Staatswirtschaft.


Staatswirtschaft.

»Die Staatswirtschaft,« schrieb ich, »ist die Grundlage einer jeden guten Regierung. Die weisesten Männer aller Jahrhunderte haben diesem Gegenstand stets –«

Hier wurde ich durch die Meldung unterbrochen, daß ein Fremder unten sei, der mich zu sprechen wünsche. Ich folgte dem Ruf, trat vor ihn hin und fragte nach seinem Begehr. Dabei war ich aus allen Kräften bemüht, die in mir gärenden staatswirtschaftlichen Gedanken festzuhalten und ihnen weder die Zügel schießen zu lassen noch zu dulden, daß sie sich im Geschirr verwickelten. Heimlich wünschte ich jedoch, der Fremde läge auf dem Grunde des Meeres und auf ihm eine Ladung Getreide, Ich war wie im Fieber; er blieb völlig kühl. Es tue ihm leid mich zu stören, sagte er, aber er habe im Vorbeigehen bemerkt, daß ich auf meinem Haus ein paar Blitzableiter brauchen könne. »Nun – und –« sagte ich, »was weiter, was wollen Sie?« Er entgegnete, er wolle nichts weiter, nur würde er die Blitzableiter gern bei mir anbringen.

Es ist noch nicht lange, daß ich einen eigenen Haushalt führe, bisher habe ich immer in Hotels und Kosthäusern gewohnt. Natürlich wollte ich aber vor einem Fremden von meiner Unerfahrenheit nichts merken lassen und als gewiegter Hausbesitzer auftreten; das wird jedermann begreiflich finden. Ich sagte daher mit ernster Miene, es sei schon längst meine Absicht gewesen, sechs oder acht Blitzableiter bei mir anbringen zu lassen, allein – der Fremde fuhr zusammen und sah mich fragend an, aber ich verlor die Fassung nicht. Wenn ich Fehler machte, sollte er mir meine Unkenntnis wenigstens nicht im Gesicht lesen. Er sagte, es würde ihm lieber sein, mich zum Kunden zu haben, als irgend einen andern in der ganzen Stadt. »Schon gut,« versetzte ich und stand eben im Begriff mich wieder an die Verfolgung meines großen Gegenstandes zu begeben, als er mich zurückrief und erklärte, erst müsse er genau wissen, wie viele Spitzen ich zu haben wünsche, an welchen Teilen des Hauses er sie anbringen solle und welcher Art von Stangen ich den Vorzug gäbe. Das war eine schöne Klemme für jemand, der erst so kurze Zeit verantwortlicher Hausbesitzer ist; aber ich hielt mich wacker, und er merkte mir höchst wahrscheinlich nicht einmal an, daß ich ein Neuling sei. Er solle acht Spitzen anbringen, sagte ich, sämtlich auf dem Dach, und Stangen von der besten Qualität nehmen. Die gewöhnliche Ware, lautete seine Antwort, könne er für zwanzig Cent liefern, gekupferte für fünfundzwanzig, mit Zink plattierte und spiralförmig gebogene für dreißig Cent den Fuß. Letztere würden jedem Blitzstrahl Halt gebieten, wohin er auch unterwegs sei, »seine Wirkung unschädlich machen und seinen weiteren Fortgang apokryph«. Ich sagte, »apogryph« wäre kein schlechtes Wort, da es aus heiliger Quelle stamme, aber, ohne der Philologie zu nahe zu treten, zöge ich die spiralförmig gebogenen Blitzableiter vor und würde diese Sorte nehmen. Hierauf erwiderte er, man könne zwar im Notfall mit zweihundertfünfzig Fuß auskommen; wenn die Arbeit aber ordentlich gemacht werden solle, so daß sie als die beste in der Stadt gelten, Gerechte und Ungerechte befriedigen werde und jedermann zwingen einzugestehen, er habe noch nie eine symmetrischere und hypothetischere Aufstellung von Blitzableitern gesehen, seit er das Licht der Welt erblickt – dann würde er, um diesen Zweck zu erreichen, sicherlich vierhundert Fuß verbrauchen müssen. Doch wolle er nicht auf seinem Kopf bestehen und gewiß sein möglichstes tun. »So nehmen Sie denn vierhundert,« sagte ich, »und machen Sie die Arbeit wie Sie wollen, nur halten Sie mich nicht länger auf.« Nachdem ich ihn glücklich losgeworden, brauchte ich eine halbe Stunde, um meine staatswirtschaftlichen Gedanken wieder da anzuknüpfen, wo ich sie gelassen hatte, und sie weiterzuspinnen, wie folgt:

»nicht nur die reichsten Schätze ihres Geistes zugewandt, sondern auch ihre Lebenserfahrung und ihre Kenntnisse. Die großen Lichter der Handelsgesetzgebung, der Völkerverbrüderung und der verschiedensten Lebensordnungen in allen Jahrhunderten, allen Kulturen, allen Nationen, von Zoroaster bis auf Horace Greeley, sind bemüht gewesen –«

Hier wurde ich wieder unterbrochen und gebeten, hinunterzukommen, weil der Blitzableitermann noch ein Anliegen habe. Ich eilte zu ihm, während in mir die mächtigsten Gedanken wogten und wallten und sich in so majestätische Worte kleideten, daß jedes derselben in einer langen Prozession von Silben einherzog, die schwerlich in weniger als fünfzehn Minuten vorüber sein konnte. Wieder befand ich mich in fieberhafter Aufregung ihm gegenüber, während er sanft und ruhig blieb. Er hatte die beschauliche Stellung des Kolosses von Rhodus angenommen; mit einem Fuß stand er auf meiner neugepflanzten Tuberose, mit dem anderen auf dem Stiefmütterchenbeet, die Hände in die Hüften gestemmt, die Hutkrempe ins Gesicht gezogen, ein Auge zugekniffen und das andere mit kritischem und bewunderndem Blick auf meinen größten Schornstein gerichtet. Ein solches Schauspiel zu betrachten, sagte er, sei die höchste Lebenslust. »Gestehen Sie selbst,« wandte er sich zu mir, »haben Sie je etwas von so entzückendem landschaftlichem Reiz gesehen, als acht Blitzableiter auf einem einzigen Schornstein?« Ich erwiderte, ich könne mich nicht gerade auf einen Anblick besinnen, der diesen überträfe, worauf er bemerkte, daß es nach seiner Ansicht auf Erden nichts gäbe, was sich an Naturschönheit damit vergleichen ließe – ausgenommen der Niagarafall. Um mein Haus zu einer vollkommenen Augenweide zu machen, brauche man nur noch die anderen Schornsteine etwas auszuschmücken, damit der ganze coup d’œil sich zu einer Harmonie entwickle, die geeignet sei, die Aufregung, in welche man durch den ersten coup d’état versetzt werde, einigermaßen zu mildern.

Als ich ihn fragte, ob er seine Art sich auszudrücken aus Büchern habe, die ich mir vielleicht irgendwo aus einer Leihbibliothek verschaffen könne, lächelte er wohlgefällig und meinte, solche Redeweise lasse sich nicht aus Büchern lernen. Nur wer mit dem Blitz vertraut sei, dürfe es wagen, sich ungestraft solcher Unterhaltungsform zu bedienen. Dann machte er einen ungefähren Anschlag und versicherte, wenn noch acht Blitzableiter über das Dach verteilt würden, so ließe sich mein Zweck wohl erreichen; mit fünfhundert Fuß des Leitungsmaterials dächte er auszukommen. Bei den ersten acht hätte er sich nämlich etwas verrechnet – nur um eine Kleinigkeit, etwa um hundert Fuß, genau könne er es noch nicht angeben. Ich sagte ihm, ich sei in schrecklicher Eile und wünsche das Geschäft schnell abzumachen, um wieder an meine Arbeit zu kommen. Da entgegnete er: »Einen Augenblick habe ich wohl daran gedacht, die acht Blitzableiter anzubringen und dann ruhig meiner Wege zu gehen. Mancher würde vielleicht an meiner Stelle so gehandelt haben, aber ich sagte mir: Nein, ich kenne den Mann nicht, und lieber möchte ich sterben, als einen Fremdling ins Unglück stürzen. Auf dem Haus sind noch nicht genug Blitzableiter, und ich rühre mich nicht vom Platz, bis ich ihm das gesagt habe und also getan, was ich wünschte, daß man mir in demselben Falle täte. – Fremdling, meine Pflicht ist erfüllt! Wenn der rekalzitrante und dephlogistische Himmelsbote Ihr Haus trifft, so – –«

»Schon gut, schon gut,« rief ich; »pflanzen Sie die andern acht auch auf – verwenden Sie meinetwegen noch fünfhundert Fuß spiralförmig gebogene Leitungsstangen; tun Sie, was Sie nicht lassen können; stillen Sie Ihr Sehnen, aber gestatten Sie Ihren Gefühlen nur so weit freien Lauf, als Sie mit dem Wörterbuch reichen können. Wenn wir uns jetzt genügend verständigt haben, möchte ich wieder an meine Arbeit gehen.«

Nun sitze ich schon seit einer vollen Stunde hier und versuche meinen Gedankengang da wieder aufzunehmen, wo ich zuletzt unterbrochen wurde; jetzt endlich ist es mir gelungen; ich fahre also fort:

»diesen großen Gegenstand zu bezwingen, aber selbst die Geistesmächtigsten unter ihnen haben einen würdigen Gegner an ihm gefunden, der sich nach jeder Niederlage nur um so mutiger erhebt. Der berühmte Confucius sagte, lieber wollte er ein tüchtiger Staatsmann sein, als Polizeipräsident. Cicero hat häufig den Ausspruch getan, daß die Staatswirtschaft die größte Wirtschaft sei, welche der Mensch imstande sei zu betreiben, und selbst unser Greeley hat im allgemeinen mit Nachdruck angedeutet, daß Staats –«

Hier ließ mich der Blitzableitermann wieder abrufen, und ich ging in einem Gemütszustand hinunter, der an Ungeduld grenzte. Er sagte, daß er untröstlich sei, mich noch einmal stören zu müssen – weit lieber wäre er gestorben. Aber wenn ihm eine Arbeit übertragen sei, von der man erwarte, daß er sie ordentlich und kunstgerecht ausführe und er nach Vollendung des Werkes, im Begriff sich seiner so wohlverdienten Ruhe und Erholung hinzugeben, noch einen betrachtenden Blick darauf werfe und zu seinem Schrecken gewahr werde, daß alle Berechnungen nicht genau genug gewesen seien und daß das Haus, für welches er ein persönliches Interesse fühle, falls ein Gewitter losbrechen sollte, dastehen werde, ohne auf der Welt einen anderen Schutz zu haben als sechzehn Blitzableiter auf dem Dach, ja dann – –«

»Kein Wort mehr,« schrie ich in wahnsinniger Erregung, »warum pflanzen Sie nicht hundertfünfzig auf? Zehn Stück auf die Küche, ein Dutzend auf die Scheune, ein paar auf die Kuh, einen auf die Köchin! Spicken Sie das ganze unselige Gebäude damit, bis es aussieht wie ein großes, zinkplattiertes, spiralförmig gewundenes, an den Spitzen versilbertes Stachelschwein. Fort ans Werk! Verbrauchen Sie das sämtliche verfügbare Material, und wenn Sie keine Blitzableiter mehr haben, stecken Sie Kolbenstangen auf, Ladestöcke, Wagendeichseln, Meßstangen – kurz alles, was Ihren schrecklichen Hunger nach künstlichen Landschaftsbildern zu stillen vermag, damit mein tobendes Gehirn und meine gemarterte Seele endlich Ruhe und Erlösung finden.«

Völlig ungerührt, lächelte das eiserne Geschöpf nur freundlich, streifte sich die Manschetten vorsorglich zurück und sagte, jetzt wolle er sich dahinter machen, daß es eine Art habe.

Seitdem sind drei Stunden vergangen, und mir scheint, ich habe mich noch immer nicht genügend beruhigt, um mich aufs neue der Staatswirtschaft, meinem hohen Thema, wieder zuzuwenden. Ich kann jedoch dem Wunsch nicht widerstehen, wenigstens einen Versuch zu machen, denn von der ganzen Weisheit der Welt liegt meinem Herzen nichts so nahe, und nichts beschäftigt meinen Verstand so sehr.

»– wirtschaft des Himmels beste Gabe für die Menschheit sei. Als der lockere, aber begabte Byron zu Venedig im Exil war, soll er die Bemerkung gemacht haben, daß, wenn ihm gestattet wäre zurückzukehren und sein vergeudetes Leben von vorn anzufangen, er seine klaren und nüchternen Stunden nicht dazu verwenden wolle, leichtsinnige Reime zu schmieden, sondern Aufsätze über Staatswirtschaft zu schreiben. Washington liebte diese herrliche Wissenschaft, Namen wie Baker, Beckwith, Judson, Smith sind auf ewige Zeiten damit verbunden. Sogar der unsterbliche Homer sagt in dem neunten Buch seiner Iliade:

fiat justitia, ruat coelum
Post mortem unum, ante bellum
Hic jacet hoc, ex-parte res
Politicum e-conomico est.

Der Gedankenreichtum des alten Dichters, verbunden mit der glücklichen Wahl der Worte, in die er seine erhabenen Bilder kleidet, haben diese Verse vor allen anderen berühmt gemacht, welche jemals –«

»Schweigen Sie, sage ich – kein Wort weiter! – Her mit Ihrer Rechnung und dann verschwinden Sie auf ewige Zeiten aus meinem Gesichtskreis. – Neunhundert Dollars? – Ist das alles? – Nun gut, auf diese Anweisung hier wird Ihnen jedes achtbare Bankhaus in Amerika Zahlung leisten. – Aber was bedeutet denn der Volksauflauf unten auf der Straße? – Nach den Blitzableitern wollen die Leute schauen? Du meine Güte! Haben sie denn noch nie im Leben Blitzableiter gesehen? – ›Noch nie einen solchen Haufen auf einem Dach,‹ sagen sie, wenn ich sie recht verstehe. Da muß ich doch einmal hinuntergehen und mir die Menschen betrachten, die eine solche Unkenntnis öffentlich zur Schau tragen.«

Drei Tage später. Wir sind alle in einem Zustand völliger Erschöpfung. Unser Haus, das wie ein Stachelschwein von Blitzableitern starrte, war vierundzwanzig Stunden lang der Gegenstand allgemeinen Staunens und das einzige Stadtgespräch. Die Theater standen leer, denn ihre neuesten szenischen Erfindungen konnten es bei weitem nicht mit meinen Blitzableitern aufnehmen. Tag und Nacht war unsere Straße von Zuschauern belagert; viele fuhren sogar vom Lande herein, um das Schauspiel zu genießen. Endlich am zweiten Tage kam uns glücklicherweise ein Gewitter zu Hilfe. Kaum begann der Blitz auf mein Haus loszugehen, als sich, sozusagen, sämtliche Bänke und Galerien im Handumdrehen leerten. Fünf Minuten später war im Umkreis einer halben Meile von meinem Besitztum kein einziger Zuschauer mehr zu erblicken. In den ferner gelegenen hohen Häusern jedoch drängte sich Kopf an Kopf an den Fenstern, auf den Dächern und überall. Das war auch nicht zu verwundern, denn alle Sternschnuppenfälle und glänzenden Feuerwerke eines Menschenalters zusammengenommen und gleichzeitig in einer ungeheueren Feuergarbe vom Himmel herab gegen ein schutzloses Dach losgelassen, hätten nicht die großartige pyrotechnische Wirkung erzielen können, durch welche mein Haus, mitten in der Dunkelheit, die während des Unwetters herrschte, wie mit Strahlenglanz umleuchtet war. Innerhalb vierzig Minuten schlug der Blitz – ich habe es genau gezählt – siebenhundertvierundsechzigmal in mein Grundstück ein, jedesmal angelockt durch einen der getreuen Blitzableiter. Er glitt an dem spiralförmig gewundenen Eisen entlang und schoß in den Boden, bevor er noch selbst recht wußte, wie ihm geschah. Während dieses ganzen Bombardements wurde mir nur eine einzige Schieferplatte zertrümmert und zwar deshalb, weil sämtliche Blitzableiter der Nachbarschaft in ein und demselben Augenblick alle Blitze, die sie gesammelt hatten, auf uns übertrugen. Seit Anbeginn der Welt war ein ähnliches Schauspiel nie gesehen worden. Während eines ganzen Tages und einer Nacht konnte kein Mitglied meiner Familie den Kopf aus dem Fenster strecken, ohne daß ihm das Haar ausgerissen und er so glatt rasiert wurde, wie eine Billardkugel; daß sich eins von uns hinausgewagt hätte, davon war schon gar nicht die Rede. Endlich wurde aber doch die entsetzliche Belagerung aufgehoben, weil auch keine Spur von Elektrizität mehr in den Wolken über uns vorhanden war, soweit meine unersättlichen Blitzableiter reichen konnten.

Sofort machte ich einen Ausfall, sammelte eine Schar unerschrockener Arbeiter um mich, und kein Bissen Brot kam über unsere Lippen, kein Schlaf in unsere Augen, bevor wir nicht das ganze Gebäude seiner schrecklichen Stachelrüstung entkleidet hatten. Nur drei Blitzableiter blieben auf dem Hause, einer auf der Küche und einer auf dem Scheunendach, wo sie noch heutigentages zu sehen sind. Erst als dieses geschehen war, wagten die Leute es wieder, unsere Straße zu betreten. Beiläufig will ich hier noch bemerken, daß ich während jener entsetzlichen Zeit meinen Aufsatz über die Staatswirtschaft nicht weiter geschrieben habe. Selbst jetzt sind mir Kopf und Nerven noch so angegriffen, daß ich die Arbeit nicht wieder aufnehmen kann.

Für Liebhaber. – Leute, welche dreitausendzweihundertundelf Fuß der besten, zinkplattierten, spiralförmig gewundenen Blitzableiterstangen und sechzehnhunderteinunddreißig versilberte Spitzen verwenden können – alles in leidlichem Zustande und obgleich durch den Gebrauch stark abgenutzt, doch für jeden gewöhnlichen Fall zu benützen – mögen sich zum Abschluß des Geschäfts an den Verfasser dieses Buches wenden.

Die Ameise.


Die Ameise.

Auf einer Wanderung im badischen Schwarzwald verfolgte ich einmal mit Aufmerksamkeit die Ameise bei ihrer emsigen Arbeit. Ich entdeckte jedoch nichts Neues an ihr, und besonders nichts, was mir eine höhere Meinung von ihr beigebracht hätte.

Mir scheint, daß die Ameise außerordentlich überschätzt wird, besonders was ihren Verstand betrifft. Ich habe sie nun schon manchen Sommer hindurch beobachtet, während ich etwas Besseres hätte tun können, und bis jetzt habe ich noch keine einzige gesehen, die bei ihrer Arbeit auch nur den geringsten Sinn und Verstand gezeigt hätte.

Ich meine natürlich nur die gemeine Ameise, denn mit den merkwürdigen afrikanischen Arten, welche Abgeordnete wählen, stehende Heere haben, Sklaven halten und über Religion streiten, habe ich keinen Verkehr gehabt. Was der Naturforscher von ihnen erzählt, mag alles wahr sein, aber in bezug auf die gewöhnliche Ameise bin ich fest überzeugt, daß uns vieles aufgebunden wird.

Ihren Fleiß will ich durchaus nicht bestreiten: in der ganzen Welt arbeitet niemand so angestrengt als sie, nur ihre Hohlköpfigkeit habe ich an ihr auszusetzen. Betrachten wir sie einmal, wenn sie auf Beute ausgeht. Sie hat einen Fang getan; aber was macht sie dann? Geht sie etwa nach Hause? Durchaus nicht, gerade im Gegenteil; sie weiß nicht mehr, wo ihre Wohnung ist und kann sie nicht finden, wenn sie auch kaum drei Fuß davon entfernt ist. Sie tut einen Fang, habe ich gesagt; aber es ist gewöhnlich etwas, das weder ihr noch sonst jemand vom geringsten Nutzen sein kann; gewöhnlich ist das Ding zehnmal so groß, als es sein sollte, sie faßt es gerade am unbequemsten Ende an und hebt es mit aller Gewalt in die Höhe, – dann trägt sie es fort, nicht nach Hause, sondern in entgegengesetzter Richtung, nicht ruhig und bedächtig, sondern mit rasender Eile, bei der sie ihre Kräfte unnütz vergeudet. Sie rennt gegen einen Kieselstein, und anstatt ihn zu umgehen, klettert sie rückwärts hinauf, zerrt ihre Beute hinter sich her, kugelt auf der andern Seite hinunter, springt wütend auf, schüttelt sich den Staub aus den Kleidern, wischt sich die Hände ab und greift gierig nach ihrem Eigentum, stößt es hierhin und dorthin, schiebt es jetzt vor sich her, dreht sich dann um und zerrt es weiter, mit immer wilderer Gebärde, bis sie es plötzlich wieder hoch in die Luft hebt und nach einer ganz neuen Richtung fortrennt. Nun stößt sie auf eine Pflanze, es fällt ihr aber gar nicht ein herumzugehen – nein, sie muß hinaufklettern, bis oben in die Spitze und noch dazu ihren ganz wertlosen Besitz hinter sich dreinziehen, was ungefähr ebenso klug ist, als wenn ich einen Sack Mehl von Heidelberg nach Paris über den Straßburger Kirchturm schleppen wollte. Wenn sie hinaufkommt, sieht sie, daß sie nicht am rechten Ort ist, wirft einen flüchtigen Blick auf die Gegend, klettert oder kugelt hinunter und nimmt einen neuen Anlauf – wie gewöhnlich in einer andern Richtung.

Nach Verlauf einer halben Stunde, kaum sechs Zoll von ihrem Ausgangspunkt entfernt, hält sie plötzlich still und legt ihre Last nieder; sie hat in dieser Zeit die ganze Umgegend zwei Meter in der Runde durchlaufen und ist über alle Steine und Pflanzen geklettert, die ihr in den Weg kamen. Jetzt wischt sie sich den Schweiß von der Stirn, streckt die Glieder und eilt dann ebenso ziellos und in so wahnsinniger Hast davon wie zuvor. Während sie im Zickzack umherläuft, stößt sie abermals auf ihre frühere Beute; sie erinnert sich nicht, sie je vorher erblickt zu haben, sieht sich nach dem Wege um, der nicht nach Hause führt, packt ihren Fund an und trägt ihn fort. Sie macht genau dieselben Abenteuer noch einmal durch, und als sie endlich still hält, um auszuruhen, kommt eine Freundin des Weges. Diese findet offenbar, daß das vorjährige Heuschreckenbein – das ist nämlich die Beute – eine sehr wertvolle Eroberung ist und sie bietet nun ihre Hilfe an, um die Fracht nach Hause zu schaffen. Mit höchst weisem Entschluß ergreifen sie jetzt die beiden äußersten Enden des Heuschreckenbeins und beginnen es aus Leibeskräften nach den zwei entgegengesetzten Richtungen zu zerren. Nun ruhen sie aus und halten Rat: etwas muß nicht in der Ordnung sein, aber sie können nicht begreifen, was es ist. Von neuem machen sie sich daran, gerade wie zuvor und mit demselben Ergebnis; nun schiebt eine die Schuld des Mißerfolgs auf die andere, sie werden hitzig und es kommt zu Tätlichkeiten; sie ringen zusammen und verbeißen sich ineinander, dann rollen und wälzen sie sich auf dem Boden umher, bis eine ein Horn oder ein Bein verliert. Hierauf versöhnen sie sich und machen sich auf dieselbe unsinnige Weise wiederum ans Werk; aber die verkrüppelte Ameise befindet sich im Nachteil, wie sehr sie auch zerrt, die andere schleppt die Beute weg und sie obendrein. Anstatt loszulassen, bleibt sie hängen, so daß ihr die Haut geschunden wird, so oft ein Hindernis im Wege liegt. So wird denn das Heuschreckenbein noch einmal auf demselben Platz herumgezerrt, um endlich an dem nämlichen Punkt zu landen, wo es zuerst gelegen hat. Die zwei keuchenden Ameisen betrachten es nachdenklich und kommen zu dem Schluß, daß dürre Heuschreckenbeine eigentlich ein schlechter Besitz sind, worauf denn jede nach einer anderen Richtung läuft, um zu sehen, ob sie nicht einen alten Nagel finden kann oder sonst etwas, was schwer genug ist, um einen Zeitvertreib zu gewähren und zugleich wertlos genug, um die Begierde einer Ameise zu reizen.

Auf einem Bergabhang im Schwarzwald sah ich eine Ameise, die diese ganze Arbeit mit einer toten Spinne durchmachte, welche mehr als zehnmal so schwer war wie sie.

Die Spinne war nicht ganz tot, hatte aber keine Widerstandskraft mehr, ihr runder Körper war etwa so groß wie eine Erbse. Die kleine Ameise, welche bemerkte, daß ich ihr zusah, nahm die Spinne auf den Rücken, krallte sich an ihrer Kehle fest, hob sie in die Höhe und trug sie gewaltsam fort; sie stolperte über kleine Steine, raffte sich wieder auf, trat auf die Beine der Spinne, zog sie rückwärts weiter, schob sie vor sich her, schleppte sie sechs Zoll hohe Steine hinauf, statt diese zu umgehen, erkletterte Pflanzen, die zwanzigmal so hoch waren wie sie, und sprang von oben herunter; dann ließ sie die Spinne endlich auf dem Wege liegen, wo sich jede andere Ameise ihrer bemächtigen konnte, die töricht genug war, sie zu begehren. Ich habe die Strecke ausgemessen, welche das einfältige Ding zurückgelegt hat, und bin zu dem Schluß gekommen, daß, was diese Ameise innerhalb zwanzig Minuten verrichtet hat, verhältnismäßig dasselbe ist, als wenn ein Mensch zwei achthundert Pfund schwere Pferde zusammenkoppelt und sie achtzehnhundert Fuß weit trägt, meist über hohe Steinblöcke, unterwegs mit ihnen Höhen erklimmt wie 300 Fuß hohe Kirchtürme und sich in Abgründe stürzt wie der Niagara, bis er die Pferde zuletzt auf einem offenen Platz niedersetzt und sie ohne Wächter zurückläßt, während er irgend ein anderes unsinniges Kraftstück probiert, um seiner Eitelkeit zu frönen.

Die Wissenschaft hat neuerdings entdeckt, daß die Ameise keinen Wintervorrat anlegt; dies wird sie um einen großen Teil ihres literarischen Ruhmes bringen. Sie arbeitet nur, wenn jemand zusieht, besonders jemand, der ein naturforscherähnliches Ansehen hat und Notizen zu machen scheint. Der sprichwörtliche Fleiß der Ameise läuft also beinahe auf Betrügerei hinaus, so daß sie als Beispiel für Sonntagsschulen hinfort nicht mehr zu gebrauchen ist. Sie hat nicht einmal Verstand genug, um gesunde Nahrung von schädlicher zu unterscheiden; bei solcher Unwissenheit wird sie die Achtung der Welt gänzlich verscherzen. Sie kann nicht um einen Baumstumpf herumgehen und sich dann wieder nach Hause finden; das streift an Blödsinn, und sobald diese Tatsache feststeht, werden verständige Leute die Ameise nicht länger bewundern. Ihr vielgepriesener Fleiß ist nichts als Eitelkeit und hat keinerlei Zweck, da sie nie etwas nach Hause trägt, was sie herumschleppt. Damit geht auch noch der letzte Rest ihres guten Rufes und ihr Hauptnutzen als sittliches Beispiel verloren. Es übersteigt doch wirklich alle Begriffe, daß so viele Nationen jahrhundertelang nicht hinter die Schliche der Ameise gekommen sind, während es doch ganz auf der Hand liegt, daß sie die Leute nur zum besten hat!

Die Ameise ist stark, aber ich habe an demselben Tag noch etwas Stärkeres gesehen, und zwar in der Pflanzenwelt. Ein Fliegenschwamm – jener Pilz, der in einer Nacht aufschießt – hatte eine feste Lage von Tannennadeln und Erdreich, die etwa doppelt soviel Umfang hatte als er, in die Höhe gehoben, und trug sie, wie die Säule das Wetterdach! Demnach hätten zehntausend Fliegenschwämme Kraft genug, um einen Mann zu heben, – aber, wozu sollte das nützen?

Ein türkisches Bad.


Ein türkisches Bad.

Wenn ich daran denke, wie ich durch Beschreibungen von Reisen im Orient beschwindelt worden bin, so könnte ich ganz rasend werden. Jahraus, jahrein habe ich von den Wundern des türkischen Bades geträumt, und jahraus, jahrein habe ich mir versprochen, ich solle noch eines zu genießen bekommen. Ach, wie oft habe ich in Gedanken in dem Marmorbade gelegen und die einschläfernden Düfte morgenländischer Gewürze, welche die Luft erfüllten, eingeatmet; habe dann eine geheimnisvolle und verwickelte Prozedur von Ziehen und Recken, Naßmachen und Abreiben durchgemacht, welche von einer Schar nackter Wilder ins Werk gesetzt wurde, die gleich Dämonen in den dampfenden Nebeln auftauchten; habe dann eine Weile auf einem Diwan, der sich für einen König paßte, ausgeruht; bin darauf durch eine zweite Feuerprobe und zwar durch eine furchtbarere als die erste hindurchgegangen und schließlich, in weiche Stoffe gehüllt, in einen fürstlichen Saal gebracht und auf ein Bett von Eiderdunen gelegt worden, wo Eunuchen in prachtvoller Tracht mir Kühlung zufächelten, während ich in träumerischem Halbschlummer dalag oder mit Behagen auf die reichen Behänge des Gemachs, die weichen Teppiche, die prächtigen Hausgeräte und Bilder hinschaute, köstlichen Kaffee trank, das beruhigende Nargileh rauchte und zuletzt, eingelullt von wollüstigen Düften aus ungesehenen Räucherpfannen, von dem sänftigenden Einflusse des persischen Tabaks und von der Musik plätschernder Springbrunnen, die das Tröpfeln eines Sommerregens nachahmten, in ruhigen Schlaf versank.

Es war ganz das Bild, wie es in den phantasievollen Reisebüchern steht. Aber es ist eine elende Täuschung.

Man empfing mich in einem großen Hofe, der mit Marmorplatten gepflastert war. Ringsherum liefen breite Galerien, eine über der andern, mit schmutzigen Matten statt mit Teppichen belegt, und von unangestrichenen Balustraden eingefaßt. Möbliert waren sie mit riesigen gichtbrüchigen Stühlen, darauf zerfressene alte Matratzen als Sitzkissen, eingebogen und ausgehöhlt durch die Eindrücke, welche die Formen von neun aufeinanderfolgenden Generationen, die auf ihnen geruht, zurückgelassen hatten. Der Raum war groß, kahl, öde, der Hof eine Scheune, die Galerien wie Pferdeställe. Die leichenhaften, halbnackten Knechte, die in dem Etablissement Dienste leisteten, hatten in ihrer Erscheinung nichts von Poesie, nichts von Romantik, nichts von morgenländischer Pracht. Sie verbreiteten keine entzückenden Düfte – vielmehr das Gegenteil. Ihre hungrigen Augen und ihre hageren Gestalten ließen einen fortwährend an eine sehr prosaische Tatsache denken, – daß sie Verlangen trugen nach dem, was man in Kalifornien »eine rechtschaffene Abfütterung« nennt.

Ich ging in eine von den Zellen und entkleidete mich. Ein unsauberer, verhungert aussehender Bursche umhüllte seine Lenden mit einem bunten Tischtuche und hing mir einen weißen Fetzen über die Schultern. Ich wurde sodann in den Hof hinabgeführt, der so feucht und schlüpfrig war, daß ich ausglitt und hinfiel. Mein Fall rief jedoch keinerlei Bemerkung hervor. Man hatte ihn ohne Zweifel erwartet. Er gehörte offenbar zu der Reihe sänftigender, wollüstiger Eindrücke, die dieser Heimstätte des morgenländischen Luxus eigentümlich sind. Man gab mir ein Paar hölzerne Pantoffeln oder vielmehr Brettchen, mit Lederstrippen daran, um sie an den Füßen festzuhalten (was sie auch getan haben würden, wenn ich eine andere Nummer trüge). Diese Dinge baumelten unbequem an den Strippen, wenn ich die Füße erhob, und wenn ich sie wieder niedersetzte, drehten sie sich seitwärts, daß meine Fußknöchel umknickten und schier aus dem Gelenke gingen. Indes war alles morgenländischer Luxus, und ich tat, was ich konnte, um mich seiner zu erfreuen.

Man brachte mich in einen andern Teil der Scheune und legte mich auf eine Art von Pritsche, die nicht etwa aus Goldbrokat oder persischen Schals bestand, sondern dasselbe einfache und anspruchslose Ding war, das ich in den Negerquartieren von Arkansas fand. In diesem düstern Marmorgefängnis befand sich weiter gar nichts als noch fünf von diesen Bahren. Es war ein sehr feierlicher Ort. Ich erwartete jetzt, die balsamischen Düfte Arabiens würden nunmehr meine Sinne gefangen nehmen, aber es war nichts. Ein kupferfarbenes Gerippe, das einen Fetzen umgehangen hatte, brachte mir eine bauchige Flasche mit Wasser, mit einer glimmenden Tabakspfeife obendrauf und einem biegsamen und langen Schlauch daran, der in ein messingenes Mundstück auslief.

Es war das berühmte Nargileh des Morgenlandes – das Ding, welches der Großtürke auf Bildern zu rauchen pflegt. Das fing in der Tat an, wie Luxus auszusehen. Ich tat einen Zug daraus, und der genügte mir; der Rauch drang mir in einer großen Wolke hinunter in den Magen, in die Lungen, ja bis in die äußersten Enden des Gebäudes meines Körpers. Ich platzte mit einem einzigen mächtigen Husten los, und es war, als ob der Vesuv ausgebrochen wäre. Die nächsten fünf Minuten qualmte ich aus allen Poren, wie ein Bretterhaus, das inwendig brennt. Ich danke schön für alle Zeit für den weiteren Genuß des Nargileh. Der Rauch hatte einen niederträchtigen Geschmack, und noch widerwärtiger war der Geschmack von Tausenden von ungläubigen Zungen, der an jenem messingenen Mundstück hing. Ich fing an den Mut zu verlieren. Wenn ich künftig wieder den Großtürken in vorgeblichem seligem Behagen außen auf einem Paket mit Connecticut-Tabak sein Nargileh schmauchen sehe, werde ich wissen, daß es nichts ist als schamloser Schwindel.

Mein Gefängnis war mit heißer Luft gefüllt. Als ich hinreichend durchwärmt war, um für eine noch wärmere Temperatur vorbereitet zu sein, führten sie mich in ein Marmorzimmer, feucht, schlüpfrig und voll Dampf, und legten mich auf eine erhöhte Plattform im Mittelpunkte. Es war hier sehr warm. Bald darauf setzte mich mein Mann neben einen Trog mit heißem Wasser, begoß mich tüchtig, zog über seine rechte Hand einen groben Badehandschuh und begann mich über und über mit demselben zu reiben. Ich fing an garstig zu riechen. Je mehr er rieb, desto garstiger roch ich. Es war beunruhigend. Ich sagte zu ihm:

»Ich merke jetzt, daß ich so ziemlich hin bin. Vernünftigerweise sollte man mich ohne allen unnötigen Zeitverlust begraben. Vielleicht täten Sie am besten, ohne Verzug zu meinen Freunden zu gehen, weil das Wetter heiß ist, und ich deshalb nicht lange halten werde.«

Er fuhr fort mich zu schaben, ohne auf meine Worte zu achten. Ich bemerkte bald, daß er meinen Umfang verkleinerte. Unter dem Druck seines Fausthandschuhs gingen kleine Würstchen von mir ab, die wie Makkaroni aussahen. Es konnte kein Schmutz sein; denn dazu war es zu weiß. Nachdem er mich eine geraume Zeit in dieser Weise abgehobelt hatte, sagte ich:

»Das ist ein langweiliges Verfahren. Es wird Stunden erfordern, um mich zu dem Umfang abzuschaben, den Sie mir zu geben gedenken. Gehen Sie und holen Sie lieber einen Schrubbhobel.«

Er gab durchaus keine Acht auf das, was ich sagte.

Nach einer Weile brachte er ein Becken, etwas Seife und ein Ding, das wie ein Pferdeschwanz aussah. Er schlug eine ungeheure Masse Seifenschaum, überflutete mich damit vom Kopf bis zu den Füßen, ohne mir vorher zu sagen, ich solle die Augen schließen, und fegte mich alsdann mit heimtückischer Heftigkeit vermittelst seines Pferdeschwanzes. Dann ließ er mich als schneeweiße Bildsäule von Seifenschaum zurück und ging seiner Wege. Als ich des Wartens überdrüssig war, ging ich ihm nach und spürte ihn auf. Er lehnte eingeschlafen an der Wand in einem andern Gemache. Ich weckte ihn auf. Dies brachte ihn keineswegs aus der Fassung. Er führte mich zurück, übergoß mich mit heißem Wasser, setzte mir einen Turban auf den Kopf, kleidete mich in trockene Tischtücher und geleitete mich zu einer Art Hühnerkäfig in einer der Galerien und zeigte auf eine jener vorhin beschriebenen Pritschen. Ich legte mich hinauf und gab mich wieder der unbestimmten Erwartung hin, jetzt würden sich die arabischen Wohlgerüche einstellen. Sie kamen nicht. Dafür kam ein dürrer Diener mit einem Nargileh. Ich bewog ihn, es ohne Zeitverlust wieder hinauszutragen. Darauf brachte er den weltberühmten türkischen Kaffee, den Poeten viele Generationen hindurch so hinreißend besungen haben, und ich warf mich auf ihn los als die letzte Hoffnung, die mir von meinen Träumen vom morgenländischen Luxus geblieben war. Es war wieder eine Täuschung. Von allen unchristlichen Getränken, die je über meine Lippen gingen, ist der türkische Kaffee das schlimmste. Die Tasse ist klein, mit Bodensatz beschmiert, der Kaffee schwarz, von unangenehmem Geruch und abscheulichem Geschmack. Am Boden der Tasse sitzt ein schlammiger Niederschlag, einen halben Zoll tief. Dieser geht die Kehle hinab und dabei bleiben Teilchen davon unterwegs hängen und bewirten ein unbehagliches, kitzelndes Gefühl, welches einen stundenlang bellen und husten läßt.

Hier endet meine Erfahrung von dem vielgerühmten türkischen Bade, und hier endigt auch mein Traum von dem seligen Behagen, in welchem der Sterbliche schwelgt, der ein solches durchmacht. Es ist ein boshafter Schwindel. Der Mensch, dem es gefällt, ist geeignet, sich alles gefallen zu lassen, was dem Gesichts- und Gefühlssinn widerwärtig ist, und der, welcher es mit dem Zauber der Poesie zu umgeben vermag, ist auch imstande, desgleichen zu tun mit allem andern in der Welt, was langweilig, erbärmlich, trübselig und garstig ist.

Ein Besuch des Niagara.


Ein Besuch des Niagara.

Das Städtchen ›Niagara Falls‹ ist ein sehr beliebter Vergnügungsort, die Gasthäuser sind vortrefflich und die Preise durchaus nicht übertrieben. Eine bessere Gelegenheit für den Fischfang gibt es im ganzen Lande nicht, ja, sie ist sogar nirgends auch nur annähernd so gut wie hier, denn, während anderswo gewisse Stromstellen den übrigen bedeutend vorzuziehen sind, ist am Niagara eine Stelle gerade so gut wie die andere. Der Fisch beißt hier nämlich nirgends an, und so ist es ganz überflüssig, daß man erst fünf Meilen weit geht, um zu fischen, weil man fest darauf rechnen kann, daß man näher am Hause ebensowenig Erfolg haben wird. Dieser Zustand der Dinge hat Vorzüge, welche dem Publikum noch niemals recht zu Gemüt geführt worden sind.

Das Wetter ist im Sommer kühl, die Ausflüge zu Fuß und zu Wagen alle angenehm und nicht ermüdend. Wenn man den Wasserfall ›abmachen‹ will, fährt man erst ungefähr eine Meile stromabwärts und bezahlt dann eine Kleinigkeit für die Berechtigung, von einem Felsvorsprung auf die schmalste Stelle des Niagaraflusses hinabzusehen. Ein Eisenbahndurchstich durch einen Berg würde ebenso hübsch sein, wenn in seiner Tiefe, wie hier, ein rasender Fluß seine Wogen tobend und schäumend vorüberwalzte. Man kann nun auf einer Treppe hundertundfünfzig Fuß hinabsteigen und am Rande des Wassers stehen. Nachdem man es getan, fragt man sich verwundert, warum man es getan hat – aber dann ist es zu spät.

Der Führer beschreibt uns darauf in seiner schauerlichen Weise, die einem das Blut in den Adern gerinnen macht, wie er den kleinen Dampfer, ›die Nebeljungfrau‹, die gräßlichen Stromschnellen hinunterfahren gesehen hat – wie erst ein Radkasten in den wütenden Wellen verschwand, dann der andere – an welcher Stelle ihr Dampfschlot über Bord stürzte, wo ihre Planken anfingen zu brechen und sich auseinanderzuspalten – und wie sie endlich dennoch mit dem Leben davonkam, nachdem sie das Ungeheuerliche geleistet hatte, siebzehn Meilen in sechs Minuten zurückzulegen – oder sechs Meilen in siebzehn Minuten – ich habe wirklich vergessen, welches von beiden. Aber jedenfalls war es etwas ganz Außerordentliches. Schon den Führer die Geschichte neunmal hintereinander verschiedenen Personen erzählen zu hören, ohne daß er jemals ein Wort ausläßt, einen Satz oder eine Gebärde verändert, ist das Eintrittsgeld wert. Dann fährt man über die Hängebrücke, wobei es einem ganz jämmerlich zumut wird, denn man stellt sich unwillkürlich vor, daß man hier entweder zweihundert Fuß tief in den Fluß hinunterstürzen oder den Eisenbahnzug über unserem Kopf auf uns niederschmettern könnte. Jede dieser Möglichkeiten ist an sich unbehaglich, aber beide zusammengenommen, versetzen uns in die elendeste Stimmung.

Auf der kanadischen Seite fahren wir an der Schlucht hin, zwischen langen Reihen von Photographen, welche hinter ihren Kasten Wache stehen, um uns und unser wackliges Fuhrwerk im Vordergrund ihres Bildes prangen zu lassen, wahrend der erhabene Niagara nur verkleinert und wesenlos im Hintergrunde erscheint. Sollte man es für möglich halten, daß eine Menge Leute aus unglaublicher Frechheit oder angeborener Nichtsnutzigkeit diese Art von Verbrechen anstiften oder denselben Vorschub leisten!?

Tagtäglich gehen aus den Händen dieser Photographen stolze Bilder von Papa und Mama, mit oder ohne Kindern, hervor, alle einfältig lächelnd, alle in gekünstelten, unbequemen Stellungen auf den Wagensitzen gruppiert, alle in blödsinniger Größe emporragend vor der in verkleinertem Maßstab übel zugestutzten Darstellung des majestätischen Naturwunders, des Falles, dessen dienende Geister die Regenbogen sind, dessen Stimme der Donner ist, dessen ehrfurchtgebietende Stirn sich in Wolken hüllt. Er war hier König vor vergangenen und vergessenen Zeitaltern, ehe dieses Menschengewürm geschaffen ward, um auf eine Spanne Zeit in den ungezählten Welten der Schöpfung eine Lücke auszufüllen. Und er wird hier herrschen, jahrhunderte- und jahrtausendelang, nachdem dies Geschlecht zu dem andern Gewürm, seinen Blutsverwandten, versammelt worden ist und sich mit ihrem toten Staub vermischt hat.

Es richtet zwar keinen Schaden an, wenn man den Niagara zum Hintergrunde wählt, um die eigene, wunderbare Bedeutungslosigkeit in gutes, starkes Licht zu stellen, aber es gehört eine übermenschliche Selbstgefälligkeit dazu, um so etwas zu tun.

Hat man den ungeheuern Hufeisen-Fall lange genug betrachtet, um sich zu überzeugen, daß nichts daran zu verbessern ist, so kehrt man über die neue Hängebrücke nach Amerika zurück und geht am Ufer entlang, wo die Höhle der Winde besichtigt werden muß.

Hier legte ich, wie man mir riet, meine sämtlichen Kleidungsstücke ab und zog eine wasserdichte Jacke und ebensolche Beinkleider an. Diese Tracht ist malerisch, aber nicht schön. Ein ähnlich gekleideter Führer ging uns auf einer Wendeltreppe voran, die sich hinab wand und wand und fortfuhr sich zu winden, lange nachdem das Ding aufgehört hatte, etwas Neues zu sein; ehe es aber noch anfing ein Vergnügen zu werden, ging es zu Ende. Wir waren jetzt unterhalb des Wassersturzes, aber noch immer in beträchtlicher Höhe über der Oberfläche des Stromes.

Nun begannen wir über unsichere Brücken, die aus einer einzigen Planke bestanden, behutsam weiterzuschreiten; vor dem Untergang schützte unsere Leiber nur ein gebrechliches Holzgeländer, an das ich mich mit beiden Händen anklammerte – nicht etwa aus Furcht, sondern weil es mir so gefiel. Es ging immer steiler hinab, die Brücke wurde immer gebrechlicher und der Sprühregen des amerikanischen Falles traf uns mit immer stärkeren Güssen, so daß wir bald nicht mehr aus den Augen sehen konnten. Von nun an drangen wir nur tastend weiter. Ein rasender Wind begann hinter dem Wasserfall hervorzubrausen und schien entschlossen, uns von der Brücke zu fegen, an dem Felsen zu zerstücken und unten in die Stromschnellen zu schleudern. – Ich sagte, ich wolle nach Hause – aber es war zu spät. Wir befanden uns beinahe unter der riesigen Wasserwand, die von oben herabdonnerte, das Reden war ganz vergeblich inmitten eines solchen Höllenlärms.

Im nächsten Augenblick verschwand der Führer hinter der Sündflut, und, von dem Donner betäubt, vom Winde hilflos weiter getrieben, von dem niederprasselnden Regensturm wie mit Geißeln gepeitscht, folgte ich ihm. Alles war Finsternis. Solch ein tolles Stürmen, Brüllen und Heulen von kämpfenden Winden und Wasserfluten hatte mir noch nie in den Ohren gedröhnt. Ich bückte den Kopf nieder und der Ozean schien mir auf den Nacken zu fallen. Der Weltuntergang schien gekommen. Die Flut goß so gewaltig hernieder, daß ich nicht das mindeste sehen konnte. Als ich den Kopf mit offenem Munde emporrichtete, lief mir der größte Teil des amerikanischen Katarakts die Kehle hinunter. Wenn ich jetzt einen Leck bekommen hätte, wäre ich verloren gewesen. In diesem Augenblick entdeckte ich, daß die Brücke zu Ende war und wir auf den schlüpfrigen, abschüssigen Felsen einen Halt für unsere Tritte suchen mußten. In meinem ganzen Leben hatte ich noch keine solche Angst ausgestanden, ohne daran zu sterben! – Endlich aber arbeiteten wir uns durch und kamen wieder ans Tageslicht, wo wir der brausenden, schäumenden und wallenden Wasserwelt gegenüber standen und sie anstaunen konnten. Als ich von vorn die große Masse sah, die es so furchtbar ernstlich betrieb, tat mir’s leid, daß ich dahinter gegangen war.

Nach der Besichtigung der ›Fälle‹ begab ich mich in das nahe dabei gelegene Städtchen ›Niagara Falls‹. Als ich in den dortigen Läden die Ausstellung von allen möglichen Indianerartikeln sah: Perlarbeiten, Mokassins und Figürchen, welche menschliche Wesen darstellen sollten, da übermannte mich die Rührung. Ich dachte, daß ich nun endlich die edle Rothaut von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekommen werde. Der Indianer ist immer ein Freund und Liebling von mir gewesen. Ich mag gern in Geschichten, Sagen und Romanen von dem Indianer lesen, von seinem angeborenen Scharfsinn, seiner Liebe zum wilden, freien Leben in Gebirge und Wald, von dem Adel seiner Gesinnung, von seiner bilderreichen Redeweise, seiner ritterlichen Liebe zu der braunen Maid und von seiner malerischen Tracht.

Von der Verkäuferin in einem Laden erfuhr ich, daß sämtliche Merkwürdigkeiten, die darin zur Schau gestellt waren, wirklich von den Indianern verfertigt seien. Sie sagte, man könne bei den Fällen stets viele antreffen, die friedlich und freundlich wären, so daß es durchaus nicht gefährlich sei, mit ihnen zu sprechen. Und richtig – als ich mich der Brücke näherte, die nach der Luna-Insel führt, stieß ich auf einen edlen Sohn der Wälder, welcher eifrig an einem Strickbeutel aus Glasperlen arbeitend unter einem Baume saß. Er trug einen Schlapphut und Holzschuhe und hatte eine kurze schwarze Pfeife im Munde. So sehr schwindet bei der verderblichen Berührung mit unserer verweichlichten Zivilisation die malerische Pracht, die dem Indianer natürlich ist, wenn er, fern von uns, in seinen heimatlichen Jagdgründen lebt! – Ich redete diese Ruine ihres Stammes also an:

»Ist der Wawhoo Wang des Whackawacks glücklich? Sehnt sich der große gefleckte Donner nach dem Kriegspfad – oder ist Sein Herz zufrieden, wenn es von dem braunen Mädchen, dem Stolz der Wälder, träumt? – Dürstet der mächtige Sachem danach, das Blut seiner Feinde zu trinken – oder genügt es Ihm, Arbeitsbeutel für die Töchter der Bleichgesichter zu machen? Sprich, herrlicher Nachkomme verschwundener Größe – ehrwürdige Reliquie, sprich!«

Hierauf die Reliquie:

»Was – mich, Dennis Hooligan, haltet Ihr vor so ’nen schmierigen Indianer, Ihr näselnder, hohlbackiger, spinnebeiniger Teufelskerl? Bei dem Pfeifer, der vor Moses spielte, ich mach‘ Euch den Garaus!«

Da fand ich für gut, mich zu entfernen.

Bald darauf traf ich beim Terrapin-Turm eine sanfte Tochter der Ureinwohner in befranzten und perlengestickten Mokassins und Gamaschen. Sie saß auf einer Bank, ihre zierlichen Waren um sich her ausgebreitet. Soeben hatte sie einen Häuptling aus Holz geschnitzt, der eine starke Familienähnlichkeit mit einer Waschklammer aufwies, und bohrte ihm nun ein Loch in den Unterleib, um seinen Bogen hindurchzustecken.

Ich zögerte einen Augenblick, dann redete ich sie an.

»Ist dem Mädchen der Wälder das Herz schwer? Fühlt sich die lachende Kaulquappe einsam? Trauert Sie über das erloschene Beratungsfeuer ihres Stammes und die entschwundene Herrlichkeit ihrer Vorfahren? Oder schweift Ihr schwermütiger Geist weit fort nach den Jagdgründen, zu denen Ihr tapferer Blitz-Verschlinger gezogen ist? – Warum schweigt meine Tochter? Ist Sie dem fremden Bleichgesicht nicht wohlgesinnt?«

Darauf das Mädchen:

»Na, so was! Mich, Biddy Malone, nimmt Er sich ‚raus zu schimpfen. Mach‘ Er sich davon, sonst schmeiß ich Sein dürres Gerippe in den Wasserfall, Er lumpiger Bummler!«

Auch hier ging ich von dannen.

»Hol‘ der Henker diese Indianer,« dachte ich. »Man hat mir doch erzählt, sie wären zahm – aber wenn der Schein nicht völlig trügt, sollte ich meinen, sie wären alle auf dem Kriegspfade.«

Noch einen Versuch machte ich – einen letzten – mich mit ihnen zu verbrüdern. Ich stieß auf eins ihrer Lager, wo ich sie im Schatten eines Baumes versammelt fand, beschäftigt, Wampum und Mokassins anzufertigen, und redete mit ihnen in der Sprache der Freundschaft:

»Edle Rothäute,« sagte ich, »tapfere, große Sachems, Kriegshäupter, Squaws und hohe Muckamucks, das Bleichgesicht vom Lande der untergehenden Sonne grüßt euch! du, Mildtätiger, Iltis – du, Berge-Verschlinger, – du, – brüllender Donnerschlag – du, Kampfhahn mit dem Glasauge – das Bleichgesicht von jenseits des großen Wassers bietet euch allen seinen Gruß. Krieg und Seuchen haben eure Reihen gelichtet und eure einst so stolze Nation dem Untergang geweiht; Poker, Sieben Oben1 und der eitle, neumodische Kostenaufwand für Seife, die euern ruhmvollen Ahnen unbekannt war, haben euern Beutel geleert. Daß ihr euch in eurer Einfalt das Eigentum anderer zugeeignet habt, brachte euch in Ungelegenheiten. Eine falsche Darstellung von Tatsachen, die eurer Harmlosigkeit entsprang, hat euern Ruf in den Augen des seelenlosen Bedrückers geschädigt. Ihr habt Tauschhandel getrieben, um Feuerwasser zu bekommen, euch zu betrinken, euch glücklich zu fühlen und eure Familien mit dem Tomahawk umzubringen. Das hat die malerische Pracht eurer Kleidung für alle Zeit zugrunde gerichtet. Da steht ihr nun, in der grellen Beleuchtung des neunzehnten Jahrhunderts, aufgeputzt wie die Haderlumpe und der Janhagel aus den Vorstädten von Neuyork! Schande über euch! Gedenket eurer Ahnen! Ruft euch ihre Großtaten zurück! Erinnert euch an Unkas, an die Rote Jacke, das Loch im Tage und Whoopdedoodledo! Eifert ihren Taten nach! Sammelt euch unter meinem Banner, edle Wilde, gefeierte Gurgelabschneider!«

»Nieder mit ihm!« – »Zerschlagt ihm das Großmaul!« – »Verbrennt ihn!« – »Hängt ihn!« – »Schmeißt ihn ins Wasser!«

Ein schnelleres Verfahren war noch nicht dagewesen. – Ich sah es nur plötzlich in der Luft aufblitzen von Knütteln, Backsteinen, Fäusten, Körben mit Glasperlen und Mokassins – wie ein einziger Strahl, denn das alles schien mich zu gleicher Zeit zu treffen, doch jedes auf einer anderen Stelle! Im nächsten Augenblick fiel der ganze Stamm über mich her. Sie rissen mir die Hälfte meiner Kleider vom Leibe; sie brachen mir Arme und Beine entzwei; sie versetzten mir einen Schlag auf den Kopf, der eine Einbucht in meine Schädeldecke machte, daß man hätte daraus Kaffee trinken können, wie aus einer Untertasse; und um ihr schändliches Werk zu krönen und zum Schimpf noch Schaden zu fügen, warfen sie mich in den Niagarafluß, daß ich naß wurde.

Ungefähr neunzig oder hundert Fuß vom oberen Rande blieb ich mit den Fetzen meiner Weste an einer vorspringenden Felsecke hängen und würde fast ertrunken sein, ehe ich loskommen konnte. Endlich fiel ich und tauchte am Fuß des Falles wieder auf, in einer Welt von weißem Schaum. Natürlich geriet ich in den Strudel. Ich kreiste darin vierundvierzigmal herum, hinter einem Holzspan her, dem ich immer näher kam – vierundvierzigmal griff ich nach demselben Busch am Ufer und verfehlte ihn jedesmal um eines Haares Breite.

Endlich kam ein Mann heruntergegangen, setzte sich dicht bei dem Busch nieder, steckte seine Pfeife in den Mund, strich ein Zündholz an und verfolgte mich mit einem Auge, während er das andere auf das Hölzchen richtete, das er mit den Händen vor dem Wind schützte. Aber ein Windstoß blies es aus. Als ich das nächste Mal herumkreiste, redete er mich an.

»Haben Sie ein Streichholz?«

»Ja, in meiner andern Westentasche; helfen Sie mir, bitte, heraus.«

»Für kein Geld!«

Als ich wieder herumkam, sagte ich:

»Entschuldigen Sie die anscheinend unbescheidene Neugier eines Ertrinkenden; aber wollen Sie mir gefälligst Ihr sonderbares Verhalten erklären?«

»Sehr gern. Ich bin der Leichenbeschauer. Beeilen Sie sich nicht um meinetwillen – ich kann auf Sie warten. Aber ich wollte, ich hätte ein Zündholz!«

Ich sagte: »Kommen Sie an meine Stelle und ich will Ihnen eins holen.«

Er ging auf diesen Vorschlag nicht ein, und dieser Mangel an Vertrauen seinerseits erzeugte eine Verstimmung zwischen uns. Von da ab vermied ich ihn und nahm mir vor, falls mir etwas zustieße, die Katastrophe so zu berechnen, daß meine Kundschaft dem Leichenbeschauer drüben auf der amerikanischen Seite zufiele.

Zuletzt kam ein Polizist des Weges, der mich verhaftete, weil ich durch mein Hilfegeschrei die öffentliche Ruhe am Ufer störe. Der Richter legte mir eine Geldbuße auf, aber da zog er den kürzeren. Mein Geld war in meinen Beinkleidern – und meine Beinkleider waren bei den Indianern.

So bin ich dem Tode entgangen. Ich liege aber jetzt hier in sehr kritischer Verfassung. Doch liege ich wenigstens, kritisch oder nicht kritisch. Ich bin am ganzen Leib voll Wunden, und der Doktor, der mich behandelt, meint, er werde vor heute abend mit der Aufnahme meiner Verletzungen nicht fertig sein. Indessen sagt er schon jetzt, daß nur sechzehn von meinen Wunden gefährlich sind – auf die übrigen lege ich keinen Wert.

Als ich wieder zum Bewußtsein kam, sagte ich:

»Das ist ein gräßlich wilder Indianerstamm, der die Perlarbeiten und Mokassins für ›Niagara Falls‹ macht, Doktor. Wo kommen die Leute wohl her?«

»Aus Limerick,2 mein Freund.«

  1. Kartenspiele.
  2. Die ›Wilden‹ sind Irländer, aus denen, wie bekannt, das rauflustigste Gesindel in den amerikanischen Städten besteht.

Zeitungswesen in Tennessee.


Zeitungswesen in Tennessee.

Der Arzt riet mir zur Wiederherstellung meiner Gesundheit den Aufenthalt in einem milderen Klima an; ich ging daher nach dem Süden und bekam in Tennessee eine Stelle als Hilfsredakteur bei der Zeitung ›Morgenrot und Kriegsgeschrei von Johnson County‹.

Als ich mich zur Arbeit im Bureau einstellte, fand ich den Chefredakteur auf einem dreibeinigen Stuhl hintenüber gerekelt, die Füße auf einem Tisch von Tannenholz. Ein zweiter solcher Tisch stand noch im Zimmer und ein ebenso wackeliger Stuhl davor; beide waren halb begraben unter Haufen von Zeitungsblättern nebst Fetzen und Bogen von Manuskripten. Ferner befanden sich noch daselbst ein hölzerner, mit Sand gefüllter Spucknapf, in welchem Zigarrenstummel und ausgedienter Kautabak lagen, und ein Ofen, dessen Tür nur noch an einer Angel hing. Der Chefredakteur trug einen langschoßigen schwarzen Tuchrock, weißleinene Beinkleider und niedere, glänzend gewichste Stiefel, ein Hemd mit altmodischem steifem Stehkragen und gefälteltem Einsatz, einen großen Siegelring und ein karriertes Halstuch, dessen Zipfel herabhingen. Die Tracht stammte etwa aus dem Jahre 1848. Er rauchte eine Zigarre, suchte nach einem Wort und fuhr sich dabei in die Haare, daß ihm die Locken zu Berge standen. Nach seinem grimmigen Blick zu urteilen, mußte er gerade einen besonders beißenden Leitartikel unter der Feder haben. Er sagte mir, ich solle die Tageszeitungen durchgehen und was mir aus ihrem Inhalt interessant scheine, kurz zusammenfassen und zu einer ›Rundschau in der Presse von Tennessee‹ verarbeiten. Ich schrieb nun folgenden Artikel:

Rundschau in der Presse von Tennessee. »Was die Eisenbahn nach Ballyhack betrifft, so ist die Redaktion des Wochenblatts ›Erdbeben‹ offenbar in einem Irrtum befangen. Es liegt keineswegs in der Absicht der Gesellschaft, Buzzardville seitwärts liegen zu lassen. Der Ort gilt im Gegenteil für einen der wichtigsten Punkte auf der ganzen Strecke, und man hat durchaus nicht den Wunsch, daß er unberücksichtigt bleibt. Die Herren vom ›Erdbeben‹ werden das Mißverständnis natürlich mit Vergnügen berichtigen.«

»Der geistvolle Redakteur des ›Donnerkeil und Schlachtrufs der Freiheit‹, John W. Blossom von Higginsville, ist gestern in unserer Stadt angekommen und im Van Burenhaus abgestiegen.«

»Wir bemerken, daß unser Kollege vom ›Morgengeheul‹ in Mud-Spring die irrtümliche Ansicht vertritt, daß die Wahl Van Werters keine feststehende Tatsache sei. Er wird jedoch höchst wahrscheinlich seinen Mißgriff schon selbst entdeckt haben, bevor wir ihn hierdurch auf denselben aufmerksam machen. Unvollständige Wahlberichte mögen ihn zu seiner falschen Annahme verleitet haben.«

»Es freut uns, mitteilen zu können, daß die Stadt Blathersville mit einigen Neuyorker Herren in Verhandlung steht, welche es übernehmen wollen, ihre fast grundlosen Straßen durch ein Nicholsonsches Pflaster passierbar zu machen. Das ›Tägliche Hurra‹ empfiehlt diese Maßregel mit großem Geschick und Nachdruck und scheint den schließlichen Erfolg zuversichtlich zu erwarten.«

Ich übergab mein Manuskript dem Chefredakteur zur Annahme, Abänderung oder Vernichtung. Er warf einen Blick darauf, und seine Stirn umwölkte sich. Mit unheilverkündendem Gesichtsausdruck überlas er die Seite; es mußte irgend etwas nicht in Richtigkeit sein, das ließ sich leicht erkennen. Plötzlich sprang er auf und rief:

»Himmeldonnerwetter! Halten Sie das für die Art, wie man die Lumpenkerle behandeln muß? Glauben Sie etwa, meine Abonnenten würden sich solche Milchsuppe auftischen lassen? Her mit der Feder!«

Noch nie habe ich eine Feder so boshaft kratzen und streichen hören oder so erbarmungslos durch die Haupt-, Zeit- und Eigenschaftswörter eines Nebenmenschen fahren sehen. Während er noch so recht bei der Arbeit war, schoß jemand nach ihm durch das offene Fenster und verunstaltete mir das rechte Ohr.

»Aha,« rief er, »das ist der Smith, der Halunke vom ›Moralischen Vulkan‹; den habe ich schon gestern erwartet.« Er riß einen Seemannsrevolver aus dem Gürtel und feuerte. Sein Gegner stürzte, in die Hüfte getroffen, zu Boden. Smith war eben daran gewesen zu zielen, um einen zweiten Schuß abzugeben, dieser ging nun vorbei und traf einen Unbeteiligten – nämlich mich. Nur ein Finger abgeschossen. Der Chefredakteur fuhr hierauf fort auszustreichen und dazwischenzuschreiben. Eben war er damit zu Ende, als eine Handgranate durch das Ofenrohr herabschoß und den Ofen in tausend Stücke zertrümmerte. Sonst richtete sie keinen weiteren Schaden an, außer daß sich ein Splitter verirrte und mir ein paar Zähne ausschlug.

»Der Ofen wird gar nicht mehr zu brauchen sein,« sagte der Chefredakteur.

Ich versetzte, das sei auch meine Meinung.

»Na, einerlei – bei dem Wetter können wir ihn entbehren. Ich kenne den Kerl schon, der das getan hat. Der entgeht mir nicht. – Hier, sehen Sie, in diesem Ton muß man reden, wenn man solche Artikel schreibt.«

Ich nahm das Manuskript, in dem so viel ausgestrichen und eingeschaltet war, daß seine eigene Mutter es nicht wiedererkannt haben würde, hätte es eine gehabt. Es lautete jetzt folgendermaßen:

Rundschau in der Presse von Tennessee.

»Die ausbündigen Lügenmäuler vom ›Erdbeben‹ sind offenbar beflissen, dem edlen und hochherzigen Volk abermals eine ihrer niederträchtigen und gotteslästerlichen Unwahrheiten in betreff der erhabensten Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, der Eisenbahn nach Ballyhack, aufzubinden. Den Gedanken, man würde Buzzardville seitwärts liegen lassen, haben sie in ihrem eigenen, vermoderten Gehirn ausgeheckt. Wir raten ihnen, die Lüge schleunigst hinunterzuwürgen, wenn sie nicht wollen, daß man ihrem schlotterigen Knochengerippe die Haut durchgerbt, wie sie es verdienen.«

»Der Schafskopf vom ›Donnerkeil und Schlachtruf für Freiheit‹, Blossom aus Higginsville, ist wieder hier, um sich im Van Buren-Haus zu mästen und vollzusaugen.«

»Wir hören, daß der blödsinnige Schurke vom ›Morgengeheul‹ in Mud-Spring mit seiner gewohnten Fertigkeit im Lügen die Nachricht verbreitet, daß Van Werters Wahl nicht durchgegangen ist. – Die Presse hat den heiligen Beruf, die Wahrheit zu verbleiten, dem Irrtum zu steuern, zu erziehen, zu bilden, die öffentliche Moral und Sitte zu heben und zu verfeinern, das Volk sanfter, tugendhafter, wohltätiger und in jeder Beziehung weiser, besser und glücklicher zu machen; aber dieser schändliche Halunke entwürdigt sein hohes Amt fortgesetzt, indem er Lügen, Verleumdungen, Aufhetzungen und Gemeinheiten umherstreut.«

»Blathersville beabsichtigt sich Nicholsonsches Pflaster anzuschaffen. Ein Gefängnis und ein Armenhaus täten weit eher not. Welcher Wahnsinn – ein Pflaster in einem lumpigen Ort mit zwei Schnapsbrennereien, einer Schmiede und dem ›Täglichen Hurra‹,diesem Senfpflaster von einer Zeitung! Das alte Kriechtier, der Buckner, welcher das ›Hurra‹ herausgibt, kräht schon seinen gewöhnlichen Blödsinn über das Pflaster in die Welt hinaus und bildet sich ein, was er sagt, hätte irgend welchen Menschenverstand.«

»Sehen Sie, so muß man’s machen – gepfeffert und zur Sache. Von einer Schreiberei ohne Kraft und Saft wird mir’s ganz übel.«

Währenddem flog ein Ziegelstein durchs Fenster, das krachend zersplitterte, und traf mich mit aller Wucht in den Rücken. Ich schob meinen Stuhl aus der Schußlinie und begann zu fühlen, daß ich im Wege sei.

Der Chef sagte: »Das muß wohl der Oberst sein, den ich schon seit zwei Tagen erwarte. Gleich wird er heraufkommen.«

Er irrte sich nicht. Schon im nächsten Augenblick erschien der Oberst mit einer Dragonerpistole an der Tür.

»Mein Herr,« sagte er, »habe ich die Ehre, mit dem Prahlhans zu reden, der diesen erbärmlichen Plunder verfaßt?«

»Jawohl, mein Herr. Nehmen Sie Platz – aber vorsichtig, der Stuhl hat ein Bein verloren. Ich habe wohl das Vergnügen, das Lügenmaul, Oberst Blatherskite Tecumseh bei mir zu sehen?«

»Ganz recht, mein Herr. Wir haben noch ein Hühnchen miteinander zu pflücken, und wenn es Ihre Zeit erlaubt, fangen wir gleich an.« »Ich bin gerade bei einem Artikel über den ›erfreulichen Fortschritt der geistigen und moralischen Entwicklung in Amerika‹ – aber das eilt nicht. Nur immer zu.«

Beide Pistolen knallten zu gleicher Zeit los. Die Kugel des Obersten raubten dem Chef eine Haarlocke und drang dann in den fleischigen Teil meines Schenkels, Dem Oberst war ein Stück der linken Schulter weggeschossen. Sie feuerten zum zweitenmal, schossen aber vorbei, nur ich erhielt meinen Anteil – einen Schuß in den Arm, Die dritte Ladung verwundete beide Herren leicht und mir ward ein Knöchel angeschossen. Hierauf äußerte ich, es käme mir unzart vor, noch länger bei dieser Privatangelegenheit zugegen zu sein; ich wolle lieber hinausgehen und einen Spaziergang machen. Aber die Herren baten mich sitzen zu bleiben, und versicherten, ich sei ihnen durchaus nicht im Wege.

Sie unterhielten sich nun über die Wahlen und den Ausfall der Ernte, während sie wieder luden, und ich begab mich daran, meine Wunden zu verbinden. Darauf fingen sie von neuem mit Eifer zu feuern an und jeder Schuß traf – doch muß ich bemerken, daß von sechs Kugeln fünf auf meine Rechnung kamen. Die sechste brachte dem Obersten eine tödliche Wunde bei, worauf er mit seinem Humor bemerkte, er wolle uns jetzt einen Guten Morgen wünschen, da er Geschäfte in der Stadt habe. Dann fragte er nach der Wohnung des Leichenbesorgers und entfernte sich.

Der Chefredakteur wendete sich nun zu mir und sagte: »Ich erwarte Gäste zu Tische und muß mich jetzt zurecht machen. Sie tun mir Wohl den Gefallen, unterdessen die Korrektur zu lesen und die Besucher zu empfangen.«

Bei dem Gedanken an die Besucher ward mir etwas bange zumute; aber mir fiel nichts ein, was ich erwidern konnte, so betäubt war ich noch von dem Knattern der Pistolenschüsse, das mir fortwährend in den Ohren klang.

Er fuhr fort: »Jones wird um drei Uhr hier sein – walken Sie ihn tüchtig durch. Gillespie kommt vielleicht noch früher – werfen Sie ihn zum Fenster hinaus. Terguson trifft wahrscheinlich gegen vier Uhr ein – schlagen Sie ihn tot. Für heute ist das alles, glaube ich. Wenn Sie Zeit übrig haben, schreiben Sie einen fulminanten Artikel gegen die Polizei; geben Sie dem Oberinspektor ein paar tüchtige Hiebe. – Die Knüttel liegen unter dem Tisch, die Pistolen in der Schublade, der Schießbedarf dort in der Ecke, Leinwand und Verbandzeug im Fach des Schreibtisches. Wenn Ihnen etwas zustoßt, gehen Sie zu Lancet, dem Wundarzt, hinunter. Er macht Anzeigen in unserm Blatt, und wir begleichen die Rechnungen tauschweise.«

Fort war er. Mir schauderte. – Nach Verlauf von drei Stunden hatte ich so entsetzliche Gefahren bestanden, daß alle Seelenruhe und Heiterkeit von mir gewichen war. Gillespie hatte sich eingefunden und mich aus dem Fenster geworfen; Jones war pünktlich gekommen, als ich mich aber anschickte, ihn durchzuwalken, nahm er mir die Arbeit ab. Bei dem Zusammenstoß mit einem Unbekannten, der nicht auf der Liste stand, hatte ich mein Haar mitsamt der Kopfhaut verloren. Ein anderer Fremder, der sich Thompson nannte, ließ mich als Trümmerhaufen und Lumpenbündel zurück. Zuletzt sah ich mich voll Verzweiflung in einen Winkel getrieben und durch eine wütende Rotte von Zeitungsschreibern, Gaunern, Politikern und Strolchen belagert, die alle in wilder Raserei tobten, fluchten und ihre Waffen über meinem Haupte schwangen, bis die ganze Luft von blitzendem Stahle flimmerte. Schon war ich im Begriff, meine Stelle bei der Zeitung aufzugeben, als der Chef eintrat, begleitet von einer Schar schwärmerischer Freunde und Anhänger. Nun entstand ein Auftritt, der jeder Beschreibung spottet, ein Blutbad und Gemetzel, das keine Federpose, keine Stahlfeder zu schildern vermag. Die Leute wurden erschossen, erdolcht, zerstückt, in die Luft gesprengt und aus dem Fenster geworfen. Auf einen kurzen Wirbelsturm von entsetzlichen Flüchen folgte noch ein wahnsinniger, wirrer Kriegstanz – und alles war vorüber. Nach fünf Minuten herrschte Totenstille; der grimme Chef und ich saßen allein da und überschauten die blutigen Trümmer, welche die Diele ringsumher bedeckten.

Er sagte: »Es wird Ihnen hier schon gefallen, wenn Sie sich erst an die Stelle gewohnt haben.«

»Sie werden mich wohl entschuldigen müssen,« entgegnete ich. »Vielleicht würde ich es nach einer Weile dahinbringen, daß Ihnen meine Schreibweise gefiele; sobald ich die Sprache gelernt hätte, könnte es mir bei einiger Übung wohl nicht fehlen. Aber, offen gestanden, hat eine so kräftige Ausdrucksweise auch allerhand Nachteile, und man wird bei der Arbeit zu häufig unterbrochen. Sie sehen das selbst. Eine kernige Schreibart mag viel zur geistigen Förderung der Leser beitragen, aber man lenkt dadurch die öffentliche Aufmerksamkeit zu sehr auf sich, und das ist mir unbehaglich. Wenn ich so oft gestört werde, wie heute, kann ich nicht mit Gemütsruhe schreiben. Die Stelle wäre mir sonst ganz angenehm, aber ich mag nicht allein im Bureau bleiben, um die Besucher zu empfangen. Ich gestehe zwar, daß die Erfahrungen, welche man dabei macht, neu und gewissermaßen recht unterhaltend sind, aber es geht doch nicht ganz nach Recht und Billigkeit zu. Ein Herr feuert nach Ihnen durch das Fenster und schießt mich zum Krüppel; eine Granate platzt zu Ihrem Vergnügen im Ofenrohr, und die Ofentür fliegt mir an den Kopf; ein Freund besucht Sie, um mit Ihnen Komplimente auszutauschen und sprenkelt mir die Haut mit so vielen Kugellöchern, daß sie kaum mehr zusammenhält. Dann, während Sie zum Mittagessen gehen, kommt Jones mit seinem Knüttel, Gillespie wirft mich aus dem Fenster, Thompson reißt mir die Kleider vom Leibe, und ein völlig Unbekannter zieht mir mit solcher Unbefangenheit die Kopfhaut ab, als wären wir längst miteinander vertraut. Gleich darauf kommen noch sämtliche Schurken der Umgegend, erschrecken mich zu Tode mit ihren gräßlichen Kriegstänzen und drohen, mir mit ihren Tomahawks vollends den Garaus zu machen. Alles in allem habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht so viele Aufregungen durchgemacht wie heute. Sonst habe ich nichts gegen Sie; im Gegenteil, die ruhige Art und Weise, mit der Sie den Besuchern Ihre Ansicht auseinandersetzen, gefällt mir; aber wie gesagt, mir ist sie ungewohnt. Das Herz der Südländer ist so ungestüm, sie sind zu freigebig in ihrer Gastfreundschaft gegen den Fremdling. Die Artikel, welche ich heute geschrieben habe und in deren kalte Sätze Ihre Meisterhand alle Glut des Zeitungsstils von Tennessee hineingegossen hat, werden abermals einen ganzen Hornissenschwarm aufstören. Die Redakteure werden sich haufenweise auf uns stürzen und vor Hunger jemand zum Frühstück verspeisen wollen. Deshalb sage ich Ihnen Lebewohl. Ich wünsche dem Festmahl nicht beizuwohnen. Meiner Gesundheit wegen habe ich mich in den Süden begeben – meiner Gesundheit wegen muß ich machen, daß ich wieder fortkomme. Das Zeitungswesen in Tennessee ist zu aufregend für mich.«

Hierauf trennten wir uns unter beiderseitigem Bedauern und ich suchte mir eine Wohnung im Hospital.

Ein Miniaturreich im Weltmeer.


Ein Miniaturreich im Weltmeer.

Vor einiger Zeit ging durch die Zeitungen folgende Mitteilung:

»Die eigentliche ›Insel der Glückseligen‹ scheint die Pitcairnsinsel in den australischen Gewässern zu sein. Eine norwegische Barke hat diese Insel angelaufen und den Berichten des Barkenführers entnimmt der ›Daily Telegraph‹ folgendes: Solch ein Musterstaat ist vorher niemals bekannt gewesen. Die Gesetze desselben umfassen die kleinsten Dinge, und sind, was häusliche Angelegenheiten betrifft, geradezu mikroskopisch. Die Regierung komponiert die Hymnen für die Schulkinder, das Staatsoberhaupt entwirft nicht nur das Programm der täglichen Tänze, sondern spielt selber die Violine und geigt seinen Leuten die Tänze vor, mit denen sie jeden Werktag der Woche schließen.«

Das klingt so merkwürdig, daß einiges aus der Geschichte der Insel und ihrer Bewohner gewiß gern vernommen wird:

Vor ungefähr hundert Jahren brach auf dem englischen Schiffe ›Bounty‹ eine Meuterei der Mannschaft aus, der Kapitän und die Offiziere wurden den Wellen preisgegeben, während die Mannschaft im Besitze des Schiffes südwärts segelte. Sie landeten auf Tahiti, wo sie sich unter den Eingeborenen Frauen nahmen, begaben sich dann auf eine einsame Felseninsel, inmitten des Stillen Ozeans, die sogenannte Pitcairnsinsel, und machten das Schiff zum Wrack, indem sie alles zur Niederlassung brauchbare Material in und an dem Schiff auf das Eiland schafften. Pitcairns-Eiland liegt vom Weltverkehr so weit ab, daß nur selten Schiffe vorbeikommen. Man hatte die Insel für unbewohnt gehalten, bis im Jahre 1808 der Kapitän eines daselbst ankernden Schiffes zu seinem Erstaunen die Entdeckung der Insulaner machte. Die streitsüchtigen Meuterer hatten sich indessen gegenseitig bis auf zwei oder drei umgebracht, doch war bereits ein junger Nachwuchs vorhanden, so daß die Bevölkerung im Jahre 1808 27 Personen betrug. John Adams, der Rädelsführer, war noch am Leben: er war bis zu seinem 1879 erfolgten Tode der Beherrscher und Patriarch des Völkchens. Er war zu einem christlichen Lebenswandel übergegangen und sein Volk von 27 Köpfen bildete die frömmste und strengste Gemeinde der Christenheit. Adams hatte sich freiwillig unter den Schutz der englischen Flagge, die er aufhißte, begeben. Nach dem neuesten Zensus zählt die Bevölkerung 90 Personen: 16 Männer, 19 Frauen, 25 Knaben und 30 Mädchen, lauter Abkömmlinge der Meuterer. Sie sprechen nur die englische Sprache. Die Insel ragt wie Helgoland aus der See; sie ist dreiviertel Meilen lang und stellenweise bis zu einer halben Meile breit. Das Ackerland ist den verschiedenen Familien zugeteilt. Auch gibt es einen mannigfaltigen Viehstand: Ziegen, Schweine, Hühner und Katzen; aber keine Hunde oder sonst größere Tiere. Die Kirche auf Pitcairn ist zugleich Schule, Rathaus und Bibliothek. Das Staatsoberhaupt führt den Titel: ›Bürgermeister und Gouverneur, Untertan Ihrer Majestät der Königin von England‹. Dasselbe wird vom ganzen Volke gewählt; wahlberechtigt ist jeder Einwohner ohne Unterschied des Geschlechts.

Die einzige Beschäftigung der Leute, als sie entdeckt wurden, bestand in Landwirtschaft und Fischfang; ihre einzige Zerstreuung im Gottesdienst. Es gab weder einen Kaufladen noch Geld auf der Insel. Gewohnheiten und Bekleidung der Insulaner waren ebenso einfach wie ihre Gesetze. Sie lebten dahin in einer tiefen Sabbatruhe, fern von der Welt, ihrem Ehrgeiz und ihrer Drangsal. Einmal alle drei bis vier Jahre landete ein Schiff, das die mittlerweile veralteten Neuigkeiten von blutigen Schlachten, verheerenden Epidemien und gestürzten Thronen brachte, sodann gegen Seife und Flanell einige Yamswurzeln und Brotfrucht eintauschte, und dann wieder fortsegelte, um die Insel für ein paar Jahre sich selbst zu überlassen.

Vor einigen Jahren besuchte der Admiral Horsey an der Spitze der englischen Flotte in den pazifischen Gewässern die Insel und erstattete darüber an das Parlament einen Bericht. In demselben heißt es:

»Die Insulaner pflanzen Bohnen, rote und weiße Rüben, Kohl und etwas Mais, Ananas, Feigen- und Orangen-, Zitronen- und Kokosnußbäume. Ihre Kleider erhalten sie gelegentlich von vorüberfahrenden Schiffen im Austausch gegen Nahrungsmittel. Die Insel hat kein eigenes Wasser, da es aber eine Regenperiode auf der Insel gibt, fehlt es nicht daran. Trunkenheit ist ein unbekanntes Laster. Die Bedürfnisse der Insulaner sind vornehmlich: Leinwand, Flanell, Halbstiefel, Kämme, Seife, Tabak; auch Landkarten und Schiefertafeln für ihre Schulen, sowie Werkzeuge jeder Art tauschen sie gerne ein. Ich ließ sie mit einer Flagge zum Aufhissen bei der Ankunft von Schiffen versehen, sowie mit einer Handsäge, deren sie sehr bedürftig waren. Dies wird, wie ich hoffe, die Billigung der Lords finden. Sobald das freigebige englische Volk von den Bedürfnissen dieser kleinen würdigen Kolonie erfährt, wird es gewiß bereit sein, denselben abzuhelfen.

Gottesdienst wird jeden Sonntag um 10½ Uhr vor- und 3 Uhr nachmittags in dem von John Adams gebauten Hause gehalten. Derselbe wird streng nach der Liturgie der Kirche von England von Mr. Simon Young, ihrem erwählten Pastor, der in hoher Achtung steht, begangen. Eine Bibelstunde wird jeden Mittwoch gehalten, wo alle, die abkommen können, zugegen sind. Auch ist eine allgemeine Gebetstunde am ersten Freitag jeden Monats. Familiengebete werden in jedem Haus als Erstes in der Frühe und Letztes des Abends gesprochen, und nie wird gespeist, ohne daß Gottes Segen vor- und nachher erbeten würde. Von den religiösen Eigenschaften dieser Insulaner kann man nur mit der größten Hochachtung sprechen. Ein Volk, daß sich’s zum größten Vergnügen und zur Pflicht macht, im Gebet mit seinem Gott vereinigt zu sein und das fröhlich, fleißig ist und freier von Lastern als irgend eine andere Gemeinde, bedarf kaum eines Priesters.«

In dem Bericht des Admirals findet sich zum Schluß die geringfügig erscheinende Bemerkung: »Ein Fremder, ein Amerikaner, hat sich unlängst auf der Insel niedergelassen – eine zweifelhafte Erwerbung.« Der Admiral hatte keine Ahnung, wie sehr er mit seiner kritischen Bemerkung recht hatte. An diesen Amerikaner knüpft sich die Geschichte einer großen Revolution auf der sonst so stillen und friedlichen Insel. Über dieses Ereignis liegt von dem amerikanischen Kapitän Ormsby, welcher vier Monate nach des englischen Admirals Besuch zufällig auf die Insel kam, ausführliche Kunde vor, die wir in Kürze wiedererzählen.

Der obenerwähnte amerikanische Eindringling hieß Butterworth Stavely. Derselbe begann damit, sich durch alle möglichen Pfiffe und Kniffe bei den Pitcairnern einzuschmeicheln. Er wurde bald sehr beliebt; zumal er alle seine weltlichen Gewohnheiten verließ und sich mit ganzer Inbrunst auf die Religion warf. Bald übertraf er alle in der Ausdauer und Inbrunst des Betens und Hymnensingens. Sobald er die Zeit für gekommen erachtete, begann er heimlich die Saat der Zwietracht zu streuen. Es war von Anfang an seine überlegte Absicht, die Regierung zu stürzen. Zu diesem Zweck bediente er sich der verschiedensten Mittel. Bei den einen erweckte er Unzufriedenheit, indem er auf die Kürze der Sonntagsfeier hinwies, und drei- anstatt der eingeführten zweistündigen Gottesdienste befürwortete. Die Anhänger dieser Meinung verbündeten sich in der Stille zu einer Partei, um für ihre Reform zu wirken. Den Frauen redete er ein, daß ihre Stimme nicht genügend in der Gebetstunde vertreten sei; so entstand eine zweite Partei. Keine Waffe war ihm zu gering. Selbst die Kinder zog er zu sich herüber, indem er in ihren jungen Herzen Unzufriedenheit erweckte, durch seine Entdeckung, daß sie nicht genug Sonntagsschule hätten. Das erzeugte eine dritte Partei.

Als Stavely solchermaßen vorgearbeitet, führte er einen Schlag gegen die oberste Magistratsperson, Yames Russel Nickroy, einen Mann von Charakter und Tüchtigkeit, einen der wohlhabendsten Bewohner und Besitzer des einzigen Fahrzeuges auf der Insel, eines Walfischbootes. Um zu erzählen, wie sich das begab, muß in der Geschichte der Insel zurückgegriffen werden.

Eines der wichtigsten Gesetze auf der Insel ist das gegen Eigentumsverletzung; es gilt als das Palladium der Volksfreiheit. Vor etwa dreißig Jahren kam ein wichtiger Fall, der unter dieses Gesetz fiel, vor das Gericht. Ein Hühnchen, das der Elisabeth Young (damals 58 Jahre alt, eine Tochter John Mills, eines der Meuterer der ›Bounty‹) gehörte, richtete auf dem Grundstück Henry Christians (29 Jahre alt, ein Enkel Fletcher Christians, eines der Meuterer) Unfug an. Christian tötete das Hühnchen.

Nach dem Gesetz war Christian berechtigt, indem er das tote Huhn zurückgab, Ersatz für den von demselben angerichteten Schaden zu beanspruchen. Christian tat das letztere und beanspruchte einen Scheffel Yamswurzeln als Entschädigung, was Fräulein Young zu viel war. Sie klagte und das Gericht setzte die Entschädigung auf einen halben Scheffel herab.

Christian appellierte dagegen. Der Prozeß ging darauf durch alle Instanzen. Endlich – im vorigen Sommer – nachdem der Prozeß zwanzig Jahre geschwebt – war der Streit vor das höchste Obergericht gelangt. Dasselbe bestätigte das ursprüngliche Urteil. Christian mußte sich nun zufrieden geben, aber Stavely raunte dessen Verteidiger ins Ohr, er ›solle – bloß der Form wegen‹ – verlangen, daß ihm das betreffende Gesetz, auf das sich das Urteil bezog, vorgezeigt werde, damit er sich von seiner Existenz überzeugen könne. Das Gericht ließ diesen seltsamen Einfall gelten. Ein Bote wurde in das Haus des Bürgermeisters geschickt, welcher bald darauf mit der Nachricht wiederkehrte, das Gesetz sei aus dem Staatsarchiv verschwunden. Der Gerichtshof mußte darauf seine Entscheidung für null und nichtig erklären. Das Publikum aber geriet in große Aufregung über den Verlust des Gesetzes, das seine wichtigsten Freiheitsrechte enthielt. Auf Stavelys Antrag erfolgte die Anklage des Bürgermeisters. Seine würdige Haltung und ruhige Beteuerung, daß er an dem Verlust unschuldig sei, indem er das Staatsarchiv stets in der nämlichen Zigarrenschachtel aufbewahrt habe und dasselbe weder verlegt noch zerstört habe, half ihm nichts. Er wurde abgesetzt und sein Vermögen eingezogen. Das Erbärmlichste an der Geschichte war, daß von seinen Feinden als Grund, warum er das Gesetz vernichtet habe, angegeben wurde, er habe dadurch Christian nützen wollen, weil er sein Vetter sei. Und doch gab es auf der Insel außer Stavely keinen Menschen, der nicht Christians Vetter gewesen wäre. Denn es läßt sich denken, daß die ganze Einwohnerschaft mit der Zeit durch Heiraten so miteinander verbunden wurde, daß nachgerade ein jeder in allen möglichen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den anderen stand.

Ein Fremder sagt z. B. zu einem der Insulaner: »Sie sprechen von jener jungen Frau als Ihrer Base; vor einer Weile nannten Sie sie Tante!« Er wird vielleicht darauf zur Antwort erhalten:

»Nun, sie ist meine Tante und auch meine Base; ferner ist sie meine Stiefschwester, meine Nichte, meine Base im 4., 23. und 32. Grad, meine Großtante, meine Großmutter, meine verwitwete Schwägerin, – und nächste Woche wird sie mein Weib werden!«

So war denn der Vorwurf des Nepotismus gegen den Angeklagten überaus schwach; aber schwach oder stark, er paßte in Stavelys Plan. Derselbe wurde alsbald an des Gestürzten Stelle zum Bürgermeister gewählt. Es regnete nun Reformen. Eine der ersten war, daß der zweite Sonntagvormittags-Gottesdienst, der sonst 35 bis 40 Minuten gedauert hatte und in welchem eine Fürbitte für jeden Weltteil, jede Nation und jeden Volksstamm eingelegt war, um eine Stunde verlängert und daß die Fürbitte auf alle erdenklichen Volker auf den verschiedenen Planeten ausgedehnt wurde. Die Neuerung gefiel allgemein und die Leute sagten sich: das sieht doch etwas gleich. Als Stavely das Verbot des Essens am Sonntag an die Stelle des bisherigen Verbots, an diesem Tage zu kochen, setzte, und die Sonntagsschule über den ganzen Sonntag dauern ließ, kannte der Jubel des Volkes keine Grenzen. Durch seine Neuerungen machte sich Stavely bald zum Abgott des Volkes.

Stavely wagte einen weiteren Schritt. Er begann unter der Hand die öffentliche Meinung gegen England aufzuwiegeln. Als er die Geister einzeln angeschürt, trat er öffentlich auf und erklärte, die Nation sei es ihrer Ehre und Vergangenheit schuldig, sich des drückenden englischen Joches zu entledigen. Darauf erwiderten einige besonnene Insulaner: »Wir fühlen den Druck nicht. Wie sollten wir? England sendet alle paar Jahre ein Schiff zu uns, das uns Seife und Tuch und was wir sonst brauchen, bringt, und läßt uns im übrigen in Ruhe.«

»Läßt uns in Ruhe?« entgegnete Stavely. »So haben Sklavenseelen jederzeit gefühlt und gesprochen. Solche Worte zeigen, wie tief ihr schon unter dem Druck der Tyrannei gesunken seid. Wie, hat euch aller Mannesstolz verlassen? Ist euch Freiheit nichts? Seid ihr zufrieden, immer nur ein Anhängsel an eine fremde und hassenswerte Macht zu sein, wo ihr doch berechtigt wäret, euern Platz unabhängig groß und frei in der erhabenen Familie der Nationen einzunehmen?«

Solche Reden verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Insulaner begannen das englische Joch zu fühlen; sie fühlten es, ohne zu wissen, wo und wie. Sie begannen zu klagen, zu murren, unter eingebildeten Ketten zu seufzen und sich nach Befreiung und Erleichterung zu sehnen. Ihre Abneigung gegen England wuchs. Während sie vordem auf dem Wege nach ihrem Kapitol freudig an dem englischen Banner hinaufsahen, schlugen sie jetzt die Augen vor dem Symbol ihrer Untertänigkeit nieder. Eines Morgens fand man die Flagge herabgerissen und in den Staub getreten. Niemand hißte sie wieder auf. Der Staatsstreich lag in der Luft. Nächtlicherweile kamen einmal einige Bürger zu Stavely. Es entspann sich folgende Unterhaltung:

»Wir können diese verhaßte Tyrannei nicht länger ertragen; wie entledigen wir uns derselben?«

»Durch einen coup d’état

»Was ist das?«

»Ein Staatsstreich, oder coup d’état ist so: Alles wird vorbereitet und zur verabredeten Stunde verkündige ich, als das Staatsoberhaupt, öffentlich und feierlich die Unabhängigkeit der Insel.«

»Das klingt einfach und leicht. Wir könnten das gleich tun. Womit sollen wir beginnen?«

»Bemächtigt euch aller Kriegsmittel und des öffentlichen Eigentums, veröffentlicht das Kriegsrecht, setzt die Armee und Marine auf Kriegsfuß und verkündigt das Kaisertum.«

Dieses schöne Programm blendete die Unerfahrenen. Sie sagten:

»Das ist groß – erhaben, aber wird England keinen Widerstand leisten?« »Es mag! Dieser Felsen ist ein Gibraltar!«

»Richtig, aber wie ist’s mit dem Kaisertum? Brauchen wir ein Kaiserreich und einen Kaiser?«

»Was ihr braucht, meine Freunde, das ist Einheit. Seht auf Deutschland, auf Italien. Sie sind geeinigt. Einigkeit tut not. Dieselbe verteuert zwar das Leben; aber das ist gleichbedeutend mit Fortschritt. Wir müssen ein stehendes Heer, eine Flotte haben. Daraus folgen selbstverständlich Steuern, aber diese sind nur Zeichen der Größe. Einig und groß, was wollt ihr mehr? Nur ein Kaisertum kann euch diese Wohltaten schaffen.«

So wurde am 8. Dezember Pitcairns-Eiland für ein freies und unabhängiges Reich erklärt und an demselben Tage fand unter großem Jubel und Festlichkeiten die Krönung von Butterworth I., Kaiser der Pitcairnsinsel statt.

Nie in der Geschichte der Insel war ein solches Schauspiel gesehen worden. Im Gänsemarsch zog das gesamte Volk – mit Ausnahme der kleinen Kinder – hinter dem Throne, auf welchem der Kaiser saß, mit Fahnen und Musik einher. Die Begeisterung kannte keine Grenzen.

Nun begannen unverzüglich die kaiserlichen Reformen. Adelsklassen wurden eingerichtet, ein Marineminister ernannt und das Walfischboot in Dienst gesetzt; ein Kriegsminister wurde berufen, mit dem Auftrag, sogleich zur Bildung eines stehenden Heeres zu schreiten. Ein erster Lord des Schatzes wurde ernannt und mit dem Entwurfe eines Steuerplanes betraut; zugleich sollte er Unterhandlungen eröffnen zum Abschluß von Schutz- und Trutzbündnissen, sowie von Handelsverträgen mit den fremden Mächten. Einige Generale und Admirale wurden eingesetzt, ebenso einige Kammerherren, Hofstallmeister und sonstige Hofchargen.

Damit aber war alles vorhandene Menschenmaterial verwendet. Der Kriegsminister, mit dem Titel ›Großherzog von Galiläa‹, beklagte sich, daß die sechzehn erwachsenen Männer des Reiches sämtlich hohe Ämter erhalten hätten und sich infolgedessen weigerten, in Reih‘ und Glied zu dienen; er sei deshalb in großer Verlegenheit betreffs seines stehenden Heeres. Der Marineminister, Marquis von Ararat, beklagte sich aus demselben Grunde; er erklärte sich bereit, das Walfischboot selbst zu steuern, müsse aber unbedingt Leute zum Rudern haben.

Der Kaiser tat das beste, was er in diesem Falle tun konnte: er nahm alle Knaben über zehn Jahre ihren Müttern weg und preßte sie zum Militärdienst, indem er so ein Korps von Gemeinen bildete, das von einem Generalleutnant und zwei Generalmajoren befehligt wurde. Das gefiel dem Kriegsminister, erregte aber die Feindseligkeit aller Mütter im ganzen Lande, welche sagten, ihre Lieblinge würden jetzt auf den Schlachtfeldern ein blutiges Grab finden.

Infolge der großen Spärlichkeit an lebendem Material trat die Notwendigkeit ein, daß der Herzog von Bethanien, der sonst Generalpostmeister war, in der Marine als Ruderer dienen und so hinter einem Adeligen niederen Ranges, dem Grafen Canaan, der zugleich die Stelle des Lordoberrichters begleitete, sitzen mußte. Das verwandelte den Herzog von Bethanien in einen offenen Unzufriedenen und in einen geheimen Verräter – was der Kaiser voraussah, aber nicht ändern konnte.

Die Dinge gestalteten sich schlimmer und schlimmer. Eines Tages machte der Kaiser Marie Peters zur Gräfin und heiratete sie, trotzdem ihm das Ministerium aus politischen Gründen entschieden geraten hatte, Emmeline, die älteste Tochter des Erzbischofs von Bethlehem, zu heiraten. Das rief in einem mächtigen Lager – dem der Kirche – große Unzufriedenheit hervor. Die neue Kaiserin verschaffte sich die Unterstützung und Freundschaft von zwei Dritteln der sechsunddreißig erwachsenen Frauen der Nation, indem sie dieselben als Ehrendamen an ihren Hof zog; aber damit machte sie sich die übrigen zwölfe zu Todfeindinnen. Die Familien der Ehrendamen begannen bald zu rebellieren, weil jetzt niemand daheim war, um das Hauswesen zu führen. Die zwölf hintangesetzten Damen weigerten sich, in die kaiserliche Küche als Mägde einzutreten; so war die Kaiserin gezwungen, die Gräfin von Jericho und andere große Hofdamen in Anspruch zu nehmen zum Wasserholen, Palastfegen und zur Verrichtung anderer niedriger Dienstleistungen. Auch das erregte wieder böses Blut.

Jedermann fing an sich zu beklagen, daß die zum Unterhalt des Heeres, der Marine und der kaiserlichen Hofhaltung auferlegten Steuern unerträglich drückend seien und die Nation an den Bettelstab brächten. Des Kaisers Antwort – »Blickt auf Deutschland, blickt auf Italien, was beklagt ihr euch? Alle großen Nationen haben für ihre Einigkeit Opfer gebracht!« – befriedigte sie nicht. Sie sagten: »Man kann die Einigkeit nicht essen, und wir verhungern. Der Ackerbau hat aufgehört; jedermann ist im Heere, in der Marine oder im Hofdienst, steht umher in einer Uniform, hat nichts zu tun, nichts zu essen, und niemand ist da, um die Felder zu bestellen.«

Als die Unzufriedenheit schon stark um sich gegriffen hatte, stellte sich im Staatshaushalt ein Defizit von mehr als 45 Dollar heraus; das machte einen halben Dollar auf den Kopf der Bevölkerung. Das Kabinett erörterte die Frage eines Anlehens. Auch von der Ausgabe von Schatzscheinen und Papiergeld, nach fünfzig Jahren in Yamswurzeln und Kohlköpfen einzulösen, war ernstlich die Rede.

Die Minister erklärten, die Löhnung der Armee, Marine und der Beamtenschaft sei bedeutend im Rückstand, und wenn nicht irgend etwas geschehe und zwar unverzüglich, so müsse der Staatsbankerott hereinbrechen und möglicherweise Aufstand und Revolution. Der Kaiser entschloß sich sogleich zu einer durchgreifenden, auf Pitcairns-Eiland bis jetzt unerhörten Maßregel. Er begab sich am Sonntag früh in feierlichem Aufzug zur Kirche, gefolgt von der ganzen Armee: dort befahl er dem Finanzminister, eine Sammlung vorzunehmen.

Das war die Feder, die das Kamel zusammenbrechen machte. Ein Bürger nach dem andern erhob sich und weigerte sich, diese unerhörte Gewalttätigkeit zu dulden – und jeder Weigerung folgte augenblicklich Konfiskation des Vermögens des Unzufriedenen. Dieses Verfahren machte den Weigerungen bald ein Ende, und die Sammlung nahm inmitten tiefen und ominösen Schweigens ihren Fortgang. Als der Kaiser mit den Truppen abzog, sagte er: »Ich werde euch zeigen, wer hier Meister ist.« Mehrere Personen riefen: »Nieder mit der Einigkeit!« Sie wurden sogleich festgenommen und vom Militär aus den Armen ihrer weinenden Angehörigen gerissen.

Mittlerweile aber hatte sich, wie jeder Prophet hätte voraussehen können, ein Sozialdemokrat entwickelt. Als der Kaiser vor der Kirchentür den vergoldeten kaiserlichen Schubkarren bestieg, schoß der Sozialdemokrat fünfzehn- oder sechzehnmal nach ihm – aber mit so merkwürdig sozialdemokratischer Unsicherheit im Ziel, daß er keinen Schaden anrichtete.

In der nämlichen Nacht folgte die Erschütterung. Die Nation erhob sich wie ein Mann – obgleich neunundvierzig der Revolutionäre vom andern Geschlecht waren. Die Infanterie warf ihre Mistgabel weg, die Artillerie ihre Kokosnüsse, die Marine empörte sich; der Kaiser wurde in seinem Palast ergriffen und an Händen und Füßen gebunden. Er war sehr niedergeschlagen und sagte:

»Ich befreite euch von der drückenden Tyrannei; ich erhob euch aus eurer Erniedrigung und machte euch zu einer Nation unter den Nationen; ich gab euch eine starke, festgefügte, zentralisierte Regierung; ich gab euch schließlich, was mehr ist, den Segen aller Segen – die Einigkeit. Ich habe das alles getan, und mein Lohn ist Haß, Schmach und diese Ketten. Da habt ihr mich; tut mit mir, was ihr wollt. Auf der Stelle entsage ich meiner Krone und allen meinen Würden, und gern entledige ich mich ihrer allzuschweren Bürde. Um euretwillen nahm ich sie an; um euretwillen lege ich sie nieder.«

Einstimmig verurteilte das Volk den Exkaiser und den Sozialdemokraten zu immerwährender Ausschließung vom Gottesdienst oder zu lebenslänglicher Zwangsarbeit als Galeerensklaven auf dem Walfischboot – sie konnten wählen. Am nächsten Tage versammelte die Nation sich abermals, hißte die britische Flagge wieder auf, setzte die britische Tyrannei wieder ein, erniedrigte die Adeligen wieder zu gemeinen Bürgern und richtete dann sogleich ihren Fleiß und ihre Aufmerksamkeit auf das Ausjäten der vernachlässigten Yamsfelder und auf die Wiederherstellung der alten nützlichen Gewerbe und der alten heilsamen und tröstlichen Frömmigkeit. Der Exkaiser gab das verloren geglaubte Gesetz gegen Eigentumsverletzung zurück und erklärte, er habe es gestohlen – nicht um jemanden zu schaden, sondern um seine politischen Ziele zu fördern. Daraufhin gab die Nation dem früheren Staatsoberhaupt sein Amt und auch sein konfisziertes Eigentum wieder zurück.

Nach reiflicher Überlegung zogen der Exkaiser und der Sozialdemokrat dauernde Ausschließung vom Gottesdienst der lebenslänglichen Arbeit als Galeerensklaven ›mit fortwährendem Gottesdienst‹, wie sie es nannten, vor, weshalb die Leute glaubten, daß die erlittene Angst den armen Teufeln den Verstand verwirrt hätte. Sie hielten es daher für geraten, dieselben vorläufig gefangen zu halten, was auch geschah.

Das ist die Geschichte von Pitcairns ›zweifelhafter Erwerbung‹.

Ein Tischgespräch.


Ein Tischgespräch.

Auf unserer Schweizerreise waren wir, ich und mein Reisebegleiter Harris, einmal im ›Schweizerhof‹ in Luzern abgestiegen, wo wir ein Tischgespräch hatten, an das ich zeitlebens denken werde.

Man ging um 7½ zur Tafel, an der sich eine Menge Angehöriger der verschiedensten Nationalitäten zusammenfanden; doch ließen sich an den ungeheuer langen Tischen besser Kleider als Menschen beobachten, da man die Gesichter meist nur in der Perspektive zu sehen bekam. Das Frühstück dagegen wurde an kleinen runden Tischen eingenommen, und wenn man das Glück hatte, einen Platz in der Mitte des Saales zu erhalten, konnte man so viele Gesichter studieren, als man wünschte.

Öfters versuchten wir zu erraten, zu welcher Nation die Leute gehörten, und dies gelang uns ziemlich gut, aber mit den Namen der Personen glückte es uns weniger; um diese zu raten, ist wahrscheinlich viele Übung nötig. So gaben wir dies denn auf und begnügten uns mit weniger schwierigen Versuchen.

Eines Morgens sagte ich: »Da sitzt eine Gesellschaft Amerikaner!«

»Ja,« meinte Harris, »aber aus welchem Staat?«

Ich nannte einen Staat, Harris einen anderen! Daß das junge Mädchen, welches zu der Gesellschaft gehörte, sehr schön sei und sehr geschmackvoll gekleidet, darin waren wir einerlei Meinung, über ihr Alter jedoch konnten wir uns nicht einigen: ich meinte, sie sei achtzehn, Harris hielt sie für zwanzig. Wir ereiferten uns darüber und ich sagte schließlich, als ob es mein Ernst wäre: »Die Sache läßt sich ja sehr leicht entscheiden, – ich will hingehen und sie fragen.«

Harris erwiderte in spöttischem Ton: »Ja, das wird wohl das beste sein. Du brauchst ja nur hinüberzugehen und mit der hier gebräuchlichen Formel zu sagen: ›Ich bin Amerikaner!‹ dann wird sie sich natürlich sehr freuen, dich zu sehen.« Dabei gab er mir zu verstehen, daß ich es wohl schwerlich wagen würde, sie anzureden.

»Ich habe nur so gedacht,« versetzte ich, »und es nicht im Ernst gemeint, aber du traust mir doch zu wenig Courage zu; ein Frauenzimmer macht mir nicht so leicht bange, und jetzt gehe ich hin und spreche mit dem Fräulein.«

Mein Vorhaben war sehr einfach: ich wollte sie höchst ehrerbietig anreden und um Entschuldigung bitten, wenn ihre große Ähnlichkeit mit einer früheren Bekannten mich getäuscht hätte. Wenn sie mir dann antwortete, der Name, den ich genannt habe, sei nicht der ihrige, so wollte ich mich abermals aufs höflichste entschuldigen, meine Verbeugung machen und mich wieder zurückziehen. Daraus konnte doch kein Unglück entstehen. – Ich ging also an den Tisch, verbeugte mich vor dem Herrn und wollte mich eben mit meiner Rede an sie wenden, als sie ausrief:

»Also habe ich mich doch nicht geirrt! – Ich sagte gleich zu John, daß Sie es waren; er wollte mir nicht glauben, aber ich wußte, daß ich recht hatte und sagte, Sie würden mich sehr bald erkennen und zu uns herüberkommen! Es freut mich sehr, daß Sie es getan haben, denn wenn Sie fortgegangen wären, ohne mich zu erkennen, hätte ich das nicht für sehr schmeichelhaft gefunden. Bitte, setzen Sie sich doch! – Wie merkwürdig! – Sie sind wirklich der letzte Mensch, den ich erwartet hätte jemals wiederzusehen!«

Das war eine Überraschung, die mich förmlich betäubte und mir einen Augenblick die Besinnung raubte. Indessen schüttelten wir uns herzlich die Hände und ich nahm neben ihr Platz; aber in einer solchen Klemme war ich wirklich noch nie gewesen. Mir dämmerte es dunkel, als ob ich die Züge des Mädchens schon einmal gesehen hätte, aber wo das gewesen war und welcher Name zu ihr gehörte, war mir gänzlich entfallen. Daher begann ich sogleich die Rede auf Schweizer Landschaften zu bringen, um mich nicht zu verraten; allein es half nichts, sie ging ohne Umschweife auf die Dinge los, die sie näher interessierten.

»Nein, was das für eine Nacht war, als der Sturm die vorderen Boote mit wegriß! Wissen Sie noch?«

»Wie sollte ich nicht!« sagte ich, aber ich hatte keine Ahnung. Ich wollte, der Sturm hätte auch das Steuer, den Schornstein und den Kapitän selbst mit weggerissen, – dann wäre mir vielleicht ein Licht aufgegangen, wo ich die Fragerin hintun sollte.

»Und erinnern Sie sich, wie bange die arme Marie war?«

»Jawohl,« sagte ich, »nein, wie einem alles wieder gegenwärtig wird.«

Das wünschte ich zwar aufs innigste, aber es war wie aus meinem Gedächtnis weggeblasen! Das klügste wäre gewesen, offen die Wahrheit zu gestehen, aber das konnte ich nicht übers Herz bringen, nachdem das junge Mädchen mir solches Lob gespendet, weil ich sie wiedererkannt hatte. So geriet ich denn immer tiefer hinein und hoffte vergebens auf einen rettenden Faden, um aus dem Labyrinth zu kommen.

Die Unerkennbare fuhr lebhaft fort: »Denken Sie, Georg hat doch noch Marie geheiratet!«

»Wirklich? Ist es möglich!«

»Jawohl; er sagte, er glaube, daß ihr Vater viel mehr schuld gewesen sei, als sie selbst; und ich glaube, er hatte recht, meinen Sie nicht auch?«

»Natürlich, es war ja ganz klar, ich habe es doch immer gesagt.«

»O nein, Sie waren ja anderer Meinung, wenigstens in jenem Sommer.«

»Im Sommer, da haben Sie ganz recht, aber im folgenden Winter sagte ich’s.«

»Nun, es stellte sich heraus, daß Marie gar nicht schuld war, sondern nur ihr Vater und der alte Darley.«

Um doch etwas zu erwidern, sagte ich:

»Ja, Darley habe ich immer als ein lästiges altes Geschöpf angesehen!«

»Das war er auch, aber trotz seiner Sonderbarkeiten waren sie ihm zärtlich zugetan; – wissen Sie noch, wie er immer versuchte, ins Haus zu kommen, sobald es nur im geringsten kalt war?«

Ich getraute mir nicht, weiter zu gehen. Offenbar war dieser Darley kein Zweifüßler, sondern irgend ein Vierfüßler, vielleicht ein Hund, möglicherweise ein Elefant. Da nun jedes Tier eine Haut hat, so fiel ich im Anschluß an ihre Frage mit der Bemerkung ein:

»Und was er für ein Fell hatte!«

Diese Bemerkung mußte passen, denn sie sagte zustimmend:

»Ja, ein sehr dickes – und erst seine Wolle!«

Das verblüffte mich, ich wußte nicht recht weiter und sagte nur: »Ja, an Wolle fehlte es ihm nicht!«

»Einen Neger mit solchem Wollhaar könnte man lange suchen,« meinte sie.

Das war ein Lichtblick, denn mir fing an schwül zu werden, und ich war froh, als sie fortfuhr:

»Er war doch selbst bequem genug einquartiert, aber wenn es kalt wurde, fand er sich stets bei der Familie ein und war nicht wieder aus dem Hause zu bringen. Man sah ihm manches nach, weil er vor Jahren Tom das Leben gerettet hatte. Erinnern Sie sich noch an Tom?«

»Ganz deutlich, er war ein so hübscher Mensch!«

»Jawohl, und das Kind ein so niedliches Ding.«

»Ein hübscheres Kind habe ich nie gesehen.«

»Ich tat nichts lieber, als mit ihm tändeln und spielen.«

»Und ich schaukelte es so gern auf den Knien.«

»Sie haben ihm auch den Namen ausgesucht, – wie war es doch?«

Jetzt kam ich aufs Glatteis! Hätte ich nur des Kindes Geschlecht gewußt. Zum guten Glück fiel mir ein Name ein, der für alle Fälle paßte. Ich sagte:

»Es wurde Fränzchen genannt.«

»Nach einem Verwandten vermutlich. Aber dem verstorbenen, das ich nie gesehen habe, gaben Sie auch den Namen; wie hieß denn das?«

Da das Kind tot war und sie es nie gesehen hatte, dachte ich, man könnte auf gut Glück einen Namen wagen und so antwortete ich:

»Es hieß Thomas Heinrich!«

Sie wurde nachdenklich und sagte: »Das ist doch sonderbar – sehr sonderbar!«

Ich saß ganz still und der kalte Schweiß lief an mir herunter. Aber, so arg meine Verlegenheit war, so hoffte ich doch, mich aus der Klemme zu ziehen, wenn sie nur nicht noch mehr Namen von Kindern wissen wollte. – Ich war begierig, wo der nächste Blitz einschlug. Sie war noch mit dem Namen des letzten Kindes beschäftigt, sagte aber plötzlich: »Es war recht schade, daß Sie gerade fort waren als mein Kind geboren wurde, sonst hatten Sie seinen Namen auch wählen müssen.«

»Ihr Kind? Sind Sie denn verheiratet?«

»Ich bin seit dreizehn Jahren verheiratet.«

»Getauft, meinen Sie wohl.«

»Nein, verheiratet, – dieser Knabe hier ist mein Sohn.«

»Das scheint ja ganz unglaublich, – fast unmöglich! Wenn Sie es nicht für unhöflich halten, möchte ich mir wirklich erlauben zu fragen, ob Sie älter als achtzehn sind?«

»Am Tag des Sturmes, von dem wir sprachen, war ich gerade neunzehn, das war mein Geburtstag.«

Dadurch wurde ich wenig klüger, da ich das Datum des Sturmes nicht wußte.

Ich dachte nach, was ich wohl Unverfängliches sagen könnte, um meinen Anteil an der Unterhaltung beizutragen und meinen Mangel an Erinnerungen weniger bemerklich zu machen. Aber nichts Unverfängliches wollte mir einfallen. Wenn ich sagte: ›Sie haben sich seitdem nicht im geringsten verändert!‹ so war das riskiert; meinte ich dagegen: ›Sie sehen jetzt viel besser aus,‹ so ging das auch nicht. Eben wollte ich einen Ausfall auf das Wetter machen, als meine Landsmännin mir zuvorkam und rief:

»Wie habe ich mich gefreut, einmal wieder von den lieben alten Zeiten zu sprechen! Sie nicht auch?«

»Gewiß, eine solche halbe Stunde habe ich noch nie erlebt,« versetzte ich voll Gefühl und hätte mit Wahrheit hinzufügen können: ›Lieber wollte ich mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen lassen, als sie noch einmal durchzumachen.‹ Ich war von Herzen dankbar, mit der Feuerprobe fertig zu sein und wollte mich eben verabschieden, als sie fortfuhr:

»Nur eins geht mir im Kopf herum!«

»Was denn?«

»Der Name des verstorbenen Kindes. Wie sagten Sie doch, daß es hieß?«

Jetzt war ich übel daran; ich hatte des Kindes Namen ganz vergessen, wie konnte ich ahnen, daß ich ihn noch einmal brauchen würde. Ich ließ mir nichts‘ anmerken und sagte kühn:

»Joseph Wilhelm.«

Aber der Knabe neben mir verbesserte meinen Irrtum.

»Nein; Thomas Heinrich.«

Ich bedankte mich bei ihm und sagte: »Ach ja, ich habe es mit einem andern Kind verwechselt, richtig, Thomas Heinrich hieß das arme Kind; Thomas, hm – nach dem großen Thomas Carlyle, und Heinrich – hm – nach Heinrich VIII,, die Eltern waren sehr zufrieden mit den Namen.«

»Dadurch wird es nur noch sonderbarer,« murmelte meine schöne Freundin.

»Warum denn?«

»Weil die Eltern es immer Amalie Susanne nennen, wenn sie von ihm sprechen.«

Jetzt war meine Weisheit zu Ende; ich war wie auf den Mund geschlagen und wußte weder aus noch ein. Um die Sache fortzusetzen, hätte ich lügen müssen, und das wollte ich nicht. So saß ich stumm und ergeben da, und ließ mich von dem Feuer meiner eigenen Beschämung langsam zu Tode braten. Plötzlich aber lachte meine Gegnerin hell auf und sagte:

»Mir haben die Erinnerungen an alte Zeiten mehr Spaß gemacht als Ihnen. Ich merkte bald, daß Sie sich nur stellten, als ob Sie mich kennten, und nachdem ich mein Lob an Sie verschwendet hatte, beschloß ich, Sie zu strafen, was mir auch gelungen ist. Es war mir sehr angenehm, durch Sie Georg und Tom und Darley kennen zu lernen; denn ich hatte vorher nie etwas von ihnen gehört. Wenn man es nur richtig anzufangen weiß, kann man von Ihnen wirklich eine ganze Menge Neuigkeiten erfahren. Marie, und der Sturm, der die vorderen Boote wegriß, sind wahre Tatsachen, alles andere ist Dichtung. Marie war meine Schwester, ihr ganzer Name ist Marie X.; wissen Sie nun, wer ich bin?«

»Ja, jetzt erinnere ich mich Ihrer, – Sie sind gerade noch so hartherzig wie vor dreizehn Jahren auf dem Schiff, sonst wurden Sie mich nicht so bestraft haben. Sie sind noch ganz wie Sie waren, von innen und von außen. Sie sehen ebenso jung aus wie damals, Ihre Schönheit ist unverändert und findet ihr Abbild in Ihrem prächtigen Knaben! – Und nun – wenn diese Worte Sie gerührt haben, lassen Sie uns Frieden schließen, denn ich bekenne mich für besiegt und überwunden.«

Dies wurde zum Beschluß erhoben und auf der Stelle ausgeführt.

Als ich zu Harris zurückkam, sagte ich: »Nun siehst du, was Talent und Geschicklichkeit ausrichten können!«

»Bitte sehr, ich sehe, was riesige Unwissenheit und Einfalt zu tun imstande sind! Daß ein Mensch, der seine fünf Sinne bei sich hat, sich auf diese Weise fremden Leuten aufdrängt und eine halbe Stunde in sie hineinredet, so etwas ist noch nicht dagewesen! Was hast du ihnen nur gesagt?«

»Gar nichts Schlimmes! Ich habe das Mädchen gefragt, wie es hieße!«

»Meiner Treu, das sieht dir ähnlich! Du bist imstande, so etwas zu tun! Es war dumm von mir, – ich hätte nicht zugeben sollen, daß du hingehst, um dich zum Narren zu machen. Aber wie konnte ich mir vorstellen, daß du dich so weit vergessen würdest! Was werden die Leute von uns denken? Aber, wie hast du es gesagt? auf welche Weise? Ich hoffe, nicht ganz ohne Einleitung!«

»O nein, ich sagte: Mein Freund und ich, wir möchten gern wissen, wie Sie heißen, – wenn Sie nichts dagegen haben!«

»Nein, das war wirklich nicht mit der Tür ins Haus gefallen! – Du warst in der Tat von einer Höflichkeit, die dir Ehre macht, und ich danke dir noch besonders, daß du mich auch hineingemischt hast! Was tat sie aber?«

»Gar nichts Ungewöhnliches! Sie nannte mir einfach ihren Namen.« »Ist es möglich! – und zeigte auch gar keine Überraschung?«

»Doch – etwas hat sie gezeigt – vielleicht war es Überraschung – mir kam es aber vor, als sei es Freude.«

»Sehr wahrscheinlich … es muß natürlich Freude gewesen sein – wie hätte sie sich auch nicht freuen sollen, von einem Fremden mit einer solchen Frage angefallen zu werden. – Was tatest du weiter?«

»Ich reichte ihr die Hand und sie schüttelte sie.«

»Das habe ich gesehen – ich traute meinen Augen kaum! Hat der Herr denn nicht gesagt, er würde dir den Hals umdrehen?«

»Nein, mir schien es, als ob sie sich alle freuten, meine Bekanntschaft zu machen.«

»Das wird auch wohl der Fall gewesen sein; sie werden bei sich gedacht haben: dieser Ausstellungsgegenstand muß seinem Wärter entlaufen sein, wir wollen uns einen Spaß mit ihm machen! Das ist die einzige Erklärung für ihre Sanftmütigkeit. – Du nahmst Platz – haben sie dich dazu aufgefordert?«

»Nein, ich dachte, sie hätten es vergessen.«

»Welchen sicheren Instinkt du hast! Was hast du noch getan? Wovon hast du denn gesprochen?«

»Ich fragte das Mädchen, wie alt es wäre.«

»Nein, wirklich, dein Zartgefühl ist über alles Lob erhaben! Weiter – weiter – kümmere dich nicht um meine traurige Miene, – so sehe ich immer aus, wenn ich eine tiefe innere Freude empfinde. Sprich weiter! Sie gab dir ihr Alter an?«

»Ja, und dann erzählte sie mir von ihrer Mutter, ihrer Großmutter, den übrigen Verwandten und von ihren eigenen Angelegenheiten.«

»Alles von selbst?«

»Nein, das nicht gerade. Ich stellte die Fragen und sie gab mir die Antworten.«

»Das ist ja himmlisch! Hast du nicht auch nach ihren politischen Ansichten gefragt?« »Freilich – sie ist Demokratin und ihr Mann Republikaner.«

»Ihr Mann? Das Kind ist doch nicht verheiratet?«

»Sie ist kein Kind; sie ist verheiratet, und der Herr, der neben ihr sitzt, ist ihr Mann!«

»Hat sie auch Kinder?«

»Ja, sieben und ein halbes.«

»Das ist unmöglich!«

»Nein, es ist die reine Wahrheit. Sie hat es mir selbst gesagt.«

»Aber – sieben und ein halbes? – Was soll das halbe bedeuten?«

»Das ist aus einer anderen Ehe – solch ein Stiefkind wird nur halb gerechnet.«

»Aus einer anderen Ehe? So hat sie schon einmal einen Mann gehabt?«

»Ja, vier; dies ist der vierte.«

»Ich glaube kein Wort davon, die Unmöglichkeit liegt ja auf der Hand. Ist der Knabe ihr Bruder?«

»Nein, ihr Sohn und zwar der jüngste. Er ist nicht so alt, wie er aussieht, erst elf und ein halbes Jahr.«

»Das ist alles vollständig unmöglich! Die Sache scheint mir ganz klar: sie haben gesehen, wen sie vor sich hatten, und dich zum Narren gehalten. Ich bin froh, daß ich nichts damit zu schaffen habe; hoffentlich denken sie nicht, wir zwei seien Leute vom gleichen Schlage. Wollen sie denn lange hier bleiben?«

»Nein, sie reisen noch vor Mittag ab.«

»Ich kenne jemand, der herzlich froh darüber ist. Wo hast du es erfahren? Du hast sie wahrscheinlich gefragt?«

»Nein, zuerst fragte ich im allgemeinen nach ihren Plänen, und sie sagten, sie würden eine Woche hier bleiben und Ausflüge in die Umgegend machen. Gegen das Ende der Unterhaltung äußerte ich dann, wir würden sie gern auf ihren Touren begleiten und schlug vor, dich zu holen und ihnen vorzustellen. Dann zögerten sie ein wenig und fragten, ob du aus derselben Anstalt seiest wie ich. Ich sagte ja, worauf sie bemerkten, sie hätten sich anders besonnen und wollten sofort nach Sibirien abreisen, um einen kranken Verwandten zu besuchen.«

»Das setzt deiner Dummheit die Krone auf! So weit hat es noch niemand gebracht. Wenn du vor mir stirbst, setze ich dir ein Denkmal von Eselsköpfen, so hoch wie der Straßburger Kirchturm! Sie wollten wirklich wissen, ob ich aus derselben Anstalt wäre wie du? – Was für eine Anstalt meinten sie denn?«

»Ich weiß nicht, es fiel mir nicht ein, danach zu fragen.«

»Aber ich weiß es! – Sie meinten ein Irrenhaus, eine Anstalt für Blödsinnige. Und jetzt halten sie uns doch für zwei gleiche Narren, – Siehst du nun, was du angerichtet hast? Schämst du dich gar nicht?« –

»Weshalb auch? – Meine Seele dachte an nichts Böses; was schadet es denn? Es waren sehr nette Leute und ich schien ihnen zu gefallen.«

Harris machte einige grobe Bemerkungen und begab sich in sein Schlafzimmer – um Tische und Stühle kurz und klein zu schlagen, wie er sagte. Er ist ein merkwürdig cholerischer Mensch und die geringste Kleinigkeit bringt ihn ganz außer sich. –

Die junge Dame hatte mich schön in die Klemme gebracht, aber an Harris habe ich mich wieder schadlos gehalten. Man muß sein Mütchen immer auf eine oder die andere Weise kühlen, sonst schmerzt die wunde Stelle noch lange.

Berliner Eindrücke.


Berliner Eindrücke.

Berlin hat mich im höchsten Grade überrascht. Keine Beschreibung, die ich früher in Büchern gelesen habe, trifft mehr zu. Das Berlin, wie es im vorigen Jahrhundert und noch in der ersten Hälfte des jetzigen war, die schmutzige, einförmige, häßliche Stadt, ist wie vom Erdboden verschwunden. Nur der Grund, auf dem sie stand, hat noch eine Geschichte und alte Überlieferungen, – Berlin selbst ist ganz neu, die neueste Stadt, die mir jemals vorgekommen ist.

Sogar Chicago würde altersgrau daneben aussehen. Im übrigen gleichen sich diese beiden Städte, was die flache Umgebung, das rasche Wachstum und die Einwohnerzahl betrifft. Mit Bestimmtheit behaupten kann ich das freilich nicht, da ich nicht weiß, wie viele Einwohner Chicago heute hat, vorletzte Woche waren es etwa anderthalb Millionen. Auch wegen der vielen geraden Straßen und der ungeheuern Raumverschwendung kann man Berlin das europäische Chicago nennen; die Straßen sind fast durchgängig so breit angelegt, wie ich es noch in keiner Stadt irgend eines andern Landes gefunden habe. ›Unter den Linden‹ sind drei Straßen in einer; die Potsdamerstraße ist auf beiden Seiten von Bürgersteigen eingefaßt, die breiter sind als die berühmten Hauptstraßen der größten Städte Europas; auch hat Berlin einen Park von ungewöhnlicher Ausdehnung.

Für die Bauordnung bestehen die sonderbarsten Vorschriften. Die Stadt ist aus lauter Steinriesen aufgetürmt, man darf in Berlin keine unsicheren und unansehnlichen Häuser bauen, und so sind denn diese auffallend schönen und großartigen Gebäude entstanden, die weder mit Einsturz drohen, noch bei der geringsten Feuersbrunst ein Raub der Flammen werden. Die Baukommissäre nehmen ihre Besichtigung während des Baues vor; man hat gefunden, daß dies besser ist, als zu warten, bis das fertige Haus wieder einfällt. Bricht ein Brand aus, so herrscht dabei die größte Ordnung und Ruhe, die uniformierte Feuerwehr marschiert in Reih‘ und Glied, so ernst und gemessen in Miene und Haltung, als ginge es zu einem Begräbnis, man glaubt die Heilsarmee einherkommen zu sehen, in tiefer Zerknirschung über ihre Sünden. Da das Feuer sich in den steinernen Gebäuden immer nur auf ein Stockwerk beschränkt, brauchen die übrigen Bewohner des Hauses sich nicht weiter darum zu kümmern.

Allabendlich findet eine wahrhaft verschwenderische Beleuchtung mit Gas und elektrischem Licht statt, Berlin bietet daher zur Nachtzeit einen entzückenden Anblick. Überall hat man eine Doppelreihe glänzender Lichter vor sich, die nach allen Seiten in gerader Linie weit in die Nacht hinausläuft. Die dazwischenliegenden Plätze leuchten im Strahlenglanz, und zahllose Droschkenlaternen schießen wimmelnd in allen Richtungen hin und her, wie Schwärme von Leuchtkäfern an einem Sommerabend.

In keiner Stadt wird wohl so viel regiert wie in Berlin, aber ich wüßte auch keine, die besser regiert wäre. Methode und System machen sich allenthalben geltend, in großen wie in kleinen Dingen und selbst bei den geringfügigsten Einzelheiten. Die Verordnungen stehen aber nicht etwa bloß auf dem Papier, so daß es dabei sein Bewenden hat, nein, sie treten wirklich in Kraft und werden bei Armen und Reichen ohne Gunst und Ungunst auf gleiche Weise durchgeführt. Der mühevolle, emsige Fleiß, die Ausdauer und Pflichttreue, welche die Behörde bei jeder Gelegenheit entfaltet, erregt Bewunderung – zuweilen auch Leidwesen. Das Erstaunlichste, was ich diesseits des Ozeans gefunden habe, ist die höfliche, unerschütterliche, verfluchte Beharrlichkeit, mit welcher die Polizei ihren Willen durchsetzt und die Ordnung aufrecht erhält. Sie duldet keine Ansammlung von Menschen, weil daraus Ungehörigkeiten entstehen könnten; ja, träte plötzlich ein Erdbeben ein, so würde es die Berliner Polizei beaufsichtigen und ordnungsmäßig zu Ende führen.

Die Straßen werden sehr rein gehalten, aber nicht, wie es in Neuyork Sitte ist, mit schönen Worten und frommen Reden, sondern durch tägliche und stündliche Arbeit mit Kratzbürste und Besen. Kurz, man hat den Eindruck, daß hier eine Stadtverwaltung am Ruder ist, die vor keinen Kosten zurückscheut, wo die öffentliche Bequemlichkeit, Behaglichkeit und Gesundheit in Betracht kommt.

Nur eine Ausnahme muß ich erwähnen; das ist die Benennung der Straßen und die Numerierung der Häuser. Zuweilen ändert sich der Straßennamen mitten in der Häuserreihe; man merkt dies erst bei der nächsten Ecke und weiß natürlich nicht, wo der Wechsel angefangen hat. In betreff der Hausnummern herrscht ein Chaos wie vor Erschaffung der Welt. Unmöglich kann die weise Berliner Stadtregierung eine derartige Einrichtung getroffen haben. Sie ist eines Blödsinnigen würdig; allein, so mannigfaltige Arten Verwirrung und Unheil anzurichten, wäre ein Blödsinniger nicht imstande sich auszudenken. Oft dient eine Nummer für drei bis vier Häuser, und doch steht sie nur auf einem derselben; dann wieder wird ein Haus z. B. mit Nummer 4 bezeichnet und die folgenden mit 4a, 4b, 4c, so daß man alt und schwach geworden ist, bis man bei Nummer 5 anlangt. Die Folge dieses systemlosen Systems ist die, daß man bei Nr. 1 keine Ahnung hat, ob Nr. 150 ein Paar Meilen oder hundert Schritte weit sein mag. Obendrein steigen oder fallen die Zahlen ganz willkürlich; von 50 oder 60 gelangt man vielleicht plötzlich zu 140, 139 usw. und nur ein Pfeil gibt durch seinen Flug die veränderte Richtung an. Es ist um den Verstand zu verlieren, und bis hier nicht Abhilfe geschafft wird, muß man auf das Schlimmste gefaßt sein.

Als ich in Berlin war, fand eine Feier zu Ehren der berühmten Gelehrten Virchow und Helmholtz statt, welche beide fast zu gleicher Zeit ihr siebzigstes Lebensjahr erreichten. Schon seit Wochen war eine Deputation nach der andern eingetroffen, um den beiden Geistesheroen Glückwünsche, Ehrungen und Huldigungen darzubringen. Die fernsten Städte, die berühmtesten Hochschulen beteiligten sich an diesen Kundgebungen.

Den Schluß derselben bildete der große Studentenkommers, der in einem mit Fahnen und Standarten geschmückten, glänzend erleuchteten Riesensaal gehalten wurde. An jedem der zahllosen Tische, die den ganzen Raum erfüllten, hatten vierundzwanzig Personen Platz. Ich war hocherfreut, einen Sitz an der Mitteltafel zu erhalten, an welcher auch die beiden Helden des Abends saßen, obwohl ich durchaus nicht gelehrt genug bin, um eine derartige Ehre zu verdienen. Es bereitete mir ein seltsam angenehmes Gefühl, mich in solcher Gesellschaft zu befinden, mit dreiundzwanzig Männern zusammen zu sein, welche an einem Tage mehr vergessen, als ich je gewußt habe. In Verlegenheit geriet ich nicht; die Gelehrsamkeit steht dem Menschen selten im Gesicht geschrieben und ich konnte mit leichter Mühe Haltung und Gebärden der Herren so nachahmen, daß mich die Menge auch für einen Professor hielt.

In kurzer Zeit war der ganze Saal voll, es hieß, es seien gegen viertausend Personen anwesend; auch alle Zwischengänge waren dicht besetzt. An jeder Tafel stand ein Student im Wichs seiner Verbindung. Die Trachten sind alle von reichem Stoff in glänzenden Farben und außerordentlich malerisch.

Soweit mein Auge reichte, sahen alle die frischen, jugendlichen Gesichter nach einer Richtung hin; unverwandt hingen die Blicke sämtlicher Studenten an dem Platz, wo Virchow und Helmholtz saßen. Sie verschlangen die beiden Geistesriesen förmlich mit den Augen und die Verehrung der Herzen strahlte aus allen Mienen.

Mancher ausgezeichnete Gast war schon durch die Ehrengarde an seinen Platz geleitet worden, da erklangen noch einmal die drei Trompetenstöße und wieder fuhren die Rapiere aus den Scheiden. Vom fernen Eingang her blitzten die erhobenen Schläger – ›Mommsen!‹ ging es flüsternd durch die Reihen. Der ganze Saal erhob sich, rief, stampfte mit den Füßen, klatschte mit den Händen, rasselte mit den Biergläsern. Es war ein wirklicher Sturm. Dann drängte sich der kleine Mann mit dem langen Haar an uns vorbei und nahm seinen Sitz ein. Denkt euch meine Überraschung! Ich hatte ja nicht im Traum daran gedacht, daß ich den Mann leibhaftig vor mir haben würde, der die ganze römische Welt und alle Cäsaren in seinem lichtvollen Haupte trug. Meilenweit wäre ich gewandert, um ihn zu sehen, und hier saß er, ohne daß es mir die kleinste Mühe oder Reise oder sonst etwas gekostet hätte.

Die Musik spielte einen kriegerischen Marsch; es folgte der Toast auf den Kaiser, bei dessen Schluß alle Gläser auf einmal geleert und mit einem Schlage auf den Tisch gestoßen wurden. Es klang täuschend wie Donnergetöse. Mächtige Weisen ertönten, immer höher schwoll die Luft, die Schläger krachten, die Biergläser rasselten, die Begeisterung wuchs und ließ sich bald nicht mehr überbieten. Ich wenigstens fühlte mich außerstande, noch mehr darin zu leisten.

Die Feier des Abends schloß mit zwei von Studenten gehaltenen Reden und der Erwiderung von Virchow und Helmholtz.

Virchow ist seit langer Zeit Mitglied der Berliner Stadtverwaltung, Er arbeitet ebenso eifrig für das Wohl der Stadt wie jeder andere Stadtrat und für den nämlichen Sold: für nichts. Ich weiß nicht, ob wir in Amerika es unserem berühmtesten Mitbürger zumuten könnten, sich an der städtischen Verwaltung zu beteiligen und ob, falls wir es wagten, wir seine Wahl durchsetzen würden. Aber hier ist das Munizipalsystem so vorzüglich, daß die besten Männer es sich zur Ehre rechnen, unentgeltlich als Stadträte dienen zu dürfen, und das Volk ist vernünftig genug, diese Männer zu bevorzugen und immer wieder zu wählen. Darum ist Berlin auch eine in jeder Beziehung gut und zweckmäßig verwaltete Stadt.

Herrn Blokes ›Eingesandt‹.


Herrn Blokes ›Eingesandt‹.

Unser verehrter Freund, Herr John William Bloke aus Virgina-City, trat gestern abend spät in unser Bureau ein, wo ich als zweiter Redakteur tätig war. Sein Gesicht war schmerzentstellt. Mit dem Ausdruck herzzerreißenden Jammers, unter schweren Seufzern legte er das nachfolgende ›Eingesandt‹ auf das Pult und wandte sich mit abgemessenem Schritt dem Ausgang zu. An der Tür hielt er inne, schien mit Gewalt seine Gefühle zu bemeistern, nickte dann nach seinem Manuskript hin und hauchte, in Tränen ausbrechend, mit zitternder Stimme die Worte:

»Einer meiner Freunde! ach, entsetzlich!« Sein Kummer rührte mich so sehr, daß ich ganz vergaß ihn zurückzurufen, um ihm Trost zuzusprechen, bis er fort und es zu spät war. Das Blatt befand sich schon in der Presse, aber da ich wußte, daß unser Freund der Veröffentlichung seiner Mitteilung große Wichtigkeit beilegte und hoffte, es würde seinem kummervollen Herzen einen traurigen Genuß bereiten, dasselbe im Druck vor Augen zu haben, ließ ich sofort die Maschine anhalten und den Artikel in unsere Spalten einfügen.

»Entsetzlicher Unglücksfall,

Gestern abend 6 Uhr, als Herr William Schuyler, ein alter, ehrenhafter Bürger aus South-Park, seine Wohnung verließ, um sich in die untere Stadt zu begeben, wie es seit Jahren seine Gewohnheit ist, von der er nur im Frühling 1850 für kurze Zeit eine Ausnahme machte, als er genötigt war, wegen einer Verletzung das Bett zu hüten, die er sich bei dem Versuch zugezogen, ein durchgegangenes Pferd aufzuhalten, indem er kopfloserweise mit heftigen Gebärden hinter ihm drein schrie, ein Verfahren, welches das Tier, selbst einen Augenblick früher, unfehlbar erschreckt statt aufgehalten haben würde, und das, obgleich für ihn unheilvoll genug, doch noch entsetzlicher gemacht wurde durch den Umstand, daß seine Schwiegermutter zur Stelle war und Augenzeugin des traurigen Ereignisses sein mußte, während sie doch möglicherweise, wenn auch nicht mit Sicherheit anzunehmen, ebensogut anderswo Umschau nach Unglücksfällen hätte halten können, was übrigens gar nicht in ihrer Natur lag, vielmehr gerade im Gegenteil, wie ihre eigene Mutter gesagt haben soll – Gott hab‘ sie selig, sie starb vor ungefähr drei Jahren im sechsundachtzigsten Jahr in der gewissen Hoffnung einer seligen Auferstehung, denn sie war eine christliche Frau, sozusagen ohne Falsch und ohne Vermögen, was dem großen Brand Anno 1849 zuzuschreiben ist, der ihr sämtliche Habe einäscherte. Aber so geht es im Leben! Diese schauervolle Begebenheit möge uns allen zur Warnung dienen und uns anspornen, so gut zu leben, daß wir, wenn es einst ans Sterben geht, wissen, was wir zu tun haben. Die Hand aufs Herz! Wir wollen von heute an aufrichtig und ernst danach streben, die verhängnisvolle Flasche zu meiden.

(Morgenausgabe der California.)«

Der Chefredakteur ist hier gewesen und hat einen wahren Höllenlärm vollführt. Er raufte sich das Haar, stieß die Möbel in alle Ecken und schimpfte auf mich, als wäre ich ein Taschendieb. Er sagte, jedesmal, wenn mir auch nur auf eine halbe Stunde die Redaktion des Blattes überlassen bliebe, ließe ich mich vom ersten besten Wickelkind oder Tollhäusler überlisten. Er besteht darauf, daß Herrn Blokes unseliger Artikel der tollste Mischmasch ohne Sinn und Verstand ist, aus dem der Leser nicht das geringste erfährt. Es sei ein Unsinn gewesen, deswegen den Satz zu ändern.

Das hat man davon, wenn man gutherzig ist. Wäre ich auch so ungefällig und teilnahmlos wie gewisse Leute, ich hätte Herrn Bloke einfach gesagt, zu so später Stunde würden keine Mitteilungen mehr angenommen. Aber nein! Sein tränenreicher Schmerz rührte mein weiches Gemüt und mit Freuden ergriff ich die Gelegenheit, seinen Kummer ein wenig zu lindern. Schnell einige Eingangszeilen zu dem Artikel geschrieben und fort damit in die Druckerei, ohne weiter zu untersuchen! Und was ernte ich für meine Guttat? Nichts als Scheltworte und allerliebste Ehrentitel.

Nun will ich aber doch den Artikel einmal selbst lesen und sehen, ob all der Spektakel begründet ist. Sollte es der Fall sein, dann wehe dem Verfasser!

Ich habe es gelesen und muß in der Tat gestehen, daß es zuerst etwas konfus erscheint. Aber ich probiere es noch einmal.

Ich habe es zum zweitenmal durchgegangen – es scheint verwirrter denn je.

Ich habe es nun fünfmal durchgelesen, aber ich will verdammt sein, wenn ich auch nur eine Silbe davon verstehe. Es verträgt keine nähere Untersuchung. Man kann keine Klarheit hineinbringen. Erfahren wir etwa, was aus William Schuyler geworden ist? Nur gerade unser Interesse für ihn wird geweckt – dann wird er fallen gelassen. Wer ist denn dieser William Schuyler überhaupt? In welchem Teil von South-Park lebt er eigentlich? Er verließ seine Wohnung um sechs Uhr – ist er aber auch in der unteren Stadt angekommen und ist ihm irgend etwas zugestoßen? Ist er es vielleicht, der mit dem ›entsetzlichen Unglücksfall‹ etwas zu tun hat? Wenn man den Wust von Einzelheiten in dem Artikel bedenkt, sollte man doch auch wirklich etwas mehr daraus erfahren können. Aber man erfährt nichts, es macht alles nur noch dunkler. War Herrn Schuylers Beinbruch vor fünfzehn Jahren der ›entsetzliche Unglücksfall‹, welcher Herrn Bloke in unaussprechlichen Jammer versetzte und ihn veranlaßte zur Nachtzeit hier anzurücken und den Betrieb zu stören, damit die Welt doch ja sogleich von dem interessanten Umstand in Kenntnis gesetzt würde? Oder bezieht sich der ›entsetzliche Unglücksfall‹ vielleicht auf die Mutter von Schuylers Schwiegermutter und ihr verlorenes Vermögen? Oder sollte ihr vor drei Jahren eingetretener Tod gemeint sein? (obgleich sich keine Andeutung findet, daß derselbe durch einen Unglücksfall herbeigeführt wurde). Um es kurz zu fassen: Worin bestand der ›entsetzliche Unglücksfall‹? Warum schrie der Eselskopf von Schuyler unter heftigen Gebärden hinter dem durchgebrannten Pferde her, wenn er es aufhalten wollte? Und wie zum Henker konnte er von einem Pferde umgeworfen werden, das schon an ihm vorbei war? Was sollen wir uns ›zur Warnung dienen lassen‹ und wie sollen wir uns aus diesem Schriftstück voll Unbegreiflichkeiten eine Lehre ziehen? Was kann vor allem die ›verhängnisvolle Flasche‹ damit zu tun haben? Es ist gar nicht gesagt, daß Schuyler ein Trunkenbold gewesen, oder daß seine Frau oder seine Schwiegermutter oder das Pferd sich dem Trunk ergeben hätten – wozu also die Erwähnung der ›verhängnisvollen Flasche‹? – Mir scheint fast, daß, wenn nur Herr Bloke selbst die ›verhängnisvolle Flasche‹ gemieden hätte, so würde er gar nicht in solche Aufregung über diesen widersinnigen eingebildeten Unglücksfall geraten sein. Ich habe dieses alberne ›Eingesandt‹ mit seinen scheinbaren Wahrscheinlichkeiten wieder und wieder gelesen, bis es mir ganz wirr im Kopfe war, und doch habe ich nichts herausgebracht. Es muß allerdings ein Unglücksfall irgend welcher Art stattgefunden haben, aber es ist unmöglich festzustellen, wen er betroffen hat oder was geschehen ist. So schwer es mir wird, es scheint mir Pflicht, zu verlangen, daß wenn Herrn Blokes Angehörige wieder etwas mit Unglücksfällen zu tun haben, er seinem Bericht jedenfalls einige aufklärende Notizen beifüge, damit man aus dem Unfall einigermaßen klug werden kann und erfährt, wer der Betroffene ist. Lieber würde ich schon seine sämtlichen Verwandten auf dem Totenbette sehen, als noch einmal bis an den Rand des Wahnsinns gebracht zu werden, in dem Bestreben, ein ähnliches Machwerk wie das obige zu entziffern.

Ein geheimnisvoller Besuch.


Ein geheimnisvoller Besuch.

Der erste Mensch, welcher mich aufsuchte, nachdem ich mich in der Stadt niedergelassen hatte, war ein Herr, der sich damit einführte, daß er sagte, er sei Taxator und stehe mit der Abteilung für innere Einkünfte der Vereinigten Staaten in Verbindung. Ich sagte, ich hätte nie von diesem Geschäftszweig gehört, sei aber trotzdem sehr erfreut ihn zu sehen und bäte ihn, Platz zu nehmen. Er setzte sich. Mir fiel gerade nichts Besonderes ein, womit ich ihn unterhalten konnte, aber ich bedachte, daß, wer einem Hauswesen vorstehen will, auch die Pflicht hat, gesprächig, liebenswürdig und entgegenkommend zu sein. In Ermangelung von etwas anderem fragte ich ihn also, ob er seinen Laden in unserer Nachbarschaft eröffnen werde.

Er bejahte dieses, ohne jedoch, wie ich gehofft hatte, von selbst zu erwähnen was er verkaufe, und ich wollte doch nicht neugierig erscheinen.

Also versuchte ich es mit der Frage: »Geht das Geschäft gut?« und er erwiderte: »Hm, so so.«

Darauf sagte ich, wir würden bei ihm vorsprechen und wenn man uns in seinem Hause ebensogut bediene wie in anderen, so wollten wir ihm unsere Kundschaft zuwenden.

Er antwortete, sein Etablissement würde uns unzweifelhaft genügen. Ihm sei wenigstens noch nie jemand vorgekommen, der einen anderen Vertreter seines Faches aufgesucht hätte, nachdem er einmal mit ihm verhandelt habe.

Das klang ziemlich selbstbewußt, aber abgesehen von der natürlichen Schlechtigkeit, die uns allen im Gesicht geschrieben steht, sah der Mann ganz ehrlich aus.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie es zuging, aber allmählich tauten wir auf und kamen in Fluß, das heißt unsere Unterhaltung, und nun ging es wie ein aufgezogenes Uhrwerk.

Es wurde geredet, geredet, geredet – wenigstens meinerseits, und gelacht, gelacht, gelacht – wenigstens seinerseits. Aber während der ganzen Zeit hatte ich die Geistesgegenwart nicht verloren, meine natürliche Schlauheit war auf ›vollen Dampf‹ gesetzt, wie die Maschinisten sagen. Ich war entschlossen alles zu erfahren, was sein Geschäft anging, trotz der dunkeln Antworten, die er gab, und zwar dachte ich es aus ihm herauszubekommen, ohne daß er es selbst gewahr wurde. Ich wollte ihn in eine tiefe, tiefe Falle locken, ihm alles über mein eigenes Geschäft erzählen und ihn dadurch so erwärmen und zutraulich machen, bis er nicht umhin konnte, mir ausführliche Mitteilungen über sein Geschäft zu machen, ehe er noch merkte, um was es mir zu tun war. »Du ahnst nicht, mein Sohn,« dachte ich bei mir selbst, »mit welchem schlauen Fuchs du es zu tun hast!«

»Können Sie wohl raten,« sagte ich, »wieviel ich im vergangenen Winter und Frühling mit meinen Vorlesungen eingenommen habe?«

»Nein, gewiß nicht – und wenn mein Kopf daran hinge! Erlauben Sie – etwa zweitausend Dollars, wie? – Aber nein, nein – so viel können Sie nicht verdient haben. Sagen wir siebzehnhundert.«

»Haha! das hab‘ ich mir gedacht! Meine Einnahmen für Vorlesungen letzten Winter und diesen Frühling betrugen vierzehntausendsiebenhundertundfünfzig Dollars. Was sagen Sie dazu?«

»Ja, das ist ja unglaublich, ganz unglaublich! Das werde ich mir merken. Und Sie meinten, das sei noch nicht einmal alles?«

»Alles! – kein Gedanke! Dazu kam noch mein Gehalt beim ›Täglichen Kriegsruf‹ auf vier Monate, ungefähr – ungefähr – nun, was würden Sie sagen, wenn ich es auf achttausend Dollars angäbe?«

»Was ich sagen würde? – Je nun – daß ich wohl auch in solchem Meer des Überflusses schwimmen möchte. Achttausend – das will ich mir merken! Und das ist alles noch nicht genug, Sie Glückspilz! Wenn ich Sie recht verstehe, haben Sie noch andere Einnahmen gehabt?«

»Hahaha! natürlich. Wir stehen erst beim Anfang sozusagen. Nun kommt noch mein Buch ›Unschuld auf Reifen‹ – Preis drei Dollars fünfzig Cents bis fünf Dollars, je nach dem Einband. Sehen Sie mir ins Auge und hören Sie: Während der letzten fünftehalb Monate – ganz abgesehen von allem, was vorher verkauft worden ist – nur während der letzten fünftehalb Monate haben wir fünfundneunzigtausend Exemplare von dem Buch abgesetzt. Fünfundneunzigtausend! Denken Sie einmal! Durchschnittlich vier Dollars das Exemplar, das macht vierhunderttausend Dollars, mein Freund – und ich bekomme die Hälfte!«

»Alle Wetter! Ich will das aufschreiben. Vierzehn – sieben – fünf – acht – zweihundert – Summa sagen wir – meiner Treu, die Gesamtsumme macht ungefähr zweihundertdreizehn oder vierzehntausend Dollars. Ist das möglich?«

»Möglich? Wenn irgend ein Fehler dabei ist, so habe ich zu wenig angegeben. Zweihundertvierzehntausend bar ist mein diesjähriges Einkommen, wenn ich überhaupt rechnen kann.«

Jetzt stand der Herr auf, um zu gehen. Mich überfiel der peinliche Gedanke, ob ich am Ende meine Enthüllungen umsonst gemacht habe. Noch dazu hatte ich mich durch seine laute Bewunderung verführen lassen, die Beträge recht ansehnlich zu vergrößern. Aber, nein, im letzten Augenblick überreichte mir der Herr ein großes Kuvert mit der Bemerkung, daß es seine Geschäftsanzeige enthalte, die mir jeden gewünschten Aufschluß geben könne, er würde stolz sein, einen Mann von so ungeheuerem Einkommen zum Kunden zu haben. Früher habe er gedacht, daß es mehrere wohlhabende Herren in der Stadt gäbe, aber sobald er geschäftlich mit ihnen in Verbindung getreten sei, habe es sich gezeigt, daß sie kaum genug besäßen, um davon leben zu können. Es sei wirklich eine solche Ewigkeit her, seit er einen reichen Mann von Angesicht gesehen, mit ihm gesprochen und ihm die Hand gereicht habe, daß er sich kaum enthalten könne, mir um den Hals zu fallen – ich würde ihn unendlich glücklich machen, wenn ich ihm die Erlaubnis gäbe, mich zu umarmen.

Das gefiel mir so gut, daß ich nicht versuchte Widerstand zu leisten, sondern dem biedern Fremdling gestattete, die Arme um meinen Hals zu schlingen und ein paar beruhigende Tränen zu vergießen, die mir den Nacken herabrieselten. Dann ging er seiner Wege.

Sobald er fort war, öffnete ich das Kuvert mit seiner ›Anzeige‹. Ich studierte sie aufmerksam vier Minuten lang, dann rief ich die Köchin herauf und sagte:

»Bitte, halten Sie mich – ich falle in Ohnmacht – Marie kann unterdessen die Pfannkuchen umwenden.«

Als ich wieder zur Besinnung gekommen war, schickte ich nach dem nächsten Schnapsladen und mietete mir um Wochenlohn einen Mann, der sich aufs Fluchen verstand, damit er die ganze Nacht aufsitzen und jenen Fremden verwünschen sollte, und mich am Tage manchmal dabei ablösen, wenn ich nicht weiter wußte.

Er war aber auch ein ganz abgefeimter Schurke. Seine ganze Geschäftsanzeige bestand aus weiter nichts als einem niederträchtigen Steuerzettel – einer Kette von unverschämten Fragen über meine Privatangelegenheiten, die beinahe vier engbedruckte Folioseiten einnahmen. Fragen, die mit so erstaunlicher Spitzfindigkeit zusammengesetzt waren, daß die ältesten Leute nicht herausgefunden hätten, was sie bedeuten sollten. Fragen, die so eingerichtet waren, daß man sein Einkommen ungefähr viermal so hoch angeben mußte, als es in Wirklichkeit war, aus lauter Angst, man könne eine Lüge beschwören. Ich suchte nach einem Ausweg, aber es schien keinen zu geben. Gleich die erste Frage paßte so vollkommen auf meinen Fall, wie ein Regenschirm auf einen Ameisenhaufen, wenn man ihn aufspannt:

»Wie hoch beliefen sich Ihre Einnahmen im vergangenen Jahr aus Ihrem Handel, Geschäft oder Beruf, gleichviel wo Sie denselben betrieben haben?«

Und diese Frage zog dreizehn andere von ebenso eindringlicher Art nach sich, von denen die bescheidenste Aufschluß darüber verlangte, ob ich einen Betrug oder Straßenraub verübt hätte oder durch Brandstiftung und andere geheime Erwerbsquellen zu Vermögen gelangt sei, das bei meiner Antwort auf Nr. 1 nicht mit angegeben wäre.

Es war klar, daß der Fremde mir Gelegenheit gegeben hatte, mich zu blamieren. Dies lag so sehr auf der Hand, daß ich ausging und mir noch einen Mann zum Fluchen mietete. Der Fremde hatte mich mit seinen Schmeicheleien verführt, ein Einkommen von zweihundertvierzehntausend Dollars anzugeben. Gesetzmäßig waren tausend davon steuerfrei, das war der einzige Abschlag, den ich entdecken konnte, und das war doch nur ein Tropfen im Ozean. Bei den gesetzlichen fünf Prozent mußte ich der Regierung die Summe von zehntausendsechshundertfünfzig Dollars Einkommensteuer bezahlen.

(Ich will hier gleich bemerken, daß ich es nicht getan habe.)

Ich bin mit einem sehr begüterten Manne bekannt, der einen Palast bewohnt und eine wahrhaft fürstliche Tafel hält, dessen Ausgaben ganz enorm sind und der doch kein Einkommen hat, wie ich oft an seinen Steuerzetteln gesehen habe. Zu diesem begab ich mich in meiner Not. Er nahm meine schreckliche Liste von Einnahmen zur Hand, setzte sich die Brille auf, tauchte die Feder ein, und – ehe ich mich’s versah, war ich ein Bettler. Es geschah auf die einfachste Weise von der Welt und ward durch die Geschicklichkeit, mit der er den Paragraphen ›Abzüge‹ benützte, ganz leicht zustande gebracht. Er setzte meine Staats- und meine städtischen Steuern auf so und so viel fest, meine Verluste durch Schiffbruch, Feuer usw., auf so und so viel; Verluste beim ›Verkauf von Landbesitz‹ – ›Verkauf von Viehstand‹ – ›Zahlungen für Miete des Anwesens‹ – ›Ausbesserungen, Umbauten, Zinsvergütung‹ – ›schon vorher besteuerter Gehalt als Offizier der Armee, der Flotte usw. usw.‹ und dergleichen mehr. Aus jedem dieser Punkte wußte er ganz erstaunliche Abzüge herauszuschlagen. Als er fertig war und mir das Blatt hinreichte, sah ich auf den ersten Blick, daß während des ganzen Jahres meine Einnahme, das heißt der Gewinn dabei, nur zwölfhundertfünfzig Dollars vierzig Cent betragen hatte.

»Dazu kommt,« sagte er, »daß tausend Dollars steuerfrei sind. Gehen Sie jetzt aufs Steueramt und beschwören Sie dies Dokument, dann bezahlen Sie Steuern von hundertfünfzig Dollars.«

(Während er sprach, zog sein Söhnchen, der kleine Willy, einen Zweidollarschein aus des Vaters Westentasche und verschwand damit. Ich möchte alles wetten, daß der Junge auch sein Einkommen falsch angeben würde, wenn mein fremder Herr ihn morgen besuchte.)

»Machen Sie die Abzüge immer auf diese Art?« fragte ich, »auch wenn Sie Ihre eigenen Steuern berechnen?«

»Natürlich, das versteht sich von selbst. Wenn unter der Rubrik ›Abzüge‹ nicht jene elf tröstlichen Klauseln ständen, müßte ich ja alljährlich an den Bettelstab kommen, nur um diese verhaßte, schlechte, geldgierige und tyrannische Regierung zu unterstützen.«

Dieser Herr gehört zu den allerbesten und solidesten Männern der Stadt, zu den Männern von moralischem Gewicht, von kaufmännischer Ehrenhaftigkeit, von zweifelloser, unantastbarer Zuverlässigkeit – folglich unterwarf ich mich seinem Urteil. Ich begab mich auf das Steueramt – und da stand ich, unter den Augen meines fremden Herrn, die mich schwer anklagten, und beschwor eine Lüge nach der anderen, eine Schlechtigkeit nach der anderen, bis meine Seele zolldick mit Meineiden überzogen war, und ich meine Selbstachtung auf ewige Zeiten verloren hatte.

Aber was schadet’s? Tun denn nicht Tausende der reichsten und stolzesten, der gerechtesten und gefeiertsten Männer in Amerika alljährlich dasselbe?