17.

Der Fürst und Sergey Iwanowitsch setzten sich in den Wagen und fuhren; die übrige Gesellschaft ging langsam zu Fuß nach Haus.

Die Wolke kam indessen, bald weiß, bald schwarz, so schnell herauf, daß man den Schritt verdoppeln mußte, um noch vor dem Regen heim zu sein.

Die vorauseilenden Wolken, niedrighängend und dunkel, wie Rauch mit Ruß, kamen mit ungewöhnlicher Schnelligkeit am Himmel herauf. Bis nach dem Hause waren noch zweihundert Schritt und schon erhob sich der Wind. Jede Sekunde mußte man den Regen erwarten.

Die Kinder eilten mit erschrecktem und lustigem Geschrei voraus. Darja Aleksandrowna, die mühsam mit ihren Röcken kämpfte, welche sich um ihre Beine schlugen, ging schon nicht mehr, sondern lief, die Kinder nicht aus den Augen lassend. Die Männer gingen, ihre Hüte haltend, mit großen Schritten dahin, und waren gerade vor der Freitreppe, als ein großer Tropfen fiel und auf dem Rand der eisernen Rinne aufschlug. Die Kinder und hinter ihnen die Erwachsenen eilten in lustigem Gespräch unter das schützende Dach.

»Wo ist Katharina Aleksandrowna?« frug Lewin die ihnen im Vorzimmer begegnende Michailowna, welche die Tücher und Plaids trug.

»Wir dachten, sie käme mit Euch,« sagte sie.

»Und Mitja?«

»Ist wohl im Wäldchen, die Kinderfrau wird bei ihm sein.«

Lewin ergriff sein Plaid und eilte nach dem Wäldchen.

Während der kurzen Zwischenzeit hatte sich die Wolke schon so weit heraufbewegt, daß sie mit ihrem Mittelpunkt die Sonne deckte, und es so dunkel geworden war wie bei einer Sonnenfinsternis.

Der Wind blies hartnäckig, als bestehe er auf seinem Rechte, und erschwerte Lewin das Gehen; er riß Blätter und Blüten von den Linden ab und beugte ungeschlacht die weißen Äste der Birken nach einer Seite nieder, die Akazien, die Blumen, das Gras und die Wipfel der Bäume. Mägde, die im Garten gearbeitet hatten, liefen mit Geschrei unter das Dach des Gesindehauses. Der weiße Schleier des strömenden Regens hatte schon den ganzen, fernen Wald bedeckt und die Hälfte des Feldes, und bewegte sich schnell auf das Wäldchen zu. Die Feuchtigkeit des Regens, der in feine Tröpfchen zersprühte, war in der Luft zu spüren.

Den Kopf nach vorn niedergebeugt und mit dem Winde kämpfend, der ihm das Tuch entriß, war Lewin schon an das Wäldchen gelangt; schon hatte er etwas Weißes hinter einer Eiche erblickt, als plötzlich alles in Flammen stand, die ganze Erde aufloderte und gerade über Lewins Kopfe das Himmelsgewölbe krachend erbebte. Die geblendeten Augen öffnend, erblickte Lewin durch den dichten Schleier des Regens, der ihn jetzt vom Wäldchen trennte, zunächst den grünen Wipfel der ihm bekannten Eiche inmitten des Waldes, welcher in sonderbarer Weise seine Stellung verändert hatte.

»Sollte sie zersplittert sein?« – Lewin hatte dies noch kaum gedacht, als plötzlich der Wipfel der Eiche mehr und mehr die Bewegung beschleunigend, hinter den anderen Bäumen verschwand. Er vernahm das Krachen der auf die umgebenden Bäume stürzenden, großen Eiche.

Das Licht des Blitzes, das Hallen des Donners und die Empfindung von einem ihn plötzlich mit Kälte umgebenden Körper flossen für Lewin in einem einzigen Eindruck des Schreckens zusammen.

»Mein Gott! Mein Gott! Wenn es nur sie nicht getroffen hat!« brachte er hervor. Obwohl er sich sogleich sagte, wie sinnlos die Bitte von ihm war, sie möchten von der Eiche nicht getroffen worden sein, die nun doch schon gestürzt lag, wiederholte er dieselbe nochmals, da er nichts Besseres als so gedankenlos zu beten, zu thun wußte.

An dem Platze, wo sie sich gewöhnlich aufhielten, fand er sie nicht. Sie waren am anderen Rande des Waldes unter einer alten Linde und riefen ihn. Zwei Gestalten in dunkeln Kleidern – sie waren vorher hell gewesen – standen dort, über etwas gebeugt. Es war Kity und die Kinderfrau. Der Regen hatte bereits aufgehört, und es begann wieder hell zu werden, als Lewin sie erreichte. Die Kinderfrau hatte die Unterkleider noch trocken, Kitys Kleid aber war durch und durch naß und klebte. Obwohl kein Regen mehr fiel, verharrten sie noch immer in der Stellung, die sie eingenommen hatten, als das Gewitter losbrach. Beide standen mit einem grünen Sonnenschirme über den kleinen Wagen gebeugt.

»Lebt Ihr? Seid Ihr unversehrt? Gott sei gedankt!« sprach er, mit dem wassergefüllten Stiefel in das Wasser tretend, welches sich noch nicht verlaufen hatte.

Das gerötete, feuchte Gesicht Kitys war ihm zugewandt und lächelte sanft unter dem Hute hervor, der seine Façon verloren hatte.

»Du müßtest dir aber Vorwürfe machen! Ich begreife nicht, wie man so unvorsichtig sein kann!« sagte er ärgerlich zu seinem Weibe.

»Ich bin bei Gott nicht schuld. Wir wollten gerade fort, da ging es los. Wir mußten das Kind anders legen und waren kaum« – entschuldigte sich Kity.

Mitja war unversehrt, trocken und schlief ruhig fort.

»Gott sei gedankt! Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Sie nahmen die nassen Windeln, die Kinderfrau wickelte das Kind aus und trug es. Lewin ging neben seiner Frau; er machte sich Vorwürfe wegen seiner Heftigkeit und drückte ihr, nur verstohlen, wegen der Kinderfrau, die Hand.

18.

Während des ganzen Tages empfand Lewin in den verschiedensten Gesprächen, an denen er gleichsam nur mit der Außenseite seines Verstandes teilnahm, mit Freude, wie voll sein Herz war.

Nach dem Regen war es zu naß zum Spazierengehen geworden; dazu kam, daß auch die Gewitterwolken nicht vom Horizonte wichen, sondern donnernd und dunkel am Rande des Himmels bald hierhin bald dorthin zogen. Die ganze Gesellschaft verbrachte daher den Rest des Tages im Hause.

Debatten gab es nicht mehr, im Gegenteil befand sich alles nach dem Mittagessen bei bester Laune.

Katawasoff unterhielt die Damen anfangs mit seinen originellen Späßen, die stets so gut gefielen, sobald man mit ihm bekannt wurde, sprach aber dann, von Sergey Iwanowitsch aufgefordert, über seine sehr interessanten Beobachtungen des Unterschieds in den Charakteren und selbst Physiognomien der männlichen und weiblichen Mücken, sowie von deren Leben.

Sergey Iwanowitsch war gleichfalls gut aufgelegt und entwickelte, vom Bruder veranlaßt, beim Thee seine Ansicht über die Zukunft der Frage bezüglich des Ostens, so einfach und so gut, daß ihm alles lauschte.

Nur Kity konnte ihn nicht zu Ende hören; man rief sie zu Mitja, der gewaschen werden sollte.

Wenige Minuten, nachdem Kity verschwunden war, wurde Lewin zu ihr in die Kinderstube gebeten. Seinen Thee stehen lassend, ging er, die Unterbrechung des interessanten Gesprächs bedauernd, zugleich aber auch besorgt über den Grund weshalb man ihn rufe – er wurde nur bei wichtigen Dingen gerufen – in die Kinderstube.

Obwohl ihn der nicht zu Ende gehörte Plan Sergey Iwanowitschs, wie die befreite Welt der vierzig Millionen Slaven mit Rußland zusammen eine neue historische Epoche herbeiführen müsse, ein Plan, der für ihn als etwas völlig Neues sehr interessant war – obwohl ihn daher die Neugier, zugleich aber auch die Besorgnis, weshalb man ihn rufe, quälten – so fielen ihm doch, sobald er allein war und den Salon hinter sich hatte, seine Gedanken vom Morgen wieder ein, und alle die Betrachtungen über die Bedeutung des slavischen Elements in der Weltgeschichte erschienen ihm nun so nichtig im Vergleich zu dem, was in seiner Seele geschah, daß er augenblicklich alles dies vergaß und sich wieder in die Stimmung versetzte, in der er heute Morgen gewesen.

Er rief sich jetzt nicht mehr wie früher erst seinen ganzen Gedankengang ins Gedächtnis zurück – das brauchte er nicht mehr – sondern versetzte sich sofort in das Gefühl, welches ihn beherrschte, und mit jenen Gedanken in Verbindung stand, und fand dasselbe in seiner Seele noch weit stärker und bestimmter geworden, als früher. Es ging ihm jetzt nicht mehr so, wie bei seinen früheren künstlich ersonnenen Beruhigungsversuchen, bei denen er seinen gesamten Gedankengang wieder zusammenstellen mußte, um ein Gefühl zu finden. Jetzt war im Gegenteil die Empfindung der Freude und Ruhe lebendiger als vorher und sein Denken reifte gar nicht vor seinem Fühlen.

Er schritt über die Terrasse und schaute nach zwei Sternen, die an dem schon dunkelnden Himmel hervortraten, und plötzlich fiel ihm ein, »ja, zum Himmel emporblickend, habe ich gegrübelt, daß das Gewölbe da oben, welches ich sehe, nicht wirklich sei, dabei aber ein Etwas nicht mitbedacht, was ich vor mir selbst verbarg! Nun, was dort oben auch sein mag, einen Einwand kann es nicht geben. Man muß das Wohl bedenken – und alles klärt sich dann auf.«

Schon bei seinem Eintritt in die Kinderstube fiel es ihm bei, was er sich selbst verhehlt hatte. Es war dies: »Wenn der höchste Beweis der Gottheit in deren Offenbarung, im Wesen des Guten beruhte, weshalb beschränkte sich dann diese nur auf die christliche Kirche? In was für Beziehungen zu dieser Offenbarung standen nun die Glaubensbekenntnisse der Buddhisten, der Mohammedaner, die doch auch an das Gute glaubten und es thaten?«

Ihm schien, daß es eine Antwort auf diese Frage für ihn gab, doch hatte er sich diese noch nicht gegeben, da trat er schon in die Kinderstube ein.

Kity stand mit aufgestreiften Ärmeln an der Wanne über das plätschernde Kind gebeugt und wandte, als sie die Schritte des Gatten hörte, diesem ihr Gesicht zu. Sie rief ihn lächelnd zu sich. Mit der einen Hand hielt sie den wohlgenährten Kleinen, der auf dem Rücken schwamm, unter dem Köpfchen mit der andern drückte sie ein Schwämmchen über ihm aus.

»Ach, sieh nur sieh,« sagte sie, als ihr Mann herzutrat. »Agathe Michailowna hat Recht. Es erkennt uns schon.«

Es hatte sich also darum gehandelt, daß Mitja feit dem heutigen Tage augenscheinlich schon alle die Seinen erkannte.

Kaum war Lewin an die Wanne getreten, so wurde vor ihm der Versuch angestellt, und er gelang vollständig. Die Köchin, die eigens dazu herbeigerufen worden war, beugte sich über das Kind. Das Kind machte ein mürrisches Gesicht und bewegte ablehnend das Köpfchen. Nun beugte sich Kity darüber, da erglänzte es von einem Lächeln, stemmte sich mit den Ärmchen gegen den Schwamm und stieß einen so behaglichen und eigentümlichen Laut aus, daß nicht nur Kity und die Kinderfrau, sondern auch Lewin in ungeahntes Entzücken gerieten. Man nahm das Kind auf einem Arme aus der Wanne, spülte es mit Wasser ab, wickelte es in ein Tuch und gab es, nachdem nochmals ein durchdringender Schrei ertönt war, der Mutter.

»Ich freue mich nur, daß du anfängst, es lieb zu gewinnen,« sagte Kity zu ihrem Gatten, nachdem sie sich, das Kind am Busen, ruhig auf ihren gewohnten Platz gesetzt hatte. »Ich freue mich sehr darüber. Es hatte mich auch schon recht erbittert. Du sagtest doch, daß du gar nichts für den Kleinen fühltest.«

»Nun, habe ich etwa gesagt, ich fühlte nichts für ihn? Ich habe nur gesagt, daß ich von ihm enttäuscht worden wäre.«

»Wie; von dem Kinde enttäuscht?«

»Nicht von ihm enttäuscht, Wohl aber von meinem Gefühl. Ich hatte mehr erwartet. Ich hatte erwartet, daß sich, gleich einer Überraschung, in mir ein ganz neues und angenehmes Gefühl regen würde. Und plötzlich, anstatt dessen, fühlte ich nur Widerwillen und Mitleid« –

Sie hörte ihm aufmerksam zu, während sie ihre Ringe wieder auf die seinen Finger steckte, die sie vorher abgestreift hatte, um das Kind zu baden.

»Die Hauptsache dabei war doch, daß es bei weitem mehr Schrecken und Schmerz gegeben hat, als Freude. Heute, nach dem Schrecken während des Gewitters habe ich erkannt, wie ich das Kind liebe.«

Kity erstrahlte von einem Lächeln.

»Du warst wohl sehr in Schrecken?« frug sie. »Ich war es auch, doch ist mir es jetzt noch viel ängstlicher zu Mut, nachdem es vorbei ist. Ich werde mir die Eiche besehen. O wie lieb doch Mitja ist! Das Kind ist überhaupt den ganzen Tag so reizend gewesen, doch du bist wohl so gut, dich mit Sergey Iwanowitsch zu beschäftigen – wenn du willst – geh‘ doch jetzt zu ihm. Es ist so wie so hier bei der Wanne stets sehr heiß und dunstig.«

13.

Lewin ging mit großen Schritten die Landstraße entlang, weniger seinen Gedanken Gehör gebend – er vermochte noch nicht, sie zu sichten – als mit seinem Seelenzustand beschäftigt, der jetzt so war, wie er ihn noch nie an sich kennen gelernt hatte.

Die Worte, die ihm von dem Bauern gesagt worden waren, brachten in seiner Seele die Wirkung eines elektrischen Funkens hervor, der plötzlich erscheint, zusammengesetzt aus einer ganzen Schar gesonderter, unkräftiger Gedanken, die nicht aufhörten, ihn zu beschäftigen. Diese Gedanken hatten ihn, ohne daß er es merkte, schon während der Zeit, als er von dem Landverkauf sprach, beschäftigt.

Er fühlte in seiner Seele etwas Neues und empfand dieses Neue mit Befriedigung, doch ohne zu wissen, was es sei.

»Nicht für meine Notdurft allein soll ich leben, sondern für Gott. Für welchen Gott? Kann man etwas Unsinnigeres äußern, als das, was Fjodor sagte? Er sagte, man müsse nicht nur für seine Bedürfnisse leben, das heißt, für das, was wir verstehen, wozu wir Neigung empfinden, wonach uns verlangt, sondern für etwas Unbegreifliches, für einen Gott, den niemand begreifen, oder bezeichnen kann. Und was will ich? Habe ich die sinnlosen Worte Fjodors nicht verstanden? Wenn ich sie verstanden habe, zweifle ich denn an ihrer Richtigkeit? Habe ich sie thöricht, unklar und ungenau gefunden? Nein, ich habe ihn verstanden, und vollkommen so, wie er selbst versteht; er hat vollständig, und klarer verstanden, als ich Etwas im Leben verstehe, und nie im Leben habe ich daran gezweifelt, werde ich daran zweifeln können. Nicht ich allein aber, sondern jedermann, die ganze Welt, erkennt dieses Eine völlig und zweifelt nicht daran und ist damit einverstanden. Aber ich suchte Wunder, ich habe es beklagt, daß ich kein Wunder sah, welches mich überzeugte. Ein materielles Wunder hätte mich gelockt. Aber es giebt ja ein Wunder, das einzig mögliche, immerwährend vorhandene, mich von allen Seiten umgebende – und ich habe das nicht bemerkt! Fjodor sagt, daß Kiriloff nur für seinen Bauch lebt. Dies ist begreiflich und verständig. Wir alle, als vernünftige Wesen, können nicht anders leben, als für unseren Leib. Und da sagt nun dieser Fjodor plötzlich, daß es häßlich sei, nur für den Wanst zu leben; man müsse der Gerechtigkeit, für Gott leben, und ich verstehe ihn aus diesem Fingerzeig. Ich sowohl, wie die Millionen von Menschen, welche Jahrhunderte vor uns gelebt haben und jetzt noch leben, die Bauern, die Bettler am Geist und die Weisen, die, welche darüber gedacht und geschrieben haben, in ihrer unklaren Sprache dasselbe sagend – wir alle sind in dem Einen einverstanden: Weshalb man leben muß, und was gut ist! – Mit allen Menschen habe ich nur eine feste, unzweifelhafte und klare Erkenntnis, und diese Erkenntnis kann nicht vom Verstand erläutert werden, sie liegt außerhalb desselben und hat keine Gründe, kann auch keine Folgen haben. Wenn das Gute eine Ursache hat, so ist es schon nicht mehr gut; wenn es eine Folge hat, eine Belohnung, so ist es gleichfalls nicht gut. Vielleicht liegt das Gute außerhalb der Kette von Ursache und Wirkung. Und ich kenne das; wir alle kennen es. Welches Wunder könnte es geben, das größer wäre, als dies? Habe ich denn wirklich die Lösung des Ganzen gefunden, sollten jetzt alle meine Leiden vorüber sein?« dachte Lewin, auf dem staubigen Wege hinschreitend, ohne die Hitze zu merken oder die Ermüdung, aber im Gefühl einer Abspannung von den langen Leiden.

Dieses Gefühl war ein so freudiges, daß es ihn ganz unwahrscheinlich vorkam. Er atmete schwer vor Erregung, und bog, ohne die Kraft, noch weiter zu gehen, vom Wege ab in den Wald und setzte sich in den Schatten einer Esche auf das nicht gemähte Gras. Er nahm den Hut von dem nassen Kopfe und legte sich, auf den Arm gestemmt, in das saftige, schwellende Waldgras.

»Ja, ich muß mir alles klar machen, und verstehen,« dachte er, starr auf das nicht niedergedrückte Gras blickend, welches vor ihm stand, und den Bewegungen eines grünen Blattlauskäfers folgend, der sich an dem Stengel eines Queckengrases erhob, in seinem Aufstieg aber durch ein Blatt gehindert wurde.

»Was habe ich entdeckt?« frug er sich, das Blatt entfernend, um das Insekt nicht zu hindern, und ein anderes Gras biegend, daß der Blattlauskäfer auf dasselbe hinüberlaufen könne. »Was freut mich denn so? Was habe ich denn entdeckt? Ich habe nichts entdeckt! Ich habe nur erkannt, was ich weiß. Ich habe jene Kraft erkannt, die nicht nur in der Vergangenheit liegt, die mir das Leben gegeben hat und mir auch jetzt das Leben verleiht. Ich habe mich vom Irrtum befreit und den Herrn erkannt! Früher sagte ich, daß sich in meinem Körper, in dem Körper dieses Grases und dieses Käfers – da, er hat nicht auf das Gras gewollt, die Flügel ausgebreitet und ist fortgeflogen – nach physikalischen, chemischen und physiologischen Gesetzen ein Stoffwechsel vollzieht. In uns allen aber, gleich wie in jenen Espen, in den Wolken und den Nebelflecken, vollzieht sich eine Entwicklung. Woher stammt diese Entwicklung? Auf was geht sie? Es ist eine endlose Entwicklung, ein Kampf. Ganz ebenso nun kann eine gewisse Richtung, ein Kampf in dem Unendlichen sein. Und da habe ich mich gewundert, daß mir trotz der größten geistigen Anstrengungen auf diesem Wege, dennoch nicht der Gedanke des Lebens geoffenbart worden ist! Jetzt spreche ich es aus, daß ich den Gedanken meines Daseins kenne: Leben für Gott und für die Seele! Und dieser Gedanke ist ungeachtet seiner Klarheit geheimnisvoll und wundersam. So ist auch der Gedanke des gesamten Seins,« sprach er zu sich selbst, sich auf den Leib wälzend und Grashalme in Bündel zusammennehmend, wobei er sich hütete, sie zu zerknicken. In Kürze wiederholte er sich nun selbst den ganzen Gang seiner Gedanken während der letzten beiden Jahre, dessen Anfang klar war; der deutliche Gedanke an den Tod bei dem Anblick des geliebten, hoffnungslos kranken Bruders.

Zum erstenmale, damals klar erkennend, daß es für jeden Menschen, und auch für ihn, in Zukunft nichts als Leiden, Tod und ewige Vergessenheit geben werde, entschied er, daß er so nicht weiter leben könne, und sich sein Leben entweder so abklären müsse, daß es nicht mehr als der böse Streich eines Satans erscheine – oder er sich erschießen müsse, Er that indes weder das Eine noch das Andere, sondern lebte ruhig weiter und fuhr fort, zu sinnen und zu spüren; hatte sogar gerade in dieser Zeit geheiratet, erlebte viele Freuden und fühlte sich glücklich, wenn er nicht an den Zweck seines Daseins dachte.

Was aber bedeutete das? Es bedeutete, daß er rechtschaffen lebte, aber schlecht dachte. Er lebte – ohne dies zu erkennen – von jenen geistigen Wahrheiten, die er mit der Muttermilch eingesogen hatte, und dachte, ohne diese Wahrheiten anzuerkennen, ja, sie geflissentlich umgehend.

Jetzt wurde es ihm klar, daß er leben konnte nur dank jenen Überzeugungen, in denen er erzogen war.

»Was würde ich gewesen sein, und wie hätte ich mein Leben verbracht, hätte ich diese Überzeugungen nicht gehabt, nicht gewußt, daß man für Gott leben muß und nicht für die eigenen Bedürfnisse? Ich hätte geraubt, gelogen, gemordet. Nichts von dem, was die höchsten Freuden meines Lebens ausmacht, würde für mich vorhanden gewesen sein.«

Aber trotz der größten Anstrengungen seiner Vorstellungskraft, konnte er sich doch nicht jenes tierische Geschöpf vorstellen, welches er selbst gewesen sein würde, wenn er nicht erfahren hätte, wozu er lebte.

»Ich habe die Antwort auf meine Frage gesucht, aber diese Antwort kann nicht das Denken geben, welches in unmeßbarem Verhältnis zu der Frage steht. Die Antwort hat mir das Leben selbst gegeben in meiner Erkenntnis dessen, was gut und schlecht sei. Aber diese Erkenntnis habe ich nicht durch Etwas erworben, sondern sie ist mir gegeben gewesen zugleich mit allem, gegeben deswegen, weil ich sie von nirgendsher nehmen konnte. Woher habe ich sie genommen? Bin ich durch meinen Verstand darauf gekommen, daß ich meinen Nächsten lieben soll und ihn nicht erwürgen darf. Man hat mir das in der Kindheit gesagt und ich habe es freudig geglaubt, weil man mir nur gesagt hatte, was mir schon in der Seele lag. Aber wer hat dies entdeckt? Der Verstand nicht! Der Verstand hat den Kampf ums Dasein entdeckt und das Gesetz, welches fordert, das man alle, die uns an der Befriedigung unserer Wünsche hindern, beseitigen soll. Dies ist die Lehre des Verstandes, aber die Nächstenliebe konnte der Verstand nicht lehren, weil das unverständig gewesen wäre.«

13.

Lewin fiel die kürzlich stattgehabte Scene mit Dolly und ihren Kindern ein. Die Kinder, allein gelassen, hatten Himbeeren über Kerzen geröstet und sich die Milch als Fontäne in den Mund gespritzt. Die Mutter, welche sie auf der That ertappt, hatte ihnen in Lewins Gegenwart zu Gemüt geführt, welche große Mühe den Erwachsenen das verursache, was sie da verdorben, und daß diese Arbeit doch für sie geschähe, und sie, wenn sie die Tassen zerschlügen, nichts haben würden, woraus sie Thee tränken; wenn sie aber Milch vergössen, so würden sie nichts zu essen haben und müßten Hungers sterben.

Lewin überraschte die stille Niedergeschlagenheit und der Argwohn, mit welchem die Kinder diese Worte der Mutter anhörten. Sie waren nur darüber erbittert, daß ihr unterhaltendes Spiel abgebrochen worden war, und glaubten kein Wort von dem was die Mutter sagte. Sie konnten es auch nicht glauben, weil sie sich den ganzen Umfang dessen, was sie begangen, gar nicht vorstellen, und infolge dessen sich nicht denken konnten, daß das, was sie verdorben hatten, eben das sei, wovon sie lebten.

»Das ist alles für sich allein da,« dachten sie, »und etwas Interessantes oder Wichtiges liegt nicht darin, deswegen weil es stets war und sein wird und stets ein und dasselbe ist. Wir brauchen daher gar nicht daran zu denken, denn das ist alles schon da und wir wollen nur etwas Eigenes und recht Neues dabei ausdenken. So haben wir uns ausgedacht, in die Tasse Himbeeren zu nehmen und sie über einem Licht zu rösten, die Milch aber als Fontäne uns gegenseitig in den Mund zu spritzen. Das ist lustig und neu und in nichts schlechter, als aus den Tassen zu trinken.«

»Thun wir nun nicht etwa ganz das Nämliche, thue ich es nicht, mit meinem Verstande die Bedeutung der Naturkräfte erforschend und den Gedanken des menschlichen Lebens?« fuhr Lewin fort zu denken. »Und thun dies nicht alle philosophischen Theorieen, indem sie auf einen seltsamen, dem Menschen nicht eigenen Gedankenweg, zu der Erkenntnis dessen führen, was der Mensch lange schon weiß, so genau weiß, daß er ohne es gar nicht hätte leben können. Ist es denn nicht aus der Entwicklung der Theorie eines jeden Philosophen klar ersichtlich, daß er im voraus unfehlbar ebenso gut, wie der Bauer Fjodor und durchaus nicht genauer als dieser, den Hauptgedanken des Daseins kennt, und nur auf dem zweifelhaften Wege des Verstandes zu dem gelangen will, was allen bekannt ist? Wollte man die Kinder allem auf Erwerb ausgehen lassen, sollten dieselben Geschirr fertigen, Milch melken etc., würden sie dann Mutwillen treiben? Sie würden Hungers sterben. Nun, so wollen wir doch mit unseren Leidenschaften und Gedanken ohne Verständnis des einigen Gottes und Schöpfers bleiben, oder ohne Verständnis von dem, was gut ist, ohne Offenbarung des moralisch Schlechten. ›Aber schafft Ihr etwas ohne dieses Verständnis!‹ ›Wir zerstören nur, weil wir geistig satt sind. Wir sind eben Kinder!‹ Woher kommt in mir diese freudige, mir mit dem Bauern gemeinsame Erkenntnis, welche mir allein die Seelenruhe verleiht? Woher habe ich sie genommen? Erzogen in der Vorstellung eines Gottes, als Christ, und mein ganzes Leben hindurch erfüllt von diesen geistigen Gütern, die mir das Christentum verliehen hat, welches an diesen lebendigen Schätzen überreich ist und in ihnen lebt, zerstöre ich diese, wie die Kinder, ohne sie zu verstehen, – das heißt, ich will zerstören – das, wodurch ich lebe. Sobald jedoch eine ernste Minute des Lebens naht, gehe ich, wie die Kinder, wenn sie frieren oder hungrig sind, zu Ihm, und fühle noch weniger als Kinder, welche die Mutter wegen kindischer Streiche schilt, daß meine kindlichen Versuche, über die man genugsam schelten könnte, mir nicht angerechnet werden. Also das, was ich weiß, weiß ich nicht infolge des Verstandes, sondern es ist mir gegeben, mir geoffenbart, und ich weiß es durch mein Herz, meinen Glauben an das Höchste, was die Kirche bekennt.«

»Die Kirche? Die Kirche?« wiederholte Lewin, sich auf die andere Seite legend und schaute, auf den Ellbogen gestützt, in die Ferne nach einer jenseits zum Flusse gehenden Herde. »Kann ich dann aber an alles glauben, was die Kirche lehrt?« dachte er, sich prüfend und alles das überdenkend, was seine jetzige Ruhe stören konnte. Absichtlich begann er, sich diejenigen Lehren der Kirche zu vergegenwärtigen, die ihm vor allen anderen stets befremdlich gewesen waren und ihn verleitet hatten.

»Die Schöpfung? Womit habe ich denn das Sein erklärt? Mit dem Sein? Mit dem Nichts? – Teufel und Sünde! – Womit erkläre ich das Böse? – Was ist der Erlöser?« – Ich weiß eben nichts, nichts, und kann nichts wissen, als nur das, was mir und allen anderen gesagt worden ist.« –

Und jetzt schien es ihm, als gäbe es kein einziges unter den Bekenntnissen der Kirche, welches die Hauptsache, den Glauben an Gott, an das Gute, als die einzige Bestimmung des Menschen stürzte. Für jedes Bekenntnis der Kirche konnte das Bekenntnis zum Dienst in der Wahrheit anstatt in den Lüsten eingesetzt werden. Und jedes derselben warf dies nicht nur nicht um, sondern war vielmehr erforderlich dazu, daß sich jenes höchste, beständig auf Erden erscheinende Wunder auch vollzog, welches darin bestand, daß es jedem möglich werde, gemeinsam mit Millionen verschiedenartigster Menschen, mit Weisen und Narren, Kindern und Greisen – mit allen, mit den Bauern und mit Lwoff, mit Kity, und mit Bettlern oder Königen untrüglich ein und dasselbe zu erkennen, und das Leben der Seele hinzuzustellen, für welches allein es schon der Mühe wert war zu leben, und das allein wir schützen.

Auf dem Rücken liegend, sah er jetzt in den hohen, wolkenlosen Himmel hinein.

»Weiß ich denn nicht, daß dies ein endloser Raum ist, und kein rundes Gewölbe? Aber wie ich auch den Blick anstrengen mag, ich kann ihn nicht anders erblicken als rund und unbegrenzt und ungeachtet meiner Kenntnis seiner unbegrenzten Weite habe ich unzweifelhaft recht. Wenn ich das feste blaue Gewölbe ansehe, handle ich richtiger, als wenn ich mich anstrenge, weiter zu blicken.«

Lewin hörte schon auf zu denken, gleich als ob er geheimnisvollen Stimmen lauschte, die sich freudig und sorglich unterhielten.

»Sollte dies etwa der Glaube sein?« dachte er, sich schauend, seinem Glück zu trauen. »Mein Gott, ich danke dir!« sprach er, ein aufsteigendes Schluchzen hinunterschluckend und sich mit beiden Händen die Thränen abwischend, von denen seine Augen voll standen.

11.

Beim Eintritt in das Atelier musterte der Künstler Michailoff noch einmal seinen Besuch und prägte seinem Gedächtnis noch den Gesichtsausdruck Wronskiys ein, insbesondere dessen Backenpartieen.

Wenn auch sein künstlerisches Empfinden fortwährend thätig war, indem es Material sammelte, wenn er auch immer mehr und mehr die Erregung darüber empfand, daß die Minute der Beurteilung seines Werkes nahte, so hatte er sich doch dabei schnell und feinsinnig aus unmerklichen Anzeichen eine Vorstellung über diese drei Personen gebildet.

Der Eine da – Golenischtscheff – war ein hiesiger Russe. Michailoff entsann sich weder seiner Familie, noch wußte er mehr, wo er ihm begegnet war, und was er mit ihm gesprochen hatte. Er entsann sich nur noch seines Gesichts, wie er sich überhaupt aller Gesichter entsann, die er einmal gesehen hatte, doch entsann er sich auch, daß dies eines jener Gesichter war, die von seiner Phantasie in die höchst umfangreiche Klasse der unwahren und ausdrucksarmen einregistriert wurden. Die langen Haare und die sehr offene Stirn verliehen dem Gesicht äußere Bedeutung, obwohl sich auf ihm nur wenig, kindlich-unruhiger Ausdruck, der sich über der schmalen Nasenwurzel konzentrierte, zeigte.

Wronskiy und die Karenina mußten nach der Vorstellung, die sich Michailoff von ihnen machte, vornehme und reiche Russen sein, die nichts von Kunst verstanden, wie alle diese reichen Russen, sich aber als Liebhaber und Verehrer derselben gebärdeten.

»Sie haben gewiß schon die ganze alte Kunst gesehen und bereisen jetzt die Ateliers der neuen Meister, die deutschen Charlatane und die englischen Praerafaelistennarren, und kommen nun zu mir nur der Vervollständigung der Umschau halber,« dachte er.

Er kannte die Manier der Dilettanten sehr genau – je klüger diese erschienen, um so schlimmer war es – welche die Ateliers der zeitgenössischen Künstler nur mit der Absicht zu sehen kamen, daß sie das Recht hätten sagen zu können, die Kunst sei im Niedergang begriffen und daß sich, je mehr man auf die Neuen schaue, umsomehr wahrnehmen lasse, wie unnachahmlich erhaben die alten Meister geblieben seien.

Er erwartete alles dies, sah alles dies, schon auf ihren Gesichtern, in dieser gleichmütigen Nachlässigkeit, mit der sie unter sich sprachen und auf die Büsten blickten und sich ungezwungen bewegten, in der Erwartung, daß er ihnen das Gemälde zeigen würde. Aber nichtsdestoweniger empfand er beim Durchblättern seiner Skizzen und als er die Vorhänge hob und die Decke wegnahm, eine hohe tiefe Erregung; umsomehr, als ihm, obwohl alle vornehmen und reichen Russen dumm und beschränkt nach seinen Begriffen sein mußten, Wronskiy sowohl wie besonders Anna, gefielen.

»So, ist es gefällig?« sprach er, mit linkischem Gange auf die Seite tretend und nach dem Bilde weisend. »Es ist die Mahnung des Pilatus. Matthäi Kap. XXVII« – sagte er, im Gefühl, daß seine Lippen vor Aufregung zu zittern begannen. Er ging abseits und trat hinter sie.

Während der wenigen Sekunden, während deren die Besucher schweigend das Gemälde beschauten, blickte es Michailoff gleichfalls an, und er schaute mit gleichgültigem, interesselosem Blick darauf. Während dieser wenigen Sekunden hatte er sich im voraus davon überzeugt, daß das höchste und gerechteste Urteil von ihnen ausgesprochen werden würde, gerade von diesen Besuchern, welche er eine Minute zuvor noch so gering geschätzt hatte. Er hatte alles vergessen, was er über sein Bild vorher gedacht hatte während der drei Jahre, in denen es von ihm gemalt ward; er vergaß alle Vorzüge desselben, die für ihn zweifellos vorhanden waren und sah sein Bild nur mit ihrem unbewegten, unparteiischen und frischen Blick an; und jetzt sah er an ihm nichts Gutes mehr. Er sah im Vordergrund das unwillige Gesicht des Pilatus und das ruhige Antlitz Christi, im Hintergrund die Gestalten der Kreaturen des Pilatus und das Gesicht Johannis, die Vorgänge beobachtend. Jedes Gesicht, unter so vielem Suchen, so vielem Irren, Verbessern an seinem eigenartigen Charakter in ihm erstanden, jedes dieser Gesichter, die ihm so viel Mühe und Freude gemacht hatten, sie alle, so oft umgeändert unter der Rücksichtnahme auf den Gesamteindruck, und auf alle diese Nuancen des Kolorits und der Töne, die er mit soviel Mühe erzielt hatte, alles dies vereint, zeigte sich ihm jetzt, indem er die Augen der Besucher beobachtete, als Trivialität, die schon tausendmal wiederholt worden war.

Selbst das wertvollste dieser Gesichter, das Antlitz Christi, als Mittelpunkt des Bildes, der ihm soviel Freude gemacht hatte, als er es endlich gefunden, alles das erschien jetzt verloren für ihn, als er auf sein Gemälde mit ihren Augen blickte. Er sah nur eine gut – und selbst das nicht einmal, da er jetzt klar eine Masse von Mängeln wahrnahm – gemalte Wiederholung aller jener zahllosen Christusbilder Tizians, Rafaels, Rubens‘, und der nämlichen Söldner des Pilatus. Alles war trivial, dürftig und veraltet, ja, selbst schlecht gemalt – bunt und schwach. Sie werden recht haben, wenn sie in Gegenwart des Künstlers verstellte höfliche Phrasen drechseln, ihn aber bedauern und verspotten, sobald sie unter sich sind.

Das Schweigen wurde ihm allzu drückend, obwohl es nicht länger als eine Minute gewährt hatte; um es zu berechnen und zu zeigen, daß er nicht aus seiner Ruhe gekommen sei, wandte er sich, indem er sich zusammenraffte, an Golenischtscheff.

»Ich hatte wohl, wie mir scheint, das Vergnügen« – sagte er zu demselben, unruhig bald auf Anna, bald auf Wronskiy blickend, um nicht einen einzigen Zug des Ausdrucks ihrer Gesichter zu verlieren – »Ihnen schon begegnet zu sein?« –

»Gewiß! – Wir sahen uns bei Rossi, entsinnt Ihr Euch jenes Abends, als jene italienische Dame vortrug,« begann Golenischtscheff frei, und ohne das geringste Bedauern den Blick von dem Gemälde ab und zum Maler wendend.

Als er indessen bemerkte, daß Michailoff ein Urteil über sein Gemälde erwarte, sagte er: »Euer Bild hat gute Fortschritte gemacht, seit ich es zum letztenmal gesehen habe. So wie damals, überrascht mich auch jetzt die Figur des Pilatus. So muß man diesen Mann auffassen, als gut und brav, aber als Beamter bis auf den Kern seiner Seele, der nicht weiß, was er anrichtet. Mir scheint indessen« –

Michailoffs bewegliches Gesicht erglänzte plötzlich über und über, seine Augen leuchteten auf.

Er wollte etwas sagen, konnte es aber vor Erregung nicht, und stellte sich nun, als müsse er husten. So niedrig wie er auch die Fähigkeit Golenischtscheffs, die Kunst zu verstehen, anschlug, so unbedeutend auch die treffende Bemerkung desselben über die Wahrheit des Gesichtsausdruckes des Pilatus als eines Beamten war, so zurücksetzend für ihn die Äußerung einer so unbedeutenden Bemerkung erscheinen konnte, die zuerst kam, während über das Hauptsächlichste nicht gesprochen worden war, befand sich Michailoff gleichwohl in Entzücken über dieselbe. Er selbst dachte über die Figur des Pilatus das Nämliche, was Golenischtscheff ausgesprochen hatte. Der Umstand, daß dieses Gutachten nur eines von Millionen anderer war, die, wie Michailoff sicher wußte, alle richtig gewesen sein würden, verminderte für ihn die Bedeutung desselben nicht. Er gewann Golenischtscheff für diese Bemerkung lieb und fiel aus der Stimmung der Beklommenheit plötzlich in die des Entzückens. Sofort lebte sein ganzes Gemälde vor ihm wieder auf in all der unaussprechlichen Schwierigkeit alles Lebenden. Michailoff versuchte es nochmals zu sagen, daß er sich den Pilatus ebenso gedacht habe, aber seine Lippen fibrierten nur widerspenstig und er konnte sich nicht äußern. Wronskiy und Anna sagten gleichfalls etwas mit jener leisen Stimme, mit welcher man gewöhnlich – teils um den Künstler nicht zu verletzen, teils um nicht laut eine Dummheit zu sagen, die man so leicht äußern kann, wenn man über Kunst spricht – in Gemäldeausstellungen konversiert.

Michailoff schien es, als ob sein Bild auch auf sie Eindruck gemacht hätte. Er trat zu ihnen hin.

»Wie wunderbar ist der Ausdruck des Christus!« sagte Anna. Vor allem, was sie gesehen, hatte ihr dieser Ausdruck gefallen, und sie fühlte, daß dies der Mittelpunkt des Gemäldes war und deshalb ein solches Lob dem Künstler angenehm sein würde.

»Man sieht, wie er Pilatus bemitleidet!«

Dies war wiederum eins aus der Million richtiger Urteile, die man an seinem Bilde und an der Figur des Christus finden konnte.

Sie hatte gesagt, daß es ihm leid thue um Pilatus. In dem Ausdruck des Christus mußte ja auch der von Mitleid liegen, da in ihm der der Liebe lag, einer überirdischen Ruhe und Todesbereitschaft, des Bewußtseins einer bevorstehenden Rechenschaft über seine Worte. Gewiß lag der Ausdruck des dienstthuenden Beamten in dem Pilatus, der des Mitleids mit diesem in dem Christus, da der Eine die Verkörperung des fleischlichen, der Andere die des geistigen Lebens ist. Alles das und noch vieles andere ging Michailoff durch den Kopf, und abermals leuchtete sein Auge auf vor Entzücken.

»Und wie diese Figur gearbeitet ist, wie viel Luft; man kann um ihn herumgehen,« sagte Golenischtscheff, offenbar um mit dieser Bemerkung anzudeuten, daß er den Gedanken und Sinn der Figur nicht billige.

»Ja, ein wunderbares Meisterstück. Wie jene Figuren in dem Hintergrunde sich abheben! Das ist Technik!« sagte Wronskiy, sich zu Golenischtscheff wendend, und damit auf ein zwischen ihnen stattgehabtes Gespräch darüber, daß Wronskiy an der Erwerbung dieser Technik verzweifelte, anspielend.

»Ja, ja, wunderbar,« bestätigten Golenischtscheff und Anna.

Trotz des aufgeregten Zustandes, in welchem sich Michailoff befand, griff diesen doch die Bemerkung über die Technik schmerzlich ans Herz und grollend auf Wronskiy blickend, verfinsterte er sich plötzlich. Oft schon hatte er das Wort Technik gehört und durchaus nicht begriffen, was man eigentlich darunter verstände. Er wußte, daß man mit diesem Worte die mechanische Fertigkeit des Malens und Zeichnens meine, die vollständig unabhängig war von dem Inhaltlichen. Oft schon hatte er bemerkt – auch bei der gegenwärtigen Lobesspende – daß man die Technik dem inneren Werte gegenüberstelle, gerade als ob es möglich wäre, das gut zu malen, was schlecht sei. Er wußte wohl, daß viel Aufmerksamkeit und Vorsicht erforderlich sei, um ein Gemälde nicht zu schädigen, wenn man von ihm die Hüllen abnahm, aber eine Kunst des Malens – eine Technik – die gab es dabei nicht. Hätte sich einem kleinen Kinde, oder seiner Köchin das ebenfalls geoffenbart, was er sah, dann würden diese gleichfalls das herauszuschälen verstanden haben, was sie sah. Aber selbst der erfahrenste und auch geschickteste Beherrscher der Maltechnik wäre allein mit der mechanischen Fertigkeit nicht imstande gewesen, etwas zu malen, wenn sich ihm nicht vorher die Grenzen des Inhaltlichen offenbarten. Dann aber wußte er auch, daß wenn man nun einmal von einer Technik sprach, er ihretwegen nicht gerühmt werden konnte. In allem was er malte und schon gemalt hatte, erkannte er ihm in die Augen fallende Mängel, die aus der Unvorsichtigkeit hervorgegangen waren, mit der er die Hüllen entfernt hatte, und die er nun nicht mehr verbessern konnte, ohne die ganze Schöpfung zu verderben. Fast auf allen Figuren und Gesichtern sah er noch die Mängel nicht vollständig abgenommener Hüllen, die sein Gemälde verdarben.

»Eines, wenn Ihr mir gestattet, diese Bemerkung zu machen, ließe sich sagen,« äußerte Golenischtscheff.

»Ah, sehr erfreut, ich bitte Euch,« antwortete Michailoff mit gekünsteltem Lächeln.

»Es ist dies, daß dieser Christus da bei Euch ein Menschgott, aber kein Gottmensch geworden ist. Indessen, ich weiß ja, daß Ihr es eben so gewollt habt.«

»Ich konnte den Christus nicht malen, der nicht in meiner Seele ist,« versetzte der Maler mürrisch.

»Ja, aber in diesem Falle – wenn Ihr mir gestattet meine Idee auszusprechen – Euer Gemälde ist so gut, daß meine Bemerkung ihm nicht schaden kann, und dann ist dies ja auch nur meine persönliche Meinung. Bei Euch ist das etwas Anderes; selbst das Motiv ist ein anderes. Aber nehmen wir etwa den Iwanoff. – Ich glaube, daß wenn Christus mit der Norm eines historischen Gesichts zusammengebracht wird, es für Iwanoff besser wäre, ein anderes historisches Thema zu wählen, ein neues, noch nicht angeschlagenes.

»Wie aber, wenn dies das erhabenste Thema wäre, welches sich der Kunst bietet« –

»Wenn man nur suchen will, so wird man auch andere finden. Es handelt sich nur darum, daß die Kunst keinen Streit, und keine Düfteleien duldet. Vor einem Gemälde Iwanoffs ersteht für den Gläubigen wie für den Nichtgläubigen die Frage: Ist das Gott oder ist es nicht Gott? und diese stört die Einheit des Eindrucks.

»Warum? Mir scheint, daß für gebildete Menschen,« sagte Michailoff, »ein Streit nicht mehr bestehen kann.«

Golenischtscheff war hiermit nicht einverstanden und fertigte Michailoff mit seinen ersten Gedanken über die Einheit des Eindrucks ab, die in der Kunst notwendig sei.

Michailoff geriet in Erregung, wußte aber nichts zur Verteidigung seines Gedankens zu sagen.

14.

Lewin schaute vor sich hin und sah die Herde, dann erblickte er seinen Wagen mit den Braunen bespannt, und den Kutscher, welcher zur Herde heranfahrend, mit dem Hirten sprach. Hierauf vernahm er, bereits in seiner Nähe, das Geräusch von Rädern und das Schnauben eines satten Pferdes, doch war er so versunken in seinen Gedanken, daß er gar nicht daran dachte, weshalb der Kutscher zu ihm gefahren komme.

Es fiel ihm das erst ein, als ihm dieser, bereits ganz nahe bei ihm, zurief:

»Die Herrin schickt mich. Der Bruder und noch ein Herr sind angekommen.«

Lewin setzte sich auf den Wagen und ergriff die Zügel. Wie aus dem Schlaf erwacht, konnte er lange Zeit nicht zur klaren Besinnung kommen. Er betrachtete das satte Pferd, blickte den Kutscher Iwan an, der neben ihm saß und besann sich nun, daß er den Bruder ja erwartete, daß seine Frau wahrscheinlich über sein langes Ausbleiben besorgt sein werde; und er bemühte sich nun, zu raten, wer der Gast sein könne, der mit dem Bruder gekommen war. Sowohl dieser, wie sein eigenes Weib und der unbekannte Besuch erschienen ihm jetzt anders, als vorher. Ihm schien, als ob jetzt seine Beziehungen zu allen Menschen schon andere werden wollten.

»Dem Bruder gegenüber wird jetzt nicht mehr die Rede von jener Entfremdung sein, die stets zwischen uns herrschte, es sollten keine Streitigkeiten mehr herrschen; auch mit Kity sollte es nie mehr Zwist geben und mit dem Gaste, wer es auch sein mag, werde ich freundlich und gut sein; auch mit den Leuten, mit Iwan – alles wird anders werden.«

Straff das vor Ungeduld schnaubende, eine schnellere Gangart anstrebende, gute Pferd haltend, schaute Lewin den neben ihm sitzenden Iwan an, der nicht wußte, was er mit seinen zur Unthätigkeit verurteilten Händen machen sollte, und beständig sein aufgeblähtes Hemd andrückte und suchte nach einem Thema, um ein Gespräch mit diesem zu beginnen.

Er wollte sagen, daß Iwan überflüssigerweise den Sattelriemen zu hoch gezogen habe, doch dies wäre einem Vorwurf ähnlich gewesen und er wollte jetzt nur freundliche Gespräche führen. Etwas anderes kam ihm nicht in den Kopf.

»Nehmt doch, bitte rechts, sonst wird der Baumstamm da« – sagte der Kutscher, Lewins Zügel dirigierend.

»Laß das gefälligst und belehre mich nicht!« antwortete Lewin, ungehalten über diese Einmischung des Kutschers.

So wie immer, machte ihn auch jetzt eine Einmischung verstimmt, und er fühlte sogleich voll Schmerz, wie irrig seine Vermutung gewesen war, daß seine Seelenstimmung ihn sogleich bis zu einer Anpassung an die Wirklichkeit hätte wandeln können.

Als er sich seinem Hause bis auf eine viertel Werft genähert hatte, erblickte er Grischa und Tanja, die ihm entgegeneilten.

»Onkel Konstantin! Mama kommt auch, und der Onkel, und Sergey Iwanowitsch und noch jemand,« sagten sie auf den Wagen kletternd.

»Wer denn?«

»Außerordentlich seltsam! Er macht es mit den Händen immer so,« sagte Tanja, sich im Wagen erhebend und Katawasoff nachahmend.

»Ist er alt oder jung?« frug Lewin lachend, die Vorstellung Tanjas hatte ihn an jemand erinnert. »O, wenn es nur kein unangenehmer Mensch ist!« dachte er.

Kaum um die Biegung des Weges herum, gewahrte Lewin die Entgegenkommenden, und erkannte Katawasoff im Strohhut, wie er im Gehen mit den Armen schwenkte, so wie es Tanja vorgemacht hatte.

Katawasoff sprach sehr gern über Philosophie, obwohl er von ihr nur einen Begriff aus den Naturwissenschaften besaß, und sich sonst nie damit beschäftigt hatte. In Moskau hatte Lewin in letzter Zeit viel mit ihm disputiert. Eines jener Gespräche, in welchem Katawasoff jedenfalls gehofft hatte Sieger zu bleiben, fiel Lewin sofort wieder ein, nachdem er Katawasoff erkannt hatte.

»Nein; streiten und in unüberlegter Weise meine Ideen äußern werde ich um keinen Preis,« dachte er.

Aus dem Wagen steigend und den Bruder nebst Katawasoff begrüßend, frug Lewin dann nach seiner Frau.

»Sie hat Mitja in das Wäldchen beim Hause getragen. Sie wollte es dorthin bringen, denn im Hause ist es zu warm,« berichtete Dolly. Lewin hatte seiner Gattin stets davon abgeraten, das Kind in den Wald zu tragen, da er dies für gefährlich befand, und die Nachricht war ihm daher unangenehm.

»Sie schleppt sich mit ihm von Ort zu Ort,« sagte der Fürst lächelnd. »Ich habe ihr geraten, es in den Eiskeller zu bringen.«

»Sie wollte nach dem Bienengarten gehen, da sie dachte, du würdest dort sein. Wir gehen soeben hin,« sagte Dolly.

»Nun, was machst du denn?« sagte Sergey Iwanowitsch, von den anderen weggehend und sich zu dem Bruder gesellend.

»Nichts Besonderes. Wie immer, beschäftige ich mich mit der Ökonomie,« antwortete Lewin. »Und du? Bleibst du lange hier? Wir haben dich so lange erwartet.«

Bei diesen Worten begegneten sich die Augen der Brüder und Lewin fühlte, trotz des steten und jetzt bei ihm besonders lebhaft gewordenen Wunsches, in freundschaftliche und hauptsächlich klare Beziehungen zu seinem Bruder zu treten, daß es ihm peinlich war, denselben anzublicken. Er schlug die Augen nieder und wußte nicht, was er sagen sollte.

Indem er die Themen durchging, welche Sergey Iwanowitsch willkommen sein und ihn von dem Gespräch über den serbischen Krieg und die slawische Frage ablenken konnten, auf die er schon mit einem Hinweis auf seine Geschäfte in Moskau hingewiesen hatte, begann Lewin von dem Buche Sergey Iwanowitschs zu sprechen.

»Nun, sind denn Recensionen über dein Buch erschienen?« frug er.

Sergey Iwanowitsch lächelte über das Vorbedachte in der Frage.

»Es hat sich niemand darum gekümmert; ich am allerwenigsten,« sagte er. »Paßt auf, Darja Aleksandrowna, es wird Regen geben,« fügte er hinzu, mit dem Schirme auf die über den Wipfeln der Espen erscheinenden weißen Wolken deutend.

Es waren genug Worte gefallen, die, wenn nicht eine feindselige, so doch kühle Beziehung zwischen beiden, wie sie Lewin so gern vermieden hätte, wiederum zwischen den Brüdern eintreten lassen konnten.

Lewin ging zu Katawasoff.

»Wie gut Ihr daran thatet, Euch zu einem Besuch bei uns zu entschließen,« sagte er zu ihm.

»Ich war schon lange dazu im Begriff gewesen. Nun können wir disputieren. Laßt doch sehen. Habt Ihr Spencer gelesen?«

»Nun, nicht ganz,« versetzte Lewin, »ich brauche ihn übrigens jetzt nicht.«

»Was heißt das? Er ist doch so interessant. Warum denn nicht?«

»Ich habe mich endgültig überzeugt, daß ich die Lösungen der Fragen, welche mich beschäftigen, nicht in ihm und seinesgleichen finde. Jetzt« –

Der ruhige, heitere Gesichtsausdruck Katawasoffs überraschte ihn plötzlich, und um seine Stimmung, die er offenbar mit diesem Gespräch fahren lassen mußte, war es ihm nun so leid, daß er in der Erinnerung an seinen Vorsatz, innehielt.

»Sprechen wir übrigens später davon,« fügte er hinzu. »Wenn wir nach dem Bienengarten wollen, so müssen wir hierhin, auf diesem Fußweg,« wandte er sich an die Gesellschaft.

Als man auf dem engen Fußwege bis zu einer ungemähten Wiese gekommen war, auf welcher auf der einen Seite dichter Heller Kuhweizen stand, während sich in der Mitte viele dunkelgrüne hohe Büsche von Nießwurz befanden, ließ Lewin seine Gäste in dem tiefen kühlen Schatten der jungen Espen auf einer Bank und auf Holzklötzen, die für die Besucher des Bienengartens, welche sich vor den Bienen fürchteten, eigens vorgerichtet waren, niedersetzen, und begab sich selbst zu einem Verhau, um den Kindern und Erwachsenen Brot, Gurken und frischen Honig zu holen.

Im Bemühen, sich möglichst ruhig zu bewegen, und den immer häufiger und häufiger an ihm vorüberfliegenden Bienen lauschend, ging er auf dem Fußweg bis zur Hütte. Dicht vor dem Flur summte eine Biene auf, die sich in seinem Barte verwickelt hatte, doch er befreite sie behutsam.

Nachdem er in den schattigen Flur getreten war, nahm er von der Wand sein dort auf einem Pflock aufgehängtes Netz herab und ging, sobald er es angelegt und die Hände in die Taschen gesteckt hatte, in den umzäunten Bienengarten, in welchem in regelmäßig angelegten Reihen, mit Bast an Pfähle festgebunden, inmitten eines glattgemähten Platzes die sämtlichen, ihm so wohlbekannten Bienenkörbe standen – die jeder seine eigene Geschichte hatten – an den Seiten des Zaunes aber befanden sich die jungen, welche erst im laufenden Jahre eingesetzt worden waren. Vor den Fluglöchern der Bienenstöcke flimmerten in den Augen die kreisenden und sich auf einem Punkte zusammendrängenden Bienen und Drohnen und unter ihnen, immer in der nämlichen Richtung zum Wald hinüber nach einer blühenden Linde, und zu den Stöcken zurück flogen die Arbeitsbienen mit ihrer Ladung oder nach derselben. Man hatte nur das unausgesetzte wechselnde Summen der in Thätigkeit begriffenen, eilig dahinfliegenden Arbeitsbiene, oder der blasenden, müßigen Drohne im Ohr, oder das von Erschreckten, die ihre Beute vor einem Feinde in Sicherheit brachten und im Begriff waren, nun bei den Wachen des Stockes Beschwerde zu führen. Jenseits der Umzäunung hobelte ein alter Mann, der Lewin nicht bemerkt. Dieser blieb in der Mitte des Bienengartens stehen, ohne jenen anzurufen. Er freute sich über die Gelegenheit, wieder allein zu sein, sich von der Wirklichkeit wieder erholen zu können, welche ihm bereits seine Stimmung wieder herabgemindert hatte.

Er erinnerte sich, daß er schon auf Iwan ungehalten gewesen war, seinem Bruder Kälte gezeigt und mit Katawasoff oberflächlich zu sprechen angefangen hatte.

»Sollte das doch nur eine zeitweilige Stimmung gewesen sein, welche vorübergeht, ohne eine Spur zu hinterlassen?« dachte er.

Doch im nämlichen Augenblick, indem er sich seiner Stimmung zuwandte, empfand er voll Freude, daß etwas Neues und Bedeutsames in ihm vorging. Die Wirklichkeit hatte nur für einige Zeit jene seelische Ruhe überdeckt, die er gefunden hatte, diese aber war noch unversehrt in ihm.

Gleichwie die Bienen, welche ihn jetzt umschwirrten, ihm drohten und ihn weglockten, ihn seiner vollen physischen Ruhe beraubten, ihn zwangen, sich zu krümmen und ihnen auszuweichen, so hatten ihn die Sorgen, seit dem Augenblick an ihn herangetreten, da er sich in den Wagen gesetzt hatte, seiner geistigen Freiheit beraubt; aber dies währte nur so lange, bis er mitten unter ihnen war.

Wie seine körperliche Kraft unversehrt in ihm lebte, so war auch die Kraft seines Geistes, deren er sich aufs neue bewußt geworden war, noch unversehrt in ihm.

8.

Seit jener Minute, da Lewin beim Anblick des geliebten sterbenden Bruders zum erstenmal auf die Frage des Lebens, wie des Todes durch jene – wie er sie nannte – neuen Überzeugungen hindurchblickte, die, unmerklich für ihn, während der Zeit von seinem zwanzigsten bis zum vierunddreißigsten Jahre, seine Überzeugungen aus der Kinderzeit wie die seines Jünglingsalters ausgelöst hatten, erschrak er nicht so sehr vor dem Tode, als vor einem Leben, über das er nicht die geringste Kenntnis, woher es stamme, warum es sei und was es sei, besäße.

Der Organismus, die Verrichtungen desselben, die Unerschöpflichkeit der Materie, das Gesetz der Erhaltung der Kraft, die Entwicklung – so lauteten die Begriffe – die für seinen alten Glauben eingetreten waren.

Diese Worte und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen waren recht gut für Verstandeszwecke, für das Leben aber ergaben sie nichts und Lewin fühlte sich plötzlich in der Lage eines Menschen, der einen warmen Pelz für einen Kattunanzug vertauscht hat, und zum erstenmal in der Kälte untrüglich, nicht durch logische Erwägungen, sondern in seiner ganzen Wesenheit davon überzeugt wird, daß er geradezu nackt und einem unvermeidlichen, qualvollen Untergang verfallen sei.

Seit jener Minute hatte Lewin, ohne sich indessen davon Rechenschaft zu geben, und indem er sein Leben wie bisher fortsetzte, fortwährend diese Angst über sein Nichtwissen empfunden.

Außerdem aber empfand er voll Unruhe, daß das, was er seine Überzeugungen nannte, nicht nur Unwissenheit war, sondern eine Richtung im Denken, unter welcher ihm die Erkenntnis dessen, was ihm nötig war, unmöglich wurde.

In der ersten Zeit hatte seine Heirat, sowie ungekannte Freuden und Pflichten die er dabei kennen lernte, diese Gedanken vollständig in ihm erstickt, aber seit kurzem, nach der Niederkunft seiner Frau, während er müßig in Moskau gelebt hatte, war bei Lewin immer häufiger, und immer nachdrücklicher, diese Frage, eine Entscheidung verlangend, aufgetaucht. Die Frage bestand für ihn hierin: »Wenn ich jene Antworten nicht anerkenne, die das Christentum auf die Fragen über mein Leben erteilt, welche Antworten erkenne ich dann an?« Und in dem gesamten Arsenal seiner Überzeugungen vermochte er weder die geringste Antwort zu finden, noch etwas, was einer solchen ähnlich gewesen wäre.

Er befand sich in der Lage eines Menschen, der Nahrung sucht in Spielzeugmagazinen oder Waffenläden.

Unwillkürlich und ihm selbst unbewußt suchte er jetzt in jedem Buche, bei jedem Gespräch, in jedem Menschen Beziehungen zu diesen Fragen und Lösungen derselben.

Am meisten setzte ihn hierbei der Umstand in Zweifel, daß die Mehrzahl der Menschen seines Kreises und Alters, die doch ebenso wie er, frühere Überzeugungen mit eben solchen neuen zu vertauscht hatten, wie er sie besaß, hierin kein Unglück sehen, sondern vollkommen zufrieden und ruhig waren, und so kam es, daß Lewin neben der Hauptfrage auch noch Nebenfragen quälten. Ob diese Menschen aufrichtig waren? Ob sie sich nicht verstellten? Oder ob sie etwa anders als er, klarer, die Antworten aufgefaßt hatten, welche die Wissenschaft auf die ihn beschäftigenden Fragen gab? Geflissentlich studierte er die Meinungen dieser Menschen und die Bücher, welche diese Antworten gaben.

Eins, was er seit der Zeit, seit der ihn diese Fragen beschäftigt, gefunden hatte, war dies, daß er sich geirrt habe in jener Annahme, die noch auf den Erinnerungen aus dem Jünglingskreis auf der Universität beruhte, die Religion habe sich überlebt und existiere gar nicht mehr. Sowohl der alte Fürst, wie Lwoff, den er so lieb gewonnen hatte, und Sergey Iwanowitsch und alle Frauen, auch sein Weib, glaubten so, wie er in seiner Kindheit geglaubt hatte; neunzig Hundertstel des russischen Volkes, ja, jenes ganze Volk, dessen Leben ihm die höchste Achtung einflößte, glaubte.

Ein Zweites war dies, daß er sich nach der Lektüre vieler Bücher überzeugt hatte, die Menschen, die mit ihm gemeinsame Anschauungen hatten, könnten sich unter diesen nichts anderes denken, und verneinten jene Fragen einfach, ohne sie zu erklären, jene Fragen, ohne deren Beantwortung er – er fühlte es – nicht leben könne, und bemühten sich, ganz andere dafür zu lösen, die seine Fragen gar nicht interessieren konnten, wie zum Beispiel die über die Entwicklung der Organismen, über die mechanischen Offenbarungen der Seele u. s. w.

Außerdem hatte sich aber noch während der Niederkunft seiner Frau etwas für ihn Ungewöhnliches ereignet. Er hatte dabei, ohne Glauben, zu beten begonnen und während der Minute in der er betete, auch geglaubt. Diese Minute war indessen vorübergegangen und er vermochte jener Stimmung von damals in seinem Leben nicht wieder stattzugeben.

Er vermochte nicht zuzugestehen, daß er damals das Rechte erkannt habe, jetzt aber irre; weil ihm, sobald er ruhig darüber nachzudenken begann, alles in Trümmer fiel. Er vermochte auch das nicht zuzugestehen, daß er damals geirrt habe, weil er seine seelische Stimmung von damals hochschätzte, während, indem er sie für eine Folge seiner Schwachheit anerkannte, jene Minuten entweiht haben würde.

Er befand sich in einer qualvollen Disharmonie mit sich selbst und spannte alle Geisteskräfte an, aus derselben herauszukommen.

9.

Diese Gedanken peinigten und quälten ihn bald mehr, bald weniger, nie aber verließen sie ihn ganz. Er las und dachte, und je mehr er las und sann, desto weiter entfernt von dem verfolgten Ziele fühlte er sich.

Nachdem er sich in jüngster Zeit in Moskau und auf dem Dorfe überzeugt hatte, daß er bei den Materialisten keine Antwort finden werde, las er immer aufs neue wieder Plato und Spinoza, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, die Philosophen, welche das Leben nicht materialistisch erklärten. Diese Ideen erschienen ihm fruchtbringend, mochte er nun lesen, oder selbst Gegengründe gegen die Lehren anderer aussinnen, insbesondere gegen die materialistischen. Doch kaum hatte er gelesen und sich selbst eine Antwort auf die Fragen ausgedacht, da wiederholte sich bei ihm stets ein und dasselbe. Indem er der gegebenen Bestimmung unklarer Begriffe, wie »Geist, Wille, Freiheit, Substanz« folgte und absichtlich in die Wörterfalle ging, die ihm die Philosophen oder auch er selbst sich gestellt hatte, begann er einigermaßen zu begreifen.

Aber er brauchte nur den künstlichen Gedankengang zu vergessen, und sich zu dem zu wenden, was im Leben befriedigte, wenn er dem gegebenen Faden folgend, nachdachte – und plötzlich stürzte der ganze kunstvolle Bau zusammen wie ein Kartenhaus, und es wurde ihm klar, daß der Bau aus denselben Worten bestand, die nur umgestellt, und unabhängig waren von Etwas, das im Leben viel bedeutungsvoller war, als der Verstand.

Bei der Lektüre Schopenhauers setzte er einmal an Stelle des Begriffs eigner Wille, den der Liebe, und diese neue Philosophie machte ihm zwei Tage lang, so lange er sich mit ihr beschäftigte, Vergnügen. Sie fiel aber gleichsam zusammen, als er darauf aus dem Leben heraus auf sie blickte, und es zeigte sich wieder jenes kattunene Gewand, das nicht warm hielt.

Sein Bruder Iwanowitsch riet ihm, die theologischen Werke Chomjakoffs zu lesen. Lewin las den zweiten Band derselben und war, ungeachtet der ihn anfangs abstoßenden, polemischen, eleganten und scharfsinnigen Diktion, überrascht von Chomjakoffs Lehrmeinung über die Kirche. Ihn überraschte anfangs die Idee, daß die Erlangung der göttlichen Wahrheiten dem Menschen nicht verliehen sei, sondern nur einer Gemeinschaft von Menschen, vereint in der Liebe – der Kirche.

Er freute sich bei dem Gedanken, wie viel leichter es wäre, an eine vorhandene, gegenwärtig lebendige Kirche zu glauben, welche alle Glaubensbekenntnisse der Menschen in sich begreife, und Gott zum Haupte habe, infolge dessen aber heilig und unfehlbar sei, und von ihr nun den Glauben an Gott erst zu empfangen, den an die Schöpfung, den Sündenfall, und die Erlösung – als wenn man mit Gott, dem weit entfernten, geheimnisvollen Gott, der Schöpfung etc. begänne.

Als er nun aber dann die Kirchengeschichte eines katholischen und die eines rechtgläubigen Schriftstellers las und gewahrte, daß beide Kirchen, jede unfehlbar in ihrem Wesen, sich gegenseitig negierten, da verzweifelte er auch an Chomjakoffs Kirchenlehre und das ganze Gebäude wurde von dem gleichen Staub bedeckt, wie die philosophischen Gebäude.

Während dieses ganzen Frühlings hatte er so mit sich selbst im Kampfe gelegen und schreckliche Augenblicke durchlebt.

»Ohne zu wissen, was ich bin und warum ich hier bin – kann man nicht leben! Erfahren aber kann ich es nicht, folglich kann ich nicht leben,« sprach Lewin zu sich selbst. »In der Unendlichkeit der Zeit, der Unendlichkeit des Stoffes, der Unendlichkeit des Raumes bildet sich die organische Zelle; dieses Bläschen wird eine Zeitlang bestehen und dann zerplatzen; – das bin ich.«

Dies bildete das einzige Resultat jahrhundertelanger menschlicher Denkarbeit nach dieser Richtung.

Es war die letzte Überzeugung, auf welcher sich alle Forschungen des menschlichen Denkens in fast allen ihren Ausläufern aufbauten. Es war die herrschende Überzeugung und Lewin machte dieselbe vor allen anderen Erklärungen als die immer noch klarste, unwillkürlich und ohne zu wissen wann und wie, zu der seinigen.

Aber dies war nicht nur falsch, sondern vielmehr der hartherzige Hohn einer bösen Macht, einer so bösen, widrigen, daß er sich ihr nicht unterordnen konnte.

Man mußte sich befreien von dieser Macht, und die Befreiung lag in den Händen eines jeden. Es galt, diese Abhängigkeit vom Bösen zu beseitigen, und dafür gab es nur ein Mittel – den Tod.

Als glückliches Familienoberhaupt, als ein gesunder Mensch, war Lewin mehrmals dem Selbstmord so nahe, daß er die Schnur versteckte, damit er sich nicht an ihr hing, und sich fürchtete, mit der Flinte zu gehen, um sich nicht zu erschießen.

Doch Lewin erschoß sich weder, noch hing er sich, sondern lebte weiter.

10.

Solange Lewin darüber nachdachte, was er sei und wozu er lebe, fand er keine Antwort und geriet in Verzweiflung, doch als er aufgehört hatte, sich selbst darnach zu fragen, erfuhr er gewissermaßen, was er sei und wozu er lebte, weil er fleißig und zweckmäßig thätig war und lebte. Gerade in dieser jüngsten Zeit hatte er bei weitem konsequenter und zweckbewußter, als früher gelebt.

Im Anfang des Juli aufs Dorf zurückgekehrt, widmete er sich wieder seinen gewöhnlichen Arbeiten. Die Landwirtschaft, die Beziehungen zu den Bauern und Nachbarn, die Hauswirtschaft, die Angelegenheiten seines Bruders und der Schwester, die in seinen Händen lagen, sein Verhältnis zu den Verwandten, zu seinem Weibe, die Sorge um sein Kind, die ihm neue Bienenjagd, der er sich seit dem heurigen Frühling gewidmet hatte, alles das nahm seine Zeit in Anspruch.

Diese Beschäftigungen interessierten ihn nicht deshalb, weil er sie vor sich selbst mit gewissen allgemeinen Anschauungen rechtfertigen konnte, so wie er dies früher gethan hatte, sondern im Gegenteil hatte er jetzt, wo er einerseits durch das Mißlingen seiner einstigen Unternehmungen für das allgemeine Wohl ernüchtert worden, andererseits von seinen Ideen und der Menge der Geschäfte viel zu sehr in Anspruch genommen war, die von allen Seiten auf ihn einstürmten, alle Gedanken über das allgemeine Wohl fahren lassen, und diese Dinge interessierten ihn nur, wie ihm schien, deshalb, weil er eben thun mußte, was er that – weil er nicht anders konnte. Wenn er sich früher bemühte, etwas zu thun (dies hatte fast von seiner Kindheit auf angefangen und sich bis zu seiner vollen Mannbarkeit mehr und mehr entwickelt) was eine Wohlthat für jedermann, für die Menschheit, für Rußland, für das ganze Dorf gewesen wäre – so hatte er bemerkt, daß das Nachdenken darüber ihm angenehm, die Thätigkeit selbst aber stets eine nicht damit harmonierende gewesen war; es hatte die volle Zuversicht dazu, daß die Unternehmung wirklich notwendig sei gefehlt, und die Wirksamkeit selbst, die ihm anfangs so erhaben erschienen war, schwand, immer mehr und mehr abnehmend, in ein Nichts zusammen. Jetzt hingegen, wo er verheiratet war und sein Leben für sich selbst mehr und mehr mit bestimmten Grenzen zu umziehen begonnen hatte, empfand er, obwohl er keine Freude mehr bei dem Gedanken an seine Thätigkeit fühlte, die Überzeugung, daß diese Thätigkeit eine notwendige sei, erkannte er, daß sie weit ersprießlicher, als sie früher war, und größer und größer werde.

Jetzt drang er, gleichsam wider seinen Willen, immer tiefer und tiefer in die Erde ein, wie ein Pflug, so daß er gar nicht wieder heraus konnte, ohne die Furchen aufzureißen.

Seiner Familie zu leben, so wie dies Vater und Mutter gewohnt gewesen waren, das heißt, unter den nämlichen Grundlagen der Bildung und Erziehung der Kinder – war ohne Zweifel die Aufgabe. Dies war ebenso notwendig, wie das Essen, wenn man Appetit hat, und zu diesem Zwecke nun war es ebenso notwendig, wie die Bereitung des Essens, das wirtschaftliche Getriebe in Pokrovskoje so zu leiten, daß Einkünfte flossen.

Ebenso sicher, wie man eine Schuld zurückzahlen muß, war es erforderlich, das angestammte Land immer in dem nämlichen Zustande zu erhalten, damit der Sohn, der das Erbe einmal empfing, dem Vater ebenso Dank wisse, wie Lewin seinem Vater für das, was derselbe gebaut und gepflanzt hatte. Hierzu aber war erforderlich, daß kein Boden mehr verpachtet wurde, sondern man diesen selbst bewirtschaftete, Vieh züchtete, die Felder düngte und Waldungen anlegte.

Es war ihm unmöglich, die Führung der Geschäfte für Sergey Iwanowitsch und seine Schwester und alle Bauern, die gewohnt waren, sich Rats bei ihm zu erholen, aufzugeben, ebenso wie man ein Kind fortwerfen kann, welches man schon auf den Armen hielt. Es galt, für die Bequemlichkeit der eingeladenen Schwägerin mit ihren Kindern zu sorgen, des Weibes mit dem eigenen Kinde, und er mußte auch wenigstens einen kleinen Teil des Tages bei ihnen weilen.

Alles das, zusammen mit der Jagd auf Wild und Bienen, füllte für Lewin ein Leben aus, welches für ihn selbst keinen Sinn mehr hatte, sobald er darüber nachdachte.

Wenn aber Lewin recht gut wußte, was er zu thun habe, so wußte er auch ebenso gut, wie er zu handeln habe und Welches von zwei Geschäften das wichtigere sei. Er wußte, daß er die Arbeiter so billig als möglich mieten müsse, doch sie auf eine Schuldverschreibung annehmen, indem er ihnen Vorschuß gab, war noch billiger; wie viel sie wert waren, brauchte nicht gegeben zu werden, was auch noch vorteilhaft war. Bei Futtermangel konnte er den Bauern Stroh verkaufen, wenn sie ihn dabei auch jammerten, der Gasthof und die Branntweinschenke aber mußten, obwohl sie Einkünfte brachten, beseitigt werden. Gegen das Holzhauen mu0te man so streng wie möglich vorgehen, für vertriebenes Vieh hingegen sollte keine Strafe erhoben werden. Obwohl dies freilich die Karaulschtschiks erbitterte und die Furcht verringerte, mußte man das Vieh laufen lassen.

Dem Peter, welcher an einen Wucherer zehn Prozent monatlich zahlte, mußte er Geld borgen, um ihn davon zu befreien, aber deshalb brauchte er den Bauern noch nicht den Obrok zu erlassen oder den säumigen Zahlern Frist zu bewilligen. Man konnte es dem Verwalter nicht hingehen lassen, daß eine kleine Wiese nicht gemäht wurde und das Gras darauf ungenützt verkam, aber man brauchte wieder nicht die achtzig Desjatinen zu mähen, auf denen junger Wald angepflanzt stand. Man brauchte nicht dem Arbeiter zu verzeihen, der unter der Arbeit nach Hause gelaufen war, weil sein Vater starb – so leid ihm das auch that – und mußte ihn dafür billiger für die kostspieligen Monate ansetzen, in denen es nichts zu thun gab. Aber man mußte gleichwohl den Alten, die zu nichts mehr zu brauchen waren, einen Monatsauszug geben.

Lewin wußte wohl, daß er bei seiner Rückkehr nach Hause vor allem zu seiner Frau gehen mußte, wenn diese unwohl war, aber die Bauern, die schon seit drei Stunden auf ihn gewartet hatten, konnten noch langer warten. Er wußte auch, daß er bei allem Vergnügen, welches er bei dem Einfangen eines Bienenschwarms hatte, sich dieses Vergnügens begeben und es dem Alten überlassen mußte, in seiner Abwesenheit den Schwärm zu fangen, indem er zu den Bauern ging, die ihn im Bienengarten gefunden hatten, um sich zu besprechen.

Mochte er damit gut oder schlecht handeln, er wußte es nicht, und würde jetzt nicht nur nicht den Beweis dafür angetreten, sondern vielmehr alle Gespräche und Gedanken darüber vermieden haben.

Die Grübeleien versetzten ihn in Zweifel und hinderten ihn, zu sehen, was er sehen mußte, oder was nicht. Indem er jedoch nicht mehr dachte, sondern lebte, fühlte er in seiner Seele die stete Gegenwart eines unfehlbaren Richters, der entschied, welche von zwei möglichen Handlungen die bessere und welche die schlechtere war, und sobald er dann nicht so handelte, wie es nötig war, fühlte er dies sogleich.

So lebte er denn ohne die Möglichkeit einer Erkenntnis dessen, zu sehen, was er sei und wozu er auf der Welt lebe, gequält von dieser Unkenntnis bis zu einem Grade, daß er den Selbstmord fürchtete und sich doch zugleich damit fest einen sicheren Weg durch das Leben bahnend.

11.

Gerade an dem Tage, an welchem Sergey Iwanowitsch nach Pokrovskoje gekommen war, befand sich Lewin in einer seiner peinlichsten Stimmungen.

Es war mitten in der Arbeitszeit, wo alles Volk eine so ungewöhnliche Anspannung in der Selbstaufopferung bei der Arbeit zeigt, wie sie sonst unter keinen Bedingungen im Leben erscheint und die hoch geschätzt werden würde, wenn die Leute, welche diese Eigenschaften zeigen, sie selbst schätzten, wenn sich nicht ein und dasselbe alljährlich wiederholte, und die Resultate dieses Kraftaufwands nicht so einfach wären.

Roggen schneiden und Hafer, und ihn hereinzubringen, Wiesen zu mähen, Korn ausdreschen und Wintersaat aussäen – alles das scheint einfach und gewöhnlich; aber um es mit Erfolg zu thun, ist es nötig, daß alle, vom Ältesten an bis zum Jüngsten rastlos, dreimal mehr als gewöhnlich, während drei oder vier Wochen arbeiten, sich nur von Kwas, Zwiebel und Schwarzbrot nährend, dreschend, des Nachts Feime abfahrend und sich zum Schlaf nicht mehr als drei Stunden den ganzen Tag gönnend. Alljährlich ist dies so in ganz Rußland.

Lewin, der einen großen Teil seines Lebens auf dem Dorfe, in nahen Beziehungen zum Volke gelebt hatte, fühlte stets während der Arbeitszeit, daß sich diese allgemeine Regsamkeit der Leute auch ihm mitteile.

Am Morgen fuhr er zum ersten Roggenschnitt oder nach dem Hafer, den man in Feime gesetzt hatte, und kehrte dann, wenn sein Weib und die Schwägerin sich erhoben, heim; trank mit ihnen Kaffee und begab sich dann zu Fuße nach dem Vorwerk, wo man eine neu aufgestellte Dreschmaschine zur Vorbereitung des Samens in Gang setzte.

Diesen ganzen Tag hatte Lewin im Gespräch mit dem Verwalter und den Bauern, zu Hause mit seinem Weib, mit Dolly und ihren Kindern, und mit dem Schwiegervater, immer nur über das Eine nachgedacht, was ihn in dieser Zeit neben seinen wirtschaftlichen Sorgen beschäftigte, und in allem nur die Antwort auf seine Frage gesucht: »Was bin ich, wo bin ich; warum bin ich hier?«

In der Kühle der neugedeckten Trockenscheune stehend, blickte Lewin bald durch die geöffnete Thür hinaus, in welcher der trockene und scharfe Staub vom Dreschen wirbelte, auf das von der glänzenden Sonne beleuchtete Gras der Tenne und das frische Stroh, das soeben erst aus dem Schuppen geholt worden war – bald nach den weißhalsigen Schwalben mit ihren bunten Köpfen, die mit Gezwitscher unter das Dach flogen und mit schlagenden Flügeln an den Fensteröffnungen der Thüre hängen blieben, bald auf die Leute, welche in der dunklen, staubigen Trockenscheune hantierten, und hatte dabei seltsame Gedanken.

»Warum geschieht das alles?« grübelte er. »Warum stehe ich hier und lasse arbeiten? Weshalb hasten die alle und mühen sich, mir ihren Eifer zu zeigen? Warum plagt sich die alte Matrjona da, die ich kenne? Ich habe sie ja kuriert, als bei einer Feuersbrunst der Dachbalken auf sie gestürzt war,« dachte er, indem er dem hageren Weibe zusah, welches mit der Schaufel Korn werfend, angestrengt mit den schwarzgebräunten, nackten Füßen auf den unebenen harten Tennenplatz vortrat.

»Sie ist damals wieder gesund geworden, aber dennoch, zwar nicht heute, doch vielleicht nach zehn Jahren verscharrt man sie, und nichts bleibt mehr von ihr; ebensowenig wie von jener Kokette dort im roten Tuch, die mit so gewandter Bewegung die Spreu von den Ähren sondert. Auch sie wird man einscharren, wie den gescheckten Wallachen dort – und sehr bald sogar,« dachte er, auf das mit geöffneten Nüstern schnaubende Pferd mit dem schwerhängenden Bauche schauend, welches um ein liegendes Rad lief, das sich unter ihm bewegte. »Auch das Pferd wird man verscharren und den Fjodor mit seinem krausen, voll Spreu hängenden Barte und dem zerrissenen Hemd auf der hellschimmernden Schulter – man wird sie begraben! Er wühlt die Garben auseinander und ordnet an, ruft den Weibern zu und regelt mit schneller Bewegung den Riemen am Schwungrad. Aber vor allem, nicht nur sie, auch mich wird man einscharren und nichts wird bleiben. Und wozu?« So sann er und schaute dabei nach der Uhr, um zu berechnen, wie viel in einer Stunde gedroschen werde. Er mußte dies wissen, um hiernach das Arbeitspensum für den Tag geben zu können.

»Schon bald eine Stunde und sie haben erst den dritten Feim angefangen,« dachte Lewin, trat zu dem Zugeber und sagte zu ihm, das Geräusch der Maschine überschreiend, er gäbe zu schnell zu.

»Du giebst zu viel hinein, Fjodor – siehst du, sie bleibt hängen und geht daher nicht schnell genug! Du mußt das ausgleichen!«

Fjodor, von dem Staube der ihm am schweißbedeckten Gesicht klebte, schwarz geworden, schrie etwas als Antwort, that aber nicht, wie Lewin wollte.

Dieser trat daher an den Cylinder, ließ Fjodor beiseite treten und begann selbst zuzugeben. Nachdem er bis zu der Mittagspause der Bauern gearbeitet hatte, bis zu welcher nicht mehr viel Zeit war, verließ er zusammen mit dem Zugeber die Trockenscheune und sprach mit ihm.

Der Zugeber war aus einem entfernter liegenden Dorfe, dem nämlichen, in welchem Lewin früher Land zur Bildung der Arbeitsgenossenschaft vergeben hatte. Jetzt war das Land in Pacht gegeben.

Lewin unterhielt sich mit Fjodor über dieses Land und frug ihn, ob Platon, der reiche und tüchtige Bauer jenes Dorfes, für das nächste Jahr welches nehmen werde.

»Der Preis ist zu hoch und Ihr solltet an Platon nicht vergeben,« sagte Fjodor, sich die Ähren von der schweißbedeckten Brust nehmend.

»Aber Kiriloff giebt ihm doch welches?«

»Mitjucha, Konstantin Dmitritsch, warum sollte der es nicht thun! Der drückt die Menschen und nimmt sich schon das Seine. Den dauert kein Christenmensch. Onkel Fokanitsch aber,« so nannte er den Bauern Platon, »zieht der etwa dem Menschen das Fell über die Ohren? Hier giebt er eine Schuldforderung, dort erläßt er – oder nimmt selbst gar nichts. Das ist auch ein Mensch.«

»Aber warum erläßt er Etwas.«

»Nun, die Leute sind eben verschieden. Der eine lebt nur für seinen Leib, wenigstens Mitjucha; der stopft sich nur den Wanst voll, aber Fokanitsch – das ist ein rechtschaffener alter Mann. Er lebt nur für sein Seelenheil, und denkt an Gott!«

»Wie soll er denn an Gott denken? Wie soll er nur für sein Seelenheil leben?« schrie Lewin fast.

»Nun, das ist doch bekannt, nach der Gerechtigkeit, in Gott. Die Menschen sind eben verschieden! Man braucht ja nur Euch anzusehen; Ihr beleidigt auch keinen Menschen.«

»Nun leb‘ wohl,« fuhr Lewin fort, vor Erregung tief Atem holend, ergriff, sich nun umwendend, seinen Stock und schritt eilig dem Hause zu.

Bei den Worten des Bauern, daß Fokanitsch für sein Seelenheil, nach der Gerechtigkeit und in Gott lebe, waren ihm unklare, aber wichtige Ideen in Masse, als hätten sie sich aus einem Gewahrsam freigemacht, gekommen, und diese alle wirbelten nun, nach einem Ziele strebend, in seinem Kopfe herum und blendeten ihn mit ihrem Licht.