7.

An der Eingangsthür wurden abermals Schritte vernehmbar und die Fürstin Bezzy, welche erkannte, daß dies die Karenina sei, blickte auf Wronskiy.

Dieser schaute nach der Thür und sein Gesicht nahm einen seltsam neuen Ausdruck an. Er blickte erfreut, starr und zugleich schüchtern geworden auf die Eingetretene und erhob sich langsam. Im Salon erschien niemand anders als Anna Karenina.

Wie stets mit außerordentlich gerader Haltung, die Richtung des Blickes in nichts verändernd, legte sie mit jenem schnellen, festen und gewandten Schritt, durch welchen sie sich vor den übrigen Damen der großen Welt auszeichnete, die wenigen Schritte zurück, die sie von der Dame des Hauses trennten, drückte dieser die Hand, lächelte und blickte mit dem nämlichen Lächeln auch nach Wronskiy.

Dieser verbeugte sich rief und schob ihr einen Sessel zu.

Sie dankte nur mit einer Verneigung des Hauptes, errötete aber und wurde finster, wandte sich indes gleich darauf, ihren Bekannten flüchtig zunickend und ihnen die dargereichten Hände drückend, an die Fürstin Bezzy.

»Ich war bei der Gräfin Lydia und wollte eigentlich früher kommen, allein ich habe mich im Sitzen dort verspätet. Sir John war bei ihr; er ist ein sehr interessanter Mann.«

»Ah, ist das nicht jener Missionar?«

»Ja wohl; er erzählt sehr fesselnd vom indischen Leben.«

Die allgemeine Unterhaltung, von der Ankunft des Gastes unterbrochen gewesen, flackerte jetzt wieder auf wie das Licht einer ausgeblasenen Lanipe.

»Sir John! Ja, Sir John! Ich habe ihn gesehen, er spricht sehr gut. Die Wlasjewa ist vollständig vernarrt in ihn.«

»Ist es denn wahr, daß die Wlasjewa, die jüngere, den Topoff heiraten wird?«

»Man sagt, es sei völlig sicher.«

»Ich wundere mich über die Eltern. Man sagt, diese Ehe werde aus Liebe geschlossen?«

»Aus Liebe? Was sind das für antediluvianische Ideen, die Ihr da habt? Wer spricht heute noch von Liebe?« äußerte die Frau des Gesandten.

»Was ist zu thun? Diese alte dumme Mode ist noch immer nicht abgeschafft,« sagte Wronskiy.

»Um so schlimmer für diejenigen, welche sich noch von ihr beherrschen lassen. Ich kenne glückliche Ehen, die nur vernunftgemäß geschlossen worden sind.«

»Mag sein, aber auch im Gegenteil; wie häufig verfliegt das Glück der Vernunftehen gleich dem Staub, besonders dadurch, daß sich eben jene Leidenschaft plötzlich zeigt, die wir nicht anerkannt haben,« sagte Wronskiy.

»Aber Vernunftehen nennen wir die, welche nur von Leuten geschlossen werden, die sich im Leben ausgetobt haben. Es ist hier wie mit dem Scharlachfieber, man muß eben erst hindurch sein.«

»Dann muß man eben lernen die Liebe künstlich abzuimpfen, wie die Pockenkrankheit.«

»In meiner Jugend war ich einmal in einen Kurrendesänger verliebt,« sagte die Fürstin Mjagkaja, ich weiß aber wirklich nicht, ob es mir etwas genützt hat.«

»Nein, ohne Scherz, ich glaube, daß man, um die Liebe zu erkennen, sich erst in ihr täuschen muß um sich dann zu bessern,« sagte die Fürstin Bezzy.

»Auch noch nach der Heirat?« frug scherzend die Frau des Gesandten.

»Man kann nie zu spät Reue empfinden,« sagte der Diplomat in einem englischen Sprichwort.

»Das ist es eben,« rief Bezzy, »man muß sich bessern, wenn man geirrt hat. Wie denkt Ihr darüber?« wandte sie sich an Anna, die mit kaum bemerkbarem, kaltem Lächeln auf den Lippen, dem Gespräch schweigend zugehört hatte.

»Ich denke,« antwortete Anna, mit dem abgestreiften Handschuh spielend, »ich denke wie viel Köpfe, so viel Sinne und ebenfalls, wie viel Herzen so viel Arten von Liebe.«

Wronskiy hatte Anna angeblickt und in höchster Spannung erwartet, was sie sagen würde. Jetzt seufzte er auf wie nach einer überstandenen Gefahr, als sie diese Worte gesprochen hatte.

Anna wandte sich plötzlich an ihn.

»Ich habe ein Schreiben von Moskau erhalten. Man schreibt mir, daß Kity Schtscherbazkaja sehr krank ist.«

»Sollte es möglich sein?« antwortete Wronskiy finster werdend.

Anna blickte ihn streng an.

»Interessiert Euch dies nicht?«

»Im Gegenteil, außerordentlich. Was schreibt man Euch denn, wenn die Frage erlaubt ist?« frug er.

Anna stand auf und trat zu Bezzy.

»Gebt mir doch eine Schale Thee,« sagte sie, hinter deren Stuhl stehen bleibend.

Während Bezzy ihr den Thee eingoß, ging Wronskiy zu Anna hin.

»Was schreibt man Euch?« wiederholte er.

»Ich denke oft, daß die Männer gar nicht erkennen, was unedel ist, und doch stets hiervon sprechen,« sagte Anna, ohne Wronskiy zu antworten. »Ich wollte Euch das schon lange mitteilen,« fügte sie alsdann hinzu, einige Schritte weiter gehend und sich an einen Ecktisch mit Albums setzend.

»Die Bedeutung Eurer Worte verstehe ich nicht ganz.« versetzte er, ihr die Schale reichend.

Sie blickte auf den Diwan neben sich und er ließ sich sogleich auf demselben nieder.

»Ja, ich wollte Euch sagen,« fuhr sie fort, ohne ihn anzusehen, »daß Ihr schlecht gehandelt habt, schlecht, sehr schlecht.«

»Weiß ich etwa nicht selbst, daß ich unrecht gethan habe? Aber wer war die Ursache, daß ich so handelte?«

»Weshalb sagt Ihr mir dies?« frug sie ihn streng anblickend.

»Ihr wißt es, weshalb,« versetzte er kühn und freudig, ihrem Blick begegnend und ohne die Augen zu senken.

Nicht er, sondern sie geriet in Verwirrung.

»Dies sagt mir nur das Eine, daß Ihr kein Herz habt,« sagte sie, aber der Blick ihrer Augen zeugte davon, daß sie wisse, er besitze ein Herz, und daß sie sich vor diesem Herzen fürchte.

»Wovon Ihr soeben sprecht, das war nur ein Irrtum, keine Liebe gewesen.«

»Ihr wißt, daß ich Euch verboten habe, dieses Wort auszusprechen; es ist ein häßliches Wort,« sagte Anna erschreckend; sogleich aber empfand sie, daß sie mit diesem einen Worte des »Verbietens« gezeigt hatte, sie räume sich selbst gewisse Rechte über ihn ein, und dies mußte ihn nur noch mehr ermutigen, von Liebe zu ihr zu sprechen. »Ich wollte Euch dies schon längst sagen,« fuhr sie fort, ihm entschlossen ins Auge blickend, während ihr Gesicht sich mit glühendem Purpur bedeckte, »heute bin ich mit bestimmtem Vorsatz hierher gekommen, da ich wußte, ich würde Euch hier antreffen. Ich bin gekommen, Euch zu sagen, daß dies ein Ende nehmen muß. Ich habe nie vor jemand erröten müssen, Ihr aber bringt mich so weit, daß ich mich vor mir selber schuldig fühlen muß.«

Er blickte sie an und war überrascht von dieser neuen, durchgeistigten Schönheit ihres Gesichts.

»Was wollt Ihr aber von mir?« sagte er dann einfach und ernst.

»Ich will, daß Ihr wieder nach Moskau fahrt und Kity um Verzeihung bittet,« antwortete sie.

»Ihr selbst wollt dies nicht.«

Er erkannte wohl, daß sie ihm dies sagte, weil sie sich selbst zwang nicht das auszusprechen, was sie vielleicht wünschte.

»Wenn Ihr mich liebt, wie Ihr sagt,« flüsterte sie, »so thut es, damit ich ruhig werde.«

Sein Gesicht leuchtete auf.

»Als ob Ihr nicht wüßtet, daß Ihr für mich das ganze Leben seid. Aber Beruhigung verstehe ich Euch nicht zu geben und so kann ich sie Euch also auch nicht geben. Aber mich selbst, meine Liebe – ja. Ich kann an Euch und mich nicht gesondert denken; und Ihr und ich sind beide für mich eins. Daher sehe ich von vornherein weder eine Ruhe für mich selbst, noch für Euch. Ich sehe nur die Möglichkeit einer künftigen Verzweiflung, eines Unglücks, oder die Möglichkeit eines Glückes – ach, welches Glückes! Ist dieses aber unmöglich?« fügte er hinzu, nur die Lippen leise bewegend. Sie verstand ihn aber.

Alle Kräfte ihres Geistes strengte sie an, um zu sagen, was sie sagen mußte, aber anstatt dessen heftete sie nur einen Blick auf ihn, der voll von Liebe war – und brachte kein Wort hervor.

»Da haben wir’s!« jubelte Wronskiy innerlich. »Gerade, als ich schon den Mut verlor und als es schien, daß kein Erfolg mehr zu hoffen sei, – da haben wir’s. Sie liebt mich. Sie gesteht es ein!«

»So thut es doch um meinetwillen und sprecht nie mehr solche Worte zu mir. Wir wollen gute Freunde sein,« sprach sie, wahrend ihr Auge ganz anderes kündete.

»Freunde können wir nicht sein, das wißt Ihr selbst. Aber wir werden die glücklichsten oder die unglücklichsten unter den Menschen sein, und dies liegt in Eurer Macht.«

Sie wollte etwas erwidern, doch er unterbrach sie.

»Ich bitte freilich nur um eins, ich bitte um das Recht, hoffen zu dürfen in Qualen, wie jetzt; wenn dies aber nicht möglich ist, so befehlt mir zu verschwinden und ich werde verschwinden. Ihr werdet mich dann nicht mehr sehen, sobald Euch meine Gegenwart lästig ist.«

»Ich will Euch nicht vertreiben.«

»Aber dann ändert Euch nicht in dieser Absicht, laßt alles so, wie es ist,« sagte er mit bebender Stimme. »Dort kommt Euer Gatte« –

In der That trat in diesem Augenblick Aleksey Aleksandrowitsch mit seinem gleichgültigen ungeschickten Gang in den Salon.

Nachdem er seine Frau und Wronskiy gemustert hatte, schritt er zu der Dame des Hauses hin und begann, sich niedersetzend, und eine Schale Thee nehmend, mit seiner unbewegten, stets vernehmbaren Stimme in seinem gewohnten launigen Tone mit dieser zu reden, über irgend jemand scherzend.

»Euer Abend ist ja recht gut besetzt,« sagte er, die Gesellschaft überblickend, »lauter Grazien und Musen.«

Die Fürstin Bezzy vermochte indes diesen Ton seiner Rede nicht zu ertragen weil er sneering war, wie sie ihn nannte, und als kluge Frau brachte sie ihn sogleich auf ein ernstes Thema über die allgemeine Wehrpflicht.

Aleksey Aleksandrowitsch ließ sich sofort auf das Gespräch ein und begann mit großem Ernste die neue Verordnung vor der Fürstin Bezzy zu verteidigen, welche ihm opponierte.

Wronskiy und Anna blieben an dem kleinen Ecktisch sitzen.

»Aber das ist doch gegen den Anstand,« zischelte eine der Damen, mit den Augen nach der Karenina sowie nach Wronskiy und Annas Gatten hinweisend.

»Was habe ich Euch gesagt?« antwortete die Freundin Annas.

Aber nicht nur allein diese Damen, sondern fast alle, welche im Salon waren und auch die Fürstin Mjagkaja, sowie Bezzy selbst, blickten mehrmals auf die entfernt von dem gemeinschaftlichen Kreis befindlichen Zwei, als ob dies störend einwirkte.

Aleksey Aleksandrowitsch war der einzige, der den Blick auch nicht einmal nach jener Seite wandte und von dem begonnenen, interessanten Gespräch nicht abgelenkt wurde.

Als die Fürstin Bezzy den unangenehmen Eindruck bemerkte, der bei jedermann hervorgerufen zu sein schien, zog sie eine andere Persönlichkeit auf ihren Platz zur Weiterführung des Gesprächs mit Aleksey Aleksandrowitsch und begab sich zu Anna.

»Ich bin stets erstaunt über die Klarheit und Präcision der Ausdrucksweise Eures Gatten,« sagte sie. »Die transcendentesten Begriffe werden mir klar, wenn er spricht.«

»O ja,« antwortete Anna, von einem Lächeln des Glückes strahlend und ohne ein Wort von dem vernommen zu haben, was Bezzy zu ihr gesagt hatte.

Sie schritt zu der großen Tafel und beteiligte sich nun an der gemeinsamen Unterhaltung.

Aleksey Aleksandrowitsch trat, nachdem er etwa eine halbe Stunde verweilt hatte, zu seiner Gattin und schlug ihr vor, gemeinschaftlich heimzukehren, sie antwortete ihm jedoch, ohne ihn anzublicken, daß sie zum Abendessen bleiben werde.

Aleksey Aleksandrowitsch verabschiedete sich und ging.

Der Kutscher der Karenina, ein alter dicker Tatar, in glänzendem Lederkittel hielt nur mit Mühe noch das durchfrorene Handpferd, einen Grauschimmel, welcher sich vor der Einfahrt bäumte. Ein Diener öffnete die innere Thür. Der Portier stand an dem Außenthor.

Anna Arkadjewna nestelte mit ihrer kleinen gewandten Hand die Spitzen ihres Ärmels von einem Häkchen im Pelz los und lauschte dabei, das Köpfchen beugend, mit Entzücken den Worten die Wronskiy, der sie begleitete, sprach.

»Ihr habt doch nichts gesagt, nehme ich an. Ich fordere ja auch nichts,« sagte er, »aber Ihr wißt, daß ich nicht der Freundschaft nur bedürftig bin, für mich ist nur ein einziges Glück im Leben möglich, und dies ist das Wort, welches Euch so verhaßt ist, das Wort ›Liebe‹«.

»Liebe,« wiederholte sie langsam, mit innerlich klingender Stimme und fügte dann plötzlich, gerade, als sie die Spitze gelöst hatte, hinzu: »Ich liebe dieses Wort aus dein Grunde nicht, weil es für mich zuviel bedeutet, bei weitem mehr, als Ihr begreifen könnt,« sie blickte ihm ins Antlitz.

»Auf Wiedersehen.«

Sie reichte ihm die Hand, ging mit schnellem elastischem Schritte an dem Portier vorüber und verschwand in ihrem Coupé.

Ihr Blick, die Berührung ihrer Hand, erfüllten ihn mit Glut. Wronskiy küßte seine Hand an der nämlichen Stelle, wo sie dieselbe berührt hatte und fuhr nach Hause, glücklich in dem Bewußtsein, daß er am heutigen Abend seinem Ziele weit näher gekommen sei, als während beider letztvergangenen Monate.

Aleksey Aleksandrowitsch hatte nichts Auffallendes oder Unschickliches darin gefunden, daß seine Frau mit Wronskiy an einem abgesonderten Tische und in lebhaftester Unterhaltung gesessen; aber es war ihm nicht entgangen, daß dies den Übrigen im Salon doch Wohl etwas eigentümlich und unstatthaft erschienen sein mußte. Deshalb erst erschien es ihm nun gleichfalls unschicklich, und er konstatierte daher, daß er seiner Frau hierüber eine Mitteilung machen müsse.

Nach Hause zurückgekehrt, begab sich Aleksey Aleksandrowitsch in sein Kabinett, wie er dies gewöhnlich zu thun pflegte und ließ sich in seinem Lehnstuhl nieder, ein Buch über Papismus an der durch ein eingelegtes Papiermesser bezeichneten Stelle aufschlagend, und las bis ein Uhr nachts, wie er es auch sonst that; nur rieb er sich heute bisweilen dabei die hohe Stirn und schüttelte den Kopf, als wolle er etwas daraus von sich weisen. Zu der gewohnten Stunde erhob er sich und machte seine Nachttoilette. Anna Karenina war noch nicht angekommen. Das Buch unter dem Arme, ging er hinauf. Am heutigen Abend war sein Kopf anstatt mit den gewöhnlichen Ideen und Plänen über Amtsangelegenheiten, mit Gedanken über seine Frau angefüllt, mit dem Gedanken, als ob etwas Unangenehmes sich mit dieser ereignet habe.

Zuwider seiner sonstigen Gepflogenheit, legte er sich nicht in das Bett, sondern begann, die Hände auf den Rücken gelegt, in seinen Zimmern hin und wieder zu wandern.

Er konnte nicht schlafen gehen in dem Gefühl, daß er zuvor noch den ihm neu eingefallenen Umstand überdenken müsse.

Als Aleksey Aleksandrowitsch bei sich selbst zu dem Entschluß gelangt war, er müsse doch mit seinem Weibe Rücksprache nehmen, schien ihm dies sehr leicht und einfach, jetzt aber, da er über jenen neuen Umstand nachzudenken begonnen hatte, erschien es ihm sehr verwickelt und schwierig.

Aleksey Aleksandrowitsch war nicht eifersüchtig. Die Eifersucht kränkte nach seiner Überzeugung ein Weib und man mußte zu dem Weibe Vertrauen haben.

Weshalb man dieses Vertrauen haben müsse, das heißt die volle Zuversicht, daß sein junges Weib ihn stets lieben werde, darüber legte er sich keine Frage vor.

Er hatte eben noch kein Mißtrauen empfunden weil er Vertrauen hegte und sich sagte, er müsse es hegen.

Jetzt aber, obwohl die Überzeugung in ihm, daß die Eifersucht ein entehrendes Gefühl sei und man das Vertrauen behalten müsse, noch nicht wankend geworden war, empfand er doch, daß er Auge in Auge mit einem unlogischen abgeschmackten Etwas stand, aber er wußte nicht, was er thun sollte.

Aleksey Aleksandrowitsch stand Auge in Auge mit dem Leben selbst, er stand vor der Möglichkeit, sein Weib könne Liebe zu jemand außer ihm empfinden, und dies dünkte ihm so abgeschmackt und unverständlich, weil eben dies das Leben selbst war.

Sein ganzes Leben hatte Aleksey Aleksandrowitsch in den Kreisen des Beamtenlebens verbracht, die es nur mit den Reflexen des Lebens zu thun hatten, und stets wenn er mit diesem Leben selbst zusammenstieß, wandte er sich von ihm ab. Er hatte jetzt ein Gefühl ähnlich dem, wie es ein Mensch hat, der ruhig auf einer Brücke einen Abgrund überschreitet und plötzlich inne wird, daß diese Brücke zerstört ist und klafft.

Dieser Abgrund war – das Leben selbst, diese Brücke – das künstliche Dasein welches er führte. Zum erstenmal kamen ihm die Fragen über die Möglichkeit, daß sein Weib einen andern lieben könne, und erschrak davor.

Ohne sich zu entkleiden, ging er in gleichmäßigem Schritte auf und ab auf dem hallenden Parkett des nur von einer Lampe erhellten Speisesalons, auf dem Teppich des dunkeln Empfangszimmers, in welchem nur auf dem großen erst unlängst vollendeten Porträt über dem Diwan, welches ihn selbst darstellte, ein Lichtschein reflektiert wurde und durch ihr Kabinett, in welchem zwei Kerzen brannten die ihren Schein auf die Bilder ihrer Verwandten und Freundinnen warfen und auf die schönen, ihm längst so bekannten Nippes auf ihrem Schreibtisch. Durch ihr Gemach begab er sich bis zur Thüre des Schlafzimmers, dann kehrte er wieder um.

Bei jeder Runde seiner Wanderung und namentlich auf dem Parkett des hellen Speisezimmers blieb er stehen und sprach zu sich selbst: »Ja, man muß eine Entscheidung treffen; ich muß ihr meine Meinung darüber sowie meinen Entschluß mitteilen.«

Und damit schritt er wieder zurück.

»Doch was soll ich eigentlich sagen? Welche Entscheidung soll ich ihr mitteilen?« sprach er zu sich selbst im Salon, ohne eine Antwort auf diese Frage zu finden. »Aber,« frug er sich selbst, vor der Umkehr nach dem Kabinett, »was ist denn eigentlich vorgefallen? Nichts! Sie hatte nur ziemlich lange mit ihm gesprochen. Und was ist dabei? Nichts. Soll nicht ein Weib in der großen Welt mit jemand sprechen können? Und dann, eifersüchtig sein, heißt sich erniedrigen, sich selbst und sie mit;« so sprach er zu sich, in ihr Kabinett zurückkehrend. Aber dieses Urteil, das vorher noch so großes Gewicht für ihn gehabt hatte, wog und bedeutete jetzt nichts mehr. Er kehrte von der Thür ihres Schlafzimmers wieder nach dem Saale zurück, aber kaum war er wieder in den dunklen Empfangssalon gekommen, da schien ihm eine Stimme zuzuflüstern, es wäre doch wohl anders, und wenn andere dies bemerkt, so werde wohl dennoch etwas vorliegen. Und wiederum sprach er zu sich in dem Speisesalon, er müsse entscheiden und mit ihr reden, und wiederum frug er sich in dem Empfangssalon bevor er umkehrte, wie er sich entscheiden solle. Und dann, was denn eigentlich vorgefallen sei und antwortete wiederum »nichts«.

Seine Gedanken wie sein Körper bildeten einen vollkommenen Kreislauf der auf nichts Neues mehr verfiel.

Er bemerkte dies endlich, rieb sich die Stirn und setzte sich in ihrem Kabinett nieder.

Hier nahmen seine Gedanken einen anderen Weg, während er auf ein auf ihrem Tische liegendes, angefangenes Schreiben blickte. Er begann nun, über sie selbst nachzudenken, und darüber, was sie wohl dachte und fühlte.

Er ließ zuerst ihr persönliches Leben an sich vorüberziehen, ihr Denken vergegenwärtigte er sich und ihre Wünsche, und die Idee, daß sie auch ein eigenes Leben führen könne, erschien ihm so furchtbar, daß er ihn sofort von sich wies.

Dies war jener Abgrund, in den hinabzublicken ihn graute. Sich im Denken und Fühlen in ein anderes Wesen hineinzuversetzen, war eine geistige Handlung, die Aleksey Aleksandrowitsch nicht kannte. Er hielt diese geistige Handlung für schadenbringend und für eine gefährliche Phantasterei.

»Am entsetzlichsten aber von allem,« dachte er, »ist dies, daß gerade jetzt, wo ich meine Aufgabe zu Ende führen will,« er dachte an seinen Plan den er jetzt durchgeführt hatte, »wo mir innere Ruhe und das Aufgebot aller geistigen Kräfte Bedingung ist, diese ungereimte Beunruhigung über mich kommen muß. Doch was soll ich nun thun? Ich bin keiner von denen, welche Beängstigung oder Unruhe zu ertragen wüßten, oder die Kraft besäßen, ihr ins Auge zu blicken! Ich muß daran denken, einen Entschluß zu fassen um all das los zu werden,« sagte er laut zu sich. »Die Fragen betreffs ihres Gefühlslebens, darüber was in ihrer Seele vor sich gegangen war oder gehen könne, sind nicht meine Sache, das ist Sache ihres Gewissens und unterliegt der Religion,« sagte er zu sich selbst und empfand eine Erleichterung in dem Bewußtsein, daß er nunmehr diejenige Kategorie der Bestimmungen gefunden habe, zu welcher der aufgetauchte Umstand gehöre. »Die Fragen welche ihr Gefühlsleben angehen und anderes mehr, sind also Fragen ihres eigenen Gewissens, und das geht mich nichts an. Meine Aufgabe ist hier klar vorgezeichnet. Als Haupt der Familie bin ich die Person, welche verpflichtet ist, sie zu leiten, und infolge dessen zum Teil auch die Person welche verantwortlich ist. Ich muß auf die Gefahr verweisen, die ich sehe, muß sie warnen und selbst Gewalt hierbei anwenden. Ich bin verpflichtet, ihr dies zu sagen.«

In dem Kopfe Aleksey Aleksandrowitschs hatte sich alles klar aufgebaut, was er seinem Weibe zu sagen gedachte, als er aber so überlegte, was er sagen wollte, beklagte er, für seine häuslichen Angelegenheiten in dieser nichtigen Weise seine Zeit und Geisteskräfte anwenden zu müssen, nichtsdestoweniger aber stand vor seinem geistigen Auge klar und scharf wie eine Anklage die Form und Fassung der nachfolgenden Rede:

»Ich muß ihr sagen und erklären wie folgt: Erstens eine Erklärung der Bedeutung der gesellschaftlichen Meinung und Etikette, zweitens eine theologische Erklärung über die Bedeutung der Ehe, drittens, falls erforderlich, ein Hinweis auf das möglicherweise eintretende traurige Geschick des Sohnes, viertens eine Verweisung auf das eigene Verderben.«

Nachdem er hierbei seine Finger, einen nach dem andern, nach unten ineinander gestreckt hatte, zog er und die Finger knackten in den Gelenken. Diese Geste – eine, üble Angewohnheit – hatte stets eine beruhigende Wirkung auf ihn ausgeübt und ihm das Gleichgewicht wieder verliehen das ihm auch jetzt so notwendig war.

Vor dem Thore vernahm man das Geräusch einer heranfahrenden Equipage. Aleksander Aleksandrowitsch blieb inmitten des Saales stehen. Auf der Treppe wurden weibliche Schritte hörbar.

Aleksey Aleksandrowitsch, zu seiner Rede bereit, stand, die Finger, welche schon gekracht hatten, pressend, in der Erwartung, es werde noch einer von ihnen knacken. Nur ein einziges Gelenk knackte noch.

Schon an dem Klang der leichten Schritte auf der Treppe empfand er ihre Annäherung und obwohl er mit seiner Rede zufrieden war, wurde es ihm doch bange ums Herz ob der bevorstehenden Auseinandersetzung.

Anna trat ein mit gesenktem Kopfe; sie spielte mit den Zipfeln ihres Baschliks. Ihr Gesicht leuchtete in hellem Glänze, aber dieser Glanz war kein heiterer – er gemahnte an den unglückverheißenden Schein der Feuersbrunst in finsterer Nacht.

Als sie ihren Mann erblickte, hob sie den Kopf und lächelte gleich als wäre sie erwacht.

»Bist du noch nicht zu Bett? Das wundert mich!« sagte sie, den Baschlik abwerfend, und, ohne stehen zu bleiben, nach ihrem Toilettezimmer weiter gehend. »Es ist Zeit, Aleksey Aleksandrowitsch,« fuhr sie fort, schon hinter der Thüre.

»Anna, ich muß etwas mit dir besprechen.«

»Mit mir?« antwortete sie verwundert, kam aus der Thür zurück und blickte ihn an. »Was giebt es denn? Worum handelt es sich?« frug sie, Platz nehmend. »Also beginne, wenn es so nötig ist; besser wäre es freilich, sich schlafen zu legen.«

Anna sprach, was ihr auf die Zunge kam, und sie verwunderte sich selbst, als sie sich hörte, wie fähig sie der Lüge war.

Wie einfach und natürlich waren ihre Worte, und wie natürlich klang es, als sie sagte, sie möchte nun schlafen gehen. Sie kam sich vor, als sei sie mit einem Panzer der Lüge angethan. Sie fühlte, daß sie von einer unsichtbaren Kraft unterstützt wurde, die sie hielt.

»Anna, ich muß dich warnen,« Hub er an.

»Warnen?« antwortete sie, »wovor?«

Sie blickte ihn so offenherzig, so heiter an, daß jemand, der sie nicht so gekannt hätte, wie ihr Gatte, nichts Unnatürliches an ihr hatte bemerken können, weder in ihrem Tone, noch in der Bedeutung ihrer Worte.

Für ihn aber, der sie kannte, und wußte, daß er, wenn er sich nur fünf Minuten spater niederlegte als sie, von ihr vermißt und gefragt wurde weshalb er nicht schlafen gehe, für ihn, welcher wußte, daß alle Freude und Luft, alles Leid ihm stets von ihr mitgeteilt worden war, für ihn bedeutete es gar viel, jetzt zu sehen, daß sie nicht bemerken wollte, in welcher Stimmung er sich befand und kein Wort von ihm selbst sprach. Er sah, daß die Tiefe ihrer Seele, früher stets vor ihm geöffnet gewesen, jetzt für ihn geschlossen war. Und doch erkannte er an ihrem Tone, daß sie hierüber nicht einmal in Verwirrung geriet, sondern fast keck zu ihm zu sagen schien: Ja, verschlossen, und so muß und wird es in alle Zukunft bleiben. Jetzt erfuhr er an sich ein Gefühl, ähnlich dem, welches ein Mensch empfunden haben würde der nach Hause zurückkehrt und sein Haus verschlossen findet. »Aber vielleicht läßt sich der Schlüssel noch finden,« dachte Aleksey Aleksandrowitsch.

»Ich möchte dich nur davor warnen,« sagte er, mit leiser Stimme, »daß du in deiner Unvorsichtigkeit und deinem Leichtsinn der Welt nicht Anlaß geben möchtest zum Klatsch über dich. Deine allzu lebhafte Unterhaltung heute mit dein Grafen Wronskiy« – er sprach diesen Namen ruhig, in Absätzen und mit festem Tone aus – »hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf dich gelenkt.«

Er sprach und blickte ihr dabei in die lachenden, ihm jetzt in ihrer durchdringenden Schärfe furchtbar gewordenen Augen, aber beim Sprechen schon empfand er die ganze Nutzlosigkeit und Vergeblichkeit seiner Worte.

»Du machst es immer so,« antwortete sie, sich stellend, als verstände sie nicht das Geringste von alledem, was er gesprochen hatte und als habe sie absichtlich nur das Letzte davon aufgefaßt.

»Bald ist es dir unangenehm, wenn ich langweilig bin, bald, wenn ich heiter bin! Ich habe mich nicht gelangweilt, und dies kränkt dich?«

Aleksey Aleksandrowitsch erbebte und drückte seine Hände zusammen, um sie knacken zu lassen.

»Ach, bitte doch, knacke nicht mit den Fingern, ich kann das nicht ausstehen,« sagte sie.

»Anna, bist du das noch?« antwortete er leise, eine Anstrengung machend, seine Selbstbeherrschung zu behalten und die Bewegung seiner Hände ruhen lassend.

»Aber was ist denn eigentlich?« sagte sie mit aufrichtiger und komischer Verwunderung; »was willst du denn eigentlich von mir?«

Aleksey Aleksandrowitsch blieb stumm und fuhr sich mit der Hand über Stirn und Augen. Er sah ein, daß er, anstatt auszuführen, was er zu thun beabsichtigte, nämlich seine Frau zu warnen vor einem Fehltritt in den Augen der großen Welt, unwillkürlich über das in Erregung geriet, was ihr Gewissen anging, und so kämpfte er gewissermaßen mit einer Mauer, die er vor sich zu sehen wähnte.

»Ich habe mich entschlossen, das Folgende zu thun,« fuhr er kühl und ruhig fort, »und ich bitte dich daher, mich anzuhören. Ich halte, wie du weißt, die Eifersucht für ein beleidigendes und erniedrigendes Gefühl und werde mir niemals gestatten, mich von demselben leiten zu lassen; aber es giebt gewisse Gesetze des Anstandes, die man nicht ungestraft überschreiten darf. Heute nun habe nicht etwa nur ich, sondern, nach dem Eindruck zu urteilen, der in der Gesellschaft hervorgebracht worden ist, – jedermann hat bemerkt, daß du dich nicht völlig in den Schranken bewegt hast, die eben wünschenswert erschienen.«

»Ich verstehe entschieden nichts von alledem,« antwortete Anna, die Schultern ziehend, »es scheint ihm alles ziemlich gleichgültig zu sein,« dachte sie bei sich; »aber man hat in der Gesellschaft etwas bemerkt und dies beunruhigt ihn.«

»Du befindest dich nicht wohl, Aleksey Aleksandrowitsch,« fügte sie laut hinzu, erhob sich und wollte durch die Thür hinausgehen, aber er trat vor sie, als wünsche er, sie zurückzuhalten.

Sein Gesicht sah unschön und finster aus; wie es Anna noch nie gesehen hatte. Sie blieb stehen und begann, den Kopf nach hinten seitwärts wendend, mit ihrer gewandten Hand die Haarnadeln aus ihrer Frisur zu nehmen.

»Nun, ich höre, was da kommen wird,« sagte sie ruhig und ironisch. »Ich höre sogar mit Interesse, weil ich gern erfahren möchte, um was es sich eigentlich handelt.«

Sie sprach und war verwundert über den natürlichen, ruhigen Ton, den wahren Ton, mit welchem sie gesprochen hatte und über die Wahl der Worte, die sie anwendete.

»In alle Einzelheiten deines Gefühlslebens einzugehen, habe ich kein Recht; ich halte dies auch, im allgemeinen wenigstens, für unnütz und selbst für schädlich,« begann Aleksey Aleksandrowitsch. »Wenn wir so in unserem Innern Gedanken sammeln, speichern wir dabei oft vieles auf, was dort am besten unbemerkt liefen bleiben sollte. Deine Empfindungen – sie sind Sache deines Gewissens, ich aber bin verpflichtet vor dir, vor mir und vor Gott, dir deine Pflichten zu zeigen! Unser Leben ist verknüpft worden nicht durch die Menschen, sondern durch Gott. Dies Band zu zerreißen vermag nur das Verbrechen, und das Verbrechen zieht nach sich die Strafe.«

»Ich verstehe noch nichts. Mein Gott, und wie entsetzlich müde ich bin!« sagte sie, schnell mit der Hand das Haar durchwühlend und die noch übrig gebliebenen Haarnadeln heraussuchend.

»Anna, um Gottes willen, sprich nicht so,« warf er sanft ein, vielleicht irre ich mich, aber glaube mir, alles was ich auch sage, sage ich ebenso sehr für mich, wie für dich. Ich bin dein Mann und liebe dich!«

Einen Moment hindurch verlor ihr Gesicht an Spannkraft und der frivole Funke in ihrem Blick erlosch, aber das Wort »ich liebe dich« erweckte ihn wieder.

Sie dachte »er liebt mich? Kann er denn überhaupt lieben? Hätte er nicht zufällig davon gehört, daß die Liebe existiert, so würde er doch niemals dieses Wort gebraucht haben; denn er weiß ja doch gar nicht was Liebe ist. »Aleksey Aleksandrowitsch, ich verstehe wahrhaftig nicht,« sagte sie dann, »erkläre dich doch näher, was findest du denn« –

»Gestatte, laß mich ausreden. Ich liebe dich; aber ich spreche jetzt gleichwohl nicht von mir selbst; die Personen, um die es sich vornehmlich handelt, sind: unser Sohn und du! Es kann wohl sein, ich wiederhole es, daß meine Worte dir nutzlos und unangebracht erscheinen; vielleicht sind sie nur von einem Irrtum meinerseits hervorgerufen. In diesem Falle bitte ich dich, mir zu verzeihen. Aber solltest du selbst finden, daß auch nur die leiseste Berechtigung für sie vorhanden ist, dann bitte ich dich nachzudenken, und dich mir, wenn das Herz in dir spricht, zu erklären.«

Aleksey Aleksandrowitsch hatte, ohne dessen inne zu werden, gar nichts von alledem gesprochen, was er sich vorher zurechtgelegt.

»Ich habe nichts hierauf zu sagen. Und – wahrhaftig: es ist Zeit, schlafen zu gehen,« sagte sie hastig, nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückend.

Aleksey Aleksandrowitsch seufzte und begab sich, ohne noch ein Wort zu sagen, ins Schlafgemach.

Als sie dasselbe betrat, ruhte er schon. Seine Lippen waren streng zusammengepreßt, seine Augen schauten sie nicht an. Anna legte sich in ihr Bett, und erwartete, daß er nochmals das Wort an sie richten werde. Sie fürchtete, daß er nochmals beginnen würde und doch sehnte sie sich zugleich darnach.

Doch er schwieg. Lange verharrte sie unbeweglich; dann vergaß sie seiner. Sie gedachte des anderen und sah ihn im Geiste; sie sah ihn und fühlte, wie sich ihr Herz bei diesem Gedanken füllte mit Aufregung und frevelhafter Freude. Plötzlich vernahm sie ein gleichmäßiges und leises Schnarchen.

In der ersten Minute erschrak Aleksey Aleksandrowitsch gleichsam vor seinem Schnarchen und hielt inne, nachdem er aber mehrere Atemzüge an sich gehalten, begann das Schnarchen aufs neue mit ruhiger Gleichmäßigkeit.

»Es ist schon spät, spät,« flüsterte sie lächelnd.

Lange lag sie noch, ohne sich zu regen mit offenen Augen? deren Glanz in der Dunkelheit sie selbst zu sehen glaubte.

10.

Seit dieser Zeit entwickelte sich ein neues Leben für Aleksey Aleksandrowitsch und für sein Weib.

Es ereignete sich nichts Besonderes. Anna verkehrte, wie bisher, in der vornehmen Welt weiter und war besonders häufig bei der Fürstin Bezzy; sie traf überall mit Wronskiy zusammen.

Aleksey Aleksandrowitsch sah dies wohl, doch vermochte er nichts dagegen zu thun. Auf alle seine Versuche, sie zu einer Aussprache zu veranlassen, begegnete sie ihm mit der undurchdringlichen Schranke einer heiteren Verständnislosigkeit. Äußerlich waren sie die Nämlichen geblieben, aber innerlich hatten sich ihre Beziehungen vollständig verändert.

Aleksey Aleksandrowitsch, ein in den Regierungsgeschäften so thatkräftiger Mann, sah sich hier ohnmächtig. Wie ein Stier, der ergeben die Hörner senkt, so wartete er des Schlages, zu dem – er fühlte es – über ihm schon ausgeholt war. Stets, wenn er begann, an seine Lage zu denken, fühlte er daß es nötig sei, noch einmal eine Probe zu machen, daß noch eine Hoffnung da sei, durch Güte, Zärtlichkeit und Zureden sie zu retten, sie zur Besinnung zu bringen, und täglich nahm er sich vor, mit ihr zu sprechen. Aber stets, wenn er mit ihr zu sprechen anfing, fühlte er auch, daß jener Geist des Bösen und Falschen, der über ihr waltete, auch ihn beherrschte, und er sprach mit ihr dann nicht davon und nicht in jenem Tone, in welchem er mit ihr reden wollte.

Unwillkürlich sprach er mit ihr in seinem gewohnten Tone des Scherzenden und in diesem Tone ihr zu sagen, was er sagen mußte, war unmöglich. – – –

11.

Das, was für Wronskiy fast ein ganzes Jahr hindurch der einzige Lebenswunsch gewesen war, der alle seine früheren Wünsche ersetzte; das, was für Anna ein unmöglicher, entsetzlicher, und gerade deshalb um so mehr verführerischer Traum von Seligkeit gewesen – diesem Wunsch war jetzt Genüge geschehen. –

Bleich, mit bebenden Kinnbacken, stand er vor ihr und beschwor sie, sich zu beruhigen, ohne selbst zu wissen, worüber und worin.

»Anna, Anna! sprach er mit bebender Stimme, »Anna, um Gottes willen!« –

Aber je lauter er rief, um so tiefer senkte sie das einst so stolze, heiterschöne, jetzt entehrte Haupt. Sie war gebrochen und stürzte von dem Diwan, auf welchem sie gesessen zu Boden, zu seinen Füßen: sie würde auf den Teppich geglitten sein, hätte er sie nicht gehalten.

»Mein Gott! Vergieb mir!« schluchzte sie und preßte seine Hände auf ihren Busen.

So sündig fühlte sie sich, so schuldbeladen, daß ihr nur noch übrig blieb, sich zu erniedrigen und um Vergebung zu betteln. Im Leben stand jetzt, außer ihm, ihr niemand mehr zur Seite, sie hatte niemand mehr, so daß nur an ihn allein sie ihre Bitte um Verzeihung richtete. Wenn sie ihn anschaute, empfand sie physisch ihre Erniedrigung und mehr vermochte sie sich nicht zu sagen.

Er aber empfand, was ein Mörder empfinden muß, wenn er den Körper sieht, der durch ihn des Lebens beraubt ist.

Der Körper, welcher hier des Lebens beraubt wurde, war ihre Liebe, oder vielmehr die erste Periode derselben. Es lag etwas Furchtbares, Abstoßendes in den Erinnerungen an das, was jetzt mit einem so furchtbaren Preis von Schande bezahlt worden war.

Die Scham über ihre seelische Entblößung erstickte sie und teilte sich auch ihm mit. Aber nicht genug, daß das ganze Entsetzen des Mörders vor der Leiche des Getöteten hier zu Tage trat, es galt jetzt auch, den Leichnam in Stücke zu zerschneiden, den Kadaver zu verstecken, es galt das auszunutzen, was der Mörder durch seinen Mord erworben hatte.

Mit Erbitterung, gleichsam voll Leidenschaft, wirft sich der Mörder auf diesen Leichnam, er zerrt ihn herum und zertrennt ihn.

So bedeckte auch er jetzt ihr Gesicht, ihre Schultern mit Küssen. Sie hielt seine Hand fest und bewegte sich nicht. Diese Küsse waren das, was erkauft worden war durch Schande; diese Hand da, die ihr fürderhin sein sollte, – war die Hand ihres Mitschuldigen.

Sie hob diese Hand und küßte sie; er fiel auf seine Kniee nieder und suchte ihr Angesicht zu sehen, aber sie barg es und sprach nicht.

Endlich, gleichsam als sammle sie alle Kräfte, erhob sie sich und stieß ihn weg. Noch immer war ihr Antlitz schön, doch desto mehr war es beklagenswert.

»Vorbei,« sagte sie, »ich habe nun nichts mehr, als dich. Denke daran.«

»Ich kann nicht nur denken an das, was ja mein ganzes Leben ist. Für die Minute dieser Seligkeit« –

»Welche Seligkeit!« antwortete sie mit Ekel und Entsetzen, und ihr Schrecken teilte sich unwillkürlich auch ihm mit. »Um Gott; kein Wort, kein Wort mehr!«

Sie erhob sich schnell und entfernte sich von ihm.

»Kein Wort mehr,« wiederholte sie und mit einem Ausdruck kalter Verzweiflung auf den Zügen, der ihm befremdend erschien, ging sie.

Sie empfand, daß sie in diesem Augenblick das Gefühl des Ekels nicht auszudrücken vermöge, das Gefühl der Freude und des Schreckens – bei diesem Eintritt in ein neues Leben; sie wollte nicht darüber sprechen und es nicht mit falschen Worten fad machen.

Aber auch späterhin, weder am nächsten noch am übernächsten Tage, fand sie nicht nur keine Worte, mit denen sie das ganze Gewirr ihrer Empfindungen hätte ausdrücken können: sie fand nicht einmal Gedanken, mit denen sie selbst völlig das hätte überdenken können, was auf ihrer Seele lag.

Sie sprach m sich selbst: »Nein, jetzt kann ich nicht darüber nachdenken, später will ich es thun, wenn ich ruhiger geworden sein werde.«

Aber diese Beruhigung im Denken trat nie ein; stets, wenn sie sich dessen erinnerte, was sie gethan und was mit ihr werden würde, was sie zu thun habe, überkam sie ein Entsetzen und sie scheuchte diese Gedanken hinweg von sich.

»Später, später,« sagte sie, »wenn ich ruhiger geworden sein werde.«

Im Schlafe aber, während dessen sie keine Macht über ihre Gedanken hatte, da stellte sich ihr ihre Lage in ihrer ganzen ungeheuren Nacktheit vor Augen. Ein und dasselbe Traumgesicht suchte sie fast jede Nacht.

Ihr träumte, beide Männer seien ihre Gatten und spendeten ihr ihre Liebkosungen. Aleksey Aleksandrowitsch weinte und küßte ihr die Hand und sprach, wie gut ist alles jetzt! – Aleksey Wronskiy war daneben und auch er war ihr Gatte, und sie wunderte sich darüber, daß dies ihr früher unmöglich geschienen und erklärte beiden lachend, dies sei bei weitem einfacher und beide müßten jetzt zufrieden und glücklich sein. Aber dieser Traum quälte sie wie ein Alp und sie erwachte voll Entsetzen.

12.

Während der ersten Zeit nach seiner Rückkehr von Moskau erschrak Lewin stets und errötete, wenn er sich der Bloßstellung erinnerte, die ihm durch jene Absage zu teil geworden war. Er sagte aber zu sich: »Ebenso wurde ich rot und geriet in Schrecken, indem ich alles für verloren hielt, als ich die Eins in der Physik erhielt und in der zweiten Klasse blieb; ebenso hielt ich mich für verloren, als ich die Angelegenheit der Schwester schlecht geführt hatte; und was ist es jetzt? Nachdem Jahre darüber hinweggegangen sind, gedenke ich jener Zeit und bin verwundert, wie mich dies erbittern konnte.

»Das Nämliche wird auch wieder der Fall mit diesem Schmerz. Wenn Zeit genug verronnen sein wird, werde ich schon wieder Gleichmut für ihn haben.«

Aber schon drei Monate waren verronnen und er war nicht gleichmütig geworden; es war ihm noch so wie in den ersten Tagen traurig und schwer, an seinen Versuch in Moskau zurückzudenken.

Der Grund, daß er diese Ruhe nicht zu finden vermochte, lag darin, daß er, der so lange über das Familienleben nachgedacht hatte, der sich so reif dafür fühlte, gleichwohl noch nicht beweibt war und weiter als er es je gewesen, von einer Heirat entfernt stand.

Schmerzlich empfand er selbst, daß seine ganze Umgebung fühlte, daß es nicht gut wäre in seinen Jahren, wenn der Mensch allein sei. Er entsann sich, wie er vor seiner Abreise nach Moskau seinem Viehwärter Nikolay, einem naiven Bauern, mit dem er gern zu sprechen pflegte, gesagt hatte: »Nun, Nikolay, ich will heiraten,« und wie dieser eilig darauf erwidert hatte, als ob es sich um eine Sache handelte, an der gar kein Zweifel möglich sei: »Längst Zeit, Konstantin Dmitritsch«.

Aber jetzt war die Heirat wieder weiter von ihm hinweg getreten, als je zuvor. Der Platz, den er sich erkoren hatte, war schon besetzt gewesen, und wenn er sich jetzt in seiner Vorstellungskraft an diesen Platz ein anderes der ihm bekannten jungen Mädchen setzte, da fühlte er, daß dies vollkommen unmöglich war.

Bei alledem aber quälte ihn doch auch die Erinnerung an seine Abweisung und die Rolle, die er dabei gespielt hatte, und erfüllte ihn mit Scham.

Wie oft er auch zu sich selbst sprechen mochte, daß er doch an nichts schuld sei, die Erinnerung im Verein mit anderen Erinnerungen ähnlicher Art, ließen ihn immer wieder erschüttert sein und erröten.

Auch er hatte, wie jeder Sterbliche, nur ihm bekannte unrechte Handlungen in seiner Vergangenheit, von denen er sich gequält fühlte, aber die Erinnerung an diese war ihm bei weitem nicht so peinlich, wie jene unbedeutenden und doch so beschämenden Reminiscenzen.

Jene Wunden hatten sich nie geschlossen, und im Bunde mit ihnen stand nun noch die Abweisung und die klägliche Lage in welcher er der Gesellschaft an jenem Abend erschienen sein mußte.

Indessen die Zeit und die Arbeit thaten doch das Ihrige. Die drückenden Erinnerungen wurden mehr und mehr von den für ihn kaum bemerkbaren, aber bedeutungsvoll wirkenden Vorgängen innerhalb des Landlebens überwuchert.

Mit jeder Woche dachte er entschiedener über Kity; er erwartete mit Ungeduld die Nachricht, daß sie vermählt sei oder demnächst Hochzeit haben werde, in der Hoffnung, daß eine solche Nachricht ihn, gleich einer Zahnoperation, vollständig von seinen Schmerzen heilen werde.

Mittlerweile war der Frühling gekommen, herrlich und lieblich, ganz wider Erwarten und ohne die trügerische Witterung die sonst dem Frühjahr eigen ist; es war einer jener seltenen Lenze, an denen Pflanze, Mensch und Tier gemeinsam sich ergötzt.

Dieser herrliche Lenz hatte Lewin noch mehr ermuntert und bestärkt in seinem Vorsatze, sich aller früheren Ideen zu entschlagen, um fest und unabhängig sein vereinsamtes Leben weiterführen zu können.

Obwohl gar viele jener Vorsätze, mit denen er auf sein Dorf zurückgekommen war, nicht von ihm verwirklicht waren, so war doch eines von ihm fest beobachtet geblieben, das Hauptsächlichste, – die Reinheit seines Lebens.

Er empfand nicht mehr jene Beschämung an sich, welche ihn sonst gewöhnlich zu überkommen pflegte nach einem Fehltritt und vermochte jetzt den Menschen kühn ins Auge zu blicken.

Bereits im Februar hatte er von Marja Nikolajewna ein Schreiben erhalten, des Inhalts, daß die Gesundheit seines Bruders Nikolay immer schlechter werde, daß dieser sich aber keiner Kur unterziehen wolle.

Infolge dieses Briefes fuhr Lewin nach Moskau zu seinem Brüder, und es gelang ihm, diesen zu überreden, den Rat eines Arztes in Anspruch zu nehmen und ins Ausland in ein Bad zu reisen.

Es war ihm so leicht gelungen, dies zu bewirken, und ihm Gelder zur Reise aufzunötigen, ohne daß der Bruder sich davon gereizt fühlte, daß er in dieser Beziehung sehr mit sich zufrieden war.

Abgesehen davon, daß die Landwirtschaft im Frühling eine besondere Aufmerksamkeit erforderte, hatte Lewin schon im Winter ein Werk über Ökonomie zu schreiben begonnen, dessen Plan darin bestand, daß der Charakter des Arbeiters in der Landwirtschaft aufzufassen sei als absolut Gegebenes, ebenso wie dies mit Klima und Boden der Fall sei, und daß folglich alle Grundlagen der Ökonomiewissenschaft nicht allem von diesen beiden Faktoren abhingen, sondern von Boden, Klima und dem bekanntlich an sich unveränderlichen Charakter des Feldarbeiters.

Lewins Leben war auf diese Weise trotz seiner Einsamkeit, oder auch infolge seiner Einsamkeit außerordentlich ausgefüllt. Nur bisweilen empfand er den unerfüllbaren Wunsch, die in ihm webenden Ideen andern mitzuteilen, als nur der Agathe Michailowna, obwohl selbst diese öfters in die Lage kam, über Physik urteilen zu müssen, über die Theorie der Ökonomie und namentlich über Philosophisches. Die Philosophie bildete eines der Lieblingsthemen der Agathe Michailowna.

Der Frühling war kaum herangekommen. Die letzten Fastenwochen hatten Helles, kaltes Wetter gehabt. Am Tage thaute es unter den Strahlen der Sonne und nachts stieg die Kälte bis sieben Grad unter Null. Der Boden war so grundlos geworden, daß man auf Wagen fuhr, da kein Weg mehr da war, und Ostern kam im Schneegewand.

Dann aber, am zweiten Ostertag, begann plötzlich ein lauer Wind zu wehen, Regenwolken zogen daher, und drei Tage und drei Nächte ging ein warmer Sturmregen nieder. Am Donnerstag legte sich der Wind, und ein dichter grauer Nebel stieg empor, gleich als ob er das Geheimnis der in der Natur sich vollziehenden Wandlungen verhüllen wollte.

In diesem Nebel strömten die Wässer, borst das Eis und ging, trübe und schäumend wälzten sich schnell die Flüsse dahin, und am roten Hügel teilte sich des Abends der Nebel, zerrissen die Wolken in Flocken. Es wurde hell, der echte Frühling erschien.

Am Morgen thaute die Sonne schnell das dünne Eis hinweg, das noch die Gewässer überdeckte und die warme Luft begann zu erzittern von den sie erfüllenden Ausdünstungen der auflebenden Erde.

Es grünte wieder das alte Gras wie das junge das in seinen Keimen sproß, die Knospen des Maßholder sprangen, des Johannisbeerstrauchs und der harzigen Birke und an den mit goldschimmernden Blüten übersäten Reisern summte die freigelassene schwärmende Biene.

Unsichtbare Lerchen schwebten über dem sammetnen Grün und den vom Eis befreiten Stoppeln und in den Niederungen und Sümpfen die mit dem vom Sturme gebrachten, angesammelten Regenwasser gefüllt waren, klagten Kibitze; hoch droben in der Luft aber flogen mit ihrem Frühlingsgeschrei Kraniche und wilde Gänse.

Es brüllte auf den Triften das Vieh, welches das Winterhaar noch nicht ganz abgelegt hatte, spielten die steiffüßigen Lämmer um ihre blökenden Mütter, die ihre Wolle verloren, und schnellfüßige Kinder liefen auf den, mit den Abdrücken der nackten Füße trocken gewordenen Wiesenpfaden umher. Die heiteren Stimmen der Weiber kreischten am Dorfteich bei der Leinwand und die Äxte der Bauern erschallten auf den Höfen der Güter bei der Ausbesserung der Pflugscharen und Eggen. Der Frühling war nun wirklich gekommen.

13.

Lewin hatte hohe Stiefel angezogen und ging zum erstenmal ohne Pelz und nur mit einer Tuchjacke bekleidet, nach der Ökonomie, die kleinen Bäche durchschreitend, die ihm mit ihrem Glänze in der Sonne die Augen blendeten, und bald auf Eis tretend, bald auf schlüpfrigen Schlamm.

Der Frühling ist die Zeit der Pläne und Unternehmungen. Als Lewin hinaustrat, selbst lme ein Baum im Frühling,’der noch nicht weiß, wohin und wie sich seine jungen Schößlinge und Zweige, die noch in den Knospen sind, entwickeln werden, so wußte er selbst noch nicht, welcher Arbeit er in seinem geliebten Berufe sich jetzt zuerst widmen sollte, aber er fühlte, daß er reich an Ideen und den besten Vorsätzen sei.

Vor allem wandte er sich nach seinem Vieh. Die Kühe waren hinausgeführt worden in die Sonnenwärme; sie brüllten dort, glänzend in dem neuen glatten Haar, das in der Sonne wärmer wurde und wollten auf das Feld hinaus. An den ihm bis in die kleinste Einzelheit bekannten Tieren sich ergötzend, befahl Lewin, sie auf das Feld zu treiben, die Kälber aber in die Sonne zu bringen. Der Hirt lief fröhlich, sich fertig zu machen. Die Kuhweiber in den nackten, jetzt noch weißen und nicht von der Sonne verbrannten Füßen, laufen mit ihren Reisern im Schlamme hinter den brüllenden vor Freude über den Frühling aufgeregten Kälbern her und treiben sie auf den Hof.

Lewin wandte sich freundlich zu dem jungen Satz dieses Jahres, der außerordentlich befriedigend gewesen war. Die Frühkälber waren an Größe fast wie die Bauerkühe, die Tochter der Pawa von drei Monaten war an Größe den vorjährigen Kälbern gleich. Er befahl, ihnen einen Trog herauszubringen und Heu hinter die Gitter zu geben. Aber da stellte sich heraus, daß diese defekt waren. Er sandte nach dem Zimmermann, welcher seinem Befehle nach bei der Dreschmaschine sein mußte; es zeigte sich aber, daß derselbe gerade Eggen ausbesserte, die längst, schon seit der Woche vor den großen Fasten hatten ausgebessert sein sollen. Dies war sehr verdrießlich für Lewin; es war verdrießlich, daß er immer wieder auf diese Unordnung in der Wirtschaft stieß, gegen welche er nun schon seit so vielen Jahren mit allen Kräften ankämpfte.

Die Gitter waren, wie er erfuhr, im Winter nicht nötig und daher in den Geschirrstall gebracht worden, hier aber in die Brüche gegangen, weil sie für die Kälber nur leicht gearbeitet waren.

Weiterhin aber zeigte sich auch, daß die Eggen und alle Ackergeräte die noch während des Winters hatten revidiert und ausgebessert werden sollen, zu welchem Zwecke eigens drei Stellmacher angenommen worden waren, nicht repariert dastanden, und daß die Eggen nur ausgebessert wurden, wenn man sie auf dem Felde brauchte.

Lewin sandte nach dem Verwalter, ging aber gleich darauf selbst, um ihn ausfindig zu machen. Der Verwalter, welcher heute ebenso glänzte, wie alles an diesem Tage, kam in seinem gesäumten Lammpelze von der Tenne, mit den Fingern einen Strohhalm zerknickend.

»Weshalb ist der Stellmacher nicht bei der Dreschmaschine?«

»Ich wollte schon gestern melden, daß wir Eggen ausbessern müssen. Es muß ja gepflügt werden.«

»Und was ist denn da im Winter gemacht worden?«

»Wozu braucht Ihr jetzt den Stellmacher?«

»Wo sind die Gitter vom Kälberhof!«

»Ich habe befohlen, sie an ihre Stelle zu bringen. Was soll man aber mit diesem Volke machen!« sagte der Verwalter, mit der Hand winkend.

»Nicht mit diesem Volke, sondern diesem Verwalter!« rief Lewin aufbrausend. »Für was halte ich Euch eigentlich!« rief er, aber zur Besinnung kommend, daß man damit nicht viel erreiche, hielt er inmitten seiner Rede inne und seufzte nur.

»Nun, können wir denn säen?« frug er endlich nach einigem Schweigen.

»Wie Turkin sagt, morgen oder übermorgen vielleicht.«

»Und der Kleber?«

»Ich habe Wasil und Mischka geschickt, sie dürften säen. Ich weiß nur nicht, ob sie durchkommen, weil es zu morastig ist.«

»Wie viel Desjatinen laßt Ihr säen?«

»Sechs!«

»Weshalb denn nicht alle?« rief Lewin.

Daß man nur sechs Desjatinen Kleber säte und nicht alle zwanzig, war noch ärgerlicher. Der Kleber war nach der Theorie sowohl, wie nach seiner eigenen Erfahrung nur gut zu säen, wenn er so zeitig als möglich gesät würde, fast schon noch in den Schnee hinein. Lewin hatte dies indessen niemals durchsetzen können.

»Es sind keine Leute da! Was wollt Ihr mit diesem Volke machen? Drei sind gar nicht gekommen. Da ist auch der Semjon.«

»Hättet Ihr doch das Stroh sein lassen.«

»Ich habe es auch gelassen.«

»Wo sind die Leute?«

»Fünf sind beim Mist, vier schütten Hafer um. Als ob ich mich nicht gesputet hätte, Konstantin Dmitritsch!«

Lewin wußte recht wohl, daß sich diese Andeutung darauf bezog, der englische Samenhafer sei auch schon verdorben – man hatte also wieder nicht gethan, was er befohlen hatte.

»Ich habe aber doch noch während der Fasten gesagt, daß« – rief Lewin.

»Beruhigt Euch, wir thun alles zur rechten Zeit.«

Lewin winkte zornig mit der Hand und ging nach den Scheunen, um den Hafer zu besichtigen; dann begab er sich nach dem Pferdestall. Der Hafer war noch nicht verdorben, aber die Arbeiter schütteten ihn mit Schaufeln um, obwohl es möglich gewesen wäre, ihn gleich direkt in die niedrigere Scheuer zu schütten. Nachdem Lewin so angeordnet hatte, machte er zwei Leute frei, die nun zum Säen des Klebers verwendet werden konnten. Lewin war jetzt ruhiger geworden über den Arger mit seinem Verwalter. Der Tag war aber auch so herrlich, daß man nicht zürnen konnte.

»Ignaz!« rief er seinem Kutscher, welcher mit aufgestreiften Ärmeln am Brunnen den Wagen wusch, »sattle!«

»Welches Pferd?«

»Nun, doch den Kolpik!«

»Sogleich.«

Während das Pferd gesattelt wurde, rief Lewin nochmals den in seiner Nähe herumlaufenden Verwalter, um sich mit ihm auszusöhnen, und begann mit ihm über die bevorstehenden Frühjahrsarbeiten zu sprechen und über seine Wirtschaftspläne.

Man mußte möglichst bald Dünger fahren, damit für die erste Heuernte alles gut vorbereitet war, dann war ein fern gelegenes Feld fleißig zu pflügen, um es in gutem brachen Stande zu erhalten und dergleichen mehr.

Der Verwalter hörte aufmerksam zu und strengte sich offenbar an, die Auseinandersetzungen seines Herrn willig aufzunehmen, allein er besaß dabei einen Lewin nur zu bekannten, diesen stets gereizt machenden, ungläubigen und lässigen Zug, welcher gleichsam zu sagen schien, daß das alles ganz gut sei, wenn Gott es gebe.

Nichts aber erbitterte Lewin mehr, als dieser Ton. Doch war derselbe leider bei allen Verwaltern zu finden, soviel er deren auch schon gehabt hatte.

Sie alle beobachteten ein gleiches Verhalten gegenüber den Anordnungen des Herrn und er geriet deshalb jetzt nicht mehr bloß in Erregung, sondern in wirkliche Erbitterung und fand sich so noch mehr zum Kampfe mit dieser elementaren Kraft gestimmt, die er nicht anders zu benennen vermochte, als mit dem Ausdruck »wenn Gott es giebt«, und die ihm fortwährend so hartnäckig entgegenwirkte.

»Soweit es uns gelingen wird, Konstantin Dmitritsch,« antwortete der Mann.

»Und weshalb soll es nicht gelingen?« frug Lewin.

»Wir müssen noch fünfzehn Arbeitskräfte dingen. Es kommen aber keine. Heute – waren welche hier; sie wollen jedoch siebzig Rubel jährlich haben.«

Lewin schwieg; wiederum hatte sich ihm die elementare Kraft entgegengestemmt. Er wußte, daß so viel man auch probierte, nicht mehr als vierzig Arbeiter oder etwa siebenunddreißig, auch achtunddreißig nötig waren; vierzig waren in Dienst genommen, mehr nicht; aber er mochte nicht streiten.

»Schickt doch nach Sury, nach Tschesirowka, wenn keine kommen, muß man welche suchen.«

»Ja; schickt nur,« sagte Wasiliy Fjodorowitsch mutlos. »Übrigens sind auch unsere Pferde recht schwach geworden.«

»Dann müssen wir neue zukaufen; ich weiß ‚a,« fügte er lachend hinzu, »daß Ihr alles weniger und schlechter findet; doch in diesem Jahre werde ich Euch nicht so selbständig Wirtschaft führen lassen. Ich will alles selbst mit angreifen.«

»Ihr scheint überhaupt wenig schlafen zu können. Uns ist es ja angenehmer, wenn wir unter den Augen des Gutsherrn sind.«

»Sät man denn den Kleber draußen im Birkenthal? Ich werde selbst hinausreiten, um nachzusehen,« sagte er, den kleinen Falben Kolpik besteigend, der ihm vom Kutscher vorgeführt wurde.

»Über den Bach könnt Ihr aber nicht, Konstantin Dmitritsch,« rief der Kutscher.

»Nun, dann doch durch den Wald.« Und in scharfem Pasgang des guten starken Pferdes, welches in die Pfützen hinunter schnob, und in die Zügel biß, ritt Lewin über den schmutzigen Hof nach dem Felde hinaus.

War es ihm schon wohl und heiter zu Mut geworden auf dem Viehhofe, so wurde dies noch mehr der Fall draußen auf dem Felde.

Langsamen Trabs ritt er dahin auf seinem guten Tier, die noch von frischem Schneegeruch geschwängerte laue Luft einatmend. Als er durch den Wald kam, über den hier und da wie Staub noch herumliegenden Schnee hineilend, freute er sich über jeden seiner Baume mit dem an der Wurzel wuchernden Moos, den schwellenden Knospen.

Nachdem er den Wald hinter sich hatte, bereiteten sich vor ihm in ungeheurer Weite gleich einem sammetneu Teppich, ohne kahle Stellen oder Wassertümpel die grünen Fluren ans.

Der Anblick eines Bauernpferdes und eines einjährigen Hengstes die seine Saaten zerstampften – er befahl dem ihm begegnenden Bauern nur, die Tiere wegzutreiben – erzürnte ihn nicht, ebensowenig wie die höhnische und stupide Antwort des Bauern Ipat, den er getroffen und gefragt hatte, ob er bald säen würde.

»Erst müssen wir ackern, Konstantin Dmitritsch,« hatte derselbe geantwortet.

Je weiter Lewin kam, um so wohler wurde es ihm und Wirtschaftspläne, einer besser als der andere, stiegen vor ihm auf. Er wollte alle seine Felder mit Gebüsch bepflanzen lassen, nach der Mittagsseite zu, damit der Schnee ihnen nicht zu sehr schaden könne, eine Meierei auf einem entfernteren Felde errichten, einen Teich graben lassen und zur Sicherung des Viehs Verschläge konstruieren die sich transportieren ließen. Er besaß jetzt dreihundert Desjatinen Weizen, hundert Desjatinen Kartoffeln und hundertundfünfzig Kleber und keine einzige davon war erschöpft.

Mit diesen Gedanken ritt Lewin, sein Tier vorsichtig auf den Feldrainen hinlenkend, damit es ihm nicht die Saaten zertrete, zu seinen Arbeitern hinaus, welche den Kleber säten.

Der Wagen mit dem Samen stand nicht an dem Rain, sondern auf dem gepflügten Ackerboden und das Wintergetreide war von den Rädern zerfahren und den Hufen der Pferde zerstampft. Die beiden Arbeiter saßen auf dem Rain wie es schien, gemeinschaftlich eine Pfeife rauchend. Die Erde in dem Wagen, mit welcher der Same gemischt worden war, lag noch nicht zerkleinert und in Klumpen zusammengefroren.

Als der Arbeiter Wasil den Herrn erblickte, stand er auf und ging zum Wagen, während Mischka zu säen begann. Sie hatten unrecht gehandelt, aber auf die Arbeiter wurde Lewin selten ungehalten.

Als Wasil herankam, befahl ihm Lewin, das Pferd nach dem Grenzpfahl zu führen.

»O, nein, Herr, es könnte sich überanstrengen,« antwortete Wasil.

»Überlege nicht selbst, sondern thue gefälligst was dir befohlen wird,« antwortete Lewin.

»Ich gehorche.« Wasil nahm das Pferd am Kopfe. »Aber das Säen, Konstantin Dmitritsch,« sagte er, »es ist erste Sorte. Das Gehen wird einem hier zur wahren Freude; fast ein Pud Lehm nimmt man an den Schuhen mit.«

»Warum ist denn die Erde nicht durchgesiebt worden?« frug Lewin.

»Wir zerdrücken sie so,« antwortete Wasil, Samen nehmend und die Erde in den Händen zerdrückend.

Wasil war nicht daran schuld, daß die Erde nicht gesiebt war, aber es war doch verdrießlich.

Lewin indessen, der nicht zum erstenmal mit Vorteil das ihm bekannte Mittel, seinen Ärger hinunterzuschlucken, und alles das, was ihm schlecht erschien, wieder zu verbessern, angewendet hatte, wandte dasselbe auch jetzt an. Er sah zu, wie Mischka säend dahinschritt, große Klumpen Erde, die bei jedem Schritt an seinen Füßen hängen blieben, wegschleudernd, stieg vom Pferde und nahm Wasil den Samenbeutel weg, um selbst zu säen.

»Wo hast du aufgehört?«

Wasil wies mit dem Fuße auf sein Merkzeichen und Lewin begann nun selbst so wie er es verstand, das Erdreich mit dem Samen auszustreuen. Es war sehr schwierig, hier zu gehen, da der Boden einem Moraste glich; Lewin geriet bald in Schweiß, als er so dahinwatete und gab endlich, innehaltend, den Samenbeutel wieder zurück.

»Nun, Herr, im Sommer werdet Ihr mich wohl wegen dieses Säens nicht mehr schelten!« meinte Wasil.

»Wie meinst du das?« frug Lewin heiter; er fühlte schon die Wirkung des von ihm angewandten Verfahrens.

»Nun, paßt nur auf im Sommer. Es wird ausgezeichnet. Seht nur, wo ich im vorigen Jahre gesät habe! Seht Ihr, so habe ich für Euch gesorgt, wie für einen leiblichen Vater, und liebe es selbst nicht, schlecht zu arbeiten, heiße es auch keinem anderen. Wenn der Herr sich wohl befindet, befinden wir uns auch Wohl. Schaut man da hinaus,« fuhr Wasil fort, »so lacht einem das Herz.«

»Ein herrlicher Frühling, Wasil.«

»Ja, ein Frühling, wie sich seiner selbst die ältesten Leute nicht erinnern. Daheim bei uns habe ich einen alten Großvater, der hat drei Osminik Weizen gesät; er erzählt, man könne den nicht vom Korn unterscheiden.«

»Habt Ihr den Weizen schon lange gesät?«

»Ihr habt es uns ja im vergangenen Jahre gezeigt und mir zwei Probemaße geschenkt. Ein Viertel davon haben wir verkauft, drei Viertel gesät.«

»Sieh zu, zerreib die Klumpen ja,« sagte Lewin, an sein Pferd hintretend, »und sieh nach Mischka. Wenn alles gut gehen wird, sollst du fünfzig Kopeken für die Desjatine erhalten.«

»Danke schön, Herr; wir sind Euch ohnehin schon so viel Dank schuldig.«

Lewin saß auf und ritt nun nach dem Felde, auf welchem der vorjährige Kleber stand und nach demjenigen, welches jetzt gepflügt wurde, damit Sommerweizen hineinkommen sollte.

Der Stand der Saat war ausgezeichnet für eine Ernte. Der Kleber hatte schon ausgeschlagen und grünte kräftig zwischen den vorjährigen Stoppeln herauf.

Das Pferd sank bis an die Knöchel ein und jeden Fuß mußte es unter schmatzendem Geräusch aus dem Boden herausziehen, der erst halbgethaut war. Auf dem Ackerfelde aber war gar nicht mehr vorwärts zu kommen; nur dort, wo noch Eis lag, hielt der Boden ein wenig, aber in den zerweichten Ackerfurchen sank der Fuß bis an den Knöchel ein. Es war hier vorzüglich geackert, und in zwei Tagen konnte man hier eggen und säen. Alles befand sich im besten Stande, alles in bester Harmonie.

Ans dem Rückwege ritt Lewin durch den Bach in der Hoffnung, daß das Wasser gefallen sein würde. In der That gelangte er glücklich hindurch und schreckte dabei zwei Enten auf.

»Da müßten auch Waldschnepfen sein,« dachte er, und in der That traf er schon auf der Rückkehr nach Hause den Waldhüter, welcher seine Vermutung von den Waldschnepfen bestätigte.

Lewin eilte im Trabe heim, um zu essen und für den Abend seine Flinte instand zu setzen.

2.

Bald nach der Abfahrt des Arztes kam Dolly an. Sie wußte, daß heute der Familienrat sein sollte, und trotzdem daß sie noch nicht lange aus dem Wochenbett war – sie hatte zu Ende des Winters einem Mädchen das Leben geschenkt – trotzdem, daß sie selbst schon genug Kummer und Sorgen zu tragen hatte, war sie, ihren Säugling und ein erkranktes Töchterchen daheim zurücklassend, hergekommen, um zu hören welches das Schicksal Kitys, das sich heute entschieden hatte, sein werde.

»Nun, wie steht es?« frug sie, in den Salon tretend, ohne den Hut vom Kopfe zu nehmen. »Ihr seid alle so fröhlich. Es steht wohl gut?«

Man versuchte nur, ihr zu erzählen, was der Arzt gesagt hatte, aber es zeigte sich, daß, obwohl dieser sehr klar und lange gesprochen hatte, niemand richtig das wiederzugeben wußte, was er eigentlich gesagt hatte.

Bemerkenswert war nur das Eine dabei, daß die Reise nach dem Ausland beschlossen worden war.

Dolly seufzte unwillkürlich. Ihr bester Freund, die Schwester, reiste fort; auch ihr eigenes Leben war ja kein heiteres. Ihr Verhältnis zu Stefan Arkadjewitsch war nach jener Aussöhnung für sie ein erniedrigendes geworden. Die Neulötung des Bundes, die von Anna zustande gebracht worden war, erwies sich als nicht auf die Dauer haltbar und das eheliche Einvernehmen war an der nämlichen Stelle wieder in die Brüche gegangen.

Es lag hierfür keine bestimmt ausgesprochene Ursache vor, aber Stefan Arkadjewitsch war fast nie daheim, Geld gab es gleichfalls fast nie im Hause und der Verdacht seiner Untreue folterte Dolly beständig. Schon mehrfach hatte sie diesen Verdacht von sich gescheucht, in der Furcht vor jenem Schmerz der Eifersucht, den sie ja schon an sich erfahren hatte.

Jener erste Ausbruch von Eifersucht, den sie schon einmal durchlebt, konnte freilich nicht so wiederkehren, und selbst eine Entdeckung seiner Untreue würde jetzt nicht mehr in demselben Maße auf sie haben wirken können, als es zum erstenmal der Fall gewesen war.

Eine solche Entdeckung würde sie jetzt nur noch ihres ehelichen Umgangs beraubt haben, und sie hätte sich dann gestattet, ihn und vor allem sich verachtend, sich selbst hinwegzutäuschen über diese Schwäche.

Außerdem aber quälte sie beständig die Sorge um die große Familie. Bald stand es schlecht um die Ernährung des neuangekommenen kleinen Weltbürgers, bald war die Amme fortgegangen, bald lag, wie jetzt, eines der Kinder erkrankt.

»Wie steht es denn mit deinen Verhältnissen?« frug die Mutter.

»Ach, maman wir haben ja des Unglücks selbst genug zu tragen. Lily ist krank geworden und ich fürchte, es ist Scharlach. Ich bin jetzt aber doch wie Ihr seht, gekommen, um zu erfahren wie es hier steht, und muß sonst sitzen und wachen, ohne an ein Verlassen des Hauses denken zu können; wenn, möge Gott uns beschützen, es Scharlach ist.«

Der alte Fürst war nach der Verabschiedung des Arztes wieder aus seinem Kabinett gekommen; Dolly die Wange zum Kuß bietend und einige Worte mit ihr wechselnd, wandte er sich an seine Gattin:

»Was habt Ihr beschlossen; reist Ihr? Und wenn dem so ist, was wird alsdann aus mir?«

»Ich denke, du solltest hier zurückbleiben, Aleksander,« antwortete die Gattin.

»Wie Ihr wollt.«

» Maman, warum soll Papa nicht mit uns reisen?« sagte Kity, »ihm und uns ist dann wohler zu Mut.«

Der alte Fürst erhob sich und glättete mit der Hand das Haar seines Kindes. Kity erhob ihr Gesicht und blickte ihn mit gekünsteltem Lächeln an. Es wollte ihr stets scheinen, als ob er am besten in der Familie sie verstünde, obwohl er wenig von ihr sprach. Sie war, als die jüngste, das Lieblingskind des Vaters und es schien, als ob ihm seine Liebe zu ihr den Blick geschärft. Als ihr Blick jetzt seinen guten blauen Augen begegnete, die sie aufmerksam betrachteten, dünkte es sie, als schaue er durch sie hindurch und verstehe all das Traurige, was in ihr vorging.

Errötend neigte sie sich ihm entgegen, erwartend, daß er sie küssen solle, aber er strich nur über ihr Haar und sprach:

»Diese dummen Chignons! Bis zu unseren eigenen Töchtern dringen wir gar nicht durch, sondern man liebkost nur die Haare gestorbener Weiber. Nun, Dollinka,« wandte er sich hierauf an seine älteste Tochter, »was macht denn dein Trumpfaß?«

»Nichts, Papa,« antwortete Dolly, recht wohl verstehend, daß sich die Worte des Vaters auf ihren Gatten bezogen. »Er ist meist fern von Hause, und ich sehe ihn fast nie,« konnte sie nicht umhin, mit sarkastischem Lächeln hinzuzufügen.

»Nun; ist er denn noch nicht auf das Land gefahren, um seinen Wald zu verkaufen?«

»Nein; er ist immer noch erst im Begriff dazu.«

»So, so,« antwortete der Fürst, »dann werde ich mich wohl auch noch einmal vorbereiten müssen?« Er nahm neben seinem Weibe Platz. »Und du Kity,« fügte er hinzu, sich an seine jüngste Tochter wendend, »du wirst hoffentlich eines schönen Tages erwachen und dann lachend zu dir selber sagen, »ah, ich bin doch völlig gesund und heiter, jetzt wollen wir wieder mit Papa gehen und die Frühpromenade mit ihm in der Morgenkälte machen? Nicht so?«

Es schien das, was der Vater sagte, so einfach zu sein, aber Kity geriet dabei in Verwirrung, wie ein überführter Sünder.

»Ja, er weiß alles, er versteht alles und sagt mir mit diesen Worten, daß man, auch wenn dies schimpflich ist, seine Schmach überleben solle.«

Sie vermochte nicht, sich ein Herz zu fassen und eine Erwiderung zu finden. Sie wollte etwas sagen, brach aber in Thränen aus und verließ schnell das Gemach.

»Da hast du deine Scherze!« rief die Fürstin ihrem Gatten zu; »du bist stets die Ursache zu derartigen Scenen;« begann sie vorwurfsvoll.

Der Fürst hörte geraume Zeit ihre Vorwürfe schweigend an, aber sein Gesicht verfinsterte sich mehr und mehr.

»Sie ist so beklagenswert, die Arme, so beklagenswert; und du fühlst nicht, daß sie Schmerz empfindet bei jeder Andeutung dessen, was die Ursache davon ist. O, daß man sich so sehr in den Menschen irrt!« rief die Fürstin aus und an der Veränderung des Tones ihrer Stimme erkannte Dolly und der Fürst, daß sie Wronskiy meinte. »Ich begreife nicht, daß es keine Gesetze giebt gegen solche Abscheuliche, Unedle!«

»Du dürftest wohl nur nicht gehört haben,« versetzte der Fürst finster sich aus dem Lehnstuhl erhebend, und gleichsam im Wunsche, das Zimmer zu verlassen, noch an der Thür stehen bleibend.

»Es giebt recht wohl Gesetze, meine Liebe, und wenn du mich schon dazu herausforderst, so will ich dir sagen, wer an allem schuld ist. Du, du und nur du! Ja, wenn das nicht wäre, was eben nicht sein dürfte – ich bin leider ein Greis – so würde ich ihn vor die Barriere fordern, diesen Gecken. Nun aber kuriert nur und führt diese Charlatane bei Euch ein.«

Der Fürst schien noch viel sagen zu wollen, aber kaum hatte die Fürstin seinen Ton wahrgenommen, so beruhigte sie sich und ging in sich, wie sie dies gewöhnlich bei ernsten Fragen zu thun pflegte.

» Alexandre, Alexandre« flüsterte sie, sich auf ihn zu bewegend und in Thränen ausbrechend.

Sie hatte kaum zu weinen begonnen, als der Fürst verstummte. Er trat zu ihr hin.

»Nun, laß sein, laß sein! Es ist dir schwer genug zu Mute, ich weiß es wohl, aber was ist hier zu thun? Das Unglück ist noch nicht zu groß und Gott ist barmherzig,« sagte er, ohne selbst recht zu wissen, was er sagen sollte, und auf den feuchten Kuß der Fürstin antwortend, den er auf seiner Hand fühlte.

Auch der Fürst verließ den Salon.

Kaum war Kity in Thränenströmen hinausgegangen als Dolly in ihrer Art als Familienmutter sogleich erkannte, daß hier eine Weiberthat zur Ausführung gelangen müsse und sie bereitete sich vor sie auszuführen.

Sie nahm ihren Hut ab, streifte die Rockärmel zurück und rüstete sich. Als die Fürstin ihren Gatten angegriffen hatte, hatte sie versucht, die Mutter zurückzuhalten, soweit dies die kindliche Ehrerbietung zuließ. Als der Fürst darauf erwidert hatte, war sie still verblieben; sie empfand Scham über ihre Mutter und Zuneigung für ihren Vater wegen dessen sich sogleich wieder herauskehrender Güte. Doch als der Vater hinausgegangen war, bereitete sie sich vor, den Hauptcoup auszuführen, der nötig war – zu Kity zu gehen und sie zu beruhigen.

»Ich habe Euch wohl schon vor Langem sagen wollen, maman, Ihr wißt wohl, daß Lewin Kity einen Antrag zu machen beabsichtigt hat, als er zum letztenmal hier war. Er hatte mit Stefan darüber gesprochen.««

»Was soll das? Ich verstehe nicht«

»So hat ihn also Kity vielleicht zurückgewiesen? Hat sie Euch nicht davon gesprochen?«

»Nein, sie hat nichts gesagt, weder etwas von diesem noch von jenem, sie ist zu stolz dazu. Aber ich weiß, daß alles davon kommt« –

»Denkt Euch, wenn sie Lewin absagte – sie würde ihm nicht abgesagt haben, wenn nicht der andere dazwischen gekommen wäre, ich weiß es – dieser andere aber hat sie grausam getäuscht.«

Der Fürstin war es unerträglich, daran zu denken, wie viel Schuld sie an dem Unglück ihrer Tochter trug, und sie geriet in Wut.

»Ach, ich kann nichts mehr begreifen! Jetzt will die ganze Welt nur nach ihrem Sinne leben, der Mutter nichts mehr anvertrauen, und dann, da« –

» Maman ich gehe zu ihr.«

»Geh! Sollte ich es dir etwa verbieten?« sagte die Mutter.

3.

Als Dolly in das kleine Boudoir Kitys eintrat, ein freundliches mit Rosen geschmücktes Zimmerchen, noch ebenso jugendduftig, rosig und freundlich, wie Kity es zwei Monate vorher noch selbst gewesen war, erinnerte sie sich, wie sie beide zusammen im vergangenen Jahre diesen Raum geschmückt hatten, mit welcher Lust und Liebe.

Ihr Herz erstarrte, als sie Kitys ansichtig wurde, die auf einem niedrigen Stuhle dicht an der Thür saß und den Blick unbeweglich auf die eine Ecke des Teppichs geheftet hielt.

Kity blickte die Schwester an; der kalte ziemlich mürrische Ausdruck ihres Gesichts veränderte sich nicht,

»Ich will jetzt wieder nach Hause fahren und daselbst sitzen bleiben, du aber wirst nun wohl nicht mehr zu mir kommen,« sagte Darja Alexandrowna, sich neben Kity niederlassend. »Ich möchte mit dir einiges sprechen.«

»Worüber?« frug Kity schnell, erschreckt den Kopf hebend.

»Worüber? Nun doch jedenfalls von deinem Herzeleid.«

»Ich habe kein Herzeleid.«

»Halt ein, Kity. Denkst du etwa, ich könnte nichts davon wissen? Ich weiß alles. Glaube mir; es ist eine so nichtswürdige Affaire – nun, wir haben das ja alle durchgemacht.«

Kity blieb stumm; ihr Gesicht hatte einen Ausdruck von Strenge.

»Er ist nicht so viel wert, daß du um ihn trauern dürftest« – fuhr Dolly fort, geradenwegs auf ihren Zweck zusteuernd.

»Ja, weil er mich verschmäht hat,« sprach Kity mit bebender Stimme. »Sprich mir nicht mehr davon, ich bitte dich, sprich nicht mehr davon.«

»Aber wer hat dir das gesagt? Kein Mensch hat davon gesprochen. Ich bin überzeugt, daß er in dich verliebt gewesen ist und noch verliebt ist, aber« –

»Ach; am Entsetzlichsten von allem ist mir dieses Mitleid,« rief Kity, Plötzlich in Zorn geratend. Sie wandte sich seitwärts auf dem Stuhle, errötete und bewegte nervös die Finger, bald mit der einen, bald mit der anderen Hand die Schnalle des Gürtels pressend, den sie trug.

Dolly kannte diese Eigenschaft ihrer Schwester, mit den Händen in den Gürtel zu greifen, wenn der Zorn in ihr aufwallte, sie wußte, daß Kity imstande war, während einer augenblicklichen Wallung sich zu vergessen und vieles Überflüssige und Unangenehme herauszupoltern, und Dolly wollte sie doch beruhigen. Allein es war dazu schon zu spät.

»Was; was willst du mir zu fühlen geben, was?« rief Kity heftig. »Etwa dies, daß ich einen Menschen geliebt habe, der mich nicht kennen wollte, und das, daß ich vor Liebe zu ihm sterbe? Und dies kann mir eine Schwester sagen, welche glaubt daß sie – daß sie – mich bemitleiden soll? Ich will nichts wissen von diesem Beileid, diesen Heucheleien!«

»Kity, du bist ungerecht!«

»Weshalb quälst du mich!«

»Aber, im Gegenteil – ich sehe, du bist gereizt!« –

Kity hörte sie nicht mehr in ihrer Erregung.

»Ich habe mich um nichts zu sorgen oder zu trösten! und habe Stolz genug, mir nie zu gestatten, einen Menschen zu lieben, der mich nicht liebt!«

»Aber das sage ich ja gar nicht! Nur Eins – sage mir die Wahrheit,« fuhr Darja Alexandrowna fort, ihre Hand ergreifend, »sage mir, hat Lewin mit dir gesprochen?«

Die Erinnerung an Lewin schien Kity des letzten Restes von Selbstbeherrschung zu berauben; sie sprang von ihrem Stuhle empor, warf die Gürtelschnalle zu Boden und machte schnelle Bewegungen mit den Armen in der Luft; dann rief sie:

»Was thut hier Lewin noch zur Sache? Ich begreife nicht, weshalb du mich foltern mußt! Ich habe es dir gesagt und wiederhole es, daß ich Stolz besitze, und nie – nie und nimmermehr – das thäte, was du thust, um hier auf denjenigen zu kommen, der dich verraten hat, der ein anderes Weib geliebt hat. Das verstehe ich nicht! Magst du es verstehen, ich kann es nicht!«

Nachdem Kity diese Worte gesprochen hatte, schaute sie die Schwester an, und als sie wahrnahm, daß Dolly schwieg und traurig den Kopf gesenkt hatte, setzte sie sich, anstatt das Boudoir zu verlassen, wie sie anfangs gewollt, wieder an der Thüre nieder und senkte gleichfalls den Kopf, ihr Gesicht in dem Taschentuch bergend.

Dieses Schweigen währte mehrere Minuten. Dolly dachte über sich selbst nach. Das nämliche Gefühl der Erniedrigung, welches sie stets empfunden hatte, erwachte besonders schmerzend in ihr, als die Schwester vor ihr desselben Erwähnung gethan hatte. Eine solche Härte hatte sie von der Schwester nicht erwartet, und sie zürnte dieser nun.

Plötzlich aber vernahm sie das Rauschen eines Gewandes und indem sie die Töne verhaltenen Schluchzens vernahm, legten sich zwei Arme von unten um ihren Hals.

Kity lag vor ihr auf den Knieen.

»Liebste Dolly; ich bin so tief, so tief unglücklich!« stammelte Kity schuldbewußt.

Sie verbarg das liebliche, von Thränen überthaute Antlitz in den Falten des Kleides der Schwester.

Gleich als ob die Thränen der unumgänglich nötige Kitt wären, ohne welchen das Getriebe eines Wechselverkehrs unter den zwei Schwestern nicht mit Erfolg, ging, so sprachen sich die beiden Schwestern nun nach Thränenströmen, die sie vergossen, zwar nicht über das aus, was sie eigentlich beschäftigte; aber indem sie von Nebendingen sprachen, verstanden sie einander auch darin ganz gut.

Kity erkannte, daß ihr im Zorn geäußertes Wort über die Treulosigkeit von Dollys Gatten und deren Entwürdigung die arme Schwester bis auf den Grund des Herzens erschüttert hatte und diese ihr nichtsdestoweniger verzieh.

Dolly ihrerseits aber hatte alles erfaßt, was sie hatte wissen wollen und die Überzeugung gewonnen, daß ihre Vermutungen richtig gewesen waren, daß das unheilbare Weh Kitys in erster Linie darin bestand, daß Lewin ihr seine Hand angetragen hatte und zurückgewiesen worden war, daß Wronskiy sie getäuscht und sie selbst jetzt imstande war, Lewin zu lieben und Wronskiy zu hassen.

Kity hatte freilich kein Wort hierüber fallen lassen; sie sprach nur von ihrem Gemütszustand.

»Ich habe kein Herzeleid,« hatte sie, ruhiger werdend, gesagt, aber du wirst dir wohl denken können, daß mir jetzt alles abstoßend, zuwider, rauh erscheint, und vor allem ich mir selbst. Du kannst dir nicht vorstellen, was für böse Gedanken mir über dies alles kommen.«

»Aber wie kannst du böse Gedanken haben?« frug Dolly lächelnd.

»Die häßlichsten, die du dir denken kannst; ich vermag sie dir nicht zu sagen. Sie kommen nicht von Lebensüberdruß oder Langeweile, sie sind weit schlimmerer Art und mir ist, als hätte sich gleichsam alles, was Gutes in mir war, ganz verborgen und es wäre nur das Schlechte in mir zurückgeblieben. »Was soll ich dir sagen?« fuhr sie fort, den zweifelnden Ausdruck im Auge der Schwester gewahrend. »Papa hat soeben davon gesprochen; mir scheint, als glaube er nur, ich müsse eben heiraten. Mama führt mich zu Balle; mir scheint, sie thut es nur deshalb, um mich möglichst bald zu verehelichen und mich loszuwerden. Ich weiß, daß diese Gedanken unrecht sind, aber ich gewinne es nicht über mich, sie von mir zu scheuchen; sogenannte Bräutigams kann ich nicht sehen. Mir scheint, daß sie stets sich ein Maß von mir abnehmen. Früher war es mir ein Vergnügen, im Ballkleid auszufahren, ich freute mich über mich selbst; jetzt empfinde ich Scham darüber und fühle mich unsicher. Und was willst du auch anderes erwarten? Der Arzt – ha« –

Kity brach ab. Sie wollte fortfahren und sagen daß von jener Zeit, da diese Veränderung mit ihr vorgegangen war, Stefan Arkadjewitsch ihr unausstehlich unangenehm geworden war, und daß sie ihn nicht sehen könne ohne Vorstellungen der niedrigsten und ungereimtesten Art dabei zu haben.

»Alles erscheint mir im rohesten, abstoßendsten Lichte,« fuhr sie fort, »und dies ist meine Krankheit; vielleicht, daß sie vorübergeht« –

»Aber denke nicht« –

»Ich kann nicht. Nur in der Gesellschaft von Kindern ist mir wohl; nur bei dir.«

»Schade, daß du nicht bei mir sein kannst.«

»Nein; aber ich werde einmal zu dir kommen. Das Scharlachfieber habe ich ja gehabt, und ich werde maman schon bitten.« –

Kity bestand auf ihrer Absicht und kam zur Schwester; sie pflegte die Kinder Dollys während der ganzen Dauer des Scharlachfiebers welches tatsächlich zum Ausbruch gekommen war.

Alle sechs Kinder brachten die beiden Schwestern glücklich durch die Krankheit, aber die Gesundheit Kitys besserte sich dadurch nicht und zur Zeit der großen Fasten reiste die Familie Schtscherbazkiy ins Ausland.

4.

Die höchste gesellschaftliche Sphäre in Petersburg steht ganz allein. Alles kennt sich wohl und besucht einander, aber es giebt hier in diesem großen Kreise auch wieder Unterabteilungen.

Anna Arkadjewna Karenina besaß Freunde und pflog Verbindungen in drei verschiedenen Gesellschaftskreisen.

Der eine derselben war der der Beamten, welchem offiziell ihr Gatte angehörte; derselbe setzte sich zusammen aus dessen Kollegen und Untergebenen, welche alle unter sich auf die mannigfaltigste und willkürlichste Weise durch gemeinsame Interessen verbunden und getrennt waren.

Anna vermochte sich jetzt nur schwer noch des Gefühls der fast abgöttischen Verehrung zu erinnern, welches sie in der ersten Zeit diesen Leuten gegenüber empfunden hatte.

Jetzt kannte sie sie alle, wie man sich etwa in einem Landstädtchen gegenseitig kennt; sie kannte die Gewohnheiten und Schwächen eines jeden und wüßte, wo einen jeden der Schuh drückte; sie kannte ihre gegenseitigen Beziehungen und diejenigen aller zur höchsten Stelle und wußte, wie alle untereinander standen, wie und wovon sie lebten und worin sich die einzelnen ähnlich oder unähnlich waren.

Aber dieser Kreis von Interessen für Männer der Regierung vermochte sie nicht im geringsten – ungeachtet der Belehrungen der Gräfin Lydia Iwanowna – zu erwärmen, und sie mied daher denselben.

Der zweite, Anna näher stehende Kreis war derjenige, durch welchen Aleksey Aleksandrowitsch seine Carriere gemacht hatte.

Der Mittelpunkt desselben war die Gräfin Lydia Iwanowna. Es war ein Kreis alter, häßlicher, wohlthätiger und bigotter Weiber und kluger, gelehrter ehrgeiziger Männer.

Einer von diesen klugen Männern, die zu jenem Kreise gehörten, nannte denselben »das Gewissen der petersburger Gesellschaft«.

Aleksey Aleksandrowitsch schätzte diesen Kreis sehr hoch, und Anna, die es so gut verstand, sich mit jedermann zu vertragen, fand in der ersten Zeit ihres petersburger Aufenthalts auch in diesem Kreise Freunde für sich. Jetzt aber, nach ihrer Rückkunft aus Moskau, war ihr diese Gesellschaft unerträglich geworden.

Ihr schien, als ob sie selbst, wie auch alle jene Menschen, sich nur verstelle, und es wurde ihr nun so langweilig und fad in dieser Gesellschaft, daß sie so selten, als es nur anging, zur Gräfin Lydia kam.

Der dritte Kreis endlich, in welchem Anna Verbindungen besaß, war die eigentliche Welt – die Welt der Bälle und Essen, der glänzenden Toiletten, jene Welt, die sich mit der einen Hand am Hofe anhält, um nicht der Halbwelt zu verfallen und welche die Angehörigen der letzteren zu verachten glaubt, wahrend sie mit ihr in den Geschmacksrichtungen nicht etwa nur verwandt ist, nein, sogar übereinstimmt.

Ihre Verbindung mit diesem Kreise wurde durch die Fürstin Bezzy Twerskaja gestützt, die Gattin ihres Vetters, welche einige hundertzwanzigtausend Rubel jährlicher Einkünfte besaß und Anna von deren erstem Erscheinen in der Welt an ausnehmend liebgewonnen hatte. Sie wußte sich ihr zu nähern, sie in ihre Kreise zu ziehen und verspottete dabei die Gesellschaft der Gräfin Lydia Iwanowna.

»Wenn ich einmal alt und häßlich bin, werde ich auch eine solche,« sagte sie, »aber für Euch, für ein junges, hübsches Weib ist es noch zu früh zur Gottgefälligkeit.«

Anna hatte anfänglich diese Sphäre der Fürstin Twerskaja gemieden soviel sie gekonnt, da dieselbe erstens einen Aufwand erforderte, welcher weit über ihre Mittel ging und sie selbst sich auch den erstgenannten ihrer Kreise vorzog; indessen nach ihrer Rückkunft von Moskau war ein Umschwung hierin eingetreten.

Sie mied den mehr moralischen Teil ihrer Bekannten und begab sich in die große Welt. Hier begegnete sie Wronskiy und empfand eine stürmische innere Freude bei diesen Begegnungen.

Besonders häufig sah sie Wronskiy bei der Fürstin Twerskaja, die selbst eine geborene Wronskaja und eine Base von jenem war. Wronskiy selbst kam nun überall hin, wo er nur Anna treffen konnte und er sprach zu ihr, wenn er nur konnte, von seiner Liebe.

Sie hatte ihm keinen Anlaß hierzu gegeben, aber stets, wenn sie mit ihm zusammentraf, flammte in ihrer Seele von neuem das nämliche Gefühl der Aufregung empor, welches sie an jenem Tage im Waggon überkam, da sie ihn zum erstenmale wieder erblickte.

Sie fühlte, wie bei seinem Anblick das Entzücken aus ihren Augen leuchtete und ihre Lippen sich zu einem Lächeln kräuselten, und vermochte den Ausdruck dieser Freude nicht zu ersticken.

Anfänglich war Anna in Wahrheit des Glaubens, daß sie über ihn ungehalten sei, weil er sich erlaube, sie zu verfolgen; aber als sie nach ihrer Rückkehr aus Moskau zu einer Soiree gefahren war, in der sie Wronskiy zu treffen dachte, erkannte sie deutlich an der trüben Laune die sich ihrer bemächtigte, als er nicht anwesend war, daß sie sich in einer Selbsttäuschung befinde und daß diese Verfolgung ihr nicht nur nicht unangenehm war, sondern vielmehr das gesamte Interesse ihres Lebens bilde.

 

Eine berühmte Diva sang zum zweitenmale und die gesamte große Welt war im Theater.

Als Wronskiy aus seinem Sessel in der ersten Reihe die Base wahrgenommen hatte, begab er sich zu dieser – ohne den Zwischenakt abzuwarten – nach ihrer Loge.

»Weshalb waret Ihr nicht beim Souper?« frug ihn die Gräfin. »Ich bin doch verwundert über diesen Scharfblick der Liebenden,« fügte sie mit einem Lächeln hinzu, so daß nur er es hören konnte, »sie war auch nicht da. – Aber Ihr kommt doch nach der Oper?«

Wronskiy blickte sie fragend an; sie senkte den Kopf und er dankte ihr mit einem Lächeln und ließ sich neben ihr nieder.

»Ah, ich entsinne mich wohl noch Eurer Galanterieen,« fuhr die Fürstin Bezzy fort, welche ein besonderes Vergnügen in der Beobachtung der Fortschritte dieser sich entspinnenden Leidenschaft fand.

»Wohin soll das alles führen; Ihr seid in Banden, mein Lieber!«

»Ich wünschte nur das Eine, in Banden sein zu können,« antwortete Wronskiy mit seinem ruhigen, gleichmütigen Lächeln. »Wenn ich Etwas beklage, so ist es nur dies, daß ich allzuwenig gefesselt bin. Um die Wahrheit zu gestehen, ich fange an, die Hoffnung zu verlieren.«

»Welche Hoffnung könnt Ihr denn hegen?« sagte Bezzy, etwas pikiert von ihres Freundes Vertraulichkeit. In ihren Augen indessen spielten Reflexe, welche deutlich genug davon sprachen, daß sie recht wohl wisse – genau ebenso gut wie er selbst – welche Hoffnung er haben könne.

»Keine,« sagte Wronskiy lachend und seine dichten Zähne zeigend. »Ich habe es mir selbst zuzuschreiben,« fügte er hinzu, aus ihren Händen ein Opernglas nehmend und sich damit beschäftigend, über ihre entblößte Schulter hinweg die Reihe der gegenüberliegenden Logen zu mustern. »Ich fürchte, ich mache mich lächerlich.«

Er wußte recht wohl, daß er in den Augen Bezzys und aller Lebemänner nicht in Gefahr kam, lächerlich zu werden. Er wußte, daß in den Augen dieser Leute nur die Rolle eines Menschen der ein junges Mädchen oder überhaupt ein lediges Weib unglücklich liebte, lächerlich werden konnte. Die Rolle eines Mannes aber, welcher sich einer verheirateten Frau näherte und um jeden Preis sein Leben dafür einsetzte, sie zum Ehebruch zu verleiten, eine solche Rolle hat nur etwas Edles, Erhabenes und kann niemals lächerlich werden und mit stolzem und heiterem Lächeln unter den Spitzen seines Schnurrbartes ließ er das Opernglas sinken und blickte seine Base an.

»Weshalb seid Ihr denn nicht zu dem Essen gekommen?« frug sie mit liebenswürdigem Lächeln.

»Das muß ich Euch freilich erzählen. Ich war beschäftigt und wollt Ihr wissen womit? Ich würde hundert, ja tausend Rubel wetten und Ihr ratet es nicht. Ich habe einen Mann mit dem Beleidiger seiner Frau versöhnt. Es ist wirklich so!«

»Wie; Ihr habt versöhnt?«

»Beinahe.«

»Ah, das müßt Ihr mir erzählen,« sagte sie, sich erhebend. »Kommt im Zwischenakt zu mir!«

»Kann nicht; ich muß jetzt in das französische Theater.«

»Der Nilson halber?« frug mit Schrecken Bezzy, die um keinen Preis der Welt die Nilson von jeder beliebigen Choristin unterschied.

»Was soll ich anders? Ich habe dort ein Rendezvous; alles infolge meines Versöhnungsversuchs.

»O über diese frommen Friedensapostel, sie kommen stets gut weg,« sagte Bezzy, sich einer ähnlichen Geschichte erinnernd, die sie einmal gehört hatte. »Aber so nehmt doch Platz und erzählt mir, was hat es gegeben?«

5.

»Die Geschichte ist ein klein wenig übermütig, aber so hübsch, daß ich sie sehr gern erzähle,« sagte Wronskiy, mit lachenden Augen auf sie blickend. »Die Familie kann ich freilich nicht nennen.«

»Dann werde ich sie raten; um so besser.«

»Hört denn: Es fahren eines Tages zwei junge Leute« –

»Natürlich Offiziere Eures Regimentes?«

»Ich spreche nicht von Offizieren, nur von zwei jungen Leuten, die miteinander gefrühstückt hatten.«

»Übertragt dies lieber: getrunken hatten.« –

»Meinetwegen. Es fahren also diese beiden zu einem Freunde in der lustigsten Stimmung von der Welt. Da gewahren sie, wie eine hübsche jüngere Dame sie in einem Mietwagen überholt, sich nach ihnen umblickt und wie es scheint sogar mit dem Köpfchen nickt und lacht. Die beiden folgen natürlich und streben ihr aus Leibeskräften nach.

Zu ihrer Verwunderung läßt die Schöne an der Einfahrt gerade des nämlichen Hauses halten, zu dem sie selbst sich begeben. Die Schöne begiebt sich in das erste Stockwerk; sie sehen nur ihre roten Lippen unter dem kurzen Halbschleier hervorschimmern und ihre hübschen kleinen Füßchen.

»Ihr erzählt mit einer Empfindung, als schienet Ihr mir selbst einer der beiden jungen Leute gewesen zu sein.«

»Ah, was sagtet Ihr da! Also die jungen Leute begeben sich zu ihrem Freunde, bei welchem ein Abschiedessen stattfindet. Hier nun trinken sie wohl erst viel zu viel, wie dies ja gewöhnlich bei Abschiedsessen der Fall ist, und nach dem Essen wird gefragt, wer in dem Hause in der oberen Etage wohne. Niemand weiß es, und nur der Diener antwortet auf die Frage, ob oben drüber ‚Mamsells‘ wohnten, es gäbe da sehr viele. Nach dem Essen begaben sich die jungen Leute in das Kabinett des Gastgebers und schreiben der Unbekannten ein Billet. Sie schrieben dasselbe in leidenschaftlichem Tone, ein Liebesgeständnis, und tragen es selbst hinauf, um das noch zu erklären, was in dem Briefe nicht völlig verständlich geworden wäre.«

»Weshalb erzählt Ihr mir aber solche Abgeschmacktheiten?«

»Man klingelt oben; eine Magd erscheint; man giebt den Brief ab und versichert dem Mädchen, man sei so verliebt, daß man auf der Stelle vor der Thürschwelle sterben möchte. Das Mädchen läßt sich unschlüssig in eine Unterhaltung ein, plötzlich erscheint ein Herr mit wurstartigem Backenbart, rot wie ein Krebs, und erklärt, es wohne niemand mehr hier im Hause, als seine Frau, und jagt beide von dannen.« –

»Weshalb meint Ihr, daß der Backenbart des Mannes, wie Ihr sagtet, wurstartig ausgesehen habe?«

»Nun hört, bitte zu. Heut erst war ich zur Aussöhnung dort.«

»Und was geschah dabei?«

»Etwas höchst Interessantes. Es stellte sich heraus, daß man es mit dem glücklichen Ehepaar eines Titularrats und einer Titularrätin zu thun hatte. Der Titularrat wollte die beiden verklagen und ich machte den Friedensstifter, und was für einen! Ich versichere Euch, Talleyrand ist nichts gewesen im Vergleich mit mir!«

»Worin lag denn die Schwierigkeit?«

»Nun hört an. Wir entschuldigten uns, wie es sich gehörte. Wir wären in Verzweiflung, und bäten um Verzeihung für das unglückselige Mißverständnis. Der Titularrat mit den Wurstbackenbärten begann aufzuthauen; doch wünschte er, seinen Empfindungen Ausdruck zu verleihen; sobald er jedoch angefangen hatte, dies zu thun, geriet er in einen so mächtigen Zorn, und schleuderte die gröbsten Grobheiten so um sich herum, daß ich von neuem meine diplomatischen Talente alle in Bewegung setzen mußte. ›Ich bin völlig damit einverstanden, daß die Handlungsweise dieser Herren nicht gut war, aber ich bitte Euch, ihre Unbesonnenheit und die Jugend berücksichtigen zu wollen; dann hatten die Herren auch soeben erst gefrühstückt. Ihr versteht mich ja wohl. Sie bereuen das Vorgefallene von ganzer Seele und bitten darum, daß man ihnen ihren Fehltritt vergebe,‹ sagte ich.

»Der Titularrat ließ sich wiederum erweichen, ›ich bin einverstanden, Graf, und bereit, zu vergeben, aber Ihr seht wohl selbst ein, daß mein Weib, mein Weib, eine ehrenhafte Frau, den Verfolgungen und Roheiten einiger Buben ausgesetzt war, Niedriger‹ – Ihr versteht, er nannte die beiden, welche anwesend waren, Buben, und ich sollte das alles ins Gütliche umsetzen. Ich mußte also wieder diplomatisch operieren, und der Titularrat kam richtig, gerade wie ich so weit war, daß die Sache ihr Ende finden konnte, abermals in Zorn, er wurde dunkelrot im Gesicht, seine Backenbärte schienen sich zu erheben und abermals erging ich mich in diplomatischen Finessen.«

»Ah, das muß er auch Euch erzählen!« wandte sich Bezzy lachend an eine Dame, welche zu ihr in die Loge getreten war. »Er hat mich vorzüglich belustigt.«

»Nun, bonne chance,« fügte sie hinzu, Wronskiy den Finger reichend, den sie noch frei von dem Fächer hatte, und mit einer Bewegung der Schultern die in die Höhe geschobene Taille des Kleides sinken lassend, damit sie, so wie es sein sollte, möglichst dekolletiert erschien, indem sie vortrat an die Rampe, in das Gaslicht und vor die Blicke der Menge.

Wronskiy fuhr nach dem französischen Theater, wo er thatsächlich seinen Regimentskommandeur sehen wollte, der keine Vorstellung in diesem Theater vorüberließ, um ihm Bericht zu erstatten über seine Friedensmission, die ihn nun schon seit drei Tagen beschäftigte und ergötzte.

In die Angelegenheit war Petrizkiy verwickelt, den er liebte und ein anderer tüchtiger junger Mann, der noch nicht lange erst in Dienst getreten war, aber als ausgezeichneter Kamerad galt, der junge Fürst Kedroff. Vor allem aber handelte es sich darum, daß Interessen des Regiments auf dem Spiele standen.

Beide standen in der Eskadron Wronskiys. Der Titularrat war zum Regimentskommandeur gekommen, er hieß Wenden, und hatte eine Beschwerde über dessen Offiziere eingereicht, weil diese seine Frau beleidigt hätten.

Sein junges Weib – erzählte Wenden, welcher erst seit einem halben Jahre verheiratet war – sei mit der Mutter in der Kirche gewesen, hatte aber infolge eines sie plötzlich anwandelnden, aus bekannten Umständen hervorgehenden Unwohlseins nicht mehr länger stehen können, und sei daher in dem ersten besten, ihr begegnenden Geschirr nach Hause gefahren. Da wären ihr nun einige Offiziere gefolgt, sie sei in Furcht geraten, und, noch mehr unwohl geworden, die Treppen im Hause hinaufgelaufen. Wenden selbst, aus dem Gericht zurückkehrend, hatte die Glocke und die Stimmen vernommen und war herausgetreten, worauf er, der berauschten Offiziere mit dem Briefe gewahr geworden, diese weggejagt habe. Er bat um strenge Bestrafung der Schuldigen.

»Nein, was Ihr auch sagt,« meinte der Regimentskommandeur zu Wronskiy, den er zu sich berufen hatte, »Petrizkiy wird unmöglich. Es vergeht keine Woche, in welcher er nicht eine Affaire hätte; dieser Beamte wird die Sache nicht auf sich beruhen lassen, er wird weiter gehen.«

Wronskiy erkannte die ganze Aussichtslosigkeit der Sachlage; daß hier von einem Duell keine Rede sein könne und alles versucht werden müsse, diesen Titularrat milder zu stimmen und die Sache niederzuschlagen.

Der Regimentskommandeur hatte Wronskiy hauptsächlich deshalb gerufen, weil er diesen als einen verständigen und klugen Mann kannte, namentlich als einen Mann, der die Ehre des Regiments hochhielt. Sie besprachen sich über die Angelegenheit und entschieden sich dafür, Petrizkiy sowie Kedroff müßten mit Wronskiy zu jenem Titularrat fahren und ihm Abbitte leisten.

Der Regimentskommandeur und Wronskiy begriffen beide wohl, daß der Name Wronskiys und der Namenszug des Flügeladjutanten viel mit zu der Erweichung des Rates beitragen könnte.

Und in der That, diese beiden Mittel erwiesen sich zum Teil wirksam; allein das Resultat der Versöhnung verblieb im Ungewissen, wie Wronskiy auch berichtete.

Als dieser in das französische Theater gekommen, zog er sich mit dem Regimentskommandeur in das Foyer zurück und rapportierte ihm über den Erfolg oder vielmehr Nichterfolg, und nachdem der Kommandeur alles nochmals erwogen hatte, entschied er sich dahin, die Sache ohne Folgen bleiben zu lassen, begann aber alsdann, wie um sich daran zu ergötzen, Wronskiy über die Einzelheiten seines Besuchs zu befragen. Er vermochte lange Zeit nicht, vor Lachen sich zu fassen, als er die Erzählung Wronskiys hörte, wie der Titularrat, sich beruhigend, plötzlich immer wieder von neuem in Wut geraten sei indem er sich die Einzelheiten des Vorkommnisses ins Gedächtnis rief, und wie Wronskiy, bei dem letzten halben Worte, welches noch die Aussöhnung mit zustande bringen sollte, sich lavierend zurückzog und Petrizkiy vor sich her geschoben hatte.

»Eine schmutzige Geschichte, aber zum Kranklachen. Kedroff kann sich mit diesem Herrn nicht schlagen! Also furchtbar wütend ist er geworden?« frug er nochmals lachend.

»Wie war heute Claire?«

»Wunderbar,« versetze er im Hinblick auf die neue französische Schauspielerin. »Man kann sie so oft sehen, wie man will, sie ist jeden Tag neu. Das können doch nur die Franzosen!«

4.

Darja Alexandrowna, im Korsett, die bereits spärlich werdenden Zöpfe des früher einmal üppig und schön gewesenen Haars im Nacken aufgesteckt, mit eingefallenem, hageren Gesicht und großen, aus den magern Zügen hervorstehenden, erschreckt aussehenden Augen, stand inmitten einer Menge im Raume umherliegender Sachen vor einer geöffneten Chiffonniere, aus welcher sie soeben etwas herausnahm.

Als sie den Schritt ihres Mannes vernahm, blieb sie stehen, den Blick auf die Thür gerichtet und angestrengt versuchend, ihrem Gesicht einen strengen und verachtungsvollen Ausdruck zu geben. Sie fühlte, daß sie ihn fürchtete und das bevorstehende Wiedersehen. Soeben hatte sie wieder versucht, was sie schon zehnmal versucht hatte innerhalb der letzten drei Tage; ihre und ihrer Kinder Sachen einzupacken um sie zu ihrer Mutter zu bringen – und wiederum hatte sie sich noch nicht dazu entschließen können. Aber auch jetzt, wie schon früher, hatte sie sich wiederholt, daß es so nicht fortgehen könne, daß sie handeln müsse, strafen, ihn beschämen und wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes an ihm ahnden, den er ihr bereitet. Sie sprach nur immer davon, daß sie ihn verlassen werde, aber sie fühlte, es sei unmöglich; es war in der That unmöglich, deshalb, weil sie sich nicht entwöhnen konnte, ihn als ihren Gatten anzusehen und als solchen zu lieben. Ferner erkannte sie auch, daß wenn sie hier, in ihrem eigenen Hause, kaum imstande war, ihre fünf Kinder zu beaufsichtigen, dies noch viel schwieriger dort werden würde, wohin sie mit ihnen allen wollte. Hierzu kam, daß seit drei Tagen das Kleinste erkrankt war, weil man ihm verdorbene Bouillon gegeben, und daß die anderen Kinder gestern fast nichts zu essen erhalten hatten. Sie fühlte es, daß das Haus zu verlassen unmöglich war, aber im Selbstbetrug packte sie gleichwohl die Sachen und stellte sich, als werde sie fahren.

Als sie ihren Gatten gewahrte, steckte sie die Hände in den Kasten ihrer Chiffonniere, als suchte sie etwas darin, und blickte erst zu ihm auf, als er ganz dicht an sie herangetreten war. Ihr Gesicht, dem sie einen strengen und entschlossenen Ausdruck geben wollte, drückte Verwirrung und Leiden aus.

»Dolly!« begann er mit leiser, weicher Stimme. Er zog den Kopf in die Schultern und wollte sich einen kläglichen und devoten Ausdruck geben, strahlte aber dabei in Frische und Gesundheit. Mit schnellem Blick maß sie vom Kopf bis zu den Füßen seine von Jugendkraft und Gesundheit strotzende Erscheinung. »Ja, er ist glücklich und zufrieden,« dachte sie, »und ich? Seine widerliche Gutherzigkeit, um die ihn jedermann, so liebt und verehrt, ich hasse sie.« Ihr Mund preßte sich zusammen, die Wangenmuskel auf der rechten Seite ihres bleichen nervösen Gesichts bebte.

»Was wünscht Ihr?« frug sie mit fliegendem unnatürlichem Brusttone.

»Dolly!« wiederholte er mit zitternder Stimme, »Anna wird heute hier ankommen.«

»Und was hat das für mich zu sagen? Ich kann sie nicht empfangen!« rief sie aus.

»Aber du mußt doch, Dolly!«

»Geht, geht, geht!« rief sie ohne ihn anzublicken, und als sei ihr dieser Schrei von einem körperlichen Schmerz entlockt.

Stefan Arkadjewitsch konnte wohl ruhig sein, wenn er seines Weibes dachte, er konnte hoffen, daß sich »alles noch machen werde« nach dem Ausdrucke Matweys und ruhig seine Zeitung lesen und seinen Kaffee nehmen; als er aber ihr abgemagertes, leidendes Antlitz gewahrte, diesen Ton ihrer Stimme vernahm, der in das Schicksal ergeben und hoffnungslos klang, da stockte ihm der Atem, es schnürte ihm ein Etwas die Kehle zu, und seine Augen funkelten in Thränen.

»Mein Gott, was habe ich gethan! Dolly! Um Gottes willen – Weißt du« – er war außer stande, fortzufahren, ein Schluchzen saß ihm in der Kehle.

Sie klappte die Chiffonniere zu und blickte ihn an.

»Dolly, was soll ich sagen! Nur eines kann ich sagen: Vergieb! Erinnere dich, sollten neun Jahre des Lebens, Minuten nicht wieder erkaufen können, eine einzige Minute!«

Sie senkte die Augen und lauschte, in der Erwartung, was er noch sagen werde, und gleichsam als beschwöre sie ihn, daß er sie von seiner Unschuld überzeuge.

»Eine Minute der Vergessenheit,« brachte er hervor und wollte fortfahren, aber bei diesem Worte krampften sich wie in körperlichem Schmerze abermals ihre Lippen zusammen und wieder spielte der Wangenmuskel auf der rechten Seite ihres Gesichts.

»Geht, geht, hinaus von hier!« schrie sie noch durchdringender, »und sprecht mir nicht von Euren Fehltritten und Lastern!«

Sie wollte hinauseilen, aber sie begann zu wanken und mußte sich an der Lehne eines Stuhles halten, um sich zu stützen. Sein Gesicht verlängerte sich, seine Lippen traten auf und seine Augen schwammen von Thränen.

»Dolly!« wiederholte er, schon schluchzend, »um Gottes willen, denke an unsere Kinder, sie sind doch unschuldig! Ich bin schuldig, bestrafe mich, befiehl mir, meine Schuld zu sühnen. Wie ich nur kann, ich bin zu allem bereit! Ich bin schuld, und es ist mit Worten nicht zu sagen, wie sehr ich schuldig bin! Aber, Dolly, vergieb!«

Sie ließ sich nieder. Er hörte ihren schweren, lauten Atem, und ein unbeschreiblicher Schmerz um sie überkam ihn. Mehrmals wollte sie zu sprechen beginnen, aber sie vermochte es nicht. Er wartete.

»Du gedenkst deiner Kinder nur, wenn du mit ihnen spielen willst, ich aber weiß, daß sie jetzt verloren sind,« sagte sie, offenbar in einer Phrase, die sie während der letzten drei Tage nicht nur einmal für sich gesprochen haben mochte.

Sie sprach »du« zu ihm, und er schaute voll Dankbarkeit auf sie und bewegte sich vorwärts, um ihre Hand zu ergreifen, sie aber trat mit Ekel vor ihm zurück.

»Ich gedenke wohl meiner Kinder, und würde daher alles thun in der Welt, um sie zu retten, aber ich weiß selbst nicht, womit ich dies thun soll; dadurch etwa, daß ich sie von ihrem Vater fortführe, oder dadurch, daß ich mit einem ausschweifenden Gatten noch zusammenbleibe, ja – mit einem ausschweifenden Gatten! Sagt selbst, angesichts des Vorgefallenen, ob es für uns möglich ist, weiter zusammen zu leben? Wäre das etwa möglich? Sagt doch, wäre das etwa möglich?« wiederholte sie, ihre Stimme erhebend, »angesichts dessen, daß mein Gatte, der Vater meiner Kinder, in ein Liebesverhältnis mit der Gouvernante seiner Kinder tritt!«

»Aber was soll ich thun, was ist zu thun?« erwiderte er mit kläglicher Stimme, ohne zu wissen, was er sagte, und den Kopf immer tiefer und tiefer hängen lassend.

»Ihr erscheint mir abstoßend, ekelerregend!« rief sie aus, mehr und mehr in Erbitterung geratend. »Eure Thränen sind – nur Wasser! Ihr habt mich nie geliebt, in Euch ist kein Herz und kein Adel! Ihr seid für mich abstoßend, häßlich, fremd, ja – vollkommen fremd geworden!« Voll Schmerz und Wut brachte sie das für sie selbst furchtbare Wort »fremd« heraus.

Er blickte nach ihr hin; die Wut, welche sich auf ihren Zügen malte, erschreckte und befremdete ihn; er begriff nicht, daß sein Mitleid mit ihr sie in Erregung versetzte. Sah sie in demselben doch eben nur das Mitleid mit ihr und nicht die Liebe. »Nein, sie haßt mich, sie verzeiht mir nicht,« dachte er bei sich.

»Es ist furchtbar, furchtbar!« fuhr er fort.

In diesem Augenblick schrie in einem Nebenzimmer ein kleines Kind auf, welches gefallen sein mochte; Darja Alexandrowna horchte auf und ihre Züge wurden plötzlich weich. Sie besann sich noch einige Sekunden, als wüßte sie nicht, wo sie sei und was sie thun solle, dann bewegte sie sich, schnell aufstehend, nach der Thür.

»Aber sie liebt doch mein Kind,« dachte er, die Veränderung in ihrem Gesicht bei dem Geschrei des Kindes ›seines Kindes‹ bemerkend; »wie sollte sie mich da hassen können?«

»Dolly, noch ein Wort,« begann er, zu ihr hintretend.

»Wenn Ihr mir nachkommt, rufe ich die Leute und die Kinder herbei! Alle sollen wissen, was Ihr für ein – Niedriger seid! Ich fahre jetzt fort, Ihr aber werdet hier mit Eurer Liebhaberin bleiben!«

Sie ging hinaus, die Thür hinter sich zuschlagend.

Stefan Arkadjewitsch seufzte, er wischte sich das Gesicht ab und verließ mit leisen Schritten das Gemach.

»Matwey sagt, es würde sich machen, aber wie soll das werden? Ich sehe keine Möglichkeit. Ach, o, wie entsetzlich; und wie trivial sie schrie,« sprach er zu sich selbst, ihres Schreies und der Worte »Niedriger« und »Liebhaberin« gedenkend. »Möglicherweise haben die Mägde es gehört! Entsetzlich gemein, entsetzlich!« Stefan Arkadjewitsch wartete noch einige Sekunden, rieb sich die Augen aus, seufzte und trat die Brust aufreckend, hinaus.

Es war Freitag; im Speisesaal zog ein deutscher Uhrmacher die Uhren auf. Stefan Arkadjewitsch erinnerte sich eines Scherzes über diesen gewissenhaften kahlköpfigen Uhrmacher, – daß derselbe nämlich selbst für das ganze Leben aufgezogen worden sei, um Uhren aufzuziehen – und lächelte. Stefan Arkadjewitsch liebte einen guten Witz. Aber vielleicht macht es sich doch noch. Das Wörtchen ist gut »es macht sich,« dachte er, »das muß man erzählen.«

»Matwey!« rief er. »Also richte alles vor mit Marja im Diwanzimmer für die Anna Arkadjewna,« befahl er dem erscheinenden Matwey.

»Zu Diensten.«

Stefan Arkadjewitsch warf seinen Pelz über und trat auf die Freitreppe hinaus.

»Ihr werdet nicht im Hause speisen?« frug Matwey, der ihn begleitete.

»Je nachdem. Übrigens nimm hier für etwaige Ausgaben,« antwortete Stefan Arkadjewitsch, ihm zehn Rubel aus seiner Brieftasche einhändigend. »Wird es genügen?«

»Mag es genug sein oder nicht, man muß sich eben einrichten,« sagte Matwey, die Thür zuwerfend und die Freitreppe hinaufgehend.

Darja Alexandrowna war mittlerweile, nachdem sie ihr Kind beruhigt und an dem Geräusch des fortrollenden Wagens wahrgenommen hatte, daß ihr Gatte fortgefahren sei, in das Schlafzimmer zurückgekehrt. Dies war ihr einziger Zufluchtsort vor den häuslichen Sorgen, die an sie herantraten, sobald sie es nur verließ. Auch jetzt, während der kurzen Zeit, da sie in die Kinderstube getreten war, beeilten sich die Engländerin und Matrjona Philimonowna, an sie mehrfache Fragen zu stellen, welche keinen Aufschub duldeten und auf die sie allein nur zu antworten vermochte. Was sollte den Kindern zur Promenade angezogen werden, sollte man ihnen Milch geben, müßte man nicht nach einem neuen Koch senden?

»Ach, laßt mich, verlaßt mich!« antwortete sie, und ließ sich, in das Schlafzimmer zurückgekehrt, auf dem nämlichen Platze nieder, von dem aus sie mit ihrem Manne gesprochen hatte, um nun, die mageren Hände mit den Ringen, die fast von den knöchernen Fingern herabglitten, zusammenpressend, in der Erinnerung nochmals die ganze Unterredung zu überdenken. »Er ist weggefahren. Aber wie mag er mit ihr abgebrochen haben? Ob er sie noch sieht? deshalb habe ich ihn nicht gefragt,« dachte sie, »nein, nein, zusammenkommen kann ich nicht mehr mit ihm. Wenn wir auch unter einem Dache zusammenbleiben sollten, wir werden uns fremd sein. Auf immer fremd!« wiederholte sie mit besonderer Hervorhebung das für sie so furchtbare Wort. »Und wie ich ihn geliebt habe, großer Gott, wie ich ihn geliebt habe! Liebe ich ihn jetzt etwa nicht? Liebe ich ihn nicht noch mehr, als früher? – Aber die entsetzliche Hauptsache ist die« – begann sie, ohne indessen ihren Gedanken zu beenden; Matrjona Philimonowna erschien in der Thür.

»Wollt Ihr doch befehlen, daß nach meinem Bruder geschickt werde,« sagte sie, »damit er das Essen bereite, sonst werden die Kinder wie am gestrigen Tage bis sechs Uhr wieder nichts zu essen haben!«

»Gut. Ich komme sogleich um anzuordnen. Ist nach frischer Milch geschickt worden?«

Darja Alexandrowna versenkte sich nun wieder in die Sorgen des Tages und erstickte in ihnen auf einige Zeit ihren Kummer.