33.

Aleksey Aleksandrowitsch kehrte aus dem Ministerium um vier Uhr zurück, ging aber – wie dies häufig geschah – nicht sogleich zu seinem Weibe. Er trat in sein Kabinett, um wartende Petenten zu hören, und einige Akten zu unterschreiben die ihm vom Sekretär übergeben worden waren.

Zu der Mittagstafel, zu welcher bei den Karenin stets drei Gäste eingeladen wurden, erschienen heute eine alte Cousine Aleksey Aleksandrowitschs, der Departementsdirektor mit seinem Weibe und ein junger Mann, welcher Aleksey Aleksandrowitsch im Dienste empfohlen worden war.

Anna erschien im Salon, um die Gäste zu empfangen. Punkt fünf Uhr – die Bronceuhr, welche Peter I. vorstellte, hatte noch nicht den fünften Schlag gethan – erschien Aleksey Aleksandrowitsch in weißer Krawatte und Frack und zwei Ordenssterne auf der Brust; er mußte sogleich nach dem Essen hinwegfahren.

Jede Minute im Leben Aleksey Aleksandrowitschs war in Anspruch genommen und von vornherein zu einem Zwecke bestimmt, und um stets das, was ihm tägliche Obliegenheit war, gehörig erfüllen zu können, befleißigte er sich der strengsten Accuratesse.

»Ohne Hast aber auch ohne Ruhe,« war seine Devise.

Er trat in den Salon, grüßte alle und setzte sich schnell, seiner Frau zulächelnd.

»So hätte sich denn meine Einsamkeit beendet; du glaubst nicht, wie peinlich,« er betonte dieses Wort, »es ist, allein speisen zu müssen.«

Bei dem Essen unterhielt er sich mit seiner Gattin über die Moskauer Angelegenheiten und frug mit ironischem Lächeln nach Stefan Arkadjewitsch, doch bewegte sich das Gespräch vorzugsweise auf Gemeinplätzen, über Petersburger Amtsverhältnisse und allgemeine Angelegenheiten.

Nach dem Essen widmete er eine halbe Stunde seinen Gästen und ging dann, wiederum seiner Gattin mit einem Lächeln die Hand drückend, um zur Ratssitzung zu fahren.

Anna fuhr heute nicht zur Fürstin Betty Twerskaja, die sie, von ihrer Rückkunft unterrichtet, für den Abend zu sich eingeladen hatte; auch in das Theater begab sie sich nicht, in dem für sie heute eine Loge reserviert war.

Sie fuhr in erster Linie deswegen nicht, weil eine Robe, auf die sie gerechnet hatte, nicht fertig geworden war; dann aber befand sie sich heute, als sie nach dem Weggang der Gäste Toilette machte, überhaupt nicht bei guter Laune.

Vor ihrer Abreise nach Moskau hatte sie, eine Meisterin darin, sich möglichst einfach zu kleiden, ihrer Modistin drei Roben zur Umänderung übergeben. Die Umänderung sollte in einer Weise zur Ausführung kommen, daß man die Kleider nicht wiedererkenne, und diese hatten schon vor drei Tagen fertig sein sollen. Nun aber stellte sich heraus, daß zwei Roben überhaupt nicht fertig waren, und die dritte nicht in der Weise geändert war, wie es Anna gewünscht hatte.

Die Modistin erschien, um Erklärungen abzugeben; sie versicherte, die Robe werde so am besten aussehen, aber Anna geriet darüber so in Zorn, daß sie in der Folge Reue empfand, wenn sie daran dachte.

Um sich ganz zu beruhigen, ging sie nach dem Kinderzimmer und verbrachte hier den ganzen Abend mit ihrem Söhnchen; sie legte es persönlich schlafen, bekreuzte es und deckte es mit der Bettdecke zu.

Jetzt war sie erfreut darüber, nicht ausgefahren zu sein und den Abend so gut angewendet zu haben. Ihr war so leicht und ruhig zu Mut, sie erschaute jetzt so klar, daß alles, was sich ihr während der Eisenbahnfahrt so wuchtig vor die Seele gedrängt hatte, nur eines jener geringfügigen Vorkommnisse des weltlichen Lebens gewesen war, und sie vor niemand, nicht einmal vor sich selbst noch Scham zu empfinden brauchte.

Sie ließ sich, einen englischen Roman in der Hand, am Kamin nieder und harrte ihres Gatten; um halb zehn Uhr vernahm sie seine Schelle und er trat ins Gemach.

»Endlich kommst du!« sagte sie, ihm die Hand entgegenstreckend. Er küßte dieselbe und setzte sich neben sie.

»Ich sehe wohl, daß deine Reise von Erfolg begleitet war,« begann er zu ihr.

»O ja, vollkommen,« versetzte sie, und begann ihm alles von Anfang an zu erzählen; ihre Hinreise mit der Wronskaja, ihre Ankunft, den Unfall auf der Eisenbahn. Dann sprach sie von ihrem Mitleid erst für ihren Bruder und dann für Dolly.

»Ich glaube nicht, daß es möglich ist, einen solchen Menschen zu entschuldigen, wenn er auch dein Bruder ist,« sagte Aleksey Aleksandrowitsch in strengem Tone.

Anna lächelte. Sie begriff, daß er dies namentlich sagte, um zu zeigen, daß Rücksichten auf Verwandtschaft ihn nicht abhalten könnten, seine aufrichtige Meinung auszusprechen. Sie kannte diesen Zug an ihrem Manne und liebte ihn.

»Es ist mir aber lieb, daß alles noch glücklich abgelaufen ist und du wieder hier bist,« fügte er hinzu; »übrigens was spricht man denn von dem neuen Reglement, welches ich im Rat zur Durchführung gebracht habe?«

Anna wußte nichts von diesem Reglement und sie machte sich Vorwürfe, daß sie so leicht hatte vergessen können, was für ihn von so hoher Wichtigkeit war.

»Hier hat dasselbe freilich viel Staub aufgewirbelt,« sagte er mit selbstzufriedenem Lächeln.

Sie sah, daß Aleksey Aleksandrowitsch ihr etwas Angenehmes mitteilen wollte über die Angelegenheit und bestürmte ihn nun mit Bitten, zu erzählen; und so begann er denn mit seinem selbstzufriedenen Lächeln von den Ovationen zu berichten, die ihm infolge der Durchführung jenes Reglements dargebracht worden waren.

»Ich bin sehr, sehr glücklich,« faßte er, »dies beweist, daß man bei uns nun endlich beginnt, die Sache mit einem verständigen und sicheren Blick zu betrachten.«

Nachdem Aleksey Aleksandrowitsch ein zweites Glas Thee mit Sahne und Brot zu sich genommen hatte, stand er auf und begab sich in sein Kabinett.

»Du bist gar nicht ausgefahren? Gewiß wirst du dich gelangweilt haben,« frug er.

»O nein!« versetzte sie, hinter ihm aufstehend und ihn durch den Salon in das Kabinett begleitend.

»Was liesest du denn jetzt?« frug sie ihn.

»Jetzt lese ich Duc de Lille, ›Poésies enfers‹,« antwortete er, »ein sehr interessantes Buch.«

Anna lächelte, wie man über die Schwächen geliebter Menschen lächelt und führte ihn, ihren Arm in den seinen legend, bis an die Thür seines Kabinetts.

Sie kannte seine Gewohnheit, die ihm zum Bedürfnis geworden war, abends zu lesen. Sie wußte, daß er es, trotz der fast seine ganze Zeit in Anspruch nehmenden Amtspflichten, als seine Aufgabe erachtete, allem Interessanten, was in der Sphäre der geistigen Welt erschien, zu folgen. Sie wußte auch, daß ihn namentlich politische, philosophische und theologische Werke interessierten, daß die Kunst aber seiner Natur völlig fern lag. Gleichwohl jedoch, oder besser gerade deswegen, ließ Aleksey Aleksandrowitsch nichts von dem unbeachtet vorüber, was auch auf diesem Gebiete von sich reden machte, und hielt es für seine Pflicht, alles zu lesen.

Sie wußte, daß er auf dem Gebiete der Politik, Philosophie und Theologie entweder zweifelte oder forschte, aber in den Fragen der Poesie und Kunst, besonders der Musik, für die ihm ein Verständnis vollständig abging, besaß er die entschiedensten Meinungen. Er liebte es, von Shakespeare, Rafael, Beethoven zu sprechen, von der Bedeutung der neuen Schulen in Dichtung und Musik, die ihm alle in sehr klarer Reihenfolge geläufig waren.

»Nun, Gott mit dir,« sagte sie an der Thür des Kabinetts, in welchem ihm schon die Lampe mit dem Schirm und eine Flasche Wasser neben dem Lehnstuhl bereit gestellt worden war. »Ich will noch nach Moskau schreiben.«

Er drückte ihr die Hand und küßte dieselbe.

»Unter allen Umständen ist er ein guter Mensch, bieder, gut und bedeutend in seinem Wirkungskreis,« sagte Anna zu sich selbst, nachdem sie zurückgekehrt, als wolle sie ihn vor jemand schützen, der ihn anklage und sage man könnte diesen Mann nicht lieben. »Stehen denn seine Ohren wirklich so seltsam von ihm ab? Oder hat er sich nur scheren lassen?«

Noch um die zwölfte Stunde saß Anna vor ihrem Schreibtisch, ihren Brief an Dolly vollendend; da vernahm sie die gleichmäßigen Schritte Aleksey Aleksandrowitschs, welcher in Pantoffeln, das Buch unter dem Arme, bei ihr eintrat.

»Es ist nun Zeit,« sagte er mit besonderem Lächeln und schritt, frisch gewaschen und frisiert, nach dem Schlafgemach.

»Welches Recht besaß er doch eigentlich, in so seltsamer Weise auf ihn zu blicken?« dachte Anna, indem sie sich den Blick Wronskiys auf Aleksey Aleksandrowitsch vergegenwärtigte.

Nachdem sie sich ausgekleidet hatte, begab sie sich ins Schlafgemach; aber auf ihrem Antlitz war nicht nur nichts mehr von jenem Leben zu sehen, wie zur Zeit ihres Aufenthalts in Moskau, das aus ihren Augen, ihrem Lächeln glänzte, im Gegenteil; das Feuer schien jetzt erloschen zu sein in ihr – oder es hatte sich an einem entlegenen Orte verborgen.

34.

Als Wronskiy Petersburg verließ, hatte er sein großes Quartier an der Morskaja seinem Freunde und Lieblingskameraden Petrizkiy überlassen.

Petrizkiy war ein junger Lieutenant von nicht glänzendem Herkommen und nicht nur unbemittelt, sondern vielmehr überschuldet, der des Abends stets berauscht, gar häufig infolge zahlreicher alberner und selbst schmutziger Affairen auf die Hauptwache gebracht wurde, nichtsdestoweniger aber bei seinen Kameraden und Vorgesetzten beliebt war.

Um zwölf Uhr von der Eisenbahn nach seinem Quartier kommend, sah Wronskiy in der Einfahrt das ihm wohlbekannte Mietgeschirr stehen. Hinter der Thür hörte er nachdem er geläutet hatte, das Lachen von Männerstimmen, das Geschwätz einer Frauenstimme und den Ruf Petrizkiys: »Sollte es einer der Bösewichter sein, so wird er nicht eingelassen!«

Wronskiy befahl, man solle von seiner Ankunft nicht Meldung machen und begab sich leise in das nächste Gemach.

Baronesse Gilleton, die Freundin Petrizkiys, in einem lilafarbenen Atlaskleid prunkend und mit geschminktem blonden Gesicht, wie ein Kanarienvogel das ganze Zimmer mit ihrem pariser Französisch erfüllend, saß vor einem großen, runden Tische und kochte Kaffee. Petrizkiy im Paletot und der Rottmeister Kamerowskiy in voller Uniform, wahrscheinlich vom Dienst gekommen, saßen um sie herum.

»Bravo, Wronskiy!« schrie Petrizkiy, aufspringend und mit dem Stuhle aufdonnernd. »Der Herr selbst! Baronesse, Kaffee aus einem frischen Kessel! Den hatten wir nicht erwartet! Ich hoffe du bist zufrieden mit der Verschönerung deines Kabinetts!« sagte er dann, aus die Baronesse zeigend. »Ihr kennt euch ja wohl?«

»Warum nicht?« antwortete Wronskiy, heiter lächelnd und die kleine Hand der Baronesse drückend; »nicht so, ich bin ein alter Freund?«

»Sobald Ihr im Hause seid, von der Reise gekommen, muß ich weichen. In dieser Minute will ich mich entfernen, wenn ich störe!«

»Ihr seid zu Hause dort, wo Ihr Euch befindet, Baronesse,« versetzte Wronskiy. »Sei gegrüßt, Kamerowskiy,« fügte er hinzu, diesem kalt die Hand reichend.

»Ihr würdet wohl nie verstehen, Euch so angenehm auszudrücken,« wandte sich die Baronesse an Petrizkiy.

»Bitte! Weshalb? Nach einem Essen spreche ich auch nicht schlechter!«

»Ja; nach einem Essen ist es keine Kunst! Nun, ich will Euch aber Kaffee geben, kommt, wascht Euch und kleidet Euch um,« sagte die Baronesse, sich wieder setzend und sorglich den Hahn am neuen Kaffeekessel drehend.

»Peter, gebt den Kaffee!« wandte sie sich an Petrizkiy, den sie kurzweg Pjor nannte nach seinen Familiennamen und ohne ihre familiären Beziehungen zu ihm zu verbergen. »Ich will das übrige hinzuthun!«

»Ihr werdet die Sache nur verderben.«

»Nein, ich werde nichts verderben! Aber was macht denn Eure Frau?« fragte die Baronesse, plötzlich, mitten in das Gespräch hinein, welches Wronskiy mit seinen Kameraden pflog. »Wir hielten Euch hier schon für verheiratet, habt Ihr Eure Frau mitgebracht?«

»Nein, Baronesse; ich bin als Zigeuner geboren und will als Zigeuner sterben.«

»Um so besser, um so besser. Reicht mir Eure Hand!«

Die Baronesse begann nun ohne Wronskiy von sich zu lassen, diesem zu erzählen, Scherze dabei einflechtend; sie entwickelte ihm ihre Lebenspläne und frug ihn um seinen Rat.

»Er will in die Ehescheidung noch nicht einwilligen! Also was soll ich thun?« Der Er war ihr eigentlicher Mann. »Ich will jetzt einen Prozeß gegen ihn beginnen, wie ratet Ihr mir dazu? Kamerowskiy, sieh doch einmal nach dem Kaffee – o, er ist hinausgegangen. Ihr seht, ich bin vollauf beschäftigt! Ich will den Prozeß beginnen, weil ich mein Vermögen brauche. Versteht Ihr die Thorheit; ich soll ihm untreu gewesen sein, und deswegen will er mein Vermögen für sich behalten,« sagte sie voll Verachtung.

Wronskiy hörte mit Vergnügen dem lustigen Geschwätz des braven Weibes zu, pflichtete ihr in allen Stücken bei, gab ihr halb scherzhaft gemeinte Ratschläge, nahm aber im Grunde doch sofort den ihm im Verkehr mit Weibern dieser Art eigenen Ton an.

In seinem Petersburger Leben teilten sich für ihn alle Menschen in zwei Klassen, die vollständig entgegengesetzt waren.

Die eine derselben war die niedere Klasse, das waren die Gemeinen, die Dummen, und was die Hauptsache bildete, die für ihn komischen Menschen, die da glaubten, es müsse jeder Mann mit nur einem Weibe leben, mit dem, welchem er sich fürs Leben versprochen hatte, die da glaubten, ein Mädchen müsse unschuldig sein, ein Weib schamhaft, ein Mann männlich, standhaft und fest; daß man Kinder wohl erziehen müsse, für sein tägliches Brot arbeiten solle, seine Schulden zu bezahlen hätte und andere, verschiedene, dem ähnliche Dummheiten zu begehen die Pflicht habe.

Dies war die Klasse der ihm altmodisch und komisch erscheinenden Menschen.

Aber es gab dann noch eine zweite Klasse von Menschen; dies waren die eigentlichen Menschen, zu welcher sie alle gehörten, die Menschen, die sich mit Eleganz, Hochmut, Kühnheit und Lust jeder Leidenschaft ohne zu erröten hingaben und welche über alles andere nur lachten.

Wronskiy war nur für den ersten Augenblick verwirrt gewesen unter den Eindrücken einer völlig anderen Welt, die er aus Moskau mitbrachte; aber sogleich, nachdem er die Füße wieder in die alten Pantoffeln gesteckt hatte, war er wieder in der früheren, heiteren und angenehmen Welt.

Der Kaffee kam soeben ins Kochen, er brauste auf, und lief über und vollbrachte nun, was er vollbringen mußte, das heißt, er wurde die Ursache zu allgemeinem Lärmen und Gelächter, indem er den kostbaren Teppich und die Robe der Baronesse übergoß.

»Ah, jetzt entschuldigt mich, Ihr waschet Euch freilich wohl nie rein, in meinem Gewissen aber wird das vornehmste Vergehen eines ordnungsliebenden Menschen sein – die Unreinlichkeit. Indessen Ihr ratet mir also, ich soll ihm das Messer an die Kehle setzen?«

»Unfehlbar; und zwar derart, daß Eure schöne Hand seinen Lippen möglichst nahe kommt. Er wird sie dann küssen und alles wird noch gut,« versetzte Wronskiy.

»So wie jetzt in Frankreich,« sagte die Baronesse und verschwand mit rauschendem Kleide.

Kamerowskiy erhob sich ebenfalls, doch Wronskiy gab ihm, ohne seinen Hinausgang abzuwarten, die Hand und begab sich nach seinem Ankleidezimmer. Während er sich wusch, beschrieb ihm Petrizkiy in kurzen Zügen seine Lage und deren Veränderung seit Wronskiys Abreise.

Geld hatte er gar nicht mehr. Sein Vater hatte ihm erklärt, er werde ihm weder welches geben, noch seine Schulden zahlen. Der Schneider hatte gedroht, ihn in Schuldarrest setzen zu lassen und auch von anderer Seite drohte ihm mit unfehlbarer Sicherheit das Nämliche.

Der Regimentskommandeur hatte ihm mitgeteilt, daß er, wenn diese skandalösen Angelegenheiten nicht ein Ende fänden, seinen Abschied nehmen müsse. Die Baronesse aber plage ihn wie ein bitterer Rettig, namentlich damit, daß er stets Geld geben solle; sie sei indessen einzig in ihrer Art, er würde sie Wronskiy zeigen, sie sei ein Wunder an Reizen, nach streng orientalischem Typus, » genre Rebekka« deutete er verheißungsvoll an. Er hatte sich ferner auch mit Berkoschowy überworfen und diesem Sekundanten schicken wollen, aber natürlich werde nichts dabei herauskommen.

Im allgemeinen aber war alles vorzüglich und außerordentlich lustig gegangen.

Ohne dem Freunde Zeit zu gönnen, sich in die Einzelheiten seiner eigenen Lage zu vertiefen, erzählte Petrizkiy weiter von allen möglichen und interessanten Neuigkeiten und als Wronskiy die ihm so bekannten Geschichten Petrizkiys, in der ihm so vertrauten Umgebung seines schon seit drei Jahren bewohnten Quartiers anhörte, da empfand er wieder das angenehme Gefühl der Lust zur Rückkehr zu dem gewohnten, sorglosen Petersburger Leben.

»Unmöglich!« rief er aus, den Pedal des Waschbeckens loslassend, mit welchem er seinen rosigen, gesunden Nacken durch eine Douche übergössen hatte. »Unmöglich!« rief er bei der Nachricht, daß die Lora jetzt dem Milejewy zugethan sei und Fertingoff aufgegeben habe. »Und der ist so dumm und ist damit zufrieden«? Was macht denn Buzulukoff?«

»O, mit dem ist eine köstliche Geschichte passiert – reizend!« rief Petrizkiy. »Du kennst ja seine Leidenschaft für Bälle; er läßt nie auch nur einen Hofball vorüber. Buzulukoff also geht zu einem großen Ball, einen funkelnagelneuen Helm auf dem Kopfe. Hast du die neuen Helme schon gesehen? Sie sind sehr hübsch, bedeutend leichter. – Steht der also – aber hörst du auch?« –

»Natürlich, ich höre,« antwortete Wronskiy, sich mit dem feuchten Handtuch abreibend.

»Kommt da die Großfürstin mit einem Gesandten vorüber und sein Unglück will, daß sich das Gespräch der beiden gerade um die neuen Helme dreht. Die Großfürstin wünscht dem Gesandten einen solchen zu zeigen, man schaut umher – da steht gerade unser Freund.« Petrizkiy zeigte jetzt, wie Buzulukoff im neuen Helm gestanden hatte. »Die Großfürstin bat, ihr doch den neuen Helm zu reichen – er aber gab ihn nicht. Was sollte das heißen? Man blinzelt ihm zu, man nickt ihm zu, man verzieht das Gesicht – er sollte den Helm reichen – er giebt ihn nicht. Stand wie eine Salzsäule. Stelle dir das vor! Man ist außer sich, weiß nicht wie man ihn bewegen soll – will ihm schon den Helm vom Kopfe nehmen – umsonst – er giebt ihn nicht her. Endlich aber nimmt er den Helm ab und reicht ihn der Großfürstin.

»Dies ist der neue Helm,« sagt diese, und wendet dabei den Helm um – da denke dir: Bauz! kollern Birnen, Konfekt, an zwei Pfund wohl zur Erde! Und unser Held las alles auf!«

Wronskiy schüttelte sich vor Lachen; und noch lange darnach, schon zu einem anderen Thema übergegangen, brach er wieder in sein kerngesundes Lachen aus, und zeigte dabei die festen weißen Zähne, wenn er an die Geschichte mit dem Helm dachte.

Nachdem Wronskiy alle Neuigkeiten vernommen hatte, warf er sich mit Hilfe seines Dieners in die Uniform und fuhr ab, um sich wieder zu zeigen.

Nachdem dies geschehen, beabsichtigte er zunächst, zu seinem Bruder zu fahren und dann zu Bezzy, sowie einige Visiten zu machen, in der Absicht sich in denjenigen Kreis Eintritt zu verschaffen, in welchem er hoffen konnte, der Karenina zu begegnen.

Wie er gewöhnlich in Petersburg that, fuhr er nicht anders von Hause weg, als erst in später Nacht wieder heimzukehren«

 

1.

Zu Ende des Winters fand im Hause der Schtscherbazkiy ein Familienrat statt, welcher darüber zu entscheiden hatte, wie es mit der Gesundheit Kitys stehe und welche Schritte zu thun seien, deren geschwächte Kräfte wieder zu heben.

Sie war krank und mit der Annäherung des Frühjahrs verschlimmerte sich ihr Zustand noch mehr.

Der Hausarzt hatte ihr Fischthran verordnet, dann Eisen und andere Mittel, da aber weder das eine noch das andere oder sonst etwas half, und er geraten hatte, mit dem Frühling ins Ausland zu reisen, so war ein namhafter Arzt noch mit hinzugezogen worden.

Dieser Arzt, ein noch junger Mann, war eine sehr schöne Erscheinung; er erklärte, die Kranke untersuchen zu müssen. Mit besonderem Vergnügen, wie es schien, bestand er auf der Erfüllung dieser Aufgabe, als ob die jungfräuliche Schamhaftigkeit nur ein Überbleibsel barbarischer Sitten sei und es nichts Natürlicheres gäbe, als wenn ein junger Mann ein entblößtes junges Mädchen betaste.

Er fand dies natürlich, weil er es täglich that und nichts Übles dabei empfand, oder dachte, wie ihm selbst dünkte, und so hielt er die jungfräuliche Scham nicht nur für einen Überrest barbarischer Sitte, sondern sogar für eine Kränkung die ihm selbst zugefügt wurde.

Kity mußte sich fügen, da man, ungeachtet dessen, daß ja sämtliche Arzte nach einer Schule gelernt hatten und nach den nämlichen Büchern und somit alle nur das nämliche wußten, und obwohl manche sagten, dieser berühmte Arzt sei kein guter Arzt – im Hause der Fürstin und in deren Kreisen aus unbekannten Gründen anerkannt hatte, dieser berühmte Mediziner besitze ein ganz besonderes Wissen und er allein habe es in der Macht, Kity zu retten.

Nach einer sorgfältigen Untersuchung und Beklopfung der vor Scham halb verstörten und völlig verwirrten jungen Kranken, erklärte sich der namhafte Arzt, nachdem er sich sorgfältig die Hände gewaschen, im Salon dem Fürsten gegenüber.

Dieser sah finster aus, räusperte sich und horchte auf die Worte des Arztes.

Er als erfahrener, nicht beschränkter und nicht kranker Mensch, glaubte nicht an die medizinische Kunst, und in seinem Innern regte sich über diese ganze Komödie eine Erbitterung, welche um so größer war, als er allein wenigstens vollständig die Ursache von Kitys Krankheit erkannt hatte.

»Falsches Gebell,« dachte der Fürst bei sich, dieses Wort innerlich aus dem Jagdwörterbuch auf den Arzt anwendend, der ihm langatmig alle die Kennzeichen der Krankheit des jungen Mädchens auseinandersetzte.

Der Arzt seinerseits unterdrückte nur mit Mühe diesem alten Edelmann gegenüber einen Ausdruck von geistiger Überlegenheit und schien sich nur schwer bis zu der für ihn so tiefstehenden medizinischen Fassungskraft des Fürsten herablassen zu können.

Er erkannte, daß mit dem alten Herrn nicht zu reden sei und daß die Seele dieses Hauses nur in der Mutter liege.

Vor dieser also beabsichtigte er, seine Perlen auszukramen. Die Fürstin trat auch soeben in den Salon, begleitet von dem Hausarzt. Der Fürst ging, sich stellend als wolle er nicht merken lassen, wie lächerlich ihm diese ganze Komödie erschien.

Die Fürstin war ratlos; sie wußte nicht was zu thun sei und fühlte sich schuldig vor Kity.

»Nun, Herr Doktor, entscheidet über unser Geschick,« sagte die Fürstin. »Sagt mir alles; giebt es noch Hoffnung?« wollte sie hinzufügen, allein ihre Lippen zitterten und sie war nicht imstande, diese Frage auszusprechen. »Also wie steht es?«

»Sogleich, Fürstin, werde ich mit meinem Kollegen reden und alsdann die Ehre haben, Euch meine Meinung darzulegen.«

»Muß ich Euch also jetzt verlassen?«

»Wie Euch beliebt.«

Die Fürstin ging aufseufzend wieder hinaus.

Als die beiden Mediziner allein miteinander waren, begann der Hausarzt schüchtern seine Ansicht auseinanderzusetzen, welche dahin ging, daß der Beginn zur Lungentuberkulose vorliege, aber etc. etc.

Der berühmte Arzt hörte ihm zu und schaute während des Vortrags nach seiner dicken goldenen Uhr.

»So ist es,« antwortete er, »aber« –

Der Hausarzt verstummte respektvoll inmitten seiner Rede.

»Genau zu bestimmen, wie Ihr wißt, ist ja der Anfang der Tuberkulose nicht; bis zur Erscheinung der Cavernen ist nichts Bestimmtes zu sagen. Aber vermuten können wir. Und Anzeichen sind ja vorhanden. Schlechte Ernährung, nervöse Aufgeregtheit und dergleichen. Die Frage steht jetzt so, was ist zu thun bei vorhandenem Verdacht des Tuberkelprozesses, um die Ernährung zu unterstützen?«

»Aber Ihr wißt doch, daß stets geistige, seelische Ursachen noch dahinterstecken,« erlaubte sich der Hausarzt mit schüchternem Lächeln einzuwerfen.

»Allerdings, das versteht sich ja von selbst,« versetzte der Ruhm der Wissenschaft, wiederum nach seiner Uhr schauend. »Ist denn die Jauskiybrücke bereits fertig, oder muß man noch immer im Kreis herum fahren?« frug er.

»Sie ist fertig.«

»Aha; nun, dann kann ich in zwanzig Minuten da sein. Wir haben uns also dahin ausgesprochen, daß die Frage jetzt so steht: Unterstützung der Ernährung und Kräftigung der Nerven; eines in Verbindung mit dem andern muß nach beiden Richtungen hin seine Wirkung ergänzen.«

»Und die Reise nach dem Ausland?« frug der Hausarzt.

»Ich bin ein Feind der Reisen nach dem Ausland. Seht doch selbst: wenn wirklich der Beginn der Tuberkulose vorliegt, was wir gar nicht wissen können, so wird die Reise überhaupt nicht helfen. Es ist nur ein solches Mittel unumgänglich notwendig, welches die Ernährung fördert, ohne zu schädigen.«

Der berühmte Arzt setzte nun seinen Plan der Behandlung mit Sodener Wasser auseinander, bei dessen näherer Erläuterung der Hauptpunkt offenbar nur zu sein schien, daß dieses Wasser nicht schaden könne.

Der Hausarzt hatte aufmerksam und respektvoll zugehört.

»Aber zum Zweck der Hervorhebung des Nutzens einer Reise ins Ausland möchte ich betonen, daß eine Veränderung der Lebensgewohnheiten eine Enthebung aus den Verhältnissen, welche die Erinnerung wachrufen, nötig erscheint. Übrigens wünscht ja die Mutter diese Reise,« fügte er hinzu.

»Aha! Nun, in diesem Falle möge sie reisen, aber diese deutschen Charlatane werden ihr nur Schaden bringen. Es wäre nötig, daß man sich belehren ließe – aber – mögen sie reisen.«

Er blickte wiederum nach seiner Uhr.

»Ah, es ist jetzt Zeit!« – Er ging mit diesen Worten zur Thür. Der berühmte Arzt erklärte nun der Fürstin – das Gefühl des Anstandes erforderte dies – daß er die Kranke nochmals sehen müsse.

»Wie? Nochmals untersuchen?« rief die Mutter entsetzt aus.

»O nein; ich möchte ihr nur einige Kleinigkeiten sagen, Fürstin.«

»Bitte sehr.«

Die Mutter, von dem Arzte begleitet, trat in den Salon zu Kity. Abgezehrt und gerötet im Gesicht, mit einem eigenartigen Glanz in den Augen, – eine Folge der ausgestandenen Scham – stand Kity inmitten des Zimmers.

Als der Arzt eintrat, fuhr sie entsetzt auf und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Ihre ganze Krankheit und die versuchte Heilung derselben erschien ihr als etwas so Thörichtes, ja Lächerliches.

Ihre Heilung erschien ihr ebenso fruchtlos versucht, als etwa die Zusammenfügung von Stücken einer zerschlagenen Vase.

Ihr Herz war zerschlagen; was wollte man an ihm heilen mit Pillen und Pulvern?

Und doch konnte man die Mutter nicht kränken, umsoweniger, als diese selbst sich schuldbewußt fühlte.

»Wollt doch ein wenig hier noch Platz nehmen, Fürstin,« sagte die medizinische Autorität.

Er ließ sich lächelnd ihr gegenüber nieder, ergriff ihren Puls und begann von neuem, langweilige Fragen an sie zu richten. Sie antwortete ihm, plötzlich aber erhob sie sich entrüstet.

»Entschuldigt mich,« sagte sie, »aber dies kann doch sicherlich zu nichts führen. Ihr fragt mich nun zum drittenmale nach demselben.« Der berühmte Arzt fühlte sich nicht beleidigt.

»Eine krankhafte Gereiztheit,« sagte er zu der Fürstin, als Kity hinausgegangen war. »Übrigens bin ich fertig.«

Der Arzt beschrieb nun der Fürstin, als einer ausnehmend klugen Frau, wissenschaftlich den Zustand der jungen Fürstin und schloß mit der Anweisung dazu, wie man die mineralischen Wässer trinken müsse, die doch gar nicht nötig waren.

Auf die Frage, ob man ins Ausland reisen solle oder nicht, versank der große Arzt in tiefes Nachdenken, gleich als ob er über einer schwierigen Aufgabe sänne.

Die Entscheidung ward endlich gefällt; man dürfe reisen, solle sich aber vor den Charlatanen hüten und sich in allem nur an ihn wenden.

Es schien sich förmlich eine gewisse Aufheiterung zu verbreiten, als der große Arzt von dannen gegangen war. Die Mutter atmete auf, sich zu ihrem Kinde wendend, und Kity stellte sich, als ob sie zu guter Laune käme.

Sie hatte sich in der letzten Zeit nur allzu häufig, ja fast stets, verstellen müssen.

»Es ist wirklich wahr, maman ich fühle mich gesund. Aber wenn Ihr reisen wollt, so wollen wir reisen!« sagte sie, und gab sich den Anschein, als interessiere sie sich für die bevorstehende Abreise, indem sie von den Vorbereitungen zu derselben zu sprechen begann.

30.

Furchtbar raste der Schneesturm und pfiff zwischen den Rädern der Waggons und um die Säulen hinter der Ecke der Station hervor. Die Waggons, die Säulen, die Menschen, alles was sichtbar war, war von einer Seite her mit Schnee überweht, der sich mehr und mehr häufte.

Auf einen Augenblick beruhigte sich der Sturm, dann aber erhob er sich wieder in solchen Stößen, daß es schien, als würde ihm nichts widerstehen können. Währenddem liefen Leute in heiterem Gespräch über die Bretter der Plattform, ohne Aufhören die großen Thüren öffnend und zuschlagend. Der zusammengeduckte Schatten eines Menschen bewegte sich unter ihren Füßen hin und man vernahm Töne von Hammerschlägen auf Eisen.

»Depeschen!« ertönte ein rauher Schrei von jenseits aus dem Dunkel der Sturmnacht heraus. »Hierher gefälligst, Nr. 28!« riefen verschiedene Stimmen und mehrere von Schnee überdeckte, in dicke Kleidung gehüllte Leute.

Zwei Herren, die brennende Cigarette im Munde, gingen an ihr vorüber. Sie atmete nochmals auf, um satt Luft zu schöpfen und hatte schon die Hand aus dem Muffe gezogen, um sich an der Eisenstange anzuhalten und wieder den Waggon zu betreten, als noch ein Mann in Uniform dicht neben ihr das flackernde Licht der Laterne verdeckte.

Sie blickte um sich und erkannte im nämlichen Augenblick Wronskiy. Die Hand an den Mützenschild legend, verbeugte er sich vor ihr und frug, ob sie einen Wunsch habe und ob er ihr nicht dienen könne.

Geraume Zeit heftete sie ihren Blick auf ihn, ohne ein Wort zu sprechen; obwohl sie im Schatten stand, sah sie – oder es schien ihr doch so – den Ausdruck seines Gesichts und seiner Augen.

Es war wieder jener Ausdruck der achtungsvollen Freude, welcher gestern so stark auf sie eingewirkt hatte.

Mehr als einmal in den vergangenen Tagen hatte sie sich selbst gesagt, und soeben jetzt that sie es auch, daß Wronskiy für sie nur einer von jenen Hunderten sich ewig gleichbleibender, überall begegnender junger Männer sei; daß sie sich nie und nimmermehr gestatten dürfe, seiner auch nur zu gedenken; jetzt aber, im ersten Moment ihrer Begegnung mit ihm übermannte sie das Gefühl eines freudigen Stolzes.

Sie brauchte nicht zu fragen, warum er hier sei. Sie wußte es so genau, als ob er ihr gesagt hätte er sei hier, weil er dort sein wolle, wo sie sei.

»Ich wußte nicht, daß Ihr reistet. Weshalb fahrt Ihr schon?« frug sie, die Hand sinken lassend, mit welcher sie sich bereits am Geländer hielt.

Eine unbezwingbare Freude und Erregtheit glänzte auf ihren Zügen.

»Weshalb ich fahre?«, wiederholte er, ihr offen ins Auge blickend, »Ihr wißt, ich fahre deshalb, um dort zu sein, wo Ihr seid,« antwortete er; – »ich kann nicht anders.«

Im selben Augenblick fegte der Sturm den Schnee von den Decken der Waggons herunter, als habe er Hindernisse besiegt, er spielte mit einem abgebrochenen Stück Eisenblech und vorn erklang die dumpfe Pfeife der Lokomotive.

Der ganze Schrecken des Schneesturms erschien ihr jetzt noch schöner. Er sagte das Nämliche, was ihre Seele wünschte und was ihr Verstand fürchtete.

Sie antwortete nichts, aber auf ihrem Gesicht bemerkte er einen Kampf.

»Verzeiht mir, wenn Euch das unangenehm ist, was ich soeben sagte,« hub er in höflichem Tone an.

Er sprach ehrerbietig, achtungsvoll, aber so fest und entschieden, daß sie lange Zeit nichts antworten konnte.

»Das ist böse, was Ihr da sagt, und ich bitte Euch, wenn Ihr ein guter Mensch seid, zu vergessen was Ihr gesprochen habt – ebenso, wie auch ich Euch vergessen will,« versetzte sie endlich.

»Nicht ein Wort von Euch, nicht eine Bewegung von Euch werde ich je vergessen – noch könnte ich es« –

»Genug, genug!« nef sie aus, mit Mühe versuchend, ihrem Gesicht einen strengen Ausdruck verleihend, den er begehrlich musterte.

Mit der Hand nach der kalten Eisenstange greifend, stieg sie die Stufen hinauf und trat schnell in den Vorraum des Waggons. In diesem blieb sie stehen und überlegte bei sich, was soeben geschehen war.

Ohne sich ihrer oder seiner Worte zu entsinnen, erkannte sie nach ihrem Gefühl, daß dieses minutenlange Gespräch sie beide in furchtbarer Weise genähert hatte. Sie erschrak hierüber – und war beglückt davon. –

Nachdem sie einige Sekunden gestanden hatte, betrat sie ihr Coupé und setzte sich wieder auf ihren Platz.

Der Zustand von Spannung, der sie vorher gequält hatte, begann sich nicht nur von neuem einzustellen, er verstärkte sich auch noch und stieg bis zu einem Grade, daß sie fürchtete, es könne jeden Augenblick etwas in ihr, was allzusehr gespannt war, gesprengt werden.

Sie schlief die ganze Nacht hindurch nicht, aber in jenem Zustande der Spannung und Phantasieen, der ihr Vorstellungsvermögen erfüllte, war gleichwohl nichts Unangenehmes und Düsteres. Im Gegenteil; es lag etwas Freudiges darin, etwas Glühendes und Aufregendes» Gegen Morgen schlummerte Anna, in ihrem Sessel sitzend, ein, und als sie wieder erwachte, da war alles weiß und hell, und der Zug fuhr schon auf Petersburg. Sofort befand sich ihr Ideengang daheim, bei ihrem Gatten, ihrem Sohne, und die Sorgen um den nächsten Tag und die folgenden traten jetzt an sie heran.

Der Zug hatte in Petersburg kaum Halt gemacht, und sie war kaum ausgestiegen, da war das erste Gesicht, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, das ihres Gatten.

»O, mein Gott! Woher hat er denn nur diese Ohren?« dachte sie auf seine kalte, imposante Erscheinung blickend, auf seine großen Ohrmuscheln, die sie jetzt betroffen machten, mit den sich auf dieselben stützenden Hutkrempen.

Als er sie erblickt hatte, eilte er ihr entgegen, die Lippen zu dem ihm eigenen spöttischen Lächeln verziehend und sie mit seinen großen matten Augen starr anblickend.

Ein Gefühl des Unbehagens legte sich ihr schwer auf die Brust, als sie diesem unbeweglichen, müden Blick begegnete, und es war ihr zu Mute, als hätte sie erwartet, ihn als eine andere Erscheinung wiedersehen zu müssen.

Ganz besonders beunruhigte sie die Empfindung der Unzufriedenheit mit sich selbst, die sie bei der Begegnung mit ihm fühlte. Ihre Empfindung war eine an Heimisches, an Bekanntschaftliches gemahnende, ähnlich dem Zustand der Verstellung, welche sie aus ihren Beziehungen zu dem Gatten schon kannte. Früher hatte sie indessen dieses Gefühl nicht weiter wahrgenommen, erst jetzt ward sie sich desselben klar und schmerzlich bewußt.

»Ach, wie siehst du aus, mein süßes Weib, mein zartes Weib; wie im zweiten Jahre nach der Hochzeit verzehrte ich mich vor Sehnsucht, dich wiederzusehen,« sagte er mit seiner langsamen, dünnen Stimme und jenem Tone, den er ihr gegenüber fast stets anwandte, dem Ton des Spottes über eine Persönlichkeit die etwa in der gleichen Lage so sprechen würde, wie er.

»Ist unser Sergey gesund?«

»Ist das der ganze Lohn für meine Liebesglut?« antwortete er; »er ist gesund, gesund.«

31.

Wronskiy hatte gar nicht, versucht, während der Nacht zu schlafen. Er saß in seinem Armsessel, bald die Augen starr geradeaus gerichtet, bald die Eintretenden und Gehenden musternd, und wenn er ohnehin schon ihm unbekannte Leute mit dem ihm eignen Ausdruck unerschütterlicher Seelenruhe frappiert hatte, so erschien er jetzt noch bei weitem stolzer und selbstbewußter. Er blickte auf die Menschen wie auf Dinge.

Ein junger Herr, der sehr nervenschwach war, – er diente in einem Kreisgericht – saß ihm gegenüber und begann einen Groll auf ihn zu fassen wegen dieses Ausdrucks.

Der junge Herr rauchte mit ihm und unterhielt sich mit ihm: er stieß ihn sogar an, um ihn fühlen zu lassen, daß er selbst kein Ding, sondern ein Mensch sei, aber Wronskiy blickte ihn an, als schaue er eine Straßenlaterne an und der junge Herr schnitt nun Grimassen in der Empfindung, er würde die Selbstbeherrschung verlieren unter dem Drucke dieser Verachtung seitens eines Menschen.

Wronskiy sah und hörte nichts. Er fühlte sich als Zar, nicht deshalb, weil er etwa geglaubt hätte, einen Eindruck auf Anna hervorgebracht zu haben, – er glaubte noch gar nicht hieran – sondern deshalb, weil der Eindruck, den sie auf ihn hervorgebracht hatte, ihm ein Gefühl des Glückes und Stolzes verlieh.

Was aus alledem hervorgehen würde, das wußte er noch nicht und daran dachte er auch noch gar nicht. Er empfand, daß alle die Kräfte, welche er bisher vergeudete und verschwendete, sich jetzt in Einem konzentrierten und mit furchtbarer Energie einem glückverheißenden Ziele zustrebten.

Hierüber aber war er glücklich; er wußte nur das Eine, daß er ihr die Wahrheit gesagt hatte, er sei nur deshalb hier mitgefahren, weil sie hier sei, daß er alles Lebensglück, seinen einzigen Lebensgedanken jetzt nur noch darin finde, sie zu sehen, sie zu hören.

Als er in Bologowo ausstieg, um Selterswasser zu trinken und Anna erblickte, so sagte ihr das erste Wort aus seinem Munde das was er dachte. Und er freute sich darüber, daß er ihr dies gesagt hatte, daß sie es nun wisse und darüber nachdenken werde.

Er schlief die ganze Nacht hindurch nicht. Als er in den Waggon zurückgekommen war, ließ er ohne Aufhören wiederum alle Stellungen, in denen er sie gesehen hatte, an sich vorüberziehen und alle ihre Worte, und in seiner Einbildungskraft erschienen Gemälde einer möglichen Zukunft die ihm das Herz stocken ließen.

Nachdem er in Petersburg den Waggon verlassen hatte, fühlte er sich nach der schlaflosen Nacht erfrischt, wie neugeboren, gleich als käme er aus einem Kaltwasserbad.

Er blieb neben seinem Waggon stehen, um ihr Aussteigen abzuwarten.

»Noch einmal muß ich sie sehen,« sprach er zu sich mit unwillkürlichem Lächeln, »noch einmal ihre Bewegungen sehen, ihr Gesicht anschauen; sie wird sprechen, den Kopf wenden, mich erblicken und vielleicht lächeln.«

Aber noch bevor er sie selbst erblickt hatte, gewahrte er ihren Gatten, welchen der Stationschef ehrfurchtsvoll durch das Gedränge begleitete.

»Ah, das ist ja der Gatte!«

Zum erstenmal erkannte jetzt Wronskiy klar, daß ein Mann, ein Gatte, ein mit ihr verbundenes Wesen existierte, er wußte jetzt, daß sie einen Gatten besaß, aber er vermochte nicht an sein Dasein zu glauben und überzeugte sich hiervon nicht früher, als bis er ihn gesehen hatte, mit seinem Kopf, den Schultern und den Beinen in schwarzen Pantalons; und nicht eher besonders, als bis er gewahrt hatte, wie dieser Mann im Gefühl seiner besonderen Eigenschaft, ruhig ihre Hand ergriffen hatte.

Als er diesen Aleksej Aleksandrowitsch mit seinem frischen petersburgischen Gesicht, der stolzen selbstbewußten Haltung, im runden Hute, dem etwas hohen Rücken gemustert hatte, glaubte er an ihn, empfand aber ein Gefühl des Unangenehmen, ähnlich dem, wie es ein Mensch empfinden würde, der von Durst gepeinigt an eine Quelle gelangt, und hier findet, daß an derselben ein Hund, ein Schöps oder Schwein gesoffen und das Wasser getrübt hat.

Der Gang Aleksey Aleksandrowitschs, welcher ein Wanken des ganzen Körpers auf den kurzen Füßen zeigte, berührte Wronskiy ganz besonders unangenehm.

Er empfand fast eine Art von unzweifelhafter Berechtigung dazu, sie allein zu lieben. Aber Anna blieb sich stetig gleich, und ihre Erscheinung wirkte noch immer so physisch belebend, erregend und sein Gemüt beglückend, auf ihn.

Er befahl jetzt einem deutschen Dienstmann zweiter Klasse, der zu ihm herantrat, sein Gepäck aufzunehmen und fortzubringen und begab sich zu ihr hin.

Er beobachtete das erste Begegnen des Gatten mit der Gattin und bemerkte mit dem durchdringenden Scharfblick des Liebenden die Kennzeichen einer gewissen leichten Gespanntheit, mit welcher sie mit dem Gatten sprach.

»Nein; sie liebt diesen Mann nicht, und sie kann ihn ja auch nicht lieben,« entschied er vor sich selbst.

Während er sich im Rücken Anna Kareninas näherte, bemerkte er mit Vergnügen, daß sie gleichwohl seiner Annäherung inne geworden war und sich umgeblickt hatte. Als sie seiner ansichtig geworden war, hatte sie sich wieder ihrem Manne gewidmet.

»Habt Ihr die Nacht gut verbracht?« frug Wronskiy, vor ihr eine Verbeugung machend, die auch gleichzeitig dem Gatten Annas galt und auszudrücken schien, daß Aleksey Aleksandrowitsch diese Verbeugung aufnehmen könne, wie er wolle, gleichviel ob er ihn kenne oder nicht.

»Ich danke Euch! Sehr gut,« antwortete Anna Karenina.

Ihr Gesicht sah ermüdet aus und es weilte jetzt nicht jenes Tändeln des Lebensmuts auf ihm, welches bald in ihrem Lächeln, bald in ihren Blicken erschien; aber für eine Sekunde, als sie ihn anblickte, blitzte etwas in ihren Augen auf, wovon er, obwohl dieses Feuer sofort wieder erlosch, sich glücklich fühlte.

Sie schaute auf ihren Mann, um zu ergründen, ob er Wronskiy schon kenne. Aleksey Aleksandrowitsch blickte mißvergnügt auf Wronskiy, sich zerstreut erinnernd, wer dies sein könne.

Die Ruhe und Sicherheit Wronskiys traf hier mit dem kalten Selbstgefühl Aleksey Aleksandrowitschs zusammen, wie eine Sense auf einen Feldstein.

»Graf Wronskiy,« sagte Anna.

»Ah! Wir sind ja wohl Bekannte scheint es,« versetzte Aleksey, diesem die Hand reichend. »Mein Weib fuhr nach Moskau mit der Mutter und kehrt von da zurück mit dem Sohne,« fuhr er fort mit einer Aussprache, so sorgfältig, als müsse er für jedes Wort einen Rubel geben. »Ihr kommt wahrscheinlich von Urlaub?« frug er weiter und wandte sich dann, ohne eine Antwort abzuwarten, in scherzendem Tone an seine Gattin: »Wurden denn viel Thränen vergossen in Moskau beim Abschied?«

Mit dieser Bemerkung an Anna gab er Wronskiy zu verstehen, daß er nunmehr allein zu sein wünsche und berührte daher, sich nach diesem umwendend, seinen Hut, allein Wronskiy wandte sich an Anna Arkadjewna:

»Ich hoffe die Ehre haben zu können, Ihnen meine Aufwartung zu machen?«

Aleksey Aleksandrowitsch schaute mit blöden Blicken auf Wronskiy.

»Sehr angenehm,« versetzte er kühl, »wir empfangen Montags.« Er überließ hierauf Wronskiy ganz sich selbst und sagte zu seinem Weibe scherzend: »Wie gut doch, daß ich noch eine halbe Stunde freie Zeit hatte, um dich abholen zu können und dir damit meine Zärtlichkeit zu erweisen.«

»Du hebst deine Zärtlichkeit zu sehr hervor, als daß ich sie sehr hoch schätzen dürfte,« antwortete sie in dem nämlichen scherzhaften Tone, wider Willen dem Geräusch der Schritte des hinter ihnen herschreitenden Wronskiy lauschend.

»Aber was geht mich die Sache an?« dachte sie bei sich und begann hierauf ihren Gatten zu fragen, wie in ihrer Abwesenheit sich der kleine Sergey befunden habe.

»Ausgezeichnet! Mariette sagt, er sei sehr lieb gewesen, aber – ich muß dich leider ein wenig verstimmen – habe sich wenig nach dir gesehnt; lange nicht so viel, wie dein Mann. Indessen nochmals merci, liebste Frau, daß du mir einen Tag mehr geschenkt hast. Unser gemütlicher Samowar wird in Entzücken geraten.« »Samowar« hieß bei ihm die berühmte Gräfin Liddy Iwanowna, deshalb, weil sie stets und über alles in Aufregung und Hitze zu geraten pflegte. »Sie hat nach dir gefragt. Weißt du, wenn ich dir raten dürfte, so schlüge ich vor, du führest jetzt zu ihr. Ihr Herz ist ja über alles gleich in Aufregung und jetzt beschäftigt sie sich, ganz abgesehen von sämtlichen anderen Sorgen, die sie noch hat, mit der Versöhnungsangelegenheit der Oblonskiy.«

Die Gräfin Lydia Iwanowna war eine Freundin Aleksey Aleksandrowitschs, und bildete den Mittelpunkt eines der Kreise des petersburgischen Lebens, mit welchem Anna von ihrem Manne aus in engstem Verkehr stand.

»Ich habe ihr aber doch bereits geschrieben?«

»Sie muß alles aufs Ausführlichste wissen. Fahre hin, wenn du nicht allzu angegriffen bist, Liebe. Konrad wird dir einen Wagen geben; ich muß jetzt ins Komitee. Nun werde ich doch nicht mehr allein zu Mittag speisen,« fuhr Aleksey Aleksandrowitsch, jetzt nicht mehr in scherzhaftem Tone, fort, »du glaubst nicht, wie sehr ich gewohnt bin« –

Er drückte ihr lange Zeit die Hand mit einem eigentümlichen Lächeln auf den Zügen und war ihr beim Einsteigen behilflich.

32.

Der Erste, welcher Anna daheim entgegenkam, war ihr Sohn. Er sprang ihr die Treppe herunter entgegen, ungeachtet des Schreiens der Gouvernante und rief in maßlosem Entzücken: »Mama, Mama!« Als er sie erreicht hatte, hängte er sich an ihren Hals.

»Ich habe Euch gesagt, daß meine Mama kommt!« rief er der Gouvernante zu, »ich habe es ja gewußt!« –

Der Sohn sowohl, wie der Vater, erweckte in Anna ein Gefühl, ähnlich dem der Ernüchterung. Sie hatte ihn für hübscher gehalten, als er wirklich war, und sie mußte sich dieser Wirklichkeit fügen, wenn sie an ihm, so wie er war, ihre Freude haben sollte.

Aber auch so wie er war, war er reizend mit seinen blonden Locken, blauen Augen und vollen wohlgebauten Beinchen in den straffgezogenen Strümpfen. Anna empfand eine fast physische Befriedigung in der Empfindung seiner Gegenwart und seiner Liebkosungen, und eine sittliche Beruhigung, wenn sein naiver, treuherziger und liebevoller Blick sie traf, seine kindlichen Fragen in ihr Ohr drangen.

Sie spendete ihm die Geschenke, die die Kinder Dollys sandten und erzählte ihrem Söhnchen, was für ein hübsches Mädchen die Tanja in Moskau sei und wie diese Tanja schon zu lesen verstehe, ja, ihre anderen Geschwister darin bereits unterrichte.

»Wie, also bin ich schlechter als sie?«, frug der kleine Sergey.

»Für mich bist du besser als alles in der Welt.«

»Ich weiß schon, Mama,« lächelte Sergey.

Anna hatte ihren Kaffee noch nicht ganz genommen, als man ihr die Gräfin Lydia Iwanowna meldete.

Die Gräfin Lydia Iwanowna war eine hochgewachsene volle Dame mit gelblicher, ungesunder Gesichtsfarbe und schönen sinnigen, schwarzen Augen.

Anna liebte sie, aber heute war es ihr, als erblicke sie die Freundin zum erstenmale mit allen ihren Mängeln.

»Nun, liebste Freundin, habt Ihr den Ölzweig nach Moskau getragen?«, frug die Gräfin, kaum nachdem sie das Zimmer betreten hatte.

»Ei gewiß; es ist alles geschehen, aber die ganze Sache war doch nicht von solcher Bedeutung, wie wir glaubten,« antwortete Anna. »Im allgemeinen fand ich meine belle soeur nur zu sehr gefaßt.«

Die Gräfin Lydia Iwanowna, welche sich für alles das am meisten interessierte, was sie nichts anging, hatte indessen nichtsdestoweniger die Gewohnheit, niemals das zu Ende zu hören, was sie eben interessierte; sie unterbrach daher Anna:

»Ja, es giebt viel Herzeleid und Sünde in der Welt; auch ich bin heute ganz angegriffen.«

»Was ist Euch?«, frug Anna, mit Mühe ein Lächeln unterdrückend.

»Ich fange jetzt an, es zum Überdruß zu bekommen, so vergeblich Lanzen für die Wahrheit zu brechen, und manchmal bin ich ganz aufgerieben. Jene Schwesterfrage,« dieselbe betraf einen philanthropischen, religiös-patriotischen Bund, »wäre so ersprießlich zur Entwicklung gelangt, aber mit diesen Herren ist nichts anzufangen,« fügte die Gräfin mit ironischer Ergebung in ihr Geschick hinzu. »Sie bemächtigten sich der Idee, aber sie verunstalteten dieselbe nur und verurteilen sie jetzt in der oberflächlichsten und geringschätzigsten Weise. Zwei oder drei Herren an der Zahl, darunter Euer Gatte, verstehen ja wohl die ganze Bedeutung der Idee, die anderen aber vernachlässigen sie nur. Gestern schrieb nur Prawdin« –

Prawdin war ein bekannter Panslawist im Auslande, und die Gräfin erzählte jetzt den Inhalt seines Schreibens.

Die Gräfin Lydia Iwanowna berichtete hierauf noch von den Unannehmlichkeiten und Intriguen gegen den Plan der Vereinigung der Kirchen, und fuhr dann wieder hinweg, in voller Geschäftigkeit, da sie noch heute der Sitzung einer anderen Gesellschaft und dem Slawischen Komitee beiwohnen müsse.

»Sie hatte alle diese Eigenschaften doch schon früher, warum habe ich sie früher nicht bemerkt?« sagte sich Anna.

Es war in der That lächerlich mit jener Gräfin. Ihr Streben war Tugendflege, sie war christlich gesinnt, und doch lag sie stets in Hader, stets hatte sie ihre Feinde und stets waren diese ihre Feinde wegen des Christentums und der Tugend.

Nach der Gräfin Lydia Iwanowna kam Annas Freundin, die Gattin eines Direktors, und erzählte ihr alle Neuigkeiten aus der Stadt. Um drei Uhr fuhr dieselbe weg unter dem Versprechen, zum Souper wieder da sein zu wollen. Aleksej Aleksandrowitsch befand sich im Ministerium.

Allein geblieben, verwendete Anna die Zeit bis zum Abend darauf, dem Abendessen des Söhnchens – welches gesondert zu essen pflegte – beizuwohnen, ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, und Briefe zu lesen und zu beantworten die sich auf dem Tische gehäuft hatten.

Die Empfindung einer unerklärlichen Schmach, die sie auf der Heimreise gehabt hatte und ihre innere Erregtheit, waren vollständig geschwunden. In ihren gewohnten Lebensverhältnissen hatte sie sich bald wieder gefaßt und gerechtfertigt gefunden, und mit Verwunderung gedachte sie jetzt ihres gestrigen Zustandes.

»Was war geschehen? Nichts! Wronskiy hatte Dummheiten geschwatzt, welchen man leicht ein Ziel setzen konnte und ich habe ihm so geantwortet, wie es am Platze war. Meinen Gatten brauche ich davon nichts zu sagen – ich kann es nicht einmal; denn davon sprechen hieße der Sache eine Wichtigkeit beimessen, welche sie gar nicht besitzt.«

Sie dachte daran, wie sie einst ihrem Manne erzählt hatte von dem Liebesgeständnis, welches ihr von einem jungen Untergebenen desselben beinahe gemacht worden war, und wie ihr Gatte Aleksey Aleksandrowitsch ihr darauf geantwortet hatte, daß jede Frau, die in der großen Welt lebe, dem ausgesetzt sei, er aber ihrem Takte vollständig vertraue und sich selbst nie gestatten würde, sie oder sich selbst bis zur Eifersucht zu erniedrigen.

»Also würde einfach nichts darüber zu sprechen sein? Nein, Gott sei gedankt, ich werde ihm nichts erzählen,« sagte sie zu sich selbst.

26.

Am anderen Morgen verließ Konstantin Lewin Moskau, am Abend des nämlichen Tages langte er zu Hause an.

Unterwegs, im Waggon, unterhielt er sich mit den Mitreisenden über Politik, über die neuen Eisenbahnen, aber wie in Moskau, so übermannte ihn auch hier eine Verworrenheit im klaren Denken, eine Unzufriedenheit mit sich selbst, ein Schamgefühl vor einem unbestimmten Etwas.

Als er indessen auf seiner Ankunftsstation ausgestiegen war und seinen alten krummen Kutscher Ignaz mit dem aufgeschlagenen Kaftankragen gewahrte, als er in dem matten Lichtschein, der durch die Fenster des Stationsgebäudes fiel, seinen mit Teppichen bedeckten Schlitten sah, seine Pferde mit den gestutzten Schweifen in dem Geschirr mit Ringen und Fransen, als ihm sein Kutscher beim Zurechtsetzen im Schlitten schon die Dorfneuigkeiten mitzuteilen begann, von der Ankunft eines Aufkäufers und davon, daß die Kuh Pawa gekalbt habe – da empfand er, daß sich seine Verworrenheit etwas aufklärte, daß das Schamgefühl und die innere Unzufriedenheit mit sich selbst wichen.

Schon beim Anblick seines Ignaz und seiner Pferde fühlte er dies, als er aber erst den ihm gereichten Schafpelz umgethan hatte und sich in denselben eingehüllt zurechtsetzte und abfuhr, sich überlegend, welche Geschäfte jetzt der Erledigung durch ihn im Dorfe harrten, und als er nach seinem donischen Beipferd schaute, welches früher sein Reitpferd gewesen war, ein braves Tier, das aber Schaden gelitten hatte, – da fing er an, ganz anders über das zu denken, was ihm zugestoßen war.

Er fühlte sich jetzt wieder als er selbst und wollte kein anderer mehr sein. Nur besser wollte er jetzt sein, als er es vordem gewesen.

Von heute ab hatte er sich zunächst dahin entschlossen, daß er nicht mehr hoffen müsse auf ein außergewöhnliches Lebensglück, wie es ihm eine Verheiratung hätte bieten können; infolge dessen aber dürfe er doch die lebendige Gegenwart nicht mehr übersehen.

Dann gelobte er sich selbst, daß niemals wieder eine böse Leidenschaft ihn hinreißen solle, von deren Rückerinnerung er so hart gequält wurde, als er den Entschluß faßte, den Antrag zu wagen.

In der Erinnerung an seinen Bruder Nikolay gelobte er sich ferner, daß er seiner nie vergessen wolle, für ihn sorgen müsse und ihn nicht aus den Augen lassen dürfe, um stets zu seiner Unterstützung bereit sein zu können, wenn es schlecht mit ihm ginge. Und daß es bald so kommen werde, das fühlte er. Auch das Gespräch des Bruders über den Kommunismus, dem gegenüber er sich so wenig interessiert verhalten hatte, veranlaßte ihn jetzt zum Nachdenken.

Eine Änderung der volkswirtschaftlichen Grundlagen hielt er für unsinnig, aber er hatte stets die Ungerechtigkeit empfunden, die in seinem Überfluß lag, verglichen mit der Armut des Volkes und jetzt beschloß er bei sich, daß er um sich als ganz gerecht zu fühlen, von jetzt ab – obwohl er auch früher schon viel gearbeitet und sehr mäßig gelebt hatte, – noch fleißiger arbeiten und sich noch weniger Luxus gestatten wolle.

Alles dies erschien ihm so leicht ausführbar, daß er den ganzen Heimweg in den angenehmsten Träumereien zurücklegte. Mit dem ermutigenden Gefühl der Hoffnung auf ein neues, ein besseres Leben fuhr er abends in der neunten Stunde vor seinem Hause vor.

Aus den Fenstern des Stäbchens der Agathe Michailowna, seiner greisen Amme, die in diesem Hause das Amt einer Wirtschafterin versah, fiel ein Lichtschein auf den Schnee, der auf dem Platze vor dem Haust lag. Sie war noch nicht zur Ruhe gegangen.

Kusma, von ihr geweckt, kam verschlafen und barfüßig herbeigelaufen zur Freitreppe heraus.

Der Hühnerhund Laska, der den Kusma beinahe über den Haufen gerannt hätte, sprang gleichfalls herbei und heulte, rieb sich an seinen Knieen, erhob sich und wollte, ohne es zu wagen, die Vorderpfoten auf die Brust des Herrn setzen.

»Ihr kommt schon zeitig, Batjuschka,« sagte Agathe Michailowna.

»Es war zu langweilig, Agathe. Auf Besuch sein ist ganz hübsch, aber daheim ist es noch besser,« antwortete er ihr und begab sich in sein Kabinett.

Dasselbe wurde nicht zu schnell durch eine herbeigebrachte Kerze erleuchtet und zeigte nun die bekannten Insignien: Hirschgeweihe, Bücherbretter, einen Spiegel, einen Ofen mit Rauchfang, der längst einmal hätte ausgebessert werden müssen, das Sofa, noch von den Eltern her, einen großen Tisch, auf diesem ein geöffnetes Buch, einen zerbrochenen Aschenbecher und ein Heft mit seiner Handschrift.

Als er dies alles erblickte, überkam ihn auf eine Minute ein Zweifel an der Möglichkeit, sich ein neues Leben einzurichten so wie er von ihm auf dem Heimweg geträumt hatte. Alle diese Zeugen seines bisherigen Lebens schienen ihn zu umklammern und ihm zuzurufen »nein, du wirst uns nicht entrinnen, du wirst kein anderer werden; nur ein solcher bleiben, der du warst, umfangen von den Zweifeln, der ewigen Unzufriedenheit mit dir selbst, den vergeblichen Versuchen zu deiner Besserung, den alten Fehltritten und dem steten Wunsche nach Lebensglück, das dir nicht geboten ward und für dich niemals möglich ist!«

Aber dies sprachen nur die alten Sachen um ihn her; in seiner Seele sprach eine andere Stimme, daß es nicht nötig sei, ein Sklave der Vergangenheit zu bleiben und daß es möglich sein werde, zu werden wie er sein wolle. Als er diese Stimme vernahm, schritt er in die Ecke des Gemachs, woselbst zwei Gewichte von je fünfzig Pfund Schwere lagen, und begann gymnastische Übungen mit ihnen, um sich in eine energischere Stimmung zu versetzen.

Draußen vor der Thür erklangen schlürfende Schritte; eiligst setzte er die Gewichte beiseite.

Der Verwalter trat ein und meldete, daß alles Gott sei Dank gut gegangen sei, berichtete indessen auch, daß der Buchweizen auf der neuen Darre von unten angebrannt wäre.

Diese Nachricht erregte Lewin. Die neue Darre war zum Teil von Lewin selbst erfunden und konstruiert, der Verwalter war stets gegen diese Darre gewesen und er meldete jetzt mit einer gewissen versteckten Genugthuung, daß der Buchweizen angebrannt sei.

Lewin war der festen Überzeugung, daß man, wenn dies geschehen war, lediglich nicht diejenigen Maßnahmen getroffen, welche er zum hundertstenmale wohl angeordnet hatte. Er empfand Verdruß und machte seinem Verwalter Vorwürfe. Dann aber gab es auch ein wichtiges und erfreuliches Ereignis: Pawa, die beste, teuerste Kuh, – sie war auf einer Ausstellung gekauft worden – hatte gekalbt.

»Kusma, gieb mir den Pelz. Bitte, laßt eine Laterne nehmen.« wandte er sich an den Verwalter, »ich will gehen, um nachzusehen.«

Der Stall für die wertvollen Kühe befand sich gleich hinter dem Wohnhause. Nachdem er über den Hof an dem Schneehaufen bei der Salzpfanne vorübergeschritten war, betrat er den Stall.

Ein warmer Düngergeruch quoll ihm entgegen, als er die angefrorene Thüre aufriß, und die Kühe, verwundert über den ungewohnten Schein der Laterne, raschelten auf dem frischen Stroh.

Hier dämmerte ein glatter, schwarzgefleckter breiter Rücken einer holländischen Kuh hervor, dort lag ein mächtiger Zuchtstier, und wollte aufstehen, besann sich aber eines anderen und schnob nur ein paarmal wütend, als man an ihm vorüberschritt.

Pawa, die Schönheit unter den Prachtexemplaren, groß wie ein Nilpferd, hatte sich, vor den Eintretenden ihr Kalb sichernd, mit dem Hinterteil gedreht, und beschnob es jetzt.

Lewin näherte sich, beschaute die Pawa und hob das rotgefleckte junge Kalb auf die schwachen langen Beine. Erzürnt brummte die alte Kuh auf, beruhigte sich aber, als Lewin ihr das Kalb wieder zuschob; laut schnaufend begann sie dasselbe mit rauher Zunge zu lecken. Das Kalb suchte mit der Schnauze tastend das Euter der Mutter und ringelte den Schwanz.

»Leuchte hierher, Theodor, hierher mit der Laterne,« sagte Lewin, das Kalb betrachtend. »Nach der Mutter! Es ist gleich, daß das Junge in der Farbe nach dem Vater geraten ist. Das Kalb ist hübsch, nicht so, Wasiliy Fjodorowitsch?« er wandte sich mit diesen Worten an seinen Verwalter, jetzt völlig versöhnlich gestimmt gegen denselben bezüglich des Buchweizens unter dem Einfluß des freudigen Ereignisses der Geburt des Kalbes.

»Wie sollte es sich auch schlecht befinden können? Übrigens ist der Aufkäufer Semjon seit dem Tage nach Eurer Abreise hier: man wird mit ihm unterhandeln müssen, Konstantin Dmitritsch,« sagte der Verwalter. »Über die Maschine habe ich Euch schon Meldung gemacht.«

Diese einzige Mitteilung versetzte Lewin wieder in alle Einzelheiten des Gutslebens hinein, welches so groß und so verwickelt war, und so begab er sich sogleich aus dem Kuhstall nach dem Kontor, sprach hier mit dem Inspektor und dem Aufkäufer Semjon, und schritt dann nach dem Wohnhause woselbst er sich geradenwegs in das Gastzimmer hinaufbegab.

27.

Das Haus war groß und altertümlich und Lewin, obwohl er es allein bewohnte, heizte das ganze Gebäude und hatte alle Räume desselben in Gebrauch. Er wußte, daß dies nicht eben klug war; er wußte, daß es sogar von üblen Folgen und seinen jetzigen neuen Plänen zuwiderlaufe, aber dieses Haus war für ihn die ganze Welt.

Es war die Welt in welcher seine Eltern gelebt hatten und gestorben waren. Sie hatten das nämliche Leben geführt, wie es Lewin als Ideal der höchsten Vollkommenheit erschien und welches er gewähnt hatte mit einer Gattin, mit einer Familie weiterführen zu können.

Lewin hatte seine Mutter kaum gekannt. Der Begriff Mutter war für ihn nur noch ein geheiligter Gedanke, und eine künftige Gattin mußte in seiner Vorstellungskraft nur die Wiederholung jenes reizvollen geheiligten Ideals von Weib sein, als das ihm die Mutter galt.

Die Liebe zu einem Weibe vermochte er sich ohne Ehe nicht nur nicht vorzustellen, er stellte sie sich vielmehr sogar nur als Familie vor. Seine Begriffe von Heirat waren daher den Auffassungen der Mehrzahl seiner Bekannten unähnlich, für welche dieselbe nur eines jener zahlreichen Geschäfte des Lebens im allgemeinen bildete.

Für ihn war sie die Hauptthat des Daseins, von welcher sein ganzes künftiges Glück abhing. Jetzt aber sollte er einem solchen entsagen.

Als er in den kleinen Salon getreten war, wo er den Thee zu trinken pflegte und sich in seinen Lehnstuhl mit einem Buch niedergelassen hatte, während Agathe Michailowna ihm den Thee brachte, und sich mit ihrem gewohnten »darf ich mich setzen, Batjuschka,« auf den Stuhl am Fenster setzte, da fühlte er, daß er, so seltsam dies auch sein mochte, von seinen Gedanken sich nicht trennen, daß er ohne sie nicht leben konnte.

Ob mit ihr oder mit einer anderen, aber – es mußte sein! Er las in seinem Buche, er dachte nach über das, was er gelesen hatte, und hörte dann damit auf, um den Worten Agathes zu lauschen, welche in einem fort schwatzte, während sich ihm gleichwohl dabei bunte Bilder aus dem Gutsleben und aus einem zukünftigen Familienleben zusammenhangslos vor das geistige Auge drängten. Er fühlte, daß auf dem Grund seiner Seele Etwas ruhte, was noch gefesselt lag.

Er hörte die Erzählung Agathe Michailownas an, wie Prochor Gott vergessen habe und das Geld, welches ihm Lewin gegeben hatte, daß er dafür ein Pferd kaufe, in Saus und Braus verjubelt und obenein sein Weib halbtot geprügelt hätte; er horte und las dabei in seinem Buche und überdachte den Gang seiner Gedanken, die durch die Lektüre angeregt worden waren.

Es war das Buch von Tyndall über die Wärme. Er erinnerte sich seiner absprechenden Urteile über Tyndall wegen dessen Selbstbewußtsein in der Gewandtheit der Ausführung von Experimenten und darüber, daß Tyndall der philosophische Blick nicht zureiche.

Dann aber fiel ihm plötzlich wieder der erfreuliche Gedanke bei, daß nach Verlauf von zwei Jahren in seinem Stalle wohl zwei holländische Rinder stehen würden und daß da auch noch die Pawa lebendig sein könnte und zwölf andere junge Töchter des großen Zuchtstiers da sein müßten, die ihrerseits wieder mit jenen dreien sich kreuzen konnten.

Er blickte wieder in sein Buch.

»Nun gut; Elektrizität und Wärme sind ein und dasselbe, aber ist es denn möglich zur Entscheidung der Frage eine Größe für die andere einsetzen zu können? Nein! Was folgt nun hieraus? Es existiert ein gemeinsames Band unter allen Naturkräften und dieses wird vom Instinkt empfunden. – Es wird übrigens ganz reizend werden wenn das Kälbchen der Pawa erst eine buntgescheckte Kuh sein wird und ich meine ganze Herde mit jenen drei mischen kann.«

Ausgezeichnet!

Wenn man dann so mit der Frau zusammen hinausgeht und den Gästen die uns besuchen, eine solche Herde vorstellen kann. Dann sagt wohl die Hausfrau, »wir haben dieses Kälbchen hier, ich und mein Kostja, zusammen wie ein Kind auferzogen.«

»Wie kann Euch ein Kalb so sehr interessieren?« würde der Gast sagen. .

»Nun, alles was meinen Gatten interessiert, interessiert mich,« wäre dann die Antwort.

Aber wer soll diese Hausfrau sein?

Er dachte wieder an das, was in Moskau geschehen war.

»Was thun jetzt? Ich habe nichts verschuldet.«

»Jetzt aber soll alles nach neuer Art und Weise gehen. Es ist schlecht eingerichtet, daß das Leben selbst nicht das giebt, was die Vergangenheit nicht gab. Man muß eben ringen, um ein besseres, ein bei weitem besseres Leben führen zu können.«

Er hob den Kopf und dachte nach.

Die alte Laska, der Hühnerhund, welcher seine Freude über die Heimkunft des Herrn immer noch nicht ganz zu mäßigen vermocht hatte und hinausgelaufen war, um auf dem Hofe zu bellen, kehrte jetzt wieder zurück, mit dem Schweife wedelnd; er brachte den Geruch der frischen Luft mit herein, lief zu dem Gebieter, steckte den Kopf unter dessen Arm und winselte kläglich und bittend, daß er ihn liebkose.

»Es fehlt nur, daß er noch spräche,« sagte Agathe Michailowna. »Nur ein Hund, versteht er doch wohl, daß der Hausherr angekommen ist und er hat sich auch genug gelangweilt.«

»Weshalb?«

»Sehe ich etwa nicht, Batjuschka? Es wäre jetzt doch Wohl Zeit für mich geworden, daß ich meine Herrschaft kenne; ich bin ja von klein auf unter ihr emporgewachsen. Nein, nein, Batjuschka; nur ein gesundes Herz in gesundem Leib!«

Lewin blickte die Alte starr an; er verwunderte sich darüber, wie sie seine Gedanken erraten konnte.

»Soll ich noch Thee bringen?« frug Agathe Michailowna, die Tasse ergreifend, und ging hinaus.

Der Hund schob immer wieder den Kopf unter seinen Arm. Er streichelte denselben und das Tier legte sich dann zu seinen Füßen nieder, indem es sich zusammenringelte und den Kopf auf die vorgestreckte Hinterpfote legte. Zum Zeichen, daß jetzt alles gut und in Ordnung sei, sperrte Laska das Maul auf, schnalzte mit den Lippen, legte sie bequemer um die alten schleimigen Zähne und verstummte dann in behaglicher Ruhe. Lewin folgte aufmerksam diesen letzten Bewegungen des Tieres.

»Gerade so wie ich,« sagte er zu sich selbst, »ganz so wie ich. Mag’s gut sein.«

28.

Nach dem Balle früh morgens sandte Anna Karenina ihrem Gatten ein Telegramm betreffs ihrer Abreise von Moskau noch am nämlichen Tage.

»Nein, nein, ich muß, muß unbedingt reisen,« erklärte sie ihrer Schwägerin, dieser die Änderung ihres Entschlusses in einem Tone mitteilend, als habe sie sich erinnert, daß es eine solche Unmasse von Geschäften wie man sich gar nicht denken könne, gäbe. »Nein, nein, es ist am besten, ich fahre jetzt!«

Stefan Arkadjewitsch speiste heute nicht daheim, versprach aber, die Schwester um sieben Uhr abzuholen, um sie nach dem Bahnhof zu begleiten.

Kity war gleichfalls nicht gekommen, hatte aber eine Mitteilung geschrieben, sie habe Kopfschmerzen.

Dolly und Anna speisten also allein mit den Kindern und der Engländerin. Mochten nun die Kinder unbeständig oder feinfühlig sein, und empfinden, daß Anna an diesem Tage gar nicht so war, wie an jenem, als man sie so allgemein liebgewonnen hatte, daß sie sich gar nicht mehr mit ihnen befaßte, genug, diese brachen vielmehr plötzlich ihr Spiel mit der Tante ab und schienen nicht mehr die alte Liebe zu ihr zu empfinden; es kümmerte sie auch ganz und gar nicht, daß dieselbe heute fortreiste.

Anna war den ganzen Vormittag über mit den Vorbereitungen zur Abreise beschäftigt. Sie schrieb Briefe an ihre Moskauer Bekannten, schrieb ihre Rechnungen und packte.

Im allgemeinen schien es Dolly, als ob Anna sich nicht bei ruhiger Stimmung befinde, sondern in jener sorgenvollen Aufgeregtheit, welche Dolly selbst an sich recht wohl kennen gelernt hatte, und die nicht ohne Ursache sich einfindet und meistenteils eine Unzufriedenheit mit sich selbst verdeckt.

Nach dem Essen begab sich Anna nach ihrem Zimmer, um sich anzukleiden, und Dolly folgte ihr dahin.

»Wie bist du doch heute so seltsam?« sagte sie zu Anna.

»Ich? Findest du das? Ich bin nicht seltsam, aber ich bin nicht wohl. Das pflegt öfters bei mir der Fall zu sein, und ich möchte dann immer weinen. Man kann dies eine Thorheit nennen, doch es geht schon noch vorüber,« sagte Anna schnell und beugte das errötende Gesicht nach dem Reisesack, in den sie ihr Nachthäubchen und ihre Battisttaschentücher packte.

Ihr Auge zeigte einen absonderlichen Glanz und wurde beständig von Thränen umflort.

»Erst wollte ich nicht von Petersburg fort und jetzt möchte ich nicht von hier hinweg.«

»Du bist hierher gekommen und hast ein gutes Werk gestiftet,« sagte Dolly, sie aufmerksam betrachtend.

Anna blickte mit thränenfeuchten Blicken auf Dolly.

»Sage das nicht,« sagte sie, »ich habe nichts gethan und konnte auch nichts thun. Ich wundere mich nur oft, weshalb die Leute sich verschworen zu haben scheinen, mich zu verderben. Was habe ich gethan, was konnte ich thun? In deinem Herzen selbst fand sich so viel Liebe, daß du verzeihen mußtest und konntest.«

»Wer weiß, ob es ohne dich der Fall gewesen wäre. Wie glücklich bist du, Anna,« sagte Dolly. »In deiner Seele ist alles klar und gut.«

»Ein jeder hat in sich sein skeleton, wie der Engländer sagt.«

»Und was hast du für ein skeleton in dir? Bei dir ist doch alles so klar.«

»Ja wohl!« antwortete Anna schnell und unvermutet nach den Thränen erschien ein schlaues, spöttisches Lächeln auf ihren Lippen.

»Nun, also ist es lächerlich, dein skeleton, und nicht traurig,« sagte Dolly lächelnd.

»Nein, traurig. Du weißt, warum ich jetzt abreise und nicht erst morgen? Ein Geständnis, welches mich bedrückt, will ich dir ablegen,« fuhr Anna fort, voll Entschiedenheit sich in einem Lehnstuhl zurückwerfend und Dolly gerade in die Augen blickend.

Zu ihrer Verwunderung bemerkte Dolly, daß Anna bis an die Ohren, bis zu den sich ringelnden schwarzen Löckchen auf dem Nacken errötete.

»Ja,« fuhr diese fort, »du weißt, weshalb Kity gestern nicht zum Essen hierher gekommen ist? Sie ist eifersüchtig auf mich. Ich soll sie vernichtet haben; ich war die Ursache davon, daß ihr jener Ball zu einer Tortur geworden ist, nicht aber zur Lust gereicht hat. Aber, wahrhaftig, ich bin nicht schuldig, oder doch wenigstens nur wenig schuld daran,« sagte sie, mit ihrer seinen Stimme das Wort »nur wenig« hervorhebend.

»O, das hast du ganz ähnlich gesagt wie mein Stefan es that,« lachte Dolly.

Anna fühlte sich verletzt.

»Nein, nein! Ich bin nicht Stefan,« sagte sie sich verfinsternd. »Ich sage es nur deswegen dir, damit ich auch nicht für eine Minute nur mir erlauben möge, an mir selbst irre zu werden,« sagte Anna.

Aber in demselben Augenblick, da sie diese Worte sagte, fühlte sie, daß dieselben unwahr seien; sie zweifelte nicht nur an sich selbst, sie empfand vielmehr eine Erregung bei dem Gedanken an Wronskiy und sie fuhr früher ab, als sie gewollt hatte, nur zu dem Zwecke, ihm nicht mehr zu begegnen.

»Ja, Stefan hat mir gesagt, daß du mit ihm die Mazurka getanzt hast, und daß er« –

»Du wirst dir nicht vorstellen können, wie wunderlich dies zuging. Ich gedachte nur, die Freiwerberin zu spielen, und plötzlich war die Sache ganz anders geworden. Möglich ist es ja, daß ich wider Willen« –

Sie wurde wiederum rot und hielt inne.

»Und man hat dies sofort empfunden,« ergänzte Dolly.

»Ich würde jedenfalls in Verzweiflung geraten, wenn von seiner Seite irgend etwas ernst aufgefaßt würde,« unterbrach sie Anna, »und ich bin überzeugt, daß alles dies vergessen werden wird und Kity dann aufhört, mich zu hassen?«

»Aufrichtig übrigens gestanden, Anna,« sagte Dolly, »wünsche ich nicht diesen Ehebund für Kity. Es wäre viel besser, wenn er nicht zustande käme, da Wronskiy sich an einem einzigen Tage in dich verlieben konnte.«

»Mein Gott, das wäre doch so thöricht!« rief Anna Karenina, und von neuem stieg die tiefe Röte der inneren Freude in ihr Gesicht. Da hörte sie den Gedanken, der sie so sehr beschäftigte, in Worten ausgesprochen; »so werde ich also reisen, nachdem ich mich der Kity zum Feinde gemacht habe, die ich doch so sehr lieb gewonnen. O wie liebenswert sie doch ist! Aber willst du mich wieder mit ihr aussöhnen, Dolly, ja?«

Dolly vermochte nur schwer ein Lächeln zu unterdrücken. Sie liebte Anna, aber es gewährte ihr Vergnügen zu sehen, daß auch diese eine Schwäche habe.

»Zum Feinde? Das kann doch nicht sein.«

»Ich hätte es so sehr gewünscht, daß Ihr alle mich lieben möchtet, wie ich Euch liebe; jetzt aber habe ich Euch noch lieber gewonnen,« fuhr Anna fort mit Thränen in den Augen; »o, wie thöricht bin ich heute doch.«

Sie fuhr mit dem Taschentuch über das Gesicht und begann, sich anzukleiden.

Kurz vor der Abfahrt kam, ziemlich verspätet, Stefan Arkadjewitsch an, mit gerötetem, lustigem Gesicht und einen Duft von Wein und Cigarre um sich verbreitend.

Die Empfindsamkeit Annas begann sich jetzt auch Dolly mitzuteilen, und als diese zum letztenmal die Schwägerin umarmte, flüsterte ihr Dolly zu: »Bleibe eingedenk dessen, Anna, was du für mich gethan hast – ich werde es niemals vergessen. Und denke daran, daß ich dich geliebt habe und stets lieben werde als meinen besten Freund.«

»Ich verstehe nicht, wofür,« versetzte Anna und küßte Dolly, ihre Thränen verbergend.

»Du hast mich verstanden und verstehst mich überhaupt. Leb wohl mein Herz!«

29.

»Nun ist alles vorbei, Gott sei gedankt!« das war der erste Gedanke, der Anna Arkadjewna kam, nachdem sie sich zum letztenmal von ihrem Bruder verabschiedet hatte, der bis zum dritten Läuten mit seiner Person den Zutritt zum Waggon versperrt hatte.

Sie saß auf ihrem Sammetpolster und schaute in dem Zwielicht des Schlafwaggons um sich.

»Gott sei gedankt; morgen sehe ich meinen kleinen Sergey und Aleksey Aleksandrowitsch wieder; dann kommt wieder mein altes, liebes gewohntes Dasein.«

Noch immer in dem nämlichen Zustande der Aufgeregtheit befindlich, welcher sie den ganzen Tag hindurch verfolgt hatte, trat Anna mit einem gewissen Gefühl der Freude und Genugthuung die Rückreise an.

Mit ihren kleinen, gewandten Fingern öffnete sie einen roten Reisesack, langte ein Kissen daraus hervor, legte dasselbe über ihre Kniee und setzte sich dann, nachdem sie ihre Füße sorgfältig eingehüllt hatte, zurecht. Eine kranke Dame hatte sich bereits schlafen gelegt, zwei andere Damen unterhielten sich mit Anna und eine dicke Alte umhüllte ihre Beine und ließ Bemerkungen über die Heizung fallen.

Anna antwortete den Damen einige Worte, wandte sich aber dann, in der Voraussicht, daß die Unterhaltung wenig Interesse bieten werde, an ihre Zofe Annuschka mit der Bitte, ihr eine Laterne zu reichen. Sie befestigte dieselbe an der Armlehne des Sitzpolsters und nahm dann aus ihrem Koffer ein Aufschneidemesserchen und einen englischen Roman heraus.

Anfangs las sie nicht: das Gehen und Fahren störte sie; dann aber, nachdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, war es nicht mehr möglich, auf dies Geräusch zu hören, dann kam der Schnee, der zur linken Seite des Wagens an das Fenster schlug und auf dem Glas haften blieb, die Erscheinung des dichtverpackten, draußen vorbeisteigenden Schaffners, der auf einer Seite von Schnee überweht war, und die Gespräche, welch ein entsetzliches Schneegestöber draußen tobe, und dies alles zerstreute ihre Aufmerksamkeit. Im weiteren Fortgang der Fahrt blieb alles ein und dasselbe; das monotone Stoßen und Rütteln, der monotone Schnee am Fenster, der nämliche schnelle Übergang von der Dampfhitze zur Kälte und dann wieder zur Hitze, dasselbe Erscheinen von Männern im Halbdunkel und die nämlichen Stimmen.

Anna begann daher zu lesen und dem Gelesenen mit Aufmerksamkeit zu folgen. Annuschka war schon eingeschlummert; sie hielt den roten Reisesack auf ihren Knieen mit den großen Händen in den Handschuhen fest, von denen der eine zerrissen war.

Anna Karenina las, aber das Lesen machte ihr kein Vergnügen, da sie in ihm ja nur der Wiedergabe des Lebens anderer Menschen folgen konnte.

Sie wollte vor allem ja selbst leben.

Las sie, wie die Heldin des Romans einen Kranken pflegte, so wollte sie mit unhörbaren Schritten durch das Krankenzimmer eilen; las sie davon, wie ein Parlamentsmitglied eine Rede hielt, so wollte auch sie diese Rede halten; las sie, wie Lady Mary zu Pferde ein Hühnervolk verfolgte, ihre Schwägerin neckte und alle mit ihrer Verwegenheit in Erstaunen setzte,, so war ihr als müsse sie selbst das Nämliche thun.

Aber freilich vermochte sie nichts von alledem, und so bewegte sie denn nur mit ihren kleinen Händchen fleißig das Aufschneidemesser, sich eifrig ihrer Lektüre widmend.

Der Held des Romans hatte bereits begonnen, sein Glück nach englischen Begriffen gemacht zu haben, das heißt Baronet und Gutsherr zu werden, und Anna wünschte soeben, ihm auf sein Gut folgen zu können, als sie plötzlich fühlte, daß dies für ihn kompromittierend, und für sie schimpflich gewesen wäre.

»Was wäre für ihn kompromittierend? Was ist für mich schimpflich?« frug sie sich selbst, verwundert und gekränkt.

Sie ließ ihr Buch liegen und warf sich in die Rücklehne ihres Armsessels zurück, das Messerchen zwischen ihren Fingern fest zusammenpressend. Aber etwas Schmachvolles war doch nicht vorhanden.

Sie ließ alle ihre Moskauer Erinnerungen nochmals an sich vorüberziehen; aber sie alle waren nur freundlich und angenehm.

Sie erinnerte sich des Balls, Wronskiys und seines liebevollen umd ergebenen Gesichts, sie vergegenwärtigte sich nochmals alle ihre Beziehungen zu ihm; es war nichts Entehrendes für sie darin.

Und nichtsdestoweniger wurde das Gefühl der Schmach gerade während sie diese Erinnerungen anstellte, stärker und stärker in ihr, gleichsam als ob eine innere Stimme, indem sie an Wronskiy dachte, zu ihr sprach: »Es ist warm; sehr warm, ja heiß!«

»Aber was soll das?« frug sie sich selbst, ihren Sitz im Armsessel verändernd, »was soll das bedeuten; fürchte ich mich etwa, der Situation offen ins Angesicht zu blicken? Was soll das heißen. Können etwa zwischen mir und jenem jungen Offizier andere Beziehungen existieren, und existieren etwa solche, als die, welche unter allen Bekannten bestehen?

Sie lächelte verächtlich und widmete sich von neuem ihrem Buche, konnte aber gleichwohl nicht mehr vollkommen erfassen, was sie las.

Sie fuhr mit dem Papiermesserchen über das Fensterglas und legte dann dessen glatte kalte Oberfläche an ihre Wange, lachte vor Lust fast laut auf, bezwang sich aber plötzlich noch.

Sie empfand, daß ihre Nerven gleichsam wie Saiten, sich straffer und straffer zu spannen schienen, die von Wirbeln angezogen würden. Sie empfand, wie ihre Augen sich weiter und weiter öffneten, wie Finger und Zehen in eine nervöse Bewegung verfielen, ihr Atem erstickt wurde und wie alle Gegenstände und Töne in diesem schlitternden und stoßenden Halbdunkel ihr mit ungewöhnlicher Schärfe ins Auge traten.

Ein Zweifel überkam sie minutenlang, ob der Waggon vorwärts oder rückwärts fuhr oder gar stehe. War Annuschka noch neben ihr oder eine Fremde? War sie es denn selbst noch, oder war sie auch eine andere. Was war das da auf ihrem Arm? Ein Pelz oder ein Tier? Eine Angst überkam sie, sich dieser Verlorenheit hingeben zu müssen, aber es zog sie etwas hinein; doch empfand sie die freie Möglichkeit, sich diesem Zustand hinzugeben oder zu entreißen. Sie erhob sich, um zur klaren Besinnung zu kommen, warf ihr Plaid ab und die Pelerine des warmen Kleides.

Für eine Minute kam sie zur Besinnung und erkannte daß ein soeben eingetretener Mann in einem langen Nankingpaletot, auf welchem Knöpfe fehlten, der Heizer war; derselbe schaute nach dem Thermometer, Sturm und Schnee drangen in das Coupé zur Thür hinter ihm herein, dann verwirrte sich wieder alles um sie herum.

Der Mann mit dem langen Rocke beschäftigte sich jetzt damit, an der Wand zu hantieren, die dicke Alte streckte ihre Beine über die ganze Länge des Waggons und erfüllte denselben mit einer Wolke schwarzen Staubes; dann kreischte es ohrenzerreißend und stieß und pochte, als würde etwas zerrissen; ein rotes Licht blendete die Augen, dann wurde alles von einer Wand verdeckt. Anna fühlte, wie sie zurückfiel; doch war ihr das alles nicht furchterweckend, sondern unterhaltend. Die Stimme des dickverpackten und schneeüberdeckten Schaffners schrie etwas über ihrem Ohr, sie erhob sich und kam zur Besinnung, und jetzt erkannte sie, daß man in eine Station eingefahren war und daß der Mann der Schaffner war.

Sie bat Annuschka ihr die abgelegte Pelerine und das Tuch zu geben, hüllte sich wieder in beides und wandte sich dann nach der Thür.

»Wollt Ihr aussteigen?« frug Annuschka.

»Allerdings, ich muß frische Luft haben; es ist hier sehr heiß!«

Sie öffnete die Thür. Schneegestöber und Sturm tosten ihr entgegen, als sie hinaustrat und schienen sich mit ihr um die Thür zu streuen. Aber das machte ihr offenbar Freude; sie öffnete und stieg aus. Der Sturm schien gleichsam auf sie gewartet zu haben; er heulte lustig auf und wollte sie packen und entführen, aber sie hielt sich mit der Hand an der kalten Eisenstange und stieg, ihr Kleid zusammennehmend, auf den Perron heraus, um sich hinter den Waggon zu begeben. Auf der Perrontreppe ging der Wind stark, auf der Plattform aber hinter dem Wagen war es still.

Mit Wollust atmete sie die kalte Schneeluft in die üppige Brust, und blickte, neben dem Waggon stehend, auf die Plattform und die erleuchtete Station.