Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Hucks Erzählung. – Tom und Becky werden vermißt.

Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Als am Morgen des folgenden Tages, eines Sonntags, die ersten leisen Spuren der Dämmerung erschienen, tastete sich Huck durch das Halbdunkel den Berg hinauf und klopfte mit schüchterner Hand leise an die Türe des alten Wallisers. Die Hausbewohner schliefen noch, aber ihr Schlaf war infolge der aufregenden nächtlichen Abenteuer ein äußerst leiser und so ertönte alsbald eine Stimme vom Fenster:

»Wer ist da?«

Hucks ängstliche Stimme antwortete leise:

»Laßt mich, bitte, ein – ich bin’s nur, Huck Finn!«

»Ist ’n Name, dem sich diese Tür bei Nacht und bei Tag öffnet. Mein Junge, sei willkommen!«

Das waren seltsamklingende Worte in den Ohren des kleinen Vagabunden, die angenehmsten, die er je gehört. Er konnte sich nicht erinnern, daß das Schlußwort des alten Mannes je zuvor in bezug auf ihn angewandt worden wäre.

Schnell wurde nun die Türe geöffnet und er trat ein. Man bot Huck einen Stuhl und der Alte mit seinen Riesensöhnen kleideten sich in Eile an.

»Und jetzt, mein Junge, hoff ich, daß du einen ordentlichen Hunger mitgebracht hast, denn das Frühstück soll noch vor der Sonne auf dem Tisch stehen, und zwar ein gehöriges, das laß meine Sorge sein. Haben immer gedacht, ich und meine Jungens, du zeigtest dich gestern abend nochmal, hättest die Nacht bei uns bleiben müssen.«

»Ich kriegte solche Angst,« sagte Huck, »daß ich den Berg hinunterstürzte. Ich fing an zu rennen, als die Schüsse krachten und rannte drei Meilen so weiter. Jetzt bin ich nur gekommen, weil ich gern was darüber gehört hätte, und vor Tag komm ich, weil ich nicht gern den Teufeln in den Weg laufen möchte, – selbst wenn sie tot wären.«

»Armer Kerl, man sieht dir’s weiß Gott an, was das für ’ne Nacht für dich war, aber wart nur, du sollst ’n Bett haben, wenn du gefrühstückt hast. Nee, tot sind die Halunken leider nicht, mein Junge, und leid genug tut’s uns. Deiner Beschreibung nach wußten wir den Ort ziemlich genau, an dem sie zu finden waren, wir schleichen also auf den Zehenspitzen ‚ran, bis vielleicht auf fünfzehn Fuß Entfernung, und dunkel wie ’n Loch war’s in den Büschen drin, da, auf einmal merk ich, daß mich das Niesen ankommt. Ob das nicht Pech war! Will’s natürlich zurückhalten, aber nee, keine Möglichkeit, ’s wollt kommen und ’s kam auch mit Macht. So pust ich denn los mit aller Gewalt. Ich war der Vorderste von uns, mit meiner Pistole in der Hand, und als nun das Niesen losging, entstand ein Rascheln vor uns im Gebüsch. Ich schrei: Feuer, Jungens, und wir drei feuern denn auch nach der Richtung hin. Ja, prost die Mahlzeit! Die Kerle waren flinker als der Wind, wir aber hinterher wie die wilde Jagd, in die Wälder hinein. Gekriegt aber haben wir sie nicht. Ehe sie auskniffen, hat jeder von ihnen noch mal seine blaue Bohne abgeknallt, aber die sausten an uns vorbei und taten keinen Schaden. Als sich das Geräusch ihrer Schritte verlor, gaben wir die Jagd auf und gingen hinunter ins Städtchen, um die Konstabler zu wecken. Die machten sich denn auch gleich auf und wollten am Ufer rekognoszieren, und sobald es Tag ist, sollen die Wälder abgesucht werden. Meine Jungens werden auch dabei sein. Wollt, einer könnt uns die Keile beschreiben, ’s wär dann viel leichter für uns. Du wirst wohl nicht viel von den Schuften gesehen haben, dort oben in der Dunkelheit, was?«

»Nee, aber unten in der Stadt hab ich sie schon gesehen und bin ihnen von dort nachgegangen.«

»Kapital! Na, dann los, mein Junge, wie sehen sie aus? Beschreib sie mal so’n bißchen genau!«

»Ei, einer davon ist der taubstumme Spanier, der seit ’n paar Tagen hier herumstreicht, und der andere ist ’n gemein aussehender, zerlumpter –«

»Schon genug, Junge, kenn die Kerle! Hab sie neulich mal da oben im Wald hinter der Witwe Douglas ihrem Haus gesehen, schoben ab, als ich in Sicht kam. Nun aber schnell fort mit euch, Jungens, sagt’s fein dem Scherif, was ihr da vom Huck gehört habt, könnt morgen früh frühstücken!«

Beide Söhne machten sich ohne Widerrede alsbald marschfertig. Als sie eben das Zimmer verlassen wollten, sprang Huck auf und rief flehend:

»O, bitte, bitte, sagt’s aber niemand, daß ich die Kerle angegeben, bitte, bitte!«

»Gut, wenn du’s nicht willst, Huck, aber eigentlich solltest du die Ehre haben von dem, was du getan hast.«

»O, nein, nein. Bitte, verratet mich nicht!«

Als die jungen Leute weg waren, sagte der Alte:

»Sie verraten’s nicht und ich tu’s auch nicht. Aber sag mal, warum willst du denn nicht, daß man’s weiß?«

Huck ließ sich auf keine weitere Erklärung ein, sondern sagte nur, er wisse schon mehr als zuviel von dem einen der Kerle und wolle um keinen Preis, daß der dahinterkomme, sonst sei er, Huck, keinen Moment seines Lebens sicher.

Noch einmal gelobte der alte Mann Verschwiegenheit und fragte dann:

»Wie kamst du drauf, den Kerlen nachzuschleichen, Junge? Sahen sie dir verdächtig aus?«

Einen Moment war Huck still und überlegte sich die Antwort, dann sagte er:

»Ja, seht ihr, ich bin so ’ne Art Landstreicher, wenigstens sagen die Leute so, und da muß es wohl wahr sein. Na, da simulier ich denn manchmal drüber nach in der Nacht und das läßt mich nicht schlafen, und ich denk und denk, wie ich wohl anders werden könnt. So war’s wieder mal gestern nacht. Schlafen konnt ich nicht und so bummel ich denn in den Straßen herum, und als ich da in der Nähe von der Herberge an den alten Schuppen komm, lehn ich mich mit dem Rücken dran, um nochmal besser nachzudenken. Na, da streichen denn plötzlich die zwei Kerls an mir vorbei, tragen etwas unterm Arm. Halt, denk ich, die haben gestohlen. Einer rauchte und der andere wollte Feuer haben, so blieben sie nicht weit von mir stehen, und die Zigarren warfen einen Strahl auf die Gesichter, und ich sah, daß der eine der taubstumme Spanier ist und der andere ein ruppiger, zerlumpter –«

»Was, die Lumpen hast du auch gesehen beim Schein der Zigarren?«

Das machte Huck für einen Moment unsicher, dann aber sagte er:

»Nun, ich weiß nicht – aber es kommt mir vor, als ob ich sie gesehen hätte,« –

»Dann liefen sie also weiter und du –«

»Ich hinterher, ja, so macht ich’s. Wollt mal sehen, was los sei, sie schlichen so verdächtig an den Häusern hin. Oben bei der Witwe Garten standen sie dann still, ich auch, und da hört ich denn, wie der eine für die Frau bat und der andere, der Spanier, schwor, er wolle ihr schon die Fratze verderben, grad wie ich’s Euch und Euren Söhnen gestern abend –«

»Was, der Taubstumme hat das gesagt?«

Da! Nun saß Huck von neuem in der Patsche! Er hatte sein Bestes tun wollen, um den alten Mann abzulenken von der Spur, wer eigentlich der Taubstumme sei, und trotz aller Mühe und Vorsicht schien seine Zunge entschlossen, ihn wieder und wieder in Verlegenheit zu bringen. Umsonst versuchte er, sich aus der Klemme zu ziehen. Des Alten Auge ruhte so durchdringend auf ihm, daß er Versehen über Versehen machte. Da nahm der Alte das Wort:

»Mein Junge,« sagte er, »vor mir brauchst du dich nicht zu fürchten, mit meinem Willen soll dir keiner was zuleide tun; ich will dir schon helfen, kannst dich darauf verlassen! Der Spanier ist nicht taubstumm, soviel hast du nun schon verraten, ohne es zu wollen, das kannst du nicht mehr zurücknehmen. Du weißt aber noch mehr über den Kerl, was du nicht sagen willst. Komm mal her, Junge, vertrau mir, sag’s, hab keine Angst, du kannst mir trauen, ich verrat dich keinem!«

Huck starrte einen Moment in die ehrlichen Augen des alten Mannes, dann beugte er sich über den Tisch und flüsterte ihm ins Ohr:

»’s ist ja gar kein Spanier, – ’s ist der Indianer-Joe !«

Der Walliser sprang fast von seinem Stuhl auf vor Erstaunen, dann sagte er:

»Jetzt ist mir alles klar. Als du gestern abend von Nasenschlitzen und Ohrenabschneiden sprachst, dacht ich, ’s sei ’ne Erfindung von dir, ein Weißer rächt sich nicht auf solche Art. Ein Indianer aber! Das ändert die ganze Sache!«

Während des Frühstücks wurde die Unterhaltung fortgesetzt und im Verlauf derselben erzählte der alte Mann, er und seine Söhne hätten, ehe sie zu Bett gingen, eine Laterne angezündet und die Stelle dort oben am Zaun gründlich nach Blutspuren untersucht. Die hätten sie zwar nicht gefunden, aber dafür ein dickes Bündel –

»Ein Bündel?«

Wenn diese Worte Blitze gewesen wären, sie hätten nicht mit größerer Plötzlichkeit Hucks erblaßten Lippen entfahren können. Seine Augen starrten weit geöffnet, sein Atem kam stoßweise, während er mit Zittern der weiteren Rede des alten Mannes harrte. Dieser stockte, starrte hinwiederum Huck an, drei, fünf, zehn Sekunden lang und sagte dann:

»Ja, ein Bündel Einbrecherwerkzeuge! Na, nu sag aber mal, was mit dir los ist, Junge!«

Huck war in seinen Stuhl zurückgesunken, erleichtert und dankbar aufatmend. Der Walliser sah ihn lange aufmerksam an, dann bestätigte er nochmals:

»Ja, Diebswerkzeuge. Dir scheint ein Stein dabei vom Herzen zu fallen. Was hat dich denn aber so in Aufregung gebracht? Was hätten wir denn sonst finden sollen?«

Wieder saß Huck in der Klemme! Das forschende Auge ruhte auf ihm, – er hätte irgend etwas um eine annehmbare Ausrede gegeben. Nichts wollte ihm einfallen; der forschende Blick drang tiefer und tiefer, – eine sinnlose Antwort stieg in ihm auf – und da keine Zeit zum Überlegen war, so stieß er denn schwach hervor:

»Sonntagsschulbücher, – vielleicht.«

Der arme Huck war zu befangen, um auch nur lächeln zu können, der alte Mann aber lachte, lachte aus vollem Halse, laut und herzlich, so daß alles an ihm, vom Kopf bis zu den Füßen wackelte, und als er wieder zu Atem kam, meinte er, solch ein Lachen sei wie bares Geld in der Tasche, denn es erspare einem lange Doktorsrechnungen. Dann fügte er bei:

»Armer, kleiner Kerl, siehst ganz blaß und angegriffen aus, ’s scheint dir gar nicht wohl zu sein. Kein Wunder, daß du ein wenig faselig geworden und aus dem Gleichgewicht geraten bist. Wird schon wieder besser werden. Ruhe und Schlaf sollen dich schon auskurieren, denk ich.«

Huck ärgerte sich schwer bei dem Gedanken, solch verräterische Erregung gezeigt zu haben, denn es waren ihm schon damals, als er die Schurken bei dem Zaun der Witwe belauschte, Zweifel gekommen, ob das mitgebrachte Paket der Schatz sei. Doch war dies immerhin nur Vermutung gewesen, die jetzt erst zur Gewißheit wurde. Die Kiste war also noch an ihrem alten Platz, und nun war’s eine Kleinigkeit für Tom, wenn die beiden Halunken unter Tags eingefangen wurden, am Abend nach jener bewußten »Nummer Zwei« zu gehen und sich des Schatzes zu versichern. Alles schien herrlich im Zuge!

Gerade, als das Frühstück beendet war, klopfte es an die Türe. Huck versteckte sich geschwind, denn es lag ihm gar nichts daran, mit dem letzten Ereignis in Zusammenhang gebracht zu werden. Der Walliser öffnete und ließ mehrere Herren und Damen herein, unter denen sich auch die Witwe Douglas befand. Dabei bemerkte er, daß noch andere Einwohner des Ortes truppweise den Hügel erstiegen, um sich den Schauplatz der nächtlichen Ereignisse zu besehen. Die Kunde von dem Vorgefallenen hatte sich also schon verbreitet.

Nun mußte der Alte den Besuchern die Geschichte der Nacht bis ins kleinste berichten. Die Dankbarkeit der Witwe Douglas für ihre Rettung machte sich in warmen Worten Luft.

»Verlieren Sie kein Wort weiter, Madame,« wehrte der Alte ab, »’s gibt einen, dem Sie zu viel größerem Danke verpflichtet sind, als mir und meinen Jungens, der will aber seinen Namen nicht genannt haben. Ohne den, sag ich Ihnen, wären wir niemals dazu gekommen, die Halunken zu verjagen.«

Dies erregte natürlich die allgemeine Neugierde in so hohem Grade, daß man darüber beinahe die Hauptsache vergaß. Der Walliser aber ließ sich durch die brennende Neugierde seiner Zuhörer, die sich durch deren Vermittlung nach und nach dem ganzen Städtchen mitteilte, nicht irremachen, sondern behielt sein Geheimnis wohlverwahrt bei sich. Als die Leute alles übrige in Erfahrung gebracht hatten, sagte die Witwe:

»Gestern abend las ich noch im Bett und schlief ein, so fest, daß ich von dem ganzen Spektakel gar nichts hörte. Warum haben Sie mich denn nicht aufgeweckt?«

»Na, das hielten wir für unnötig. Die Kerls kamen schwerlich wieder, das war so gut wie gewiß. Weshalb also Lärm schlagen und Sie unnötigerweise zu Tod erschrecken? Außerdem hab ich meine drei Nigger für den Rest der Nacht als Wächter um Ihr Haus gestellt, Madame, die sind eben zurückgekommen.«

Immer mehr Leute kamen, und die Geschichte mußte nochmals erzählt und wieder erzählt werden, und immer so weiter, einige Stunden lang.

Wie gewöhnlich an ereignisvollen Tagen war die Kirche – es war gerade Sonntag – frühzeitig und stark besucht. Das aufregende Ereignis wurde gehörig besprochen. Man erzählte sich, daß bis jetzt noch nicht die geringste Spur der Schurken aufgefunden worden sei.

Nach dem Gottesdienst ging Frau Kreisrichter Thatcher auf Frau Harper zu, als diese mit der Menge den Hauptgang der Kirche hinabschritt, und fragte:

»Meine Becky will heute wohl den ganzen Tag durchschlafen? Habe mir’s doch gedacht, daß sie todmüde sein würde!«

»Ihre Becky?«

»Nun ja,« bestätigte die Frau Kreisrichter mit erschrockenem Blick. »Die ist doch diese Nacht bei Ihnen geblieben?«

»Bewahre – nein.«

Frau Thatcher wurde blaß und sank in den nächststehenden Stuhl, gerade als eben Tante Polly, mit einer Freundin sich lebhaft unterhaltend, daherschritt.

»Guten Morgen, Frau Kreisrichter, Morgen Sally Harper, hab da wieder mal ’nen Schlingel, der nicht heimgekommen ist. Denk mir, er wird über Nacht bei Ihnen geblieben sein, bei der einen oder der anderen. Fürchtet sich drum wohl in die Kirche zu kommen, hat ohnedies noch was bei mir im Salz liegen – ha, ha!«

Frau Thatcher, blasser als je, konnte nur leise verneinend den Kopf bewegen.

»Bei uns ist er nicht,« sagte Frau Harper zögernd, sie fing auch an ängstlich zu werden. Eine plötzliche Furcht malte sich in Tante Pollys Antlitz. »Joe Harper, hast du meinen Tom heute morgen schon gesehen?«

»Nein.«

»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

Joe versuchte sich zu besinnen, konnte aber nicht ganz klar darüber werden.

Man war allmählich auf die bestürzte Gruppe aufmerksam geworden. Die Leute blieben stehen, ein Flüstern ging durch die Menge, Unruhe und Sorge zeigte sich in jedem Gesichte. Kinder und junge Leute wurden ängstlich ausgefragt. Alle stimmten darin überein, daß niemand acht gegeben hätte, ob Tom und Becky bei der Heimfahrt dabeigewesen. Es sei dunkel geworden und man habe nicht nachgesehen, ob irgend jemand fehle. Ein junger Mann platzte endlich mit der Vermutung heraus, sie seien am Ende noch in der Höhle.

Die Frau Kreisrichter wurde daraufhin ohnmächtig, Tante Polly weinte und rang die Hände.

Die Schreckenskunde flog von Lippe zu Lippe, von Gruppe zu Gruppe, von Straße zu Straße, und innerhalb fünf Minuten tönte wildes Glockenläuten vom Turme und die ganze Stadt war in Bewegung. Die nächtlichen Ereignisse verloren jegliches Interesse, Räuber und Mörder waren vergessen, Pferde wurden gesattelt, Boote bemannt, die Fähre flottgemacht, und ehe die Schreckensmäre eine halbe Stunde alt war, befanden sich zweihundert Mann zu Wasser und zu Lande auf dem Weg nach der Höhle.

Den ganzen langen Nachmittag hindurch schien das Städtchen wie ausgestorben. Viele Frauen besuchten Frau Thatcher und Tante Polly, um sie zu trösten oder mit ihnen zu weinen, was besser war als alle Worte.

Die ganze lange Nacht hindurch wartete man im Städtchen auf Nachrichten, und als endlich der Morgen tagte, war nur zu hören: Schickt mehr Kerzen und schickt Lebensmittel!

Frau Thatcher war fast von Sinnen, Tante Polly desgleichen. Der Kreisrichter sandte von Zeit zu Zeit ein Wort der Hoffnung und Ermutigung aus der Höhle, Trost aber brachte das nicht.

Der alte Walliser kam gegen Morgen heim, mit Kerzentalg bespritzt, mit Lehm beschmiert, zu Tode erschöpft. Er fand Huck noch immer auf dem Lager, das er ihm angewiesen; dessen Geist erging sich in wilden Fieberphantasien. Da die Ärzte mit in der Höhle waren, so wußte er keinen besseren Rat, als die Witwe Douglas zu holen, die denn auch sofort kam und sich des Patienten liebreich annahm.

Im Laufe des Vormittags begannen sich allmählich truppweise die erschöpften Männer im Städtchen wieder einzufinden, während die Stärkeren draußen blieben, um weiter zu suchen. Alles, was man erfahren konnte, war, daß die entlegensten Strecken der Höhle, die bis jetzt noch kein menschlicher Fuß betreten, abgesucht worden waren, daß jeder Winkel, jeder Spalt durchforscht werde, daß man überall, wohin der Fuß sich auch wende, im Gewirr der Gänge, Lichter hin und her huschen sehe, und daß fortwährend Rufe und Pistolenschüsse in dumpfem Widerhall gegen die düsteren Felsenwände anschlügen. An einer Stelle, weit von dem gewöhnlich begangenen Teil der Höhle entfernt, hatte man die Namen »Becky« und »Tom« mit Kerzenrauch auf der Felswand eingeschwärzt gefunden und dicht dabei ein mit Talg beschmutztes Stückchen Band, Frau Thatcher erkannte das letztere als ihrem Kinde gehörig und weinte heiße Tränen darauf. Sie sagte, es sei dies das letzte Zeichen, das sie jemals von ihrem Kinde erhalten werde, daß kein Andenken ihr so kostbar und teuer sein könne, als dies kleine Stückchen Band, denn dies sei das letzte, was sich von dem geliebten, lebendigen Körper gelöst, ehe der grausame Tod gekommen. Man erzählte, wie einzelne hier und da in der Höhle ein fernes Lichtfünkchen entdeckten, um mit Jubel und Hallo und voller Hoffnungsfreudigkeit darauf loszustürzen, aber stets folgte bittere Enttäuschung: es waren nicht die vermißten Kinder, sondern nur das Licht irgendeines anderen Mitsuchenden.

Drei schreckliche Tage und Nächte schleppten ihre endlosen Stunden über das Städtchen hin, und dieses versank in hoffnungslose, starre Betäubung, Niemand hatte Lust zu irgend etwas. Die eben erfolgte zufällige Entdeckung, daß der Besitzer der Mäßigkeitsvereinsherberge Spirituosen hielt, machte kaum Eindruck, so furchtbar diese Tatsache auch sein mochte. In einem lichten Moment suchte Huck die Rede auf Gasthöfe im allgemeinen und diese Mäßigkeitsvereinsherberge im besonderen zu lenken, und fragte zuletzt zaghaft, das Schlimmste befürchtend, ob irgend etwas dort entdeckt worden sei, während er krank gewesen.

»Ja,« bestätigte die Witwe.

Mit wild starrenden Augen fuhr Huck im Bett in die Höhe:

»Was – was denn?«

»Branntwein! – Man hat die Herberge geschlossen. Leg dich doch, Kind, – wie hast du mich erschreckt!«

»Sagen Sie mir nur noch eins, – nur noch eins, bitte, hat’s Tom Sawyer gefunden?«

Die Witwe brach in Tränen aus.

»Still, still, Kind, still. Ich habe dir’s doch schon gesagt, du darfst nicht reden. Du bist sehr, sehr krank.« –

Also nur Branntwein war gefunden worden; hätte man das Gold entdeckt, wäre ein anderes Hallo entstanden. Der Schatz war also verloren, – verloren für immer. Warum aber weinte die Frau? Sonderbar, was hatte sie zu weinen?

Dunkel bahnten sich solche Gedanken ihren Weg durch Hucks mattes Gehirn und machten ihn so müde, daß er darüber in Schlaf sank. Die treue Pflegerin beobachtete ihn und flüsterte leise:

»Da – nun schläft er wieder, armer, kleiner Kerl. Ob Tom Sawyer den Branntwein gefunden hat! Großer Gott, wenn doch nur einer den Tom Sawyer selber finden wollte! Viele gibt’s nicht mehr, die noch Kraft genug oder auch Hoffnung genug haben, um weiter zu suchen.«

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Die Verirrten.

Achtundzwanzigstes Kapitel.

Kehren wir jetzt zu Toms und Beckys Anteil am Picknick zurück. Sie wanderten mit der übrigen Gesellschaft durch die düsteren Gänge, um die bekannten Wunder der Höhle zu besuchen, – Wunder mit vielversprechenden, prunkenden Namen, wie der »Große Saal«, »die Kathedrale«, »Aladins Palast« usw. Dann kam des Versteckspiel an die Reihe und Tom und Becky beteiligten sich mit Eifer daran, bis das Vergnügen anfing etwas ermüdend zu wirken. Dann schlenderten sie durch die verzweigten Gänge, hielten die Kerzen hoch und lasen das Gewirr von Namen, Daten, Adressen und Reimen, welche mit Kerzenrauch gemalt, die Felswände gleich Fresken bedeckten. Immer weiterschreitend und plaudernd merkten sie kaum, daß sie sich nun in einem Teil der Höhle befanden, wo die Wände noch unbefleckt waren. Sie schwärzten ihre eigenen Namen an einer geeigneten Stelle ein und schritten dann weiter. Nun kamen sie an einen Ort, wo ein kleines Wässerchen, das von einer Wand niederträufelte und einen Bodensatz von Kalk mit sich führte, im Laufe endloser Zeiträume einen ganzen Wasserfall aus Spitzen und Schnörkelwerk in schimmerndem, unvergänglichem Gestein gebildet hatte. Tom zwängte seinen schmächtigen Körper dahinter, um den spitzenartigen Überhang zu Beckys Vergnügen zu beleuchten, und entdeckte, daß derselbe eine steile, von der Natur geschaffene Treppe verbarg, die zwischen engen Wänden abwärtsführte. Jetzt kam der Ehrgeiz des Entdeckers über ihn. Becky folgte seinem Ruf, sie machten sich mit Rauch ein Zeichen an die Wand, um sich später wieder zurechtzufinden, und traten dann wohlgemut die Entdeckungsreise an. Sie schlugen bald diesen, bald jenen Weg ein und gelangten nach und nach in die geheimsten Tiefen der Höhle; sie machten sich dann ein zweites Zeichen und zweigten ab, um nach neuen Wundern zu suchen, von denen sie der staunenden Oberwelt mit Stolz berichten könnten. Sie kamen zu einem hallenartigen Raume, von dessen Decke Massen von riesigen, schimmernden Tropfsteingebilden niederhingen. Staunend durchwanderten sie die Halle nach allen Seiten und verließen dieselbe dann, immer kühner werdend, durch einen der zahlreichen, hier einmündenden Seitengänge. Dieser brachte sie nach kurzer Frist zu einer entzückenden, kleinen Quelle, deren Becken mit einer wunderbar glitzernden Kruste phantastisch geformter Kristalle überzogen war. Dieser Zauberborn befand sich inmitten eines neuen Gewölbes, dessen Decke durch eine Menge schlank aufstrebender Pfeiler gestützt wurde, welche durch das allmähliche Zusammenwachsen großer Tropfsteingebilde im Laufe vieler Jahrhunderte entstanden waren. Unter der Wölbung hatten sich riesige Klumpen von Fledermäusen zusammengeballt, Tausende auf einem Knäuel. Das Licht störte die nächtlichen Wesen auf, so daß sie zu Hunderten herniederflatterten und mit tollem Gequieke gegen die Lichter schossen. Mit dem Wesen dieser Tiere vertraut, erkannte Tom sofort das Gebaren und die Gefahr, die für sie beide darin lag. Er ergriff Beckys Hand und stürzte mit ihr in den ersten besten Seitengang, der sich ihnen zeigte; keinen Augenblick zu frühe, denn eben huschte eine Fledermaus mit ihrem Flügel so dicht an Beckys Kerze vorüber, daß die kleine Flamme erlosch. Tom gelang es, die seine mit Erfolg zu hüten, obgleich die aufgescheuchten Tiere die Kinder noch weit durch die verschiedensten Gänge verfolgten, welche diese in blinder Hast durcheilten, nur darauf bedacht, der Gefahr möglichst rasch zu entgehen. Kurz darauf fand Tom einen unterirdischen See, dessen nächtliche Fluten sich weit in die schwarzen Schatten hinein verloren. Ihn gelüstete, das Ufer ringsum zu erforschen, doch zuvor beschlossen die Kinder, sich ein Weilchen zu setzen, auszuruhen und frische Kräfte zu sammeln. Jetzt, zum erstenmal, legte sich die schauerlich tiefe Stille der Umgebung wie eine feuchtkalte Hand auf die mutig und fröhlich pochenden Herzen der Kinder. Becky meinte:

»Ich hab gar nicht acht gegeben, aber mir kommt’s wie eine Ewigkeit vor, seit wir die anderen nicht mehr gehört haben.«

»Denk doch mal ’n bißchen nach, Becky, wir sind ja tief unter ihnen und weiß Gott wieviel weiter nördlich oder südlich oder östlich oder was es ist. ’s ist ja einfach unmöglich, was zu hören.«

Becky wurde ängstlich. »Möcht wissen, wie lang wir schon hier unten sind, Tom. Laß uns lieber umkehren.«

»Ja, ’s wird wohl besser sein, denk ich, ’s wird besser sein.«

»Weißt du den Weg, Tom? Mir ist’s das reine Wirrsal.«

»Finden könnt ich ihn am End, aber denk doch mal, die Fledermäuse! Wenn die uns beide Lichter ausmachen, kann’s ’ne böse Geschichte für uns werden. Müssen eben probieren, ’nen anderen Weg zu finden, der nicht dort durchführt.«

»Gut, aber hoffentlich verirren wir uns nicht. Das wäre zu gräßlich!« Und das Kind schauderte bei dem Gedanken an die bloße Möglichkeit.

Sie wandten sich nun durch einen langen Gang zurück und durchschritten denselben schweigend eine lange, lange Zeit, starrten dabei in jeden Seitengang, um irgendein bekanntes Zeichen zu entdecken, aber alles, alles war neu und fremd. Jedesmal wenn Tom prüfte und untersuchte, beobachtete Becky ängstlich sein Gesicht, um eine Spur der Ermutigung zu finden, und er sagte regelmäßig ganz heiter:

»Oho, ganz recht. Hier ist’s noch nicht, wird wohl gleich kommen!« Aber mit jedem Fehlschlagen fühlte er weniger und weniger Hoffnung im Herzen und begann allmählich aufs Geratewohl die abzweigenden Gänge zu durchwandern, sich in der Verzweiflung damit tröstend, er werde am Ende durch Zufall den richtigen Weg finden. Wohl sagte er immer noch: »Schon recht!« aber allmählich hatte sich die Angst wie ein Bleigewicht auf seine Seele gelegt, die Worte hatten den Klang der Überzeugung verloren und lauteten, als ob sie bedeuten sollten: »Alles ist verloren.« Becky drängte sich in lautlosem Entsetzen dicht an seine Seite und preßte mit Gewalt die Tränen zurück. Endlich sagte sie:

»O, Tom, was liegt an den Fledermäusen, laß uns doch den alten Weg gehen. Hier scheint’s, als ob wir weiter und weiter abkämen.«

Tom blieb stehen.

»Horch!« sagte er.

Tiefes Schweigen, ein Schweigen so tief, daß die Kinder in der Stille ihre eigenen Atemzüge hören konnten. Tom rief laut hinaus in das Dunkel. Der Ruf tönte widerhallend die einsamen Gänge entlang und erstarb in der Ferne in einem schwachen Laute, der fast wie Hohngelächter klang.

»O, tu’s nicht wieder, Tom, tu’s nicht wieder. Es ist gräßlich,« flehte Becky.

»Gräßlich ist’s, aber ’s ist doch besser, wenn ich’s tue, Becky, sie könnten uns doch am Ende hören,« und er schrie noch einmal.

Dieses »könnten« war beinahe noch gräßlicher als jenes geisterhafte Lachen, es lag eine solch verzweifelte Hoffnungslosigkeit darin! Wieder lauschten die Kinder mit aller Anstrengung, aber kein Ton ließ sich hören. Tom wandte sich sofort zurück und beeilte seine Schritte. Es dauerte nur eine kleine Weile, bis eine gewisse Unruhe und Unschlüssigkeit in seinem Benehmen Becky die furchtbare Tatsache ahnen ließ, daß er den Rückweg nicht zu finden vermochte!

»Tom, o Tom, du hast dir ja gar keine Zeichen mehr gemacht!«

»Ja, Becky, ich war ein Narr, ein elender, blinder, dummer Narr! Ich hab gar nicht dran gedacht, daß wir wieder zurück müssen! Nein, ich kann den Weg nicht finden, ’s läuft ja hier alles kreuz und quer.«

»Tom, Tom, wir sind verloren! Wir können nie, nie wieder aus dieser gräßlichen Höhle heraus. O, warum sind wir von den anderen fortgegangen.«

Sie sank zu Boden und brach in so krampfhaftes Weinen aus, daß Tom angst und bange wurde, sie möchte sterben oder den Verstand verlieren. Er beugte sich zu ihr und schlang seine Arme um sie, sie barg ihr Gesichtchen an seiner Brust, schmiegte sich fest an ihn und strömte ihr Entsetzen und ihre Reue in Wehklagen aus, das in dem fernen Echo wie spöttisches Gelächter verklang. Vergebens flehte Tom sie an, Mut zu fassen. Nun begann er sich selber Vorwürfe zu machen und sich anzuklagen, daß er sie in so gräßliche Lage gebracht. Das hatte bessere Wirkung. Sie wollte mit bestem Willen versuchen, wieder zu hoffen, und erklärte sich bereit, ihm zu folgen, wohin er sie führe, nur dürfe er nicht wieder so reden, denn er sei nicht mehr zu tadeln, als sie selber.

So schritten sie also wieder dahin, ziellos, planlos, auf gutes Glück. Das einzige, was sie tun konnten, war vorwärtszugehen, sich in Bewegung zu erhalten. Ein kleines Weilchen schien die Hoffnung wieder aufleben zu wollen; nicht daß ein besonderer Grund dazu vorhanden gewesen wäre; allein es ist eben einmal die Natur der Hoffnung, sich leicht wieder zu beleben, wo ihr die Schwungkraft noch nicht durch Alter und stetes Mißlingen geraubt worden ist.

Bald darauf nahm Tom Beckys Licht und blies es aus. Dieser Akt der Sparsamkeit war vielsagend. Da bedurfte es keiner Worte. Becky verstand seine Bedeutung, und die Hoffnung erstarb ihr wieder. Sie wußte, daß Tom eine ganze Kerze und noch drei oder vier Stümpfchen dazu in seiner Tasche trug, – und doch sparte er!

Allmählich machte die Müdigkeit ihre Rechte geltend, allein die Kinder wollten nicht darauf achten; sie konnten unmöglich an Niedersitzen und Rast denken, wo die Zeit so kostbar war. Sich vorwärts bewegen in irgendeiner Richtung bedeutete doch einen Fortschritt und konnte möglicherweise ein Gelingen zur Folge haben; sich niedersetzen hieß den Tod herbeirufen und sein Kommen beschleunigen.

Zuletzt versagten Beckys zarte Glieder jeden weiteren Dienst, sie mußte sich setzen. Tom ließ sich neben ihr nieder und sie sprachen von Hause, von ihren Angehörigen, von ihren behaglichen Betten und vor allem vom lieben, goldenen Tageslicht! Becky weinte leise vor sich hin und Tom zerbrach sich den Kopf, wie er sie trösten könne; aber jedes Trostwort war schon längst verbraucht und klang beinahe wie Hohn und Spott. Bleierne Müdigkeit lastete auf Becky und drückte ihr zuletzt die Augen zu. Wie froh war Tom. Er saß und starrte in ihr gramverzogenes Gesichtchen, das nach und nach unter dem Einfluß heiterer Träume hell und heller wurde, bis sich allmählich ein verklärendes Lächeln darüber ergoß. Die friedvollen Züge warfen einen Strahl von Frieden und Ruhe in seine eigene Seele und seine Gedanken wanderten zurück zu vergangenen Tagen, träumerischer Erinnerung voll. Während er noch tief in Nachsinnen versunken war, erwachte Becky mit einem kurzen, fröhlichen Lachen, das ihr jedoch alsbald auf den Lippen erstarb und einem Stöhnen Platz machte.

»O, wie konnte ich nur schlafen! Wär ich doch nie, nie mehr aufgewacht! Aber Tom, was hast du? – Ich will’s ja nie wieder sagen, nur sieh mich nicht so an!«

»Ich bin froh, daß du geschlafen hast, Becky, nun bist du wieder munter und wir finden sicher den Weg hinaus.«

»Wir wollen’s versuchen! Ach, ich hab im Traum so ’n schönes, herrliches Land gesehen, – ich glaub, wir kommen dorthin!«

»Noch nicht, Becky, vielleicht noch nicht. Mutig vorwärts, laß uns weiter suchen!«

Sie erhoben sich und wanderten weiter, Hand in Hand, hoffnungslos. Sie versuchten zu schätzen, wie lange sie schon in der Höhle herumirrten, es kam ihnen vor, als seien es Tage und Wochen, aber es konnte unmöglich sein, denn noch waren ihre Kerzen nicht ausgegangen.

Lange Zeit hernach, wie lange wußten sie nicht, sagte Tom, sie müßten nun leise gehen und lauschen, ob sie nicht das Rieseln von Wasser hörten, – sie müßten eine Quelle finden. Bald darauf fanden sie wirklich eine, und Tom hielt es an der Zeit, wieder auszuruhen. Beide waren furchtbar müde, aber Becky meinte trotzdem, sie könne noch ein wenig weitergehen. Zu ihrer Überraschung war Tom anderer Meinung; sie konnte nicht verstehen warum. So setzten sie sich denn nieder und Tom befestigte die Kerze mit etwas Lehm an der gegenüberliegenden Wand. Gedanken kamen und gingen, gesprochen wurde lange Zeit nichts. Endlich brach Becky das Schweigen:

»Tom, ich bin so hungrig.«

Tom zog etwas aus seiner Tasche.

»Kennst du das?«

Becky lächelte beinahe. Es war ein Stückchen Kuchen, das er ihr aus Scherz während des Picknicks abgejagt hatte, worüber sie damals sehr ungehalten schien. Nun war es zum letzten Hoffnungsanker in der Not geworden.

»Wollt, es wär hundertmal so groß,« brummte Tom, »könnten’s jetzt brauchen!«

»O, Tom, wo hätt‘ ich gedacht, daß dies unser letztes –«

Sie vollendete den Satz jedoch nicht, Tom brach das Stück entzwei und Becky aß ihr Teil mit gutem Appetit, während er an dem seinen nur so herumknapperte. Frisches, klares Wasser hatten sie im Überfluß, um ihr Mahl zu vollenden. Nach einiger Zeit schlug Becky vor, weiterzugehen. Tom schwieg einen Moment, dann sagte er:

»Becky, kannst du’s ertragen, wenn ich dir etwas sage?«

Becky erbleichte, bat ihn aber, tapfer zu reden.

»Nun denn, Becky, wir müssen hier bleiben, wo wir Wasser zum Trinken haben. Dies kleine Stümpfchen ist unser letzter Rest von Kerze.«

Becky brach in Weinen und Jammern aus. Tom tat, was er konnte, um sie zu trösten, aber mit wenig Erfolg. Zuletzt sagte sie:

»Tom!«

»Ja, Becky?«

»Man wird uns doch zu Hause vermissen und sie werden nach uns suchen!«

»Natürlich, natürlich tun sie das!«

»Vielleicht sucht man uns jetzt schon, Tom?«

»Na, vielleicht, – hoffentlich.«

»Wann können sie uns wohl vermißt haben, Tom?«

»Vermutlich, als sie im Boot waren.«

»Da war’s vielleicht schon dunkel, – ’s wird wohl keiner bemerkt haben, daß wir fehlen.«

»Na, aber dann wird dich doch deine Mutter jedenfalls vermissen, wenn die anderen heimkommen.«

Ein erschrockener Blick in Beckys Augen belehrte Tom über seinen Irrtum. Becky hatte ja am Abend gar nicht nach Hause kommen sollen. Die Kinder wurden still und nachdenklich. Einen Moment später sah Tom aus einem erneuten Schmerzensausbruch Beckys, daß sie derselbe Gedanke bewege wie ihn, – nämlich daß noch der halbe Sonntagmorgen vergehen könne, bevor Beckys Mutter erfuhr daß diese nicht bei Harpers über Nacht gewesen. Die Kinder hefteten ihre Augen wortlos auf das kleine Stückchen Kerze und beobachteten angsterfüllt, wie es langsam und unerbittlich dahinschmolz, sahen den halben Zoll Docht zuletzt noch allein dastehen, sahen das schwache Flämmchen steigen und fallen, fallen und steigen, jetzt die dünne Rauchsäule erklettern, einen Moment auf deren Spitze verweilen und dann – herrschten die Schrecken schwärzester Finsternis.

Wie lange danach Becky zu dem dämmernden Bewußtsein kam, daß sie weinend in Toms Armen lag, hätte keines von beiden zu sagen vermocht. Sie wußten nur soviel, daß sie nach einer endlosen Zeit aus einer schlummerartigen Betäubung, aus dem erneuten, niederdrückenden Gefühl ihres Elends erwachten. Tom meinte, es könne Sonntag, vielleicht schon Montag sein. Er versuchte Becky zum Reden zu bewegen, aber der Jammer lastete zu gewaltig auf ihr, alle Hoffnung war dahin. Tom behauptete, nun müsse man sie daheim längst vermißt haben und das Nachsuchen sei jedenfalls schon in vollem Gange. Er wolle schreien, sagte er, vielleicht höre man ihn doch und folge der Spur. Er versuchte es denn auch, aber in der tiefen Finsternis klangen die fernen Echos so schauerlich, daß er es bald entsetzt sein ließ.

Die Stunden schwanden dahin und der Hunger kam, um die armen kleinen Verlorenen aufs neue zu quälen. Ein Teil von Toms Hälfte des Kuchens war noch übrig, sie teilten den Rest und aßen. Danach schienen sie hungriger als zuvor. Dies arme bißchen Nahrung erweckte nur den Wunsch nach mehr.

Plötzlich rief Tom:

»Scht! Hörst du nicht was?«

Beide hielten den Atem an und lauschten. Ein Laut drang an ihr Ohr, der wie ein schwacher Ruf aus weitester Ferne klang. Augenblicklich antwortete Tom, und Becky an der Hand führend, tastete er sich den Gang entlang, der Richtung des Tones nach. Dann lauschte er wieder atemlos. Wieder erklang der Ruf, und diesmal zweifellos ein wenig näher.

»Sie sind’s!« jubelte Tom, »sie kommen! Vorwärts, Becky – nun ist alles gut!«

Die Freude, das Entzücken der Kinder war beinahe überwältigend. Sie kamen indes nur langsam voran, denn die Höhle war reich an Spalten im Boden, und diese mußten sie nun in der Dunkelheit doppelt meiden, Alsbald standen sie vor einer solchen und konnten nicht weiter. Die Spalte mochte nur drei Fuß, konnte aber auch hundert tief sein, wer konnte das wissen? – Jedenfalls war an kein Hinüberkommen zu denken, Tom legte sich nieder und versuchte so weit als möglich hinunterzureichen, – kein Grund zu fühlen. Sie mußten also bleiben und warten, bis die Retter erschienen. Sie lauschten – die fernen Rufe klangen augenscheinlich ferner und ferner. Einen Moment oder zwei noch, und sie erstarben gänzlich. O, diese herzbrechende Verzweiflung! Tom schrie, tobte, brüllte, bis er vollständig heiser war, ohne jeden Erfolg. Hoffnungsvoll redete er Becky zu, aber eine Ewigkeit ängstlichen Harrens schwand dahin, kein Ton war zu vernehmen.

Die Kinder tasteten sich nach der Quelle zurück; lange, schwere Stunden schleppten sich dahin; die Verirrten schliefen ein und erwachten halb verhungert und voll Herzeleid. Tom meinte, nun müsse es wohl Dienstag sein.

Jetzt kam ihm ein Gedanke. Ganz in der Nähe befanden sich ein paar Seitengänge. Es war immerhin noch besser, diese zu untersuchen, als das lastende Gewicht der Zeit müßig zu tragen. Er nahm eine Leine aus der Tasche, an der er einstmals seinen Drachen hatte steigen lassen, befestigte dieselbe an einen Felsvorsprung und schritt dann, indem er die Leine abwickelte, vorwärts. Becky folgte ihm. Nach ungefähr zwanzig Schritten fiel der Gang plötzlich steil ab. Tom ließ sich auf die Knie nieder, fühlte nach unten und dann so weit um die Ecke, als er bequem mit den Händen reichen konnte. Eben war er im Begriff, mit größter Anstrengung noch einmal weiter nach rechts zu tasten, als im selben Augenblick, keine zwanzig Meter entfernt, hinter einem Felsen hervor eine menschliche Hand erschien, die ein Licht hielt. Tom stieß einen lauthallenden Jubelschrei aus und alsbald folgte der Hand auch der Körper, zu dem sie gehörte, – der Körper des Indianer-Joe. Tom war wie gelähmt, er konnte kein Glied rühren. Wie erlöst von einem Banne atmete er auf, als er sah, daß der »Spanier« augenblicklich sich umwandte und schleunigst Fersengeld gab. Er konnte es kaum begreifen, daß Joe seine Stimme nicht erkannte und ihm für seine Aussage vor Gericht nicht den Garaus machte. Das Echo mußte sicherlich die Stimme unkenntlich gemacht haben, anders konnte er sich’s nicht erklären. Die Furcht lähmte jede Muskel in Toms Körper. Er nahm sich bestimmt vor, zur Quelle zurückzukehren, wenn er noch Kraft genug dazu besitze, und dort zu bleiben; nichts in der Welt könne ihn bewegen, sich noch einmal der Gefahr auszusetzen, dem Indianer-Joe in die Hände zu laufen. So kroch er denn zurück und hütete sich wohl, Becky etwas von dem merken zu lassen, was er gesehen hatte. Den Schrei vorhin – sagte er ihr – habe er nur noch einmal aufs Geratewohl ausgestoßen.

Hunger und Elend aber trugen auf die Länge der Zeit den Sieg davon. Eine erneute, schreckliche Zeit des Harrens und Bangens, ein nochmaliger langer Schlaf änderten Toms Entschluß. Die Kinder erwachten von rasendem Hunger gepeinigt. Tom meinte, es müsse nun schon Mittwoch oder Donnerstag, vielleicht gar Freitag oder Samstag sein und die Suche nach ihnen sei wohl schon längst aufgegeben. Er schlug vor, einen anderen Gang zu durchforschen. Er war nun entschlossen, es mit dem Indianer-Joe und allen sonstigen Schrecken aufzunehmen. Becky aber fühlte sich sehr schwach. Sie war in eine traurige Teilnahmlosigkeit versunken, aus der nichts sie aufrütteln konnte. Sie für ihr Teil wolle bleiben, wo sie sei, hauchte sie matt, wolle hier sterben, es dauere nun doch nicht mehr lange. Tom solle nur gehen und mit der Drachenleine weiter suchen; nur bat sie ihn flehentlich, doch ja von Zeit zu Zeit zurückzukommen und mit ihr zu reden. Sie ließ ihn feierlich versprechen, daß wenn die letzte bange Stunde käme, er bei ihr bleiben und ihre Hand halten wolle, bis alles vorüber sei. Tom küßte sie mit einem erstickenden Gefühl in der Kehle und tat, als sei er fest davon überzeugt, entweder die Suchenden oder einen Ausweg aus der Höhle zu finden. Dann nahm er seine Drachenleine zur Hand und kroch auf Händen und Knien einen der Gänge hinunter, von Hunger gequält, von den trübsten Ahnungen des nahenden Schicksals gepeinigt.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Tom und Beckys Heimkehr.

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Der Dienstag nachmittag kam und schwand, die Dämmerung setzte ein. Das Städtchen St. Petersburg trauerte noch tief. Die verlorenen Kinder waren immer noch nicht aufgefunden. In der Kirche war öffentlich für sie gebetet worden, und wie viele Gebete mochten im stillen Kämmerlein zum Himmel aufgestiegen sein! Aber noch immer kam keine bessere Kunde aus der Höhle. Die Mehrzahl der Suchenden hatte die weitere Nachforschung aufgegeben und war zu ihren täglichen Beschäftigungen zurückgekehrt; sie meinten, die Kinder würden doch niemals wieder gefunden werden. Frau Thatcher war ernstlich erkrankt und lag meist in Fieberphantasien. Die Leute sagten, es sei herzbrechend anzuhören, wie sie nach ihrem Kinde riefe, den Kopf hebe, um wohl eine Minute lang zu lauschen, und ihn dann ermattet und seufzend wieder niedersinken zu lassen. Tante Polly war in tiefste Schwermut verfallen, ihr graues Haar war beinahe schneeweiß geworden. Am Dienstag abend ging alles im Städtchen traurig und hoffnungslos zur Ruhe.

Etwa gegen Mitternacht brachen die Glocken in ein wildes Geläute aus und im nächsten Augenblick waren die Straßen voll von Gruppen halb angekleideter Gestalten, welche wie wahnsinnig: »heraus, heraus, sie kommen, sie kommen!« in die Nacht hineinschrien. Blechpfannen und Hörner halfen das Getöse noch vermehren. Die Bevölkerung drängte sich in Massen dem Flusse zu, den wiedergefundenen Kindern entgegen, welche in einem offenen Wagen daherkamen, der von jubelnden, jauchzenden Männern gezogen wurde. Im Nu war der Wagen dicht umringt und mit Jubel und Hurraruf bewegte sich der Triumphzug die Hauptstraße hinauf.

Alle Häuser waren festlich beleuchtet, niemand fiel es ein, nochmals zu Bett zu gehen, es war der größte Moment, den das Städtchen je erlebt hatte. Während der ersten halben Stunde bewegte sich die Einwohnerschaft in langem Zuge durch Richter Thatchers Haus. Die geretteten Kinder wurden mit Fragen und Küssen überschüttet, der armen Mutter die Hand vor Mitgefühl fast ausgerenkt und dabei das ganze Haus mit Tränen förmlich überschwemmt.

Tante Pollys Seligkeit war vollkommen, und bei Frau Thatcher fehlte nicht viel dazu. Ihr Glück konnte jedoch erst vollständig sein, wenn der Bote, den man alsbald mit der großen Neuigkeit nach der Höhle gesandt, dem armen trostlos weitersuchenden Vater die Freudenkunde überbracht haben würde.

Tom lag auf dem Sofa. Einer atemlos lauschenden Zuhörerschaft, die um ihn herumstand, erzählte er die Geschichte seiner wunderbaren Abenteuer, wobei er nicht verfehlte, aus freier Erfindung manch wirkungsvollen Zug zur weiteren Ausschmückung anzubringen. Zum Schlusse gab er eine besonders anschauliche Beschreibung davon, wie er Becky verlassen, um eine erneute Entdeckungsreise anzutreten, wie er mit der Drachenleine in der Hand durch zwei Gänge gekrochen, wie er eben im Begriff gewesen, dem dritten. den er der ganzen Länge der Schnur nach durchmessen, hoffnungslos und verzweifelnd den Rücken zu kehren, als er plötzlich in weitester Entfernung einen hellen Fleck gewahrte, der wie Tageslicht aussah. Da habe er die Leine fahren lassen, sei auf den Knien dem verheißenden Flecke zugekrochen, habe Kopf und Schultern durch ein enges Loch gezwängt, habe frische, freie Gottesluft geatmet und den Mississippi seine breiten Wogen an sich vorüberwälzen sehen. Wäre es zufällig Nacht gewesen, so daß kein heller Fleck zu sehen war, dann würde er den Gang nicht weiter untersucht haben! Er erzählter, wie er dann zu Becky zurückkroch, um ihr die Freudenkunde zu bringen, wie sie ihn bat, sie mit solchem Unsinn zu verschonen, sie sei müde, wisse, daß sie sterben müsse und wollte sterben. Er beschrieb, welche Mühe es ihn gekostet, sie zu überzeugen und wie sie dann beinahe wirklich gestorben sei vor Glück, als sie sich nun mühsam dahingeschleppt, wo sie das Fleckchen wirkliches und wahrhaftiges Tageslicht sehen konnte. Wie er zuerst durch das Loch gekrochen und ihr sodann herausgeholfen, worauf sie beide sich niedergesetzt und vor Freude und Glück geweint hätten. Dann, sagte er, seien ein paar Männer in einem Boot den Fluß dahergekommen, er habe sie angerufen und von seiner und Beckys Lage und von ihrem halbverhungerten Zustande erzählt. Wie ihm die Leute zuerst nicht hatten glauben wollen, weil es ihnen wie ein tolles Märchen geklungen, »denn,« sagten sie, »ihr seid ja fünf Meilen unterhalb der Bucht, in der die Höhle ist,« sich aber dann doch eines anderen besonnen und sie an Bord genommen hätten. Dann seien sie nach einem Hause gerudert, hätten ihnen ein Abendessen gegeben, sie ein paar Stunden lang ausruhen lassen und sie dann endlich nach Hause gebracht.

Vor Tagesgrauen wurden denn auch der Kreisrichter und die handvoll Leute, die ihm noch immer treulich suchen halfen, vermittels des Leitfadens, den sie hinter sich herlaufen ließen, aufgesucht und ihnen die freudige Botschaft überbracht. Alles war eitel Glück und Freude!

Drei Tage und drei Nächte der Trübsal und des Hungers lassen sich jedoch nicht mit einem Male abschütteln, das sollten auch Tom und Becky erfahren. Mittwoch und Donnerstag mußten sie das Bett hüten und schienen nur immer elender und müder zu werden. Tom freilich fing schon am Donnerstag an ein wenig herumzukriechen, zeigte sich Freitag auf der Straße und war Sonnabend fast wieder er selber. Becky aber konnte vor Sonntag das Zimmer nicht verlassen und dann sah sie aus, als ob sie eine lange, zehrende Krankheit durchgemacht hätte.

Tom hörte von Hucks Kranksein und ging am Freitag, ihn zu besuchen wurde aber nicht zu ihm gelassen, ebensowenig an den beiden folgenden Tagen. Nachher durfte er ihn täglich sehen, mußte aber versprechen, über sein Abenteuer in der Höhle zu schweigen und auch sonst nichts Auflegendes zu berühren. Frau Douglas, die treue Pflegerin, war immer zugegen und paßte auf. Zu Hause hörte Tom von dem nächtlichen Abenteuer hinter dem Douglasschen Besitztum, auch, daß man den Körper des einen Halunken im Fluß, nahe an dem Landungsplatze der Dampffähre gefunden habe; er war sicherlich bei dem Fluchtversuch ertrunken.

Etwa vierzehn Tage nach Toms Befreiung aus der Höhle machte dieser wieder einmal einen Besuch bei Huck, welcher mittlerweile genügend zu Kräften gekommen war, um ein aufregendes Gespräch ertragen zu können. An Stoff dazu fehlte es Tom nicht. Sein Weg führte ihn an des Kreisrichters Haus vorüber und er trat ein, um nach Becky zu sehen. Deren Vater und ein paar Freunde fingen ein Gespräch mit ihm an und man fragte ihn scherzweise, ob es ihn nicht gelüste, noch einmal in die Höhle zu gehen. Tom meinte, warum nicht – das würde ihm nichts ausmachen.

Da sagte der Kreisrichter:

»Tollköpfe, wie du einer bist, gibt’s noch mehr, Tom, daran zweifle ich keinen Augenblick. Aber wir haben der Sache ein Ende gemacht. In der Höhle soll von nun an keiner mehr verloren gehen.«

»Wieso?«

»Weil ich die große Eichentüre mit Eisen habe beschlagen und dreifach verschließen lassen, und weil ich die Schlüssel dazu selber verwahre.«

Tom wurde weiß wie ein Leinentuch. »Herrgott, was gibt’s, Junge? Schnell, bring mal einer ein Glas Wasser!«

Das Wasser wurde gebracht und Tom damit bespritzt. »So, so, mein Junge, ist dir nun besser? Sag doch nur mal ums Himmels Willen, was mit dir los ist, Tom?«

»Ach, Herr Kreisrichter, in – der Höhle war ja der – der Indianer-Joe!«

Drittes Kapitel.

Tom verliebt sich.

Drittes Kapitel.

Tom erschien vor Tante Polly, die am offenen Fenster eines Hinterzimmers saß, das Schlaf-, Wohn-, Eßzimmer, Bibliothek, alles in sich vereinigte. Die balsamische Sommerluft, die friedliche Ruhe, der Blumenduft, das einschläfernde Summen der Bienen, alles hatte seine Wirkung auf sie ausgeübt, – sie war über ihrem Strickstrumpf eingenickt in Gesellschaft der Katze, die auf ihrem Schoße friedlich schlummerte. Die Brille war zur Sicherheit ganz auf den alten, grauen Kopf geschoben. Sie war fest überzeugt gewesen, daß Tom längst durchgebrannt sei und wunderte sich nun nicht wenig, als er sich jetzt so furchtlos ihrer Macht überlieferte.

»Darf ich jetzt gehen und spielen, Tante?« fragte er.

»Was – schon? Ei, wie weit bist du denn?«

»Fertig, Tante.«

»Tom, schwindle nicht, du weißt, das kann ich nicht vertragen.«

»Gewiß und wahrhaftig, Tante, ich bin fertig.«

Tante Polly schien nur wenig Zutrauen zu der Angabe zu hegen, denn sie erhob sich, um selbst nachzusehen; sie wäre froh und dankbar gewesen, hätte sie nur zwanzig Prozent von Toms Aussage bestätigt gefunden. Als sie aber nun den ganzen Zaun getüncht fand und nicht nur so einmal leicht überstrichen, sondern sorgsam mit einer festen, tadellosen Lage Tünche versehen, da kannte ihr Erstaunen, ihre freudige Ver- und Bewunderung keine Grenzen.

»Na, so was!« stieß sie fast atemlos hervor. »Arbeiten kannst du, wenn du willst, Tom, das muß dir dein Feind lassen. Selten genug freilich willst du einmal«, schwächte sie ihr Kompliment ab. »Aber nun geh und spiel, mach dich flink fort. Daß du mir aber vor Ablauf einer Woche wiederkommst, hörst du, sonst gerb ich dir das Fell doch noch durch!«

Sie war aber so gerührt von seiner Heldentat, daß sie ihn zuerst noch mit in die Speisekammer nahm und einen herrlichen, dicken, rotbackigen Apfel auslas, den sie ihm einhändigte, daran den salbungsvollen Hinweis knüpfend, wie Verdienst und ehrliche Anstrengung den Genuß einer Gabe erhöhe, die man als Lohn der Tugend erworben, nicht durch sündige Tücke. Und während sie die Predigt mit einer ebenso passend als glücklich gewählten Schriftstelle schloß, hatte Tom hinterrücks ein Stückchen Kuchen stibitzt, um sich den Lohn der Tugend wie der Errungenschaft sündiger Tücke ganz gleich gutschmecken zu lassen.

Dann schlüpfte er hinaus und sah gerade, wie Sid die Außentreppe, die zu dem Hinterzimmer des zweiten Stocks führte, hinaufhuschte, Erdklumpen waren zur Hand und im Moment war die Luft voll davon. Sie flogen um Sid wie ein Hagelwetter, und ehe noch Tante Polly ihre überraschten Lebensgeister sammelte oder zu Hilfe kommen konnte, hatten sechs oder sieben ihr Ziel getroffen, Sid brüllte und Tom war über den Zaun gesetzt und verschwunden. Es gab freilich auch ein Tor, aber für gewöhnlich konnte es Tom aus Mangel an Zeit nicht benutzen. Nun hatte seine Seele Ruhe, jetzt hatte er abgerechnet mit Sid und ihm die Verräterei mit dem schwarzen Zwirn heimgezahlt. Der würde ihn nicht so bald wieder in Ungelegenheiten zu bringen wagen!

Tom schlich auf Umwegen hinter dem Stalle, um Haus und Hof herum, bis er außer dem Bereich der Gefangennahme und Abstrafung war, dann setzte er sich eiligst nach dem Hauptplatz des Dorfes in Trab, wo der Verabredung gemäß zwei feindliche Heere sich eine Schlacht liefern sollten. Tom war General der einen Armee, Joe Harper, sein Busenfreund, General der zweiten. Die beiden ruhmgekrönten, großen Anführer ließen sich aber nicht zum Fechten in Person herbei; bewahre, ganz nach berühmten Mustern sahen sie nur von ferne zu, von irgendeiner Erhöhung herab und leiteten die Bewegungen der kämpfenden Heere durch Befehle, welche Adjutanten überbringen mußten. Nach langem, heißem Kampfe trug Toms Schar den Sieg davon. Nun wurden die Toten gezählt, Gefangene ausgetauscht, die Bedingungen zum nächsten Streit vereinbart und der Tag für die daraus notwendig sich ergebende Schlacht festgesetzt, die Armeen lösten sich auf und Tom marschierte allein heimwärts.

Als er am Hause des Bürgermeisters vorüberkam, sah er ein fremdes kleines Mädchen im Garten, ein liebliches, zartes, blauäugiges Geschöpf mit langen gelben, in zwei dicke Schwänze geflochtenen Haaren, weißem Sommerkleid und gestickten Höschen. Der ruhmgekrönte Held fiel ohne Schuß und Streich. Eine gewisse Anny Lorenz verschwand aus seinem Herzen, ohne auch nur einen Schatten ihrer selbst zurückzulassen. Tom hatte seine Liebe zu besagter Anny für verzehrende Feuersglut gehalten und nun war es nur noch ein leise flackerndes, verlöschendes Flämmchen, Monate lang hatte er um sie geworben, vor einer Woche erst hatte sie ihm ihre Gegenliebe gestanden, sieben Tage lang war er der stolzeste, glücklichste Junge des Städtchens gewesen und jetzt – im Umdrehen hatte sie sich empfohlen aus seinem Herzen, wie irgendein fremder Besuch, dessen Zeit um ist.

Mit verstohlenen Blicken verfolgte Tom den neu auftauchenden Engel, bis er bemerkte, daß sie ihn entdeckt hatte. Jetzt tat er, als ob er sie gar nicht sähe und begann nach echter Jungenart »sich zu zeigen«, in der Absicht, ihre Bewunderung zu erringen. Eine Zeitlang trieb er es so fort, aber mitten in irgendeiner halsbrecherischen, gymnastischen Leistung schielte er seitwärts und bemerkte, daß die Holde sich dem Hause zuwandte. Er brach ab und sprang auf den Zaun zu, voller Bedauern und in Hoffnung, daß sie doch noch ein wenig länger verweilen werde. Einen Moment blieb sie auf den Stufen stehen, näherte sich dann aber schnell der Türe. Tom stieß einen schweren, schallenden Seufzer aus, als ihr Fuß die Schwelle berührte, im selben Moment aber erhellte sich sein melancholisches Antlitz, – sie hatte ein Stiefmütterchen über den Zaun geworfen im Augenblick, da sie verschwand. Der Junge rannte drauflos, blieb aber einen oder zwei Fuß von der Blume entfernt stehen, beschattete die Augen mit der Hand und tat, als habe er, weit da unten in der Straße, etwas von großem Interesse entdeckt. Gleich danach raffte er einen Strohhalm vom Boden auf, um ihn auf der Nase zu balancieren, indem er den Kopf weit zurückwarf, und als er sich dabei hin und her bewegte, rückte er der Blume immer naher. Schließlich berührte er sie mit seinem nackten Fuße, seine geschmeidigen Zehen umschlossen dieselbe, auf einem Bein hüpfte er fort mit dem eroberten Schatze und verschwand um die nächste Ecke. Aber nur für eine Minute, – nur bis er die Blume an seinem Herzen geborgen hatte oder auch an seinem Magen vielleicht, – Tom war nicht sehr bewandert in der Anatomie und jedenfalls nicht allzu kritisch.

Jetzt kehrte er zu seinem früheren Standorte zurück und trieb sich am Zaun herum, bis die Nacht hereinbrach, immer von Zeit zu Zeit seine Kunststücke loslassend. Nie blonde Schöne aber zeigte sich nicht wieder und Tom tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie sicher hinter irgendeinem der Fenster gestanden habe und seine Aufmerksamkeiten also nicht auf dürren Boden gefallen seien. Endlich bequemte er sich widerstrebend zum Abzug, Kopf und Sinn voll wunderbarer Visionen.

Wahrend des ganzen Abendessens war er in solch gehobener Stimmung, daß seine Tante nicht klug daraus wurde, »was zum Kuckuck in den Jungen gefahren sei!« Nen Ausputzer, den er für Sids Beschießung mit Erdklumpen erhielt, nahm er mit Lammesgeduld entgegen und schüttelte ihn ebenso schnell wieder ab. Er probierte, der Tante vor der Nase weg Zucker zu stibitzen, und kriegte dafür ordentlich auf die Pfoten. Vorwurfsvoll meinte er:

»Tante, du klopfst doch den Sid nicht, wenn er Zucker nascht.«

»Der quält mich auch nicht so wie du. Was, ei wenn ich dir nicht aufpaßte, du stecktest den ganzen Tag in der Zuckerdose!«

Gleich danach wollte sie in der Küche etwas holen und ging hinaus. Sid, im Gefühl seiner Unstrafbarkeit, langte nach der Zuckerdose mit einer Überhebung, die Tom unerträglich dünkte. Aber weh! – Sids Hand zitterte, die Dose entglitt den haltenden Fingern, fiel zu Boden und zerbrach. Tom triumphierte, – triumphierte so, daß er sich bezwang, seine Zunge im Zaum hielt und atemlos, erwartungsvoll schwieg. Er gelobte sich innerlich, kein Wort zu sagen, selbst wenn die Tante wieder hereinkäme, sondern sich ganz stille zu verhalten, bis sie frage, wer das Unheil angestellt, dann würde er berichten, und welche Wonne, wenn der geliebte »Musterjunge« auch einmal was Ordentliches abkriegte. Er platzte beinahe vor Ungeduld und konnte sich kaum auf dem Stuhl halten, als nun die alte Dame hereintrat und sprachlos, Wutblitze unter ihrer Brille hervorschleudernd, vor den Trümmern stand. »Jetzt kommt’s, jetzt geht’s los«, frohlockte er. Im nächsten Moment fühlte er sich gepackt, zu Boden geworfen und schon hob sich die strafende Faust zum zweiten- und drittenmal über seinem südlichen Rückenende, ehe er, sprachlos vor Überraschung und Entrüstung, Worte fand:

»Laß los, Tante, was haust du mich denn? Sid hat’s ja getan!«

Tante Pollys erhobene Faust sank noch einmal mechanisch mit klatschendem Schlag, dann hielt sie ein, erstaunt, verwirrt, während Tom, eines Ausbruchs tröstenden, selbstanklagenden Mitleids gewärtig, vorwurfsvoll zu ihr emporstarrte. Aber alles, was sie sagte, als sie zu Atem kam, war:

»Na, Gott weiß, an dir ist kein Schlag verloren, das ist mein Trost. Nimm’s einstweilen als Abschlagszahlung, hörst du!«

Danach aber empfand sie doch Gewissensbisse und ihr gutes, weiches Herz sehnte sich, den armen, unschuldig Gezüchtigten ein liebevolles Wort zu sagen. Aus Rücksichten der Disziplin aber enthielt sie sich jeder Zusprache, die ihr doch nur als ein Eingeständnis des Unrechts ausgelegt worden wäre. So schwieg sie denn und ging bekümmerten Herzens ihrer Arbeit nach. Tom schmollte in einem Winkel und steigerte seine Leiden ins Unendliche. Er wußte, daß die Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag und dies Bewußtsein tat ihm wohl bis in die kleine Zehe. Er wollte sich um niemanden, niemanden mehr kümmern. Er fühlte, wie ihn von Zeit zu Zeit ein sehnsüchtiger, tränenverschleierter Blick traf, er aber tat, als merke er nichts und brüte nur stumm vor sich hin. Er sah sich krank, sterbend auf seinem Bette hingestreckt. Die Tante beugte sich über ihn und flehte händeringend um ein einziges, kleines, armes Wort der Vergebung. Er aber wandte das Gesicht ab, stumm, tränenlos und starb, – starb und das Wort der Vergebung blieb ungesagt. Was würde sie dann tun? – Oder er sah sich, wie man ihn vom Fluß zurückbrachte, tot, mit triefenden Haaren, blassem, stillem Antlitz, endlich Ruhe und Frieden im armen, gequälten Herzen – für immer. Wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihre Tränen stromweise fließen und sie Gott anrufen, ihren armen Jungen wieder lebendig zu machen, den sie auch nie, nie wieder mißhandeln wolle. Er aber läge da, kalt und still, ein armer Märtyrer, dessen Leiden zu Ende. – So arbeitete er sich dermaßen in Jammer und Elend hinein, daß er beinahe in Schluchzen ausgebrochen wäre und am Zurückdrängen desselben fast erstickte, Tränen standen in seinen Augen und alles erschien ihm in einem wässerigen Nebel. Wenn er mit den Augen zwinkerte, kamen die Tropfen langsam die Nase herab und träufelten von der Spitze hernieder. Dabei fühlte er sich so wohl in seinem Schmerz, daß er denselben ängstlich vor der profanen Lust, dem lärmenden Getriebe der Welt da draußen behütete. Als sein Bäschen Mary, die acht Tage auf dem Lande zu Besuch gewesen war, glückselig nach der »langen Abwesenheit« zur einen Tür hereintanzte, wie lauter Licht und Sonnenschein, entschlüpfte Tom in Nebel und Wolken gehüllt durch die andere. Weit in die Einsamkeit wanderte er hinweg. Ein Floß lockte ihn; er setzte sich darauf und starrte in die Wellen des Stromes. Wenn er nur auf einmal tot und ertrunken sein könnte, ohne etwas davon zu wissen, ohne erst all das viele Wasser zu schlucken! Dann dachte er an seine Blume, entnahm sie seinem Busen, verwelkt, zerknittert und ihr Anblick erhöhte noch sein wonniges Schmerzgefühl. Ob sie ihn wohl bemitleiden würde, wenn sie es wüßte? Oder würde auch sie sich abwenden wie die übrige schnöde Welt? Wieder verlor er sich in einem Labyrinth von Träumen und erhob sich zuletzt seufzend, um in die Dunkelheit hineinzuwandern. Um zehn, halb elf schlich er die stille Straße hinunter, in der die vergötterte Unbekannte wohnte. An ihrer Tür hielt er an. Kein Laut traf sein lauschendes Ohr, nur aus einem Fenster des zweiten Stockes kam der trübe Schein eines einsamen Talglichts. War dort der geheiligte Raum, der sie umschloß? Er kletterte über den Zaun und stahl sich lautlos bis unter jenes Fenster. Voll Rührung schaute er hinan, dann streckte er sich der Länge lang auf den Boden aus, die Hände, welche die verwelkte Blume umschlossen, auf der Brust faltend. So wollte er sterben, – draußen in der kalten Welt, kein Dach über seinem heimatlosen Haupte, keine Freundeshand, die ihm den Todesschweiß von der Stirne wischte, kein liebendes Antlitz, das sich mitleidsvoll über ihn beugte, wenn der letzte, große Kampf nahte. So sollte sie ihn sehen, wenn sie das Fenster öffnete, um dem jungen Morgen zuzulächeln und ach – würde sie wohl dem Toten eine Träne weihen, einen Seufzer hauchen über den leblosen stillen Rest, der alles war, was von dem frohen, jugendfrischen, vor der Zeit in der Wurzel geknickten, jungen Leben geblieben?

Das Fenster öffnete sich. Die schrille Stimme einer Magd entweihte die geheiligte Stille und eine Sündflut von Wasser durchtränkte die Gebeine des dahingestreckten Märtyrers.

Prustend und keuchend sprang unser Held auf und schüttelte sich heftig. Ein Wurfgeschoß durchschwirrte die Luft, untermischt mit einem halblauten Fluche, worauf ein klirrendes Splittern von Glas folgte. Eine kleine, undeutliche Gestalt kletterte eiligst über den Zaun und schoß in die Dunkelheit hinein.

Nicht lange danach, als Tom beim Schein eines Lichtstümpchens seine durchnäßten Kleider besichtigte, erwachte Sid. Wenn der nun vorher die Absicht gehabt hatte, allerlei unliebsame Anspielungen zu machen, so besann er sich jetzt wohlweislich eines besseren und hielt Frieden, – es blitzte Gefahr in Toms Auge. Dieser aber kroch ins Bett ohne weitere unangenehme Förmlichkeiten wie Waschen oder Beten, wovon sich Sid im Geiste getreulich Notiz machte, und die Stille der Nacht umfing das Brüderpaar.

Dreißigstes Kapitel.

Das Geheimnis der Höhle. – Der Schatz.

Dreißigstes Kapitel.

Innerhalb weniger Minuten hatte sich die Neuigkeit im Städtchen verbreitet und bald war ein Dutzend Boote voll Menschen unterwegs nach der Höhle, denen kurz nachher die vollgedrängte Dampffähre folgte. Tom Sawyer befand sich mit dem Kreisrichter in einem Boote. Als man die schwere Türe der Höhle öffnete, bot sich in der düsteren Dämmerung des Ortes ein trauriger Anblick dar. Da lag der Indianer-Joe zur Erde hingestreckt, tot, mit dem Antlitz dicht am Spalt der Türe, als ob seine Augen bis zum letzten Moment sehnsüchtig auf das Licht und die Lust der schönen Gotteswelt da draußen geheftet gewesen wären. Tom war tief ergriffen, wußte er doch aus eigener Erfahrung, was der Schurke hatte leiden müssen. Aber obgleich sein Mitleid rege war, empfand er doch zugleich ein überquellendes Gefühl der Begeisterung und Erleichterung, welches ihm nun erst offenbarte, bis zu welchem Grade Furcht und Angst auf ihm lasteten und ihn bedrückten, seit jenem Tage, an welchem er vor Gericht seine Stimme gegen den blutgierigen Mörder erhoben hatte.

Das Dolchmesser des Indianer-Joe lag dicht bei ihm; die Klinge war entzweigebrochen. Der große Grundbalken der Türe war mit unsäglicher Mühe von dem Messer bearbeitet und schließlich durchschnitten worden; aber es war vergebliche Arbeit, denn der Felsen bildete von außen eine natürliche Schwelle, an der das schwache Messer zerschellen mußte. Selbst ohne dies steinerne Hindernis würde die Arbeit umsonst gewesen sein, denn er hätte seinen Körper doch nimmermehr unter der Türe durchzwängen können, und das wußte der Indianer-Joe wohl. Trotzdem hatte er weitergeschnitzt und gebohrt, nur um etwas zu tun, nur um die gräßlich langsam schleichende Zeit hinzubringen, um seine gemarterten Lebensgeister zu irgendeiner Tätigkeit zu zwingen. Gewöhnlich konnte man eine Anzahl Lichtstümpfchen, welche von den jeweiligen Besuchern zurückgelassen worden waren, in den Rissen und Spalten dieser Vorhalle stecken sehen, heute war nichts davon zu erblicken. Der Eingesperrte hatte sie wohl alle zusammengesucht und gegessen. Einiger Fledermäuse mußte er sich zu demselben Zwecke bemächtigt haben, wie aus den herumliegenden Flügeln ersichtlich war. Der Unglückliche war buchstäblich Hungers gestorben. Nicht weit von ihm war im Lauf der Jahrhunderte ein Tropfsteingebilde vom Boden aufgewachsen, genährt von dem fallenden Tropfen eines oben niederhängenden Stalaktiten. Der Indianer-Joe hatte den Tropfstein abgebrochen und auf den Stumpf einen Stein gelegt, in den er eine kleine Vertiefung gehöhlt, um den kostbaren Tropfen aufzufangen, der einmal in zwanzig Minuten mit der Regelmäßigkeit eines Uhrpendels herabfiel – im ganzen ein Teelöffel voll in vierundzwanzig Stunden. Jener Tropfen fiel schon, da die Pyramiden neu waren, er fiel, als Troja sank, als Rom gegründet wurde, als man Christum kreuzigte, als Wilhelm der Eroberer das britische Reich schuf, als Kolumbus segelte, als der Unabhängigkeitskrieg ausbrach. Jener Tropfen fällt noch jetzt und er wird weiter fallen, wenn alle diese Dinge durch das Tageslicht der Geschichte in die Dämmerung der Sage, in die tiefe Nacht der Vergessenheit gesunken sein werden. Ob alles hienieden seinen Zweck, seine Bestimmung hat? Mußte jener Tropfen so geduldig fallen, fünftausend Jahre hindurch, um zur betreffenden Stunde für das Bedürfnis jener vergänglichen, menschlichen Eintagsfliege bereit zu sein? Wird er in zehntausend Jahren irgendeine andere Mission zu erfüllen haben? Wer das wissen könnte! Doch, was liegt daran? – Viele, viele Jahre sind verflossen, seit jener Unglückliche den Stein höhlte, um den kostbaren Tropfen aufzufangen, doch bis zum heutigen Tage betrachtet jeder Besucher der Höhle am längsten diesen Stein und den niederfallenden Tropfen. Der »Becher des Indianer-Joe« nimmt unter den Wundern der Höhle die erste Stelle ein; selbst »Aladdins Palast« kann nicht damit konkurrieren.

Dicht beim Ausgang der Höhle wurde der Indianer-Joe beerdigt. Zu dem Begräbnis strömten die Leute aus allen Himmelsgegenden, auf sieben Meilen in die Runde, zu Boot und zu Wagen herbei. Sie hatten ihre Kinder und allerlei Lebensmittel mitgenommen, und gingen schließlich so befriedigt von dannen, als ob Joe gehängt worden wäre.

Am darauffolgenden Morgen nahm Tom seinen Freund Huck an einen heimlichen Ort, um etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen. Huck hatte inzwischen Toms Abenteuer erfahren, dieser meinte aber, es sei noch etwas dabei, was er sicher nicht gehört hätte und darüber eben wolle er reden. Hucks Gesicht nahm eine betrübte Miene an; er sagte: »Weiß schon, was du willst, Tom! Bist in ›Nummer Zwei‹ gewesen und hast nur Schnaps gefunden, gelt? Es hat mir’s niemand gesagt, aber wie ich von der Schnapsgeschichte hörte, wußte ich gleich, daß du es gewesen bist, Geld hast du keins gefunden, das weiß ich, hättst’s mich sonst wissen lassen. Na, Tom, ich hatte immer so eine Ahnung, daß wir am Ende mit leeren Händen ausgehen.«

»Aber, Huck, ich hab kein Wort über den Gastwirt gesagt! In seiner Schenke war ja noch alles in Ordnung, als ich am Samstag zum Picknick ging. Weißt du nicht mehr? Du hast ja die Nacht dort wachen sollen!«

»Weiß Gott, ja. Mir kommt’s wie ’ne Ewigkeit vor, ’s war in derselben Nacht, als ich dem Indianer-Joe da hinauf hinter den Gartenzaun der Frau Douglas nachgeschlichen bin.«

»Du bist ihm nachgeschlichen?«

»Ja, aber du hältst reinen Mund drüber, hörst du? Der Kerl könnte gute Freunde hinterlassen haben, und die möcht ich nicht auf mich hetzen. Wenn ich nicht gewesen war, war der Schuft jetzt in Texas oder Gott weiß wo.«

Huck teilte nun Tom im Vertrauen sein ganzes Abenteuer mit, von dem dieser nur ein Bruchstück durch den alten Walliser gehört hatte.

»Na,« schloß dann Huck, zur Hauptfrage zurückkommend, »und wer den Schnaps in ›Nummer Zwei‹ausgehoben hat, der hat auch das Geld, soviel ist sicher! Wir können uns den Mund wischen!«

»Huck, das Geld war gar nie in ›Nummer Zwei‹.«

»Was?« Huck starrte Tom ins Gesicht, »Tom, bist du am End gar dem Schatz nochmals auf der Spur?«

»Huck, – er ist in der Höhle!«

Hucks Augen glänzten.

»Sag’s noch einmal, Tom.«

»Das Geld ist in der Höhle!«

»Tom, – Herrgott im Himmel noch einmal, – ist’s Scherz oder Ernst?«

»Ernst, Huck, so ernst, wie nur was sein kann im Leben. Willst du mitkommen und ’s herausholen?«

»Na und ob! Das heißt – wenn’s wo liegt, wo wir’s holen können und den Weg wieder herausfinden.«

»Dafür steh ich dir!«

»Woher glaubst du aber, daß das Geld –«

»Wart nur, bis du dort bist. Finden wir es nicht, dann schenk ich dir meine Trommel und alles, was ich sonst noch hab, so gewiß wie –«

»Ist ’n Wort. Wann also?«

»Gleich jetzt, wenn du willst. Bist du stark genug?«

»Ist’s weit drin in der Höhle? Bin jetzt erst drei Tage wieder ein wenig auf meinen Spazierhölzern; ich glaub, weiter als ’ne Meile tun sie’s noch nicht, Tom.«

»Auf dem gewöhnlichen Weg sind’s freilich ungefähr fünf Meilen, aber man kann gewaltig abschneiden, auf einem Weg, den ich allein weiß. Ich bringe dich im Boot an die Stelle und du sollst keinen Finger dabei rühren.«

»Na, dann gleich los, Tom.«

»Schon recht, wir brauchen aber erst Brot und Fleisch und unsre Pfeifen, ein paar kleine Säcke und einen Knäuel Schnur, dann ’n paar von den neumodischen Dingern, die sie Zündhölzer nennen. Ich sag dir, ich wäre gottfroh gewesen, wenn ich neulich einige gehabt hätte, als ich so in der Klemme saß.«

Kurz nach Mittag »liehen« sich die Jungen ein kleines Boot von einem Manne, der gerade nicht daheim war, und machten sich alsbald auf den Weg. Als sie ein paar Meilen unterhalb der »Höhlenbucht« waren, sagte Tom: »Siehst du, Huck, die ganze steile Uferstrecke von der Höhlenbucht‘ an bis hierher ist überall gleich – kein Haus, kein Wald, nur Gestrüppe; aber sieh, dort oben der helle Fleck, wo ein Erdrutsch gewesen sein muß, das ist mein Merkzeichen. Jetzt landen wir.«

Und sie landeten.

»Wo wir jetzt stehen, Huck, könntest du mit ’ner Angelrute das Loch berühren, durch das wir herausgekrochen sind. Such mal, ob du’s finden kannst.«

Huck suchte überall herum, fand aber nichts. Stolz schritt Tom auf ein dichtes Gesträuch von Sumachbüschen zu und sagte:

»Hier ist’s! Sieh dir’s an, Huck, ’s ist das nettste Loch im ganzen Lande. Daß du aber den Mund hältst drüber. Lang schon hab ich mal ’n Räuber sein wollen, hab aber dazu so was gebraucht wie das Loch hier, nur wollt sich’s eben nicht finden lassen. Jetzt hab ich’s und wir sind fein still davon, sagen’s nur dem Joe Harper und dem Ben Rogers, denn wir müssen doch ’ne ganze Bande haben, sonst hat das Ding keinen Schick, Tom Sawyers Bande, ’s lautet famos, gelt, Huck?«

»Das tut’s, Tom, das tut’s weiß Gott! Und wer wird beraubt?«

»Na, jeder. Wir lauern eben den Leuten auf, so macht man’s.«

»Und töten sie?«

»Nee – immer nicht! Sperren sie in die Höhle, bis sie sich ranzionieren.«

»Ranzion – was? Was heißt denn das?«

»Na, Geld geben! Ihre Freunde müssen alles zusammenkratzen, was sie können, und wenn die Summe, die man verlangt, nach Jahresfrist nicht beisammen ist, dann bringt man die Gefangenen um. So wird’s gewöhnlich gemacht. Nur die Weiber läßt man leben. Die sperrt man ein, aber man tötet sie nicht. Die sind immer schön und reich und entsetzlich furchtsam. Man nimmt ihnen die Uhren und ihre anderen Sachen, zieht aber immer den Hut vor ihnen und ist höflich. Niemand ist so höflich, wie die Räuber, das kannst du in jedem Buch lesen. Na, die Weiber, die lieben einen dann, und wenn sie erst mal zwei, drei Wochen in der Höhle gewesen sind, hören sie auf zu weinen und man kann sie schließlich nicht wieder loswerden. Wenn man sie hinaustreiben wollte, würden sie flugs kehrtmachen und zurückkommen. So steht’s in allen Büchern.«

»Na, das laß ich mir gefallen, ’s ist noch besser, als Seeräuber sein.«

»In einer Art ist’s freilich besser, ’s ist nicht so weit von Hause und näher beim Zirkus und all den Sachen.«

Jetzt war alles bereit und die Jungen schlüpften in das Loch, Tom voran. Sie krochen mühsam bis zum anderen Ende des kleinen Stollens, befestigten dann ihre Leine und drangen weiter vor. Wenige Schritte brachten sie zu der Quelle, und Tom fühlte sich von einem kalten Schauder überrieselt. Er zeigte Huck das übriggebliebene Dochtrestchen, das mit einem Klümpchen Lehm an der Felswand befestigt war, und beschrieb, wie er und Becky verzweifelnd dem letzten Aufflackern und Erlöschen der Flamme zugesehen.

Die Jungen sprachen jetzt nur noch im Flüsterton, denn die Stille und Trostlosigkeit des Orts bedrückte ihre Stimmung, Sie schritten weiter und kamen an jenen anderen Gang, der an dem vermeintlichen »Abgrund« endete. Beim Kerzenschein stellte sich indessen heraus, daß hier kein unergründlicher Abgrund, sondern nur eine steile Lehmwand von zwanzig bis dreißig Fuß Tiefe war. Tom flüsterte:

»Jetzt will ich dir was zeigen, Huck.«

Er hob die Kerze hoch und sagte:

»Sieh mal so weit um jene Ecke als du kannst. Siehst du was? Dort, an dem großen Felsblock da drüben, – mit Kerzenrauch geschwärzt?«

»Tom, ’s ist ein Kreuz

»Nun, und wo ist Nummer Zwei? Unter dem Kreuz, he? Grad dort Hab ich den Indianer-Joe gesehen, wie er seine Kerze in die Höhe hob. Huck!«

Huck starrte eine Weile auf das geheimnisvolle Zeichen und hauchte dann mit zitternder Stimme:

»Tom, laß uns machen, daß wir fortkommen!«

»Was, und den Schatz im Stich lassen?«

»Ja, lieber. Dem Indianer-Joe sein Geist treibt sich gewiß hier herum.«

»Bewahre, Huck, hier nicht! Der spukt an der Stelle, wo der Kerl gestorben ist, am Ausgang drüben – fünf Meilen von hier!«

»Nee, Tom, das glaub ich nicht. Der spukt bei seinem Geld herum. Ich weiß, wie’s Geister machen, und du weißt’s auch!«

Tom begann zu überlegen, daß Huck am Ende recht haben könne. Böse Ahnungen stiegen in ihm auf. Plötzlich kam ihm ein erlösender Gedanke.

»Denk doch nach. Huck, wir sind alle beide Narren! Wie kann denn ein Geist da herumspuken, wo ein Kreuz ist!«

Das war ins Schwarze getroffen.

»Tom, daran hab ich gar nicht gedacht. Aber so ist’s. Das Kreuz ist ’n Glück für uns. Wir wollen nun mal da hinabklettern und nach der Kiste schauen.«

Tom ging voraus, indem er während des Ansteigens rohe Stufen in die Lehmwand schnitt. Huck folgte. Vier Gänge führten aus der kleinen Höhle, in welcher der Felsblock stand. Drei davon untersuchten die Jungen ohne jeden Erfolg. Sie fanden einen kleinen Schlupfwinkel, in dem ein Bündel wollener Decken lag, dazu ein alter Hosenträger, ein Stück Schinkenschwarte und die rein abgenagten Knochen von zwei oder drei Hühnern. Die Goldkiste aber war nirgends zu erblicken. Die Jungen durchsuchten alles und durchsuchten ’s noch einmal, umsonst! – Tom sagte:

»Es hieß unter dem Kreuz. Hier sind wir am nächsten darunter, ’s kann doch nicht unter dem Felsen selber sein, der sitzt fest auf dem Grunde auf, was nun?«

Wieder suchten sie überall herum und setzten sich dann entmutigt nieder. Huck wußte nichts weiter vorzuschlagen.

Nach einer Weile sagte Tom:

»Sieh mal her, Huck, da sind Fußspuren und Talgtropfen im Lehm auf dieser Seite des Felsens und zwar nur hier. Das hat was zu bedeuten, am Ende liegt das Geld doch unter dem Felsen. Ich grab mal hier im Lehm nach.«

»’s ist kein dummer Gedanke, Tom«, erwiderte Huck lebhaft.

Toms Messer war im Augenblick zur Hand und er hatte kaum vier Zoll tief gegraben, als er auf Holz stieß.

»Na, Huck! Hörst du das‘?«

Huck begann jetzt ebenfalls zu wühlen und zu kratzen. Bald waren ein paar Bretter bloßgelegt und weggenommen. Diese hatten eine natürliche Spalte verborgen, die unter den Felsen führte. Tom kroch hinein und hielt seine Kerze soweit hinunter, als er konnte, vermochte aber das Ende des Spaltes nicht zu sehen. Er schlug daher vor, weiter zu forschen, bückte sich und kroch vorwärts; der schmale Spalt führte allmählich nach unten. Er folgte dem sich windenden Lauf erst nach rechts und dann nach links, Huck auf seinen Fersen. Als Tom wieder um eine scharfe Wendung bog, rief er plötzlich:

»Herr, du meine Güte, Huck sieh hier!«

Es war die Goldkiste, die dastand, gewiß und wahrhaftig, in einer schmucken kleinen Höhle, zusamt einem leeren Pulverbeutel, ein paar Gewehren in Lederhülsen und einem alten Gürtel, alles durchnäßt von niedersickernden Wassertropfen.

»Gefunden, endlich gefunden!« jubelte Huck, indem er mit den Händen in den funkelnden Münzen wühlte. »Jetzt sind wir aber reich, Tom!«

»Ich hab sicher drauf gezählt, Huck, und doch ist’s fast zu schön, um wahr zu sein. Aber haben tun wir den Schatz, soviel ist sicher. Laß uns weiter keine Zeit verlieren jetzt, sondern die Geschichte flink in Sicherheit bringen. Zeig mal her, ob ich die Kiste heben kann.«

Diese wog vielleicht fünfzig Pfund. Tom konnte sie nur mit Mühe heben, an ein Fortschaffen war nicht zu denken.

»Dacht mir’s wohl,« sagte er, »damals im Gespenster-Haus trugen die Kerle ziemlich schwer dran, – hab’s gleich bemerkt. Gut, daß ich die kleinen Säcke mitgenommen habe.«

Das Geld war bald in die Säckchen verteilt und die Jungen trugen es hinauf nach dem Felsblock mit dem Kreuze.

»Jetzt wollen wir die Gewehre und das andere Zeug noch holen«, schlug Huck vor.

»Bewahre, die lassen wir schön dort. Das können wir alles wundervoll brauchen, wenn wir erst Räuber sind. In der Höhle feiern wir dann unsere Orgien, ’s ist dort grad wie gemacht für Orgien!«

»Was ist denn das – Orgien?«

»Was weiß ich? Aber Räuber halten immer Orgien und das müssen wir natürlich auch tun. Vorwärts, Huck, wir müssen schnell machen, sind schon zu lange hier gewesen, ’s wird wohl schon spät sein, hungrig bin ich auch; aber wir wollen doch erst essen und rauchen, wenn wir im Boot sind.«

Kurz danach traten sie aus den Sumachbüschen hervor, schauten vorsichtig nach allen Seiten aus, sahen, daß die Luft rein war und saßen bald kauend und rauchend im Boote. Als eben die Sonne im Begriff stand unterzugehen, stießen sie ab. Tom ruderte in der stetig zunehmenden Dämmerung längs des Ufers hin, und lustig plaudernd landeten sie kurz nach Einbruch der Nacht.

»Jetzt, Huck,« rief Tom, »verstecken wir das Geld im Holzschuppen der Witwe Douglas, und morgen früh komm ich dann und wir zählen und teilen den Kram und suchen dann im Wald nach einem Platz, wo wir ihn sicher vergraben können. Du bleibst jetzt hier ruhig liegen und bewachst die Herrlichkeit, ich hol indessen geschwind Meister Taylors Handkarren. Bin gleich wieder da!«

Er verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Karren zurück, in welchen er die beiden Geldsäcke legte, ein paar alte Lumpen drauf warf und sich dann mit seiner Last auf den Weg machte. Am Haus des alten Walliser blieben die Jungen stehen, um einmal auszuruhen. Als sie eben weiter wollten, trat der Alte heraus und rief:

»Holla, wer ist da?«

»Huck und Tom Sawyer.«

»Schön, und nun schnell vorwärts, Jungens, alles wartet auf euch. Na, los, flink, lauft zu, ich will den Karren schon ziehen, her damit. Meiner Treu, der ist nicht so leicht, als er sein könnte. Backsteine drauf oder altes Eisen?«

»Altes Metall«, sagte Tom lakonisch.

»Dacht mir’s doch, dacht mir’s doch. Die hiesigen Jungens machen sich viel Arbeit und vertrödeln viel Zeit, um so altes Eisenzeug aufzutreiben, für das sie doch nur ein paar Pfennige bekommen in der Gießerei, viel mehr Zeit und Mühe, als sie brauchen würden, um ebensoviel mit ehrlicher Arbeit zu verdienen. Na, liegt mal so in der menschlichen Natur, läßt sich nicht ändern. Na nur flink, vorwärts, vorwärts!«

Die Jungen wollten wissen, weshalb solche Eile nötig sei.

»Fragt jetzt nicht lang, – nur zu, werdet’s schon sehen, wenn wir zur Witwe kommen.«

Huck fühlte böse Ahnungen in sich aufsteigen. Er war gewohnt, daß man ihn fälschlicherweise dummer Streiche bezichtigte.

»Herr Jones, ganz gewiß, wir haben nichts getan«, beteuerte er zaghaft.

Der Alte lachte herzlich.

»Wer weiß Huck, mein Junge, wer weiß? Bist du denn nicht gut Freund mit der Witwe?«

»O ja, jedenfalls ist sie freundlich mit mir gewesen!«

»Na – also! Weshalb hast du dann Angst?«

Huck war sich über die Frage noch nicht ganz klar geworden, als er sich schon mit Tom in den Salon der Frau Douglas hineingeschoben fühlte. Jones ließ den Karren an der Türe stehen und folgte ihnen.

Das Haus war strahlend hell erleuchtet, und jeder, der im Städtchen irgend etwas zu bedeuten hatte, war zugegen. Thatchers waren da und Haiders, Rogers, Tante Polly, Sid, Mary, der Pfarrer, der Redakteur und noch viele andere, und alle in festlichem Gewande. Frau Douglas empfing die Jungen so herzlich, wie man zwei so aussehende Menschenkinder empfangen konnte. Sie waren mit Lehm und Talgtropfen förmlich überzogen, Tante Polly wurde feuerrot vor Verlegenheit, legte die Stirn in drohende Falten und schüttelte vorwurfsvoll und mißbilligend ihr graues Haupt gegen Tom. Niemand aber konnte verlegener, beschämter sein, als die Jungen selber. Herr Jones sagte:

»Tom war noch nicht zu Hause; ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, ihn herbeizubringen, aber just vor meiner Haustüre stolpere ich dann über die beiden, und da hab ich sie eben mitgebracht, wie sie gingen und standen.«

»Und das war sehr recht«, bekräftigte die Witwe. »Kommt mit mir, Jungens!«

Sie nahm sie mit sich in ein Schlafzimmer und sagte:

»Jetzt wascht euch und zieht euch an. Hier sind zwei neue Anzüge, Hemden, Socken, alles vollständig. Die gehören dir, Huck, – nein, – keinen Dank weiter, – Herr Jones hat den einen gekauft und ich den anderen. Leihst Tom den einen heut abend, werden ja wohl beiden passen. Flink also hinein. Wir warten so lange. Kommt schnell herunter, wenn ihr euch genug gestriegelt habt.«

Und sie ging.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Nächtliche Expeditionen.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Am nächsten Morgen beim Erwachen erschienen Tom die Erlebnisse des verflossenen Tages wie ein böser, schwerer Traum. Er grübelte und sann, und je mehr er nachdachte und überlegte, desto mehr kam es ihm vor, daß er geträumt habe. So viel Geld auf einmal beisammen zu sehen, konnte ja gar nicht Wirklichkeit sein. In seinem bisherigen Leben hatte er nie mehr als fünfzig Dollars auf einem Brett vor sich gesehen. Tausende von Dollars aber auf einem Haufen, das überstieg seine ausschweifendsten Vorstellungen, selbst von verborgenen Schätzen.

Noch ganz benommen von seinen Hirngespinsten kleidete er sich an, schlang wie geistesabwesend sein Frühstück hinunter, und machte sich alsbald auf, Huck zu suchen und sich von ihm die Bestätigung zu holen, daß alles nur Traum und Schaum gewesen. Er fand diesen am Ufer des Flusses in einem Nachen, mit den Beinen über den Bootrand baumelnd und mürrisch vor sich hinstarrend.

»Morr’n, Huck.«

»Morr’n, Tom, Verdammtes Pech, das, mit der Hacke und Schaufel!«

Also war’s doch kein Traum, sondern greifbare, wirkliche Wirklichkeit! Tom erzählte Huck von seinen Gedanken diesen Morgen.

»Schöner Traum!« brummte der als Antwort, »hätt‘ was Niedliches werden können, wenn die Stiege nicht zusammengekracht war. Mir hat’s auch die ganze Nacht geträumt, aber nur von dem Teufel von Spanier und von seiner ›Nummer Zwei‹.«

In bezug auf diese rätselhafte Nummer ergingen sich die Jungen in allerhand Vermutungen. Schließlich kamen sie überein, es solle wohl die Nummer des Zimmers in irgendeiner Herberge bedeuten, und Tom machte sich auf den Weg, es auszukundschaften.

Nach einer halben Stunde kam er zu Huck zurück und erzählte diesem, daß von den beiden Wirtshäusern der Stadt wohl nur eins in Frage kommen könne, denn in »Nummer Zwei« des einen wohne schon seit lange ein allgemein bekannter und geachteter junger Mann. »Nummer Zwei« des anderen Wirtshauses dagegen sei selbst dem Sohn des Hauses ein Geheimnis. Der sage, es werde immer geschlossen gehalten und nur bei Nacht höre er zuweilen Geräusch und sehe Licht darin. Er habe immer gedacht, es müsse dort spuken.

»Das hab ich entdeckt, Huck,« schloß Tom ganz erregt seinen Bericht, »Das ist so gewiß die ›Nummer Zwei‹, die wir suchen, so gewiß, wie ich hier vor dir steh!«

»Wird wohl so sein, Tom. Was sollen wir aber tun?«

»Laß mich ’n bissel nachdenken.«

Und Tom dachte eine lange Weile nach, dann sagte er:

»Paß mal auf. Siehst du, die Hintertür von der ›Nummer Zwei‹ führt in den kleinen, engen Gang zwischen dem Wirtshaus und der alten Mausefalle von Ziegelbrennerei. Du kaperst nun alle Türschlüssel, die du irgend erwischen kannst, und ich nehm meiner Tante ihre, und in der ersten dunklen Nacht schleichen wir hin und probieren, ob einer paßt. Daß du dich fein nach dem Spanier umsiehst! Der sagt ja, er wolle kommen und herumschnüffeln wegen seiner Rache. Und wenn du ihn entdeckst, dann folgst du ihm und siehst, ob er nach meiner › Nummer Zwei‹ geht, wenn nicht, ist’s natürlich Essig! Also, heut abend! Bring nur brav Schlüssel mit!«

Am Abend waren Huck und Tom bereit zu ihrem Abenteuer. Sie trieben sich in der Nachbarschaft der Herberge herum, konnten aber nirgends etwas Verdächtiges erspähen. Um ungesehen das Experiment mit den Schlüsseln vornehmen zu können, war die Nacht viel zu hell, und so zog sich denn Tom bald nach zehn Uhr zurück, heimwärts, dem warmen Neste zu, während Huck, der etwas langer aushielt, gegen zwölf in einem leeren Zuckerfaß für die Nacht unterkroch.

Dienstag nacht verfolgte die Jungen derselbe Unstern, ebenso Mittwoch, Donnerstag endlich standen dicke Wolken am Himmel und versprachen eine schöne, dunkle Nacht, Beizeiten stellte sich Tom ein, bewaffnet mit der alten Blechlaterne seiner Tante und einem großen Handtuch, um dieselbe zu verhüllen. Er barg die Laterne in Hucks Zuckerfaß, und die Wacht begann. Eine Stunde vor Mitternacht wurde die Herberge geschlossen und ihre Lichter, die einzigen in der Nachbarschaft, ausgelöscht. Kein Spanier war gesehen worden. Niemand hatte den schmalen Gang auf der Rückseite des Hauses betreten oder verlassen. Alles schien dem Unternehmen günstig. Die schwärzeste Finsternis herrschte, und die Totenstille ringsum wurde nur hier und da durch fernes Donnerrollen unterbrochen.

Tom lief nach seiner Laterne, zündete sie an, hüllte sie fest in das Handtuch und die beiden Abenteurer tasteten sich durch die Finsternis nach dem Wirtshaus hin. Huck stand Schildwache und Tom schlich sich in den dunklen Gang hinein. Nun kam eine Pause unerträglich heimlichen, angstvollen Wartens, die auf Hucks Gemüt lastete, gleich einem erdrückenden Berge. Er begann sich heiß nach einem wieder auftauchenden Strahl der Laterne zu sehnen, der ihm zeigte, daß Tom noch am Leben sei.

Stunden schienen verflossen, seit Tom verschwunden war. Gewiß hatte er irgendwo das Bewußtsein verloren, war am Ende gar tot, vielleicht war ihm das Herz gebrochen vor Schreck und Aufregung. In seiner Angst rückte Huck dem Gäßchen näher und näher, den Kopf voll schrecklicher Befürchtungen und jeden Augenblick auf eine Katastrophe gefaßt, die ihm den Atem vollends benehmen würde. Viel Atem zum Wegnehmen blieb nicht übrig; er war kaum imstande, denselben fingerhutvollweise einzuziehen, und sein Herz mußte bei dem Tempo, in dem es schlug, baldigst ganz den Dienst versagen. Plötzlich blitzte ein Lichtstrahl auf, und Tom schoß keuchend an ihm vorüber.

»Fort,« schrie er, »fort, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Ein Wiederholen der Warnung war unnötig, einmal genügte. Huck rannte mit Riesenschritten davon, als ob es hinter ihm brenne, Tom hinterdrein. So stürzten die Jungen unaufhaltsam davon, bis sie den Schuppen eines alten, unbenutzten Schlachthauses erreichten, am unteren Ende des Ortes. Gerade, als sie unter dies Obdach geschlüpft waren, brach das Gewitter los und der Regen strömte nieder. Nachdem Tom zu Atem gekommen war, stöhnte er:

»Ach, Huck, ’s war gräßlich. Ich probierte erst zwei von den Schlüsseln, so leise ich konnte, die machten aber ’n solchen Lärm, daß mir übel und weh wurde vor Angst. Ich konnte sie auch gar nicht im Schloß umdrehen. Dann, ohne selber zu wissen, was ich tu, faß ich nach der Klinke, drücke und – auf springt die Tür. Sie war gar nicht verschlossen gewesen! Ich hinein, werf das Tuch von der Laterne und – Heiliger Gott!«

»Was – was war’s, Tom?«

»Huck! Ich trat fast auf ’ne Hand, und wie ich näher hinseh, ist’s dem Indianer-Joe seine.«

»Puh!« stöhnte Huck wortlos.

»Weiß Gott! Da lag er am Boden und schlief ganz fest, mit dem alten Pflaster über dem einen Aug und weit ausgestreckten Armen.«

»Um alles in der Welt, sprich, – was hast du denn da gemacht? Ist er aufgewacht?«

»Nee, der rührt sich nicht. Er muß betrunken gewesen sein. Ich greif nur flink nach meinem Tuch und stürz davon.«

»Ich hätt‘ nicht mehr an das Tuch gedacht, das wett ich.«

»Na, aber ich! Tante Polly hätt‘ mir ’nen feinen Tanz aufgespielt, wenn ich’s verloren hätt‘!«

»Hör du, Tom, hast du die Kiste gesehen?«

»Huck, nach der hab ich mich gar nicht umgeschaut, Hab keine Kiste und hab auch kein Kreuz gesehen. Nichts hab ich gesehen, als ’ne Flasche und ’nen Zinnbecher am Boden neben dem Indianer-Joe! Ja, zwei Fäßchen und viele Flaschen hab ich noch außerdem im Zimmer gesehen. Weißt du jetzt, was in dem Zimmer spukt?«

»Wieso?«

»Dickkopf! Schnaps spukt drin, Schnaps! Und der Wirt dort gehört zum Mäßigkeitsverein! Ob wohl alle die Mäßigkeitsvereinler so ’n Spukzimmer haben? He, Huck?«

»Wird wohl so sein! Wer hätt aber so was gedacht? Sag mal, du, Tom, war denn das nicht jetzt grad die richt’ge Zeit, um die Kiste auszuführen? Wenn der Indianer-Joe doch betrunken ist.«

»Ei, so versuch’s doch!«

Huck schauderte.

»Nee, lieber nicht!«

»Ich auch lieber nicht, Huck, Nur eine Flasche leer neben dem Kerl, das ist nicht genug. Ja, wenn’s drei gewesen wären, dann ließe sich weiter darüber reden!«

Eine lange Pause des Nachdenkens folgte. Dann sagte Tom:

»Paß mal auf, Huck. Ich mein, wir sollten das Ding gar nicht mehr probieren, bis wir sicher wissen, daß der Joe nicht drin ist. ’s ist zu gruselig! Wir passen jede Nacht auf, und einmal muß er doch ‚raus aus seinem Loch, dann wollen wir die Kiste schon kriegen, schneller als der Blitz.«

»Mir recht. Ich will jede Nacht wachen, die ganze Nacht durch, wenn du nur den Rest besorgen willst.«

»Gut, wollen’s so machen. Du brauchst dann nur zu kommen und vor unserem Haus zu miauen, und wenn ich schlaf, wirfst du mir ’ne Handvoll Kies ans Fenster, das wird mich schon wachkriegen!«

»Topp, ’s gilt!«

»Jetzt ist’s da draußen auch besser geworden, Huck, der Sturm hat aufgehört und ich muß heim. ’s muß schon bald Morgen sein. Du gehst noch mal hin und wachst, willst du?«

»Ich hab’s gesagt, Tom, daß ich’s tu, und ich tu’s auch! Und wenn’s ’n Jahr lang dauert, ich spuk jede Nacht in dem Gäßchen dort herum. Bei Tag schlaf ich und bei Nacht wach ich.«

»Schön. Aber wo wirst du schlafen?«

»Auf Ben Rogers Heuboden. Der hat nichts dagegen und Onkel Jakob, – weißt du, der alte Nigger, der im Hause ist – auch nicht. Dem hab ich schon oft ’s Wasser geschleppt, und er gibt mir manchmal was zu essen, wenn er selber was hat. ’s ist ’n guter Nigger, Tom. Der hat mich gern, weil ich nie tu, als ob ich was Besseres wär. Manchmal hab ich mich, weiß Gott, schon hingesetzt und mit ihm gegessen. Das brauchst du aber niemand zu sagen, Tom. Wenn einer so gräßlich hungrig ist, tut er manches, was er sonst für gewöhnlich nicht tät!«

»Na, also Huck, wenn ich dich bei Tag nicht brauch, laß ich dich schlafen und stör dich nicht weiter. Und wenn in der Nacht was los ist, springst du zu mir ‚rüber und miaust.«

  1. Unsere Geschichte spielt in der Zeit vor Aufhebung der Sklaverei.

Achtzehntes Kapitel.

Tante verzeiht.

Achtzehntes Kapitel.

Tom kam sehr verdrießlich zu Hause an, und die ersten Worte, mit denen ihn seine Tante begrüßte, zeigten ihm, daß hier nicht viel Trost für seinen Kummer zu holen sein werde.

»Tom, ich möchte dir wahrhaftig das Fell über die Ohren ziehen.«

»Ei, Tante, was hab ich denn getan?«

»Meiner Treu! Fragt der Bursch auch noch! Geh ich da hin zu der Harpern, der alten Einfaltspinselin, will ihr von deinem Traum erzählen und ihr beweisen, daß Träume gar kein Unsinn sind, und seh mir einer, lacht sie mir grad ins Gesicht und sagt, sie hab’s aus dem Joe herausgekriegt, daß du hier gewesen seist und alles selber gesehen und gehört habest an dem Abend. Ich denk, mich rührt der Schlag! Tom, was soll denn aus ’nem Jungen werden, der so was tun kann? Ich könnt mir meine letzten paar grauen Haare ausreißen, wenn ich dran denk, daß du mich hast hingehen lassen zu der Harpern, um mich lächerlich zu machen, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.«

Das zeigte Tom die Sache allerdings in einem anderen Lichte. Seine Pfiffigkeit vom Morgen war ihm wie ein guter Scherz erschienen, wie ein Geniestreich sogar. Jetzt kam ihm sein Verhalten erbärmlich und gemein vor. Er hing den Kopf, kein Wort der Entschuldigung wollte ihm einfallen. Endlich stammelte er:

»Tantchen, ich wollt, ich hätt’s nicht getan – ich hab aber wirklich nicht so dran gedacht.«

»Ach, Kind, du denkst ja nie. Denkst nie an die anderen, immer nur an dich und dein Vergnügen. Daran hast du wohl gedacht, den ganzen Weg von der Jacksoninsel hierher zu machen, nur um über uns und unseren Jammer zu lachen. Und daran hast du auch gedacht, deine alte Tante mit dem verlogenen Traum zum Narren zu machen, daran aber denkst du nicht, wie du uns Spott und Schande und Kummer ersparen kannst.«

»Tantchen, jetzt weiß ich, wie erbärmlich es von mir war, aber so hab ich’s nicht gemeint, weiß Gott, wahrhaftig nicht! Und dann bin ich auch nicht herübergeschwommen, um mich über euch lustig zu machen.«

»Warum sonst?«

»Nur um dir zu sagen, daß du dich nicht um uns sorgen solltest, da wir nicht ertrunken seien.«

»Tom, Tom, ich wäre die dankbarste alte Seele in der weiten Welt, wenn ich wirklich glauben könnte, du hättest den guten Gedanken gehabt. Aber so war’s gewiß nicht, Tom, so war’s nicht, und das weißt du auch selber, Tom.«

»Weiß Gott, Tante, so war’s, weiß Gott! Ei, ich will gleich tot umfallen, wenn’s anders war.«

»Oh, Tom, lüg nicht, – tu’s nicht, Kind. Es macht ja nur alles tausendmal schlimmer.«

»Es ist nicht gelogen, Tante, es ist die reine Wahrheit. Ich wollte nur nicht, daß du dich so grämen solltest, einzig und allein deshalb kam ich.«

»Ich gäb die ganze Welt drum, wenn ich das glauben könnte, – es würde fast alle deine Dummheiten aufwiegen, Tom. Ei, ich wollte gar nichts davon sagen, daß du so schlecht gewesen und davongelaufen bist, wenn ich das nur glauben könnte. Aber, Kind, Kind, es kann ja nicht sein, ’s geht gegen alle Vernunft; warum hättest du’s mir dann damals doch nicht gesagt und wärst so davongeschlichen?«

»Warum? Ja, siehst du, Tantchen, als ihr vom Trauergottesdienst und all dem spracht, da schoß mir der Gedanke durch den Kopf, zu kommen und uns unterdessen in der Kirche zu verstecken und ich war so voll davon, daß ich mir’s nicht verderben wollte. ’s war doch auch kapital, gelt? So drückte ich mich denn heimlich davon und steckte meine Rinde wieder ein.«

»Welche Rinde?«

»Ei, die Rinde, auf die ich geschrieben hab, daß wir als Piraten davongelaufen seien. Ich wollt jetzt, du wärst wach geworden, wie ich dich geküßt hab, wahrhaftig ich wollt’s!«

Der strenge Ausdruck im Gesicht der Tante ließ etwas nach, plötzliche Zärtlichkeit strahlte warm aus den treuen Augen.

» Hast du mich geküßt, Tom?«

»Natürlich.«

»Hast du’s wirklich getan, Tom?«

»Gewiß, Tante, gewiß und wahrhaftig!«

»Warum hast du mich geküßt, Tom?«

»Weil ich dich lieb hab und weil du da gelegen hast und geseufzt und gestöhnt, und das hat mir leid getan.«

Die Worte klangen wahr. Die alte Dame konnte ein Zittern in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken, als sie sagte:

»Küß mich noch einmal, Tom – und mach, daß du weg kommst, ’s ist Zeit zur Schule, du hast mich genug geärgert.«

Im Moment, da er weg war, stürzte sie zum Schrank und riß die traurigen Überreste der Jacke hervor, in der er Seeräuber gewesen. Dann stand sie still, drückte die Lumpen an ihre Brust und flüsterte:

»Nein, ich wag’s nicht. Armer Kerl, ich glaub, er hat gelogen, aber – es war so gut und lieb gelogen, ordentlich tröstlich für mein altes Herz. Ich hoffe, der Herr, – nein, ich weiß, der Herr wird ihm verzeihen, denn weiß Gott, diesmal hat mein Tom aus Gutherzigkeit geflunkert. Ich will auch gar nicht wissen, daß es geflunkert war, lieber seh ich gar nicht nach.«

So legte sie die Jacke weg und stand noch eine Minute sinnend davor. Zweimal streckte sie die Hand nach dem Kleidungsstück aus und zweimal zog sie dieselbe wieder zurück. Noch einmal wagte sie sich vor und sprach sich selber Mut zu mit dem Gedanken: Die Lüge war ja gut gemeint, von Herzen gut gemeint, es soll mich weiter nicht kümmern. Damit hatte sie die Hand in die Jackentasche versenkt. Einen Moment später las sie unter strömenden Tränen, was Tom auf jenes bewußte Rindenstück gekritzelt hatte und stammelte schluchzend:

»Jetzt könnt ich dem Jungen verzeihen und wenn er eine Million Sünden auf dem Gewissen hätte.«

Neunzehntes Kapitel.

Toms Edelmut.

Neunzehntes Kapitel.

In der Art und Weise, wie ihn Tante Polly küßte, lag etwas, das Tom wunderbar wohltat. Seine Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen und er fühlte sich urplötzlich wieder leichtherzig und froh. Er stürmte der Schule zu und hatte das Glück, unterwegs auf Becky zu stoßen. Da er sich immer von seiner augenblicklichen Stimmung leiten ließ, so rannte er ohne einen Moment der Überlegung auf sie zu und rief treuherzig:

»Becky, ich war heute Morgen ganz abscheulich gegen dich, ich will nie, nie wieder so sein, so lang ich lebe, nur sei wieder gut, willst du?«

Das Mädchen blieb stehen und sah ihm verächtlich ins Gesicht:

»Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, Herr Thomas Sawyer, wenn Sie mich in Zukunft mit Ihrer Gesellschaft verschonen wollten, ich werde nie wieder mit Ihnen reden.«

Sprach’s, warf den Kopf zurück und schritt stolz von dannen. »Herr« Thomas Sawyer war so starr vor Staunen, daß er nicht einmal Geistesgegenwart genug hatte zu einem »Wie Sie wünschen, Jungfer Patzig«, und erst dran dachte, als es zu spät war. So sagte er denn kein Wort, war aber nichtsdestoweniger in heller Wut. Er schlich nach dem Schulhof und wünschte nur, sie wäre ein Junge und er könnte sie durchbläuen für diese unerhörte Beleidigung. Als er gerade in ihre Nähe kam, schleuderte er ihr eine beißende Bemerkung ins Gesicht. Sie entgegnete im selben Ton und der Bruch war vollständig, Becky konnte in ihrem Racheeifer kaum den Beginn des Unterrichts erwarten, so brannte sie darauf, Tom seine Prügel für das verschmierte Buch erhalten zu sehen. Wenn sie je noch den Schatten eines Zweifels in sich verspürt hatte, ob sie Alfred Tempel nicht doch angeben wolle, so war derselbe durch Toms letzte Liebenswürdigkeit auf Nimmerwiederkehr verscheucht.

Das arme Ding – sie ahnte nicht, welch drohendes, Unheil über ihrem eigenen Haupte schwebte. Der Lehrer, Herr Dobson, ein Mann in mittleren Jahren, hegte einen übertriebenen, unerfüllbaren Ehrgeiz in der Brust. Der Traum seines Lebens war gewesen, ein Arzt zu werden, seine Armut aber hatte es gefügt, daß nur ein Volksschullehrer aus ihm wurde. Jeden Tag griff er, wenn die verschiedenen Klassen beschäftigt waren, zu einem geheimnisvollen Buche, in das er sich eifrig vertiefte. Dasselbe hielt er strenge unter Schloß und Riegel. Jedes seiner Schulkinder brannte vor Neugierde, einmal einen Blick hineinwerfen zu können, nie aber wollte sich die Gelegenheit hierzu bieten. Jedes der Kinder, Knaben und Mädchen, hatte seine eigene Ansicht über das Buch, aber niemals war es gelungen, Näheres zu erfahren. Als eben Becky an der offenen Tür des Zimmers vorüberhuschte, bemerkte sie, daß der Schlüssel des Pultes steckte. Das war ein köstlicher Moment, der ausgenutzt werden mußte. Sie blickte sich rasch um und sah sich ganz unbeobachtet; im nächsten Augenblick hielt sie das Buch in Händen. Das Titelblatt: »Anatomie von Professor Soundso«, diente nicht dazu, sie über den Inhalt aufzuklären, so begann sie denn hastig die Blätter umzuwenden. Gleich zu Anfang kam sie auf ein wundervoll koloriertes Bild, – eine menschliche Figur. – Im selben Moment fiel ein Schatten auf das Buch, Tom Sawyer trat zur Türe herein und erhaschte noch einen Blick auf das Bild. Hastig wollte Becky das Buch schließen, hatte aber in ihrer Aufregung das Unglück, das Bild von oben bis beinahe zur Mitte durchzureißen. Das Buch flog ins Pult, sie drehte den Schlüssel um und brach in bitteres Schluchzen aus vor Scham und Ärger.

»Tom Sawyer,« rief sie, »du bist doch so gemein wie du nur sein kannst. Einen so zu überfallen und auszuspionieren, was man tut!«

»Wie konnt ich denn wissen, was du dir zu schaffen machst?«

»Du solltest dich vor dir selber schämen, Tom Sawyer; jetzt wirst du hingehen und mich verklatschen beim Lehrer und – Herr du mein Gott, was fang ich an? Ich bin noch niemals geschlagen worden in der Schule und heut – heut haut mich der Lehrer sicherlich durch.«

Dann, als Tom nichts antwortete, stampfte sie mit dem kleinen Fuße auf und rief:

»Na, dann sei so gemein und verrat mich, wenn dir’s Spaß macht. Aber wart, dir blüht auch nichts Gutes, denk nur an mich – niederträchtig – niederträchtig!« Und mit einem erneuten Strom von Tränen stürzte sie davon.

Tom stand ordentlich betäubt ob solch vulkanischen Ausbruchs. Dann sagte er zu sich selber:

»Was so ’n Mädel für eine Närrin ist! Noch niemals Prügel gekriegt! Herrgott, was liegt mir an einer Tracht mehr oder weniger? So sind aber die Mädels, so dünnfellig und hasenfüßig. Es fällt mir gar nicht ein, sie zu verklatschen, aber ’s kommt doch heraus. Der alte Dobson wird natürlich fragen, wer’s war, und wenn keiner antwortet, fragt er einen nach dem anderen, dann merkt er’s schon am Gesicht. So’n Mädel verrät sich immer selber, da ist keine Schneid drin. Die Sache ist kritisch für das arme Ding, die Becky, kriegen tut sie’s, da ist kein Zweifel. Na, mir kann’s recht sein, die säh mich auch von Herzen gern in derselben Klemme. Mag sie zusehen, wie sie’s ausbadet!«

Tom gesellte sich dem Haufen der lärmenden Kameraden draußen wieder zu; bald darauf erschien der Lehrer und der Unterricht begann. Die Studien zogen Tom nicht sehr an. Jedesmal, wenn er zu den Mädchen hinübersah, beunruhigte ihn Beckys Gesichtchen. Genau genommen, hatte er gar keine Ursache, sie zu bemitleiden, und doch, mochte er tun was er wollte, er konnte sich des Mitleids nicht erwehren. Jetzt entdeckte der Lehrer das besudelte Lesebuch, wodurch Toms ganze Aufmerksamkeit für seine eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen wurde. Das rüttelte auch Becky aus ihrer Gramversunkenheit auf und sie folgte den Vorgängen mit großer Aufmerksamkeit. Sie glaubte nicht, daß Tom imstande sein werde, sich herauszulügen, und sie hatte recht. Sein Leugnen schien die Dinge für ihn nur zu verschlimmern. Als dann die Verhandlung den Höhepunkt erreichte, trieb es sie förmlich, aufzuspringen und Alfred Tempel anzugeben, doch zwang sie sich zur Ruhe, denn sie sagte sich: Tom klatscht doch, daß ich das Bild zerrissen hab. Ich sag kein Wort und wenn’s ihm ans Leben geht.«

Tom steckte seine Prügel ein und schritt auf seinen Platz zurück, durchaus nicht niedergeschlagen. Er dachte selber, es sei möglich, daß er die Tinte übers Buch geschüttet, ohne es zu wissen, dergleichen konnte ja passieren. Geleugnet hatte er’s überhaupt nur der Form halber und weil’s so Sitte war; dann hatte er aus Prinzip dabei beharrt.

Eine ganze Stunde verstrich; nickend saß der Lehrer auf seinem Throne, das Summen der vor sich hin murmelnden, lernenden Kinder wirkte einschläfernd. Allmählich rappelte sich Herr Dobson in die Höhe, gähnte, schloß sein Pult auf, griff nach seinem Buch und fingerte dran herum, unentschieden, ob er es nehmen solle oder nicht. Schläfrig sahen die Schüler nach ihm hin, zwei derselben verfolgten sein Tun mit gespannten Blicken. Noch immer schien Herr Dobson nicht entschieden; endlich nahm er das Buch zur Hand und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, um zu lesen.

Tom warf einen raschen Blick auf Becky. Diese starrte um sich wie ein gehetztes Reh, das den todbringenden Lauf auf sich gerichtet sieht, so hilflos, so verzweifelt. Im Moment war aller Groll dahin. Etwas mußte geschehen, aber sofort, mit Blitzesschnelle, sonst war’s zu spät. Doch die dringende Nähe der Gefahr schien seine Erfindungsgabe völlig zu lähmen. Wenn er nun hinstürzte, dem Lehrer das Buch entriß, damit die Flucht ergriff? Eine einzige Sekunde überlegte er und – hin war die Gelegenheit, der Lehrer öffnete das Buch. Wäre nur der verlorene Moment noch einmal zu erhaschen, Tom fühlte sich jetzt zu allem fähig. Zu spät! Becky war nicht mehr zu helfen. Im nächsten Moment traf des Lehrers Auge die aufschauenden Schüler, die Augen senkten sich vor seinem Blick, es lag ein Etwas drin, das selbst den Unschuldigsten unter ihnen mit Scheu und Furcht erfüllte. Eine Pause entstand, während welcher man wohl bis zehn zählen konnte. Der Lehrer schien Kraft sammeln zu müssen. Dann kam’s:

»Wer hat dieses Buch zerrissen?«

Kein Laut. Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. Die beängstigende Stille dauerte an. Auf einem Gesicht nach dem anderen suchte der Lehrer die Zeichen der Schuld.

»Benjamin Rogers, hast du das Buch zerrissen?«

Verneinung. Eine weitere Pause.

»Joe Harper, du?«

Erneute Verneinung. Toms Unbehagen stieg und stieg unter der langsamen Qual dieses Verfahrens. Der Lehrer ließ den Blick über die Reihen der Knaben schweifen, überlegte eine Weile und wandte sich dann den Mädchen zu:

»Anny Lorenz?«

Ein Schütteln des Kopfes.

»Grace Miller?«

Dasselbe Zeichen.

»Susanne Harper?«

Erneute Verneinung. Das nächste Mädchen war Becky. Tom zitterte vom Kopf bis zu den Füßen vor Aufregung; er empfand die ganze Hoffnungslosigkeit der Lage.

»Rebekka Thatcher« – (Tom sah, daß ihr Gesicht vor Entsetzen blaß war wie der Tod) – »hast du – nein sieh mich an – (sie hob die Hände in stummem Flehen) hast du dies Buch zerrissen?«

Ein Gedanke schoß wie ein Blitz durch Toms Gehirn. Er sprang auf und rief laut in die herrschende Stille hinein:

»Ich hab’s getan.«

Sprachlos ob solcher unerhörten, unglaublichen Tollheit starrten ihn aller Augen an. Tom stand einen Moment regungslos da, um seine etwas aus der Fassung geratenen Lebensgeister zu sammeln, und als er dann nach dem Katheder schritt, seine Strafe in Empfang zu nehmen, strahlten ihm aus Beckys Augen Überraschung, Dankbarkeit, Anbetung in solch reichem Maße entgegen, daß sie ihn für hundert vollwichtiger Trachten Prügel hätten entschädigen können. Begeistert durch den Edelmut seiner eigenen Tat entschlüpfte ihm auch nicht der leiseste Schrei bei der nun folgenden Züchtigung, der unbarmherzigsten, die Herr Dobson in seinem Leben austeilte. Ja, als der Lehrer die Strafe noch durch zwei Stunden Nachsitzen verschärfte, nahm Tom auch dies mit dem äußersten Gleichmut hin, wußte er doch, wer außerhalb der Schulmauern auf ihn warten und jede Minute bis zu seiner Befreiung aus der Gefangenschaft zählen würde.

Am Abend desselben Tages ging Tom zu Bett, von finsteren Racheplänen gegen Alfred Tempel erfüllt. Becky hatte ihm voller Reue und Scham alles eingestanden, ja selbst ihre eigene Verräterei nicht verschwiegen. Der Durst nach Rache aber wich bald milderen Gefühlen, lieblicheren Bildern, und Tom fiel in Schlaf, während ihm Beckys letzte Worte noch träumerisch süß im Ohre nachklangen:

»Tom, wie konntest du so edel sein?«

Zweites Kapitel.

Tom streicht einen Zaun.

Zweites Kapitel.

Der Sonnabend Morgen tagte, die ganze sommerliche Welt draußen war sonnig und klar, sprudelnd von Leben und Bewegung. In jedem Herzen schien’s zu klingen und zu singen, und wenn das Herz jung war, trat der Klang unversehens auf die Lippen. Freude und Lust malte sich in jedem Antlitz, jeder Schritt war beflügelt. Die Akazien blühten und erfüllten mit ihrem köstlichen Duft rings alle Lüfte.

Tom erschien auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Tünche und einem langstieligen Pinsel. Er stand vor dem Zaun, besah sich das zukünftige Feld seiner Tätigkeit und es war ihm, als schwände mit einem Schlage alle Freude aus der Natur. Eine tiefe Schwermut bemächtigte sich seines ahnungsvollen Geistes. Dreißig Meter lang und neun Fuß hoch war der unglückliche Zaun! Das Leben schien ihm öde, das Dasein eine Last. Seufzend tauchte er den Pinsel ein und fuhr damit über die oberste Planke, wiederholte das Manöver einmal und noch einmal. Dann verglich er die unbedeutende übertünchte Strecke mit der Riesenausdehnung des noch ungetünchten Zaunes und ließ sich entmutigt auf ein paar knorrigen Baumwurzeln nieder. Jim, der kleine Nigger, trat singend und springend aus dem Hoftor mit einem Holzeimer in der Hand. Wasser an der Dorfpumpe holen zu müssen, war Tom bis jetzt immer gründlich verhaßt gewesen, in diesem Augenblick dünkte es ihn die höchste Wonne. Er erinnerte sich, daß man dort immer Gesellschaft traf; Weiße, Mulatten und Niggerjungen und Mädchen waren da stets zu finden, die warteten, bis die Reihe an sie kam und sich inzwischen ausruhten, mit allerlei handelten oder tauschten, sich zankten, rauften, prügelten und dergleichen Kurzweil trieben. Auch durfte man Jim mit seinem Eimer Wasser nie vor Ablauf einer Stunde zurückerwarten, obgleich die Pumpe kaum einige hundert Schritte vom Haus entfernt war und selbst dann mußte gewöhnlich noch nach ihm geschickt werden. Ruft also Tom:

»Hör‘, Jim, ich will das Wasser holen, streich‘ du hier ein bißchen an.«

Jim schüttelte den Dickkopf und sagte:

»Nix das können, junge Herr Tom, Alte Tante sagen, Jim sollen nix tun andres als Wasser holen, sollen ja nix anstreichen. Sie sagen, junge Herr Tom wohl werden fragen Jim, ob er wollen anstreichen, aber er nix sollen es tun – ja nix sollen es tun.«

»Ach was, Jim, laß dir nichts weismachen, so redet sie immer. Her mit dem Eimer, ich bin gleich wieder da. Sie merkt’s noch gar nicht.«

»Jim sein so bange, er’s nix wollen tun. Alte Tante sagen, sie ihm reißen Kopf ab, wenn er’s tun.«

»Sie! O Herr Jemine, die kann ja gar niemand ordentlich durchhauen, – die fährt einem ja nur mit der Hand über den Kopf, als ob sie streicheln wollte, und ich möcht‘ wissen, wer sich daraus was macht. Ja, schwatzen tut sie von durchhauen und allem, aber schwatzen tut nicht weh, – das heißt, solang sie nicht weint dazu. Jim, da, ich schenk dir auch ’ne große Murmel, – da und noch ’nen Gummi dazu!«

Jim schwankte.

»’nen Gummi, Jim, und was für ein Stück, sieh mal her!«

»O, du meine alles! Sein das prachtvoll Stück Gummi. Aber, junge Herr Tom, Jim sein so ganz furchtbar bange vor alte Tante!«

Jim aber war auch nur ein schwacher Mensch, – diese Versuchung erwies sich als zu stark für ihn. Er stellte seinen Eimer hin und streckte die Hand nach dem verlockenden Gummi aus. Im nächsten Moment flog er jedoch, laut aufheulend, samt seinem Eimer die Straße hinunter, Tom tünchte mit Todesverachtung drauflos und Tante Polly zog sich stolz vom Schlachtfeld zurück, Pantoffel in der Hand, Triumph im Auge.

Toms Eifer hielt nicht lange an. Ihm fiel all das Schöne ein, das er für diesen Tag geplant, und sein Kummer wuchs immer mehr. Bald würden sie vorüber schwärmen, die glücklichen Jungen, die heute frei waren, auf die Berge, in den Wald, zum Fluß, überall hin, wo’s schön und herrlich war. Und wie würden sie ihn höhnen und auslachen und verspotten, daß er dableiben und arbeiten mußte, – schon der Gedanke allein brannte ihn wie Feuer. Er leerte seine Taschen und musterte seine weltlichen Güter, – alte Federn, Glas- und Steinkugeln, Marken und sonst allerlei Kram. Da war wohl genug, um sich dafür einen Arbeitstausch zu verschaffen, aber keineswegs genug, um sich auch nur eine knappe halbe Stunde voller Freiheit zu erkaufen. Seufzend wanderten die beschränkten Mittel wieder in die Tasche zurück und Tom mußte wohl oder übel die Idee fahren lassen, einen oder den andern der Jungen zur Beihilfe zu bestechen. In diesem dunkeln, hoffnungslosen Moment kam ihm eine Eingebung! Eine große, eine herrliche Eingebung! Er nahm seinen Pinsel wieder auf und machte sich still und emsig an die Arbeit. Da tauchte Ben Rogers in der Entfernung auf, Ben Rogers, dessen Spott er von allen gerade am meisten gefürchtet hatte. Ben’s Gang, als er so daherkam, war ein springender, hüpfender kurzer Trab, Beweis genug, daß sein Herz leicht und seine Erwartungen hochgespannt waren. Er biß lustig in einen Apfel und ließ dazu in kurzen Zwischenpausen ein langes, melodisches Geheul ertönen, dem allemal ein tiefes gezogenes ding–dong–dang, ding–dong–dang folgte. Er stellte nämlich einen Dampfer vor. Als er sich Tom näherte, gab er Halbdampf, hielt sich in der Mitte der Straße, wandte sich stark nach Steuerbord und glitt drauf in stolzem Bogen dem Ufer zu, mit allem Aufwand von Pomp und Umständlichkeit, denn er stellte nichts Geringeres vor als den »Großen Missouri« mit neun Fuß Tiefgang. Er war Schiff, Kapitän, Mannschaft, Dampfmaschine, Glocke, alles in allem, stand also auf seiner eigenen Schiffsbrücke, erteilte Befehle und führte sie aus.

»Halt, stoppen! Klinge–linge–ling.« Der Hauptweg war zu Ende und der Dampfer wandte sich langsam dem Seitenweg zu. »Wenden! Klingelingeling!« Steif ließ er die Arme an den Seiten niederfallen. »Wenden, Steuerbord! Klingelingeling! Tschu! tsch – tschu – u – tschu!«

Nun beschrieb der rechte Arm große Kreise, denn er stellte ein vierzig Fuß großes Rad vor. »Zurück, Backbord! Klingelingeling! Tschu–tsch–tschu–u–sch!« Der linke Arm begann nun Kreise zu beschreiben. »Steuerbord stoppen! Lustig, Jungens! Anker auf – nieder! Klingeling! Tsch–tschuu–tschtu! Los! Maschine stoppen! He, Sie da! Scht–sch–tscht!« (Ausströmen des Dampfes.)

Tom tünchte währenddessen und ließ den Dampfer Dampfer sein, Ben starrte ihn einen Augenblick an und grinste dann:

»Hi–hi! Festgenagelt – äh?«

Keine Antwort, Tom schien seinen letzten Strich mit dem Auge eines Künstlers zu prüfen, dann fuhr er zart mit dem Pinsel noch einmal drüber und übersah das Resultat in derselben kritischen Weise wie zuvor. Ben marschierte nun neben ihm auf. Toms Mund wässerte nach dem Apfel, er hielt sich aber tapfer an die Arbeit. Sagt Ben:

»Hallo, alter Junge, Strafarbeit, ja?«

»Ach, du bist’s, Ben, ich hab‘ gar nicht aufgepaßt!«

»Hör du, ich geh schwimmen, willst du vielleicht mit? Aber gelt, du arbeitst lieber, natürlich, du bleibst viel lieber da, gelt?«

Tom maß ihn erstaunt von oben bis unten.

»Was nennst du eigentlich arbeiten?«

»W–was? Ist das keine Arbeit?«

Tom tauchte seinen Pinsel wieder ein und bemerkte gleichgültig:

»Vielleicht – vielleicht auch nicht! Ich weiß nur soviel, daß das dem Tom Sawyer paßt.«

»Na, du willst mir doch nicht weismachen, daß du’s zum Vergnügen tust?«

Der Pinsel strich und strich.

»Zum Vergnügen? Na, seh‘ nicht ein, warum nicht. Kann unsereiner denn alle Tag ’nen Zaun anstreichen?«

Das warf nun ein neues Licht auf die Sache. Ben überlegte und knupperte an seinem Apfel. Tom fuhr sachte mit seinem Pinsel hin und her, trat dann zurück, um die Wirkung zu prüfen, besserte hier und da noch etwas nach, prüfte wieder, alles ohne sich im geringsten um Ben zu kümmern. Dieser verfolgte jede Bewegung, eifriger und eifriger mit steigendem Interesse. Sagt er plötzlich:

»Du, Tom, laß mich ein bißchen streichen!«

Tom überlegte, schien nachgeben zu wollen, gab aber diese Absicht wieder auf: »Nein, nein, das würde nicht gehen, Ben, wahrhaftig nicht. Weißt du, Tante Polly nimmt’s besonders genau mit diesem Zaun, so dicht bei der Straße, siehst du. Ja, wenn’s irgendwo dahinten wär‘, da lag nichts dran, – mir nicht und ihr nicht – so aber! Ja, sie nimmt’s ganz ungeheuer genau mit diesem Zaun, der muß ganz besonders vorsichtig gestrichen werden, – einer von hundert Jungen vielleicht, oder noch weniger, kann’s so machen, wie’s gemacht werden muß.«

»Nein, wirklich? Na, komm, Tom, laß mich’s probieren, nur ein ganz klein bißchen. Ich ließ dich auch dran, Tom, wenn ich’s zu tun hätte!«

»Ben, wahrhaftig, ich tät’s ja gern, aber Tante Polly – Jim hat’s tun wollen und Sid, aber die haben’s beide nicht gedurft. Siehst du nicht, wie ich in der Klemme stecke? Wenn du nun anstreichst und ’s passiert was und der Zaun ist verdorben, dann–«

»Ach, Unsinn, ich will’s schon rechtmachen. Na, gib her, – wart‘, du kriegst auch den Rest von meinem Apfel; ’s ist freilich nur noch der Butzen, aber etwas Fleisch sitzt doch noch drum.«

»Na, denn los! Nein, Ben, doch nicht, ich hab‘ Angst, du –«

»Da hast du noch ’nen ganzen Apfel dazu!« Tom gab nun den Pinsel ab. Widerstreben im Antlitz, Freude im Herzen. Und während der frühere Dampfer »Großer Missouri« im Schweiße seines Angesichts drauflos strich, saß der zurückgetretene Künstler auf einem Fäßchen im Schatten dicht dabei, baumelte mit den Beinen, verschlang seinen Apfel und brütete über dem Gedanken, wie er noch mehr Opfer in sein Netz zöge. An Material dazu war kein Mangel. Jungen kamen in Menge vorüber. Sie kamen, um zu spotten und blieben, um zu tünchen! Als Ben müde war, hatte Tom schon Kontrakt gemacht mit Billy Fischer, der ihm einen fast neuen, nur wenig geflickten Drachen bot. Dann trat Johnny Miller gegen eine tote Ratte ein, die an einer Schnur zum Hin- und Herschwingen befestigt war und so weiter und so weiter, Stunde um Stunde. Und als der Nachmittag zur Hälfte verstrichen, war aus Tom, dem mit Armut geschlagenen Jungen mit leeren Taschen und leeren Händen, ein im Reichtum förmlich schwelgender Glücklicher geworden. Er besaß außer den Dingen, die ich oben angeführt, noch zwölf Steinkugeln, eine freilich schon etwas stark beschädigte Mundharmonika, ein Stück blaues Glas, um die Welt dadurch zu betrachten, ein halbes Blasrohr, einen alten Schlüssel und nichts damit aufzuschließen, ein Stück Kreide, einen halb zerbrochenen Glasstöpsel von einer Wasserflasche, einen Bleisoldaten, ein Stück Seil, sechs Zündhütchen, ein junges Kätzchen mit nur einem Auge, einen alten messingnen Türgriff, ein Hundehalsband ohne Hund, eine Messerklinge, vier Orangenschalen und ein altes, wackeliges Stück Fensterrahmen, Dazu war er lustig und guter Dinge, brauchte sich gar nicht weiter anzustrengen die ganze Zeit über und hatte mehr Gesellschaft beinahe, als ihm lieb war. Der Zaun wurde nicht weniger als dreimal vollständig überpinselt, und wenn die Tünche im Eimer nicht ausgegangen wäre, hätte er zum Schluß noch jeden einzelnen Jungen des Dorfes bankrott gemacht.

Unserm Tom kam die Welt gar nicht mehr so traurig und öde vor. Ohne es zu wissen, hatte er ein tief in der menschlichen Natur wurzelndes Gesetz entdeckt, die Triebfeder zu vielen, vielen Handlungen. Um das Begehren eines Menschen, sei er nun erwachsen oder nicht, – das Alter macht in dem Fall keinen Unterschied – also, um eines Menschen Begehren nach irgend etwas zu erwecken, braucht man ihm nur das Erlangen dieses »etwas« schwierig erscheinen zu lassen. Wäre Tom ein gewiegter, ein großer Philosoph gewesen, wie zum Beispiel der Schreiber dieses Buches, er hatte daraus gelernt, wie der Begriff von Arbeit einfach darin besteht, daß man etwas tun muß, daß dagegen Vergnügen das ist, was man freiwillig tut. Er würde verstanden haben, warum künstliche Blumen machen oder in einer Tretmühle gehen »Arbeit« heißt, während Kegelschieben im Schweiße des Angesichts oder den Montblanc erklettern lediglich als Vergnügen gilt. Ja, ja, wer erklärt diese Widersprüche in der menschlichen Natur!

Zwanzigstes Kapitel.

Schulprüfungen. – Die Rache.

Zwanzigstes Kapitel.

Die großen Ferien rückten immer näher. Der Lehrer, ernst von Natur, wurde strenger und anspruchsvoller von Tag zu Tag, sollte doch seine Schule Ehre einlegen am verhängnisvollen, großen Tag der Prüfung. Seine Rute und sein Lineal kamen gar nicht mehr zur Ruhe, zum wenigsten bei den kleineren Schülern. Nur die großen Knaben und die jungen Damen von der Sonntagsschule entgingen einer Züchtigung. Und Herrn Dobsons Prügel waren was wert unter Brüdern, denn obgleich er unter seiner Perücke einen vollständig kahlen und glänzenden Schädel barg, so stand er doch noch im kräftigsten Mannesalter und die Stärke seiner Muskeln ließ nichts zu wünschen übrig. Als der große Tag näher und näher rückte, kam alle die Tyrannei, die in ihm schlummerte, ans Tageslicht. Mit grausamer Lust ahndete er die geringsten Versäumnisse und Fehler. Die Folge davon war, daß die Kinder ihre Tage in Schreck und Qual, ihre Nächte mit Schmieden finsterer Rachepläne verbrachten. Sie ließen sich keine Gelegenheit entgehen, dem Lehrer einen Streich zu spielen, der aber blieb immer Meister. Die Strafe, die jedem solchen kleinen Racheakt auf dem Fuße folgte, war so großartig, so niederschmetternd, daß die Jungen den Kampfplatz jedesmal vollständig »geschlagen« verließen. Zuletzt entstand eine Verschwörung und ein Plan wurde ausgeheckt, der den glänzendsten Sieg versprach. Die Verschwörer zogen den Sohn des Anstreichers ins Vertrauen, welcher Lehrling bei seinem Vater war, setzten ihm den Plan auseinander und baten um seine Hilfe. Der hatte nun wieder seine eigenen Gründe, sich dem Racheplan anzuschließen, denn der Lehrer wohnte im Hause des Anstreichers und hatte dem Jungen genügend Ursache zum gründlichsten Hasse gegeben. Die Frau des Lehrers wollte in den nächsten Tagen zu einem Besuche aufs Land gehen und so stand der Ausführung des Planes nichts im Wege. Der Lehrer pflegte sich zur würdigen Vorbereitung bei großen Gelegenheiten aus der Flasche nachhaltig Mut zuzusprechen, und der Anstreicherjunge versprach, am Prüfungsabend, wenn der Lehrer das nötige Studium des »Mutes« erreicht habe und in seinem Stuhle ein Stärkungsschläfchen halte, »die Sache schon besorgen zu wollen«. Knapp zur rechten Zeit wollte er ihn dann schleunigst wecken und in aller Eile zur Schule spedieren.

Als die Zeit erfüllet war, trat denn das große Ereignis ein. Um acht Uhr abends erstrahlte das Schulhaus im Glanz der Kerzen und im Schmuck der Gewinde aus Laub und Blumen. Majestätisch thronte der Lehrer auf seinem Katheder, die schwarze Tafel hinter sich. Auf Bänken zu beiden Seiten saßen die Eltern der Kinder und die Würdenträger der Stadt, vor dem Katheder dehnten sich die Reihen der Schüler, hier die Knaben, die dermaßen gewaschen und herausgeputzt waren, daß man ihnen das Unbehagen ansah; dort die Mädchen, in schneeweißem Musselin, sichtbar durchdrungen von dem erhebenden Bewußtsein, in bloßen Armen, blau und roten Bändern und mit Blumen im Haar zu glänzen. Den Hintergrund bildete »das Volk«.

Die Prüfung begann. Ein winzig kleiner Junge erhob sich und rezitierte mit einem Schafsgesicht:

»Kaum glaubt ihr, daß solch kleiner Wicht,
Wie ich, es wagt und zu euch spricht usw.«

wobei er seinen Vortrag mit den peinlich genauen, stoßweisen Bewegungen einer Maschine begleitete, noch dazu einer Maschine, die etwas aus der Ordnung geraten zu sein schien. Doch stolperte er sicher, wenn auch zu Tode geängstigt, bis zum Schluß hindurch, klappte den Oberkörper verbeugend nach unten, bekam einen wahren Beifallssturm von dem dankbaren Publikum und zog sich aufatmend zurück.

Ein kleines, verschüchtertes Mädchen lispelte ihr:

»Ein kleines Lämmchen, weiß wie Schnee,
Ging einstens auf die Weide,«

machte einen mitleiderregenden Knix, erhielt ihren Anteil an Applaus und setzte sich glühend rot und glückselig wieder hin.

Tom Sawyer trat nun vor, voll stolzer aber trügerischer Zuversicht, und begann mit donnerndem Pathos und verzückten Gebärden die berühmte Ode an die »Freiheit« zu deklamieren. Aber wehe! In der Mitte etwa angelangt, – verließ ihn just das Gedächtnis, das »Lampenfieber« ergriff ihn, seine Knie zitterten, er drohte zusammenzusinken oder zu ersticken. Wohl hatte er des Hauses Mitleid für sich, aber auch des Hauses Schweigen. Finster blickte der Lehrer, drohend zog er die Stirne in Falten; dies machte das Unheil vollständig. Tom stammelte, stotterte noch eine Weile, gab’s dann auf und zog sich zurück, jeder Zoll ein geschlagener Held! Ein schwacher Beifallsversuch, der sich erheben wollte, wurde im Keime erstickt.

Jetzt folgten:

»Auf brennendem Deck der Knabe stand.«

Dann:

»Hernieder kam einst Assurs Macht«

und andere dergleichen deklamatorische Kleinodien. Nun kamen Leseübungen und ein regelrechtes Kreuzfeuer in der Kunst des Buchstabierens. Die magere Lateinklasse bestand ihre Sache mit Ehren. Dann nahte der Hauptakt des ganzen Abends, – der Vortrag von selbstgefertigten Aufsätzen und Gedichten der »jungen Damen«. Der Reihe nach trat jede an den Rand der Estrade, räusperte sich, erhob ihr von einem zierlichen Band umschlungenes Manuskript und begann zu lesen mit dem nötigen Aufwand von Ausdruck und Gefühl. Die Themata waren dieselben, wie sie ihre Mütter, Großmütter und zweifellos alle weiblichen Vorfahren der Familie bis zurück zu den Kreuzzügen schon bearbeitet hatten: »Freundschaft« – »Erinnerungen früherer Tage« – »Die Religion in der Geschichte« – »Das Land der Träume« – »Die Vorteile der Kultur« – »Vergleiche und Verschiedenheiten der politischen Regierungsformen« – »Melancholie« – »Kindliche Liebe« – »Herzenswünsche« – usw. usw.

Die meisten dieser Ergüsse zeichneten sich durch eine starke Vorliebe für das Gefühlvolle aus. Die großartigste Verschwendung erhabener Ausdrücke und Redewendungen war ebenfalls ein gemeinsamer Zug, ebenso das gewaltsame Herbeiziehen allgemein bekannter und beliebter Phrasen und Zitate. Den Schluß bildete hier wie dort unweigerlich eine möglichst stark aufgetragene moralische Nutzanwendung. Einerlei, was der behandelte Gegenstand gewesen, mit kühnem Sprung lief das Ende ohne Unterschied in eine äußerst erbauliche Betrachtung aus, die sich nicht ohne Rührung anhören ließ und einen schmeichelhaften Rückschluß auf die Tugenden der schönen Mahnerin gestattete.

Der erste Aufsatz, der vorgetragen wurde, betitelte sich: » Dies also ist das Leben?« Vielleicht hat der Leser Geduld genug, einen Auszug hieraus anzuhören.

»Trunkenen Auges, mit wonnebebendem Herzen schaut der jugendliche Geist den zu erwartenden Freuden des Lebens entgegen. Geschäftig malt ihm die Einbildungskraft rosenfarbene Bilder der Wonne vor. Im Geiste sieht sich die jugendliche Schöne als »Dame von Welt«, inmitten des wogenden, festlichen Getriebes, scherzend, lachend, umkost, umworben, gefeiert »schauend und geschaut!« Ihre anmutige Gestalt gleitet in wehenden, weißen Gewändern auf den Wellen des wirbelnden Tanzes dahin, ihr Auge strahlt am hellsten, ihr Schritt ist der elastischste in der ganzen heiteren Gesellschaft. Unter solch gaukelnden, lockenden Phantasiegebilden schwindet schnell die Zeit und die ersehnte Stunde erscheint, die Stunde, welche Einlaß bringen soll in jene elysische Welt, die solche Wonneträume zu wecken vermag. Wie zauberisch erscheint dem geblendeten Auge alles und jedes! Jede neue Szene ist reizender, lockender als die vorhergegangene. Doch kurze Zeit nur währt der Rausch! Bald zeigt es sich, daß unter der glänzenden Außenseite Hohlheit sich birgt. Die Schmeichelei, die einst die Seele fesselte, verletzt nun das Ohr mit schrillem Klang, der Ballsaal verliert seine Reize. Mit zerrütteter Gesundheit, verbitterten Herzens wendet sich das »Kind der Welt« ab, die Überzeugung tief im Busen bergend, daß irdische Freuden das Verlangen der unsterblichen Seele nicht zu befriedigen imstande sind!«

Und so weiter.

Ein beifälliges Gemurmel unterbrach von Zeit zu Zeit den Vortrag. Ein: »wie schön!« »gut gesagt!« oder »wie wahr!« ließ sich deutlich unterscheiden, und nachdem das Ding mit einer besonders erhebenden Schlußbetrachtung geendet, wurde der Beifall ordentlich enthusiastisch.

Dann erhob sich ein schlankes, melancholisch aussehendes Mädchen, dessen Gesicht jene interessante Blässe zeigte, die von Pillen und schlechter Verdauung herrührt, und las ein »Gedicht« vor. Folgende Verse desselben mögen genügen:

Lebewohl einer Missouri-Maid an Alabama.

Leb‘ wohl, Alabama, dich liebe ich,
Und doch muß lassen, muß meiden ich dich.
Es naget die Trauer am Herzen mein,
In heißer Sehnsucht gedenk ich dein.

Wie hab ich die blum’gen Wälder durchstreift,
Längs den Ufern deiner Gewässer geschweift,
Dem Murmeln der Wellen träumend gelauscht
In Aurorens Strahl mich wonnig berauscht.

Nicht scheu verberg ich mein übervoll Herz,
Erröt nicht, zu zeigen den brennenden Schmerz.
Er gilt ja nicht Fremden im fernen Land,
Den Freunden, den Lieben nur, die ich gekannt.

Sie waren mein Trost mir, mein ganzes Glück;
Alabamas Täler ersehn ich zurück.
Ach, nun ich’s verloren, erkenn ich’s zu spät:
Dort wurzelt mein Leben, mein Herz – zu spät!

Zunächst erschien eine schwarzäugige und schwarzhaarige junge Dame auf dem Podium, machte eine wirkungsvolle Kunstpause, nahm eine tragische Haltung an und begann gemessenen, ausdrucksvollen Tones vorzulesen:

Eine Vision.

Dunkel und stürmisch war die Nacht. Am Himmelszelte oben flimmerte nicht ein einziger Stern, nur das dumpfe Dröhnen des Donners vibrierte beständig im geängstigt lauschenden Ohre, während grelle Blitze in entfesselter Wildheit die wolkigen Himmelskammern durchrasten und der Macht zu spotten schienen, die der große Franklin sich über sie angemaßt. Selbst die stürmischen Winde kamen einmütig hervor aus ihrer geheimnisvollen Hohle und schnaubten und tosten einher, als wollten sie durch ihre Gegenwart die tolle Szene noch toller machen. Zu eben solcher Stunde, gleich dunkel, gleich trostlos und entsetzensvoll, schrie einst mein ganzes Sein nach dem Balsam menschlichen Mitgefühls. Umsonst! Da plötzlich:

»Erschien sie, die mein Trost, mein Führer und mein Rat,
Mein Glück im Gram, mein All an meine Seite trat.«

Sie schwebte daher, wie eines jener glänzenden, anmutbeschwingten Wesen, mit denen Jugend und Romantik sich die sonnigen Fluren ihres Eden bevölkern, eine Königin der Schönheit, nur mit ihrer eignen, unvergleichlichen Lieblichkeit angetan und geschmückt. So leise war ihr Schritt, keinen Laut rief er hervor und nur der magische Wonneschauer, der mein ganzes Sein bei ihrer sanften Berührung durchrieselte, verriet mir ihre Gegenwart, sonst wäre sie entschwebt gleich andern, sich dem Auge nicht selbstbewußt aufdrängenden Schönheiten, unbemerkt und ungesucht. Gleich eisigen Tränen auf dem Gewande des Dezembers lag eine eigentümliche Traurigkeit auf den geliebten Zügen, als sie, ernst auf die draußen kämpfenden Elemente hinweisend, mich die beiden durch dieselben dargestellten Wesen betrachten hieß.

Dieser nächtliche Gespensterspuk füllte zehn Seiten des Manuskripts und endete in einer Predigt von solch niederschmetternder, hoffnungraubender Wirkung auf alle Nichtgläubigen, daß der Aufsatz den ersten Preis gewann und einstimmig für die beste Leistung des Abends erklärt wurde. Der Bürgermeister des Städtchens überreichte der glückstrahlenden Verfasserin in feierlicher Ansprache den Preis, indem er sagte, es sei bei weitem »das Beredteste, Pathetischste«, was er je gehört, ja daß der große Daniel Webster selber hätte stolz drauf sein dürfen.

Beiläufig mag noch bemerkt werden, daß die Zahl der Aufsätze, in denen das Wort »wunderbar« mit Vorliebe angewendet und der menschlichen Erfahrung als »einer Seite im Buche des Lebens« erwähnt wurde, den üblichen Durchschnitt erreichte.

Nun erhob sich der Lehrer, der durch den Erfolg des Abends so sanftmütig und weich geworden war, daß sein Wesen beinahe an Liebenswürdigkeit streifte, schob seinen Stuhl zurück, wandte dem Publikum den Rücken und begann auf der schwarzen Tafel eine Karte von Amerika zu entwerfen, um die Geographieübungen daran vornehmen zu können. Seine unstete Hand aber wollte ihm nicht parieren bei der Sache, ein unterdrücktes Gekicher lief durch das Haus. Er wußte, was es bedeutete und nahm alle Kraft zusammen, um sich mit Ehren herauszuziehen. Er fuhr mit dem Schwamm über die mißlungenen Linien und machte sich geduldig aufs neue dran, nur um sie mehr und mehr zu verrenken, und das Gekicher wurde immer deutlicher. Mit Macht und ganzer Aufmerksamkeit warf er sich nun auf sein Werk, entschlossen, sich durch die augenscheinliche Heiterkeit nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Er fühlte, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren; er glaubte nun endlich im richtigen Fahrwasser zu sein und doch dauerte das Gekicher fort, ja es nahm sogar noch zu. Und Grund genug dazu war vorhanden. Im oberen Stock befand sich eine Dachkammer, in deren Fußboden eine Klappe angebracht war, unter der just eben der Lehrer stand. Durch diese Klappe nun erschien eine Katze, die an einem um die Hinterbeine geschlungenen Seile hing und der man um Kopf und Maul einen dicken Lappen gewickelt hatte, um sie am Schreien zu hindern. Als sie so langsam niedersank, krümmte sie sich nach oben und versuchte sich mit den Pfoten am Seil festzuklammern, umsonst! Sie griff mit den Pfoten nur in die unfaßbare, haltlose Luft. Das Gekicher schwoll und schwoll. Die Katze war jetzt nur noch sechs Zoll von dem Haupte des ahnungslosen Lehrers entfernt. Sie sank tiefer und tiefer; noch eine Spanne und nun schlug sie die verzweifelten Krallen in die Perücke des schulmeisterlichen Hauptes, klammerte sich fest an dem willkommenen Halte und wurde im selben Moment zurückgezogen zur Klappe, die Siegestrophäe fest in den räuberischen Klauen! Des Schulmeisters kahler Schädel aber erstrahlte in ungeahnter, zauberischer Pracht, – der Sohn des Anstreichers hatte denselben vergoldet!

Dies bereitete der Festlichkeit ein jähes Ende. Die Jungen waren gerächt – die Ferien da!

*

Anmerkung. Die oben angeführten sog. »Aufsätze« sind ohne Veränderung einem Buche entnommen, das den Titel führt: »Prosa und Poesie von einer Dame des Westens.« Als genaue Studien nach dem bekannten »Schulmädchen-Muster« sind sie infolgedessen weit glücklichere Beispiele, als bloße Nachbildungen hätten sein können.