Ratgeberinnen; jene murrt, diese schmeichelt, und beide flüstern sie, jede auf ihrer Seite, den schönen Töchtern des Volkes ins Ohr. Die schlechtbewachten Seelen hören auf sie. Daraus erklären sich ihr Straucheln und die Gehässigkeit, die sie mit Steinen bewirft. Man entmutigt sie durch den Glanz alles dessen, was unbefleckt und unzugänglich ist. Ach! Wenn die weiße Jungfrau hungern müßte!

Favourite, die in England gewesen war, wurde von Zéphine und Dahlia bewundert. Sie hatte sehr früh eine Häuslichkeit gehabt. Ihr Vater war ein brutaler, alter Mathematikprofessor, der gaskognische Mundart sprach. Unverheiratet, gab er Privatstunden. Als er jung war, hatte er eines Tages das Kleid einer Kammerfrau sich an einem Ofenschirm anhaken sehen, und dieser Zwischenfall hatte ihn verliebt gemacht. Die Frucht war Favourite. Sie traf hin und wieder ihren Vater, der sie begrüßte. Eines Morgens war eine alte Frau, die wie eine Betschwester aussah, bei ihr eingetreten und hatte zu ihr gesagt: »Sie kennen mich nicht, Fräulein?« – »Nein.« – »Ich bin deine Mutter.« Dann hatte die Alte das Büffet geöffnet, getrunken und gegessen, eine Matratze bringen lassen, die ihr gehörte, und sich behaglich eingerichtet. Diese Mutter, zänkisch und fromm, sprach nie mit Favourite, ganze Stunden äußerte sie kein Wort; sie frühstückte, speiste mittags und abends für vier, ging hinunter, um bei dem Pförtner gesellschaftliche Empfänge abzuhalten, und schimpfte auf ihre Tochter.

Dahlia war zu Listolier, wohl auch zu anderen, und zum Müßiggang dadurch verleitet worden, daß sie allzu hübsche rosige Nägel hatte. Wie sollte man diese Nägel zur Arbeit zwingen? Zephine hatte Fameuil erobert mit ihrer niedlichen, schmollenden und zärtlichen Art, »Ja, mein Herr!« zu sagen.

Fantine war das einzige der vier Mädchen, das nur von einem einzigen geduzt wurde. Sie entstammte den unergründlichsten Schichten des sozialen Dunkels und trug an der Stirn das Zeichen des Anonymen und Unbekannten. In Montreuil-sur-Mer war sie geboren. Von welchen Eltern? Wer könnte es sagen? Niemand wußte von ihrem Vater und ihrer Mutter. Warum hieß sie Fantine? Nie hörte man einen anderen Namen von ihr. Zu der Zeit ihrer Geburt hatte noch das Direktorium die Herrschaft. Kein Familienname, sie besaß keine Familie; kein Taufname, es gab keine Kirche mehr. Sie nannte sich, wie es dem ersten Vorübergehenden gefiel, der sie traf, als sie ganz klein war und barfuß über die Straße lief. Sie bekam einen Namen, wie ihr das Wasser der Wolken auf die Stirn tropfte, wenn es regnete. Man nannte sie die kleine Fantine. Niemand konnte mehr von ihr erzählen. So war dieses Geschöpf ins Dasein getreten. Mit zehn Jahren verließ Fantine die Stadt und verdingte sich bei Bauern in der Umgegend. Mit fünfzehn Jahren ging sie nach Paris, um »ihr Glück zu finden«. Fantine war schön und blieb rein, solange sie irgend konnte. Sie war eine hübsche Blondine mit schönen Zähnen. Sie hatte Gold und Perlen zur Mitgift, aber ihr Gold umrahmte ihren Kopf, und ihre Perlen waren in ihrem Mund.

Sie arbeitete, um zu leben; danach, und wieder um zu leben, denn auch das Herz fühlt Hunger, liebte sie. Sie liebte Tholomyès. Es war ein Zeitvertreib für ihn, Schicksal für sie. Die Straßen des Lateinischen Viertels, die das Gewimmel der Studenten und der Grisetten erfüllte, sahen das Werden dieses Traumes. In den dädalischen Windungen des Pantheonhügels, in denen so viele Abenteuer angeknüpft werden und sich lösen, war Fantine Tholomyès lange geflohen, aber so, daß sie ihm immer wieder begegnete. Es gibt ein Meiden, das einer Suche gleicht. Kurz, das Idyll hub an.

Blachevelle, Listolier und Fameuil bildeten eine Gruppe, deren Haupt Tholomyès war. Er hatte den Geist für sie alle. Tholomyès war der alte Student in firnen Jahren. Er war begütert mit einer Rente von viertausend Francs. Viertausend Francs Rente, ein prachtvolles Ärgernis für den Berg der heiligen Genoveva. Tholomyès war ein dreißigjähriger, fragwürdig konservierter Lebemann. Er war runzlig und zahnlos, und er deutete bereits eine Kahlköpfigkeit an, von der er selbst, ohne traurig darüber zu sein, sagte: »Mit Dreißig ein Schädel, mit Vierzig glatt wie ein Knie.« Er hatte eine mäßige Verdauung und eine Tränenfistel. Doch je mehr seine Jugend erlosch, desto mehr entzündete sich seine Heiterkeit. Er ersetzte seine Zähne durch spöttischen Witz, seine Haare durch Übermut, seine Gesundheit durch Ironie, und sein tränendes Auge lachte ohne Unterlaß. Er war verderbt, aber er stand in Blüte. Seine Jugend, die vor der Zeit ihr Lager abbrach, zog sich geordnet zurück, lachte schallend und täuschte durch erkünsteltes Feuer. Er hatte ein Stück verfaßt, das vom Vaudeville abgelehnt wurde. Ab und zu dichtete er ein paar Verse. Außerdem zweifelte er mit Überlegenheit an allem, was nach Meinung der Schwachen eine große Stärke ist. Er war also ironisch und kalt. Er war der Chef. Iron ist ein englisches Wort für Eisen. Sollte die Ironie sich von dorther schreiben? Eines Tages ließ Tholomyès die drei anderen zu sich kommen und sagte mit orakelhafter Geste: »Seit bald einem Jahr bitten uns Fantine, Dahlia, Zéphine und Favourite, ihnen eine Überraschung zu bereiten. Wir haben sie ihnen feierlich versprochen. Sie reden darüber in einem fort, besonders mit mir. Wie in Neapel die alten Frauen dem heiligen Januarius zurufen: ›Faccia gialluta, fa o miracolo‹ – gelbes Gesicht, tue dein Wunder-, sagen unsere Schönen immer zu mir.: ›Tholomyès, wann wirst du deine Überraschung gebären?‹ Und zugleich erkundigen sich brieflich unsere Eltern. Unausstehlich dies wie das. Mir scheint, der Augenblick ist gekommen. Wir wollen darüber plaudern.«

Dann senkte Tholomyès die Stimme und unterbreitete einen Vorschlag, der so heiter war, daß ein breites Grinsen der Begeisterung allen vier Mündern entschwebte Und Blachevelle rief: »Ja, das ist eine Idee!« Eine rauchige Kneipe war in der Nähe, sie traten ein, und der Fortgang ihrer Beratung verlor sich im Halbdunkel. Aus dieser Finsternis ging eine blendende Landpartie hervor, die man am folgenden Sonntag unternahm und zu der die vier jungen Männer die vier jungen Mädchen einluden.

II

Was vor fünfundzwanzig Jahren eine Landpartie von Studenten und Grisetten war, läßt sich heute nur schwer schildern. Die Stadt hat nicht mehr dieselbe Umgebung. Das Gesicht dessen, was man das Leben von Rings-um-Paris nennen könnte, hat sich seit einem halben Jahrhundert völlig geändert. Wo der Kuckuck schrie, braust der Eisenbahnwagen. Wo das Zollschiff dahinglitt, fährt das Dampfboot. Man sagt heute Fécamp, wie man einst Saint-Cloud sagte. Paris von 1862 ist eine Stadt mit Frankreich als Bannmeilengebiet.

Die vier Paare unterzogen sich gewissenhaft allen damals denkbaren ländlichen Zerstreuungen. Die Ferien nahten, es wurde ein heißer, heller Sommertag. Gestern hatte Favourite, die einzige, die des Schreibens kundig war, im Namen der vier an Tholomyès geschrieben: »O frivol ist uns zumut‘, es spaziert früh wohl sich gut.« Deshalb waren sie schon um fünf Uhr morgens aufgestanden. Dann fuhren sie mit dem Marktschiff nach Saint-Cloud, sahen die springenden Wasser trocken und riefen: »Wie schön muß das erst sein, wenn Wasser drauf ist!« Sie frühstückten im »Schwarzen Kopf«, leisteten sich an der kreuzförmigen Baumpflanzung vor dem großen Becken eine Partie in einer Glücksbude, wo man Ringe warf, kletterten in die Laterne des Diogenes, spielten um Makronen Roulette neben der Brücke von Sèvres, pflückten Sträuße in Puteaux, kauften kleines Gebäck in Neuilly und aßen überall Apfeltörtchen. Sie waren selig.

Die jungen Mädchen lärmten und schwatzten wie Grasmücken, die entflattert sind. Es ging toll her. Manchmal gaben sie den jungen Männern sanfte Püffe. Morgenrausch des Lebens! Wundervolle Jahre! Der Libellenflügel zittert. Wer du auch sein magst, erinnerst du dich? Bist du unter dem Gesträuch umhergeschlendert und hast wegen des reizenden Köpfchens hinter dir die Zweige beiseite gebogen? Bist du lachend über eine vom Regen feuchte Böschung gerutscht, mit einer geliebten Frau, die dich mit ihrer Hand zurückhielt und schrie: »Ach, meine funkelnagelneuen Schnürstiefel sind hin!« Wir wollen gleich erwähnen, daß diese belustigende Unannehmlichkeit, ein Guß vom Himmel, für die fidele Gesellschaft ausblieb, obschon Favourite, als man aufbrach, in belehrendem und mütterlichem Ton sagte: »Die Schnecken kriechen über die Wege. Ein Zeichen, daß es regnen wird.«

Alle vier waren sie zum Verrücktwerden hübsch. Ein guter alter klassischer Dichter, der damals berühmt war, ein Biedermann, der eine Eleonore angebetet hatte, irrte an jenem Tage durch eine Kastanienallee von Saint-Cloud, sah sie um sechs Uhr morgens vorüberziehen und rief: »Es ist eine zuviel«, wobei er an die Grazien dachte. Favourite, die Freundin Blachevelles, die Dreiundzwanzigjährige, die Alte, lief unter den großen grünen Zweigen voran, sprang über die Gräben, setzte kühn über das Buschwerk und führte den heiteren Schwarm mit der Unbändigkeit einer jungen Faunin. Zéphine und Dahlia, die ein Zufall derart schön gemacht hatte, daß sie, wenn sie sich einander näherten, beide zur Geltung kamen und sich ergänzten, trennten sich nicht, mehr noch aus instinktiver Eitelkeit als aus Freundschaft. Die erste an die zweite sich lehnend, bildeten sie englische Posen. Damals begannen die Keepsakes zu erscheinen, die Frauen wurden nach der Schwermut bewertet wie später die Männer nach den Graden des Byronismus, und die Haare des zarten Geschlechts hingen schon klagend herab. Listolier und Fameuil stritten um den Vorrang ihrer Professoren und erklärten Fantine den Unterschied zwischen Herrn Delvincourt und Herrn Blondeau.

Blachevelle schien eigens geschaffen, auf seinem Arm den Kaschmirschal von Favourite zu schleppen. Tholotmyès folgte, die Gruppe überragend. Er war sehr vergnügt, aber man merkte ihm an, daß er regierte. In seiner Gemütlichkeit hatte er viel von einem Diktator. Seine Hauptzierde war eine Nankinghose mit Säulen wie Elefantenbeine und Messingstegen. Er hatte ein mächtiges spanisches Rohr zu zweihundert Francs und, da er sich alles erlaubte, ein seltsames Ding im Mund, eine Zigarre. Ihm war nichts heilig, er rauchte. »Dieser Tholomyès«, sagten die anderen in Ehrfurcht, »ist fesch. Was der für Hosen hat, was für eine Energie!«

Fantine war die Freude. Ihre schimmernden Zähne hatten offenbar von Gott eine Mission erhalten: zu lachen. Sie trug noch lieber in der Hand als auf dem Scheitel ihr Hütchen aus genähtem Stroh, mit langen weißen Bändern. Ihr dichtes blondes Haar, das dazu neigte, zu wehen, und sich leicht löste und das sie unaufhörlich wieder ordnen mußte, schien für die Flucht der Galatea unter den Weiden bestimmt zu sein. Ihre rosigen Lippen plapperten hold. Ihre Mundwinkel, wollüstig gehoben wie bei den antiken Masken der Erigona, der Geliebten des Bacchus, sahen so aus, als ermutigten sie die Verwegenheit. Aber ihre langen, umschatteten Wimpern senkten sich diskret über das Hallo der unteren Hälfte ihres Gesichts, Ruhe gebietend. Ihre ganze Toilette hatte etwas Singendes und Flammendes. Ihr Gewand war von malvenfarbenem Barege, die Schleifen ihrer hohen Goldkäferstiefel zeichneten eine Anzahl von X auf ihre dünnen, weißen Strümpfe. Ihre enge Musselin-Spencerjacke war ein Marseiller Erzeugnis, dessen Name Canezou, eine Entstellung der Worte »quinze août« (der fünfzehnte August), im Dialekt der Cannebière ausgesprochen, Schönwetter bedeutet, Hitze und Süden. Die drei anderen, die weniger schüchtern waren, zeigten die Brust entblößt, was im Sommer, unter mit Blumen bedeckten Hüten, viel Anmut und Verlockung vorgaukelte. Aber neben ihrer gewagten Gala schien der Canezou der blonden Fantine, mit seiner Durchsichtigkeit hier und da, mit dem, was er halb und halb verschwieg, was er zugleich verbarg und zur Schau stellte, ein herausfordernder Fund an Dezenz.

Mit glänzendem Antlitz, feinem Profil, tiefblauen Augen, fleischigen Lidern, kräftig geschwungenen kleinen Füßen, untadelig eingefügten Handgelenken und Knöcheln, einer Haut, deren Weiß die azurnen Verästelungen der Adern unterbrachen, mit knabenhaft frischen Wangen, dem festen Hals einer Juno von Aegina, starkem und geschmeidigem Nacken, Schultern, wie von Coustou modelliert, einem wonnigen Grübchen in der Mitte unter dem Musselinkleid, mit einer von Träumerei gedämpften Heiterkeit, skulptural und kostbar: So war Pantine, und man erriet unter diesem Putz und diesen Maschen eine Statue, in dieser Statue eine Seele.

Fantine war nicht nur die Freude, sie war auch die Scham. Was einem Beobachter, der sie genau ansah, durch alle diese Trunkenheit der Jugend, des Sommers und der Liebelei fühlbar wurde, war der Ausdruck unbesiegbarer Zurückhaltung und Bescheidenheit. Immer war sie ein wenig erstaunt. Dieses keusche Staunen ist die Nuance, die Psyche von Venus abhebt. Fantine hatte die langen und schmalen Finger der Vestalin, die mit goldener Nadel die Asche auf dem heiligen Herde schürt. Obwohl sie Tholomyès nichts verweigert hatte, war ihr Gesicht in der Ruhe von jungfräulicher Hoheit. Jählings befiel sie manchmal eine ernste und fast strenge Würde, und nichts war sonderbarer und verwirrender als der Anblick, wie ihre Heiterkeit schnell erlosch und Sammlung bei ihr den Stunden, in denen sie sich gehenließ, unvermittelt folgte. Diese plötzliche, oft scharf betonte Getragenheit glich dem Unwillen einer Göttin. Ihre Stirn, ihre Nase und ihr Kinn wiesen das Ebenmaß der Linien auf, das etwas anderes ist als das Ebenmaß der Proportionen und aus dem die Harmonie des Antlitzes sich ergibt. In dem charakteristischen Raum zwischen Nasenwurzel und Oberlippe hatte sie jene beinahe unsichtbare süße Falte, das geheimnisvolle Siegel der Keuschheit, das in Barbarossa die Leidenschaft für eine aus den Trümmern von Ikonium ausgegrabene Diana erregte. Liebe ist sündhaft; mag dem so sein. Fantine war Unschuld, die über die Sünde hinaus besteht.

III

Dieser Tag war von einem Ende zum anderen in Morgenröte getaucht. Die ganze Natur schien zu feiern und zu lachen. Die Blumenbeete von Saint-Cloud dufteten balsamisch. Der Lufthauch über der Seine kräuselte sacht die Blätter. Im Säuseln des bewegten Zephirs bewegten sich die Zweige. Die Bienen plünderten den Jasmin. Ein Bohemevolk von Schmetterlingen ließ sich auf die Schafgarben, den Klee und den wilden Hafer nieder. In dem erhabenen Park des Königs von Frankreich tummelte sich ein vagabundierendes Gesindel: die Vögel. Die vier fröhlichen Paare strahlten, eins mit dem Sonnenschein, den Feldern, den Blumen, den Bäumen. Und in dieser paradiesischen Gemeinschaft tollten die Mädchen redend, singend, laufend, tanzend, Schmetterlinge jagend, Winden pflückend, ihre rosig durchbrochenen Strümpfe im Tau des hohen Grases nässend, jugendlich, ohne Bosheit, und empfingen bald hier, bald dort die Küsse aller, bis auf Fantine, die in ihrem weichen, träumerischen, scheuen Widerstand sich abschloß und die liebte. »Du«, sagte Favourite, »siehst immer so nach Dings aus.«

Nach dem Frühstück gingen die vier Paare dorthin, was man damals das Königliche Beet nannte, eine Pflanze zu besichtigen, die neu aus Indien eingetroffen war und die in jener Epoche ganz Paris nach Saint-Cloud zog. Es war ein bizarres, reizendes Bäumchen auf hohem Stamm, dessen zahllose Zweige, zart wie Fäden, zerzaust, ohne grünes Laub, von einer Million kleiner weißer Röschen besät waren, so daß der Baum Haarsträhnen glich, mit Blumen statt der Blattläuse. Immer war da eine Menge und bewunderte ihn.

Als man ihn gesehen hatte, rief Tholomyès: »Ich lasse euch Esel reiten!«, und nachdem sie mit einem Eselwärter den Preis vereinbart hatten, kehrten sie über Vanves und Issy zurück. In Issy gab es eine Abwechslung. Der Park, Nationaleigentum oder vielmehr zu der Zeit Besitz des Munitionärs Bourguin, stand gerade weit offen. Sie betraten ihn durch das Gittertor, besuchten den Einsiedler, den Gliedermann in seiner Grotte, erprobten die mysteriösen kleinen Wirkungen des berühmten Spiegelkabinetts, des unzüchtigen Fuchsbaues, wert eines Satyrs, der Millionär geworden war, oder eines in Priap verwandelten Turcaret. Sie schüttelten weidlich das große Schaukelnetz, das an den zwei vom Abbé Bernis gepriesenen Kastanienbäumen hing. Sie wippten die Schönen, eine nach der anderen, so daß unter allgemeinem Gelächter die Spitzenunterröcke aufflogen und Greuze sich an dem Schauspiel gelabt hätte. Dann sang Tholomyès aus Toulouse, der ein wenig Spanier war (Toulouse ist eine Cousine von Tolosa), nach einer schwermütigen Melodie die alte Gallega, die vielleicht durch ein schönes, auf einem Seil zwischen zwei Bäumen heftig geschaukeltes Mädchen inspiriert ist:

»Soy de Badajoz,
amor me llama.
Toda mi alma
es en mi ojos
porque enseñas
a tus piernas.«

Einzig Fantine wollte sich nicht in das Netz legen. »Ich hab‘ das nicht gern, wenn eine sich so spreizt«, murmelte Favourite ziemlich bitter.

Sie stiegen von den Eseln ab, und dann gab es wieder eine Freude. Sie setzten in einem Boot über die Seine, und von Passy erreichten sie zu Fuß die Schranke an der Etoile. Seit fünf Uhr morgens waren sie, wie man sich erinnert, auf den Beinen. Aber bah! »Sonntags gibt es keine Müdigkeit«, sagte Favourite. »Sonntags macht die Müdigkeit blau.« Gegen drei Uhr taumelten die vier Paare, verstört vor Glück, auf die Russische Bergbahn los, ein seltsames Gebäude, das auf der Höhe von Beaujon jon errichtet war und dessen Serpentinenumriß über den Bäumen der Champs-Elysées sich türmte.

Ab und zu rief Favourite: »Und die Überraschung? Ich will die Überraschung sehn!«

»Geduld«, antwortete Tholomyès.

IV

Als sie von der Russischen Bergbahn genug hatten, dachten sie an das Diner. Und das ausgelassene Achtgespann, endlich ein bißchen erschöpft, strandete in der Schenke von Bombarda, einer in den Champs-Elysées errichteten Filiale des vielberufenen Restaurateurs, dessen Schild man damals in der Rue de Rivoli sah, neben der Passage Delorme.

Eine große, aber häßliche Stube, mit Alkoven und Bett im Hintergrund. Weil die Wirtschaft sonntags überfüllt war, hatte man sich mit dieser Lagerstatt abfinden müssen. Zwei Fenster, von denen aus sie durch die Ulmen hindurch den Kai und den Fluß betrachten konnten und die ein herrlicher Strahl der Augustsonne streifte. Zwei Tische. Auf dem einen ein triumphaler Berg von Blumensträußen, vermischt mit Hüten von Männern und Frauen. An dem anderen die vier Paare, gruppiert um ein fröhliches Gewimmel von Schüsseln, Tellern, Gläsern, Bierkrügen und Weinflaschen. Nur wenig Ordnung auf dem Tisch, einige Unordnung darunter, jenes »entsetzliche Tricktrack der Füße«, von dem Molière spricht. So war es gegen halb fünf Uhr abends um das Schäferspiel beschaffen, das fünf Uhr morgens begonnen hatte. Das Tagesgestirn neigte sich, der Appetit erlosch.

Von Sonne und Menschen erfüllt, waren die Champs-Elysées nur Licht und Staub, die beiden Bestandteile, aus denen sich der Ruhm zusammensetzt. Die wiehernden Marmorpferde von Marly warfen in goldenem Gewölk die Beine. Eine Schwadron glänzender Gardes-du-Corps mit dem Bläser an der Spitze trabte die Avenue nach Neuilly hinab. Die weiße Fahne schwamm, blaß-rosa in der sinkenden Sonne, auf dem Dach des Tuileriendomes. Die Place de la Concorde, die wieder der Platz Ludwigs XV. geworden war, quoll über von zufriedenen Bummlern. Viele trugen die silberne Lilie am moirierten Ordensband, das im Jahre 1817 aus den Knopflöchern nicht ganz verschwunden war. Hier und dort zirpten inmitten der Passanten, die einen Kreis um sie bildeten und Beifall klatschten, junge Mädchen beim Rundtanz eine bourbonische Weise in den Wind. Überall gesungen, sollte sie die Erinnerung an die Hundert Tage niederkämpfen, und jede ihrer Strophen schloß: »Gebt unser Väterchen in Gent uns wieder, dem Väterchen erschallen unsre Lieder.« Haufen sonntäglich gekleideter Arbeiter aus der Vorstadt, manche sogar mit der Lilie dekoriert wie die Bürger, waren über das große Viereck und das Karree Marigny verstreut. Sie schleuderten Ringe und ritten auf hölzernen Pferden. Andere tranken. Einige, die Druckerlehrlinge waren, hatten Papiermützen auf. Ihr Lachen drang herüber.

Das Diner bei Bombarda ging zu Ende. Fameuil und Dahlia trällerten. Tholomyès zechte. Zéphine lachte. Fantine lächelte. Listolier tutete auf einer in Saint-Cloud gekauften Holztrompete. Favourite blickte zärtlich auf Blachevelle und sagte: »Blachevelle, ich bete dich an.«

Dies zog eine Frage von Blachevelle nach sich: »Und was wäre, Favourite, wenn ich dich nicht mehr liebte?«

»Ach«, rief Favourite, »ach, sage das nicht, auch nicht zum Scherz! Wenn du mich nicht mehr liebhast, würde ich dir nachhetzen, dir die Nägel in die Backen bohren, dich zerkratzen, dich mit Wasser überschütten, dich verhaften lassen.« Blachevelle lächelte mit der genießerischen Geckenhaftigkeit eines Mannes, dessen Eigenliebe gekitzelt wird. »Ja, ich würde die Polizei herbeischreien! Ich würde mich wahrhaftig nicht genieren! Gemeiner Kerl!«

Blachevelle wälzte sich verzückt auf seinem Stuhl und schloß voll Stolz beide Augen. Dahlia sagte, ohne daß sie sich im Essen unterbrach, in dem Getöse leise zu Favourite: »Du bist also närrisch in deinen Blachevelle verliebt?«

»Ich verabscheue ihn«, sagte Favourite im selben Ton und griff wieder nach ihrer Gabel. »Er ist ein Geizkragen. Ich liebe den Kleinen, der mir gegenüber wohnt. Er sieht sehr gut aus, der junge Mensch. Kennst du ihn? Er hat so was vom Schauspieler. Ich schwärme für Schauspieler. Sobald er heimkommt, sagt seine Mutter: ›Ach, mein Gott, jetzt ist meine Ruhe hin. Jetzt wird er brüllen. Mein Kind, mir zerspringt der Kopf!‹ Weil er nämlich in das Haus hinaufgeht, in Mansarden für Ratten, in finstere Löcher, so hoch er nur klettern kann, und singt und deklamiert, weiß ich was?, daß es von unten zu hören ist. Er verdient schon zwanzig Sous täglich bei einem Anwalt, wo er Prozeßakten abschreibt. Er ist der Sohn eines früheren Kirchensängers in Saint-Jacques-du-Haut-Pas, Ach, sehr gut sieht er aus. Er vergöttert mich so, daß er eines Tags, als er zusah, wie ich Krapfenteig knetete, zu mir gesagt hat: ›Mein Fräulein, backen Sie Krapfen aus Ihren Handschuhen, und ich werde sie essen.‹ So was können nur Künstler sagen. Er sieht so gut aus, daß ich wegen des Kleinen bald den Verstand verlieren werde. Egal, ich rede Blachevelle ein, daß ich ihn anbete. Wie ich lüge, oh, wie ich lüge!«

Favourite machte eine Pause, dann begann sie wieder: »Dahlia, weißt du, ich bin traurig. Den ganzen Sommer hat es nur geregnet, der Wind läßt nicht ab zu wüten, Blachevelle ist ein Knicker, kaum gibt’s Schoten auf dem Markt, was soll man da essen? Ich habe den Spleen, wie die Engländer sagen. Die Butter ist so teuer! Und das ist scheußlich, siehst du, wir speisen in einem Lokal, in dem ein Bett steht, und davon werde ich lebensüberdrüssig.«

Inzwischen sangen die einen, die anderen plauderten stürmisch, und alle zugleich. In diesem Durcheinander füllte Tholomyès sein Glas und erhob sich. »Ein Gloria dem Wein! Nunc te, Bacche, canam! Verzeihung, meine Damen, das ist Spanisch. Und Beweis, señoras, ist: Wie die Bevölkerung, so das Faß. Der Arroba von Kastilien enthält sechzehn Liter, die Cántara von Alicante zwölf, der Almude von den Kanarischen Inseln fünfundzwanzig, der Cuartin von den Balearen sechsundzwanzig, der Stiefel des Zaren dreißig. Es lebe der Zar, der groß war, und es lebe sein Stiefel, der noch größer war! Meine Damen, ein freundschaftlicher Rat: Irren Sie sich in Ihrem Nachbarn, wenn es Ihnen recht ist! Die Eigenheit der Liebe ist, daß sie sich irrt. Bei der Liebelei soll man sich nicht niederkauern und abrackern wie eine Dienstmagd in England, die vom Scheuern Schwielen an den Knien hat. So ist sie nicht, die süße Liebelei, sie ist ein heiterer Irrtum. Meine Damen, ich vergöttere Sie alle. O Zéphine, o Joséphine, mit Ihrem mehr als zerknitterten Gesicht, reizend wären Sie, wenn Sie nicht schief gebaut wären. Sie gleichen einem hübschen Antlitz, auf das man sich aus Versehen gesetzt hat. – Und nun du, Favourite! Nymphen und Musen! Eines Tages, als Blachevelle in der Rue Guérin-Boisseau über den Rinnstein hinwegschritt, erblickte er ein schönes Mädchen mit weißen, gestrafften Strümpfen, das seine Beine zeigte. Dieser Prolog gefiel ihm, und Blachevelle liebte. Die er liebte, war Favourite. O Favourite, du hast ionische Lippen. Es gab einen griechischen Maler, den Euphorion, mit dem Beinamen: der Lippenmaier. Dieser Grieche allein wäre würdig gewesen, deinen Mund zu malen. Du bist dazu da, den Apfel zu empfangen wie Venus oder ihn zu verzehren wie Eva. Die Schönheit beginnt bei dir. O Favourite, jetzt duze ich dich nicht mehr, weil ich von der Poesie zur Prosa übergehe. Ich heiße Félix, und dennoch bin ich nicht glücklich. Die Namen sind Trug. Wir wollen nicht blindlings an ihren Sinn glauben. Miß Dahlia, ich an Ihrer Stelle würde mich Rosa nennen. Die Blume muß ihren Duft haben und die Frau Geist. Ich sage nichts über Fantine. Sie ist eine Träumerin, nachdenklich und empfindsam. Ein Phantom mit der Gestalt einer Nymphe und der Scham einer Nonne, die sich in das Grisettenleben verlaufen hat, aber sich in ihre Illusionen flüchtet und singt und betet und in den Azur schaut, ohne richtig zu wissen, was sie sieht oder tut. Die Augen dem Himmel zugekehrt, wandert sie ziellos in einem Garten umher, in dem es mehr Vögel gibt als in Wirklichkeit. O Fantine, höre: Ich, Tholomyès, bin eine Illusion. Aber sie hört nicht mal zu, das blonde Geschöpf der Schimäre! Im übrigen ist alles an ihr Frische, Lieblichkeit, Jugend, sanfte Morgenhelligkeit. O Fantine, Mädchen, wert, dich Perle zu nennen, du bist ein Weib aus dem schönsten Orient. Noch eine Empfehlung, meine Damen, heiraten Sie nicht! Die Heirat ist ein Pfropfreis. Das geht gut oder schlecht aus; vermeiden sie dieses Risiko! Die Mädchen sind in ihrer Heiraterei unverbesserlich; und was wir Weisen auch sagen mögen, es wird die Westennäherinnen und die Schuhstepperinnen nicht hindern, von Ehegatten zu träumen, die durch Diamanten reich geworden sind. Na gut! Aber, meine Schönen, merken Sie sich: Ihr eßt zuviel Zucker. Es ist euer einziges Unrecht, o Frauen, daß ihr Zucker knabbert. O nagendes Geschlecht, deine hübschen weißen Zähnchen sind närrisch nach Zucker. Paßt auf, der Zucker ist ein Salz, jedes Salz trocknet aus. Der Zucker ist das austrocknendste aller Salze. Er pumpt die Blutflüssigkeit durch die Adern. Daher das Gerinnen und die Verdichtung des Blutes. Daher die Tuberkel in der Lunge; daher der Tod. Also zerbeißen Sie keinen Zucker, und Sie werden leben. Ich wende mich nun an die Männer. Meine Herren, machen Sie Beute! Rauben Sie einander ohne Gewissensqualen die Geliebten! Über Kreuz! In der Liebe gibt es keine Freundschaft! Überall, wo eine hübsche Frau ist, sind die Feindseligkeiten eröffnet. Keine Schonung, Krieg bis aufs Messer! Eine hübsche Frau ist ein Casus belli; eine hübsche Frau ist ein flagrantes Delikt. Alle Invasionen in der Geschichte werden durch Röcke hervorgerufen. Die Frau ist das Mannesrecht. Romulus hat die Sabinerinnen entführt, Wilhelm der Eroberer die Sächsinnen, Cäsar die Römerinnen. Der ungeliebte Mann schweift wie ein Geier über den Geliebten der anderen. Und all den Unglücklichen, die Witwer sind, werfe ich die erhabene Proklamation Bonapartes an die italienische Armee zu: »Soldaten, euch fehlt alles. Der Feind hat es.«

Tholomyès verstummte für eine Minute. »Verschnaufe dich«, sagte Blachevelle. Und sofort stimmte er, gelehnt auf Listolier und Fameuil, nach der Melodie eines Bänkelsangs eines der aus irgendwelchen Worten zusammengestückelten Atelierlieder an, die entweder im Übermaß oder gar nicht gereimt und sinnlos wie das Klappern von Ästen im Wind sind. Aus dem Pfeifenrauch geboren, zergehen und zerfliegen sie mit ihm. Das blöde Couplet, mit dem die Gruppe das Gefasel von Tholomyes erwiderte, war nicht dazu angetan, seine Improvisation zu beschwichtigen. Er leerte sein Glas, füllte es und begann wieder. Kaum hätte er eingehalten, wäre nicht eben jetzt ein Pferd auf dem Kai gestürzt. Von dem Schock blieben der Wagen stecken und der Redner. Das Pferd, eine alte, magere und für den Abdecker reife Stute aus der Beauce, war vor einen schweren Karren gespannt. In der Nähe des Lokals von Bombarda hatte das Tier sich gesträubt, weiterzuziehen. Eine Masse Neugieriger strömte herbei. In seiner Entrüstung fluchend, hatte der Kärrner gerade noch Zeit, mit geziemender Wucht die sakramentalen Worte »Vieh, verdammtes!« auszusprechen, denen er mit einem unversöhnlichen Peitschenhieb nachhalf. Da fiel der Gaul und erhob sich nicht mehr. Die Passanten schrien, die aufgeräumten Hörer von Tholomyès blickten hinüber, und er nutzte das, um mit dem Vers zu enden: »Ein Roß, hat sie gelebt, solang‘ wie Rosse leben.«

»Armes Pferd«, seufzte Kantine. Und Dahlia rief: »Nun jammert Fantine um die Pferde! Wie kann man so dumm sein!«

In diesem Augenblick kreuzte Favourite die Arme, warf den Kopf in den Nacken, sah Tholomyes entschlossen an und sagte: »So, und die Überraschung?«

»Ganz recht«, erwiderte Tholomyes. »Der Moment ist da. Meine Herren, die Stunde, die Schönen zu überraschen, hat geschlagen. Meine Damen, warten Sie hier ein paar Minuten!«

»Es fängt mit einem Kuß an«, sagte Blachevelle.

»Auf die Stirn«, setzte Tholomyes hinzu.

Jeder drückte feierlich einen Kuß auf die Stirn der Geliebten. Dann steuerten alle vier im Gänsemarsch auf die Tür zu und legten einen Finger auf den Mund.

Favourite klatschte, als sie hinausgingen. »Schon das ist sehr spaßig«, sagte sie.

»Kommt nicht zu spät wieder«, murmelte Fantine, »wir warten auf euch.«

V

Als die jungen Mädchen allein waren, stützten sie ihre Ellbogen zu zweit auf je eine Fensterbank, schwatzten, neigten sich hinaus und riefen einander zu. Sie sahen, wie die jungen Männer Arm in Arm die Schenke von Bombarda verließen. Die Herren drehten sich nach ihnen um, winkten ihnen lachend zu und verschwanden in dem staubigen Sonntagsgewühl, das alle sieben Tage die Champs-Elysées überfällt.

»Kommt nicht zu spät wieder!« schrie Fantine.

»Was werden sie uns bringen?« fragte Zéphine.

»Sicherlich was Nettes«, sagte Dahlia.

»Ich«, meinte Favourite, »möchte ein Präsent von Gold.«

Bald wurden sie von der Bewegung am Ufer abgelenkt, die sie durch die Zweige der großen Bäume sahen und die sie sehr ergötzte. Es war die Stunde der Abfahrt der Briefpost und der Schnellpostkutschen. Fast alle Linien nach dem Süden und Westen Frankreichs gingen damals über die Champs-Elysées. In der Mehrzahl folgten sie dem Kai und nahmen den Weg aus der Stadt hinaus durch die Zollschranke von Passy. In jeder Minute brauste ein großer gelb und schwarz bemalter Wagen, schwer bepackt, geräuschvoll bespannt, unförmig durch die vielen Koffer, Decken und Felleisen, voll von Köpfen, die alsbald verschwanden, die Chaussee zermahlend, alle Pflastersteine zerbröckelnd, durch die Menge, mit dem Funkensprühen einer Schmiede und Staub statt des Rauches, wild wie Furien.

Dieses Gedröhn erfreute die jungen Mädchen. »Was für ein Krach!« rief Favourite. »Als klirrten Ketten durch die Luft!«

Einmal hielt einer der Wagen, die man im dichten Laub der Ulmen kaum unterschied, nur kurz an und sauste im Galopp weiter. Fantine war betroffen. »Seltsam!« sagte sie. »Ich dachte, die Schnellpost hielte überhaupt nicht.« Favourite zuckte die Achseln. »Diese Fantine ist zum Staunen. Für mich ist sie ein Naturwunder. Sie läßt sich von den einfachsten Dingen blenden. Nehmen wir an, ich bin ein Reisender, ich sage zu der Schnellpost: ›Ich gehe vor, Sie holen mich ein, wenn Sie auf dem Kai vorüberrollen.‹ Die Schnellpost sieht mich, hält, ich steige zu. So was geschieht alle Tage. Du kennst das Leben nicht, meine Liebe.«

Eine längere Frist verrann. Plötzlich fuhr Favourite auf, als erwache sie. »Na«, fragte sie, »und die Überraschung?«

»Ja, richtig«, sagte auch Dahlia, »die berühmte Überraschung!«

»Sie bleiben lange«, sagte Fantine.

Kaum daß sie diesen Seufzer ausstieß, trat der Kellner ein, der das Diner serviert hatte. Er trug in der Hand etwas, das einem Briefe ähnelte.

»Was ist das?« fragte Favourite.

»Ein Papier«, antwortete der Kellner, »das die Herren für die Damen hiergelassen haben.«

»Warum haben Sie es nicht gleich gebracht?«

»Weil die Herren«, erwiderte der Kellner, »mir befohlen haben, es den Damen nicht vor einer Stunde zu übergeben.«

Favourite griff nach dem Papier in der Hand des Kellners. Es war wirklich ein Brief. »Halt!« sagte sie. »Adresse fehlt. Aber da steht eine Überschrift: ›Dies ist die Überraschung.‹«

Hastig entsiegelte sie den Brief, öffnete ihn und las vor (sie konnte lesen):

»O unsere Geliebten!

Wisset, daß wir Eltern haben. Eltern, wovon Euch nicht viel bekannt ist. Im Bürgerlichen Gesetzbuch heißt das, kindlich und ehrbar, Väter und Mütter. Diese Eltern also stöhnen um uns, diese Greise verlangen nach uns, diese guten Männer und guten Frauen nennen uns verlorene Söhne, sie wünschen unsere Heimkehr und erbieten sich, Kälber für uns zu schlachten. Wir gehorchen ihnen, da wir tugendhaft sind. Zu der Stunde, da Ihr dies lesen werdet, befördern fünf feurige Pferde uns zu unseren Papas und Mamas zurück. Wir machen, daß wir fortkommen, wie Bossuet sagt. Wir reisen ab, sind abgereist. Wir enteilen in die Arme von Laffitte und auf den Flügeln von Calliard. Die Schnellpost von Toulouse trägt uns vom drohenden Abgrund weg, und der Abgrund seid Ihr, unsere schönen Kleinen! Wir treten wieder in die Gesellschaft ein, in Pflicht und Ordnung, in den großen Trott, drei Meilen in der Stunde. Es ist von Bedeutung für das Vaterland, daß wir wie jedermann Präfekten werden, Familienväter, Feldhüter und Staatsräte. Verehrt uns! Wir opfern uns. Beweint uns rasch und ersetzt uns schleunigst! Wenn dieser Brief Euch zerreißt, tut ihm das nämliche. Lebtwohl! Fast zwei Jahre lang haben wir Euch beglückt. Grollt uns deshalb nicht!

Unterschrift: Blachevelle
Fameuil
Lisfolier
Tholomyès

Postskriptum: Das Diner ist bezahlt.«

Die vier jungen Mädchen sahen sich an. Favourite brach als erste das Schweigen. »Na«, rief sie, »ein guter Spaß ist es doch!«

»Sehr drollig«, sagte Zéphine.

»Die Idee muß Blachevelle gehabt haben«, fuhr Favourite fort. »Drum werde ich jetzt ganz verliebt in ihn. Aus den Augen, aber in den Sinn. So ist das.«

»Nein«, sagte Dahlia. »Es ist eine Idee von Tholomyès. Das spürt man.«

»Dann«, erwiderte Favourite, »nieder mit Blachevelle und hoch Tholomyès!«

»Hoch Tholomès!« riefen Dahlia und Zéphine und platzten vor Lachen los.

Fantine lachte wie die anderen. Eine Stunde später, als sie wieder in ihrem Zimmer war, weinte sie. Es war ja ihre erste Liebe. Sie hatte sich Tholomyès hingegeben wie einem Gatten, und das arme Mädchen hatte ein Kind.

VI. Anfang eines Räthsels.

Johann Valjean befand sich in einem sehr großen Garten von eigentümlichem Aussehen, in einem jener traurigen Gärten, die dazu gemacht zu sein scheinen, um im Winter und in der Nacht gesehen zu werden.

Dieser Garten war von länglich-viereckiger Form mit einer Allee hoher Pappeln und einem schattenlosen Raum in der Mitte, wo man einen sehr großen einzelnen Baum, einige verkrüppelte, gebüschwerkartige Obstbäume, Gemüsebeete und ein Melonenbeet bemerkte, dessen Glocken im Mondschein glänzten, sowie einen alten Schöpfbrunnen. Hier und da standen Steinbänke, die von Moos schwarz zu sein schienen. Die Alleen waren mit kleinen, dunkeln, graden Sträuchern eingefaßt. Bis über die Hälfte der Alleen wuchs Gras, die andere Hälfte bedeckte eine grünliche Feuchtigkeit.

Neben sich hatte Johann Valjean das Gebäude, dessen Dach ihm beim Heruntersteigen dienlich gewesen, einen Haufen Reisigbündel und hinter diesem, ganz an der Wand, eine steinerne Statue, deren verstümmeltes Gesicht nur noch eine unförmliche Maske war, die man undeutlich in der Dunkelheit wahrnahm.

Das Gebäude war eine Art Ruine, wo man von außen hie und da zerstörte Zimmerwände wahrnahm. Ein Zimmer war ganz verfallen und schien als Schuppen zu dienen.

Das große Gebäude an der Rechts-Mauer-Straße entwickelte zwei Façaden, welche sich in den Garten hinein erstreckten. Diese sahen von innen noch schauerlicher als von außen aus. Alle Fenster waren vergittert. Nirgends sah man ein Licht. In den oberen Etagen waren Verschlage, wie an einem Gefängnisse. Eine der Façaden warf auf die andere ihren Schatten, der wie ein großes schwarzes Tuch auf den Garten fiel.

Ein anderes Haus nahm man nicht wahr. Der Hintergrund des Gartens verlor sich im Dunkel und in der Nacht. Man erkannte indeß undeutlich Mauern, welche sich kreuzten, als wenn jenseits derselben noch andere Culturanlagen wären, sowie die niedrigen Dächer einer Straße.

Man konnte sich nichts Wilderes und Einsameres vorstellen, als diesen Garten. Niemand war darin, was allerdings in Rücksicht der Tageszeit ganz einfach war. Der Ort sah aber nicht aus, als wäre er dazu da, daß Jemand darin gehen solle, selbst nicht einmal am hellen Mittage.

Die erste Sorge Johann Valjeans war, daß er seine Schuhe wieder suchte, welche er vorher über die Mauer geworfen hatte, und sich diese wie die Strümpfe wieder anzog. Darauf ging er mit Cosetten in den Schuppen. Der Fliehende hält sich niemals für sicher genug versteckt. Das Kind, welches immer an die Thenardier dachte, theilte seinen Trieb sich möglichst zu verkriechen.

Cosette zitterte und schmiegte sich an ihn. Man hörte den stürmischen Lärm der Patrouille, welche die Sackgasse durchstöberte, das Aufstoßen der Gewehrkolben auf die Steine, die Rufe Javerts an seine Leute und seine mit unverständlichen Worten vermischten Flüche.

Nach Verlauf einer Viertelstunde schien der Lärm sich zu verziehen. Johann Valjean athmete kaum.

Leicht hatte er seine Hand auf den Mund Cosettens gelegt.

Uebrigens war die Stille, in welcher er sich befand, eine so seltsame Ruhe, daß selbst nicht einmal jener schreckliche Lärm in dieselbe den Schatten einer Störung warf. Die Mauern schienen aus jenen tauben Steinen gebaut zu sein, von denen die Schrift spricht.

Plötzlich erhob sich mitten in dieser tiefen Ruhe ein neues Geräusch, himmlisch, göttlich, unbeschreiblich, eben so entzückend, wie das andere gräßlich gewesen. Es war ein Gesang, der aus der Finsterniß kam, eine Blendung des Gebets und der Harmonie in dem Dunkel und der schauerlichen Stille der Nacht; Frauenstimmen, zugleich aus dem reinen Klang der Jungfrauen und dem naiven der Kinder zusammengesetzt, Stimmen, die nicht der Erde angehören und denen gleichen, welche die Neugebornen noch hören und den Sterbenden entgegenklingen. Der Gesang kam aus dem dunkeln Gebäude, welches den Garten beherrschte. In dem Augenblicke, als der Lärm der Dämonen sich entfernte, näherte sich, so hätte man glauben können, im Dunkel ein Chor von Engeln.

Cosette und Johann Valjean sanken auf die Kniee.

Sie wußten nicht, was es war, sie wußten nicht, wo sie waren, aber sie fühlten alle beide, der Mann wie das Kind, der Büßende wie die Unschuldige, daß sie niederknieen müßten.

Diese Stimmen hatten das Eigentümliche, daß sie das Gebäude nicht belebten, das eben so öde zu bleiben schien wie vorher. Es war wie ein übernatürlicher Gesang in einem unbewohnten Hause.

Während die Stimmen sangen, dachte Johann Valjean an nichts mehr. Er sah die Nacht nicht mehr, er sah nur einen blauen Himmel. Es kam ihm vor, als entfalteten sich jene Flügel in ihm, welche wir alle in uns haben.

Der Gesang erlosch. Er hatte vielleicht lange gedauert. Johann Valjean hätte es nicht sagen können. Die Stunden der Verzückung sind immer nur eine Minute.

Alles war wieder in Stillschweigen versunken. Man hörte nichts mehr in dem Garten, nichts mehr in der Straße. Alles war vorüber: das, was ihn bedroht, wie das, was ihn beruhigt hatte. Der Wind zerknitterte einige dürre Gräser aus dem Kamm der Mauer, wodurch ein leises, trauriges Geräusch entstand.

VII. Fortsetzung des Räthsels.

Der Nachtwind hatte sich erhoben. Es mußte also zwischen ein und zwei Uhr früh sein. Die arme Cosette sagte nichts. Da sie an seiner Seite saß und den Kopf an ihn lehnte, dachte Johann Valjean sie sei eingeschlafen. Er bückte sich und sah ihr in das Gesicht. Sie hatte die Augen weit offen und eine nachdenkliche Miene. Das ging ihm nahe. Sie zitterte noch immer.

»Willst Du nicht schlafen?« fragte Johann Valjean.

»Ich friere sehr,« antwortete sie. Nach einiger Zeit setzte sie hinzu: »Ist sie noch da?«

»Wer?« fragte Johann Valjean.

»Madame Thenardier.«

Er hatte bereits vergessen, durch welches Mittel er Cosetten dazu gebracht, still zu sein.

»Ach,« antwortete er. »Die ist fort. Fürchte Dich nicht mehr.«

Das Kind seufzte, als ob ihm eine schwere Last von der Brust genommen werde.

Der Boden war feucht, der Schuppen nach allen Seiten offen, der Wind wurde mit jedem Augenblick kälter. Der brave Mann zog seinen Rock aus und hüllte Cosetten in denselben.

»Frierst Du so weniger?« fragte er.

»Ach ja, Vater!«

»Warte einen Augenblick; ich komme bald wieder.«

Er ging aus der Ruine hinaus und längs des großen Gebäudes hin, um irgend einen besseren Schutz zu finden. Er traf auf Thüren, sie waren aber geschlossen. An allen Fenstern des Erdgeschosses befanden sich Gitter.

Als er bei der inneren Ecke des Gebäudes herumgekommen war, bemerkte er Bogenfenster und in denselben einen Lichtschein. Er hob sich auf die Fußspitzen, und sah durch eines der Fenster hinein. Sie gingen alle in einen ziemlich großen Saal, der mit großen Steinplatten gepflastert und mit Bogen und Säulen versehen war, wo man aber nichts weiter als einen schwachen Schein und große Schatten erkannte. Der Schein kam von einem in einer Ecke brennenden Lämpchen. Der Saal war öde und nichts rührte sich in demselben. Indessen glaubte er, nachdem er seinen Blick angestrengt, am Boden, auf dem Steinpflaster, etwas zu sehen, das mit einem Leichentuche bedeckt zu sein schien und einer menschlichen Gestalt ähnlich war. Es lag platt auf dem Leibe, mit dem Gesicht auf den Steinen, die Arme kreuzförmig gelegt, in der Unbeweglichkeit des Todes ausgestreckt.

Der ganze Saal schwamm in jenem Dunkel kaum beleuchteter Orte, welches stets Schrecken einstößt.

Johann Valjean hat später oft gesagt, wie viel Gräßliches er auch im Leben gesehen, niemals habe er etwas Schrecklicheres gesehen, als im Halbdunkel diese räthselhafte, geheimnißvolle Gestalt an diesem schauerlichen Orte. Sie konnte todt sein – entsetzlich; noch entsetzlicher, wenn das noch lebte.

Er hatte den Muth, seine Stirn an die Fensterscheibe zu drücken und zu lauschen, ob das Ding sich bewege. Er mochte, wenigstens seiner Meinung nach, lange so dagestanden haben, die Gestalt machte aber durchaus keine Bewegung. Plötzlich fühlte er sich von einer unbeschreiblichen Furcht ergriffen und lief von dannen. Er lief wieder nach dem Schuppen zurück, ohne zu wagen, sich umzusehen. Es kam ihm vor, daß, wenn er sich umwende, er die Gestalt langsamen Schritts ihm folgen sehen würde.

Athemlos kam er in der Ruine wieder an. Seine Kniee zitterten; der Schweiß drang ihm durch alle Poren.

Wo war er? Was war dieses seltsame Haus? Und es war wirklich ein Haus. Denn es hatte ja eine Straßennummer. Es war kein Traum. Er mußte die Steine mit den Händen berühren, um daran zu glauben.

Die Kälte, die Angst, die Unruhe, die Aufregungen dieser Nacht hatten ihn in ein wahres Fieber versetzt. Alle seine Gedanken gingen ihm im Kopfe wirr durcheinander.

Er trat zu Cosetten. Sie schlief.

VIII. Das Räthsel verdoppelt sich.

Das Kind hatte den Kopf auf einen Stein gelegt und war eingeschlafen.

Er setzte sich neben sie und begann sie zu betrachten. Allmälig, je länger er sie betrachtete, beruhigte er sich und erhielt die Freiheit seines Geistes wieder.

Deutlich erkannte er diese Wahrheit, die Grundlage seines künftigen Lebens, daß, so lange sie da sei und er sie bei sich habe, er nur für sie etwas brauchen, nur um ihretwillen etwas fürchten werde. Er fühlte nicht, daß er sehr kalt war, da er den Rock ausgezogen, um sie einzuhüllen.

Mitten in seiner Träumerei, in welche er versunken war, hörte er indeß seit einiger Zeit ein wunderliches Geräusch. Es war als wenn eine Schelle bewegt würde. Es war im Garten. Man hörte sie, wenn auch schwach, so doch deutlich.

Es glich dem fernen, undeutlichen Klange, welchen die Glöckchen der Kühe des Nachts auf der Weide machen.

Johann Valjean drehte sich in Folge dessen um. Er sah hin und bemerkte, daß Jemand im Garten war. Ein Wesen, das einem Manne ähnlich war, ging zwischen den Glocken des Melonenbeetes umher, bückte sich, richtete sich wieder auf, blieb stehen, alles mit regelmäßigen Bewegungen, als wenn er etwas am Boden hinziehe oder ausbreite. Dieses Wesen schien zu hinken.

Johann Valjean zitterte wie Unglückliche zu zittern pflegen. Alles ist ihnen feindselig und verdächtig. Sie mißtrauen dem Tage, weil er bewirkt, daß man sie sieht; der Nacht, weil man sie in ihrem Dunkel überraschen kann. Kurz vorher schauerte ihn, weil der Garten öde, jetzt schauerte ihn, weil Jemand darin war.

Aus eingebildetem Schrecken verfiel er in wirklichen. Er meinte, Javert und seine Schaar seien vielleicht noch gar nicht fortgegangen; er habe ohne Zweifel Leute als Wache in der Straße zurückgelassen; wenn der Mann ihn im Garten bemerkte, würde er wahrscheinlich: Diebe! rufen und ihn ausliefern. Er nahm die schlafende Cosette sanft in seine Arme und trug sie hinter einen Haufen alter, außer Gebrauch gesetzter Geräthe, in den verstecktesten Winkel des Schuppens. Cosette rührte sich nicht.

Von da aus beobachtete er die Umrisse des Wesens in dem Melonenbeete. Sonderbar war, daß der Schellenklang allen Bewegungen des Mannes folgte. Näherte er sich, so kam das Klingen näher; entfernte er sich, so entfernte sich auch dieses; machte er eine rasche Bewegung, so begleitete sie ein Tremolo; blieb er stehen, so schwieg das Klingen. Offenbar waren die Schellen an dem Manne befestigt, was konnte das nur bedeuten? Wer war der Mann, dem man ein Glöckchen angehangen hatte wie einem Schaf oder einer Kuh?

Während er sich diese Fragen vorlegte, berührte er die Hände Cosettens. Sie waren eiskalt.

»Mein Gott!« dachte er und rief leise: »Cosette!«

Sie schlug die Augen nicht auf.

Er schüttelte sie lebhaft.

Sie erwachte nicht.

»Sollte sie todt sein!« dachte er und, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd, richtete er sich auf.

Die entsetzlichsten Gedanken durchkreuzten wirr seinen Geist. Es giebt Augenblicke, in denen die widerwärtigsten Vermuthungen uns wie eine Cohorte Furien umlagern und gewaltsam die Scheidewände in unserem Geist verschließen. Wenn es sich um diejenigen handelt, welche wir lieben, erfindet unsere Klugheit alle Thorheiten. Er erinnerte sich daran, daß der Schlaf in freier Luft und in einer kalten Nacht tödtlich sein kann.

Cosette war bleich zu seinen Füßen ausgestreckt an den Boden gesunken, ohne sich zu bewegen. Regungslos lag sie da.

Er hörte ihren Athem, denn sie athmete. Der Athem aber war so schwach, daß er jeden Augenblick zu verlöschen schien.

Wie sie erwärmen, wie sie erwecken? Alles Andere verwischte sich vor dem einen Gedanken und außer sich stürzte er aus der Ruine hinaus.

Ehe eine Viertelstunde verging, mußte Cosette durchaus entweder vor einem Feuer oder in einem Bett sein.

IX. Der Mann mit der Schelle.

Er ging grade auf den Mann zu, welchen er in dem Garten bemerkte, nachdem er eine Rolle mit Geld, welche er in der Westentasche getragen, in die Hand genommen.

Da der Mann gebückt dastand, so sah er ihn nicht kommen. Mit einigen Schritten war Johann Valjean bei ihm.

»Hundert Francs!« war sein erstes Wort, als er bei ihm war.

Der Mann fuhr empor und blickte auf.

»Hundert Francs sind zu verdienen,« fuhr Johann Valjean fort, »wenn Sie mir für diese Nacht ein Obdach geben!«

Der Mond schien auf das zerstörte Gesicht Johann Valjeans.

»Sie sind’s ja, Vater Madeleine!« sagte der Mann.

Bei diesem Namen, der in solcher Weise in dieser mitternächtlichen Stunde, an diesem unbekannten Orte, von diesem unbekannten Manne ausgesprochen wurde, fuhr Johann Valjean zurück.

Auf Alles, nur auf das nicht, war er gefaßt gewesen. Der, welcher ihn so angeredet hatte, war ein hinkender, gebeugter alter Mann, beinahe wie ein Bauer gekleidet. Am linken Knie hatte er ein Band von Leder, an welchem ein ziemlich großes Glöckchen hing. Sein Gesicht konnte man nicht erkennen, da der Schatten darauf fiel.

Mittlerweile hatte der alte Mann seine Mütze abgenommen und rief in zitterndem Tone:

»Ach, mein Gott, Vater Madeleine, wie kommen Sie denn hier her? Wie sind Sie denn hier hinein gekommen? Sie müssen vom Himmel gefallen sein. Nun ja, freilich, wenn Sie einmal fallen, müssen Sie von da fallen. Und wie Sie aussehen! Sie haben kein Halstuch, keinen Hut, keinen Rock! Wissen Sie auch, daß Sie Einen erschrecken konnten, der Sie nicht kennt! Keinen Rock! Herr, mein Gott, sind denn die Heiligen närrisch geworden? Wie sind Sie denn hierhergekommen?«

Ein Wort erwartete nicht das andere. Der alte Mann sprach mit einer unbeschreiblichen Zungenfertigkeit, welche jedoch nichts Beunruhigendes hatte. Er sagte alles das mit einer Mischung von naiver Gutmüthigkeit und Verwunderung.

»Wer sind Sie? Was ist dieses Haus?« fragte Johann Valjean.

»Zum Teufel, das ist stark!« rief der Alte. »Ich bin ja der, den Sie hier untergebracht haben; das ist ja das Haus, in das Sie mich gebracht. Wie! Kennen Sie mich denn nicht?«

»Nein,« antwortete Johann Valjean. »Woher kennen Sie mich?«

»Sie haben mir ja das Leben gerettet,« sagte der Mann.

Er drehte sich um, ein Mondstrahl ließ sein Gesicht erkennen und Johann Valjean erkannte den alten Fauchelevent.

»Ah!« sagte er, »Sie sind es? Ja, ich erkenne Sie.«

»Das ist Ihr Glück,« antwortete der Alte in vorwurfsvollem Tone.

»Was machen Sie hier?« fragte Johann Valjean weiter.

»Hm! Ich decke meine Melonen zu.«

Der alte Fauchelevent hatte in der That, als Johann Valjean an ihn herangetreten, das Ende einer Strohkappe in der Hand, die er über eine Melone auszubreiten eben beschäftigt war. Er hatte bereits eine gewisse Anzahl davon aufgestellt, seit einer Stunde ungefähr, so lange er in dem Garten gewesen war. Von dieser Beschäftigung schrieben sich die eigenthümlichen Bewegungen her, welche Johann Valjean von dem Schuppen aus bemerkt hatte. Er fuhr dann fort:

»Ich dachte mir: der Mond scheint; es wird frieren. Wie wär’s, wenn ich meinen Melonen die Rocke anzöge. Und« – setzte er mit einem Blicke und hellem Lachen gegen Johann Valjean hinzu: – »das hätten Sie, weiß Gott, auch thun sollen. Aber, wie sind Sie denn eigentlich hier hineingekommen?«

Da Johann Valjean sich von diesem Manne erkannt sah, wenigstens unter den Namen Madeleine, so glaubte er desto mehr Vorsicht anwenden zu müssen. Er verdoppelte also seine Fragen, so daß sonderbarerweise die Rollen umgekehrt zu sein schienen: er der Eingedrungene fragte.

»Was bedeutet die Schelle, die Sie da am Knie haben?«

»Die da?« fragte Fauchelevent. »Die ist dazu da, daß man mir aus dem Wege gehe.«

»Wie, daß man Ihnen aus dem Wege gehe?«

Der alte Fauchelevent blinzelte in ganz unbeschreiblicher Weise und sagte dann:

»Sehen Sie, es sind nur Frauenzimmer in diesem Hause, viel junge Mädchen. Es scheint, daß es gefährlich für sie ist, wenn sie mir begegnen. Die Schelle setzt sie von meiner Nähe in Kenntniß. Wenn ich komme, machen sie, daß sie fort kommen.«

»Was ist das für ein Haus?«

»Das wissen Sie ja selbst recht gut.«

»Nein, ich weiß es nicht.«

»Sie haben mich ja als Gärtner hierher gebracht.«

»Antworten Sie mir, als ob ich nichts wüßte.«

»Gut, es ist das Kloster von Klein-Picpus.«

Johann Valjean erinnerte sich. Der Zufall, d. h. die Vorsehung, hatte ihn gerade in das Kloster des Viertels St. Antoine geführt, in das vor zwei Jahren auf seine Empfehlung der alte Fauchelevent aufgenommen worden war, den der Fall unter den Wagen zum Krüppel gemacht hatte. Wie mit sich selbst sprechend, wiederholte er:

»Das Kloster von Klein-Picpus.«

»Freilich!« sagte Fauchelevent. »Wie zum Teufel sind Sie denn hier hineingekommen, Vater Madeleine? Wenn Sie auch ein Heiliger sind, ein Mann sind sie doch und Männer dürfen nicht herein.«

»Sie sind ja da.«

»Außer mir aber Keiner.«

»Ich muß aber auch hier bleiben.«

»Ach, du mein Gott!« rief Fauchelevent aus.

Johann Valjean trat näher zu ihm heran und sprach mit ernstem Tone:

»Vater Fauchelevent, ich habe Ihnen das Leben gerettet.«

»Ich habe mich zuerst daran erinnert,« entgegnete der Alte.

»Gut, heute können Sie für mich thun, was ich einst für Sie gethan habe.«

Fauchelevent ergriff mit seinen alten runzeligen, zitternden Händen, die beiden starken Hände Johann Valjeans. So vergingen einige Sekunden, ehe er sprechen konnte; endlich rief er:

»Das wäre eine Gnade vom lieben Gott, wenn ich Ihnen das ein wenig vergelten könnte! Ich Ihnen das Leben retten! Herr Maire! Verfügen Sie über mich alten Mann, wie Sie wollen!«

Eine bewundernswürdige Freude hatte den alten Mann gleichsam wie umgestaltet. Von seinem Gesicht schien ein Licht auszugehen.

»Was soll ich thun?« fragte er weiter.

»Ich werde Ihnen das erklären. Haben Sie eine Stube?«

»Ich habe eine einzeln stehende Baracke, dort hinter der Ruine des alten Klosters, in einem Winkel, den Niemand sieht. Drei Stuben sind darin.«

Die Hütte war in der That so hinter der Ruine versteckt und so gut gelegen, daß sie Niemand sah und auch Johann Valjean sie nicht gesehen hatte.

»Gut!« antwortete Johann Valjean. – »Jetzt bitte ich um Zweierlei.«

»Um was, Herr Maire?«

»Erstens sagen Sie Niemandem was Sie von mir wissen, und zweitens suchen Sie nicht mehr zu erfahren.«

»Wie Sie wollen. Ich weiß, daß Sie nur Ehrenhaftes thun können und daß Sie stets ein Mann Gottes gewesen sind. Und dann haben Sie mich ja auch hierher gebracht. Es ist Ihre Sache. Ich stehe Ihnen zu Diensten.«

»Abgemacht! Jetzt kommen Sie mit mir. Wir wollen das Kind holen gehen.«

»Ach!« entgegnete Fauchelevent, »auch ein Kind ist noch da!«

Weiter sagte er nichts und folgte Johann Valjean wie ein Hund seinem Herrn folgt.

In nicht ganz einer halben Stunde schlief Cosette, die in der Wärme eines tüchtigen Feuers ihre rosige Farbe wieder erlangt hatte, in dem Bett des alten Gärtners. Johann Valjean hatte sein Halstuch wieder umgebunden und seinen Rock wieder angezogen; auch der über die Mauer geworfene Hut war wieder gefunden und aufgehoben worden. Während Johann Valjean seinen Rock anzog, nahm Fauchelevent das Knieband mit dem Glöckchen ab, das jetzt, an einem Nagel an der Wand aufgehängt, das Zimmer schmückte. Die beiden Männer wärmten sich und nahmen an dem Tische Platz, auf den Fauchelevent ein Stück Käse und schwarzes Brod gelegt und eine Flasche Wein mit zwei Gläsern gestellt hatte. Darauf legte der Alte seine Hand auf das Knie Johann Valjeans und sagte zu ihm:

»Vater Madeleine, daß Sie mich nicht sogleich wieder erkannten! Sie retten den Leuten das Leben und hinterdrein denken Sie nicht mehr an sie! Das ist gar nicht hübsch! Sie erinnern sich Ihrer. Sie sind recht undankbar!

IX. Schluß.

Cosette bewahrte auch im Kloster ihr Schweigen.

Sie hielt sich natürlich für die Tochter Johann Valjeans. Uebrigens da sie nichts wußte, konnte sie nichts sagen; in jedem Fall würde sie auch nichts gesagt haben. Cosette hatte so viel gelitten, daß sie Alles, selbst das Reden, fürchtete. Wie oft hatte ein Wort ihr einen wahren Hagel von Schlägen zugezogen. An das Kloster gewöhnte sie sich schnell. Sie bedauerte nur, daß sie ihre Puppe nicht haben konnte, aber sie wagte es nicht zu sagen. Einmal nur sagte sie zu Johann Valjean: »Vater, hätte ich es gewußt, so würde ich sie mitgenommen haben.«

Als Pensionärin des Klosters mußte Cosette die Kleidung der Schülerinnen des Hauses anlegen. Johann Valjean erlangte die Erlaubniß, daß man ihm das Kleid überließe, das sie ablegte. Es war dasselbe Trauerkleid, mit dem er sie bekleidet, als sie das Haus Thenardiers verließen. Johann Valjean schloß alle die kleinen Gegenstände Cosettens, auch die Strümpfe und Schuhe nebst vielem Kampher und Wohlgerüchen, die in den Klöstern in Masse zu haben sind, in einen kleinen Koffer ein, welcher auf einem Stuhl neben seinem Bett stand. Den Schlüssel dazu trug er stets bei sich. »Vater,« fragte ihn eines Tages Cosette, »Was ist denn das für eine Schachtel, die so gut riecht?«

Wenn die Nonnen etwas von dem Blicke Javerts gehabt hätten, würden sie endlich haben bemerken können, daß wenn etwas Geschäftliches außerhalb des Klosters zu besorgen war, immer der ältere Fauchelevent ging, der alte, gebrechliche, lahme, nie der andere; aber sei es weil die immer auf Gott gerichteten Augen nicht spioniren können, sei es, weil sie lieber unter einander Beobachtungen anstellen, kurz sie achteten nicht darauf.

Uebrigens that Johann Valjean wohl daran, sich ruhig zu verhalten und sich nicht zu rühren, denn Javert ließ die Gegend noch über einen ganzen Monat bewachen.

Das Kloster war für Johann Valjean gleichsam eine rings von Abgründen und Schlünden umgebene Insel. Die vier Mauern waren von nun an für ihn die Welt. Er sah darin von dem Himmel genug, um heiter, und Cosetten so oft, um glücklich zu sein.

Es begann für ihn ein stilles, angenehmes Leben.

Er arbeitete alle Tage im Garten und machte sich sehr nützlich. Da er früher Baumschäler gewesen, so fand er sich auch bald als Gärtner zurecht. Man erinnert sich, daß er allerlei Recepte und geheime Mittel für den Ackerbau kannte. Daraus zog er Nutzen. Beinahe alle Bäume im Garten waren Wildlinge. Er pfropfte viele Bäume und zog vortreffliches Obst.

Cosette hatte die Erlaubniß alle Tage eine Stunde bei ihm zu sein.

Da die Schwestern traurig waren, er aber freundlich, so verglich ihn das Kind mit den Nonnen und vergötterte ihn. Zur bestimmten Stunde flog sie nach der Gärtnerhütte. Wenn sie in das Hüttchen kam, erfüllte sie es mit dem Paradiese. Johann Valjean fühlte sein Glück wachsen mit dem Glücke, das er dem Kinde bereitete. Die Freude, die wir bereiten, hat den Reiz, daß sie, weit entfernt sich zu schwächen wie jeder Widerschein, mit stärkerem Strahle auf uns zurückfallt. In den Erholungsstunden sah ihr Johann Valjean von Weitem zu, wie sie spielte und lief, und ihr Lachen kannte er; denn jetzt »lachte« Cosette.

Sogar das Gesicht Cosetten’s hatte sich in einem gewissen Grade verändert. Das Düstere war daraus verschwunden. Das Lachen ist die Sonne; es vertreibt den Winter aus dem menschlichen Gesichte.

Wenn Cosette nach der Spielstunde in das Kloster zurückging, sah Johann Valjean nach den Fenstern ihrer Klasse; des Nachts stand er auf um nach den Fenstern ihres Schlafsaales zu sehen.

Gott hat seine Wege. Das Kloster trug, wie Cosette, dazu bei, in Johann Valjean das Werk des Bischofs aufrecht zu erhalten und zu vervollständigen. Eine Seite der Tugend grenzt sicherlich an den Stolz. Dieser ist eine vom Teufel gebaute Brücke. Johann Valjean war vielleicht, ohne daß er es wußte, dieser Seite und dieser Brücke nahe, als die Vorsehung ihn in das Kloster von Klein-Picpus warf. So lange er sich nur mit dem Bischofe verglichen, hatte er sich unwürdig gefunden und war demüthig gewesen; seit einiger Zeit aber fing er an sich mit den Menschen zu vergleichen und der Stolz regte sich in ihm. Wer weiß? Vielleicht wäre er dadurch ganz allmälig wieder dem Princip des Hasses verfallen.

Das Kloster hielt ihn auf diesem abschüssigen Wege auf.

Es war der zweite Gefängnißort, den er sah. In seiner Jugend, in dem Beginne seines Lebens und später, ganz neuerlich noch, hatte er einen anderen gesehen, einen furchtbaren, schrecklichen Ort, dessen Strenge ihm immer als das Unrecht der Justiz und das Verbrechen des Gesetzes erschienen war. Jetzt sah er nach dem Bagno das Kloster, und wenn er bedachte, daß er Mitglied des Bagno gewesen und jetzt Zuschauer im Kloster sei, verglich er diese beiden Gefängnißorte im Geiste mit einander.

Bisweilen stützte er sich auf den Spaten und versenkte sich langsam in die grundlosen Schlangenwindungen seiner träumerischen Gedanken.

Er erinnerte sich seiner ehemaligen Gefährten und der strengen Zucht ihrer Lebensweise.

Dann wieder betrachtete er die Wesen, welche er jetzt vor Augen hatte und welche einem nicht minder strengen, vielleicht einem noch härteren Leben unterworfen waren.

Die einen waren Männer, diese waren Frauen.

Was hatten die Männer gethan? Sie hatten gestohlen, geraubt, gemordet. Was hatten diese Frauen gethan? Sie hatten nichts verbrochen.

Auf der einen Seite alle Arten Verbrechen und Verletzungen der öffentlichen Moral, auf der anderen nur Eins: Unschuld, vollkommene Unschuld, die mit der Erde durch die Tugend, mit dem Himmel durch ihre Heiligkeit in Verbindung stand.

Auf der einen Seite Verbrechen, die Einer dem Andern leise anvertraut; auf der anderen laute Beichte geringer Uebertretungen. Und welche Verbrechen! Und was für Uebertretungen!

Zwei Orte der Sclaverei, aber in dem ersten eine mögliche Befreiung, eine gesetzliche Grenze und die Flucht. In dem zweiten die Ewigkeit der Sclaverei, und als Hoffnung, am fernsten Ende der Zukunft, jener Schein der Freiheit, welchen die Menschen Tod nennen.

Im ersten war man nur durch Ketten gefesselt, im zweiten durch seinen Glauben.

Was entstand aus dem ersten? Ein unermeßlicher Fluch, Zähneknirschen, Haß, verzweiflungsvolle Bosheit, ein Wuthschrei gegen die menschliche Gesellschaft, eine Verhöhnung der Gottheit.

Was entsteht aus dem zweiten? Segen und Liebe.

Johann Valjean begriff sehr wohl die eine Buße, die persönliche, die für sich selbst. Aber er begriff nicht die andere, die jener Geschöpfe ohne Vorwurf und Flecken, und mit Zittern fragte er sich: Weshalb büßen sie?

Eine Stimme antwortete in seinem Gewissen: die göttlichste Art des menschlichen Edelmuthes ist die Buße für Andere.

Er hatte den höchsten Gipfel der Selbstverläugnung und die höchste Höhe der möglichen Tugend vor Augen: die Unschuld, welche den Menschen ihre Vergehen verzeiht und dieselben für sie büßt; sanfte, schwache Wesen mit dem Elende derer, welche bestraft, und mit dem Lächeln jener, die belohnt werden.

Und er erinnerte sich daran, daß er zu klagen gewagt habe!

Oftmals stand er mitten in der Nacht auf, um den Dankgesang jener Schuldlosen, von Strenge niedergedrückten Geschöpfe anzuhören und fühlte es eiskalt in seinen Gliedern, wenn er daran dachte, daß diejenigen, welche mit Recht ihre Züchtigung erhalten, ihre Stimme zum Himmel nur erheben, um zu lästern und daß auch er, der Elende, Gott mit der Faust gedroht habe.

Leise flüsterte es in ihm: Mauern hast du überstiegen, Schlösser erbrochen, todesgefährliche Abenteuer gewagt, um aus dem ersten Orte der Buße zu entkommen, jetzt hast du dasselbe gethan, um in diesen Ort der Buße herein zu kommen.

Gitter, Riegel, Eisenstangen sah er wieder und zwar, um wen zu hüten? Engel.

Diese hohen Mauern, welche zur Bewachung von Tigern geeignet gewesen wären, sah er hier rings um eine Heerde unschuldiger Lämmer gezogen.

Es war ein Ort der Buße, nicht der Strafe, und dennoch war er viel düsterer, strenger, unbarmherziger als der andere. Ein kalter, rauher Wind, jener Wind, welcher seine Jugend erkältet hatte, stürmte durch das vergitterte Grab der Geier im Bagno, ein noch schärferer und schmerzlicherer Wind wehte in dem Käfig der Tauben im Kloster.

Warum?

Wenn er daran dachte, so verlor sich Alles, was in ihm war, in diesem Mysterium der Erhabenheit.

Bei solchen Betrachtungen schwand sein Stolz; er ging häufig in sich, fühlte sich gering und unbedeutend und weinte oft. Alles was seit sechs Monaten in sein Leben getreten war, führte ihn zu den heiligen Ermahnungen des Bischofs zurück; Cosette durch Liebe, das Kloster durch Demuth.

Bisweilen, Abends in der Dämmerung, in der Zeit wenn der Garten vereinsamt war, sah man ihn mitten in der Allee, welche an der Kapelle hinführte, vor dem Fenster, durch das er in der Nacht seiner Ankunft hineingesehen hatte, in knieender Stellung nach der Stelle zu, wo er wußte, daß die die reparatio verrichtende Schwester ausgestreckt dalag. So betete er knieend vor dieser Schwester. Vor Gott direct zu knieen, schien er nicht zu wagen.

Alles was ihn umgab, der friedliche Garten, die fröhlichen spielenden Kinder, die ernsten und einfachen Frauengestalten, das stille Kloster, alles dieses durchdrang ihn langsam, und allmälig erfüllte sich seine Seele mit Stille wie dieses Kloster, mit Frieden wie der Garten, mit Einfachheit wie die Nonnen, mit Freude wie die Kinder. Er dachte daran, wie ihn zwei Gotteshäuser nacheinander, in den gefährlichsten Augenblicken seines Lebens, aufgenommen hatten: das erste als alle Thüren sich vor ihm verschlossen und die menschliche Gesellschaft ihn zurückstieß, das zweite als die menschliche Gesellschaft sich wieder aufmachte ihn zu verfolgen und der Bagno sich von neuem hinter ihm öffnete. Er bedachte, wie er ohne das erste wieder in das Verbrechen, ohne das zweite in die Strafe zurückgefallen wäre.

Sein ganzes Herz zerfloß in Dankbarkeit. –

So vergingen mehrere Jahre.

Mittlerweile wuchs Cosette heran.

 

Ende des vierten Bandes.

IV. Das Hin- und Hertappen der Flucht.

Um das Nachfolgende zu verstehen, muß man sich die Oertlichkeit deutlich machen, in welcher sich die erzählten Begebenheiten zutrugen: rechts fast überall ärmliche Häuser, links dagegen ein einziges großes Haus mit verschiedenen Nebengebäuden, welche so gebaut waren, daß sie sich allmälig um eine oder zwei Etagen erhöhten, je mehr sie sich dem Picpus-Gäßchen näherten, so daß nach der Ecke zu, von welcher wir gesprochen haben, diese Gebäude so niedrig waren, daß sie nur eine Mauer waren, welche überdem von der Straße zurückstand. Neben derselben befand sich eine Einfahrt von gewöhnlicher Größe.

Eine Linde streckte ihre Aeste über die Wand. Auf der anderen Seite war die Mauer mit Epheu bekleidet.

In der drohenden Gefahr, in welcher sich Johann Valjean befand, sah dieses düstere Gebäude einsam und unbewohnt aus. Das zog ihn an. Er musterte es rasch mit den Augen und sagte sich, daß, wenn er hineingelangen könnte, er sich vielleicht retten könne. Er schöpfte Hoffnung.

In dem mittleren Theile der Vorderseite des Gebäudes nach der Straße Rechts-Mauer zu befanden sich in allen Fenstern sämmtlicher Etagen alte trichterförmige, bleierne Becken. Die verschiedenen Verzweigungen der Röhren, die von einer Hauptröhre zu allen Becken gingen, bildeten an der Façade eine Art Baum.

Dieses seltsame Spalier mit seinen bleiernen Zweigen war der erste Gegenstand, welcher Johann Valjean auffiel. Er setzte Cosetten mit dem Rücken an einen Stein, empfahl ihr still zu sein und lief an die Stelle, wo das Rohr das Straßenpflaster berührte. Vielleicht war es möglich von hier hinaufzusteigen und in das Haus zu gelangen. Aber das Rohr war entzwei. Uebrigens waren alle Fenster dieses stillen Hauses, selbst die Dachfenster, mit dicken Eisenstäben vergittert. Auch erhellte der Mond mit vollem Licht diese Façade und der Mann, welcher am Ausgange der Straße auf Beobachtung stand, hätte ihn beim Hinaufsteigen gesehen. Und was mit Cosetten machen? Wie sie auf ein drei Stock hohes Haus hinauf bringen?

Er gab es auf, an dem Rohre hinaufzusteigen und schlich längs der Mauer hin. Als er an die einspringende Mauer gelangt, da wo er Cosetten gelassen hatte, bemerkte er, daß ihn hier Niemand sehen könne. Auch waren zwei Thüren hier und vielleicht konnte man sie öffnen. Die Mauer, über welcher er die Linde sah, und der Epheu gehörten offenbar zu einem Garten, wo er sich wenigstens verbergen konnte, obgleich noch keine Blätter an den Bäumen waren. Vielleicht konnte er auch in diesem Garten übernachten.

Die Zeit verging. Er mußte sich beeilen.

Er tastete an dem Einfahrtsthore und erkannte sofort, daß es von innen und außen zugenagelt war. Mit mehr Hoffnung näherte er sich dem anderen Thore. Dieses war scheußlich morsch und selbst seine ungeheure Größe machte es minder fest. Die Bretter waren verfault und die drei eisernen Bänder verrostet. Es schien möglich zu sein dieses wurmstichige Thor aufzubrechen. Er untersuchte es und sah, daß das Thor kein Thor war. Es hatte weder Angeln, noch Schloß, noch Flügel. Die eisernen Bänder liefen ohne Unterbrechung von einem Ende bis zum andern. Zwischen den Bretterritzen hindurch konnte man dick mit Mörtel versehene Steine sehen. Niedergeschlagen gestand er sich, daß diese scheinbare Thür einfach der Verschlag irgend eines Gebäudes sei. Er hätte wohl leicht ein Brett abreißen können, würde dann aber vor einer Mauer gestanden haben.

V. Das wäre bei Gasbeleuchtung unmöglich.

In diesem Augenblicke ließ sich ein dumpfes tactmäßiges Geräusch in einiger Entfernung hören. Johann Valjean wagte seinen Blick ein Wenig um die Ecke. Sieben oder acht Soldaten marschirten in die Gasse hinein. Er sah die Bajonette blinken. Sie kamen auf ihn zu.

Die Soldaten, an deren Spitze er die hohe Gestalt Javerts erkannte, schritten langsam und mit Vorsicht vor. Oft blieben sie stehen. Sie durchsuchten offenbar alle Mauerwinkel und alle Thürvertiefungen.

Es war, und diese Vermuthung konnte keine irrige sein, es war eine Patrouille, welche Javert getroffen und welche er requirirt hatte.

Die beiden Helfershelfer Javerts waren unter den Soldaten.

Nach dem Schritte, mit dem sie gingen, und dem öfteren Stehenbleiben brauchten sie etwa eine Viertelstunde, um an die Stelle zu gelangen, wo sich Johann Valjean befand. Es war ein schrecklicher Augenblick. Einige Minuten trennten Johann Valjean von diesem entsetzlichen Abgrunde, der sich zum dritten Male vor ihm öffnete. Und jetzt war der Bagno nicht blos mehr Bagno, er bedeutete auch den Verlust Cosettens, d. h. ihn bedrohte ein Leben ähnlich dem im Grabe.

Nur Eins war noch möglich. Johann Valjean hatte das Eigenthümliche, daß man sagen konnte, er trug zwei Säcke: in dem einen hatte er die Gedanken eines Heiligen, in dem anderen die entsetzlichen Talente eines Sträflings. Je nach den Umständen und Gelegenheit griff er in den einen oder in den andern.

Dank seinen zahlreichen Fluchtversuchen aus dem Bagno in Toulon war er, unter Anderem, wie man sich erinnert, vollendeter Meister in der unglaublichen Kunst, ohne Leiter, ohne Klammern, allein durch die Kraft seiner Muskeln, durch Anstemmen und Anklammern in einer Mauerecke im Nothfalle sich bis zum sechsten Stockwerke emporzuarbeiten: eine Kunst, welche die Ecke des Hofes der Conciergerie in Paris so erschrecklich und berühmt gemacht hat, in welcher vor etwa zwanzig Jahren der Verurtheilte Battemolle entwischte.

Johann Valjean maß mit den Augen die Mauer, über welcher er die Linde sah. Sie hatte etwa achtzehn Fuß Höhe. Die Ecke, welche sie mit dem Giebel des großen Gebäudes bildete, war in ihrem inneren Theile mit Mauerwerk in dreieckiger Gestalt ausgefüllt, was ungefähr fünf Fuß hoch war. Von der Höhe desselben bis zur Spitze der Mauer waren nicht leicht mehr oder weniger als vierzehn Fuß.

Oben auf der Mauer lag ein glatter Stein ohne Sparren.

Die Schwierigkeit war Cosette. Sie verstand es nicht an einer Mauer emporzuklettern. Sie verlassen? Daran dachte Johann Valjean nicht. Sie mitnehmen war unmöglich, da sein Plan alle seine Kräfte für seine eigene Person beanspruchte. Die geringste Last würde seinen Schwerpunkt verrücken und ihn hinabstürzen.

Einen Strick hätte er brauchen können. Johann Valjean hatte keinen. Wo um Mitternacht einen finden? Gewiß, wenn Johann Valjean in diesem Augenblicke ein Königreich gehabt hatte, er würde es für einen Strick hingegeben haben.

Jedes extreme Verhältniß, jede extreme Lage hat ihre Blitze, welche bald blenden, bald uns erleuchten.

Der verzweiflungsvolle Blick Johann Valjeans begegnete dem Laternenträger in der Sackgasse.

In jener Zeit gab es in den Straßen von Paris keine Gasbrenner. Mit beginnender Dunkelheit zündete man Laternen an, welche in gewissen Entfernungen von einander mittels eines Stricks, welcher über die Straße und in einem Falz eines Pfahls herabhing, empor und herniedergelassen wurden. Die Rolle, auf welcher der Strick lief, befand sich in einem eisernen Schränkchen über dem Pfahl, zu dem der Laternenanzünder den Schlüssel hatte. Der Strick selbst steckte in einem Etui von Metall.

Mit der Energie eines Kampfes auf Tod und Leben sprang Johann Valjean mit einem Satze über die Straße, lief in die Sackgasse, sprengte das Schloß des Laternenpfahlschränkchens mit der Spitze seines Messers auf und einen Augenblick nachher war er wieder bei Cosetten. Er hatte einen Strick. Grade wenn es dringend darauf ankommt, wenn ein schweres Verhängniß droht, da geht es schnell mit dem Auffinden eines Rettungsmittels.

Daß die Laternen an diesem Abende nicht angezündet worden waren, haben wir schon gesagt. Die in der Sackgasse war also natürlich wie alle übrigen nicht angezündet und man konnte bei ihr vorbeigehen, ohne zu bemerken, daß sie nicht mehr auf ihrem Platze war.

Indeß fing die Zeit, der Ort, die Dunkelheit, die Unruhe Johann Valjeans, seine seltsamen Geberden, sein Kommen und Gehen, alles dies fing an Cosetten zu beunruhigen. Jedes andere Kind würde längst schon laut geschrieen haben. Sie beschränkte sich darauf Johann Valjean am Rockschooße zu ziehen. Man hörte immer deutlicher das Geräusch der sich nähernden Patrouille.

»Vater,« sagte sie ganz leise, »ich fürchte mich. Was kommt denn da?«

»Still!« antwortete der unglückliche Mann. »Es ist die Thenardier.«

Die Kleine zitterte. Er setzte hinzu:

»Sprich kein Wort, laß mich nur machen. Wenn Du schreiest, wenn Du weinst, so hört Dich die Thenardier. Sie will Dich wiederholen.«

Darauf, ohne sich zu übereilen, aber doch mit Eile und mit fester und entschlossener Sicherheit, die um so bemerkenswerther in solchem Augenblick war, als die Patrouille und Javert jeden Augenblick ankommen konnten, machte er sein Halstuch ab, band dasselbe Cosetten unter den Achseln um den Leib, wobei er darauf sah, daß er dem Kinde nicht weh thun konnte, befestigte mit einem sogenannten Schwabenknoten das Halstuch an das eine Ende des Strickes, nahm das andere Ende des Strickes zwischen die Zähne, zog seine Schuhe und Strümpfe aus, warf sie über die Mauer, stieg auf das Mauerwerk, welches wir oben erwähnt haben, und begann sich dann in dem Mauerwerke mit solcher Sicherheit empor zu heben, als habe er Stufen unter den Füßen und den Ellenbogen. Noch war eine halbe Minute nicht vorüber und schon kniete er oben auf der Mauer.

Cosette sah ihm staunend zu, ohne ein Wort zu sagen. Die Ermahnung Johann Valjeans und der Name der Thenardier hatten sie starr vor Entsetzen gemacht.

Mit einem Male hört sie die Stimme Johann Valjeans, welcher ihr möglichst leise zurief:

»Lehne Dich an die Mauer.«

Sie gehorchte.

»Sprich kein Wort und fürchte Dich nicht,« fuhr Johann Valjean fort.

Und sie fühlte, wie sie von der Erde empor gezogen wurde.

Ehe sie Zeit hatte daran zu denken, war sie oben auf der Mauer.

Johann Valjean erfaßte sie, nahm sie auf seinen Rücken und ihre beiden kleinen Hände in seine linke Hand, legte sich platt auf den Bauch und kroch auf der Höhe der Mauer hin bis an das Thor, was wenigstens so aussah. Wie er errathen hatte, stand da ein Gebäude, dessen Dach oben an dem Holzverschlage anfing und sanft abfallend bis fast an den Boden hinunter reichte, wobei es die Linde berührte. Das war ein glücklicher Umstand, denn die Mauer war auf dieser Seite viel höher als auf der Straßenseite.

Er war eben an den beschriebenen Ort gelangt und hatte die Mauer noch nicht losgelassen, als heftiger Lärm die Ankunft der Patrouille anzeigte. Man hörte die donnernde Stimme Javerts:

»Durchsucht die Sackgasse! Die beiden anderen Gassen sind bewacht. Ich stehe dafür, daß er in der Sackgasse ist.«

Die Soldaten stürzten sich in die Sackgasse.

Johann Valjean ließ sich, während er Cosette festhielt, längs des Daches hingleiten, erreichte die Linde und sprang hinunter auf den Boden. Sei es Angst oder Muth, Cosette hatte nicht gemuckst. Ihre Hände waren ein wenig geschunden.

VII. Nur die Karte nicht verlieren.

Als der Leichenwagen sich entfernt hatte, als der Geistliche und der Chorknabe wieder eingestiegen und fortgefahren waren, sah Fauchelevent, der seine Augen von dem Todtengräber nicht abwendete, daß derselbe sich bückte und die Schaufel ergriff, die rechts in einem Erdhaufen stak.

Da faßte Fauchelevent einen letzten Entschluß. Er stellte sich zwischen das Grab und den Todtengräber, kreuzte die Arme und sagte:

»Ich bezahle.«

Der Todtengräber sah ihn erstaunt an und fragte:

»Was, Bauer?«

»Ich bezahle,« wiederholte Fauchelevent.

»Was denn?«

»Den Wein.«

»Welchen Wein?«

»Den Argenteuil.«

»Wo?«

»In der Guten Quitte.«

»Geh zum Teufel!« antwortete der Todtengräber, und warf wieder eine Schaufel voll Erde auf den Sarg. Das gab einen dumpfen Klang. Fauchelevent fühlte sich wanken und wäre beinahe selbst in das Grab gefallen. Er rief mit röchelnder Stimme des Todeskampfes:

»Kamerad, ehe die »Gute Quitte« zugemacht wird!«

Der Todtengräber nahm wieder Erde mit der Schaufel und Fauchelevent fuhr fort:

»Ich bezahle.«

Er ergriff den Arm des Todtengräbers und sagte:

»Hören Sie, Kamerad. Ich bin der Todtengräber des Klosters und hergekommen, um Ihnen zu helfen. Die Arbeit kann auch in der Nacht gemacht werden. Zuerst wollen wir aber Eins trinken.«

Während er so sprach und sich hartnäckig an dieses Rettungsmittel anklammerte, legte er sich die traurige Frage vor: »Und wenn er trinkt, wird er sich betrinken?«

»Mensch aus der Provinz,« sagte der Todtengräber, »wenn Sie durchaus daraus bestehen, so willige ich ein. Wir wollen trinken, aber erst nach der Arbeit, vorher nie.«

Und er warf eine Schaufel voll Erde in das Grab.

Fauchelevent hatte den Augenblick erreicht, in dem man nicht mehr weiß, was man sagt.

»So kommen Sie doch und trinken Sie mit mir!« rief er. »Ich bezahle ja.«

»Wenn wir das Kind zu Bett gebracht haben,« antwortete der Todtengräber.

Und er warf wieder eine Schaufel voll in das Grab. Darauf stach er von Neuem in die Erde und setzte hinzu:

»Sehen Sie, es wird kalt werden die Nacht und die Todte könnte hinter uns herschreiten, wenn wir sie nicht zudeckten.«

In diesem Augenblicke bückte sich der Todtengräber, um seine volle Schaufel in die Höhe zu nehmen, wobei sich die Tasche seiner Weste gähnend aufsperrte.

Der wilde Blick Fauchelevents fiel mechanisch auf diese Tasche und blieb fest an derselben hängen.

Die Sonne war noch nicht hinter dem Horizonte verschwunden, es war noch hell genug etwas Weißes in dieser Tasche wahrnehmen zu können.

Ohne daß der Todtengräber es bemerkte, griff ihm Fauchelevent von hinten in die Tasche und zog das weiße Ding darin heraus.

Der Todtengräber warf wieder eine Schaufel Erde in das Grab.

Als er sich umdrehte, um eine neue Schaufel voll zu nehmen, sah ihn Fauchelevent mit der größten Ruhe an und sagte:

»Sie sind neu hier, haben Sie denn auch Ihre Karte mitgebracht?«

»Welche Karte?«

»Die Sonne wird gleich untergegangen sein.«

»Meinetwegen. Mag sie sich ihre Nachtmütze aufsetzen.«

»Die Kirchhofthür wird zugemacht werden.«

»Nun und dann?«

»Haben Sie ihre Karte bei sich?«

»Ach so, meine Karte!« wiederholte der Todtengräber und suchte in der Tasche. Nachdem er die eine durchsucht, gings zur andern, zuletzt zu den Westentaschen. »Nein!« sagte er. »Ich habe meine Karte nicht. Ich werde sie vergessen haben.«

»Fünfzehn Francs Strafe,« sagte Fauchelevent.

Der Todtengräber wurde grün.

»Herr Jesus, mein Gott!« rief er. »Fünfzehn Francs Strafe!«

»Drei Hundertsousstücke,« sagte Fauchelevent.

Der Todtengräber ließ seine Schaufel fallen.

Nun war die Reihe an Fauchelevent.

»Na, na, Recrut,« sagte er, »nur nicht verzweifelt! Fünfzehn Francs sind Fünfzehn Francs und übrigens können Sie sie nicht bezahlen. Ich bin alt und Sie sind neu. Ich will Ihnen einen guten Rath geben. Eins ist klar: die Sonne geht unter, sie berührt schon den Invalidendom, in fünf Minuten wird der Kirchhof geschlossen werden.«

»Es ist wahr,« antwortete der Todtengräber.

»In fünf Minuten können Sie das Grab nicht zu machen, es ist tief wie der Teufel, und dann können Sie nicht mehr hinauskommen, ehe das Thor geschlossen wird.«

»Das ist richtig.«

»Da müssen Sie fünfzehn Francs Strafe zahlen.«

»Fünfzehn Francs.«

»Aber Sie haben Zeit … Wo wohnen Sie?«

»Zwei Schritte von der Barriere. Eine Viertelstunde von hier, Vaugirardstraße Nr. 87.

»Wenn Sie die Beine in die Hand nehmen und. gleich fortmachen, haben Sie noch Zeit.«

»Das ist richtig.«

»Sind Sie einmal außerhalb des Gitters, so laufen Sie was Sie können und holen Ihre Karte, Sie kommen wieder zurück und der Thorwärter macht Ihnen auf. Wenn Sie Ihre Karte haben, so brauchen Sie nichts zu bezahlen. Dann begraben Sie Ihre Todte in aller Ruhe. Ich gebe mittlerweile Achtung, damit sie nicht fortläuft.«

»Sie retten mir das Leben, Bauer.«

»Räumen Sie nur das Feld,« sagte Fauchelevent.

Der Todtengräber schüttelte ihm, außer sich vor Dankbarkeit, die Hand und lief eiligst davon.

Sobald er im Dickicht verschwunden war und Fauchelevent nicht mehr seine Tritte hörte, bückte er sich über das Grab und rief halblaut:

»Vater Madeleine!«

Keine Antwort.

Fauchelevent überlief es kalt. Er fiel mehr in das Grab als er hineinstieg, warf sich auf den Kopftheil des Sarges und rief:

»Sind Sie da?«

Alles still in dem Sarge.

Fauchelevent konnte vor Zittern kaum athmen, nahm seinen Meißel und seinen Hammer und sprengte den Deckel des Sarges auf. Er sah das Gesicht Johann Valjeans, bleich und mit geschlossenen Augen in der Abenddämmerung daliegen.

Fauchelevent standen die Haare zu Berge; er richtete sich auf, sank dann rücklings an die Wand des Grabes und war nahe daran, auf den Sarg in Ohnmacht zu fallen. Er sah Johann Valjean an.

Johann Valjean lag da, bleich und unbeweglich. Wie der Hauch eines Windes, so leise murmelte Fauchelevent mit halber Stimme vor sich hin:

»Er ist todt.«

Dann richtete er sich wieder auf, schlug die Arme so heftig zusammen, daß die beiden geballten Fäuste seine Achseln berührten und rief:

»So habe ich ihn gerettet!«

Und der arme Mann fing an zu schluchzen und mit sich selbst zu sprechen: denn es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, daß das Selbstgespräch nicht in der menschlichen Natur begründet sei.

»Daran ist der Vater Mestienne schuld. Warum ist er gestorben, der Dummkopf! Mußte er denn da grade abfahren, wo man es am allerwenigsten erwartete? Alles ist vorbei! Ach, mein Gott, er ist todt! Und seine Kleine, was fange ich mit der an? Was wird die Obstfrau sagen? Daß ein solcher Mann sterben kann! Das ist ja ganz unmöglich! Wenn ich daran denke, wie er unter meinen Wagen kroch! Vater Madeleine! Er ist, weiß es Gott, erstickt! Er hat es mir ja nicht glauben wollen. Todt ist er, der brave Mann, der beste Mann unter allen guten Leuten! Und seine Kleine! Ich gehe gar nicht fort. Ich bleibe hier. Wie mag er nur in das Kloster gekommen sein? Das war schon der Anfang. Man soll solche Dinge nicht thun. Vater Madeleine! Vater Madeleine! Madeleine! Herr Madeleine! Herr Maire! Er hört mich nicht!«

Er riß sich vor Verzweiflung die Haare aus.

In der Ferne hörte man ein scharfes Knirrschen in den Bäumen: das Gitterthor des Kirchhofes wurde geschlossen.

Fauchelevent bog sich über Johann Valjean. Als er hinsah, empfand er einen Schreck, wie man ihn nur im Grabe empfinden kann. Johann Valjean hatte die Augen offen und sah ihn an.

Einen im Tode sehen ist grauenhaft, Jemand aus dem Tode wieder erwachen zu sehen, ist beinah ebenso. Fauchelevent wurde wie ein Stein bleich, bestürzt, überwältigt von allen diesen Gefühlserschütterungen; er wußte nicht, ob er es mit einem Todten oder einem Lebenden zu thun habe. Er sah Johann Valjean an und dieser ihn.

»Ich war eingeschlafen,« sagte dieser und setzte sich auf.

Fauchelevent fiel auf die Knie.

»Gerechte, heilige Jungfrau, wie haben Sie mich erschreckt!«

Darauf erhob er die Stimme und rief:

»Ich danke, Vater Madeleine.«

Johann Valjean war nur ohnmächtig geworden, die frische Luft hatte ihn wieder erweckt.

Die Freude ist die Fluth nach dem Schrecken. Fauchelevent hatte beinah ebenso viel Mühe wie Johann Valjean, um wieder zu sich zu kommen.

»Sie sind also nicht todt! Wie gescheidt Sie sind! Ich rief Sie so lange, bis Sie zu sich kamen. Als ich Ihre geschlossenen Augen sah, dachte ich: gut! Er ist erstickt. Ich wäre verrückt geworden, so verrückt, daß man mir hätte die Zwangsjacke anlegen müssen. Man hatte mich nach Bicètre bringen müssen. Was sollte ich denn anfangen, wenn Sie gestorben gewesen wären? Und Ihre Kleine? Die Obstfrau würde ja gar Nichts begriffen haben! Ihr ein Kind bringen und dann sagen, der Großvater ist gestorben! Eine schöne Geschichte! Alle Heiligen im Paradiese, was für eine Geschichte! Aber Sie leben, das ist das Beste.«

»Mich friert,« sagte Johann Valjean.

Dieses Wort brachte Fauchelevent vollständig in die Wirklichkeit zurück, die in der That dringend war.

»Schnell von hier hinaus,« rief Fauchelevent.

Er suchte in seiner Tasche und holte eine Korbflasche heraus, mit der er sich versehen hatte.

»Erst einen Tropfen!« sagte er.

Die Korbflasche vollendete, was die frische Luft begonnen hatte. Johann Valjean trank einen Schluck Branntwein und kam wieder vollständig zu sich.

Er stieg aus dem Sarge und half Fauchelevent den Deckel wieder draufnageln.

Drei Minuten später waren sie außerhalb des Grabes.

Fauchelevent war ruhig und nahm sich Zeit. Der Kirchhof war geschlossen, die Rückkunft des Todtengräbers war nicht zu fürchten. Dieser »Rekrut« suchte bei sich zu Hause seine Karte und konnte sie freilich nicht finden, da sie sich in der Tasche Fauchelevents befand. Ohne Karte konnte er auf den Kirchhof nicht zurück.

Fauchelevent nahm die Schaufel und Johann Valjean den Spaten. So begruben beide den leeren Sarg.

Als das Grab ausgefüllt war, sagte Fauchelevent zu Johann Valjean:

»Gehen wir jetzt. Ich behalte die Schaufel, tragen Sie den Spaten.«

Es wurde Nacht.

Johann Valjean hatte Mühe zu gehen, so erstarrt war er in dem Sarge geworden. Die Lähmung des Todes hatte ihn zwischen den vier Brettern überfallen. Er mußte gewissermaßen erst vom Grabe aufthauen.

Vermittelst der Karte des Todtengräbers kamen sie leicht und ohne Aufenthalt durch das Thor des Kirchhofes. Als sie in der Vaugirardstraße waren, sagte Fauchelevent zu Johann Valjean:

»Vater Madeleine, Sie haben bessere Augen als ich, sagen Sie mir doch, wo Nummer 87 ist.«

»Da ist sie grade,« antwortete Johann Valjean.

»Es ist Niemand in der Straße!« fuhr Fauchelevent fort. »Geben Sie mir den Spaten und warten Sie ein paar Minuten.«

Fauchelevent trat in das Haus Nummer 87, ging die Treppen bis ganz hoch hinauf, seinem Instinkte nach, welches den Armen immer bis unter das Dach führt und klopfte im Dunkel an eine Kammerthür. Eine Stimme rief:

»Herein!«

Es war die Stimme Gribiers.

Fauchelevent machte die Thür auf. Die Wohnung des Todtengräbers war, wie alle diese unglückseligen Wohnungen, ohne Möbel und doch vollgepfropft. Eine Packkiste – vielleicht ein Sarg – vertrat die Stelle der Komode, ein Buttertopf den des Wasserhälters, ein Strohsack das Bett, der Fußboden Stühle und Tisch. In einer Ecke, auf einem Lumpen, einem alten Teppichfetzen, kauerte eine hagere Frau und ein Haufen Kinder.

Fauchelevent trat ein und sagte:

»Ich bringe Ihnen Ihren Spaten und Ihre Schaufel.«

Gribier sah ihn verwundert an.

»Sind Sie es, Bauer?«

»Und morgen früh können Sie auch bei dem Thorwärter Ihre Karte finden.«

Dabei legte er Schaufel und Spaten an den Boden.

»Was soll das bedeuten?« fragte Gribier.

»Das bedeutet, daß Sie Ihre Karte aus der Tasche haben fallen lassen, daß ich sie gefunden, sie aufgehoben, den Todten begraben, das Grab fertig gemacht habe. Der Thorwärter wird Ihnen Ihre Karte geben und Sie brauchen nicht fünfzehn Francs zu bezahlen. So ist’s, Recrut!«

»Ich danke, Bauer,« antwortete Gribier erfreut. »Das nächste Mal bezahle ich die Zeche.«

VIII. Das Verhör.

Eine Stunde später, in ganz finsterer Nacht, erschienen zwei Männer und ein Kind vor Nr. 62 der kleinen Picpusstraße. Der ältere der Männer hob den Klopfer und pochte.

Es waren Fauchelevent, Johann Valjean und Cosette.

Die beiden Männer hatten Cosette bei der Obstfrau abgeholt, zu der sie Fauchelevent am vorigen Tage gebracht. Cosette hatte diese vierundzwanzig Stunden verbracht, ohne Etwas zu begreifen, im Stillen aber hatte sie gezittert, so sehr gezittert, daß sie nicht weinte. Sie hatte weder gegessen noch geschlafen. Die würdige Obstfrau hatte hundert Fragen an sie gerichtet, ohne eine andere Antwort zu bekommen als einen traurigen und immer denselben Blick. Von Allem, was Cosette in den letzten beiden Tagen gehört und gesehen hatte, ließ sie durchaus nichts durchblicken. Sie errieth, daß sie eine Krisis durchmache und fühlte, daß sie vernünftig sein müsse. Uebrigens bewahrt Niemand ein Geheimniß besser als ein Kind.

Als sie aber nach diesen traurigen vierundzwanzig Stunden Johann Valjean wiedergesehn, hatte sie ein solches Freudengeschrei ausgestoßen, daß jeder Mensch mit Verstand, der es gehört, errathen hätte, daß sie mit diesem Schrei einen Kerker verlasse.

Fauchelevent war aus dem Kloster und wußte die Passirworte. Alle Thore öffneten sich ihm.

So war die doppelte und schreckliche Aufgabe gelöset: hinaus und herein zu kommen.

Sie begaben sich sofort in das Sprechzimmer, wo Fauchelevent am vorigen Tage den Befehl der Priorin empfangen hatte.

Die Priorin erwartete sie mit dem Rosenkranz in der Hand. Eine Stimmmutter stand mit herabgelassenen Schleier neben ihr. Eine bescheidene Kerze erhellte oder that so als erhellte sie das Sprechzimmer.

Die Priorin ließ Johann Valjean die Revue passiren. Nichts mustert so gut, wie ein niedergeschlagenes Auge.

Dann fragte sie ihn:

»Sie sind der Bruder?«

»Ja, hochwürdige Mutter,« antwortete Fauchelevent.

»Wie heißen Sie?«

Fauchelevent antwortete:

»Ultime Fauchelevent.«

Er hatte in der That einen Bruder Namens Ultime gehabt, der gestorben war.

»Woher sind Sie?«

Fauchelevent antwortete:

»Aus Picquigny bei Amiens.«

»Wie alt sind Sie?«

»Funfzig Jahre.«

»Was sind Sie?«

»Gärtner.«

»Sind Sie ein guter Christ?«

»Jedermann in meiner Familie ist ein guter Christ.«

»Die Kleine gehört Ihnen?«

»Ja, hochwürdige Mutter.«

»Sie sind Ihr Vater?«

»Ihr Großvater.«

Die Stimmmutter sagte leise zur Priorin:

»Er antwortet gut.«

Johann Valjean hatte nicht ein Wort gesprochen.

Die Priorin sah Cosetten mit Aufmerksamkeit an und sagte leise zur Stimmmutter:

»Sie wird häßlich werden.«

Die beiden Mütter sprachen einige Minuten sehr leise in der Ecke des Sprechzimmers, darauf drehte sich die Priorin um und sagte:

»Vater Fauvent, Sie werden noch ein Knieband mit einem Glöckchen bekommen. Wir brauchen jetzt zwei.«

Am andern Tage hörte man in der That zwei Glöckchen im Garten und die Nonnen konnten nicht umhin, die eine Ecke ihres Schleiers ein klein Wenig in die Höhe zu heben.

»Das ist der Gärtnergehilfe,« sagten sie. Die Stimmmütter setzten hinzu: »der Bruder des Vater Fauvent.«

Am meisten hatte die von der Priorin gemachte Bemerkung »Sie wird nicht hübsch werden« bewirkt, daß »Ultime Fauchelevent« und sein Kind in das Kloster aufgenommen worden waren.

Die Priorin hatte sofort Cosette lieb gewonnen und ihr unentgeltlich ein Pensionat eingeräumt.

Das ist alles sehr logisch.

Wenn man auch keinen Spiegel im Kloster hat, die Frauen haben ein besonderes Gewissen, das ihnen sagt, wie sie aussehen. Die Mädchen, welche wissen, daß sie hübsch sind, lassen sich nicht leicht zu Nonnen machen; denn der Klosterberuf steht, wenn er freiwillig gewählt wird, im umgekehrten Verhältniß zur Schönheit. Man hofft mehr auf Häßliche als auf Schöne. Daher die Vorliebe für die kleinen häßlichen Mädchen.