1.

Darja Aleksandrowna verbrachte den Sommer mit den Kindern in Pokrowskoje bei ihrer Schwester Kity Lewina.

Auf ihrem Gute war das Wohnhaus gänzlich in Verfall geraten, und Lewin mit seiner Gattin hatten ihr zugeredet, den Sommer bei ihnen zuzubringen.

Stefan Arkadjewitsch billigte dieses Arrangement sehr; er drückte sein Bedauern darüber aus, daß der Dienst ihn verhindere, den Sommer mit der Familie zusammen auf dem Dorfe zu verleben, was für ihn das höchste Glück bilde, und kam, in Moskau bleibend, nur selten für einen Tag oder für zwei auf das Land.

Außer den Oblonskiys mit all ihren Kindern und der Gouvernante war bei Lewins wahrend dieses Sommers noch die alte Fürstin, welche es für ihre Pflicht hielt, ihre unerfahrene Tochter im Auge zu behalten, die sich in gewissen Umständen befand. Weiterhin hatte auch Warenta, die Freundin Kitys, von dem Aufenthalt im Auslande her ihr Versprechen erfüllt, zu Kity zu kommen, wenn diese verheiratet sein würde, und war jetzt bei ihrer Freundin zu Besuch.

Alles waren Verwandte und Freunde der Frau Lewins, aber obgleich dieser sie alle lieb hatte, war es ihm doch einigermaßen leid um seine »Lewinsche Welt« und die Ordnung, welche durch diese Überschwemmung mit dem »Schtscherbazlischen Element«, verschlungen worden war, wie er sich selbst sagte. Von Verwandten seiner Linie weilte in diesem Sommer nur Sergey Iwanowitsch zu Besuch da, und auch dieser war kein Mensch von Lewins, sondern von Koznyscheffschem Schlag, so daß Lewins geistige Sphäre vollständig unterdrückt war.

In Lewins so lange verödet gewesenem Hause befanden sich jetzt so viel Menschen, daß fast alle Räume besetzt waren, und fast jeden Tag kam es vor, daß die alte Fürstin, wenn sie bei Tische sitzend alles überzählte, den dreizehnten, Enkel oder Enkelin, an einen besonderen kleinen Tisch setzen mußte. Auch für Kity, die sich sorgsam mit der Hauswirtschaft befaßte, gab es nicht wenig Sorge um die Beschaffung der Hühner, Kapaunen und Enten, welche bei dem Sommerappetit der Gäste und der Kinder zahlreich verbraucht wurden.

Die ganze Familie saß bei Tische. Die Kinder Dollys machten mit der Gouvernante und Warenka Pläne, wohin sie Pilze suchen gehen wollten. Sergey Iwanowitsch, welcher im Kreise sämtlicher Gäste einen Respekt vor seinem Geist und seiner Gelehrsamkeit genoß, der fast bis zur Verehrung ging, sah alles in die Unterhaltung von den Pilzen vertieft.

»Aber mich nehmt Ihr doch auch mit Euch. Ich gehe sehr gern Pilze suchen,« sagte er, Warenka anblickend, »und finde, daß das ein sehr hübscher Zeitvertreib ist.«

»Nun, wir werden uns sehr freuen,« antwortete Warenka errötend. Kity wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Dolly. Der Vorschlag des gelehrten und geistreichen Sergey Iwanowitsch, mit Warenka Pilze suchen zu wollen, stützte gewisse Vermutungen in Kity, welche diese in jüngster Zeit lebhaft beschäftigt hatten. Schnell begann sie mit ihrer Mutter zu sprechen, damit ihr Blick nicht bemerkt werden möchte.

Nach Tisch setzte sich Sergey Iwanowitsch mit seiner Tasse Mokka an das Fenster im Salon, ein mit dem Bruder begonnenes Gespräch fortsetzend und dabei nach der Thür blickend, zu welcher die Kinder hinausgehen mußten, die sich fertig machten, in die Pilze zu gehen.

Lewin saß auf dem Fenster bei seinem Bruder, Kity stand neben ihrem Manne, sichtlich auf das Ende des für sie nicht interessanten Gesprächs wartend, um ihm etwas mitzuteilen.

»Du hast dich sehr verändert, seit du verheiratet bist, und zwar zu deinem Vorteil,« sagte Sergey Iwanowitsch, Kity zulächelnd und augenscheinlich von der Unterhaltung wenig interessiert, »aber du bist deiner Leidenschaft, die paradoxesten Themen zu verteidigen, getreu geblieben.«

»Katja, es ist für dich nicht gut, zu stehen,« sagte der Gatte zu ihr, einen Stuhl heranschiebend und sie bedeutungsvoll anschauend.

»Ah; ich habe übrigens gar keine Zeit mehr,« fügte Sergey Iwanowitsch hinzu, die hinauseilenden Kinder erblickend.

Allen voran, von seitwärts im Galopp mit den drallsitzenden Strümpfchen, ein Körbchen und den Hut Sergey Iwanowitschs schwingend, kam Tanja gerade auf letzteren zugeeilt. Frohmutig auf ihn zueilend mit leuchtenden Augen, die in ihrer Schönheit denen des Vaters so ähnlich waren, reichte sie Sergey Iwanowitsch den Hut und that, als wolle sie ihm denselben aufsetzen, mit schüchternem, sanftem Lächeln ihre Ungebundenheit zügelnd.

»Warenka wartet schon,« sagte sie, ihm den Hut behutsam aufsetzend, nachdem sie an dem Lächeln Sergey Iwanowitschs erkannt hatte, daß sie dies dürfe.

Warenka stand in der Thür, in einem gelben Kattunkleid, um den Kopf ein weißes Tuch geschlungen.

»Ich komme schon, ich komme, Barbara Andrejewna,« sagte Sergey Iwanowitsch, seine Tasse Mokka leerend und ein Schnupftuch nebst dem Cigarrenetuis in seinen Taschen verteilend.

»Wie reizend ist doch meine Warenka, nicht wahr?« sagte Kity zu ihrem Manne, sobald Sergey Iwanowitsch aufgestanden war. Sie sagte dies so, daß Sergey Iwanowitsch sie vernehmen konnte, woran ihr offenbar gelegen war. »Und wie schön sie ist, wie edel schön! Warenka!« rief Kity. »Ihr werdet Wohl im Mühlenholz sein? Wir kommen zu Euch hin!«

»Du vergißt doch entschieden deinen Zustand Kity,« bemerkte die alte Fürstin, schnell zur Thür herauskommend, »du darfst nicht so schreien.«

Warenka, welche die Stimme Kitys sowie die Äußerung der Mutter vernommen hatte, kam leichten Schrittes zu Kity geeilt. Die Schnelligkeit ihrer Bewegungen, die Farbe, welche ihr munteres Gericht bedeckte – alles das bewies, daß in ihr etwas Ungewöhnliches vorging. Kity wußte, was dieses Ungewöhnliche war, und beobachtete sie aufmerksam. Sie hatte jetzt Warenka nur gerufen, um ihr für ein wichtiges Ereignis, welches sich nach ihrer Erwägung heute, nach Tische im Walde vollziehen mußte, innerlich Segen zu wünschen.

»Warenka, ich würde sehr glücklich, wenn sich etwas ereignen sollte,« sagte Kity flüsternd und sie küssend.

»Ihr werdet aber mit uns kommen?« sagte Warenka in Verwirrung geratend, zu Lewin, und gab sich den Anschein, als habe sie gar nicht gehört, was zu ihr gesagt worden war.

»Ich werde kommen, doch nur bis zur Tenne, und dort werde ich bleiben.«

»Was hast du denn vor?« sagte Kity.

»Ich muß die neuen Fuhren inspizieren und nachzählen,« antwortete Lewin, »doch wo wirst du bleiben?«

»Auf der Terrasse.«

2.

Auf der Terrasse hatte sich die ganze weibliche Gesellschaft versammelt. Die Damen liebten es, überhaupt dort nach Tische zu sitzen, aber heute gab es da sogar etwas zu thun. Außer dem Nähen und Sticken, womit sich alle beschäftigten, wurde heute Eingemachtes nach einer für Agathe Michailowna ganz neuen Methode – ohne Zuguß von Wasser – zubereitet.

Kity hatte diese neue Methode, welche bei ihr zu Haus in Gebrauch war, eingeführt. Agathe Michailowna, welcher früher dieses Geschäft anvertraut gewesen war, hatte in der Ansicht, daß das, was im Haus der Lewin gemacht wurde, doch nicht schlecht sein könne, gleichwohl ihr Wasser über die Wald- und Gartenerdbeeren mit der Versicherung gegossen, daß es unmöglich anders sein könne, aber sie wurde in ihrer Meinung überführt, und jetzt brodelte vor aller Augen die Himbeere, und Agathe Michailowna mußte sich überzeugt sehen, daß auch ohne Wasser das Eingemachte gut werde.

Agathe Michailowna mit erhitztem, erbittertem Gesicht, wirren Haaren, und bis an den Ellbogen entblößten, hageren Armen schwenkte die Schüssel, im Kreise über dem Feuerbecken und blickte grollend auf die Beeren, aus Seelengrunde wünschend, sie möchten nicht gar werden.

Die Fürstin, welche merkte, daß auf sie, als die hauptsächlichste Ratgeberin bei der Zubereitung der Beeren, der Zorn Agathe Michailownas gerichtet sein müsse, bemühte sich, den Anschein zu wahren, als sei sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt, und interessiere sich gar nicht für die Himbeeren; sie sprach von Nebensächlichem, schaute aber immer dabei seitwärts nach dem Kohlenbecken.

»Ich kaufe den Mädchen stets Kleider,« sagte die Fürstin, ein begonnenes Gespräch fortsetzend – »wollen wir jetzt nicht den Schaum abnehmen, Liebe?« – fügte sie aber hinzu, sich an Agathe Michailowna wendend. »Das brauchst du durchaus nicht selbst zu thun, es ist heiß,« hielt Kity diese dabei zurück.

»Ich werde es thun,« sagte Dolly, stand auf und begann behutsam den Löffel über den schäumenden Zucker zu führen; bisweilen damit, um von ihm das daran haften Gebliebene zu entfernen, auf einen Teller klopfend, der bereits von mischfarbigem, gelbrotem Schaum und flüssigem blutrotem Syrup bedeckt war. »Wie sie das schlecken werden zum Thee,« gedachte sie dabei ihrer Kinder und rief sich ins Gedächtnis zurück, wie sie selbst, als sie noch ein Kind gewesen, sich schon immer verwundert hatte, daß die Erwachsenen nicht gerade das Beste äßen – nämlich den Schaum. – »Stefan sagt, es sei bei weitem besser, Geld zu geben,« sagte Dolly dabei, das begonnene, interessante Gespräch darüber, wie man die Dienstleute beschenken solle, fortsetzend, »allein« –

»So viel es möglich ist, Geld,« sagten wie mit einer Stimme die Fürstin und Kity. »Sie schätzen das.«

»Nun, ich habe beispielsweise im vergangenen Jahre unserer Matrjona Ssemjonowna ein Kleid gekauft,« sprach die Fürstin.

»Ich besinne mich, zu Eurem Geburtstage ging sie darin.«

»Ein reizendes Muster – so einfach und fein. Ich hätte es mir selbst machen lassen, wenn es nicht ihr gehört hätte; – so, wie das von Warenka war es. So hübsch und billig.«

»Jetzt scheint es fertig zu sein,« sagte Dolly, den Syrup vom Löffel laufen lassend.

»Wenn Kringel werden, ist es gut. Kocht noch weiter, Agathe Michailowna.«

»Diese Fliegen,« antwortete Agathe Michailowna gereizt.

»O, wie niedlich, verjagt ihn nicht!« sprach Kity Plötzlich, auf einen Spatz blickend, der sich auf dem Geländer niedergesetzt hatte und das Mark einer Himbeere zu picken begann. »Ja, aber du mußt etwas weiter vom Kohlenbecken weg,« sprach die Mutter.

»A propos de Warenka,« begann Kitt) französisch, wie sie stets sprachen, damit Agathe Michailowna sie nicht verstehe. »Ihr wißt, maman, daß ich heute aus gewissen Gründen eine Entscheidung erwarte. Ihr versteht Wohl, welche. Wie schön wäre das!«

»Ah, welch meisterhafte Freibewerberin du bist,« sprach Dolly, »wie sie behutsam und geschickt die Leute zusammenführt.«

»Nun, maman, sagt doch, was Ihr dazu meint!«

»Was soll ich meinen? Er« – unter dem Er verstand man Sergey Iwanowitsch – »konnte stets die erste Partie in Rußland machen, er ist zwar jetzt nicht mehr so jung, aber gleichwohl, ich weiß es, würden ihn auch jetzt noch viele Frauen nehmen. Sie ist sehr gut, aber er konnte doch« –

»Nein, seht nur erst ein, maman, warum etwas Besseres für ihn, wie für sie nicht zu denken ist. Erstens – sie ist eine Schönheit!« sprach Kity, einen Finger ausstreckend.

»Sie gefällt ihm sehr, das ist wahr,« bestätigte Dolly.

»Dann nimmt er eine solche Stellung in der Welt ein, daß ihm ein Vermögen, ein Stand in der Welt für seine Frau ganz und gar nicht erforderlich ist. Ihm ist Eins nur nötig – ein gutes, liebevolles ruhiges Weib.«

»Jawohl, und mit ihr kann man ruhig leben,« bestätigte Dolly.

»Drittens; sie muß ihn lieben! So ist es ja auch – und soweit wäre alles ganz gut. Ich erwarte, daß sie aus dem Walde kommen und alles entschieden ist. Ich werde es sogleich an ihren Augen erkennen; und würde mich so sehr freuen! Wie denkst du darüber, Dolly?«

»Rege dich nur nicht auf. Du darfst dich durchaus nicht erregen,« sagte die Mutter.

»Aber ich rege mich ja gar nicht auf, maman; mir scheint nur, daß er heute seinen Antrag machen wird.«

»Ach; es ist so seltsam, wenn ein Mann eine Liebeserklärung macht. Erst ist so eine Scheidewand vorhanden, und plötzlich ist sie durchbrochen,« sagte Dolly, gedankenvoll lächelnd und sich an die Vergangenheit mit Stefan Arkadjewitsch erinnernd. »Mama, wie hat Euch denn Papa seine Liebeserklärung gemacht?« frug Kith plötzlich.

»Es war nichts Außergewöhnliches dabei, sehr einfach,« antwortete die Fürstin, aber ihr ganzes Gesicht erglänzte bei dieser Erinnerung.

»Nun, wie denn? Ihr habt ihn doch geliebt, bevor Euch noch erlaubt war, mit ihm zu sprechen.«

Kity fand einen eigenen Reiz darin, mit ihrer Mutter jetzt wie mit einer Gleichgestellten über diese höchsten Fragen des Frauenlebens sprechen zu können.

»Versteht sich, liebte er mich! Er kam zu uns auf das Land.«

»Aber wie entschied es sich? Mama?«

»Du denkst wahrscheinlich, daß ihr beide euch etwas Neues ausgedacht hättet? Es war ganz dieselbe Geschichte; mit Blicken und Lächeln« –

»Wie Ihr das so schön ausgesprochen habt, maman! Ja, die Augen, das Lächeln,« bestätigte Dolly.

»Aber welche Worte sprach er denn?«

»Was für Worte hat dir dein Konstantin gesagt?«

»Er schrieb sie mit Kreide. Es war wunderbar. Wie weit scheint mir dies schon dahinten zu liegen,« antwortete Kity.

Die drei Frauen sannen jetzt über ein und dasselbe nach. Kity brach zuerst wieder das Schweigen. Der ganze letzte Winter vor ihrer Verheiratung ihre Leidenschaft für Wronsny kam ihr wieder ins Gedächtnis.

»Aber noch Eins – jene frühere Leidenschaft Warenkas,« sagte sie, in einem natürlichen Gedankengang sich dessen erinnernd. »Ich wollte Sergey Iwanowitsch schon irgendwie Mitteilung machen, ihn vorbereiten. Sie sind ja alle Männer,« fügte sie hinzu, »und entsetzlich eifersüchtig auf unsere Vergangenheit.«

»Nicht alle,« antwortete Dolly, »du urteilst so nach deinem Manne; der martert sich noch jetzt ab in der Erinnerung an Wronskiy. Nicht wahr? Habe ich nicht recht?«

»Du hast recht,« antwortete Kity, gedankenvoll mit den Augen lächelnd.

»Ich weiß nun nicht,« fuhr die Fürstin fort, ihre mütterliche Obhut für die Tochter wieder übernehmend, »was eigentlich in deiner Vergangenheit ihn stören könnte? Daß Wronskiy dir den Hof machte? Das passiert jedem jungen Mädchen.«

»Ach, sprechen wir nicht davon,« sagte Kity errötend.

»Nein, gestatte,« fuhr die Mutter fort, »du selbst wolltest mir ja nicht gestatten, mit Wronskiy Rücksprache zu nehmen. Weißt du noch?«

»Ach, Mama!« sagte Kity mit einem Ausdruck von Leiden.

»Deine Beziehungen zu ihm konnten ja nicht weitergehen als sie durften; ich selbst würde ihn noch ermutigt haben. Doch im übrigen, liebe Seele, taugt es nicht für dich, wenn du dich erregst. Denke, bitte, hieran, und beruhige dich.«

»Ich bin vollkommen ruhig, maman.«

»Wie war es doch zum Glück damals für Kity, daß Anna kam,« sagte Dolly, »und wie verhängnisvoll wurde das für sie selbst. Da haben wir es gerade umgekehrt,« fügte sie hinzu, betroffen über ihren eigenen Gedanken. »Damals war Anna so glücklich und Kity hielt sich für unglücklich. Welch ein völliger Umschlag! Ich denke oft an sie.«

»Das wäre das Weib, an welches man denken dürfte! Ein häßliches, ausschweifendes Weib ohne Herz,« sprach die Mutter, welche nicht vergessen konnte, daß Kity nicht einen Wronskiy, sondern einen Lewin geheiratet hatte.

»Was ist es für ein Vergnügen, hiervon zu sprechen,« fuhr Kity voll Verdruß fort, »ich denke nicht daran und will nicht daran denken. Ich will nicht daran denken,« sprach sie, dabei dem wohlbekannten Klang der Schritte ihres Mannes auf den Stufen zur Terrasse lauschend.

»Wovon ist denn die Rede ,ich will nicht daran denkend« frug Lewin, die Terrasse betretend.

Niemand antwortete ihm, und er wiederholte seine Frage nicht.

»Ich bedaure, euer Frauenreich gestört zu haben,« sprach er, mißvergnügt alle anblickend und wohl gewahrend, daß man über etwas gesprochen hatte, wovon man in seiner Gegenwart nicht geredet haben würde.

Einen Augenblick empfand er, daß er die Gefühle Agathe Michailownas teile, die Unzufriedenheit darüber, daß man die Himbeeren ohne Wasser einkoche, und über den fremdartigen Einfluß der Schtscherbazkiy. Er lächelte aber doch und trat zu Kity.

»Nun, Wie befindest du dich?« frug er sie, mit dem gleichen Ausdruck auf sie blickend, mit welchem sich ihr jetzt alle zuwandten.

»Oh; ich befinde mich recht wohl,« sagte Kity lächelnd, »und wie geht es bei dir?«

»Man fährt dreimal mehr, als der Wagen aushält. Aber wollen wir zu den Kindern hinausfahren? Ich habe anspannen lassen.«

»Wie, willst du Kity im Wagen ausfahren?« frug die Mutter vorwurfsvoll.

»Wir fahren natürlich Schritt, Fürstin.«

Lewin nannte die Fürstin nie maman, wie das sonst Schwiegersöhne thun, und dies war der Fürstin unangenehm, aber wenn er die Fürstin auch sehr lieb hatte und achtete, konnte er sie doch nicht so nennen, ohne die Empfindungen für seine dahingeschiedene Mutter zu entweihen.

»Fahret mit uns, maman,« sagte Kity.

»Ich will diese Unüberlegtheit nicht mit ansehen.«

»Dann gehe ich zu Fuß. Ich befinde mich ja ganz Wohl.« Kity erhob sich, trat zu ihrem Gatten und nahm dessen Arm.

»Ganz Wohl, aber alles mit Maßen« – bemerkte die Fürstin.

»Nun, Agathe Michailowna, ist das Eingemachte fertig?« sagte Lewin lächelnd zu Agathe Michailowna, mit dem Wunsche sie heiter zu stimmen. »Geht es gut nach der neuen Mode?«

»Muß wohl; es geht gut. Nach meiner Meinung ist es fertig.«

»Es ist besser so, Agathe Michailowna; das Eingemachte wird nicht sauer und bei uns ist das Eis jetzt ohnehin schon gethaut, so daß es keinen Platz zum Aufbewahren giebt.« sagte Kity, sogleich die Absicht ihres Mannes durchschauend und sich in der nämlichen Absicht an die Alte wendend. »Übrigens ist Euer Pökel so gut, daß Mama behauptet, ihn noch nirgends so gegessen zu haben,« fügte sie hinzu, sich lächelnd einen Zopf ordnend.

Agathe Michailowna blickte grollend Kity an.

»Ihr braucht mich nicht zu trösten, Herrin; ich beurteile Euch, wie er, und befinde mich Wohl dabei« – sprach sie; der rauhe Ausdruck »er« statt »d

»Wir Wollen zusammen nach Pilzen gehen, Ihr könnt uns die Plätze zeigen.« Agathe Michailowna lächelte kopfschüttelnd, als wollte sie sagen »wenn ich Euch auch gern gram sein möchte, so kann ich es doch nicht.«

»Handelt, bitte, nach meinem Rate,« sprach die alte Fürstin, »über das Eingemachte legt Ihr ein Papier und feuchtet es mit Rum an; auch ohne Eis wird alsdann niemals ein Rahm darauf kommen.«

 

3.

Kity war herzlich froh über die Gelegenheit, mit ihrem Gatten einmal Auge in Auge allein sein zu können, da sie bemerkt hatte, wie ein Schatten der Verstimmung über sein Alles so lebhaft ausdrückendes Gesicht huschte, im Augenblicke da er die Terrasse betreten und man ihm, als er gefragt hatte, wovon man spreche, nicht antwortete.

Als sie zu Fuß den anderen vorausgingen und außer Sehweite des Hauses den ausgefahrenen, staubigen und mit Kornähren und Körnern überstreuten Weg hinausschritten, stützte sie sich fester auf seinen Arm und preßte denselben an sich.

Er hatte jenen momentanen, unangenehmen Eindruck bereits vergessen, und empfand, in der Einsamkeit mit ihr, jetzt, da ihn der Gedanke an ihre Schwangerschaft keinen Augenblick verließ, jene ihm noch neue, freudige, vollkommen von Sinnenlust freie Befriedigung in der Nähe des geliebten Weibes.

Zu sprechen war nichts, aber ihn verlangte es, den Ton ihrer Stimme zu hören, die sich ebenso wie ihr Blick, jetzt in ihrer Schwangerschaft verändert hatte. In ihrer Summe wie in ihrem Blicke war eine Weichheit, ein Ernst, ähnlich jener, die bei Leuten vorhanden zu sein Pflegt, die beständig auf ein einzelnes geliebtes Werk konzentriert sind.

»Du wirst doch nicht müde werden? Stütze dich fester,« sagte er.

»Nein, ich bin so froh über die Gelegenheit, mit dir einmal allein zu sein, und gestehe dir, daß mir, so Wohl mir auch in ihrer Gesellschaft ist, doch unsere Winterabende zu Zweien recht leid thun.«

»Es war schön, doch dies ist noch besser. Wir beide sind besser daran,« sagte er, ihren Arm drückend.

»Du weißt, wovon wir sprachen, als du eintratest?«

»Von dem Eingemachten?«

»Ja, auch von dem Eingemachten, dann aber davon, wie man einen Heiratsantrag macht.«

»Ah,« sagte Lewin, mehr den Klang ihrer Stimme hörend, als die Worte die sie sprach, und fortwährend auf den Weg Bedacht nehmend, der jetzt im Walde hinführte und diejenigen Stellen vermeidend, die sie nicht sicher hätte betreten können.

»Auch von Sergey Iwanowitsch und Warenka. Du hast Wohl bemerkt? – Ich wünschte es sehr,« fuhr sie fort, »wie denkst du darüber?« Sie blickte ihm ins Gesicht.

»Ich weiß nicht, was man da denken muß,« antwortete Lewin und lächelte. »Sergey erscheint mir in dieser Beziehung sehr seltsam. Ich habe dir wohl erzählt« –

»Daß er jenes Mädchen, welches gestorben ist, geliebt hatte« –

»Das war der Fall, als ich noch ein Kind war. Ich kenne dies nur aus der Überlieferung, kann mich aber noch auf ihn damals besinnen. Er war wunderbar liebenswert. Seit jener Zeit beobachte ich ihn im Umgang mit den Frauen; er ist liebenswürdig, manche gefallen ihm auch, aber man fühlt, daß sie für ihn einfach nur Menschen sind, keine Weiber.«

»Ja, aber jetzt mit Warenka. Es scheint, daß doch etwas« –

»Kann sein, daß dem so ist – doch muß man ihn eben erst kennen lernen; er ist ein absonderlicher und wunderlicher Mensch. Er lebt nur ein geistiges Leben und ist ein Mensch von allzu reinem und erhabenem Gemüt.«

»Wie? Sollte ihn denn etwa ein solches Verhältnis erniedrigen?«

»Nein; aber er ist so daran gewöhnt, ein einsames Geistesleben zu führen, daß er sich mit der Wirklichkeit nicht vertragen kann, und Warenka ist doch immerhin eine Wirklichkeit.«

Lewin war jetzt schon gewohnt, seine Gedanken frei auszusprechen, ohne sich zu bemühen, dieselben dabei in präcise Worte zu kleiden, er wußte, daß sein Weib in den Minuten der Liebe, sowie auch jetzt schon aus der Andeutung verstehen würde, was er sagen wollte, und Kity verstand ihn auch.

»Ja; aber in ihr ist doch nicht diese Wirklichkeit, wie in mir; ich verstehe; daß er mich Wohl niemals hätte liebgewinnen können; sie hingegen ist ganz Gemüt.«

»O nein; er liebt dich sehr, und mir ist es stets so angenehm, wenn die Meinigen dich lieb haben.«

»Ja; er ist gut gegen mich, aber« –

»– nicht so, wie mit dem verstorbenen Nikolay; ihr habt einander liebgewonnen,« vollendete Lewin. »Weshalb sollte ich das nicht sagen?« fügte er hinzu, »ich mache mir manchmal Vorwürfe, und das hört erst damit auf, daß man vergißt. O, welch ein furchterweckender, und doch reizvoller Mensch war er! Doch wovon sprachen wir?« sagte Lewin, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte.

»Du denkst, daß er nicht zu lieben vermag,« sagte Kity, in ihre Sprache übersetzend.

»Nicht, daß er nicht lieben könnte,« antwortete Lewin lächelnd, »aber er besitzt nicht die Schwäche, die dazu nötig ist – ich habe ihn stets beneidet und selbst jetzt, wo ich doch so glücklich bin, beneide ich ihn noch darum.«

»Du beneidest ihn, weil er nicht lieben kann?«

»Ich beneide ihn darum, daß er besser ist, als ich,« antwortete Lewin lächelnd. »Er lebt nicht für sich; sein ganzes Leben ist der Pflicht geweiht, und infolge dessen kann er ruhig und zufrieden sein.«

»Und du?« frug Kity mit schelmischem, liebevollem Lächeln.

Sie konnte nicht im entferntesten den Gedankengang ausdrücken, der sie lächeln machte; aber das letzte Resultat desselben war dies, daß ihr Gatte, von seinem Bruder entzückt, und sich vor demselben herabsetzend, nicht mehr aufrichtig blieb.

Kity wußte, daß diese Heuchelei seinerseits von der Liebe zu dem Bruder herrührte, von dem Gefühl seiner Besorgtheit darüber, daß er allzu glücklich sei, und insbesondere seinem Wunsche, der ihn nie verließ, besser zu sein. Sie liebte dies an ihm und lächelte daher.

»Und du? Womit bist du unzufrieden?« frug sie mit dem nämlichen Lächeln.

Ihr Mißtrauen seiner Unzufriedenheit mit sich selbst gegenüber, erfreute ihn und ohne Besinnen forderte er sie heraus, ihm die Ursachen ihres Mißtrauens mitzuteilen.

»Ich bin glücklich, aber mit mir nicht zufrieden,« sprach er.

»So kannst du also unzufrieden sein, wenn du glücklich bist?«

»Wie soll ich sagen. Ich wünsche in meinem Herzen nichts, als daß du nicht strauchelst; so darf man natürlich nicht springen!« brach er das Gespräch ab, mit einem Vorwurf, weil sie eine zu schnelle Bewegung gemacht hatte, indem sie über einen auf dem Fußwege liegenden Ast weggestiegen war, »wenn ich über mich Betrachtungen anstelle und mich mit anderen vergleiche, besonders mit meinem Bruder, dann fühle ich, daß ich ein Nichts bin.«

»Aber inwiefern denn?« fuhr Kity noch mit dem nämlichen Lächeln fort, »wirkst du etwa nicht auch für andere? Und deine Meiereien, deine Ökonomie, dein Buch?«

»Nein; ich fühle es namentlich jetzt – und du bist schuld daran,« sagte er, ihr den Arm pressend, »daß dem eben nicht so ist. Ich arbeite nur so leichthin. Wenn ich all dieses Wirken lieben könnte, wie ich dich liebe – aber so habe ich die ganze letzte Zeit gearbeitet, wie nach einer mir aufgegebenen Lektion.«

»Und was würdest du da über Papa sagen,« frug Kity; »er ist jedenfalls auch nichts wert, weil er nichts für das Allgemeine gewirkt hat.«

»Er? Nein. Aber man muß jene Natürlichkeit, Klarheit, Güte besitzen, wie dein Vater. Habe ich die etwa? Ich arbeite nicht, ich quäle mich nur, und alles das hast du mir zugefügt! Wärest du nicht gewesen, so wäre auch das da noch nicht,« sagte er, mit einem Blick auf ihren Körper, den sie verstand, »so würde ich alle meine Kräfte auf die Arbeit verwenden; jetzt aber kann ich dies nicht, und darüber ist mir das Herz schwer; ich arbeite wie man eine aufgegebene Lektion lernt, ich heuchle« –

»Nun, dann würdest du dich sogleich mit Sergey Iwanowitsch ausgewechselt wünschen,« sagte Kity. »Würdest wünschen, jene gemeinnützige Thätigkeit betreiben, und jene aufgegebene Lektion lieben zu können, wie er sie liebt, und weiter nichts?«

»Natürlich nicht,« antwortete Lewin. »Im übrigen bin ich ja so glücklich, daß ich nichts weiter begreife. Du denkst also, daß er ihr heute schon seinen Antrag machen wird?« fügte er nach einer Pause hinzu.

»Ich denke, vielleicht aber wird er’s auch nicht. Jedenfalls wünsche ich es aufs Sehnlichste. Da, halt« – sie beugte sich nieder und pflückte am Rande des Weges eine wilde Kamille ab. »Nun zähle: Entweder erklärt er sich heute, oder er erklärt sich nicht,« sprach sie und reichte ihm die Blume.

»Er thut es, er thut es nicht,« sagte Lewin, die weißen, schmalen langen Blätter abreißend.

»Nein, nein!« hemmte ihn Kity jetzt, seine Hand erfassend, nachdem sie seinen Fingern voll Erregung gefolgt war. »Du hast zwei abgerissen!«

»Nun, dafür kommt dann dieses kleine hier nicht mit in Anrechnung,« antwortete Lewin, ein kurzes, noch nicht entwickeltes Blättchen abpflückend, »doch da hat uns der Wagen erreicht.«

»Bist du nicht ermüdet Kity!« rief die Fürstin.

»Nicht im geringsten!«

»So setze dich doch in den Wagen, wenn die Pferde ruhig sind, und fahrt Schritt.«

Doch in den Wagen zu steigen, hätte keinen Zweck mehr gehabt; man war schon dem Ziel nahe und alles ging zu Fuß weiter.

30.

Wasiliy Lukitsch, welcher anfangs nicht begriff, wer diese Dame da war, und erst aus dem Gespräch erkannte, dies sei jene selbe Mutter, welche ihren Gatten verlassen, und die er nicht kannte, da er erst nach ihrem Scheiden dieses Haus betreten hatte, befand sich in Zweifel, ob er eintreten oder Aleksey Aleksandrowitsch Mitteilung machen sollte. Nachdem er aber erwogen hatte, daß seine Verpflichtung nur darin bestehe, bei Sergey zur bestimmten Stunde zu inspizieren, und er demgemäß keine Beobachtungen anzustellen habe, wer dort saß, die Mutter oder jemand anderes, sondern nur seine Pflicht erfüllen müsse, so kleidete er sich an, trat zur Thür und öffnete sie.

Aber die Liebkosungen zwischen Mutter und Kind, der Klang ihrer Stimmen und das, was sie sprachen, ließ ihn doch noch seinen Entschluß ändern. Er schüttelte den Kopf, seufzte und schloß die Thür wieder.

»Ich werde noch zehn Minuten warten,« sagte er zu sich selbst, hustend und sich Thränen abwischend.

In der Dienerschaft des Hauses war mittlerweile eine mächtige Bewegung entstanden. Alle hatten erfahren, daß die Herrin angekommen sei, und Kapitonitsch sie eingelassen habe, daß sie sich jetzt in der Kinderstube befinde, während sich doch der Herr selbst stets in der neunten Stunde dorthin begebe; und alle erkannten, daß eine Begegnung der beiden Gatten unmöglich war, und verhindert werden müsse.

Korney, der Kammerdiener, begab sich in die Portierloge und frug, wer die Dame eingelassen habe, und wie dies zugegangen sei, und als er gehört hatte, daß Kapitonitsch sie empfangen und hereingeleitet habe, machte er dem Alten Vorwürfe. Dieser hörte mit hartnäckigem Schweigen zu, als ihm aber Korney sagte, daß man ihn deswegen davonjagen müßte, sprang Kapitonitsch auf ihn zu und sagte, mit den Händen vor Korneys Gesicht fuchtelnd:

»Ja, du hättest sie freilich nicht eingelassen! Ich habe zehn Jahre hier gedient und nichts als Liebes gesehen, du aber wärest gekommen und hättest gesagt ,bitte, gefälligst hinaus^ – Du verstehst die Politik sein! So ist es! Du scheinst auf deine Weise schon zu verstehen, wie man einen Herrn für sich einnimmt und den Mantel nach dem Winde hängt!«

»Ein Soldat!« erwiderte Korney verächtlich, und wandte sich zu der eintretenden Amme: »Urteilt Ihr, Marja Jesimowna: Er hat die Gnädige eingelassen, ohne jemandem etwas davon zu sagen,« wandte sich Korney zu ihr.

»Aleksey Aleksandrowitsch wird sogleich erscheinen und nach der Kinderstube gehen.«

»Was giebt es da für Auseinandersetzungen,« sagte diese, »Ihr Korney Wasiljewitsch, habt ihn irgendwie ein wenig zurückzuhalten, den Herrn nämlich, und ich laufe sogleich, um die gnädige Frau irgendwie beiseite zu bringen. Sind das Auseinandersetzungen!« –

Als die Kinderfrau in die Kinderstube trat, erzählte Sergey der Mutter gerade, wie er mit Nadenka vom Berge herab, beim Eisfahren gefallen sei und daß sich dabei beide dreimal umkugelt hätten. Sie lauschte den Klängen seiner Stimme, sah sein Gesicht und das Spiel seiner Mienen, sie fühlte seine Hand, aber sie verstand nicht, was er sprach.

»Ich muß fort, und ihn verlassen,« das allein nur dachte und fühlte sie noch. Sie vernahm Wohl die Schritte Wasiliy Lukitschs, der zur Thür schritt, und hustete, sie vernahm wohl die Schritte der nahenden Kinderfrau, aber sie saß, wie zu Stein geworden, und nicht bei Kräften zu sprechen oder aufzustehen.

»Gnädige Frau, meine Liebe!« begann die Amme, sich Anna nähernd, und ihr Hände und Schultern küssend. »Gott hat unserem Geburtstagskinde Freude gebracht. Ihr habt Euch doch gar nicht verändert.«

»Ach, Amme, du Gute, ich habe gar nicht gewußt, daß Ihr noch im Hause seid,« sagte Anna, für eine Minute zur Besinnung kommend.

»Ich wohne nicht hier, sondern bei meiner Tochter, und bin nur gekommen, um zu gratulieren, Anna Arkadjewna, meine Teure.«

Die Amme brach plötzlich in Thränen aus und küßte von neuem die Hand der Herrin..

Sergey hielt sich, mit glänzenden Augen lächelnd, mit der einen Hand an seiner Mutter, mit der anderen an der Amme an und stampfte mit den wohlgenährten Füßchen auf den Teppich. Die Zärtlichkeit der geliebten Amme gegen seine Mutter versetzten ihn in Entzücken.

»Mama! Sie kommt oft zu mir, und wenn sie kommt« – wollte er beginnen, hielt aber inne, als er bemerkte, daß seine Amme der Mutter etwas zuflüsterte, und auf deren Gesicht sich Schrecken auspräge, und etwas wie Scham, was der Mutter sogar nicht zu Gesicht stand.

Diese kam zu ihm.

»Mein Liebling,« sprach sie.

Sie konnte nicht, sagen, »lebewohl«, aber der Ausdruck ihres Gesichts sagte es, und er verstand.

»Mein süßer, lieber Kleiner!« sagte sie zu ihm und nannte ihn mit einem Kosenamen, mit welchem sie ihn als er noch ganz klein gewesen, zu rufen pflegte, »wirst du mich auch nicht vergessen? Du« – doch weiter Vermochte sie nicht zu sprechen.

Soviel Worte sie sich, auch später noch ausdachte, die sie ihm hätte sagen können – jetzt wußte und vermochte sie nichts zu sagen. – Sergey aber verstand alles, was sie ihm mitteilen wollte. Er verstand, daß sie unglücklich sei und ihn liebte. Er verstand sogar, was die Amme flüsternd gesprochen hatte. Hörte er doch die Worte: »Stets in der neunten Stunde«; und er begriff, daß damit sein Vater gemeint sei, und die Mutter mit dem Vater nicht zusammentreffen dürfe. Dies verstand er; Eins aber konnte er nicht begreifen: weshalb sich auf ihrem Antlitz Schrecken und Scham gezeigt hatte! Sie war nicht schuldig, und fürchtete ihn doch und empfand Scham über Etwas. Er wollte eine Frage stellen, die ihm diesen Zweifel hätte aufklären können, wagte es aber nicht zu thun. Er sah, daß sie litt, und empfand Mitleid mit ihr. Schweigend schmiegte er sich an sie und sprach flüsternd:

»Geh‘ noch nicht. Er kommt noch nicht gleich.«

Die Mutter schob ihn von sich, um zu erkennen, ob er auch so denke, wie er gesprochen hatte, und las aus dem erschreckten Ausdruck seines Gesichts, daß er nicht nur von dem Vater gesprochen habe, sondern sie sogar gleichsam frage, wie er wohl über seinen Vater denken solle.

»Sergey, mein Herzblatt,« sagte sie, »liebe ihn, er ist besser und edler als ich, und ich trage eine Schuld vor ihm. Wenn du einmal groß bist, dann wirst du urteilen können.«

»Bessere Menschen als dich giebt es nicht!« rief er voll Verzweiflung, durch Thränen hindurch, faßte sie an den Schultern, und begann sie aus allen Kräften an sich zu pressen mit vor Anstrengung bebenden Armen.

»Meine Seele, mein liebes Kind!« sagte Anna, und begann, hingerissen, so nach Kinderart zu weinen, wie er selber weinte.

Da öffnete sich die Thür und Wasiliy Lukitsch trat ein.

An der anderen Thür wurden Schritte vernehmbar, und entsetzt flüsterte ihr die Amme zu »er kommt« und reichte Anna den Hut.

Sergey ließ sich auf sein Bett sinken und begann zu schluchzen, das Gesicht mit den Händen bedeckend. Anna nahm diese Hände weg, küßte ihm noch einmal das bethaute Antlitz und ging schnellen Schrittes zur Thür hinaus.

Aleksey Aleksandrowitsch trat ihr in den Weg. Als er sie erblickt hatte, blieb er stehen und beugte den Kopf.

Ungeachtet dessen, daß sie soeben erst gesagt hatte, er sei besser und edler als sie, erfaßten sie bei dem schnellen Blick, den sie auf ihn warf, seine ganze Erscheinung mit allen ihren Einzelheiten umfangend, die Gefühle des Widerwillens gegen ihn; der Wut und des Neides um den Sohn. Mit schneller Bewegung ließ sie den Schleier fallen, und eilte fast, ihren Schritt verdoppelnd, aus dem Zimmer.

Sie war nicht dazu gekommen, die Geschenke herauszunehmen, die sie mit so großer Liebe und so großem Schmerz gestern im Laden gekauft hatte, und brachte sie wieder mit nach Hause.

 

26.

»Nun, wie steht’s Kapitonitsch?« sagte der kleine Sergey, rotwangig und heiter, von dem Spaziergang am Vorabend seines Geburtstags zurückkehrend und seine faltige Poddjovka dem hochgewachsenen, aus seiner ganzen Größe auf den Kleinen herablächelnden alten Portier reichend.

»War heute jener zurückgesetzte Beamte da? Hat ihn der Papa empfangen?«

»Empfangen. Soeben ist der Direktor gegangen und ich habe ihn gemeldet,« sagte der Schweizer heiter blinzelnd. »Gestattet mir, daß ich Euch auskleide.«

»Sergey!« sagte der Erzieher, in der Thüre stehen bleibend, welche nach den inneren Gemächern führte. »Legt selbst ab!«

Doch Sergey widmete, obwohl er die schwache Stimme des Pädagogen gehört hatte, diesem nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er stand, sich mit der Hand an dem Brustgurt des Portiers anhaltend und ihm ins Gesicht blickend.

»Hat denn Papa auch für ihn gethan, was not thut?«

Der Portier nickte bestätigend mit dem Kopfe.

Ein Beamter, der schon siebenmal bei Aleksey Aleksandrowitsch mit einem Anliegen vorgesprochen hatte, interessierte Sergey und den Portier. Sergey hatte denselben auf dem Vorsaal getroffen und gehört, wie kläglich er den Portier bat, sein Anliegen vorzutragen, und gesagt harte, daß er mit seinen Kindern werde untergehen müssen.

Seit dieser Zeit interessierte sich Sergey, der dem Beamten noch ein zweites Mal auf dem Vorsaal begegnet war, für diesen.

»Hat er sich denn recht gefreut?« frug er.

»Wie sollte er sich nicht gefreut haben? Bald gesprungen wäre er, als er von hier fortging.«

»Hat man etwas für uns gebracht?« – frug Sergey nach einer Pause.

»Nein, Herr,« antwortete kopfschüttelnd und flüsternd der Portier, »von der Gräfin ist etwas da.«

Sergey ersah sofort, daß das, wovon der Schweizer sprach, ein Geschenk von der Gräfin Lydia Iwanowna zu seinem Geburtstage sein müsse.

»Was sagst du? Wo ist es denn?«

»Korney hat es zu Papa getragen. Es scheint etwas recht Schönes.«

»Wie groß ist es denn? – So?« – –

»Kleiner, aber was Hübsches.«

»Ein Buch?«

»Nein, ein Spielzeug. Aber geht, geht, Wasiliy Lukitsch wird gleich rufen,« sagte der Portier, die nahenden Schritte des Gouverneurs vernehmend und behutsam das bis zur Hälfte im abgezogenen Handschuh steckende Händchen, welches ihn noch bei seinem Ledergurt hielt, losmachend.

»Wasiliy Lukitsch, diese Minute!« antwortete Sergey mit dem nämlichen heiteren und lieblichen Lächeln, welches den seines Amtes beflissenen Wasiliy Lukitsch stets besiegte.

Sergey war in viel zu heiterer und glücklicher Stimmung, als daß er sich mit seinem Freund, dem Portier, nicht erst noch hätte in das freudige Familienereignis teilen sollen, von dem er auf dem Spaziergang im Sommergarten durch die Nichte der Gräfin Lydia Iwanowna erfahren hatte.

Dieses freudige Ereignis erschien ihm besonders wichtig nach dem Zusammentreffen mit dem Glücksfall des Beamten und seiner eigenen Freude darüber, daß man ihm ein Spielzeug gebracht hatte. Sergey schien es, daß heute ein Tag sei, an welchem jedermann glücklich und heiter sein müsse.

»Weißt du, daß Papa den Alexander Newskiy erhalten hat?«

»Warum sollte ich das nicht wissen? Man ist ja schon gekommen, um zu gratulieren.«

»So; freut er sich?«

»Wie sollte man sich über des Zaren Gunst nicht freuen? Das heißt, er hat ihn ja auch verdient,« sagte der Portier streng und ernst.

Der kleine Sergey wurde nachdenklich, blickte in das von ihm schon bis in die kleinsten Einzelheiten studierte Gesicht des Portiers, insbesondere auf das Kinn, welches zwischen den grauen Backenbärten hing und das niemand außer Sergey je erblickt hatte, da dieser ihn nie anders als von unten herauf anschaute.

»Deine Tochter ist lange nicht bei dir gewesen?«

Die Tochter des Portiers war Balletttänzerin.

»Wie soll sie an den Wochentagen ausgehen können? Die haben auch zu lernen. Und auch Ihr müßt nun lernen, Herr, geht.« –

In das Zimmer tretend, erzählte Sergey, anstatt sich zur Lektion niederzulassen, seinem Lehrer von seinen Vermutungen darüber, ob das was man für ihn gebracht habe, eine Maschine sein könnte.

»Was meint Ihr dazu?« frug er.

Wasiliy Lukitsch dachte nur daran, daß ein Lehrer lediglich die Grammatikstunde zu geben habe, welche um zwei Uhr begann.

»Nein, sagt mir nur, Wasiliy Lukitsch,« frug er plötzlich, schon hinter dem Arbeitstisch sitzend und das Buch in der Hand haltend, »was ist denn noch mehr, als der Alexander Newskiy? Ihr wißt, daß Papa den Alexander Newskiy erhalten hat?«

Wasiliy Lukitsch antwortete, daß der Wladimir höher sei als der Alexander Newskiy.

»Und noch höher?«

»Am höchsten ist der Orden des heiligen Andreas.«

»Und höher noch als der Andreas?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was; selbst Ihr wißt das nicht?« und Sergey versank, sich aufstemmend, in Nachdenken.

Seine Überlegungen waren sehr verwickelt und mannigfaltig. Er überlegte, wie sein Vater plötzlich auch den Wladimir und den Andreasorden erhalten könnte, und wie er infolgedessen heute in der Lektion bei weitem fleißiger sein wolle, und wie er selbst, wenn er erst einmal groß wäre, alle Orden, und auch das, was noch höher als der Andreasorden sei, erhalten wollte. Sobald man einen ausgesonnen hätte, wollte er ihn verdienen; und dächte man ihn noch höher aus, so wollte er ihn sofort auch verdienen.

In solchen Überlegungen verstrich die Zeit, bis der Lehrer kam. Die Lektion über die Umstände der Zeit und des Ortes und den Umstand der Art und Weise saß nicht, und der Lehrer war nicht nur unzufrieden, sondern selbst erzürnt. Der Groll des Lehrers rührte Sergey. Er fühlte sich schuldig, weil er seine Lektion nicht gelernt hatte, aber wie er sich auch bemühen mochte, er konnte es durchaus nicht ermöglichen; so lange der Lehrer ihm Etwas erklärte, überzeugte er sich und schien zu verstehen, doch sobald er allein war, vermochte er sich durchaus nicht mehr zu entsinnen, und zu begreifen, daß das ziemliche kurze und so verständliche Wort »plötzlich« ein »Umstand der Art und Weise« sei; allein dennoch that es ihm leid, daß er den Lehrer kränkte.

Er wählte eine Minute, in welcher der Lehrer schweigend in das Buch blickte.

»Michail Iwanitsch, wann wird Euer Namenstag sein?« frug er plötzlich.

»Ihr dächtet doch besser an Eure Arbeit; die Namenstage haben keinerlei Bedeutung für ein vernünftiges Wesen. Es sind Tage wie alle anderen, an denen man arbeiten muß.«

Der kleine Sergey schaute aufmerksam seinen Lehrer an, dessen spärlichen Bart und die Brille, welche sich unter die Kerbe, die auf der Nase war, gesenkt hatte, und versank so tief in Gedanken, daß er nichts mehr von dem hörte, was der Lehrer ihm erklärte. Er hatte erkannt, daß dieser nicht so dachte, wie er gesprochen hatte; er fühlte dies an dem Tone, in welchem es gesagt worden war.

»Aber warum haben sie sich alle verabredet, dies immer in ein und derselben Weise zu äußern, immer so langweilig und so zwecklos? Warum stößt er mich von sich, warum liebt er mich nicht?« frug er sich betrübt und konnte keine Antwort finden.

27.

Nach der Lektion seitens des Lehrers folgte eine Stunde beim Vater. Bis dieser erschien, hatte sich Sergey an den Tisch gesetzt, mit seinem Messerchen spielend, und zu grübeln begonnen. Zu der Zahl der Lieblingsbeschäftigungen Sergeys hatte das Aussuchen seiner Mutter während des Spazierganges derselben gehört. Er glaubte nicht an den Tod überhaupt, und im besonderen nicht an den ihren, soviel ihm auch Lydia Iwanowna davon gesagt und der Vater es bestätigt hatte, und so suchte er sie, auch nachdem man ihm mitgeteilt hatte, daß sie tot sei, noch immer während der Zeit seiner Ausgänge. Jede vollgebaute, graziöse Dame mit dunklem Haar war seine Mutter. Bei dem Anblick einer solchen Dame regte sich in seiner Seele ein Gefühl der Zärtlichkeit, ein Gefühl, daß er tief Atem holte und die Thränen ihm in die Augen traten, und so wartete er denn, dah sie wieder zu ihm kommen und ihren Schleier aufheben möchte. Ihr Gesicht würde wieder sichtbar werden, sie würde wieder lächeln, ihn umarmen, er würde ihren Duft wahrnehmen, die Zartheit ihrer Hand fühlen und glückselig weinen, wie er schon einmal des Abends ihr zu Füßen gefallen war und sie ihn gestreichelt hatte; er aber hatte gelacht und sie in die weiße beringte Hand gebissen. Später, als er dann zufällig von der Kinderfrau erfuhr, daß die Mutter nicht gestorben sei, und sein Vater und Lydia Iwanowna ihm erklärten, sie sei für ihn tot, weil sie nicht gut gewesen – was er durchaus nicht zu glauben vermochte, da sie ihn ja geliebt hatte – so forschte er noch immer nach ihr und wartete auf sie.

Heute nun im Sommergarten war eine Dame in einem lila Schleier gewesen, welcher er mit stockendem Herzen in der Erwartung, sie wäre es, mit den Blicken gefolgt war, während sie auf dem Wege zu ihnen herankam. Die Dame aber hatte sie nicht erreicht, sondern war abgebogen.

Heute nun fühlte Sergey stärker als je die Regungen dieser Liebe zu ihr und völlig sich selbst vergessend in der Erwartung des Vaters, zerschnitt er den ganzen Rand des Tisches mit dem Messerchen, mit blitzenden Augen vor sich hinblickend und ihrer gedenkend.

»Papa kommt,« riß ihn Wasiliy Lukitsch aus seiner Träumerei. Sergey sprang auf, eilte auf seinen Vater zu, küßte ihm die Hand, und blickte ihn aufmerksam an, nach Kennzeichen der Freude über den Empfang des Alexander Newskiy-Ordens an ihm suchend.

»Hast du einen hübschen Spaziergang gemacht?« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, sich in seinen Lehnstuhl setzend, ein Exemplar des Alten Testamentes heranziehend und es aufschlagend. Ungeachtet dessen, daß Aleksey Aleksandrowitsch Sergey öfter gesagt hatte, jeder Christ müsse die biblische Geschichte sicher kennen, hatte er sich doch öfter mit Hilfe des Buches verbessern müssen, und Sergey hatte dies bemerkt.

»Ja, es war sehr lustig, Papa,« sagte er, sich seitwärts auf den Stuhl setzend und ihn schaukelnd – was ihm verboten war.

»Ich habe Nadenka gesehen,« Nadenka war die bei Lydia Iwanowna zur Erziehung befindliche Nichte, »sie hat mir erzählt, daß man Euch einen neuen Stern verliehen hätte. Freut Ihr Euch auch?«

»Zuerst – schaukle nicht, bitte,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, »zweitens eine Belohnung ist nicht kostbar, nur die Arbeit dafür. Ich möchte du verständest dies. Wenn du arbeitest und lernst, zum Zwecke, Früchte dafür zu ernten, so wird dir die Arbeit schwer erscheinen; wenn du aber arbeitest« – sprach Aleksey Aleksandrowitsch, indem er sich vergegenwärtigte, wie er sich nur durch sein Pflichtbewußtsein bei der langweiligen Arbeit des heutigen Morgens, die in dem Unterschreiben von hundertundachtzehn Papieren bestanden, aufrecht erhalten hatte – »indem du die Arbeit selbst liebst, so wirst du für dich selbst darin eine Belohnung finden.«

Die von Zärtlichkeit und Lust glänzenden Augen Sergeys wurden trübe und senkten sich unter dem Blick des Vaters. Das war der nämliche, ihm längst bekannte Ton, mit dem ihm sein Vater stets begegnete, und dem Sergey schon sich anzubequemen gelernt hatte.

Der Vater sprach stets mit ihm – so fühlte Sergey – als wende er sich an einen für ihn nur in der Vorstellung vorhandenen Knaben, einen Knaben, wie sie nur in Büchern vorkommen, und der dem Sergey vollständig unähnlich war; und Sergey bemühte sich nun stets, sich vor dem Vater zu stellen, als sei er ein ebensolcher Bücherknabe.

»Du verstehst das, hoffe ich?« sagte dieser.

»Ja, Papa,« antwortete Sergey, sich stellend, als sei er ein solcher Phantasieknabe.

Die Lektion bestand in dem Auswendiglernen einiger Verse aus dem Evangelium, und der Wiederholung des Anfangs des Alten Testaments. Die Verse des Evangeliums hatte Sergey ordentlich gelernt, aber im selben Augenblick, als er sie hersagte, schaute er auf des Vaters Stirnbein, welches sich so scharf an der Schläfe bog, daß er den Faden verlor und das Ende des einen Verses in einem einzelnen Worte mit dem Anfang des anderen zusammenbrachte. Aleksey Aleksandrowitsch war es klar, daß Sergey nicht verstanden hatte, was er hersagte, und dies reizte ihn.

Er wurde finster und begann wieder das Nämliche zu erklären, was Sergey schon viele Male gehört hatte und nie wieder vergessen konnte, weil er es schon allzu klar erkannt hatte, in der nämlichen Weise, wie dies, daß »plötzlich« ein Umstand der Art und Weise sei.

Sergey schaute mit erschreckten Blick auf den Vater und dachte nur an das Eine: Will der Vater wiederholen lassen oder nicht, was er gesagt hatte, wie es doch bisweilen der Fall war? Dieser Gedanke erschreckte Sergey so sehr, daß er nun gar nichts mehr begriff. Der Vater ließ ihn indessen nicht wiederholen und ging zu der Lektion aus dem Alten Testament über. Sergey recitierte die Ereignisse selbst gut, doch als er Fragen darüber beantworten sollte, was einige der Ereignisse bedeuten sollten, wußte er nichts, obwohl er schon wegen dieser Lektion bestraft worden war. Die Stelle, bei welcher er nichts mehr zu antworten wußte und in Unruhe geriet, in den Tisch schnitt oder mit dem Stuhle schaukelte war die, wo er von den vorsündflutlichen Patriarchen zu sprechen hatte.

Er kannte keinen von ihnen, außer Henoch, der lebendig in den Himmel aufgenommen worden war. Früher hatte er die Namen gewußt, sie jetzt aber ganz und gar vergessen, besonders deshalb, weil Henoch seine Lieblingsgestalt aus dem ganzen Alten Testament war, und sich an dessen Aufnahme bei Lebzeiten in den Himmel eine ganze, lange Reihe von Ideen in seinem Kopfe knüpfte, der er sich auch jetzt hingab, mit den Augen auf der Uhrkette des Vaters und an einem halb zugeknöpften Knopfe der Weste desselben haften bleibend.

An den Tod, von welchem ihm so oft gesprochen wurde, glaubte Sergey nicht so ganz. Er glaubte nicht daran, daß die von ihm geliebten Leute sterben könnten, und insbesondere nicht, daß er selbst sterben würde. Dies war für ihn vollständig unmöglich und unbegreiflich. Doch man sagte ihm, daß alle Menschen sterben müßten; er frug nun selbst die Leute, denen er glaubte, und diese bestätigten es; die Kinderfrau hatte es ihm auch gesagt, wenn schon ungern. Aber Henoch war doch nicht gestorben, und so starben vielleicht nicht alle Menschen.

»Weshalb soll denn nicht jeder sich vor Gott ebenso verdient machen können und lebend in den Himmel aufgenommen werden?« dachte Sergey. Die Bösen, das heißt, die Menschen, welche Sergey nicht liebte, die konnten sterben, doch die Guten konnten sämtlich sein wie Henoch.

»Nun, welche sind die Patriarchen?«

»Henoch, Henoch« –

»Aber das hast du ja schon gesagt. Das ist schlecht, Sergey, sehr schlecht. Wenn du dir nicht Mühe giebst, zu erkennen, was das Nötigste ist von allem für den Christen« – sagte der Vater aufstehend – »was kann dich denn dann noch interessieren? Ich bin unzufrieden mit dir und auch Peter Ignatzitsch« – dies war der Hauptlehrer – »ist unzufrieden mit dir. Ich muß dich bestrafen.«

Der Vater und der Lehrer waren beide mit Sergey unzufrieden, und in der That hatte dieser sehr schlecht gelernt. Damit ließ sich aber durchaus nicht sagen, daß er ein unbefähigter Knabe gewesen wäre. Im Gegenteil, er war viel fähiger, als diejenigen Knaben, welche der Pädagog Sergey als Muster hinstellte. Vom Gesichtspunkte des Vaters aus wollte er nicht lernen, was jene lernten. In Wirklichkeit aber – konnte er es nicht lernen. – Er konnte es deshalb nicht, weil sein Geist Bedürfnisse hatte, welche für ihn viel bindender waren, als die, welche ihm der Vater und der Erzieher auseinandersetzten. Diese Bedürfnisse bestanden in dem Drang zu widersprechen, und er stritt kühnlich mit seinen Erziehern. Sergey war neun Jahre alt, noch ein Kind, aber seine Seele kannte er und sie war ihm teuer, er hütete sie, wie das Augenlid das Auge schützt, und ohne den Schlüssel der Liebe ließ er niemand in seine Seele hinein!

Seine Erzieher beklagten sich über ihn, daß er nicht lernen wolle, aber seine Seele war erfüllt von dem Durst nach Erkenntnis. Und er lernte bei Kapitonitsch, bei der Kinderfrau, bei Nadenka, bei Wasiliy Lukitsch – aber nicht bei seinen Lehrern. – Das Wasser, welches ihm der Vater und der Erzieher auf die Räder gaben, war schon längst versiegt und arbeitete an einem anderen Platze.

Der Vater bestrafte Sergey, indem er ihn nicht zu Nadenka, der Nichte Lydia Iwanownas ließ, aber diese Bestrafung erschien Sergey sehr gelegen zu kommen, Wasiliy Lukitsch war bei guter Laune und wies ihm, wie man Windmühlen baut. Der ganze Abend verging nun über dieser Arbeit und den Gedanken daran, wie sich eine Windmühle so bauen ließe, daß man sich selbst auf ihr drehen könne, indem man sie mit den Armen bei den Flügeln faßte, oder sich daran festband – und sich drehen ließ. –

An die Mutter dachte er den ganzen Abend nicht, doch als er sich ins Bett legte, fiel sie ihm plötzlich wieder ein und er betete in seinen Worten, daß seine Mutter morgen, zu seinem Geburtstage, nicht mehr länger für ihn verborgen bleiben und zu ihm kommen möchte.

»Wasiliy Lukitsch, wißt Ihr, worum ich noch außer dem Sonstigen gebetet habe?«

»Damit Ihr besser lernt?«

»Nein.«

»Vom Spielzeug?«

»Nein. Ihr ratet es nicht. Es ist ausgezeichnet, aber ein Geheimnis! Wenn es sich erfüllt, sage ich es Euch. Habt Ihr es noch nicht heraus?«

»Nein. Ich rate es nicht. Sagt mirs doch, sprach Wasiliy Lukitsch, und lächelte, was bei ihm selten der Fall war. »Doch, legt Euch nur, ich will das Licht auslöschen.«

»Mir ist ohne Licht das, was ich sehe und wovon ich betete, nur noch sichtbarer. Da – beinahe hätte ich jetzt mein Geheimnis verraten!« – sagte Sergey unter heiterem Lachen.

Nachdem man das Licht fortgebracht hatte, hörte und fühlte Sergey seine Mutter. Sie stand über ihm und koste ihn mit liebevollem Blick, doch da erschienen die Windmühlen, sein Messerchen, alles ging durcheinander, und er schlief ein.

28.

In Petersburg angekommen, waren Wronskiy und Anna in einem der besten Hotels abgestiegen. Wronskiy gesondert, in der unteren Etage, Anna oben, mit ihrem Kinde, der Amme und der Zofe, in einem großen Appartement, welches aus vier Zimmern bestand.

Am ersten Tage nach seiner Ankunft fuhr Wronskiy zu seinem Bruder; woselbst er seine in Geschäften von Moskau angekommene Mutter traf. Die Mutter und Schwägerin begegneten ihm, wie sonst, sie frugen über seine Reise ins Ausland, sprachen von gemeinsamen Bekannten, erwähnten aber mit keinem Worte sein Verhältnis zu Anna. Sein Bruder aber kam am anderen Tage früh zu ihm und frug ihn selbst nach ihr und Aleksey Wronskiy erzählte ihm offen, daß er seinen Bund mit der Karenina gleich einer Ehe betrachte; daß er hoffe, die Scheidung zu erlangen und sie dann heiraten werde und daß er sie bis dahin ebenso als sein Weib achte, wie man jedes andere Weib achte, und bat ihn, dies der Mutter und seiner Gemahlin so mitzuteilen.

»Wenn die Welt es nicht billigt, so ist mir das gleichgültig,« sagte Wronskiy, »aber wenn meine Verwandten mit mir in verwandtschaftlichen Beziehungen stehen wollen, so müssen sie in den nämlichen Beziehungen auch mit meiner Frau stehen!«

Der ältere Bruder, welcher die Urteile des jüngeren stets geachtet hatte, wußte nicht recht, ob dies richtig oder falsch sei, so lange die Welt selbst die Frage entschieden haben würde. Er seinerseits hatte gar nichts gegen die Sache und ging zusammen mit Aleksey zu Anna.

Wronskiy sagte in Gegenwart seines Bruders, wie in der aller anderen zu dieser »Ihr«, und verkehrte mit Anna wie mit einer nahen Bekannten, aber doch herrschte die stillschweigende Voraussetzung dabei, daß der Bruder ihre Beziehungen kannte und es wurde davon gesprochen, daß Anna nach dem Gute Wronskiys gehe.

Trotz aller seiner Welterfahrung war Wronskiy nach dem Eintritt in das neue Verhältnis, in welchem er sich befand, in einem furchtbaren Irrtum. Wohl hätte es ihm begreiflich erscheinen müssen, daß die Welt für ihn und Anna verschlossen war, aber jetzt entstanden in seinem Kopfe gewisse unklare Vorstellungen, daß es nur in der älteren Zeit so gewesen sei, und jetzt bei dem schnellen Fortschreiten der Zeit – er war jetzt, ohne daß er selbst es merkte, ein Anhänger jeder Art von Fortschritt geworden – der Blick der Gesellschaft sich verändert habe, und daß auch die Frage, ob sie in der Gesellschaft wieder aufgenommen werden würden, noch nicht entschieden sei. »Natürlich,« dachte er, »die Hofkreise werden Anna nicht aufnehmen, aber die ihr nahestehenden Leute können und müssen die Sache auffassen, wie es sich gehört.«

Man kann einige Stunden sitzen, die Füße übereinandergeschlagen, und in ein und derselben Stellung, wenn man weiß, daß uns nichts hindert, diese Lage zu verändern; wenn aber ein Mensch weiß, daß er so mit untergeschlagenen Beinen sitzen muß, dann befällt ihn der Krampf, die Füße werden zittern und sich nach dem Orte hinziehen, an den man sie bringen möchte.

Dies erfuhr auch Wronskiy an sich bezüglich seiner Stellung zur Welt. Obwohl er aus dem Grund seiner Seele wußte, daß dieselbe für sie beide verschlossen sei, so versuchte er es doch, ob sich die Welt jetzt nicht ändere und sie doch aufnehmen werde. Aber sehr bald wurde er inne, obwohl die Welt für ihn persönlich offen stand, sie doch für Anna verschlossen blieb. Wie bei dem Spiele Katze und Maus, senkten sich die Hände, die vor ihm erhoben wurden, sofort vor Anna. Eine der ersten Damen der Petersburger Gesellschaft, welche Wronskiy wiedersah, war seine Cousine Betsy.

»Endlich!« begegnete ihm diese voll Freude. »Und Anna? Wie freue ich mich. Wo seid Ihr abgestiegen? Ich kann mir denken, wie nach Eurer reizenden Reise unser Petersburg Euch schrecklich sein muß; ich kann mir Euren Honigmond in Rom vorstellen. Was wird mit der Scheidung? Habt Ihr alles besorgt?«

Wronskiy bemerkte, daß der Enthusiasmus Betsys sich verringerte, als sie erfahren hatte, daß eine Scheidung noch nicht erfolgt sei.

»Auf mich wird man den Stein werfen, ich weiß es,« sagte sie, »aber ich werde zu Anna kommen; ja, ich komme sicherlich. Ihr bleibt wohl nur kurze Zeit hier?«

Und in der That, noch am nämlichen Tage kam sie zu Anna gefahren, doch war ihr Ton schon nicht ganz so der nämliche wie früher. Sie war offenbar stolz auf ihre Kühnheit und wünschte, daß Anna die Treue ihrer Freundschaft schätze. Sie blieb nicht länger als zehn Minuten, von den Stadtneuigkeiten sprechend, und sagte beim Abschied: »Ihr habt mir nicht gesagt, wenn die Ehescheidung stattfindet? Gesetzt auch, daß ich meinerseits der Sache durch die Finger sehe, so werden doch die anderen Euch kalt entgegenkommen, so lange Ihr nicht geheiratet habt. Und das geht ja jetzt so leicht. Ca se fait. Ihr reist also Freitag ab? Schade, daß wir uns nicht noch einmal wiedersehen können.«

Am Tone Betsys konnte Wronskiy erkennen, was er von der Welt zu erwarten hatte, er machte aber gleichwohl noch einen Versuch in seiner Familie. Auf seine Mutter hoffte er dabei freilich nicht. Er wußte, daß diese, von Anna in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft so entzückt gewesen, ihr gegenüber jetzt unerbittlich hart war, weil sie an der Vernichtung der Carriere ihres Sohnes Schuld trug. Dieser aber setzte große Hoffnungen auf Warja, die Frau seines Bruders. Ihm schien, daß Warja den Stein nicht mit werfen, sondern in ihrer Einfachheit und Entschlossenheit zu Anna kommen und diese auch empfangen würde.

Am Tage nach seiner Ankunft fuhr Wronskiy denn auch zu ihr, und teilte ihr – er traf sie allein an – offen seinen Wunsch mit.

»Du weißt, Aleksander,« sprach sie, ihn ruhig zu Ende hörend, »wie ich dich liebe, und wie bereit ich bin, alles für dich zu thun; doch ich habe geschwiegen, weil ich wußte, daß ich weder dir, noch Anna Arkadjewna nützlich sein kann,« sagte sie, den Namen Anna Arkadiewna mit eigentümlicher Betonung aussprechend. »Denke nicht, daß ich etwa einen Tadel äußern will, vielleicht hätte ich an ihrer Stelle ganz das Nämliche gethan. Ich will und kann nicht auf Einzelheiten eingehen,« fuhr sie fort, zaghaft in sein finsteres Gesicht schauend. »Doch muß man das Ding beim Namen nennen. Du willst, daß ich sie besuche, sie auch empfange, und damit in der Gesellschaft rehabilitiere, aber verstehe wohl, ich kann das ja nicht thun! Meine Töchter wachsen heran und ich muß in der Welt für meinen Mann leben. Nun komme ich zu Anna Arkadjewna; diese wird ihrerseits begreifen, daß ich sie nicht zu mir einladen kann, oder es dann wenigstens so thun müßte, daß sie nicht Leuten begegnet, die andere Anschauungen haben. Das aber wird sie verletzen! Ich kann ihr nicht aufhelfen.«

»Ich kann aber nicht glauben, daß sie tiefer gefallen sein sollte, als Hunderte von Frauen, die Ihr empfangt,« unterbrach sie Wronskiy noch düsterer, und erhob sich schweigend in der Erkenntnis, daß das Urteil seiner Schwägerin unabänderlich sei.

»Aleksey! Sei nur nicht bös! Beherzige, bitte, daß ich nicht schuld bin,« begann Warja wieder, mit schüchternem Lächeln auf ihn blickend.

»Ich zürne dir nicht,« sagte er, noch ebenso finster, »aber mir ist das doppelt schmerzlich. Mir ist noch schmerzlich, daß dieser Umstand unsere Freundschaft zerstört, oder wenn nicht zerstört, so doch schwächt. Du begreifst, daß dies für mich ja auch nicht anders sein kann.«

Mit diesen Worten verließ er sie.

Wronskiy hatte erkannt, daß weitere Versuche vergeblich sein würden, und er diese wenige Tage in Petersburg so zu verleben hätte, wie in einer fremden Stadt, indem er alle Beziehungen zu der früheren Gesellschaft mied, um sich nicht Unannehmlichkeiten und Kränkungen aussetzen zu müssen, die ihm doch so peinlich waren.

Eine der hauptsächlichsten Unannehmlichkeiten seiner Lage in Petersburg war die, daß Aleksey Aleksandrowitsch und sein Name, wie es schien, überall zu finden war. Man konnte von nichts zu sprechen anfangen, ohne daß das Gespräch auf Aleksey Aleksandrowitsch kam, man konnte nirgendshin fahren, ohne ihm zu begegnen. So schien es wenigstens Wronskiy, indem er sich wie ein Mensch mit einem schlimmen Finger vorkam, der, als wäre es absichtlich, gerade mit diesem schlimmen Finger an alles anstößt.

Der Aufenthalt in Petersburg erschien Wronskiy auch noch dadurch um so schwerer, als er während dieser ganzen Zeit in Anna gleichsam ein neues, ihm unverständliches Geschöpf erblickte. Bald war sie wie verliebt in ihn, bald wurde sie kalt, reizbar und unergründlich. Sie litt eine Qual und verbarg Etwas vor ihm; bemerkte aber wie es schien, die Kränkungen nicht, die ihm das Leben vergifteten, und für sie mit ihrem seinen Wahrnehmungsvermögen, doch nur noch qualvoller sein mußten.

 

29.

Unter den Zwecken, welche der Reise nach Rußland zu Grunde lagen, war für Anna auch der des Wiedersehens mit ihrem Sohne. Seit dem Tage, seit welchem sie Italien verlassen, hatte dieser Gedanke nicht aufgehört, sie in Aufregung zu erhalten, und je näher sie Petersburg kam, desto mehr und immer mehr erschien vor ihr das Freudige und Bedeutungsvolle dieses Wiedersehens. Sie legte sich gar nicht die Frage vor, wie sie dieses Wiedersehen bewerkstelligen wollte. Es erschien ihr ganz natürlich und einfach, daß sie ihren Sohn wiedersah, wenn sie mit demselben in einer und derselben Stadt sich befand; allein nach ihrer Ankunft in Petersburg, zeigte sich plötzlich ihre jetzige Stellung in der Gesellschaft klar vor ihr, und sie erkannte, daß es schwierig sei, das Wiedersehen zu ermöglichen.

Bereits zwei Tage war sie in Petersburg. Der Gedanke an den Sohn verließ sie nicht eine Minute, und noch hatte sie ihn nicht gesehen. Geradenwegs in das Haus zu fahren, wo sie mit Aleksey Aleksandrowitsch zusammentreffen konnte, dazu, sie fühlte es, besaß sie nicht das Recht. Man konnte sie vielleicht gar nicht einlassen und sie beleidigen. Zu schreiben und sich mit ihrem Manne in Verbindung zu setzen, war ihr schon dem Gedanken nach peinlich. Sie vermochte nur dann ruhig zu bleiben, wenn sie ihres Mannes gar nicht gedachte. Den Sohn auf dem Spaziergange zu sehen, nachdem sie sich erkundigt hatte, wohin und wann er ausgehe, war ihr nicht genug; sie hatte sich so sehr auf dieses Wiedersehen vorbereitet, sie hatte ihm soviel zu sagen, es verlangte sie so sehr, ihn in ihre Arme zu schließen, ihn zu küssen. Die alte Amme Sergeys konnte ihr behilflich sein und sie benachrichtigen. Aber diese befand sich nicht mehr im Hause Aleksey Aleksandrowitschs. In solcher Ungewißheit und unter Erkundigungen nach der Amme waren die zwei Tage vergangen.

Nachdem Anna von den nahen Beziehungen Aleksey Aleksandrowitschs zur Gräfin Lydia Iwanowna vernommen hatte, entschloß sie sich am dritten Tage, dieser einen Brief zu schreiben, der ihr viel Überwindung kostete, und in welchem sie mit Vorbedacht sagte, daß der Entscheid darüber, ob sie ihren Sohn sehen könne, von der Großmut ihres Mannes abhängen müsse. Sie wußte, daß wenn man den Brief ihrem Manne wies, dieser ihr, seine Rolle des Großmütigen weiterspielend, keinen abschlägigen Bescheid geben würde.

Der Bote, welcher den Brief hingetragen hatte, überbrachte ihr die so harte und unerwartete Nachricht, daß es keine Antwort gebe.

Noch nie hatte sie sich so erniedrigt gefühlt, als in dieser Minute, als sie, den Boten kommen lassend, von diesem die einfache Mitteilung vernahm, daß er gewartet habe, und man ihm endlich gesagt hätte, es würde keine Antwort erteilt werden. Anna fühlte sich gedemütigt, verletzt, aber sie erkannte, daß von ihrem Gesichtspunkt aus die Gräfin Lydia Iwanowna recht habe. Ihr Schmerz war um so größer, als er ein vereinsamter war. Sie konnte und wollte ihn nicht mit Wronskiy teilen. Sie wußte, daß für ihn, obwohl er doch die Hauptursache ihres Unglücks bildete, die Frage ihres Wiedersehens mit ihrem Kinde von höchst geringer Bedeutung sei. Sie wußte, daß er niemals fähig sein werde, ihre Leiden in deren ganzer Tiefe zu verstehen, sie wußte, daß sie ihn wegen eines kühlen Tones bei Erwähnung der Sache würde hassen müssen. Dies aber fürchtete sie über alles in der Welt, und so verbarg sie vor ihm alles, was ihren Sohn betraf.

Den ganzen Tag über zu Haus verweilend, hatte sie die Mittel erwogen, zu einem Wiedersehen mit ihrem Sohne, und war bei dem Entschluß stehen geblieben, an ihren Mann zu schreiben. Sie setzte den Brief noch auf, als ihr das Schreiben Lydia Iwanownas gebracht wurde. Das Schweigen der Gräfin hatte sie beruhigt und besänftigt, das Schreiben aber, und alles das, was sie zwischen den Zeilen desselben las, versetzte sie in solche Erbitterung, erschien ihr, gegenüber ihrer leidenschaftlichen natürlichen Zärtlichkeit für ihr Kind so aufreizend in seiner Gehässigkeit, daß sie gegen andere gereizt wurde und aufhörte, sich selbst anzuklagen.

»Diese Kälte – diese Gefühlsheuchelei!« sagte sie zu sich selbst. »Ihnen war es ein Bedürfnis, mich zu beleidigen und das Kind zu foltern, und ich soll mich vor ihnen demütigen! Um keinen Preis! Sie ist schlechter, als ich! Ich lüge wenigstens nicht!« –

Und nun entschloß sie sich, morgen, am Geburtstage Sergeys, geradenwegs in das Haus Aleksey Aleksandrowitschs zu fahren, die Leute zu bestechen und List anzuwenden, um – koste es was es wolle – den Sohn wiederzusehen und den ungeheuerlichen Trug, mit welchem man das unglückliche Kind umgeben hatte, zu zerstreuen.

Sie fuhr nach einem Spielwarenladen, kaufte Spielzeug und überlegte sich ihren Operationsplan. Frühmorgens, um acht Uhr, wenn Aleksey Aleksandrowitsch, wahrscheinlich, noch nicht aufgestanden war, wollte sie sich hinbegeben; sie wollte Geld nehmen, es dem Portier und dem Diener in die Hände drücken, damit man sie einlasse, und wollte, ohne den Schleier zu lüften, sagen, sie käme von einem Paten Sergeys, um diesem zu gratulieren, und ihr sei aufgetragen, Spielzeug auf das Bett des Kindes zu legen. Sie bereitete sich nicht auf die Worte vor, welche sie zum Sohne sprechen wollte – soviel sie auch darüber nachdachte, sie vermochte nichts auszudenken.

Am andern Tage um acht Uhr morgens, stieg Anna allein aus der Mietkutsche und läutete an der großen Einfahrt ihres ehemaligen Hauses.

»Sieh nach, was man will. Wer die Dame ist,« sagte Kapitonitsch, noch nicht angekleidet, im Überrock und Kaloschen, indem er durch das Fenster nach der Dame blickte, die von einem Schleier bedeckt, dicht vor der Thür stand. Der Gehilfe des Portiers, ein Anna nicht bekannter, junger Bursch, hatte dieser nicht sobald die Thür geöffnet, als sie schon in dieselbe hineintrat, ein Dreirubelpapier aus dem Muff nahm und es ihm in die Hand drückte.

»Sergey – Sergey Aleksandrowitsch,« sprach sie und wollte voranschreiten. Der Gehilfe des Portiers besah das Rubelpapier, hielt sie aber an der zweiten Glasthür fest.

»Was wollt Ihr?« frug er.

Sie hörte weder seine Worte, noch antwortete sie etwas.

Als Kapitonitsch die Verwirrung der Unbekannten bemerkte, kam er selbst zu ihr, ließ sie in die Thür herein und frug, was ihr gefällig wäre.

»Vom Fürsten Skorodumoff komme ich und will zu Sergey Aleksandrowitsch,« sprach sie.

»Der junge Herr ist noch nicht aufgestanden,« antwortete der Portier, sie aufmerksam betrachtend.

Anna hatte durchaus nicht erwartet, daß das vollständig unverändert gebliebene Äußere des Vorzimmers dieses Hauses, in welchem sie neun Jahre gelebt hatte, so mächtig auf sie einwirken würde. Eine nach der anderen, erhoben sich frohe und trübe Erinnerungen in ihrer Seele und für einen Augenblick hatte sie vergessen, weshalb sie hier war.

»Wollt Ihr gefälligst warten?« sagte Kapitonitsch, ihr den Pelz abnehmend. Nachdem er den Pelz abgenommen hatte, blickte er ihr ins Gesicht, erkannte sie und machte schweigend eine tiefe Verbeugung. »Bitte gefälligst, gnädigste Frau,« sagte er zu ihr.

Sie wollte etwas erwidern, doch versagte ihr die Stimme, so daß sie keinen Ton hervorzubringen vermochte. Wie schuldbewußt bittend, blickte sie den Alten, an, und stieg dann mit schnellen Schritten die Treppe hinauf. Ganz vorgebeugt und mit den Kaloschen an den Stufen hängen bleibend, lief Kapitonitsch ihr nach im Bemühen, ihr zuvorzukommen.

»Der Lehrer ist dort, er ist vielleicht nicht angekleidet. Ich muß erst melden.«

Anna ging weiter die ihr bekannte Treppe hinauf, ohne zu verstehen, was der Alte gesprochen hatte.

»Hierher, bitte links. Entschuldigt, daß alles noch unsauber ist. Der junge Herr ist jetzt im früheren Diwanzimmer,« sagte der Portier keuchend. »Gestattet, geduldet Euch ein wenig, Excellenz, ich will nachsehen,« sagte er, öffnete, vor sie tretend, die hohe Thür und verschwand in derselben. Anna blieb stehen und wartete.

»Er ist soeben erwacht,« sagte der Portier, wieder aus der Thür kommend.

Im nämlichen Augenblick, als der Portier dies sagte, hörte Anna den Klang eines kindlichen Gähnens. Schon an der Stimme dieses Gähnens erkannte sie den Sohn und sie sah ihn wie lebendig vor sich.

»Laß Mich hinein, laß mich, laß mich!« sprach sie und trat durch die hohe Thür. Rechts von derselben stand das Bett, und im Bett saß der Knabe, welcher sich aufgerichtet hatte, im halbgelösten Hemdchen, den kleinen Körper vorgebeugt, sich streckend und ausgähnend.

Im Augenblick, als seine Lippen sich schlössen, kräuselten sie sich zu einem glücklichen traumhaften Lächeln, und mit diesem Lächeln legte er sich langsam und zufrieden wieder zurück.

»Mein Sergey!« flüsterte sie, unhörbar an ihn herantretend.

Während ihrer Trennung von ihm, und unter dem Einfluß der Liebe, welche sie in dieser ganzen letzten Zeit empfunden, hatte sie sich ihn als vierjährigen Knaben, so wie sie ihn am liebsten gehabt hatte, vorgestellt.

Jetzt war er schon nicht einmal mehr so, wie sie ihn verlassen hatte. Er hatte sich noch weiter entfernt vom Alter des Vierjährigen, war noch mehr gewachsen und magerer geworden. – Was war das? – Wie hager erschien sein Gesicht, wie kurz war sein Haar? Wie lang seine Hände! Wie hatte er sich verändert seit jener Zeit, da sie ihn verlassen! Aber er war es doch, mit dieser Form seines Kopfes, seinen Lippen, dem geschmeidigen Hals und den breiten kleinen Schultern.

»Sergey!« wiederholte sie dicht über dem Ohr des Kindes. Dieser erhob sich wiederum auf den Ellbogen, wandte den Kopf verwirrt nach beiden Seiten, als suche er etwas und öffnete die Augen. Still und fragend blickte Sergey einige Sekunden auf die unbeweglich vor ihm stehende Mutter, dann lächelte er plötzlich, glückselig, schloß wiederum die noch schlaftrunkenen Augen, und warf sich, nicht mehr zurück, sondern ihr entgegen, in ihre Arme.

»Sergey! Geliebter Knabe!« sprach sie mit erstickter Stimme, mit beiden Armen den blühenden Körper umfangend.

»Mama!« sagte er, sich regend in ihren Armen, um mit wechselnden Stellen seines Leibes ihre Arme berühren zu können.

Schlaftrunken lächelnd, noch immer mit geschlossenen Augen, faßte er mit den runden Ärmchen von der Bettlehne nach ihren Schultern, und warf sich auf sie, jenen lieblichen Schlafduft, jene Wärme von sich ausströmend, die nur bei Kindern da ist, und begann dann, sein Gesicht an ihrem Hals und ihren Schultern zu reiben.

»Ich wußte es,« sagte er, die Augen öffnend. »Heute ist mein Geburtstag. Ich wußte es, daß du kommen würdest. Sogleich werde ich aufstehen.«

Mit diesen Worten kam er zu sich.

Voll Sehnsucht betrachtete ihn Anna; sie sah, wie er gewachsen war und sich in ihrer Abwesenheit verändert hatte. Sie erkannte und erkannte auch nicht seine nackten Füße, die jetzt so groß geworden waren und aus der Bettdecke hervorschauten, sie erkannte diese hager gewordenen Wangen, diese verschnittenen, kurzen Haarlocken im Nacken, auf welchen sie ihn so oft geküßt hatte. Sie befühlte alles dies und vermochte nichts zu sprechen; die Thränen erstickten sie.

»Weshalb weinst du denn Mama?« sagte er, vollständig aus dem Schlafe erwacht. »Mama, weshalb weinst du?« rief er aus mit weinerlicher Stimme.

»Ich weine nicht; ich weine vor Freude; ich habe dich so lange nicht gesehen. Nein, ich werde nicht, werde nicht weinen,« sagte sie, ihre Thränen verschluckend und sich abwendend. »Nun, jetzt mußt du dich aber ankleiden,« fügte sie, sich aufrichtend hinzu, und setzte sich, ohne seine Hände loszulassen, neben seinem Bett auf einen Stuhl, auf welchem sein Anzug bereit lag.

»Wie kleidest du dich ohne mich an? Wie« – wollte sie natürlich und heiter zu sprechen beginnen, aber sie vermochte es nicht, und wandte sich abermals ab.

»Ich wasche mich nicht in kaltem Wasser. Papa hat es nicht gestattet. Aber Wasiliy Lukitsch, den hast du wohl noch nicht gesehen? Er wird gleich kommen. Du hast dich ja auf mein Kleid gesetzt!«

Sergey lachte auf; sie blickte ihn an und lächelte.

»Mama, mein Herz, meine Taube!« rief er aus, sich wieder ihr entgegenwerfend und sie umfangend. Es war, als ob er jetzt erst, indem er ihr Lächeln erblickte, klar erkannt hätte, was vorgefallen sei. »Das ist nicht nötig,« sagte er, ihr den Hut abnehmend, und gleichsam, als ob er sie aufs neue ohne den Hut erkannte, warf er sich abermals ihr entgegen, um sie zu küssen.

»Aber was hast du von mir gedacht? Du hast nicht gemeint, daß ich tot sei?«

»Niemals habe ich es geglaubt.«

»Du hast es nicht geglaubt, mein Herz?«

»Ich habe gewußt, gewußt!« wiederholte er mit seiner Lieblingsphrase, und begann, nachdem er ihre Hand ergriffen, die mit seinem Haar spielte, sie mit der inneren Fläche an seinen Mund zu pressen und zu küssen.

 

3.

Ein Haufe von Menschen, namentlich Weibern, umringte die zur Trauungsfeier erleuchtete Kirche. Diejenigen, welche nicht bis in die Mitte hatten vordringen können, drängten sich um die Kirchenfenster unter Stoßen und Streiten und schauten durch die Gitter.

Mehr als zwanzig Wagen waren bereits von der Polizei die Straße entlang aufgestellt worden und der Polizeioffizier stand, die Kälte nicht achtend, in seiner glänzenden Uniform am Eingang. Unaufhörlich kamen noch weitere Equipagen angefahren und bald traten Damen in Blumenschmuck mit hochgenommenen Schleppen, bald Herren, das Käppi oder den schwarzen Hut abnehmend, in die Kirche ein. In dieser selbst waren die beiden Lustres und alle Kerzen vor den feststehenden Heiligenbildern bereits angezündet. Der goldige Schimmer auf dem roten Fonds des Ikonastas, das vergoldete Schnitzwerk an den Bildern und das Silber der Kronleuchter und Leuchter, die Steinplatten des Fußbodens mit den Teppichen, sowie die Banner oben über den Chören, die Stufen des Altars und die vom Alter schwarzgewordenen Kirchenbücher, die Leibröcke und Chorröcke, alles das war wie von Licht übergossen. Auf der rechten Seite der geheizten Kirche, in der Masse der Fracks und weißen Krawatten, der Uniformen und verschiedenen Stoff-, Samt- und Atlasroben, der Haarfrisuren und Blumen, der dekolletierten Schultern und Arme, und hohen Handschuhe summte ein verhaltenes, aber lebhaftes Gespräch, das seltsam in dem hohen Kuppelbau wiederhallte. Sobald das Kreischen der aufgehenden Kirchenthür ertönte, verstummte das Gespräch in dem Haufen und alles schaute auf in der Erwartung, den eintretenden Bräutigam und die Braut zu erblicken. Aber die Thür hatte sich schon mehr als zehnmal geöffnet, und immer war es nur ein verspäteter Geladener oder eine Geladene gewesen, die sich nun nach rechts dem Kreis der Gäste beigesellte, oder eine Zuschauerin, die den Polizeioffizier überlistet oder nachsichtig gestimmt hatte, und sich nun dem fremden Haufen links anschloß. Die Verwandten und Bekannten hatten schon die ganze Stufenleiter des Wartens durchlaufen.

Anfangs glaubte man, daß der Bräutigam und die Braut in jedem Augenblick erscheinen müßten und schrieb der Verspätung keinerlei Bedeutung zu. Dann begann man öfter und öfter nach der Thür zu schauen, und davon zu sprechen, es möchte doch ja nichts vorgefallen sein. Dann wurde die Verspätung schon peinlich und die Verwandten wie die Gäste gaben sich den Anschein, als ob sie gar nicht mehr an den Bräutigam dächten und ganz von ihrem Gespräch in Anspruch genommen seien.

Der Protodiakonus räusperte sich ungeduldig, gleichsam zur Andeutung des Wertes seiner Zeit, und machte damit die Scheiben in den Fenstern klirren. Auf dem Chor wurden die Proben der Stimmen vernehmbar, dann das Schneuzen der sich langweilenden Chorsänger. Der Geistliche sandte fortwährend bald den Küster, bald den Diakonus nach Erkundigung fort, ob der Bräutigam noch nicht gekommen sei und ging sogar selbst in seinem lilafarbenen Priestergewand mit dem gestickten Gürtel, häufiger und häufiger zu den Seitenthüren, in der Erwartung des Bräutigams.

Endlich sagte eine der Damen nach der Uhr blickend »das ist aber doch seltsam« und alle Trauzeugen gerieten in Unruhe und begannen laut ihre Verwunderung und ihr Mißvergnügen zu äußern. Einer der Herren fuhr wieder fort, sich zu erkundigen, was denn geschehen sei. Kity stand währenddem, schon lange fertig, im weißen Kleid, langen Schleier und Kranz von Pomeranzenblüte nebst der die Mutter und Schwester vertretenden Frau Lwoffs im Saale des Hauses der Schtscherbazkiy und blickte durch das Fenster, schon seit einer halben Stunde vergeblich die Benachrichtigung des Brautführers von der Ankunft des Bräutigams in der Kirche erwartend.

Lewin indessen lief noch, zwar in den Beinkleidern, aber ohne Weste und Frack in seinem Zimmer auf und ab, unaufhörlich den Kopf zur Thür hinaussteckend und den Korridor entlang blickend. Auf dem Korridor jedoch wurde derjenige nicht sichtbar, den er erwartete, und voll Verzweiflung kehrte er, mit den Armen fuchtelnd wieder zurück und wandte sich an den ruhig rauchenden Stefan Arkadjewitsch.

»Hat sich jemals wohl ein Mensch in einer gleich entsetzlichen und albernen Lage befunden?« sagte er.

»Ja, es ist dumm,« bestätigte Stefan Arkadjewitsch, sanft lächelnd, »doch beruhige dich, man wird es sogleich bringen.«

»Nein, sicherlich,« sagte Lewin mit verhaltener Wut, »und diese albernen ausgeschnittenen Westen! Unmöglich!« sagte er mit einem Blick auf den zerknitterten Brusteinsatz seines Oberhemds. »Und wie, wenn die Sachen schon zur Bahn wären?« rief er voll Verzweiflung.

»Dann ziehst du ein Hemd von mir an!«

»Das hätte aber schon längst geschehen sein müssen!«

»Es ist allerdings nicht angenehm, lächerlich zu werden. Warte doch, es wird sich machen.«

Die Sache lag so, daß als Lewin die Toilette befahl, Kusma, der alte Diener Lewins, den Frack, die Weste und alles was nötig war, brachte.

»Und das Hemd?« rief Lewin.

»Das habt Ihr ja schon an,« versetzte Kusma mit stoischem Lächeln.

Kusma hatte nicht daran gedacht, ein frisches Hemd dazubehalten, und nachdem er den Befehl erhalten hatte, alles einzupacken und zu den Schtscherbazkiy zu bringen, von wo aus das junge Ehepaar noch am Abend abreisen wollte, that er also und packte alles ein außer einem Paar Fräcken.

Das am Morgen angezogene Hemd war schon zerknittert, und ließ sich unmöglich unter der modernen offenstehenden Weste tragen. Zu den Schtscherbazkiy zu schicken, war es zu weit. Man schickte in ein Geschäft.

Der Diener kam zurück: »Alles war geschlossen – es ist Sonntag heute.« – Man schickte nun zu Stefan Arkadjewitsch, ein Hemd kam, aber es war viel zu weit und kurz. Man schickte endlich doch zu den Schtscherbazkiy, um wieder auspacken zu lassen. Der Bräutigam wurde in der Kirche erwartet, und lief wie ein im Käfig eingekerkertes, wildes Tier im Zimmer umher, auf den Korridor hinausschauend und mit Entsetzen und Verzweiflung daran denkend, was er Kity sagen sollte und was diese jetzt denken mochte.

Endlich flog der unglückliche Kusma, mit Mühe nach Atem ringend, mit dem Hemd in das Zimmer herein.

»Ich habe sie gerade noch erwischt; die Sachen waren schon auf dem Fuhrwerk,« sagte er.

Drei Minuten später stürzte Lewin, ohne nach der Uhr zu sehen, um seine Wunde nicht noch zu vergrößern, Hals über Kopf den Korridor entlang.

»Damit kannst du nicht mehr viel helfen,« sagte Stefan Arkadjewitsch lächelnd, ihm hastig nachstrebend. »Es wird sich schon machen, es wird sich schon machen – sage ich dir!«

20. Der Tod.

Am anderen Tage empfing der Kranke das Abendmahl und die letzte Ölung. Während der Ceremonie betete Nikolay Lewin inbrünstig. In seinen großen Augen, die nach der Monstranz gerichtet waren, welche auf einem mit farbiger Serviette überdeckten L’hombretisch stand, drückte sich ein so leidenschaftliches Flehen, eine Hoffnung aus, daß es Lewin entsetzlich war, dies mit ansehen zu müssen. Lewin wußte, daß diese leidenschaftliche Bitte und Hoffnung ihm die Trennung vom Leben, das er so sehr liebte, nur noch schwerer machen würde. Lewin kannte seinen Bruder und den Gang seiner Gedanken; er wußte, daß sein Unglaube nicht davon herrührte, weil es ihm leichter ankam, ohne Glauben zu leben, sondern davon, weil Schritt für Schritt die modernen wissenschaftlichen Erklärungen der Welterscheinungen das Glauben verdrängt hatten, und weil er wußte, daß seine jetzige Rückkehr zu demselben keine logische war, die sich auf dem Wege eines solchen Gedankenganges vollzogen hätte, sondern eine nur vorübergehende, egoistische, entstanden in der sinnlosen Hoffnung auf eine Genesung. Lewin wußte auch, daß Kity diese Hoffnung noch durch Erzählungen von ungewöhnlichen Heilungen von denen sie gehört, genährt hatte. Alles dies wußte er, und es war ihm qualvoll, auf diesen flehenden, hoffnungsvollen Blick, auf diese abgezehrte Hand schauen zu müssen, die sich mühsam erhob, um das Zeichen des Kreuzes auf der überhängenden Stirn, den hervorstehenden Schultern und der heiserröchelnden, verödeten Brust zu machen, die alle nicht mehr das Leben in sich zu bergen vermochten, um welches der Kranke bat. Während des Sakraments that Lewin, was er in seinem Unglauben tausendmal gethan hatte. Er sprach, sich zu Gott wendend: »Mache, wenn du bist, daß dieser Mensch gesunde,« und wiederholte dies mehrere Male, »und du wirst ihn und mich erretten.«

Nach der Salbung wurde es dem Kranken plötzlich bei weitem besser. Er hustete nicht ein einziges Mal im Verlauf einer Stunde, er lächelte, küßte Kity die Hand, dankte ihr mit Thränen und sagte, daß ihm wohl sei, daß er sich nirgends krank fühle und Eßlust und Kraft verspüre. Er erhob sich sogar selbst, als man ihm Suppe brachte und bat noch um ein Kotelett. So hoffnungslos Lewin nun auch war, so augenscheinlich es bei seinem Anblick wurde, daß er nicht genesen könne, befand er sich und Kity während dieser Stunde in dem gleichen Glück, der nämlichen Erregung darüber, ob man sich vielleicht doch nicht im Irrtum befinde.

»Ist er besser? – Ja, bei weitem. – Wunderbar. – Nichts Wunderbares. – Er ist doch besser,« so sprachen sie flüsternd und einander zulächelnd.

Die Täuschung war indessen nicht von langer Dauer. Der Kranke schlief ruhig ein, nach einer halben Stunde jedoch weckte ihn der Husten, und plötzlich waren alle Hoffnungen seiner Umgebung und in ihm selbst geschwunden. Die Wirklichkeit des Leidens vernichtete, auch abgesehen von dem Zweifel, an den vorher gehegten Erwartungen oder selbst der Erinnerung an sie, die Hoffnungen Lewins und Kitys und die des Kranken selbst.

Ohne dessen zu gedenken, woran er eine halbe Stunde vorher noch geglaubt hatte, gleichsam als wäre es tadelnswert, sich daran zu erinnern, verlangte er, daß man ihm das Jod, in einem Glase, welches von durchlochtem Papier überdeckt war, zum Einatmen gebe. Lewin reichte ihm die Flasche und der nämliche Blick leidenschaftlicher Hoffnung, mit welchem er kommuniziert hatte, richtete sich jetzt auf den Bruder, von diesem Bestätigung für die Worte des Arztes heischend, daß die Einatmung von Jod Wunder thue.

»Wie, ist Kity nicht hier?« raunte er umherblickend, nachdem ihm Lewin die Worte des Arztes mit innerem Widerstreben bekräftigt hatte. »Nun, so kann ich es sagen; nur ihr zu Liebe habe ich diese Komödie durchgemacht. Sie ist so lieb, aber wir beide können uns gegenseitig nicht mehr täuschen. Hieran glaube ich,« sprach er, die Flasche mit seiner Knochenhand pressend, und begann über ihr zu atmen.

Um acht Uhr am Abend nahm Lewin mit seiner Frau den Thee auf seinem Zimmer ein, als Marja Nikolajewna atemlos ins Zimmer gestürzt kam. Sie war bleich und ihre Lippen bebten.

»Er stirbt!« flüsterte sie; »ich fürchte, er stirbt sogleich!«

Beide eilten zu ihm. Er hatte sich erhoben und saß, mit dem Arme auf die Bettdecke gestützt, den langen Rücken gekrümmt, mit tief herniederhängendem Kopfe.

»Wie fühlst du dich?« frug Lewin flüsternd nach einer Pause.

»Ich fühle, daß ich scheide,« sprach Nikolay mit Anstrengung, aber die Worte mit einer außerordentlichen Bestimmtheit langsam aus sich herauspressend. Er hob den Kopf nicht, sondern richtete nur das Auge nach oben, ohne mit ihnen das Gesicht des Bruders zu erreichen. »Katja, geh‘ hinaus,« fuhr er fort.

Lewin sprang auf und befahl ihr mit gebieterischem Flüstern hinauszugehen.

»Ich scheide,« sagte er wiederum.

»Weshalb denkst du das?« antwortete Lewin, um etwas zu sagen.

»Deshalb, weil ich scheide,« wiederholte Nikolay, sich gleichsam in diesem Ausdruck gefallend. »Es ist zu Ende.«

Marja Nikolajewna trat zu ihm.

»Ihr müßtet Euch legen, dann würde Euch leichter,« sprach sie.

»Bald werde ich liegen,« versetzte er leise, »als ein Toter,« er sprach höhnisch, erbittert, »nun, aber legt mich nur, wenn Ihr wollt.«

Lewin legte den Bruder auf den Rücken, ließ sich neben ihm nieder, und blickte ihm, mit angehaltenem Atem ins Gesicht.

Der Sterbende lag mit geschlossenen Augen, aber auf seiner Stirn bewegte sich ein leises Muskelspiel, wie bei einem Menschen, der tief und angestrengt sinnt. Unwillkürlich dachte Lewin zusammen mit ihm das, was sich jetzt in Nikolay vollziehen mochte, aber ungeachtet aller geistigen Anstrengungen mit jenem übereinzukommen, gewahrte er an dem Ausdruck dieses ruhigen ernsten Gesichts und dem Muskelspiel über den Brauen, daß einem Sterbenden sich voll und ganz jenes Eine offenbart ebenso, wie es für Lewin dunkel blieb.

»Ja, ja, so,« brachte der Sterbende abgebrochen und langsam hervor. »Bleibt.« Er schwieg wieder. »So,« sagte er dann gedehnt und befriedigt, als habe sich nun alles für ihn entschieden. »O Gott!« begann er dann nochmals und seufzte schwer.

Marja Nikolajewna fühlte seine Füße an, »sie werden kalt«, flüsterte sie.

Lange, sehr lange, wie es Lewin schien, lag der Kranke unbeweglich. Aber er war noch immer am Leben und bisweilen atmete er auf. Lewin war bereits abgespannt von der Anstrengung des Denkens. Er fühlte, daß er trotz aller geistigen Anstrengung nicht begreifen könne, was jenes »so« bedeutete. Er fühlte, daß er weit entfernt stand von dem Sterbenden. Über die Frage des Todes selbst vermochte er nicht mehr nachzusinnen, aber unwillkürlich kamen ihm Gedanken darüber, was er jetzt sofort zu thun haben werde; dem Bruder die Augen zuzudrücken, ihn ankleiden zu lassen und die Beerdigung zu bestellen. Und seltsam, er fühlte sich dabei vollkommen ruhig und empfand weder Schmerz, noch einen Verlust, und noch weniger Mitleid mit dem Bruder. Wenn jetzt ein Gefühl für seinen Bruder in ihm war, so war es eher der Neid wegen jenes Wissens, welches der Sterbende nun hatte, er aber nicht besitzen konnte.

Noch lange saß er so bei ihm, immer das Ende erwartend, aber das Ende kam nicht. Die Thür öffnete sich und Kity erschien. Lewin stand auf, um sie zurückzuhalten, aber gerade im Augenblick, als er sich erhob, hörte er, daß der Sterbende sich regte.

»Geh nicht fort,« sagte Nikolay und streckte die Hand aus. Lewin gab ihm die seine und winkte heftig seiner Frau, hinauszugehen.

Die Hand des Sterbenden in der seinen, saß er eine halbe Stunde, eine ganze Stunde und noch eine Stunde.

Er dachte jetzt schon gar nicht mehr an den Tod; er dachte daran, was Kity machen möge. Wer wohnte wohl in dem benachbarten Zimmer? Besaß der Arzt ein eigenes Haus? Er sehnte sich nach Essen und Schlaf. Behutsam befreite er seine Hand und fühlte nach den Füßen. Sie waren kalt, aber der Kranke atmete noch. Lewin wollte nun auf den Zehen wieder herausgehen, aber von neuem regte sich der Kranke und sagte: »Geh‘ nicht fort« – – –

Der Tag dämmerte herauf. Der Zustand des Kranken blieb noch immer derselbe. Lewin befreite leise seine Hand, ohne auf den Sterbenden zu blicken, begab sich nach seinem Zimmer und schlief ein. Als er erwachte, erfuhr er anstatt der Nachricht vom Tode seines Bruders, die er erwartete, daß der Kranke in den früheren Zustand zurückverfallen sei. Er hatte sich wieder gesetzt, wieder gehustet, wieder zu essen und zu sprechen angefangen, und wieder aufgehört, vom Tode zu reden. Er hatte wieder Hoffnung auf Genesung ausgedrückt, und war noch reizbarer und mürrischer geworden als vorher. Niemand, weder sein Bruder, noch Kity vermochten ihn zu besänftigen. Er war gegen jedermann gereizt, sagte jedermann Unangenehmes, machte allen Vorwürfe über seine Leiden und verlangte, daß man ihm einen berühmten Arzt aus Moskau herbeischaffe. Auf alle Fragen, die man an ihn über sein Befinden richtete, antwortete er stets mit dem Ausdruck von Wut und Vorwurf »ich leide furchtbar, unerträglich!«

Der Kranke litt mehr und mehr, besonders infolge der aufgelegenen Stellen, die sich nicht mehr heilen ließen, und geriet mehr in Wut über seine Umgebung, der er Vorwürfe über alles machte, und namentlich darüber, daß man ihm den Arzt aus Moskau nicht herbeischaffe. Kity bemühte sich in jeder Weise, ihm Beistand zu leisten und ihn zu beschwichtigen, aber alles war vergebens und Lewin sah, daß sie selbst körperlich, wie geistig erschöpft war, obwohl sie es nicht eingestand. Jene Ahnung des Todes, welche in allen durch seinen Abschied vom Leben in jener Nacht, als er den Bruder rief, erweckt worden war, war verwischt. Sie alle wußten wohl, daß er unwiderruflich und binnen kurzem sterben werde, daß er zur Hälfte schon tot sei, sie alle wünschten nur das Eine, er möchte so bald als möglich sterben, aber sie alle gaben ihm, indem sie dies verbargen, aus der Flasche die Arznei, forschten nach Heilmitteln und Ärzten und täuschten ihn, und sich selbst untereinander. Alles dies war eine Lüge, eine häßliche, verletzende und hohnvolle Lüge. Und diese Lüge empfand Lewin, sowohl der Eigenart seines Charakters halber, als auch, weil er den Sterbenden mehr als alle anderen liebte, besonders schmerzlich.

Lewin, welchen der Gedanke, seine beiden Brüder wenigstens vor dem Tode noch auszusöhnen, schon lange beschäftigt hatte, schrieb an Sergey Iwanowitsch, und las, nachdem er Antwort erhalten hatte, dem Kranken das Schreiben vor. Sergey Iwanowitsch schrieb, daß er selbst nicht kommen könne, bat aber in rührenden Ausdrücken den Bruder um Verzeihung.

Der Kranke erwiderte nichts.

»Was soll ich ihm nun schreiben?« frug Lewin. »Ich hoffe, daß du ihm nicht mehr gram bist?«

»Nein, keineswegs!« antwortete Nikolay voll Verdruß über diese Frage. »Schreibe ihm, er möge nur einen Arzt schicken!«

Es vergingen noch weitere drei qualvolle Tage; der Kranke befand sich immer im gleichen Zustand. Das Gefühl des Wunsches, er möchte sterben, hatten jetzt alle, die ihn sahen, sowohl der Diener des Hotels, wie der Wirt desselben und alle Insassen des Hauses; der Arzt und Marja Nikolajewna, wie Lewin und Kity.

Allein der Kranke drückte dieses Gefühl nicht aus, sondern eiferte im Gegenteil darüber, daß man den Arzt nicht schaffe, und fuhr fort, Arznei zu nehmen und vom Leben zu sprechen. Nur in den gezählten Minuten, in denen das Opium ihn für einen Augenblick die ununterbrochenen Leiden vergessen ließ, sprach er im Halbschlaf bisweilen aus, was mächtiger als bei allen anderen, in seiner Seele ruhte: »O, wenn doch ein Ende käme«, oder »wann wird das vorüber sein«.

Die Qualen, stetig wachsend, thaten das ihre, und bereiteten ihn zum Tode vor. Es gab jetzt keine Stellung mehr, in welcher er nicht gelitten hätte; es gab keine Minute mehr, in welcher er einmal sich selbst vergessen hätte, keine Stelle, kein Glied seines Körpers, welches nicht geschmerzt, ihn nicht gemartert hätte. Selbst die Erinnerung, die Eindrücke und die Gedanken über diesen Körper erregten in ihm jetzt bereits einen solchen Ekel, wie der Körper selbst. Der Anblick der übrigen Menschen, ihre Gespräche, ihre eigenen Erinnerungen, alles das war für ihn nur peinlich. Seine Umgebung empfand dies, und gestattete sich daher wie unbewußt in seiner Nähe weder eine freie Bewegung, noch Gespräche oder Äußerungen von Wünschen. Sein ganzes Leben zerfloß in das eine Gefühl des Leidens, und des Wunsches, hiervon erlöst zu sein.

Augenscheinlich hatte sich nun jene Wandlung in ihm, die ihn auf den Tod wie auf eine Erfüllung seiner Wünsche, wie auf ein Glück blicken lassen mußte, vollendet. Früher war jedem besonderen Wunsche, hervorgerufen durch Leiden oder Entbehrung, wie Hunger, Müdigkeit, Durst, schon ein Zurechtrücken des Körpers, welches ihm Befriedigung gewährte, genügt worden; jetzt aber fand die Entbehrung und der Schmerz keine Befriedigung mehr, denn schon der Versuch zu einer Befriedigung rief neue Schmerzen hervor, und so flossen denn alle Wünsche in dem einen zusammen – dem Wunsche, erlöst zu sein von all den Qualen und von der Quelle derselben – dem Körper.

Aber zum Ausdruck dieses Wunsches nach Befreiung hatte er keine Worte, und daher sprach er nicht davon, sondern forderte nur noch nach seiner Gewohnheit die Befriedigung der Wünsche, die schon nicht mehr erfüllt werden konnten.

»Legt mich auf die andere Seite,« sagte er und verlangte gleich darauf, daß man ihn wieder lege, wie vorher. »Gebt mir Bouillon! Schafft sie fort! Sprecht doch etwas, weshalb schweigt ihr so!« Sobald man aber angefangen hatte, zu sprechen, schloß er die Augen, und drückte Ermattung, Gleichgültigkeit und Widerwillen aus.

Am zehnten Tage nach der Ankunft in der Stadt erkrankte Kity. Es stellte sich Kopfschmerz und Erbrechen bei ihr ein, und sie vermochte den ganzen Morgen nicht, das Bett zu verlassen.

Der Arzt erklärte, daß das Unwohlsein von Ermüdung und Aufregung herrühre und empfahl geistige Ruhe.

Nach Tische indessen erhob sich Kity und begab sich wie gewöhnlich, mit einer Arbeit zu dem Kranken. Er blickte sie streng an, als sie eintrat und lächelte verächtlich, als sie sagte, daß sie unwohl sei. An diesem Tage schneuzte er sich unaufhörlich und stöhnte kläglich.

»Wie fühlt Ihr Euch?« frug sie ihn.

»Schlechter,« brachte er mit Mühe heraus, »es schmerzt so.«

»Wo schmerzt es?«

»Überall.«

»Heute geht es zu Ende, paßt auf,« sagte Marja Nikolajewna; zwar flüsternd, aber doch so, daß der Kranke, welcher fein hörte, wie Lewin bemerkt hatte, sie vernehmen mußte. Lewin zischte ihr zu und blickte sich nach dem Kranken um. Nikolay hatte dies gehört, aber die Worte brachten bei ihm keinen Eindruck hervor. Sein Blick war noch der nämliche vorwurfsvolle und gespannte.

»Warum denkt Ihr das?« frug Lewin sie, als sie ihm auf den Korridor hinaus folgte.

»Er hat angefangen, sich abzunehmen,« sagte Marja Nikolajewna.

»Was ist denn das?«

»Nun dies,« antwortete sie, die Falten in ihrem wollenen Kleide aufzupfend; in der That bemerkte Lewin, daß der Kranke an diesem ganzen Tage an sich etwas herunterreißen wollte. Die Voraussagung Marja Nikolajewnas war richtig. Der Kranke war bis zum Abend schon nicht mehr bei Kräften, die Arme zu heben, und schaute nun vor sich hin, ohne den Ausdruck konzentrierter Aufmerksamkeit im Blick zu verändern. Selbst wenn sein Bruder oder Kity sich über ihn beugten, so daß er sie sehen konnte, blickte er so. Kity sandte nach einem Geistlichen, um das Sterbegebet sprechen zu lassen.

Während dieser das Gebet las, gab der Kranke kein Lebenszeichen von sich, seine Augen waren geschlossen. Lewin, Kity und Marja Nikolajewna standen am Bett. Das Gebet war von dem Geistlichen noch nicht zu Ende gelesen worden, als sich der Sterbende streckte, seufzte und die Augen schloß. Der Geistliche legte, nachdem er das Gebet beendet, das Kreuz auf die kalte Stirn, zog es darauf langsam unter sein Gewand zurück, und berührte, nachdem er noch zwei Minuten schweigend gestanden, die erkaltete, blutlose große Hand.

»Er hat vollendet,« sprach er und wollte gehen, da aber bewegte sich plötzlich der zusammengeklebte Bart des Toten und deutlich in der Stille wurden aus der Tiefe der Brust bestimmt und klar die Worte vernehmbar:

»Nicht ganz – aber bald.« –

Nach Verlauf einer Minute erst erhellte sich das Gesicht, ein Lächeln trat unter dem Barte hervor und die anwesenden Frauen befaßten sich nun bestürzt damit, den Verstorbenen anzukleiden.

Der Anblick des Bruders und die Nähe des Todes erneuerte in der Seele Lewins jene Empfindung des Entsetzens vor dem Rätselhaften und zugleich vor der Nähe und Unvermeidbarkeit des Todes, das ihn an jenem Herbstabend ergriffen hatte, als sein Bruder zu ihm gekommen war.

Dieses Gefühl war jetzt noch mächtiger als früher; noch weniger, als früher fühlte er sich fähig, die Vorstellung vom Tode zu verstehen, und noch entsetzlicher stellte sich ihm das Unvermeidliche desselben vor Augen. Jetzt aber brachte ihn dieses Gefühl, dank der Nähe seines Weibes, nicht zur Verzweiflung und trotz des Todes fühlte er die Notwendigkeit, zu leben und zu lieben. Er fühlte, daß die Liebe ihn von der Verzweiflung errettet hatte, und daß diese Liebe unter den Schrecken der Verzweiflung nur noch stärker und reiner geworden war.

Das Geheimnis des Todes hatte sich nicht sobald vor seinen Augen vollzogen, ungelöst geblieben, als schon ein anderes auftauchte, ebenso unlösbar und herausfordernd zu Liebe und Leben.

Der Arzt hatte seine Vermutungen bezüglich Kitys bestätigt; ihr Unwohlsein bestand in Schwangerschaft.