XIII.

XIII.

Das Programm. – Feier des Sonntags. – Schneeballwerfen. – Doniphan und Briant. – Strenge Kälte. – Das Brennmaterial. – Ausflug nach den Traps-woods. – Nach der Sloughi-Bai. – Robben und Fettgänse. – Eine öffentliche Züchtigung.

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Vom Mai ab war der Winter endgiltig in der Umgebung der Insel Chairman eingezogen. Welche Dauer würde derselbe haben? Mindestens fünf Monate, wenn die Insel in ebenso hoher Breite wie Neuseeland lag. Gordon traf also alle Vorsichtsmaßregeln, um gegen die schlimmen Zufälligkeiten eines langen Winters geschützt zu sein.

Der junge Amerikaner hatte unter seinen meteorologischen Beobachtungen folgendes verzeichnet: Der Winter hatte erst mit dem Monat Mai angefangen, d.h. zwei Monate vor dem Juli der südlichen Erdhälfte, der dem Januar der nördlichen entspricht. Daraus war zu schließen, daß er zwei Monate nach diesem, also im September zu Ende gehen würde. Doch auch nach dieser Periode hatte man noch mit den Stürmen zu rechnen, welche zur Zeit der Tagundnachtgleiche so häufig sind. Es war ja auch möglich, daß die jungen Colonisten bis zum October auf French-den beschränkt blieben, ohne einen weiteren Ausflug über oder um die Insel Chairman unternehmen zu können.

Um auch für das Leben im Innern der Wohnung eine gewisse Ordnung zu sichern, unterzog sich Gordon der Entwerfung eines Programms für die täglichen Beschäftigungen.

Es versteht sich von selbst, daß die Ausschreitungen des Fuchswesens, von denen wir schon bei der Schilderung der Pension Chairman sprachen, auf der Insel dieses Namens nicht zur Einführung gelangten. Alle Bemühungen Gordon’s zielten nur dahin, die jüngeren Knaben an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie fast Männer wären, um als solche handeln zu lernen. »Füchse« gab es also in French-den nicht, das heißt, die Kleinen sollten nicht verpflichtet sein, die Größeren zu bedienen. Sonst aber beobachtete man alle Überlieferungen, welche nach der Bemerkung des Verfassers vom »Collegienleben in England«, die » vis major (höhere Gewalt) der englischen Schulen« vertreten.

In diesem Programm erschienen der Antheil der Kleinen und der der Großen sehr ungleich. Da die Bibliothek von French-den außer Reisebeschreibungen nur eine geringe Anzahl Bücher enthielt, so konnten die letzteren ihre Studien nur in beschränktem Maße fortsetzen. Die Schwierigkeit ihrer Existenz, der Kampf für Beschaffung der nothwendigsten Bedürfnisse, der Zwang, Urtheil und Erfindungsgabe gegenüber Zufälligkeiten aller Art zu üben, mußte sie freilich lehren, den Ernst des Lebens kennen zu lernen. Da sie nun von Natur zu Erziehern der Kleinen bestimmt schienen, mußten sie das wohl als eine Pflicht betrachten, der sie sich zu fügen hatten.

Weit davon entfernt aber, die Kleinen durch eine Anstrengung zu überlasten, sollte vorzüglich auch darauf Rücksicht genommen werden, mit ihnen körperliche Uebungen ebenso zu treiben, wie für ihre geistige Ausbildung zu sorgen. Wenn die Witterung es erlaubte, sollten diese, vorausgesetzt, daß sie warme Kleider trugen, angehalten werden, sich in der freien Luft zu bewegen und nach Maßgabe ihrer Kräfte selbst mitzuarbeiten.

Alles in Allem wurde dieses Programm nach den in der angelsächsischen Erziehungsmethode geltenden Grundsätzen entworfen, nämlich:

1. Allemal, wenn eine Sache dich erschreckt, thue sie.

2. Versäume niemals die Gelegenheit zu einer für dich irgend zu überwindenden Anstrengung.

3. Verachte keine Mühe, denn das wird nie unnütz sein.

Durch Uebertragung dieser Vorschriften in das praktische Leben, erstarken Leib und Leben gleichmäßig.

Man kam also unter Zustimmung der kleinen Colonie über Folgendes überein:

Zwei Stunden des Vormittags und zwei des Nachmittags sollten allgemeinen Arbeiten in der Halle gewidmet sein. Abwechselnd sollten Briant, Doniphan, Croß und Baxter aus der fünften und Wilcox und Webb aus der vierten Abtheilung des Pensionats ihren Genossen aus der dritten, zweiten und ersten Abtheilung Unterricht ertheilen, und sie mit Mathematik, Erdbeschreibung und Geschichte beschäftigen, wobei einzelne Bücher der Bibliothek, so wie ihre früheren Kenntnisse sie unterstützen sollten. Das bildete für sie mit eine Gelegenheit, nicht zu vergessen, was sie schon wußten. Zweimal in der Woche, nämlich Sonntags und Mittwochs, sollte eine Art allgemeine Versammlung abgehalten, das heißt, ein wissenschaftliches Thema entweder aus der Geschichte oder aus der Jetztzeit frei besprochen werden. Die Großen hatten sich dann dafür oder dagegen um’s Wort zu melden und sollten ebenso zur eigenen Ausbildung wie zur allgemeinen Unterhaltung über den gewählten Gegenstand discutiren.

Gordon, in seiner Eigenschaft als Oberhaupt der Colonie, hatte darüber zu wachen, daß dieses Programm streng eingehalten wurde und nur unter ganz besonderen Umständen eine Abänderung erlitt.

Zuerst wurde eine Maßregel getroffen, welche die Bestimmung der Zeit betraf. Man besaß wohl den Kalender vom »Sloughi«, in diesem aber mußte jeder verflossene Tag allemal gestrichen werden; man hatte auch Uhren vom Schiff her, diese mußten aber regelmäßig aufgezogen werden, um die genaue Zeit zu zeigen.

Zwei der größeren Knaben wurden mit dieser Aufgabe betraut, Wilcox für die Uhren und Baxter für den Kalender; auf die Zuverlässigkeit Beider konnte man gewiß rechnen. Was das Barometer und das Thermometer anging, so fiel Webb die Verpflichtung zu, die täglichen Angaben derselben abzulesen und aufzuzeichnen.

Ein weiterer Beschluß ging dahin, ein Tagebuch über alles zu führen, was sich bisher auf der Insel Chairman zugetragen oder was noch geschehen sollte. Baxter erbot sich zu dieser Arbeit, und Dank seiner pünktlichen Gewissenhaftigkeit wurde das »Journal von French-den« mit großer Genauigkeit geführt.

Eine nicht minder wichtige Angelegenheit, welche auch keinen ferneren Aufschub zuließ, betraf die Reinigung der Leib- und Bettwäsche, wozu es an Seife glücklicher Weise nicht fehlte, und Gott weiß, daß die Kleinen sich trotz aller Ermahnungen Gordon’s doch stets beschmutzten, wenn sie auf der Sport-terrace spielten oder am Ufer des Rio angelten. Wieviel hatten sie hiefür schon Vorwürfe und selbst Strafe bekommen. Das Waschen war nun eine Thätigkeit, auf welche Moko sich aus dem Grunde verstand. Er allein wäre damit freilich nicht fertig geworden, und trotz ihres Widerwillens gegen diese Arbeit mußten die Großen sich entschließen, ihm zu Hilfe zu kommen, um den Wäschebestand von French-den in gutem Zustande zu erhalten.

Der nächste Tag war gerade Sonntag, und man weiß ja, mit welch‘ außerordentlicher Strenge dieser Tag in England und Amerika gefeiert wird. In den Städten, Flecken und Dörfern ist das Leben wie ausgestorben. »An diesem Tage – hat man mit Recht gesagt, ist jede Zerstreuung, jede Belustigung durch die Gewohnheit verboten. Man muß sich nicht allein langweilen, sondern muß auch ein gelangweiltes Aussehen zeigen, und diese Regel gilt für Kinder ebenso streng, wie für Erwachsene!« Die Ueberlieferungen! Immer die berühmten Ueberlieferungen!

Auf der Insel Chairman kam man jedoch dahin überein, nach dieser Seite die Zügel etwas lockerer zu lassen, und an jenem Sonntage gestatteten sich die jungen Colonisten einen Ausflug nach den Gestaden des Family-lake. Da es indessen außergewöhnlich kalt war, freuten sich Alle nach zweistündigem Spaziergange, der mit einem Schnelllaufe, an welchem die Kleinen wenigstens auf der Sport-terrace theilnahmen, geschlossen wurde, nicht wenig, in der Halle eine behagliche Temperatur und im Stoore-room ein warmes Essen vorräthig zu finden, das von dem geschickten Oberkoch von French-den mit besonderer Sorgfalt zubereitet war.

Der Abend endigte mit einem Concert, bei dem die Ziehharmonika Garnett’s die Stelle des Orchesters vertrat, während die Anderen mit echt angelsächsischer Ueberzeugungstreue mehr oder weniger falsch dazu sangen. Der einzige unter diesen Kindern, der eine recht hübsche Stimme besaß, war Jacques; bei seiner unerklärlichen Art des Benehmens aber nahm er an den Zerstreuungen seiner Kameraden keinen Antheil und schlug es trotz wiederholter Bitte ab, bei dieser Gelegenheit eines der reizenden Kinderlieder zum Besten zu geben, mit welchen er in der Pension Chairman stets so freigebig gewesen war.

Dieser Sonntag, der mit einer kurzen Ansprache »Seiner Hochwürden des Herrn Gordon«, wie Service sagte, angefangen wurde, wurde durch ein gemeinschaftliches Gebet beschlossen. Gegen zehn Uhr lag dann Alles in tiefem Schlafe, und nur Phann, auf den man sich ja bezüglich jeder irgend verdächtigen Annäherung verlassen konnte, bewachte die ganze Gesellschaft.

Im Laufe des Juni nahm die Kälte immer mehr zu. Webb bestätigte, daß das Barometer im Mittel über siebenundzwanzig Zoll hoch stand, während das hunderttheilige Thermometer zehn bis zwölf Grad unter dem Gefrierpunkte zeigte. Wenn der meist aus Süden wehende Wind mehr nach Westen umging, erhob sich die Temperatur ein wenig, und die Umgebung von French-den bedeckte sich dann mit tiefem Schnee. Die jugendlichen Ansiedler lieferten sich auch einige Kämpfe mit mehr oder weniger festen Schneeballen, wie das in England Sitte ist, und eines Tages kam dabei gerade Jacques am schlechtesten weg, obwohl er dem übermüthigen Spiele nur als Zuschauer beiwohnte. Ein von Croß recht kräftig geschleuderter Schneeball traf ihn, nach dem er gar nicht gezielt war, ganz empfindlich und entlockte dem Knaben einen lauten Schmerzensschrei.

»Ich habe es nicht mit Absicht gethan, sagte Croß – die gewöhnliche Entschuldigung für alle Ungeschicklichkeiten.

– Gewiß nicht, antwortete Briant, den der Schrei seines Bruders nach dem Schlachtfelde gelockt hatte. Immerhin thust du Unrecht daran, so stark zu werfen.

– Warum stand Jacques auch so nahe, da er ja doch nicht mitspielen wollte? erwiderte Croß.

– Ist das ein Umstand, mischte sich Doniphan ein, und wegen eines ungezogenen Jungen!

– Zugegeben, die Sache hat nicht eben viel zu bedeuten, entgegnete Briant, es wohl empfindend, daß Doniphan nur eine Handhabe suche, sich wieder einmal an ihm zu reiben, ich wollte Croß nur ersuchen, es nicht wieder zu thun.

– Und was ist’s denn so Schlimmes? … fuhr Doniphan höhnisch fort; er hat’s ja nicht einmal mit Absicht gethan …

– Ich weiß nicht, Doniphan, warum Du Dich in eine Sache mengst, welche doch nur Croß und mich angeht …

– Mich geht es ebenso gut an, Briant, da Du einen solchen Ton anschlägst, antwortete Doniphan.

– Wie Du willst … und wann du willst! versetzte Briant, der schon die Arme gekreuzt hatte.

– Auf der Stelle!« rief Doniphan.

Da trat, und recht zur gelegenen Zeit, Gordon noch dazu, um zu verhindern, daß dieser Streit in eine regelrechte Boxerei auslaufe. Er gab übrigens Doniphan Unrecht.

Dieser mußte nachgeben und zog sich grollend nach French-den zurück; es blieb aber immer noch zu fürchten, daß die beiden Rivalen bei der ersten besten Gelegenheit doch aneinander geriethen.

Achtundvierzig Stunden lang hielt der Schneefall unausgesetzt an. Zur Unterhaltung der Kleinen bauten Service und Garnett einen großen Schneemann auf; eine Gestalt mit großem Kopfe, ungeheurer Nase und weit gähnendem Munde – so etwas wie einen richtigen Knecht Rupprecht. Wenn es Dole und Costar nun auch wagten, bei Tageslicht diesen mit Schneeballen zu bombardiren, so betrachteten sie ihn doch mit einer gewissen Scheu, wenn die Dunkelheit seine Verhältnisse in’s Ungeheuerliche vergrößerte.

»O, diese Prahlhänse!« riefen dann Iverson und Jenkins, welche die muthigen Ritter spielten, obwohl es ihnen nicht viel besser zu Muthe war, als ihren kleinen Kameraden.

Gegen Ende des Juni mußte man auf derlei Belustigungen verzichten. Drei bis vier Fuß dick liegender Schnee machte daß Gehen darüber gar zu beschwerlich, und wer sich nur wenige hundert Schritte von French-den hinausgewagt hätte, der wäre Gefahr gelaufen, nicht wieder zurückkehren zu können.

Die jungen Kolonisten blieben also volle vierzehn Tage – bis zum neunten Juli – auf das Haus beschränkt, was ihren Studien eher förderlich als hinderlich war. Das tägliche Programm wurde streng eingehalten, und auch die »allgemeine Versammlung« an den dazu bestimmten Tagen jedesmal einberufen. Das gewährte Allen ein großes Vergnügen, und es darf nicht Wunder nehmen, daß Doniphan mit seiner Redegewandtheit und schon weiter vorgeschrittenen Ausbildung gewöhnlich die erste Rolle dabei spielte. Warum trug er nur immer solchen Stolz zur Schau? Dieser Hochmut verdunkelte wieder selbst die besten Seiten des Knaben.

Obwohl die Erholungsstunden jetzt nur in der Halle verbracht werden konnten, so litt doch, Dank dem reichlichen, durch den Verbindungsgang von einem Zimmer zum anderen stattfindenden Luftwechsel, die allgemeine Gesundheit keineswegs. Die hochwichtige Frage der Gesunderhaltung der Mitglieder ihrer kleinen Colonie schwebte ihnen immer vor Augen. Wie hätte man einem etwa erkrankenden Kinde hier auch die nöthige Pflege und Sorgfalt zutheil werden lassen können? Zum Glück kam in dieser Hinsicht nichts weiter vor, als einmal ein Schnupfen oder eine leichte Heiserkeit, welche durch Ruhe und Wärme immer unschwer zu beseitigen waren.

Jetzt beschäftigte sie auch die Lösung einer anderen Frage. Gewöhnlich wurde das Wasser für die Bedürfnisse von French-den bei niedrigem Meere aus dem Rio geschöpft, da es dann keinen Salzgehalt zeigte. Wenn der Rio aber vollständig zufror, mußte sich dasselbe ganz von allein verbieten. Gordon besprach deshalb mit Baxter, seinem »Leibingenieur«, die dagegen zu ergreifenden Maßregeln. Nach einiger Ueberlegung schlug Baxter vor, einige Fuß unter der Erde eine Leitung anzulegen, welche, da sie nicht zufrieren konnte, Store-room mit Wasser versehen würde. Das war gewiß eine schwierige Arbeit, welche Baxter kaum hätte zu Ende führen können, wenn er nicht die Bleirohre zur Verfügung gehabt hätte, die auf dem »Sloughi« als Wasserleitung nach den Waschtischen gedient hatten. Nach verschiedenen mißlungenen Versuchen wurde endlich der Wasserzufluß nach Store-room gesichert. Was die Beleuchtung betraf, so waren jetzt noch hinreichende Oelvorräthe für die Lampen und Laternen vorhanden, nach Ablauf des Winters mußte es aber nothwendig werden, diese irgendwie zu ersetzen oder Kerzen aus dem Fette herzustellen, das Moko nicht gebraucht und aufgehoben hatte.

Einige Sorge erregte während dieser Zeit auch die Ernährung der kleinen Colonie, denn Jagd und Fischfang lieferten jetzt nicht die gewohnte Ausbeute. Wohl schweiften, vom Hunger getrieben, einzelne Thiere gelegentlich auf der Sport-terrace umher, doch das waren nur Schakals, welche Doniphan und Croß durch Gewehrschüsse zu vertreiben sich begnügten. Eines Tages erschien sogar eine ganze Bande derselben – wohl an zwanzig Stück – so daß man die Thüre der Halle und des Store-room fest verbarricadiren mußte. Ein Einbruch dieser durch den Hunger noch mehr gereizten Raubthiere hätte schreckliche Folgen haben können. Da sie Phann jedoch bei Zeiten meldete, kamen sie gar nicht dazu, die Thüre von French-den zu stürmen.

Unter so mißlichen Umständen sah Moko sich gezwungen, dann und wann auf den Proviant von der Yacht zurückzugreifen, der doch so viel als möglich geschont werden sollte. Nur sehr ungern ertheilte Gordon die Erlaubnis, denselben zu verwenden, und mit Betrübniß sah er in seinem Notizbuche die Rubrik der Ausgaben sich immer mehr verlängern, während die der Einnahmen stets gleich lang blieb. Da es jedoch auch einen reichen Vorrath an Enten und jungen Trappen gab, welche in halbgekochtem Zustande luftdicht in Fässer verpackt worden waren, so konnte Moko diese in Anspruch nehmen, ebenso wie er von den in Salzlake aufbewahrten Lachsen immer etwas auf die Tafel brachte. Man darf hierbei nicht vergessen, daß French-den fünfzehn Magen zu ernähren und den Appetit von acht- bis vierzehnjährigen Knaben zu befriedigen hatte.

Immerhin fehlte es den Winter über keineswegs ganz an frischem Fleisch. Wilcox, der in der Herstellung aller Art Hilfsgeräthe für Jagdzwecke sehr erfahren war, hatte auf dem Ufergelände mehrere Fallen errichtet, welche, einfach aus elastischen Zweigen in Form einer 4 bestehend, doch manches Stück Kleinwild lieferten.

Mit Hilfe seiner Kameraden spannte Wilcox auch am Ufer des Rio eine Art Luftnetze aus, wozu er die Schleppnetze vom »Sloughi« verwendete, welche an Stangen in geeigneter Weise befestigt wurden. In den Maschen dieser ausgedehnten leinenen Spinnengewebe, blieben viele Vögel aus den South-moores hängen, wenn sie von einem Ufer zum andern flogen. Konnten sich auch viele derselben aus den für diesen Zweck zu engen Maschen wieder befreien, so gab es doch Tage, wo noch genug gefangen wurden, um die beiden Hauptmahlzeiten für die ganze Gesellschaft abzugeben.

Nur die Ernährung des Nandu machte nicht wenig Schwierigkeiten, und wir müssen gestehen, daß die Zähmung dieses wilden Stelzvogels, was auch der damit besonders betraute Service sagen mochte, noch recht viel zu wünschen übrig ließ.

»Das muß einmal ein Renner werden!« wiederholte er öfters, obwohl noch gar nicht zu ersehen war, wie er denselben je besteigen könnte.

Da der Nandu aber nicht zu den Fleischfressern zählte, mußte Service dessen täglichen Bedarf von Gräsern und Wurzeln unter der zwei bis drei Fuß hohen Schneedecke zu gewinnen suchen. Was hätte er indeß nicht Alles gethan, um seinem Lieblingsthiere ein zusagendes Futter zu beschaffen! Wenn der Nandu während dieses scheinbar endlosen Winters etwas abmagerte, so lag das gewiß nicht an seinem treuen Hüter, und man durfte getrost hoffen, daß jener mit der Rückkehr des Frühlings seine gehörige Körperfülle wieder gewinnen werde.

Als Briant frühmorgens am 9. Juli einmal in’s Freie hinausgetreten war, konnte er beobachten, daß der Wind plötzlich nach Süden umgesprungen sei.

Der ungemein strenge Frost nöthigte ihn, schleunigst nach der Halle umzukehren, wo er Gordon von dieser Veränderung der Temperatur Mittheilung machte.

»Das war ja zu befürchten, antwortete Gordon, und es sollte mich nicht verwundern, wenn wir noch einige Monate strengen Winters auszuhalten hätten.

– Das beweist aber, meinte Briant, daß der »Sloughi« weit tiefer als wir annahmen nach Süden zu verschlagen wurde.

– Gewiß, bestätigte Gordon, und doch zeigt unser Atlas keine Insel in der Nähe des antarktischen Meeres.

– Das ist wirklich unerklärlich, Gordon, und wahrlich, ich wüßte nicht, welche Richtung wir einschlagen sollten, wenn uns einst die Möglichkeit geboten wäre, die Insel Chairman zu verlassen …

– Die Insel verlassen? … rief Gordon. Aber, Briant, denkst Du denn daran noch immer?

– Alle Tage, Gordon. Wenn es uns gelänge, ein einigermaßen seetüchtiges Fahrzeug zu erbauen, würd‘ ich keinen Augenblick Bedenken tragen, damit auf Entdeckung auszuziehen.

– Schon gut, schon gut, erwiderte Gordon, damit hat’s noch keine Eile … Warten wir wenigstens, bis unsere kleine Colonie vollständig organisirt ist …

– Ei, mein wackerer Gordon, unterbrach ihn Briant, Du denkst wohl nicht daran, daß wir da draußen noch Angehörige haben …

– Gewiß … gewiß, Briant. Alles in Allem sind wir aber hier doch gar nicht so schlimm daran. Die Sache macht sich, und ich frage mich manchmal, was uns eigentlich noch fehlen sollte.

– Ich dächte, so mancherlei, antwortete Briant, der es nicht für angezeigt hielt, das Gespräch über dieses Thema noch weiter auszuspinnen. Da fällt mir eben ein, daß unser Brennmaterial zu Ende geht …

– Nun, ich dächte, der ganze Wald der Insel wäre noch nicht verbrannt.

– Nein, Gordon, aber es wird doch hohe Zeit, unsere Holzvorräthe wieder zu erneuern.

– Meinetwegen noch heute, erwiderte Gordon. Komm‘, wir wollen nach dem Thermometer sehen!«

Das im Store-room hängende Thermometer zeigte nur fünf Grad über Null, obwohl im Kochofen ein tüchtiges Feuer prasselte. Als es dagegen an der Außenwand angebracht wurde, zeigte es sehr bald siebzehn Grad unter dem Gefrierpunkte.

Es war eine strenge Kälte, welche voraussichtlich noch zunahm, wenn die Witterung während einiger Wochen klar und trocken blieb. Trotz beständigen Feuers im Kochherde und in den beiden Oefen der Halle erniedrigte sich die Temperatur merklich im Innern von French-den.

Gegen neun Uhr und nach dem ersten Frühstück wurde beschlossen nach den Traps-woods zu ziehen und eine Ladung Holz zu holen.

Wenn die Luft ruhig ist, kann man sich selbst den niedrigsten Temperaturen ungestraft aussetzen. Vorzüglich schmerzhaft ist nur der schneidende Wind, der den Händen und dem Gesicht so zusetzt, daß man sich kaum dagegen zu schützen vermag. Zum Glück war an diesem Tage der Wind ganz schwach und der Himmel so vollkommen klar, als ob die Luft gefroren wäre.

An Stelle des lockeren Schnees, in den man noch am Vortage bis zur Taille versank, schritt der Fuß jetzt auf einer metallharten Fläche dahin. Wenn es sich nur um die Gefahrlosigkeit des Weges gehandelt hätte, wäre es möglich gewesen, ebenso über den ganz übereisten Family-lake wie über den Rio wegzuziehen. Mit einigen Schneeschuhen, wie sie die Bewohner der Polargebiete häufig benützen, oder selbst in einem, mit Hunden und Renthieren bespannten Schlitten hätte der See in seiner ganzen Ausdehnung von Norden nach Süden binnen wenigen Stunden besucht werden können.

Für den Augenblick handelte es sich aber nicht um einen so weit ausgedehnten Ausflug, sondern um einen Gang in die benachbarten Wälder, um daraus neue Brennholzvorräthe zu holen.

Die Ueberführung einer hinreichenden Holzmenge nach French-den mußte immerhin eine schwierige Arbeit werden, weil dieser Transport nur auf dem Arme oder dem Rücken zu bewerkstelligen war. Da kam Moko ein guter Gedanke, der schleunigst zur Ausführung gebracht wurde, dahin gehend, daß man sich doch ein für den Augenblick genügendes Gefährt beschaffen könnte. Der festgebaute, zwölf Fuß lange und vier Fuß breite Tisch des Store-room brauchte ja nur, die Beine nach oben umgewendet und dann über die glatte Fläche des vereisten Schnees gezogen zu werden; daß das anging, sahen Alle sofort ein. Nachdem sich vier größere Knaben mit Stricken vor dieses etwas primitive Gefährt gespannt, brach man gegen neun Uhr in der Richtung nach den Traps-Woods auf.

Mit rother Nase und brennenden Wangen sprangen die Kleinen gleich jungen Hunden voran, wozu Phann ihnen ein vorzügliches Beispiel gab. Manchmal kletterten sie auch unter Streit und einigen sanften Püffen auf den Tisch, selbst auf die Gefahr hin, einmal umzupurzeln, was hier niemals schlimm ablaufen konnte. Ihr Gejubel widerhallte mit außerordentlicher Deutlichkeit in der kalten, trockenen Atmosphäre. Es war wirklich herzerquickend, die ganze kleine Colonie bei so übermüthiger Laune und tadelloser Gesundheit zu beobachten.

Zwischen dem Aucklaud-Hill und dem Family-lake war Alles gleichmäßig weiß. Die Bäume mit ihren überreiften Zweigen und mit schimmernden Krystallen beladenen Aesten dehnten sich gleich einer feenhaften Decoration in unabsehbare Fernen aus. Ueber dem See flatterten ganze Schaaren von Vögeln bis zum Abhange des Steilufers hin. Doniphan und Croß hatten nicht vergessen ihre Flinten mitzunehmen. Eine weise Vorsicht, denn da und dort zeigten sich neben Spuren von Schakals auch solche von Jaguars und Cuguars.

»Diese gehören vielleicht zu den wilden Katzen, welche man »Paperos« nennt, und die nicht minder furchtbar sind, sagte Gordon.

– O, wenn es nur Katzen sind! rief Costar mit den Achseln zuckend.

– Die Tiger sind aber auch nur Katzen, ließ Jenkins sich vernehmen.

– Ist es wahr, Service, fragte Costar, daß die Katzen bösartig sind?

– Gewiß, versicherte Service, und kleine Kinder verzehren sie wie Mäuse!«

Diese Antwort machte Costar doch recht bedenklich.

Die halbe Meile zwischen French-den und den Traps-woods wurde in kurzer Zeit zurückgelegt, und die jungen Holzfäller gingen an die Arbeit. Ihre Axt legten sie nur an Bäume von einiger Dicke, deren schwächere Zweige abgehauen wurden, nicht um sich mit einen Augenblick flackernden Reisigbündeln zu versorgen, sondern tüchtige Scheite zu gewinnen, welche den Koch- und die Heizöfen dauernder zu erhitzen geeignet waren. Der »Tafelschlitten« erhielt zwar eine recht schwere Last, er glitt aber so leicht dahin und Alle zogen ihn mit so frohem Muthe über die harte Kruste, daß im Laufe des Vormittags zwei Fuhren gemacht werden konnten.

Nach dem Essen ging man wieder an die Arbeit, welche erst um vier Uhr, als der Tag zur Rüste ging, unterbrochen wurde. Die Anstrengung war eine ziemlich große gewesen, und da man sich ja nicht zu übernehmen brauchte, verschob Gordon die Fortsetzung bis zum folgenden Tage. Gordon’s Befehl mußte aber allgemein beachtet werden.

Nach der Heimkehr nach French-den beschäftigte man sich nur noch damit, die Scheite zu zersägen, zu spalten und aufzuschichten, was bis zur Schlafenszeit andauerte.

Sechs Tage lang wurden diese Fahrten unausgesetzt wiederholt, wodurch sich Brennmaterial für eine Reihe von Wochen anhäufte. Es versteht sich von selbst, daß diese großen Vorräthe im Store-room nicht untergebracht werden konnten, es schadete ja aber auch nichts, sie in freier Luft am Fuße des Steilufers aufzustapeln.

Am 15. Juli war nach Angabe des Kalenders der Saint-Swithin-Tag; in England entspricht dieser Tag im Volksglauben ganz unserem Siebenschläfer.

»Nun, begann Briant, wenn heute Regen fällt, werden wir sehen, daß es vierzig Tage lang fort regnet.

– Meiner Treu, versetzte Service, was hat das auch Großes zu bedeuten, da wir jetzt in der schlechten Jahreszeit sind. Ja, wenn es Sommer wäre …«

In der That brauchen sich die Bewohner der südlichen Erdhälfte nicht wegen des Einflusses zu beunruhigen, den derartige Merktage des Volkes haben könnten, denn die Siebenschläfer sind wie Sanct Medardus für sie nur Winterheilige.

Der Regen hielt jedoch, da der Wind nach Südosten umsprang, nicht an, dagegen trat solcher Frost ein, daß Gordon den Kleinen jeden Ausgang untersagte.

In der Mitte der ersten Augustwoche sank die Thermometersäule nämlich bis auf siebenundzwanzig Grad unter Null herab. Sobald man sich da der freien Luft aussetzte, schlug sich der Athem in Form von Schnee nieder. Mit der Hand konnte man kein metallenes Geräth anfassen, ohne heftigen Schmerz, wie von einer Verbrennung, zu empfinden. Da mußten denn auch die umfassendsten Maßregeln getroffen werden, um die Luftwärme des Innern nur erträglich zu erhalten.

Jetzt folgten sich vierzehn recht unangenehme Tage. Alle litten mehr oder weniger von dem Mangel an Bewegung. Briant sah nicht ohne Sorge die blassen Wangen der Kleinen, von denen jede Farbe gewichen war. Dank den warmen Getränken, woran es nie fehlte, überstanden die jungen Kolonisten jedoch diesen gefährlichen Zeitraum, abgesehen von einigen Schnupfen- und Hustenanfällen, ohne ernstlichen Nachtheil.

Gegen den 16. August neigte sich, mit nach und nach umgehenden Winden, der Zustand der Atmosphäre einer Veränderung entgegen. Das Thermometer erhob sich auf zwölf Grad unter dem Gefrierpunkte, zeigte also bei gleichzeitig ruhiger Luft eine erträgliche Temperatur an.

Doniphan, Briant, Service, Wilcox und Baxter kamen da auf den Gedanken, sich einmal nach der Sloughi-Bai zu begeben, von wo sie bei frühzeitigem Aufbruche an demselben Abend zurück sein konnten.

Es handelte sich dabei darum, zu sehen, ob die Küste nicht stark besetzt sei von jenen Amphibien, den gewöhnlichen Wintergästen der antarktischen Gegenden, von denen man schon zur Zeit der Strandung einzelne Exemplare gesehen hatte. Gleichzeitig sollte die Flagge erneuert werden, von der nach den Winterstürmen ja nur noch Fetzen übrig sein konnten. Auf Briant’s Anrathen wollte man den Signalmast überdies mit einer Tafel versehen, welche die Lage von French-den angab, für den Fall, daß Seeleute nach Wahrnehmung des Mastes einmal hier landen sollten.

Gordon gab seine Zustimmung unter der Empfehlung, vor Anbruch der Nacht unbedingt heimzukehren, und die kleine Truppe brach also am Morgen des 19. August noch vor dem Hellwerden auf. Der Himmel war klar und der Mond erleuchtete ihn mit den schrägen Strahlen seines letzten Viertels. Sechs Meilen bis zur Bai hin zu wandern, das konnte junge Beine nach so langem Ausruhen nicht in Verlegenheit setzen.

Mit schnellen Schritten ging es vorwärts. Die Schlammlache der Bog-Woods brauchte, weil sie mit Eis bedeckt war, nicht umgangen zu werden, ein Umstand, der den Weg wesentlich abkürzte. Vor neun Uhr Morgens schon kam Briant mit seinen Kameraden auf dem Vorlande der Bai an.

»Da seht, ganze Schaaren von Vögeln!« rief Wilcox.

Er wies damit nach einigen Tausenden auf den Klippen sitzender Vögel hin, welche mit ihrem langen miesmuschelförmigen Schnabel und dem ebenso durchdringenden wie häßlichen Geschrei etwa großen Enten glichen.

»Man könnte sie für Soldaten halten, die ihr General Revue passiren läßt, meinte Service.

– Es sind nur Fettgänse, belehrte ihn Baxter, und die sind keinem Schuß Pulver werth.«

Die stumpfsinnigen Vögel, welche sich in Folge ihrer weit hinten eingelenkten Pfoten fast ganz aufrecht hielten, dachten gar nicht daran, zu entfliehen, und man hätte sie mit Stockhieben erlegen können. Doniphan hatte vielleicht auch nicht üble Lust zu einem solchen nutzlosen Gemetzel; da Briant aber so klug war, sich demselben zu widersetzen, wurden die Pinguins (Fettgänse) in Ruhe gelassen.

Wenn dieses Geflügel übrigens gar keine Verwendung finden konnte, so gab es dafür andere Thiere, deren Fett zur Erleuchtung von French-den während des folgenden Winters zu gebrauchen war.

Es waren Robben, zur Abart der sogenannten Rüssel-Robben gehörig, die sich hier auf den mit dicker Eiskruste bedeckten Klippen tummelten. Um einige derselben zu erlegen, hätte man ihnen den Rückweg an der Außengrenze des Klippengürtels verlegen müssen. Sobald sich Briant und seine Kameraden jedoch herannahten, entflohen jene mit ganz erstaunlichen Luftsprüngen und verschwanden unter dem Wasser, so daß man sich vornehmen mußte, später einmal eine förmliche Jagd zu veranstalten, um diese Amphibien einzufangen.

Nachdem die Knaben von dem mitgeführten Proviant ein einfaches aber kräftiges Frühstück verzehrt, besichtigten sie die Bai in ihrer ganzen Ausdehnung.

Eine gleichmäßig weiße Fläche erstreckte sich hier von der Mündung des Rio Sealand bis zum Vorgebirge False-sea-point. Bis auf die Fettgänse und einzelne Seevogelarten, wie Sturmvögel, weiße und graue Möven u. dergl., schien das andere Geflügel den Strand gänzlich verlassen und sich, jedenfalls zur Befriedigung seines Nahrungsbedürfnisses, nach dem Innern der Insel gewendet zu haben. Zwei bis drei Fuß tiefer Schnee bedeckte das Vorland, und was von den Trümmern des Schooners vielleicht noch übrig war, lag unter dieser dichten Hülle versteckt. Der aus Tang und Seegras bestehende Auswurf des Meeres, der sich am Klippenrande in langer Linie angehäuft hatte, bewies, daß die Sloughi-Bai von besonders heftigen Aequinoctialfluthen nicht betroffen worden war.

Das Meer selbst erschien bis zur äußersten Grenze des Horizontes heute ebenso verlassen, wie Briant es vor drei Monaten gesehen hatte. Und da hinaus lag in der Entfernung von Hunderten von Meilen das heimatliche Neuseeland, das er immer eines Tages wiederzusehen hoffte.

Baxter ging nun daran, eine neue Flagge, die er mitgebracht, aufzuziehen und die Tafel zu befestigen, welche die Lage von French-den sechs Meilen stromaufwärts des Rio angab. Gegen ein Uhr Mittags traten dann Alle auf das linke Ufer über.

Unterwegs erlegte Doniphan noch ein Paar langgeschwänzte Enten, nebst einigen über dem Flusse umherfliegenden Kibitzen, und gegen vier Uhr, als es langsam zu dämmern begann, traf er mit seinen Begleitern wieder glücklich in French-den ein. Hier wurde Gordon von allem, was sie gesehen und beobachtet, unterrichtet, und da die Robben so überaus zahlreich in der Sloughi-Bai vorkamen, wollte man auf diese bei einigermaßen günstiger Witterung einmal Jagd machen.

Die schlechte Jahreszeit mußte nun bald zu Ende gehen. Während der letzten Woche des August und der ersten des September gewann der Seewind schon wieder die Oberhand. Schwere Regenböen führten eine schnelle Steigerung der Luftwärme herbei. Der Schnee kam deshalb bald zum Schmelzen, und an der Seeoberfläche donnerte und krachte es vom Bersten des Eises. Diejenigen Schollen, welche sich nicht an Ort und Stelle auflösten, trieben in tollem Durcheinander in den Rio hinein und thürmten sich hier übereinander, wodurch eine Eisstopfung entstand, die erst gegen den 10. September wieder völlig gebrochen wurde.

So war der Winter denn vorübergegangen. Dank den getroffenen Vorsichtsmaßregeln hatte die kleine Kolonie davon nicht allzuviel zu erdulden gehabt. Alle waren frisch und gesund geblieben und Gordon hatte, da sie ihre Studien mit großem Eifer fortsetzten, keine Veranlassung gefunden, etwaige Widerspänstige zu bestrafen.

Eines Tages jedoch mußte sich Dole, dessen Betragen eine exemplarische Buße erforderte, doch züchtigen lassen.

Wiederholt hatte der Trotzkopf sich geweigert »seine Pflicht zu thun«, und Gordon’s Ermahnungen und Warnungen schlug er leichten Sinnes in den Wind. Er wurde deshalb nicht zu Wasser und Brod – was sich mit dem in den angelsächsischen Schulen geübten System nun einmal nicht verträgt – sondern zu einer Anzahl Hiebe verurtheilt.

Die jungen Engländer empfinden, wie wir schon sagten, keineswegs denselben Abscheu gegen eine derartige körperliche Züchtigung, wie ihn junge Franzosen derselben gegenüber zeigen würden. Auch im vorliegenden Falle hätte Briant gern gegen eine solche, seiner Ansicht nach entehrende Strafart Einspruch erhoben, wenn er nicht die Entscheidung Gordon’s zu respectiren verpflichtet gewesen wäre. Wo ein französischer Zögling sich übrigens der Strafe selbst schämen würde, schämt sich der englische Schüler davor, Furcht vor derselben merken zu lassen.

Dole erhielt also einige Ruthenhiebe von den Händen Wilcox‘, der durch Losung zum öffentlichen Stockmeister bestimmt worden war, und diese Abstrafung wirkte so nachhaltig, daß sich keine Wiederholung derselben nöthig machte.

Am l0. September waren übrigens sechs Monate verflossen, seit der »Sloughi« an den Klippen der Insel Chairman gescheitert war.

XIV.

XIV.

Letzte Wintererscheinungen. – Der Wagen. – Rückkehr des Frühlings. – Service und sein Nandu. – Vorbereitungen zu einem Zuge nach Norden. – Die Erdgruben. – Stop-river. – Fauna und Flora. – Das Ende des Family-lake. – Die Sandy-Wüste.

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Mit der sich ankündigenden schöneren Jahreszeit konnten die Knaben nun einige Pläne zur Ausführung bringen, die sie während der langen Wintermuße entworfen hatten.

Gegen Westen – das lag ja auf der Hand – fand sich kein Land in der Nachbarschaft der Insel. War das nach Norden, Süden und Osten hin aber ebenso der Fall, oder bildete diese nicht das Glied eines Archipels oder einer Inselgruppe des Stillen Weltmeeres? Nach Maßgabe der Karte François Baudoin’s mußte diese Frage gewiß mit Nein! beantwortet werden. Nichtsdestoweniger konnten in diesem Meerestheile sich noch Länder befinden, die der Schiffbrüchige wegen Mangels an einem Fernrohre nur nicht hatte wahrzunehmen vermocht, da von Auckland-Hill nur ein Umkreis von wenigen Meilen zu übersehen war. Die in dieser Beziehung viel besser ausgerüsteten Knaben entdeckten doch vielleicht, was dem Ueberlebenden vom »Duguay-Trouin« zu erkennen unmöglich gewesen war,

Ihrer eigentümlichen Gestaltung entsprechend, maß die Insel Chairman in ihrem mittleren Theile, östlich von French-den, nicht mehr als etwa ein Dutzend Meilen. Da auf der der Sloughi-Bai gegenüber liegenden Seite die Küste eine tiefe Einbuchtung bildete, empfahl es sich von selbst, eine Untersuchung in dieser Richtung vorzunehmen.

Vor einer Besichtigung der verschiedenen Gebietsteile der Insel schien es jedoch angezeigt, erst das zwischen dem Auckland-Hill, dem Family-Lake und den Traps-woods gelegene Terrain genauer kennen zu lernen. Es erschien ja von Wichtigkeit zu erfahren, welche Hilfsmittel dasselbe bot, ob es reich an nutzbaren Bäumen und Sträuchern sei oder nicht, und zur Lösung dieser und ähnlicher Fragen wurde denn für die ersten Tage des Novembers ein Ausflug festgesetzt.

Wenn der astronomische Frühling jetzt seinen Anfang nehmen sollte, so spürte freilich die unter ziemlich hoher Breite liegende Insel Chairman davon noch nicht gerade viel. Während des ganzen Septembers und der ersten Hälfte des Octobers herrschte noch recht schlechtes, rauhes Wetter, gelegentlich sogar ziemlich strenge Kälte, die jedoch nicht anhielt, da der Wind ungemein häufig seine Richtung wechselte. Während der Zeit der Tagundnachtgleiche traten äußerst heftige atmosphärische Störungen ein, ähnlich denen, welche den »Sloughi« über den Stillen Ocean gejagt hatten. Bei den entsetzlichen Windstößen schien selbst der Auckland-Hill bis in seine Grundvesten erschüttert zu werden, als der wüthende Sturm aus Süden, der über die, ihm kein Hinderniß bietenden Southe-moors hinwegfegte, die eisige Luft des antarktischen Polarmeers in diese Gegenden herauftrug. Es war ein hartes Stück Arbeit, ihm das Eindringen in French-den zu verwehren. Zwanzigmal drückte er wohl die in den Store-room führende Thür ein und stürmte durch den Verbindungsgang bis in die Halle hinein. Unter diesen mißlichen Verhältnissen litten Alle fast noch mehr, als zur Zeit des strengsten Frostes, der die Quecksilbersäule des hundertteiligen Thermometers bis auf dreißig Grad unter Null herabgedrückt hatte. Jetzt hatte man übrigens nicht gegen den Sturm allein, sondern auch gegen heftige Regen- und Hagelschauer anzukämpfen. Um das Maß dieser Unannehmlichkeiten voll zu machen, schien das eßbare Wild auch ganz verschwunden zu sein, als hätte es in den tieferen, den Wetterlaunen der Tagundnachtgleiche minder ausgesetzten Theilen der Insel Zuflucht gesucht – und ebenso die Fische, welche durch die tolle Aufregung des langhin am ganzen Seeufer andonnernden Wassers erschreckt sein mochten.

In French-den legte man deshalb aber die Hände keineswegs in den Schooß. Da der Tisch nach dem Verschwinden der harten glatten Schneekruste als Gefährt nicht mehr dienen konnte, bemühte sich Baxter einen zum Transport schwererer Gegenstände geeigneten Wagen herzustellen.

Zu diesem Zwecke dachte er zwei gleichgroße Räder zu verwenden, welche zum Gangspill des Schooners gehört hatten. Diese Arbeit gelang freilich nicht ohne manche mißglückten Versuche, welche jeder Sachverständige zu vermeiden gewußt hätte. Diese Räder hatten nämlich Zähne, und nachdem sich Baxter erfolglos mit dem Ausbrechen derselben bemüht, mußte er sich begnügen, deren Zwischenräume mit Holzklötzchen auszufüllen und das ganze mit einem Eisenbande zu umschließen. Nach Vereinigung der beiden Räder durch eine Eisenstange, überbaute er das feste Gerüst mit einer Art Kasten aus starken Planken. Das im Ganzen recht mangelhafte Gefährt sollte, wie es war, doch recht ersprießliche Dienste leisten. Natürlich mußten an Stelle eines Pferdes, Esels oder Maulesels die kräftigsten Knaben der Colonie als Bespannung aushelfen.

Welche Anstrengung hätte man sich ersparen können, wenn es gelang irgend welche Vierfüßler einzufangen, die zu diesem Zwecke abgerichtet werden konnten! Warum schien auch die Insel Chairman, außer einigen Raubthieren, deren Ueberreste oder Spuren man entdeckt hatte, so reich an Geflügel und so arm an Wiederkäuern zu sein! Und durfte man, nach dem Strauße Service’s zu urtheilen, wohl hoffen, daß diese sich den erwünschten »häuslichen Pflichten« fügen lernen würden?

Der Nandu nämlich hatte von seinem wilden Charakter nach ganz und gar nichts verloren. Er ließ sich Niemand nahe kommen, ohne sich mit dem Schnabel und den Beinen zu vertheidigen, suchte die Fesseln zu brechen, mit denen er angebunden war, und wenn ihm das gelang, wäre er gewiß sofort unter den Bäumen der Traps-woods verschwunden.

Service ließ deshalb aber den Muth nicht sinken. Er hatte seinen Nandu natürlich ebenso »Brausewind« getauft, wie es der Meister Jack im Schweizer Robinson bezüglich seines Straußes gethan. Doch obwohl er seine ganze Eigenliebe daransetzte, das widerspänstige Thier zu zähmen, blieb gute oder schlechte Behandlung desselben gleichmäßig erfolglos.

»Und dennoch, sagte er eines Tages mit Bezug auf den von ihm immer wieder durchlesenen Roman von Wyß, ist Jack dahin gelangt, seinen Strauß zum schnellfüßigen Reitthier auszubilden.

– Ganz recht, antwortete Gordon. Doch zwischen Deinem Helden und Dir, Service, ist derselbe Unterschied wie zwischen seinem Strauß und dem Deinigen.

– Und welcher denn, Gordon?

– Ganz einfach der, der die Einbildung von der Wirklichkeit unterscheidet.

– Thut nichts! erwiderte Service. Ich werde mit meinem Strauß schon noch fertig … oder er soll mich kennen lernen!

– Nun, auf mein Wort, entgegnete Gordon lachend, ich würde weniger erstaunt sein, ihn in reinem Englisch antworten zu hören, als ihn Dir gehorchen zu sehen!«

Trotz der Spötteleien seiner Kameraden war Service entschlossen, auf seinem Nandu auszureiten, sobald die Witterung das gestattete. In treuer Nachahmung seines Vorbildes verfertigte er ihm schon aus Segelleinwand eine Art Reitzeug nebst einer Kappe mit beweglichen Scheuledern. Jack hatte sein Thier nämlich dadurch gelenkt, daß er mit dem einen oder dem andern Scheuleder nach Bedarf das rechte oder das linke Auge desselben bedeckte. Warum sollte nun, was jenem Knaben gelungen war, seinem Nachahmer unerreichbar sein? Service flocht auch ein Halsband aus Trossen, das er an dem Hals des, darüber gewiß nicht besonders erfreuten Stelzvogels befestigte. Was aber die über den Kopf zu ziehende Kappe anging, so erwiesen sich alle dahin zielenden Versuche vorläufig erfolglos.

So verliefen die Tage unter allerlei Arbeiten, welche French-den schließlich recht wohnlich machten, und mit denselben füllte man am besten die Stunden aus, die nicht im Freien ausgenützt werden konnten, ohne diejenigen zu beschränken, welche den geistigen Arbeiten gewidmet waren.

Die Tagundnachtgleichen-Periode ging zu Ende. Die Sonne gewann schon an Kraft und der Himmel heiterte sich mehrfach auf. Es war jetzt Mitte October. Die Bodenwärme trieb wieder den Saft in die frisch ergrünenden Bäume und Sträucher.

Nun konnte man auch French-den auf ganze Tage verlassen. Die warmen Kleidungsstücke, grobtuchenen Hosen, die Flanell- und die gestrickten Jacken wurden tüchtig ausgeklopft, ausgebessert, zusammengeschlagen und nach vorheriger Etiquettirung durch Gordon sorgsam in die Koffer verpackt. Die in der leichten Kleidung sich behaglicher fühlenden Kolonisten hatten die Rückkehr der schönen Jahreszeit freudig begrüßt. Dazu kam auch die nie ersterbende Hoffnung, irgend eine Entdeckung zu machen, welche eine Wendung ihrer Lage herbeiführen könnte. Während des Sommers war es ja möglich, daß ein Schiff diese Gegenden besuchte, das beim Vorübersegeln an der Insel Chairman ans Land ging, wenn es die auf dem Gipfel des Auckland-Hill wehende Flagge bemerkte.

Während der zweiten Octoberhälfte wurden nun mehrer Ausflüge im zweimeiligen Umkreise von French-den ausgeführt, an denen nur die Jäger theilnahmen. Den gewöhnlichen Bedarf an Nahrung lieferten sie allemal, obwohl auf Empfehlung Gordon’s Pulver und Blei möglichst geschont wurden. Wilcox stellte große Sprenkel auf, in welchen er einige Paar Tinamus und Trappen, und zuweilen auch einzelne Maras-Hasen fing, die den Meerschweinchen sehr ähnlich sind. Mehrmals am Tage besichtigte man diese Fanggeräthschaften, denn Schakals und Paperos waren nicht faul, den Jägern zuvorzukommen und die Beute zu rauben. Es war wirklich sehr ärgerlich, für dieses Gesindel zu arbeiten, dem übrigens bei jeder passenden Gelegenheit nachgestellt wurde; auch gelang es, verschiedene schädliche Thiere sowohl in den wiederhergestellten alten, wie in mehreren, am Saume des Waldes ausgehobenen neuen Fallgruben abzufangen. Was eigentliche wilde Raubthiere betraf, so fand man wohl da und dort Fährten derselben, kam aber nicht in die Nothwendigkeit, einen Ueberfall derselben, gegen den Alle stets sorglich auf der Hut waren, abzuwehren.

Doniphan erlegte auch einige Pecaris und Guaculis – das sind etwa eine Art Eber und Hirsch von geringer Größe – deren Fleisch sehr schmackhaft ist. Bezüglich der Nandus bedauerte Niemand, keine weiteren einfangen zu können, da der geringe Erfolg, den Service mit der Zähmung des seinigen hatte, zu keiner Wiederholung dieses Versuchs ermunterte.

Das zeigte sich recht deutlich, als der starrköpfige Knabe am Morgen des 26. seinen Strauß, den er nicht ohne Mühe gesattelt und gezäumt hatte, besteigen wollte.

Auf der Sport-terrace hatten sich Alle versammelt, um diesem interessanten Experimente beizuwohnen. Die Kleinen betrachteten ihren Kameraden mit einem Gefühl von Neid, dem sich freilich etwas Aengstlichkeit beimischte. Im entscheidenden Augenblick zögerten sie denn auch, sich einen Platz hinter Service zu erbitten. Die Großen zuckten nur die Achseln. Gordon hatte sich auch bemüht, Service von einem Versuche abzuhalten, der ihm immerhin etwas gefährlich erschien; dieser bestand aber auf seinem Willen, und so beschloß man, ihn gewähren zu lassen.

Während Garnett und Baxter das Thier hielten, dessen Augen durch die Scheuleder der Kappe verschlossen waren, gelang es Service nach mehreren vergeblichen Versuchen, sich auf dessen Rücken zu schwingen. Dann rief er mit halb zuversichtlicher Stimme:

»Loslassen!»

Der des Gebrauchs seiner Augen beraubte Nandu blieb zunächst, zurückgehalten durch den Knaben, der ihn fest zwischen den Schenkeln drückte, ganz still stehen; sobald aber die Scheuleder durch Anziehung der Leinen, welche gleichzeitig als Zügel dienten, zurückgezogen waren, machte er einen gewaltigen Sprung und lief in der Richtung des Waldes davon.

Service war nicht länger Herr seines wilden Reitthieres, das mit der Schnelligkeit eines Pfeiles dahinraste. Vergeblich bemühte er sich, ihn durch Blendung auf’s Neue zum Stehen zu bringen. Durch eine heftige Bewegung des Kopfes schüttelte der Nandu die Kappe so weit ab, daß sie ihm über den Hals hinabrutschte, an den sich Service mit beiden Armen anklammerte. Dann warf er durch einen gewaltigen Stoß den unsicheren Reiter aus dem Sattel, und dieser fiel gerade in dem Augenblick herunter, als das Thier unter den Bäumen der Traps-woods verschwinden wollte.

Die Genossen Service’s liefen herbei; als sie ihn erreichten, war der Strauß schon außer Sehweite.

Glücklicher Weise hatte Service, der auf dichtes Gras herabgerollt war, keinen Schaden genommen.

»Das dumme Thier! … das dumme Thier! rief er erbost. Ach, wenn ich es wieder erwische! …

– Du wirst es aber nicht erwischen, erwiderte Doniphan, der seinen Kameraden gründlich auslachte.

– Entschieden war Dein Freund Jack ein besserer Stallmeister als Du, sagte Webb.

– Mein Nandu war nur noch nicht genügend gezähmt, gab Service zur Antwort.

– Und konnte es auch gar nicht sein, bemerkte Gordon; tröste Dich, Service, Du hättest mit diesem Thiere doch nichts anfangen können, und den Roman von Wyß muß man auch nicht in allen Stücken ernst nehmen.«

So endete das Abenteuer, und die Kleinen brauchten sich nicht zu beklagen, nicht auf einem Strauße geritten zu sein.

Mit den ersten Tagen des Novembers schien das Wetter günstig genug für einen länger andauernden Ausflug, bei dem das westliche Ufer des Sees bis an dessen Nordrand besichtigt werden sollte. Der Himmel war klar, die Wärme ganz erträglich und man durfte es ohne Scheu wagen, auch einige Nächte unter freiem Himmel zuzubringen. So wurden denn die nöthigen Vorbereitungen getroffen …

Die Jäger der Colonie sollten an dieser Expedition Theil nehmen, der sich auch Gordon anschloß. Diejenigen seiner Gefährten, welche in French-den zurückblieben, sollten daselbst von Briant und Garnett überwacht werden. Später, vor dem Ende der schönen Jahreszeit, dachte Briant selbst einen anderen Ausflug zu unternehmen, der den Zweck hatte, den unteren Theil des Sees zu besuchen, wobei die Teilnehmer entweder an dessen Ufern mit der Jolle hinfuhren oder geradenwegs über denselben hinwegsegelten, da er in der Höhe von French-den nur fünf bis sechs Meilen maß.

Nachdem Alles in dieser Weise geordnet, brachen Gordon, Doniphan, Baxter, Wilcox, Croß und Service, die von ihren Kameraden herzlichen Abschied nahmen, am Morgen des 5. Novembers auf.

In French-den sollte an der gewohnten Lebensweise nichts geändert werden. Außer den, der Arbeit gewidmeten Stunden beschäftigten sich Iverson, Jenkins, Dole und Costar immer mit dem Fischfange im See oder im Flusse – was ihre liebste Erholung bildete. Wenn Moko die jungen Forscher nicht auf ihrem Wege begleitete, so darf man daraus nicht schließen, daß bei ihnen Schmalhans Kellermeister gewesen wäre. Service war ja da, der den Schiffsjungen häufig genug unterstützt hatte. Gerade diese Eigenschaft hatte es wünschenswerth erscheinen lassen, ihn bei jenem Ausfluge mitzunehmen. Wer weiß, ob er nicht auch eine leise Hoffnung hegte, seinen Strauß wieder zu entdecken.

Gordon, Doniphan und Wilcox waren mit Gewehren bewaffnet; außerdem hatten Alle einen Revolver im Gürtel; Jagdmesser und zwei Aexte vollendeten ihre Ausrüstung. So weit es anging, sollten sie Pulver und Blei nur zu ihrer Vertheidigung gebrauchen, wenn sie angegriffen würden, oder um sich Wild zu verschaffen, wenn das auf eine minder kostspielige Weise nicht gelang. Zu diesem Zweck waren der Lasso und die Bolas nach vorheriger Ausbesserung von Baxter mitgenommen worden, und Letzterer hatte sich auch schon längere Zeit in deren Gebrauche geübt. Baxter, ein etwas lauter Knabe, war doch von Natur sehr geschickt und hatte es in der Handhabung jener Fanggeräthe wirklich ziemlich weit gebracht. Bisher hatte er damit freilich immer nur nach stillstehenden Gegenständen gezielt, was noch nicht den Schluß erlaubte, daß er auch schnell entfliehenden Thieren gegenüber Erfolg haben werde.

Doch das wird sich im Weiteren zeigen.

Gordon hatte auch den Gedanken gehabt, das bei seinem geringen Gewicht von zwölf Pfund leicht tragbare Halkett-boat aus Kautschuk mitzuführen, das sich ja in Form eines Reisesacks zusammenfalten ließ. Die Karte zeigte nämlich zwei Zuflüsse des Sees, über welche er mit dem Halkett-boat zu gelangen gedachte, wenn sie dieselben nicht durchwaten konnten.

Nach der Karte Baudoin’s, von der Gordon nur eine Copie mit hatte, um diese zu benützen oder richtig zu stellen, wenn es nothwendig erscheine, mußte sich das Westufer des Family-lake unter Berücksichtigung seiner Einbiegungen gegen achtzehn Meilen weit hinziehen. Der Ausflug erforderte demnach, Hin- und Rückweg zusammen, mindestens drei Tage, wenn sie keine unerwarteten Verzögerungen erlitten.

Phann voraus laufend, ließen Gordon und seine Begleiter die Traps-Woods zur Linken liegen und marschirten schnellen Schritts auf dem sandigen Boden des Uferlandes hin.

Nach Zurücklegung von zwei Meilen hatten sie die Grenze überschritten, welche seit der Einrichtung von French-den bei den bisherigen Ausflügen je erreicht worden war.

Hier wucherte eine Art sehr hohes Stengelgras, »Cortaderen« genannt, das in Büschen zusammensteht und unter dem auch die Großen bis zum Kopfe verschwanden.

Das Vorwärtskommen wurde hierdurch natürlich etwas verzögert. Doch hatten sie das nicht zu bedauern, da Phann hier vor einem halben Dutzend Gruben »stand«, welche den Erdboden durchlöcherten.

Offenbar hatte Phann hier irgend ein Thier aufgespürt, das man in seinem Lager leicht tödten konnte. Doniphan brachte auch schon das Gewehr in Anschlag, als Gordon ihn aufhielt.

»Spare Dein Pulver, Doniphan, sagte er, ich bitte Dich, spare das Pulver!

– Wer weiß denn, Gordon, ob unser Frühstück nicht da unten steckt? antwortete der junge Jäger.

– Und unser Mittagessen obendrein? … setzte Service hinzu, der sich über eine solche Aushöhlung beugte.

– Wenn das der Fall ist, meinte Wilcox, so werden wir sie schon daraus zu erlangen wissen, ohne ein Schrotkörnchen zu verschwenden.

– Und wie denn? fragte Baxter.

– Wir räuchern die Höhle einfach aus, wie man es mit einem Fuchs- oder Iltisbau machen würde.«

Zwischen den Cortaderen-Büschen war der Erdboden mit dürrem Gras bedeckt, das Wilcox sehr bald am Eingange jener Baue angezündet hatte. Eine Minute später wurden schon ein Dutzend halb erstickter Nagethiere sichtbar, welche vergeblich zu entkommen suchten. Es waren Tucutuco-Kaninchen, von denen Service und Wilcox mehrere Paare mit der Axt erschlugen, während Phann drei andere mit den Zähnen abthat.

»Ei, das wird einen vortrefflichen Braten geben! sagte Gordon.

– Und ich bereite denselben, rief Service, der große Eile zu haben schien, seinem Amte als Küchenmeister Ehre zu machen. Wenn Ihr wollt, auf der Stelle …

– Nein, erst bei unserer ersten Rast,« erklärte Gordon.

Es bedurfte einer vollen halben Stunde, um aus diesem Miniatur-Wald von Cortaderen herauszukommen. Jenseits derselben wurde wieder der Strand mit langen Dünenlinien darauf sichtbar, deren außerordentlich feiner Sand bei jedem Windhauch aufwirbelte.

An diesem Punkte lag die Rückseite des Auckland-hill schon mehr als zwei Meilen hinter ihnen im Westen. Das erklärte sich durch den schrägen Verlauf des Steilufers von French-den bis zur Sloughi-Bai. Dieser ganze Theil der Insel war von dem dichten Wald bedeckt, durch den Briant und seine Kameraden bei Gelegenheit ihres ersten Ausflugs nach dem See gekommen waren, und den der von ihnen Dike-creek genannte Bach bewässerte.

Wie die Karte es anzeigte, verlief dieser Creek nach dem See, und gerade an der Mündung desselben Baches war es, wo die Knaben um eilf Uhr Vormittags nach Zurücklegung von sechs Meilen von French-den aus anlangten.

An dieser Stelle und unter dem schirmartigen Gezweig einer Fichte machte man Halt. Zwischen zwei großen Steinen wurde ein großes Feuer angezündet und kurz darauf brieten zwei von Service gehäutete und ausgenommene Tucutucos über der lodernden Flamme, und wir brauchen wohl kaum zu versichern, daß der junge Koch, während Phann vor dem Herde liegend, den erfrischenden Geruch einsog, sorgfältig darauf achtete, daß sein Braten gehörig gewendet und wieder umgewendet wurde.

Man frühstückte mit dem größten Appetit, ohne sich über den ersten culinarischen Versuch Service’s besonders zu beklagen zu haben. Die Tucutucos sättigten Alle soweit, daß sie die in Säcken mitgenommenen Mundvorräthe nicht in Anspruch zu nehmen brauchten, mit einziger Ausnahme des Schiffszwiebacks, der hier die Stelle des Brotes vertrat. Und auch hiermit ging man sehr sparsam um, da es an Fleisch ja nicht fehlte – übrigens ein köstliches Fleisch mit dem Beigeschmack der aromatischen Pflanzen, von denen sich jene Nagethiere ernähren.

Nachher ging es über den Creek, und da man diesen durchwaten konnte, brauchte man das Kautschukboot nicht zu Hilfe zu nehmen, was immer einigen Zeitverlust bedeutet hätte.

Da das Uferland des Sees allmählich sumpfiger wurde, mußte man nach dem Saume des Waldes zurückgehen, doch mit der Absicht, sich sofort wieder nach Osten zu wenden, wenn der Boden das gestatten würde. Ueberall traf man die nämlichen Arten, dieselben Bäume von prächtigem Wuchs, wie Buchen, Birken, immergrüne Eichen und Fichten verschiedener Abarten.

Eine Anzahl reizender Vögel hüpften von Zweig zu Zweig, wie schwarze Spechte mit rothem Schopf, Fliegenschnäpper mit weißer Haube, Zaunkönige von der Sippe der Scytalopen, neben Tausenden von Baumhähern, welche unter dem Laubwerk kicherten, während Bachfinken, Lerchen und Amseln nach Herzenslust sangen. Höher in der Luft kreisten Condors, Urulus und einzelne Paare jener höchst gefräßigen Caracaras, welche die Gebiete von Südamerika mit Vorliebe besuchen.

In Erinnerung seines Robinson Crusoe bedauerte Service es gewiß, daß die Familie der Papageien in der Ornithologie der Insel nicht vertreten war. Hatte er auch einen Strauß nicht zu zähmen vermocht, so würde sich ein solcher geschwätziger Vogel doch vielleicht minder widerspänstig gezeigt haben. Er bekam aber keinen einzigen vor Augen.

Wild gab es übrigens im Ueberfluß, und zwar Maras, Pichis und vorzüglich Grouses, welche etwa Auerhähnen zu vergleichen wären. Gordon konnte Doniphan das Vergnügen nicht verwehren, ein Bisamschwein von mittlerer Größe zu erlegen, welches das Frühstück, wenn nicht auch das Mittagsbrot des folgenden Tages liefern sollte.

Uebrigens wurde es nicht nöthig, tiefer unter die Bäume einzudringen, was das Fortkommen entschieden erschwert hätte. Es genügte am Saume derselben hinzuziehen, und das geschah denn auch bis gegen fünf Uhr Abends, da versperrte der zweite gegen vierzig Fuß breite Wasserlauf den weiteren Weg.

Es war einer der Ausflüsse des Sees, der, nachdem er sich um den Auckland-hill gewunden, jenseits der Sloughi-Bai in den Stillen Ocean mündete.

Gordon beschloß hier Rast zu machen. Zwölf Meilen zu Fuße, das war genug für einen Tag. Inzwischen erschien es unumgänglich, dem Wasserlauf einen Namen zu geben, und da man an seinem Ufer Halt machte, wurde er Stop-river (Fluß der Rast) genannt.

Das Lager wurde unter den ersten Bäumen des Ufers aufgeschlagen. Die Grouses bewahrte man für den folgenden Tag auf, und so bildeten die Tucutucos das Hauptgericht, bezüglich dessen Service sich auch diesesmal seiner Pflichten recht anerkennenswerth entledigte. Uebrigens besiegte das Verlangen zu schlafen jetzt das Verlangen zu essen, und wenn die Münder sich öffneten, so schlossen sich die Augen. Auch ein großes Feuer wurde angezündet, vor dem Jeder sich ausstreckte, nachdem er sich in seine Decke gehüllt hatte. Der helle Feuerschein, wegen dessen Unterhaltung Wilcox und Doniphan abwechselnd wachten, mußte hinreichen, wilde Thiere in gebührender Entfernung zu halten.

Eine Störung kam nicht vor, und mit Tagesanbruch waren Alle bereit, weiter zu ziehen.

Inzwischen genügte es nicht, dem Flusse einen Namen gegeben zu haben, man mußte ihn auch überschreiten, und da er nicht zu durchwaten war, mußte das Halkett-boat zu Hilfe genommen werden. Diese gebrechliche Nußschale konnte leider nur eine einzige Person auf einmal aufnehmen; so befestigten sie also eine Leine an dessen Hintertheil und zogen es, wenn Einer übergefahren war, allemal zurück. Die siebenmalige Wiederholung dieses Verfahrens erforderte freilich eine gute Stunde Zeit. Das hatte jedoch nicht viel zu bedeuten, wenn nur der Proviant und die Munition trocken hinüberkamen.

Phann, der sich nicht scheute, die Pfoten naß zu machen, sprang einfach ins Wasser und schwamm in kurzer Zeit von einem Ufer zum anderen. Da der Erdboden nicht mehr sumpfig war, schlug Gordon eine schräge Richtung nach dem See ein, der vor zehn Uhr erreicht wurde. Nach dem Frühstück, das aus gerösteten Fleischschnitten des Bisamschweines bestand, ging es denn auch nach Norden zu weiter.

Nichts verrieth bisher, daß das Ende des Sees schon nahe sei, da der Horizont im Osten noch immer eine ununterbrochene Kreislinie von Himmel und Wasser bildete. Da rief Doniphan gegen Mittag, als er durch das Fernrohr blickte:

»Dort ist das andere Ufer!«

Alle sahen nach der bezeichneten Seite hin, wo einzelne Baumkronen sich über die Wasserfläche zu zeigen begannen.

»Halten wir uns hier nicht auf, antwortete Gordon, sondern versuchen wir, vor dem Dunkelwerden dort anzukommen.«

Eine dürre, von langen Dünenwellen unterbrochene Ebene, welche nur da und dort einzelne Binsen oder Rohrbüschel trug, breitete sich hier bis über Sehweite nach Norden zu aus. In ihrem nördlichen Theile schien die Insel Chairman überhaupt nur weite sandige Flächen einzuschließen, welche sich von den üppig grünen Wäldern des südlicheren Theils wesentlich unterschieden und denen Gordon mit vollem Rechte den Namen Sandy-desert (Sandwüste) beilegte.

Gegen drei Uhr wurde das entgegengesetzte Ufer, das nach Nordosten zu einen wenigstens zwei Meilen langen Bogen bildete, ganz deutlich sichtbar. Diese Gegend schien von jedem lebenden Wesen verlassen, außer verschiedenen Seevögeln und Silbertauchern, welche auf dem Zug nach den Uferfelsen vorüberflogen.

Wäre der »Sloughi« seiner Zeit in dieser Gegend gestrandet, so hätten die jungen Schiffbrüchigen beim Anblick eines so unfruchtbaren Landes gewiß glauben müssen, daß sie hier von allen Hilfsmitteln entblößt wären. Vergebens hätten sie auch inmitten dieser Wüstenei einen Ersatz für ihre bequeme Wohnung in French-den gesucht, und wenn ihnen der Schooner kein Obdach mehr bot, so hätten sie nicht gewußt, wo sie eine Zuflucht finden sollten.

Erschien es nun rathsam, in dieser Richtung noch weiter vorzudringen und den offenbar völlig unbewohnbaren Theil der Insel näher zu besichtigen? War es nicht besser, bis zu einer zweiten Expedition die Untersuchung des rechten Ufers zu verschieben, auf dem andere Wälder ihnen vielleicht neue Schätze boten? Lag die Insel übrigens in nicht zu großer Entfernung vom Festlande Amerikas, so war dieses in der Richtung nach Osten hin zu suchen.

Auf Doniphan’s Vorschlag hin beschloß man doch noch, bis zum Ende des Sees weiter zu wandern; dasselbe konnte nicht mehr weit entfernt sein, da die zweifache Einbiegung seiner Ufer mehr und mehr zu Tage trat.

Das wurde also noch ausgeführt, und mit Anbruch der Nacht machte man Halt im Grunde einer kleinen Bucht, welche in den nördlichen Winkel des Family-lake einschnitt.

Hier ragte kein Baum auf und fand man keine Anhäufung von Gräsern, Moos oder trockenen Flechten. Aus Mangel an Brennmaterial mußten sie sich auch begnügen, von dem in ihren Säcken befindlichen Mundvorrath zu zehren. Und bei dem Fehlen jeden Obdachs streckten sie sich auf den mit den ausgebreiteten Decken belegten Sand nieder.

Während dieser ersten Nacht sollte nichts das Stillschweigen über Sandy-desert unterbrechen.

VIII.

VIII.

Die dermalige Lage. – Vorsichtsmaßregeln. – Verändertes Verhalten. – Der Kuhbaum. – Was zu wissen nöthig war. – Ein Vorschlag Kate’s. – Briant von einer Idee eingenommen. – Sein Plan. – Unterredung. – Für Morgen.

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Die Colonie war also wieder vollzählig – ja sogar um ein Mitglied gewachsen, die gute Kate, welche in Folge eines schrecklichen Trauerspiels auf dem Meere an den Strand der Insel Chairman verschlagen worden war. Von jetzt an sollte auch wieder Einigkeit in French-den herrschen – eine Einigkeit, welche in Zukunft nichts mehr stören sollte. Wenn Doniphan noch einiges Bedauern darüber empfand, nicht das Oberhaupt der kleinen Colonie zu sein, so war er doch zu derselben ganz zurückgekehrt. Ja, die Trennung von zwei bis drei Tagen hatte ihre Früchte getragen. Mehr als einmal schon hatte er, ohne seinen Kameraden etwas davon zu sagen und ohne sein Unrecht eingestehen zu wollen, daß in ihm die Eigenliebe stärker sprach als das wirkliche Interesse, doch eingesehen, zu welcher Thorheit ihn seine Starrsinnigkeit verleitet hatte. Andererseits konnten auch Wilcox, Croß und Webb sich dieser Empfindung nicht entziehen. Nach der Opferwilligkeit, welche Briant jetzt gezeigt hatte, gab Doniphan jedoch seinen besseren Gefühlen nach, welche er auch niemals wieder verlöschen lassen wollte.

Uebrigens drohten French-den, das dem Angriffe von sieben kräftigen und bewaffneten Uebelthätern ausgesetzt war, recht ernstliche Gefahren. Ohne Zweifel lag es zwar in Walston’s Interesse, die Insel Chairman so schnell als möglich wieder zu verlassen, hätte er dagegen das Vorhandensein einer kleinen, mit Allem, was ihm fehlte, reichlich ausgestatteten Colonie gemuthmaßt, so würde er vor einem Angriffe gewiß nicht zurückgeschreckt sein, bei dem die Aussicht auf Erfolg ja ganz auf seiner Seite war. Die jungen Colonisten mußten sich also wohl oder übel sehr beschränkenden Vorsichtsmaßregeln fügen, durften sich nicht mehr vom Rio Sealand entfernen und sich nicht ferner in die Umgebung des Family-lake hinauswagen, so lange Walston und seine Bande die Insel nicht verlassen hatten.

Zunächst erschien es von Wichtigkeit zu erfahren, ob Doniphan, Croß, Webb und Wilcox bei ihrer Rückkehr von den Severn-shores nach dem Bear-rock nichts bemerkt hätten, was sie auf die Vermuthung der Anwesenheit der Matrosen des »Severn« geleitet hätte.

»Nichts, antwortete Doniphan auf eine dahinzielende Frage; freilich haben wir, um nach der Mündung des East-river zurückzugelangen, nicht denselben Weg wie bei unserer Wanderung nach Norden hin eingeschlagen.

– Danach erscheint es so gut wie gewiß, daß Walstone in der Richtung nach Osten gezogen ist, bemerkte Gordon.

– Wohl möglich, stimmte ihm Doniphan zu; doch er hat an der Küste hinwandern müssen, während wir geraden Weges durch den Beechs-forest gekommen sind. Nehmt die Karte zur Hand, und Ihr werdet sehen, daß die Insel oberhalb der Deception-Bai einen so starken Bogen macht. Dort liegt ein ausgedehntes Gebiet, in dem die Verbrecher haben Obdach suchen können, ohne sich zu weit von der Stelle, wo ihre Schaluppe gestrandet war, zu entfernen. Doch da fällt mir ein, vielleicht wüßte Kate uns annähernd zu sagen, in welcher Gegend die Insel Chairman überhaupt liegt.«

Auf eine hierüber von Gordon an sie gestellte Frage hatte Kate keine Antwort geben können. Nach dem Brande des »Severn« und nachdem der Steuermann Evans die Schaluppenführung übernommen, war er bestrebt gewesen, das Festland Amerikas, von dem die Insel also nicht gar zu weit entfernt sein konnte, anzulaufen. Uebrigens hatte er niemals den Namen der Insel verlauten lassen, nach welcher der Sturm ihn verschlagen. Da jedoch die zahlreichen Inselgruppen der Küste in einer verhältnißmäßig geringen Entfernung von einander liegen, hatte es einige Wahrscheinlichkeit für sich, daß Walston versuchen würde, diese zu erreichen, und daß er deshalb ein Interesse daran hatte, inzwischen auf dem östlichen Ufer zu verbleiben. Gelang es ihm nämlich, sein Boot wieder in seetüchtigen Zustand zu bringen, so konnte es keine zu große Mühe kosten, es nach irgend einem Lande Südamerikas überzuführen.

»Mindestens, bemerkte hierzu Briant, wenn Walston, als er, nach der Mündung des East-river gelangt, nicht Spuren Deines Vorüberkommens, Doniphan, entdeckt und daraufhin beschlossen hat, seine Nachforschungen hier weiter fortzusetzen.

– Welche Spuren? antwortete Doniphan. Ein Häufchen verglommener Asche? … Und was könnte er daraus schließen? Etwa, daß die Insel bewohnt sei? Nun, in diesem Falle denk‘ ich, würden die Schurken nur daran denken, sich zu verbergen …

– Ganz richtig, erwiderte Briant, außer wenn sie sich zufällig überzeugen könnten, daß die Bevölkerung der Insel auf eine Handvoll Kinder hinauskommt. Thun wir also ja nichts, was sie davon unterrichten könnte, wer wir sind! Das veranlaßt mich auch, Dich zu fragen, Doniphan, ob Du bei Deiner Rückkehr nach der Deception-Bai etwa einzelne Flintenschüsse abgegeben hast?

– Nein, ganz ausnahmsweise nicht, versicherte Doniphan lächelnd, denn ich verpaffe gern ein wenig Pulver! Seit wir die Küste verließen, waren wir jedoch hinreichend mit eßbarem Wild versehen und kein Knall hat unsere Gegenwart verrathen, kein Krachen eines Schusses hat unsere Anwesenheit kundgeben können. Gestern Nacht hätte zwar Wilcox beinahe auf den Jaguar gefeuert; glücklicher Weise kamst Du aber noch zur rechten Zeit, es zu verhindern, Briant, und – mir das Leben zu retten, indem Du das Deinige auf’s Spiel setztest.

– Ich wiederhole Dir, Doniphan, daß ich nur gethan habe, was Du an meiner Stelle nicht unterlassen hättest. – Und nun in nächster Zukunft keinen Flintenschuß mehr! – Verzichten wir auch auf den Besuch der Traps-woods und leben wir von unseren Vorräthen.«

Selbstverständlich war Briant seit seiner Heimkehr nach French-den jede Pflege zu Theil geworden, welche seine Verwundung, deren Vernarbung übrigens bald vollendet war, erforderte. Er behielt davon nur eine gewisse Behinderung der Beweglichkeit des Armes – doch auch diese verschwand schon nach kurzer Zeit gänzlich.

Inzwischen neigte sich der Monat October seinem Ende zu, ohne daß von Walston in der Umgebung des Rio Sealand etwas zu entdecken gewesen wäre. War er also nach Ausbesserung der Schaluppe wieder abgefahren? Das schien nicht unmöglich, denn, wie Kate sich erinnerte, war er in Besitz einer Axt und konnte sich auch jener starkklingigen Messer bedienen, wie sie die Matrosen stets bei sich führen; an Holz fehlte es in der Nähe der Severn-shores außerdem ja auch nicht.

Bei der Unsicherheit in dieser Beziehung, mußte immer die gewohnte Lebensweise eine Aenderung erfahren und vorzüglich konnten keine weiteren Ausflüge mehr unternommen werden, bis auf den einen, als Doniphan und Baxter auszogen, um den Signalmast niederzulegen, der doch bisher auf dem Gipfel des Auckland-hill sich erhob.

Von diesem Punkte aus betrachtete Doniphan mit dem Fernrohre die grünen Flächen, welche sich nach Osten hin erstreckten. Obwohl sein Blick nicht bis zum jenseitigen Ufer reichte, das ja durch den ganzen Beechs-forest verdeckt wurde, so hätte er es doch wahrnehmen müssen, wenn sich eine Rauchsäule in der Luft erhoben hätte – was dann darauf hinwies, daß Walston und seine Spießgesellen noch auf der Insel verweilten. Nach jener Richtung hin sah Doniphan aber nichts, ebensowenig freilich nach der der Sloughi-Bai, deren Gewässer auch weiter hinaus vollständig verlassen war.

Seit jeder Ausflug nun verboten war und seitdem die Gewehre in Ruhe gelassen werden mußten, hatten sich die Jäger der Colonie genöthigt gesehen, ihre mit Vorliebe gepflegte Thätigkeit einzustellen.

Zum Glück lieferten die in der Nähe von French-den errichteten Fallen und Schlingen eßbares Wild in ausreichender Menge, und außerdem hatten sich die Tinamus und die Trappen im Hühnerhofe so stark vermehrt, daß Service und Garnett sich gezwungen sahen, einen Theil derselben zu opfern. Da man sich ferner einen bedeutenden Vorrath an Blättern des Theebaumes gesichert und große Mengen jenes Ahornsaftes eingesammelt hatte, der sich so leicht in Zucker verwandelt, wurde es nicht nöthig, erst bis zum Dike-creek hinaus zu gehen, um diese Vorräthe zu erneuern. Und selbst wenn der Winter eintrat, bevor die jungen Colonisten ihre Freiheit wieder erlangt hatten, waren sie hinreichend mit Oel für ihre Laternen und mit Fleischspeisen für die Küche versehen. Nur Brennmaterial allein mußte hereingeholt werden, das fand sich aber in den umgestürzten Stämmen der Bog-woods, welche auf kurzem Wege längs des Rio Sealand ohne besondere Gefahr zu erreichen waren.

In jener Zeit trug sogar eine neue Entdeckung zu dem Wohlbefinden in French-den noch weiter bei.

Diese Entdeckung verdankte man nicht Gordon, der übrigens recht umfassende Kenntnisse in der Botanik besaß, sondern Kate war es, welcher das Verdienst für dieselbe zufiel.

Am Rande der Bog-woods stand nämlich eine gewisse Anzahl Bäume, die fünfzig bis sechzig Fuß in der Höhe messen mochten. Wenn diese bisher von der Axt verschont geblieben waren, rührte das daher, daß ihr sehr faseriges Holz die Koch- und Heizöfen der Halle und der Einfriedigung nur sehr unzulänglich erhitzt hätten. Sie trugen längliche, an den Knoten der Zweige wechselständig sitzende Blätter, deren Ende in eine scharfe Spitze auslief.

Gleich das erste Mal – am 25. October – als Kate diese Bäume erblickte, rief sie:

»Ah! … Da sind ja Kuhbäume!«

Dole und Costar, welche sie begleiteten, schlugen darüber ein helles Gelächter auf.

»Was, Kuhbäume? sagte der Eine.

– Fressen die Kühe diese Bäume? fragte der Andere.

– Nein, Ihr kleinen Papooses, nein, antwortete Kate, daß man sie so nennt, kommt daher, weil sie Milch geben, und sogar bessere Milch als Eure Vigogne-Schafe.«

Nach French-den zurückgekehrt, machte Kate Gordon von ihrer Entdeckung Meldung. Gordon rief sofort Service herzu und Beide begaben sich mit Kate noch einmal nach dem Saume der Bog-woods. Nachdem er den Baum aufmerksam betrachtet, meinte Gordon, er müsse zu den »Galactodendrons« gehören, welche in den Wäldern Nordamerikas in großer Menge vorkommen, und er täuschte sich hierin auch nicht.

Eine kostbare Entdeckung! In der That genügte es, einen Einschnitt in die Rinde dieser Galactodendrons zu machen, um einen milchähnlichen Saft ausfließen zu lassen, der den Geschmack und die ernährenden Eigenschaften der Kuhmilch hat. Außerdem bildet dieser Saft, wenn man ihn gerinnen läßt, eine vorzügliche Art Käse und liefert daneben ein sehr reines Wachs, das dem Bienenwachs vergleichbar und zur Anfertigung von sehr schönen Kerzen verwendbar ist.

»Ei nun, rief Service, wenn das ein Kuhbaum oder vielmehr eine Baumkuh ist, dann müssen wir sie auch melken!«

Ohne eine Ahnung davon zu haben, gebrauchte der übermüthige Knabe hiermit denselben Ausdruck, dessen sich die Indianer stets bedienen, indem diese gewöhnlich sagen: »Ans Werk, wir wollen den Baum melken!«

Gordon machte also einen Schnitt in die Rinde des Galactodendrons und aus diesem floß ein Saft hervor, von dem Kate reichlich zwei Pinten in einem mitgebrachten Gefäße auffing.

Es war das eine schön weiße, appetitlich aussehende Flüssigkeit, welche die nämlichen Bestandtheile wie die Kuhmilch enthält. Dieselbe ist aber noch nahrhafter, konsistenter und von viel angenehmerem Geruche. Das Gefäß wurde in French-den sehr schnell geleert und Costar befleckte sich damit den Mund wie eine junge Katze. Bei dem Gedanken, was er daraus Alles herzustellen vermochte, verhehlte auch Moko seine ganz besondere Befriedigung nicht. Zu sparen brauchte er hiermit auch nicht, denn jene »Heerde« von Galactodendrons, welche in großer Menge so vorzügliche Pflanzenmilch lieferte, stand ganz in der Nähe.

In der That, und das kann nicht oft genug wiederholt werden, hätte die Insel Chairman auch die Bedürfnisse einer weit größeren Colonie decken können, und jedenfalls war das Leben der Knaben hier auf lange Zeit hinaus völlig gesichert. Außerdem machte das Erscheinen Kate’s unter ihnen, die Pflege, welche sie von dieser wohlwollenden Frau erwarten konnten, der sie eine wirklich mütterliche Liebe einflößten, dasselbe nur um so leichter und angenehmer.

Warum mußte nun aber die frühere Sicherheit auf der Insel Chairman so traurig gestört werden! Welch‘ wichtige Entdeckungen hätten Briant und seine Kameraden ohne Zweifel noch gemacht, wenn sie auch die fast ganz unbekannten östlichen Gebietstheile hätten genauer untersuchen können, ein Vorhaben, auf das sie gegenwärtig natürlich verzichten mußten, und würde es ihnen jemals gestattet sein, ihre Ausflüge wieder aufzunehmen, bei denen sie sich nur gegen die Begegnung mit Raubthieren zu schützen hatten, mit minder gefährlichen Raubthieren, als jene Bestien in Menschengestalt, gegen die sie jetzt Tag und Nacht auf ihrer Hut sein mußten?

Bis zu den ersten Tagen des Novembers wurden indeß keine verdächtigen Spuren in den Umgebungen von French-den aufgefunden. Briant legte sich schon die Frage vor, ob die Matrosen vom »Severn« wirklich noch auf der Insel wären. Doniphan hatte jedoch mit eigenen Augen gesehen, in welch‘ traurigem Zustande deren Boot sich befand, daß dessen Mast abgebrochen, sein Segel zerrissen und seine Planken durch die Spitzen der Riffe durchlöchert waren. Freilich, und dem Steuermanne Evans konnte das nicht unbekannt sein, wenn die Insel Chairman in der Nähe eines Festlandes oder einer Inselgruppe lag, so konnte die nothdürftig ausgebesserte Schaluppe wohl benützt werden, um eine verhältnißmäßig kurze Ueberfahrt damit zu wagen. Es war also glaublich, daß Walston Alles daran gesetzt haben könne, die Insel zu verlassen … Darüber mußte man sich jedoch erst Gewißheit verschaffen, ehe die gewohnte Lebensweise wieder aufgenommen werden konnte.

Mehrmals hatte Briant schon die Absicht gehabt, nach der Gegend im Osten des Family-lake auf Erkundigung auszuziehen. Doniphan, Baxter, Wilcox verlangten nun danach, ihn begleiten zu können. Sich aber der Gefahr auszusetzen, Walston in die Hände zu fallen und diesem damit Aufklärung zu geben, mit wie wenig zu fürchtenden Gegnern er es hier zu thun habe, das hätte leicht die bedauerlichsten Folgen nach sich ziehen können. Deshalb redete es denn Gordon, dessen Rath noch immer williges Gehör fand, Briant aus, sich in die Tiefen des Beechs-forest zu wagen.

Da machte Kate einen Vorschlag, der nichts von diesen Gefahren fürchten ließ.

»Herr Briant, begann sie eines Abends, als die jungen Colonisten alle in der Halle versammelt waren, wollen Sie mir gestatten, Sie morgen mit Tagesanbruch zu verlassen?

– Uns verlassen, Kate? fragte Briant.

– Ja, Sie können nicht immer in dieser Ungewißheit bleiben, und um zu erfahren, ob Walston noch auf der Insel ist, erbiete ich mich nach der Stelle zu gehen, nach welcher wir durch den Sturm verschlagen wurden. Ist die Schaluppe noch daselbst, so hat Walston nicht wegfahren können … Ist sie nicht mehr zur Stelle, so haben Sie nichts mehr von ihm zu fürchten.

– Was Sie da thun wollen, Kate, erklärte Doniphan, ist genau dasselbe, was wir, Briant, Baxter, Wilcox und ich, uns schon selbst vorgenommen hatten.

– Zugegeben, Herr Doniphan, erwiderte Kate. Doch was für Sie sehr gefährlich war, kann es ja für mich nicht sein.

– Doch, Kate, ließ Gordon sich vernehmen, wenn Sie nun Walston wieder in die Hände fallen …

– Nun, antwortete Kate, dann befinde ich mich nur in derselben Lage wie vorher, als ich entfloh, das ist Alles.

– Und wenn der Elende Sie gar umbringt, was ja gar nicht unwahrscheinlich ist? … meinte Briant.

– O, wenn ich ihm das erste Mal entgangen bin, gab Kate zuversichtlich zur Antwort, warum sollte mir das nicht ein zweites Mal gelingen, zumal wo ich jetzt den Weg nach French-den kenne? Und wenn es sich nun gar fügte, daß ich mit Evans entfliehen könnte, dem ich Alles, was Sie betrifft, gleich mittheilen würde, wie hilfreich, wie nützlich müßte der wackere Master für Sie Alle werden!

– Wenn Evans die Möglichkeit zur Flucht geboten wäre, wandte Doniphan ein, warum sollte er sie noch nicht benützt haben? … Treibt ihn nicht das nämliche Interesse, sich zu retten? …

– Doniphan hat Recht, sagte Gordon. Evans kennt das Geheimniß Walston’s und seiner Spießgesellen, die sich gar nicht besinnen würden, ihn zu tödten, wenn sie seiner nicht zur Führung der Schaluppe nach dem Festlande Amerikas bedürften. Wenn er sich ihrer Gesellschaft also noch nicht entzogen hat, kann es nur daran liegen, daß er jeden Augenblick scharf überwacht wird …

– Oder daß er einen Fluchtversuch schon mit dem Leben bezahlt hat! setzte Doniphan hinzu. Und auch Sie, Kate, wenn Sie wieder gefangen würden …

– Glauben Sie mir, versicherte Kate, daß ich alles Mögliche thun werde, mich nicht wieder ergreifen zu lassen.

– Daran zweifl‘ ich nicht, antwortete Briant, wir werden aber nie zugeben, daß Sie sich dieser Gefahr aussetzen. Nein, es ist doch besser, ein minder gefährliches Mittel zu ersinnen, um zu erfahren, ob Walston sich noch auf der Insel Chairman befindet.«

Da Kate’s Vorschlag entschieden zurückgewiesen worden war, galt es nun blos, ohne Begehung einer Unklugheit, auf der Wacht zu sein. War Walston überhaupt in der Lage, die Insel zu verlassen, so that er das gewiß vor Eintritt der schlechten Jahreszeit, um nach einem Lande zu kommen, wo er und die Seinigen einen Empfang fanden, wie man ihn Schiffbrüchigen, diese mögen kommen, woher sie wollen, gewöhnlich zu Theil werden läßt.

Angenommen übrigens, daß Walston noch hier war, so schien er doch kaum die Absicht zu haben, das Innere weiter zu untersuchen. Wiederholt fuhren Doniphan, Briant und Moko in dunklen Nächten mit der Jolle über den Family-lake hin, beobachteten dabei aber niemals, weder am entgegengesetzten Ufer noch unter den den East-river umgebenden Bäumen den Schein eines verdächtigen Feuers.

Immerhin blieb es sehr peinlich, unter diesen Verhältnissen zu leben, ohne den zwischen dem Rio Sealand, dem See, dem Walde und dem Steilufer gelegenen Raum überschreiten zu dürfen. Briant sann deshalb auch unausgesetzt auf ein Mittel, sich wegen der Anwesenheit Walston’s Gewißheit zu verschaffen und gleichzeitig auszukundschaften, wo er etwa sein Lager aufgeschlagen habe. Um das zu erreichen, genügte es vielleicht, sich während der Nacht einmal zu einer gewissen Höhe zu erheben.

Daran dachte auch Briant und dieser Gedanke verwandelte sich in ihm allmählich zur fixen Idee. Leider enthielt die Insel Chairman, abgesehen von dem Steilufer, dessen Kamm eine Höhe von zweihundert Fuß auch nirgends überschritt, keine einzige bedeutendere Bodenerhebung. Viele Male hatten sich Doniphan und zwei oder drei Andere nach dem Gipfel des Auckland-hill begeben, konnten von dieser Stelle aus aber nicht einmal das jenseitige Ufer des Family-lake erblicken, also hätte ihnen auch kein Rauch, kein Feuerschein über dem östlichen Horizonte wahrnehmbar werden können. Es war vielmehr nothwendig, sich um einige hundert Fuß höher zu erheben, um einen Gesichtskreis zu gewinnen, der sich bis zu den ersten Felsen der Deception-Bai hinaus erstreckte.

Da erwachte in Briant eine so kühne – man könnte sagen »tollhäuslerische« – Idee, daß er sie anfänglich selbst zurückwies. Sie bemächtigte sich seiner nach und nach aber mit solcher Hartnäckigkeit, daß sie endlich in seinem Gehirne tiefe Wurzeln schlug.

Wie wir wissen, war das Vorhaben mit dem Drachen seinerzeit unterbrochen worden. Nach der Auffindung Kate’s und nach deren Meldung, daß die Schiffbrüchigen vom »Severn« noch auf der östlichen Küste weilten, hatte man auf das Project verzichten müssen, einen Apparat in die Luft aufzulassen, der von allen Punkten der Insel sichtbar gewesen wäre.

Doch, wenn dieser Drache nicht mehr als Signal verwendet werden konnte, war es da nicht möglich, ihn zum Zwecke der wegen der Sicherheit der Insel so dringend nöthigen Auskundschaftung zu verwerthen?

Gewiß, und an diesen Gedanken eben klammerte sich Briant. Er erinnerte sich, in einer englischen Zeitschrift gelesen zu haben, daß eine Frau gegen Ende des letzten Jahrhunderts so kühn gewesen sei, an einem eigens für diesen gefährlichen Aufstieg hergestellten Drachen hängend, sich in die Lüfte zu erheben. [Fußnote]

Was aber eine Frau ausgeführt hatte, sollte das ein kräftiger Knabe nicht auch wagen können? Daß sein Vorhaben mit einiger Gefahr verknüpft war, kümmerte ihn sehr wenig. Das Risico dabei erschien ihm verschwindend gegenüber den Erfolgen, die er zu erzielen hoffte, und wenn alle von der Vorsicht gebotenen Maßregeln ergriffen wurden, war ja nicht wenig Aussicht vorhanden, daß der kühne Versuch vollständig glückte. Deshalb wiederholte sich Briant auch immer, obwohl er nicht im Stande war, mathematisch die Steigkraft, welche ein Apparat dieser Art haben mußte, zu berechnen, daß dieser Apparat doch vorhanden war und es schon hinreichen würde, ihm größere Ausdehnung und mehr Festigkeit zu verleihen. Erhob er sich dann mittels desselben in der Nacht einige hundert Fuß hoch in die Luft, so gelang es ihm vielleicht, den Schein eines Lagerfeuers auf der Insel, und zwar allen Voraussetzungen nach in dem Theile derselben zwischen dem Binnensee und der Deception-Bai, zu entdecken.

Es wäre ein Unrecht, über die Idee des wackeren und zu jedem Wagestücke entschlossenen Knaben die Achseln zu zucken. Unter dem Drucke der ihn beherrschenden Vorstellung war er dahin gelangt, sein Vorhaben nicht allein für ausführbar zu halten – nach dieser Seite konnte ja eigentlich kein Zweifel aufkommen – sondern es auch für gefahrloser anzusehen, als es ihm anfangs selbst vorkam.

Jetzt handelte es sich für ihn also nur noch um die Zustimmung seiner Kameraden, und am Abende des 4., nachdem er Gordon, Doniphan, Wilcox, Webb und Baxter um eine vertrauliche Unterredung ersucht, setzte er diese in Kenntniß, daß er den Drachen zu benützen gedenke.

»Benützen? … fragte Wilcox. Und wie verstehst Du das? … Willst Du ihn jetzt noch aufsteigen lassen?

– Gewiß, antwortete Briant, weil ich voraussetze, wir hätten ihn doch zu diesem Zwecke angefertigt.

– Während des hellen Tages? erkundigte sich Baxter weiter.

– Nein, Baxter; da würde er der Wahrnehmung Walston’s schwerlich entgehen, während der Nacht dagegen …

– Wenn Du dann eine Laterne daran hängst, fiel ihm Doniphan ins Wort, wird er ebenfalls dessen Aufmerksamkeit erregen.

– So hänge ich eben keine Laterne daran.

– Wozu soll er dann aber nützen? … fragte Gordon.

– Zur Aufklärung darüber, ob die Mannschaft vom »Severn« noch auf der Insel ist.«

Briant setzte nun sein Vorhaben nicht ohne die Befürchtung, es nur mit wenig ermuthigendem Kopfschütteln aufgenommen zu sehen, in wenigen Worten näher auseinander.

Seinen Kameraden fiel es gar nicht ein, darüber zu lachen. Sie spürten nicht die geringste Veranlassung dazu, und bis auf Gordon, der sich fragte, ob Briant wirklich im Ernste spreche, schienen die Anderen sehr geneigt, ihm völlig beizustimmen. Die jungen Leute hatten sich jetzt thatsächlich so sehr an Gefahren jeder Art gewöhnt, daß eine unter diesen Verhältnissen unternommene nächtliche Auffahrt ihnen ganz ausführbar erschien. Uebrigens galt es ihnen als selbstverständlich, daß dabei jede denkbare Maßregel zur Sicherstellung des Erfolges getroffen werde.

»Wäre aber, bemerkte Doniphan, das Gewicht eines Beliebigen von uns nicht zu groß für den Drachen, wie wir diesen hergestellt haben?

– Gewiß, antwortete Briant. Natürlich werden wir ihn vergrößern und sein Gestell verstärken müssen.

– Ich möchte überhaupt wissen, sagte Wilcox, ob der Widerstand eines solchen Drachen je so groß sein könne …

– Das ist wohl nicht zweifelhaft, fiel ihm Baxter ins Wort.

– Und obendrein durch den Versuch schon bewiesen,« setzte Briant hinzu.

Er berichtete darauf von der obenerwähnten Frau, welche vor wenigen Jahren eine solche Auffahrt mit Erfolg ausgeführt hatte.

Dann fuhr er fort:

»Alles hängt aber dabei von den Größenverhältnissen des Apparates und von der Stärke des Windes beim Aufsteigen ab.

– Welche Höhe, Briant, fragte Baxter, glaubst Du mit Rücksicht auf Deinen Zweck erreichen zu müssen?

– Wenn man sechs- bis siebenhundert Fuß hinaufkäme, antwortete Briant, so müßte wohl von jedem beliebigen Theile der Insel her ein Feuer wahrzunehmen sein.

– Gut, das ist also auszuführen, rief Service, der dem Gespräche auch mit gelauscht hatte, und zwar ohne jedes Zögern! Ich für meinen Theil hab‘ es herzlich satt, an jeder freien Bewegung gehindert zu sein.

– Und wir ebenso, jetzt schon so lange unsere Fallen nicht mehr nachsehen zu können, schloß Wilcox sich diesem an.

– Und ich nicht minder, meine Flinte gar nicht mehr abfeuern zu dürfen, setzte Doniphan hinzu.

– Auf morgen also!« sagte Briant.

Als er sich dann mit Gordon allein befand, fragte dieser:

»Sage mir, Briant, ist es wirklich Dein Ernst, ein solch‘ halsbrecherisches Unternehmen zu wagen? …

– Ich will es mindestens versuchen, Gordon.

– Es ist aber höchst gefährlich!

– Vielleicht weniger, als wir uns vorstellen.

– Und wer von uns wird erbötig sein, bei diesem Versuche sein Leben auf’s Spiel zu setzen?

– Du, Gordon, Du selbst wärst sicherlich der Erste, wenn das Los Dich dazu bestimmte!

– Soll denn darüber eine Losung entscheiden, Briant? …

– Nein, Gordon; wer von uns sich dieser Aufopferung unterzieht, der soll es aus freiem Entschlusse thun.

– Deine Wahl ist wohl schon getroffen, Briant? …

– Vielleicht!«

Und Briant drückte warm die Hände Gordon’s.

IX.

IX.

Erster Versuch. – Vergrößerung des Apparates. – Zweiter Versuch. – Auf den folgenden Tag verschoben. – Ein Vorschlag Briant’s. – Jacques‘ Vorschlag. – Das Geständniß. – Briant’s Gedanken. – In der Luft bei dunkler Nacht. – Was sich da zeigt. – Der Wind frischt auf. – Ausgang des Versuches.

———

Am Morgen des 25. Novembers gingen Briant und Baxter ans Werk. Ehe sie dem Apparate aber größere Dimensionen gaben, schien es rathsam, zu wissen, welches Gewicht er in seinem jetzigen Zustande wohl zu tragen vermöge. Das gestattete dann, bei dem Mangel wissenschaftlicher Formeln, durch Versuche die ausreichende Fläche zu bestimmen, welche er erhalten mußte, um – abgesehen von seinem Eigengewichte – eine Last von mindestens hundertzwanzig oder hundertdreißig Pfund mitzunehmen.

Es war nicht nöthig, zu diesem ersten Versuche die Nacht abzuwarten. Augenblicklich wehte der Wind von Südwesten her, und Briant glaubte keine Ursache zu haben, diesen unbenützt zu lassen, wenn der Drache nur in so geringer Höhe festgehalten wurde, daß man ihn vom östlichen Seeufer aus nicht wahrnehmen konnte.

Der Versuch gelang nach Wunsch und lieferte das Ergebniß, daß der Apparat bei mäßigem Winddrucke einen zwanzigpfündigen Sack aufhob. Eine vom »Sloughi« herrührende Schnellwage hatte gestattet, dieses Gewicht sehr genau zu bestimmen.

Der Drache wurde nun wieder herunter gezogen und auf den Boden der Sport-terrace niedergelegt.

In erster Linie verstärkte nun Baxter dessen Gestalt mit Hilfe von dünnen Stricken, die in einem Mittelknoten so zusammenliefen, wie die Fischbeinstäbe eines Regenschirmes in dem auf dem Stocke gleitenden Ringe. Dann wurde seine Oberfläche durch allseitige Verlängerung des Gestelles und einen weiteren Leinenbezug vergrößert, bei welcher Arbeit sich Kate ganz besonders nützlich erwies. An Nadeln und Nähfaden fehlte es in French-den ja nicht, und die geschickte Aufwärterin verstand sich vortrefflich auf Näharbeiten.

Wären Briant und Baxter in der Mechanik »stärker« gewesen, so hätten sie bei Herstellung ihres Apparates gewiß die in Betracht kommenden Grundprincipien, das Gewicht, die ebene Oberfläche, den Mittelpunkt der Schwere, den des Winddruckes – welcher mit dem Mittelpunkte der Gestalt des Apparates zusammenfällt – und endlich den Anheftungspunkt der Schnur genauer beachtet. Aus solchen Berechnungen hätten sie dann den Schluß gezogen, wie groß die Steigkraft des Drachens sein und welche Höhe er dabei erreichen konnte. Außerdem hätten sie auch durch Rechnung die Stärke der Schnur ermitteln können, welche der dann auf sie wirkenden Spannung genügend widerstehen konnte – eine der wichtigsten Bedingungen für die persönliche Sicherheit des Beobachters.

Glücklicherweise paßte die Schnur, welche früher für das Log des Schooners gedient hatte und gegen zweitausend Fuß lang war, hierzu vollkommen. Uebrigens »zieht« ein Drache, selbst bei frischer Brise, nicht allzustark, wenn nur der Haltepunkt an der »Wage« richtig gewählt ist. Es galt also, diesen Punkt, von dem die Neigung des Apparates gegen den Wind und hiervon dessen Stabilität abhängt, sorgsam zu bestimmen.

Zu dem jetzt vorliegenden Zwecke bedurfte der Drache keines Schwanzes am unteren Ende, worüber sich Dole und Costar nicht wenig härmten. Ein solcher war jedoch unnöthig; das mit in die Höhe genommene Gewicht mußte schon hinreichen, einen »Kopfsturz« desselben zu verhindern.

Nach mehrfachen Versuchen fanden Briant und Baxter heraus, daß die Last am unteren Drittel des Gestelles und zwar an einer der Querlatten befestigt werden mußte, welche die Leinwand der Breite nach ausgespannt erhielten. Zwei an dieses Querstück geknüpfte Stricke sollten diese dann etwa zwanzig Fuß weiter unten schwebend erhalten.

Die Halteschnur richtete man in einer Länge von etwa zwölfhundert Fuß vor, was, die Ausbiegung eingerechnet, die Erreichung einer Höhe von sieben- bis achthundert Fuß gestatten mußte.

Um endlich den Gefahren eines Absturzes so viel wie möglich vorzubeugen, wenn etwa die Schnur doch zerreißen oder ein Bruch des Gestells eintreten sollte, wurde beschlossen, den Aufstieg über dem See vorzunehmen. Die horizontale Entfernung, in welcher ein solcher Sturz erfolgen mußte, konnte übrigens in keinem Falle so groß sein, daß ein geübter Schwimmer das westliche Ufer nicht hätte erreichen können.

Nach Vollendung des Apparates zeigte dieser eine Oberfläche von siebenzig Quadratmetern bei achteckiger Gestalt, deren Radius fünfzehn Fuß und von der jede Seitenlinie vier Fuß maß. Mit seinem sehr haltbaren Gestell und der für den Wind undurchlässigen Leinwand mußte er ein Gewicht von hundert bis hundertzwanzig Pfund leicht mitnehmen.

Betreffs der »Gondel«, in welcher der Beobachter Platz nehmen sollte, so bestand diese einfach aus einem jener Körbe aus Rohrgeflecht, wie sie auf Schiffen zu mancherlei Zwecken dienen. Dieser war tief genug, um einen Knaben von mittlerer Größe bis an die Achselhöhlen aufzunehmen, und weit genug, um ihm sowohl freie Bewegung zu gestatten, als auch leicht aus demselben herausspringen zu können, wenn das die Noth erforderte.

Wie man sich leicht denken kann, war diese Arbeit nicht in einem und auch nicht in zwei Tagen abgethan. Am Morgen des 5. begonnen, wurde sie erst am Nachmittage des 7. vollendet. Man verlegte also auf diesen Abend einen Probeaufstieg, der die Steigkraft des Apparates und seine Stabilität in der Luft erkennen lassen sollte.

Während der letzten Tage hatte sich die allgemeine Lage in keiner Hinsicht verändert. Wiederholt waren die Einen oder die Andern stundenlang zum Auslugen auf dem Steilufer geblieben. Sie sahen dabei aber nichts Verdächtiges, weder im Norden zwischen French-den und dem Saume der Traps-woods, noch im Süden, jenseits des Rio, oder im Westen, nach der Sloughi-Bai zu; ebenso wenig auch auf dem Family-lake, zu dem Walston vor dem Verlassen der Insel doch hätte leicht genug vordringen können. Kein Knall ließ sich in der Umgebung des Auckland-hill hören; keine Rauchsäule wirbelte am Horizonte auf.

Konnten Briant und seine Kameraden also wohl hoffen, daß jene Uebelthäter die Insel Chairman endgiltig wieder verlassen hätten? Sollte es ihnen endlich vergönnt sein, ihre gewohnte Lebensweise in aller Sicherheit wieder aufzunehmen?

Darüber sollte jenes bald auszuführende Vorhaben jedenfalls Aufklärung verschaffen.

Jetzt blieb nur noch eine »technische Frage« zu lösen übrig: Wie sollte Derjenige, welcher in dem Nachen oder vielmehr der »Küpe« Platz nahm, in die Lage gesetzt werden, ein Signal zu geben, wenn er es für angezeigt hielt, wieder nach der Erde herabgezogen zu werden?

Darüber sprach sich Briant aus, als ihn Doniphan und Gordon deshalb befragten.

»An ein Lichtsignal ist nicht zu denken,« erklärte Briant, »denn das könnte von Walston ebenso gut bemerkt werden. Baxter und ich, wir haben Folgendes verabredet. Ein Bindfaden, ebenso lang wie die Schnur des Drachen, soll, nachdem er erst durch eine in der Mitte durchbohrte kleine Bleikugel gezogen ist, mit dem einen Ende am Nachen befestigt werden, während das andere unten auf der Erde in den Händen eines von uns bleibt. Es wird dann genügen, die Kugel am Bindfaden hinabgleiten zu lassen, um das Zeichen zum Herunterziehen des Drachen zu geben.

– Gut ausgeklügelt!« meinte Doniphan.

Nachdem man sich also über Alles verständigt, war nur noch der Probeaufstieg des Apparates allein, nebst einer entsprechenden Last, vorzunehmen. Der Mond konnte vor zwei Uhr Nachts nicht aufgehen, und es wehte überdies eine geeignete von Südwesten kommende Brise. Die Bedingungen erschienen also ganz günstig, um noch denselben Abend zu diesem Versuche vorzuschreiten.

Um neun Uhr war es schon tief dunkel. Einige ziemlich dichte Wolken zogen durch die Luft über einen fast sternenlosen Himmel hin. Der Apparat mochte sich jetzt noch so hoch erheben, so konnte er nicht einmal aus der Nähe von French-den her mehr gesehen werden.

Große und Kleine sollten diesem Versuche beiwohnen, und da es sich dabei nur um einen »Probepfeil«, wie man zu sagen pflegt, handelte, so folgten alle den einzelnen Stadien desselben mit mehr eigentlichem Vergnügen als mit innerer Erregung.

Nach der Mitte der Sport-terrace hatte man eine Winde von »Sloughi« geschafft und gut im Erdboden befestigt, um dem starken Zuge des Apparates widerstehen zu können. Die lange, sorgfältig aufgewickelte Schnur wurde ebenso wie der zur Signalgebung bestimmte Bindfaden so vorbereitet, daß sie ganz leicht abrollen konnten. In den Nachen hatte Briant einen Sack mit Erde gesetzt, der genau hundertdreißig Pfund und damit mehr wog als der schwerste seiner Kameraden.

Doniphan, Baxter, Wilcox und Webb stellten sich bei dem, etwa hundert Schritte von der Winde auf der Erde liegenden Drachen auf. Auf Briant’s Zuruf sollten sie diesen mittels Schnuren, welche an den Querlatten des Gestells angebracht waren, langsam in die Höhe richten. Sobald der Apparat, entsprechend seiner durch Anordnung der Wage bedingten Neigung, genügend Wind abfing, sollten Briant, Gordon, Service, Garnett und Croß, welche zur Bedienung der Winde bereit standen, ihm je nach seinem Aufsteigen in die Luft mehr Schnur abrollen lassen.

»Achtung! rief Briant.

– Wir sind fertig! antwortete Doniphan.

– Los!«

Der Apparat erhob sich langsam, erzitterte und knarrte ein wenig unter dem Drucke des Windes und neigte sich dann nach vorwärts gegen diesen.

»Nachlassen! … Schnur nachlassen!« rief Wilcox.

Sofort begann die Welle der Winde sich in Folge der Schnuranspannung zu drehen, während der Drachen sich mit dem belasteten Korbe langsam in die Luft erhob.

Obwohl es eine Unklugheit war, erschallten doch freudige Hurrahs, als der »Riese der Lüfte« von der Erde emporschwebte. Sofort verschwand er aber auch schon in der Dunkelheit, zum größten Mißvergnügen Iverson’s, Jenkins‘, Dole’s und Costar’s, die ihn gerne stets im Auge behalten hätten, während er über dem Family-lake schaukelte. Das veranlaßte Kate, ihnen zum Troste zuzurufen:

»Laßt nur nicht die Köpfe hängen, meine Papoofes! … Ein andermal, wenn das ohne Gefahr geschehen kann, lassen wir ihn bei hellem Tage steigen, Euren Riesen, und dann dürft Ihr ihm auch, wenn Ihr hübsch gefolgt habt, kleine Briefboten nachschicken.«

Trotz seiner augenblicklichen Unsichtbarkeit, fühlte man doch, daß der Drache gleichmäßig zog, ein Beweis, daß in den oberen Schichten ein anhaltender Wind wehte, der nur einen mäßigen Druck ausübte, und ferner, daß auch die Wage an dem Apparat richtig angebracht war.

Briant ließ, um diesen Versuch, den gegebenen Verhältnissen entsprechend, so überzeugend wie möglich zu gestalten, die Schnur bis ans Ende ablaufen, wodurch er deren Spannung beurtheilen konnte, die sich übrigens als nicht übermäßig erwies. Von der Rolle waren zwölfhundert Fuß derselben abgelaufen, und damit mußte sich der Apparat auf sieben- bis achthundert Fuß erheben. Der ganze Vorgang hatte nicht über zehn Minuten beansprucht.

Nach Vollendung desselben wurden die Kurbeln in Bewegung gesetzt, um die Schnur wieder einzuziehen. Dieser zweite Theil der Arbeit dauerte freilich weit länger, und man brauchte nicht weniger als eine Stunde, um die zwölfhundert Fuß lange Schnur wieder aufzuwickeln.

Ganz wie bei einem Luftballon, ist auch bei einem Drachen die endliche Landung immer die schwierigste Aufgabe, wenn dieselbe ohne Stoß erfolgen soll. Die Brise erwies sich jedoch als so beständig, daß auch das in erwünschtester Weise gelang. Bald trat denn auch das Achteck aus Leinwand wieder aus der Dunkelheit hervor und legte sich ganz sanft, fast genau an der Stelle, wo es emporgestiegen war, auf den Erdboden nieder.

Lustige Hurrahs begrüßten seine Rückkehr, wie sie seine Auffahrt begleitet hatten.

Der Drache brauchte jetzt nur mehr auf der Erde festgehalten zu werden, um ihn keinen Wind fangen zu lassen, und Baxter erbot sich nebst Wilcox, denselben bis Tagesanbruch zu überwachen.

Am folgenden Tage, dem 8. November, sollte zur nämlichen Stunde die entscheidende Auffahrt erfolgen.

Jetzt erwarteten Alle nur noch die Aufforderung Briant’s, um nach French-den zurückzukehren.

Briant äußerte jedoch nichts und schien vielmehr vollständig in Gedanken versunken.

Woran mochte er wohl denken? Etwa an die Gefahren, welche ein unter so außerordentlichen Verhältnissen unternommener Aufstieg mit sich führen mußte? Oder grübelte er über die schwere Verantwortlichkeit, die er dadurch auf seine Schultern lud, daß er einen seiner Kameraden sich in diesem gebrechlichen Nachen erheben ließ?

»Gehen wir heim, sagte endlich Gordon, es wird schon spät …

– Einen Augenblick, antwortete da Briant. – Gordon und Doniphan, wartet doch ein wenig! … Ich habe Euch einen Vorschlag zu machen.

– So sprich! entgegnete Doniphan.

– Wir haben soeben unseren Drachen erprobt, nahm Briant das Wort, und dieser Versuch ist, da die begleitenden Umstände günstig waren, ganz nach Wunsch ausgefallen, denn der Wind hielt sich recht beständig und war auch weder zu stark noch zu schwach. Wissen wir aber schon, wie das Wetter morgen sein wird, ob der Wind uns morgen gestatten wird, den Apparat wirklich über dem See zu erhalten? Und doch erscheint es mir gut, unser Vorhaben nicht zu verschieben.«

Gewiß war das, nachdem der Versuch einmal beschlossen wurde, auch am richtigsten.

Auf jenen Vorschlag hatte indeß Keiner geantwortet. Gegenüber der Aussicht, sich einer so schweren Gefahr auszusetzen, erschien dieses Zögern, selbst von Seiten der Unerschrockensten, ja ganz natürlich.

Als Briant jedoch ohne Umschweife die Frage stellte:

»Wer wird nun mit aufsteigen? rief eine Stimme sofort:

– Ich!« … Jacques hatte sich zuerst gemeldet.

Doch fast gleichzeitig erklang es auch:

»Ich! … Ich! …« und zwar von Seiten Doniphan’s, Baxter’s, Wilcox‘, Croß‘ und Service’s wie aus einem Munde.

Dann entstand ein Stillschweigen, welches sich Briant nicht zu unterbrechen beeilte.

Jacques nahm zuerst wieder das Wort.

»Laß mich es wagen, Bruder! sagte er. Mir kommt es zu! … Mir! … Ich bitte Dich, laß mich mit auffahren!

– Und warum Dir mehr als mir … mehr als jedem Andern? ließ Doniphan sich vernehmen.

– Ja … warum? fragte Baxter.

– Weil es meine Pflicht ist! stieß Jacques hervor.

– Deine Pflicht? … wiederholte Gordon.

– Ja … gewiß!«

Gordon hatte Briant’s Hand ergriffen, wie um diesen nach der Bedeutung der Worte seines jüngern Bruders zu fragen, und er fühlte, daß diese in der seinigen zitterte. Und wäre die Nacht nicht so dunkel gewesen, so hätte er auch die Wangen seines Kameraden erbleichen und dessen Lider sich über die feuchten Augen herabsenken sehen müssen.

»Nun also, Bruder? … fuhr Jacques in entschlossenem und für ein Kind seines Alters erstaunlichem Tone fort.

– Antworte, Briant! sagte Doniphan. Jacques behauptet ein Recht darauf zu haben, sich für uns in Gefahr zu begeben. Haben wir denn nicht dasselbe Recht? … Was hat er gethan, um es für sich zu beanspruchen? …

– Was ich gethan … antwortete Jacques zaudernd, was ich gethan habe … nun, so will ich’s Euch sagen.

– Jacques! rief Briant bestürzt, als wolle er das Geständniß seines Bruders verhindern.

– Nein, nein! rief Jacques mit von Erregung unterbrochener Stimme. Laß mich Alles gestehen! … Es lastet zu schwer auf mir! … Gordon, Doniphan … Ihr Alle, wenn Ihr Euch hier befindet … fern von Euren Eltern auf dieser Insel … so bin ich … ich allein schuld daran! … Daß der »Sloughi« auf’s hohe Meer trieb … kam daher, daß ich aus Unverstand … nein, aus Scherz … in sinnloser Spielerei … die Taue löste, welche ihn am Quai von Auckland festhielten. Ja … die reine tolle Laune! … Und dann, als ich die Yacht abtreiben sah, hab‘ ich den Kopf verloren, habe nicht um Hilfe gerufen, als es noch Zeit war. Dann … eine Stunde später … in dunkler Nacht … auf offener See … Ach, Verzeihung, meine Freunde, Verzeihung!« …

Der arme Knabe schluchzte bitterlich, trotz Kate’s Bemühungen, die ihn zu beruhigen suchte.

»Gut, Jacques! sagte jetzt Briant. Du hast Deinen Fehler eingestanden und willst jetzt das Leben daran wagen, ihn wieder gut zu machen oder wenigstens teilweise das Uebel auszugleichen …

– Hat er das nicht schon längst ausgeglichen? fiel ihm Doniphan, dem Drange seines natürlichen Edelmuthes folgend, ins Wort. Hat er sich nicht zwanzigmal Gefahren ausgesetzt, um uns einen Dienst zu erweisen? … O, Briant, jetzt versteh‘ ich, warum Du Deinen Bruder immer zuerst in’s Treffen schicktest, wenn es ein gefährlicheres Wagestück galt, und ebenso, warum er stets zu jeder Aufopferung bereit war … Aus diesem Grunde wagte er sich in den dicken Nebel hinaus, um Croß und mich aufzusuchen … mit eigener Lebensgefahr aufzusuchen! … Ja, lieber Freund Jacques, wir verzeihen Dir herzlich gern, und Du hast es nicht nöthig, Dir noch besonders Vergebung für Deinen Fehler zu erkaufen!«

Alle umringten Jacques, drückten ihm die Hände, und doch quollen noch immer schmerzliche Seufzer aus dessen Brust. Jetzt wußte man also, warum dieses Kind – sonst der lustigste, aber auch der muthwilligste Zögling der Pension Chairman – hier so traurig geworden war und sich immer abseits zu halten suchte … Dann hatte man gesehen, wie Jacques, wohl auf Verlangen seines Bruders, aber noch mehr aus eigenem Entschlusse, stets mit seiner Person voraus wollte, wo es sich um Bestehung einer Gefahr handelte … Und noch immer glaubte er hierin nicht genug gethan zu haben! … Er verlangte, sich für die Andern aufopfern zu dürfen. Als er die Sprache wieder gefunden, sagte er nur:

»Ihr seht also, mir kommt es zu … mir ganz allein … mit hinaufzufahren. Nicht wahr, Briant?

– Gut, Jacques, schon gut!« wiederholte sein Bruder, der ihn innig in die Arme schloß.

Gegenüber dem Geständnisse, das Jacques eben abgelegt, gegenüber dem von ihm geforderten Rechte versuchten Doniphan und die Andern vergebens Einspruch zu erheben. Es blieb nichts übrig, als ihm zuzugestehen, sich dem Winde, der etwas Neigung zum Auffrischen zeigte, anzuvertrauen.

Jacques drückte seinen Kameraden dankbar die Hand. Schon bereit, in dem von dem Erdsacke befreiten Korbe Platz zu nehmen, wandte er sich noch einmal an Briant zurück. Dieser stand regungslos einige Schritte hinter der Winde.

»Laß mich Dich umarmen, Bruder! sagte Jacques.

– Ja … umarme mich! antwortete Briant, seine Erregung mit Mühe bemeisternd. Oder vielmehr … ich will Dich umarmen … denn ich … ich werde mit auffahren! …

– Du? … rief Jacques.

– Du? … Du? … wiederholten Doniphan und Service.

– Ja … ich! Ob Jacques‘ Vergehen durch ihn oder durch seinen Bruder wettgemacht wird, ändert doch nichts. Als mir übrigens der Gedanke zu diesem Unternehmen kam, habt Ihr jemals glauben können, ich hätte die Absicht gehabt, es einen Andern ausführen zu lassen? …

– Liebster Bruder, bat Jacques, ich flehe Dich darum an! …

– Nein, Jacques!

– Dann, sagte Doniphan, überlaß mir die Ausführung.

– Nein, Doniphan, entgegnete Briant mit einem jeden Widerspruch ausschließenden Tone. Nur ich selbst werde mit aufsteigen. Ich will es!

– Das wußt‘ ich von Dir im Voraus, Briant!« sagte Gordon, in dem er die Hand des Kameraden in der seinen preßte.

Bei diesen Worten war Briant schon in den Nachen gestiegen, und als er ordentlich Platz genommen, gab er Befehl, den Drachen aufzurichten.

Der sich unter dem Drucke des Windes neigende Apparat stieg zuerst langsam empor; darauf ließen Baxter, Wilcox, Croß und Service, welche an der Winde standen, mehr Schnur ablaufen, während Garnett, der den Signalbindfaden in der Hand hielt, diesen nachgleiten ließ.

Binnen zehn Secunden war der »Riese der Lüfte« im Halbdunkel verschwunden, aber nicht unter dem lauten Hurrahrufen, wie es seinen ersten Steigeversuch begleitet, sondern jetzt unter tiefem Stillschweigen.

Das unerschrockene Oberhaupt der kleinen Welt, der edelmüthige Briant, war mit ihm verschwunden.

Der Apparat erhob sich inzwischen regelmäßig, doch langsam. Die Gleichmäßigkeit der Brise sicherte ihm ein vollkommenes Gleichgewicht, so daß er kaum von einer Seite zur andern schwankte. Briant empfand also keine jener Oscillationen, die seine Lage sehr gefahrvoll gemacht hätten. Er hielt sich auch selbst unbeweglich und hatte mit beiden Händen die Aufhängeleine der eigenthümlichen Gondel fest gepackt, welche kaum eine leichte Schaukelbewegung machte, doch welche seltsame Empfindungen erfüllten Briant zuerst, als er sich an dieser großen geneigten Leinenfläche im Luftraume schweben sah und der Drache über ihm unter dem Drucke des Windes leise erzitterte. Es kam ihm vor, als sei er von einem phantastischen Raubvogel entführt worden oder als klammere er sich vielmehr an die Flügel einer ungeheueren Fledermaus. Dank der Energie seines Charakters gelang es ihm, die Kaltblütigkeit zu bewahren, welche sein Unternehmen erforderte.

Zehn Minuten, nachdem der Drache den Boden der Sport-terrace verlassen, verrieth ein schwacher Ruck, daß seine Aufwärtsbewegung beendet sei. An’s Ende der Schnur gelangt, stieg er aber noch ein wenig auf, dieses Mal freilich nicht ohne einige Stöße. Die in lothrechter Linie erreichte Höhe mochte zwischen sechshundert und siebenhundert Fuß betragen.

Briant, der völlig ruhig war, ergriff zuerst den an der Kugel befestigten Bindfaden und begann nachher seine Beobachtungen. Mit einer Hand sich an den Aufhängeleinen haltend, führte er das Fernrohr mit der anderen Hand vor die Augen.

Unter ihm herrschte tiefe Dunkelheit. See, Wälder und Steilufer bildeten eine verschwommene Masse, von der er keine Einzelheiten unterscheiden konnte.

Der Umkreis der Insel hob sich dagegen noch deutlich genug von dem diese umfluthenden Meere ab, und von seinem derzeitigen Standpunkte aus konnte Briant sie sogar im ganzen Umfange übersehen.

Hätte er diesen Aufstieg am hellen Tage ausgeführt und seine Blicke über den lichtbedeckten Horizont schweifen lassen, so würde er vielleicht entweder andere Inseln oder selbst ein Festland haben entdecken müssen, wenn ein solches innerhalb des Radius von vierzig bis fünfzig Meilen lag – eine Entfernung, welche sein Gesichtskreis gewiß umfaßte.

War jetzt gegen Westen, Norden und Süden der Himmel so bewölkt, daß er nach dieser Seite nichts zu erkennen vermochte, so war das nicht der Fall in der Richtung nach Osten, wo ein kleiner Abschnitt des Firmaments jetzt, von Wolken ganz frei, einzelne Sterne herabflackern ließ.

Gerade nach dieser Seite zog da ein ziemlich heller Schein, der sich an den niedrigen Wolkenschichten noch wiederspiegelte, Briant’s Aufmerksamkeit wach.

»Das ist der Schein eines Feuers! sagte er sich. Sollte Walston sein Lager dort aufgeschlagen haben? … Nein, dieses Feuer ist viel zu entfernt und befindet sich unzweifelhaft außerhalb unserer Insel! … Sollte es ein Vulkan sein, der eben einen Ausbruch hätte, und läge demnach ein Land nach dieser Gegend zu?«

Dabei fiel es Briant wieder ein, daß während seines letzten Zuges nach der Deception-Bai ein weißlicher Fleck im Felde seines Fernrohrs aufgetaucht war.

»Ja, murmelte er für sich, das war in dieser Richtung … Und dieser Fleck, sollte das vielleicht der Widerschein eines Gletschers sein? … Dort im Osten muß es ein Land, und zwar ziemlich nahe der Insel Chairman, geben!«

Briant hatte sein Fernrohr auf diesen hellen Schein gerichtet, den die Dunkelheit ringsum noch deutlicher hervortreten ließ. Es unterlag keinem Zweifel, daß sich dort ein feuerspeiender Berg in der Nachbarschaft des schon gesehenen Gletschers befand, der entweder einem Festlande oder einer Inselgruppe angehörte, welche weiter als dreißig Meilen schwerlich entfernt sein konnte.

In diesem Augenblicke bemerkte Briant auch noch einen zweiten Lichtschein; nur weit näher, höchstens fünf bis sechs Meilen weit, und folglich auf der Oberfläche der Insel, flammte ein anderer Feuerschein zwischen den Bäumen im Osten des Family-lake.

»Das ist aber im Walde, sagte er, und zwar an dessen Saume nach der Seite der Küste hin.«

Es schien jedoch, als wäre dieser helle Glanz nur sichtbar geworden, um sofort wieder zu verschwinden, denn es gelang Briant nicht, ihn noch einmal wahrzunehmen.

O, wie schlug ihm da das Herz so stürmisch und wie zitterte seine Hand, daß es ihm ganz unmöglich wurde, das Fernrohr mit genügender Ruhe zu halten!

Eins stand jedoch fest – dort, nicht weit von der Mündung des East-river, loderte ein Lagerfeuer. Briant hatte es bestimmt gesehen, und er erkannte auch bald darauf noch einmal, wie dasselbe durch das Dickicht der Bäume schimmerte.

Walston und seine Bande lagerten also an jenem Punkte, in der Nähe des kleinen Hafens des Bear-rock! Die Mordgesellen vom »Settern« hatten die Insel Chairman nicht verlassen!

Die jungen Colonisten waren ihrem Angriffe nach wie vor ausgesetzt und noch immer gab es in French-den keine Sicherheit wieder!

Welche Enttäuschung bereitete das Briant! Offenbar hatte Walston, bei der Unmöglichkeit seine Schaluppe auszubessern, darauf Verzicht leisten müssen, wieder in See zu gehen, um eines der benachbarten Länder zu erreichen. Und doch gab es deren in der hiesigen Gegend – in dieser Beziehung konnte kein Zweifel mehr aufkommen.

Da Briant seine ihm nöthig erscheinenden Beobachtungen beendet, hielt er es für nutzlos, seinen Aufenthalt in der Luft noch zu verlängern. Er bereitete sich also zum Niedersteigen. Der Wind frischte jetzt merkbar auf. Schon verursachten die stärker gewordenen Oscillationen ein Schwanken des Nachens, welches die Landung bedeutend erschweren mußte.

Nachdem er sich überzeugt, daß der Signalfaden hinreichend angespannt sei, ließ Briant die Kugel hinabgleiten, welche in einigen Secunden in die Hand Garnett’s lief.

Sogleich begann die Schnur an der Winde den Apparat nach dem Boden hin abzuziehen.

Während der Drachen sich aber herabsenkte, blickte Briant noch in der Richtung der von ihm wahrgenommenen Lichtscheine hinaus. Er erkannte dabei noch das Feuer von der Eruption und, weit näher am Ufer, das Lagerfeuer.

Man kann sich wohl vorstellen, daß Gordon und die Uebrigen das Signal zum Abstieg mit größter Ungeduld erwartet hatten, denn die zwanzig Minuten, welche Briant oben in der Luft verweilte, erschienen ihnen über die maßen lang.

Inzwischen handhabten Doniphan, Baxter, Wilcox, Service und Webb nach Kräften die Kurbeln der Winde. Auch sie hatten ja bemerkt, daß der Wind an Stärke zunahm und jetzt auch minder regelmäßig wehte. Sie empfanden das an den Stößen, welche die Schnur erlitt und dachten nicht ohne Besorgniß an Briant, der den Gegenstoß derselben ertragen mußte.

Die Winde arbeitete also sehr rasch, um die zwölfhundertfußlange Schnur wieder aufzuwickeln, welche vorher abgerollt worden war. Der Wind frischte noch weiter auf und dreiviertel Stunde nach dem von Briant gegebenen Signal blies er schon mit voller Kraft.

In diesem Augenblick mochte der Apparat noch gegen hundert Fuß über dem See schweben.

Plötzlich erfolgte ein sehr heftiger Ruck. Wilcox, Doniphan, Service, Webb, Baxter, denen jeder Widerhalt fehlte, wurden dabei bald zur Erde gestürzt. Die Schnur des Drachen war gerissen.

Unter den wildesten Schreckensrufen erschallte da wohl zwanzig Mal der Name:

»Briant! … Briant!« …

Wenige Minuten später sprang Briant auf den Strand und rief mit lauter Stimme.

»Bruder! … Bruder! … jauchzte ihm Jacques entgegen, der zuerst in seinen Armen lag.

– Walston ist noch da!«

Das waren die ersten Worte Briant’s, als seine Kameraden zu ihm herangekommen waren.

Den Augenblick, als die Schnur riß, fühlte Briant nicht einen plötzlichen Sturz, sondern bemerkte, daß er in schräger Richtung und verhältnißmäßig langsam herniedersank, weil der Drache über ihm eine Art Fallschirm bildete. Jetzt hatte er nichts anderes zu thun, als aus dem Nachen frei zu kommen, ehe dieser die Oberfläche des Sees erreichte; kurz vor dem Untertauchen desselben sprang Briant kopfüber hinaus, und da er ein guter Schwimmer war, machte es ihm keine besondere Schwierigkeit, das höchstens noch vier- bis fünfhundert Fuß entfernte Ufer zu gewinnen.

Während dessen war der von seinem Gegengewicht befreite Drache im Nordosten verschwunden und von der steifen Brise gleich einer riesigen »Seetrift« in die Ferne entführt.

VI.

VI.

Besichtigung der Deception-Bai. – Bear-rock-harbour. – Plan bezüglich der Rückkehr nach French-den. – Untersuchung des Nordens der Insel. – Der North-creek. – Beechs-forest. – Schwerer Sturm. – Eine Nacht mit Hallucinationen. – Beim Grauen des Tages.

———

Die erste Sorge Doniphan’s, Wilcox‘, Webb’s und Croß‘ war es nun, am Ufer des Flusses vollends bis zu dessen Ausmündung hinabzugehen. Von hier aus ließen sie die Blicke forschend über das Meer schweifen, das sie zum ersten Male vor sich sahen und welches nicht minder verlassen schien, wie das an der entgegengesetzten Inselseite.

»Und dennoch, bemerkte Doniphan, wenn die Insel Chairman, wie wir anzunehmen alle Ursache haben, nicht fern vom Festlande Amerikas liegt, so müssen die Schiffe, welche aus der Magellan-Straße kommen und nach den Häfen von Chili und Peru hinaufsegeln, im Osten derselben vorüberkommen. Ein Grund mehr, uns an der Küste der Deception-Bai anzusiedeln, und wenn Briant ihr auch einen so wenig versprechenden Namen gegeben, so hoffe ich doch, daß sie diesen in nicht zu langer Zeit Lügen straft.«

Vielleicht suchte Doniphan, als er diese Bemerkung machte, schon nach einer Entschuldigung oder doch nach einem annehmbaren Vorwand zu einem Bruche mit den Kameraden in French-den. Alles wohl erwogen, durfte man allerdings annehmen, daß Schiffe mit der Bestimmung nach südamerikanischen Häfen auf diesem Theile des Stillen Oceans, im Osten der Insel Chairman, vorübersegeln mußten.

Nachdem Doniphan den Horizont mittels Fernrohres beobachtet, wollte er die Mündung des East-river untersuchen. Ganz wie Briant bestätigten seine Genossen und er, daß die Natur hier einen kleinen, gegen Wind und Seegang vorzüglich geschützten Hafen geschaffen habe. Wäre der Schooner an dieser Stelle der Insel Chairman angetrieben, so wäre es vielleicht möglich gewesen, die Strandung zu vermeiden und ihn im seetüchtigen Zustand zur Heimführung der jungen Colonisten zu erhalten.

Hinter den diesen Hafen bildenden Felsen erhoben sich schon die ersten Bäume des Waldes, der sich nicht allein bis zum Family-lake, sondern auch nach Norden hinaus erstreckte, wo das Auge nichts wie eine grüne Masse erblickte. Was die an den Granitmassen des Ufers befindlichen Aushöhlungen betraf, so hatte Briant keineswegs übertrieben. Doniphan kam nur wegen der Auswahl in Verlegenheit. Jedenfalls schien es rathsam, sich nicht vom Ufer des East-river unnöthig zu entfernen, und so hatte er bald einen mit feinem Sand ausgekleideten, mit Ecken und Nischen versehenen »Rauchfang« entdeckt, der mindestens eben so viel Bequemlichkeit bieten mußte, wie French-den. Die betreffende Höhle hätte sogar für die ganze Colonie ausgereicht, denn sie enthielt eine ganze Reihe anstoßender Hohlräume, aus denen man verschiedenen Zwecken dienende Zimmer machen konnte, statt sich dort mit der Halle und dem Store-room begnügen zu müssen.

Dieser Tag wurde zur Untersuchung der Küste auf eine Strecke von zwei Meilen verwendet. Dabei schossen Doniphan und Croß einige Tinamus, während Wilcox und Webb einige hundert Schritte landeinwärts der Mündung des East-river verschiedene Grundangeln legten. Dadurch wurden ein halb Dutzend Fische von denselben Arten, welche im Rio Sealand vorkamen, gefangen – unter anderen zwei Barsche von ansehnlicher Größe. Von Schalthieren wimmelte es ebenfalls in den zahllosen Wasserlöchern zwischen den Klippen, welche im Nordosten den Hafen gegen den schweren Seegang schützten. Miesmuscheln und Patenen gab es hier in großer Menge und schöner Qualität. Diese Mollusken hatte man also hier ebenso an der Hand, wie die Seefische, welche unter dem grünen Tang, der am Fuße der Klippenbank angeschwemmt war, nach Nahrung gingen, so daß man nicht nöthig hatte, diese in vier oder fünf Meilen Entfernung zu suchen.

Der Leser hat wohl nicht vergessen, daß Briant bei seiner Untersuchung der Mündung des Rio einen hohen Felsblock in Gestalt eines gewaltigen Bären erstiegen hatte. Doniphan fiel diese eigenthümliche Form ebenso auf. Als Zeichen der Besitznahme gab er deshalb dem kleinen, von jenem Felsen überragten Hafen den Namen Bear-rock-harbour (d.i. Hafen des Bärenfelsens), und dieser Name findet sich noch jetzt auf der Insel Chairman.

Während des Nachmittags erklomm Doniphan und Wilcox den Bear-rock, um eine weite Aussicht über die Bai zu erlangen. Doch weder ein Schiff noch ein Land war im Osten der Insel wahrzunehmen. Der weißliche Fleck im Nordosten, der seiner Zeit Briant’s Aufmerksamkeit erregte, war jetzt nicht erkennbar, ob nun die Sonne schon zu tief am gegenüberliegenden Horizonte stand, oder jener überhaupt nicht vorhanden und Briant nur das Opfer einer Gesichtstäuschung geworden war.

Am Abend verzehrten Doniphan und seine Genossen ihre Mahlzeit unter einer Gruppe prächtiger Nesselbäume, deren niedrigste Zweige sich über den Wasserlauf hin erstreckten. Nachher erörterten sie die Frage, ob es nun am besten sei, sofort nach French-den zurückzukehren, um die zu einer dauernden Niederlassung in der Höhle des Bear-rock nothwendigen Gegenstände zu holen.

»Ich meine, wir dürfen damit nicht zögern, sagte Webb, denn die Zurücklegung des Weges um den Süden des Family-lake erfordert schon allein einige Tage.

– Doch, wenn wir wieder hierher zurückkehren, bemerkte Wilcox, empfiehlt es sich wohl, über den See zu fahren, um gleich auf dem East-river bis zu dessen Mündung zu gelangen. Das hat Briant schon einmal mit der Jolle ausgeführt, und ich sehe nicht ein, warum wir nicht dasselbe thun könnten.

– Damit würde freilich Zeit gewonnen und uns eine große Anstrengung erspart, setzte Webb hinzu.

– Was denkst Du davon, Doniphan?« fragte Croß.

Doniphan überlegte eben diesen Vorschlag, der ihnen entschiedene Vortheile versprach.

»Du hast Recht, Wilcox, antwortete er; wenn wir uns auf der Jolle einschiffen, welche Moko führen könnte …

– Vorausgesetzt, daß Moko dem zustimmt, warf Webb mit etwas zweifelndem Tone ein.

– Warum sollte er das nicht? erwiderte Doniphan. Steht mir nicht ganz ebenso wie Briant das Recht zu, ihm Befehle zu ertheilen? Uebrigens würde es sich nur darum handeln, uns über den See zu lootsen …

– Natürlich muß er sich fügen! rief Croß. Wären wir gezwungen, unser gesammtes Material über Land hierher zu schaffen, so kämen wir damit nie zu Ende. Es ist auch zu bedenken, daß selbst der Wagen nicht überall durch den Wald fortkäme. Wir benützen also die Jolle …

– Doch wenn man uns die Jolle verweigert? warf Webb wieder ein.

– Uns verweigern! versetzte Doniphan. Wer sollte sie uns denn verweigern?

– Nun, Briant! … Ist er nicht das jetzige Oberhaupt der Colonie?

– Briant … verweigern! wiederholte Doniphan. Gehört die Jolle ihm etwa mehr als uns? … Wenn sich Briant erlaubte, sie uns vorzuenthalten …«

Doniphan vollendete seine Worte nicht; es war aber herauszufühlen, daß sich der Herrschsüchtige in diesem Punkte so wenig wie in irgend einem anderen der Willensäußerung seines Rivalen zu unterwerfen denke.

Uebrigens war es, wie Wilcox bemerkte, unnütz, hierüber viele Worte zu verlieren. Seiner Meinung nach würde Briant es ihnen in jeder Weise erleichtern, sich im Bear-rock anzusiedeln, und darüber brauche man sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Es blieb nur noch zu entscheiden, ob man sofort nach French-den zurückkehren solle.

»Das scheint mir unumgänglich, sagte Croß.

– Also schon morgen? … fragte Webb.

– Nein, antwortete Doniphan. Vor unserer Rückkehr möchte ich noch einmal jenseits der Bai hinaufgehen, um den nördlichen Theil der Insel kennen zu lernen. Binnen achtundvierzig Stunden können wir bis zur äußersten Nordspitze gelangen und im Bear-rock zurück sein. Wer weiß, ob es dort nicht noch ein Land gibt, das der französische Schiffbrüchige nicht wahrnehmen und folglich auf seine Karte nicht einzeichnen konnte. Es scheint mir unklug, sich hier dauernd einzurichten, ehe wir wissen, woran wir sind.«

Dieser Einwurf erschien so gerechtfertigt, daß Alle zustimmten, jenen Ausflug, wenn er ihre jetzige Abwesenheit auch um zwei bis drei Tage verlängerte, unverzüglich anzutreten.

Am nächsten Morgen, dem des 14. October, brachen Doniphan und seine drei Freunde mit dem Frührothe auf und schlugen, ohne die Küste zu verlassen, die Richtung nach Norden ein.

Auf eine Strecke von etwa drei Meilen erhoben sich noch die Felsmassen zwischen Wald und Meer, wobei an ihrem Fuße nur ein höchstens hundert Schritte breites, sandiges Vorland liegen blieb.

Es war gegen Mittag, als die Knaben, nachdem sie den letzten Felsblock hinter sich hatten, zum Frühstücken Halt machten.

An dieser Stelle ergoß sich ein zweiter Rio ins Meer; aus seiner Richtung von Südosten nach Nordwesten ließ sich aber schließen, daß derselbe nicht aus dem See herkommen werde. Das Wasser, welches er in einem engen Landeinschnitte abgab, mochte ihm vielmehr auf seinem Laufe durch den oberen Theil der Insel zuströmen. Doniphan taufte ihn »North-creek« (d.i. der nördliche Bach) und in der That verdiente er auch nicht den Namen eines Flusses.

Wenige Ruderschläge genügten, das Halkett-boat über ihn weg zu treiben, und die jungen Leute brauchten nun blos längs des Waldes hinzuziehen, dessen Grenze sein linkes Ufer bildete.

Unterwegs gaben Doniphan und Croß zwei Schüsse ab, und zwar unter folgenden Umständen:

Es war gegen drei Uhr geworden. In Verfolgung des North-creek sah sich Doniphan mehr als wünschenswerth nach Nordwesten hin geführt, da die kleine Gesellschaft doch die Nordspitze besuchen wollte. Er wandte sich deshalb eben mehr nach rechts hin, als Croß, ihn aufhaltend, plötzlich rief:

»Sieh, Doniphan, sieh doch!«

Er zeigte dabei nach einer braunröthlichen Masse, welche sich unter dem Gewölbe der Baumkronen lebhaft zwischen dem Schilf und Röhricht des Creek bewegte.

Doniphan gab Webb und Wilcox ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten. Dann glitt er, begleitet von Croß und das Gewehr zum Anschlag fertig, geräuschlos nach der sich bewegenden Masse hin.

Es war das ein mächtiges Thier, das einem Rhinoceros geglichen hätte, wenn sein Kopf mit einem Horne ausgestattet und die Unterlippe übermäßig verlängert gewesen wäre.

Da donnerte ein Flintenschuß durch den Wald, dem sofort ein zweiter Krach folgte. Doniphan und Croß hatten nahezu zu gleicher Zeit Feuer gegeben.

Bei einer Entfernung von hundertfünfzig Fuß konnten ihre Kugeln der dicken Haut jenes Thieres freilich nichts anhaben, und wirklich drängte sich dieses durch das Rohr, kletterte rasch am Uferrande empor und verschwand in dichtem Walde.

Doniphan hatte Zeit genug gehabt, es zu erkennen. Es war ein übrigens ganz ungefährliches Säugethier, ein »Anta« mit rothbraunem Felle, oder mit anderen Worten, einer jener ungeheuren Tapire, welche man gewöhnlich in der Nachbarschaft der Flüsse Südamerikas antrifft. Da man mit diesem Thiere (dessen Fleisch übrigens eßbar ist) jetzt doch nichts hätte anfangen können, so war sein Entkommen gewiß nicht zu bedauern, soweit nicht die verletzte Jägereitelkeit in Frage kam.

Nach dieser Seite der Insel Chairman hin bedeckte diese noch immer, so weit das Auge reichte, das dichteste Grün. Die Pflanzenwelt zeigte die üppigste Entwicklung, und da hier Buchen zu Tausenden wuchsen, schlug Doniphan für diese Gegend den Namen »Beechs-forest« (d.i. Buchenwaldung) vor, der nun mit den vorher angenommenen Bezeichnungen Bear-rock und North-creek in der Karte eingetragen wurde.

Als der Abend herankam, waren neun Meilen zurückgelegt. Noch einmal so viel, und die jugendlichen Wanderer mußten den Norden der Insel erreicht haben. Das sollte dem nächsten Tage vorbehalten bleiben.

Mit Sonnenaufgang wurde der Marsch fortgesetzt. Man hatte einigen Grund sich zu beeilen, da ein Witterungsumschlag drohte. Der Wind, der nach Westen umging, zeigte Neigung aufzufrischen. Schon trieben von der See her Wolken heran, freilich noch in so hohen Zonen, daß eine Auflösung derselben in Regen vorläufig nicht zu befürchten schien. Dem Winde allein zu trotzen, selbst wenn er zum Sturme anwuchs, das konnte die entschlossenen Knaben nicht erschrecken. Sturmböen aber mit deren gewöhnlicher Begleitung von tüchtigem Platzregen hätten sie mehr in Verlegenheit gebracht und vielleicht gar gezwungen, den ganzen Zug aufzugeben, um im Bear-rock schleunigst Schutz zu suchen.

Sie beeilten also ihre Schritte nach Kräften, obwohl sie gegen den sehr heftigen Wind, der sie von der Seite packte, anzukämpfen hatten. Der Tag brachte viele Beschwerden mit sich und die Nacht drohte obendrein schlecht zu werden. In der That war es ein richtiges Unwetter, das gegen die Insel heranzog, und um fünf Uhr Abends ließ sich schon schweres Donnerrollen inmitten bläulich aufleuchtender Blitze vernehmen.

Doniphan und seine Kameraden wichen deshalb nicht zurück; der Gedanke, sich dem Ziele zu nähern, hielt ihren Muth aufrecht. Uebrigens setzte sich in dieser Richtung das dicke Gehölz des Beechs-forest noch weiter fort, und schlimmsten Falls müßten sie unter den Bäumen desselben immer Schutz finden. Der Sturm entfesselte sich mit solcher Gewalt, daß er jeden Regenfall vorläufig verhinderte, und außerdem konnte die Nordküste nicht mehr weit entfernt sein.

Wirklich wurde gegen acht Uhr das dumpfe Brausen der Brandung hörbar, ein Beweis, daß auch hier ein Klippengürtel die Insel Chairman umschließen mußte.

Inzwischen wurde der schon von dichten Dunstmassen verschleierte Himmel immer dunkler. Um einen Blick auf das hohe Meer hinaus werfen zu können, während noch der letzte Tagesschein den Weltraum erhellte, mußten sie ihre Schritte möglichst beeilen. Jenseits der Baumgrenze dehnte sich der etwa eine Viertelmeile breite Strand aus, über den die weißschaumigen Wogen, nachdem sie sich an den Klippen im Norden gebrochen, weit hereinrollten.

Trotz ihrer Erschöpfung gewannen Doniphan, Webb, Croß und Wilcox doch noch die Kraft, im Laufschritt voranzueilen. Sie wollten, so lange es noch etwas Tag, diesen Theil des Stillen Oceans wenigstens flüchtig überblickt haben, um sich zu überzeugen, ob es ein Meer ohne Grenzen oder nur ein engerer Canal war, der diese Küste von einem Festlande oder einer Insel trennte.

Plötzlich blieb Wilcox, der den Andern ein wenig voraus war, stehen. Mit der Hand wies er nach einer schwärzlichen Masse, welche sich an einem Riffe nahe dem Strande undeutlich zeigte. Auf den ersten Blick ließ sich kaum unterscheiden, ob es sich hier um ein Seethier, um einen jener gewaltigen Cetaceer, einen jungen oder halbausgewachsenen Walfisch, oder um ein größeres Boot handelte, das, nachdem es über den Klippengürtel hinweggerissen, hier bis nahe an den Strand geworfen worden war.

Ja, es war ein, auf der Steuerbordseite liegendes Boot und unfern davon, dicht an der von der Fluth angeschwemmten Linie von Varec, wies Wilcox auf zwei, zu beiden Seiten desselben liegende Körper hin.

Doniphan, Webb und Croß hatten zunächst im Laufe angehalten; dann aber eilten sie, ohne weitere Ueberlegung, quer über den Strand hin und gelangten zu den beiden, auf dem nassen Sande ausgestreckten Körpern – vielleicht zwei Leichen.

Der Anblick erfüllte sie mit Entsetzen, und ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, daß doch wohl noch etwas Leben in den Körpern sein könne und diese der schleunigsten Hilfe bedürfen möchten, liefen sie sofort wieder zurück, um unter den Bäumen Schutz zu suchen.

Die Nacht war schon dunkel oder wurde doch nur durch einen gelegentlich aufleuchtenden Blitzschein erhellt, und mitten in der tiefen Finsterniß heulte der gräßliche Sturm um die Wette mit dem Donnern und Rauschen des empörten Meeres.

Und welcher Sturm! Auf allen Seiten knackten und krachten die alten Bäume, so daß es für die, welche darunter Deckung suchten, wirklich gefahrdrohend wurde; es wäre jedoch unmöglich gewesen, auf dem Strande zu lagern, wo der vom Winde aufgewirbelte Sand gleich Schlossenkörnern umherflog.

Die ganze Nacht über verweilten Doniphan, Wilcox, Webb und Croß an derselben Stelle, ohne nur für eine Minute die Augen schließen zu können. Dazu litten sie recht empfindlich von der Kälte, denn sie hatten auch kein Feuer anzuzünden gewagt, das sich gar zu leicht weiter verbreitet und dann die verstreut liegenden dürren Zweige in Brand gesetzt hätte.

Uebrigens hielt die Aufregung allein die Knaben wach. Woher kam dieses Boot? … Welcher Nation gehörten die Schiffbrüchigen an? … Lagen doch andere Landmassen in der Nachbarschaft, da ein Boot hatte nach ihrer Insel gelangen können … wenn jenes nämlich nicht von einem Schiffe herrührte, das bei dem wüthenden Sturme in diesem Theile des Oceans untergegangen war.

Alle solche Vermuthungen erschienen ja zulässig und während der seltenen ruhigeren Augenblicke flüsterten Doniphan und Wilcox, die sich dicht zusammenhielten, sie mit schwacher Stimme einander zu.

Gleichzeitig aber, von Sinnestäuschungen befangen, glaubten sie aus der Ferne Ausrufe zu vernehmen, sobald der rasende Wind sich ein wenig legte, und aufmerksam danach lauschend, fragten sie sich, ob nicht vielleicht noch andere Schiffbrüchige auf dem Strande umherirrten.

Nein, sie waren die Beute leicht erklärlicher Illusionen. Kein verzweifelter Hilferuf ertönte inmitten des tobenden Sturmes. Jetzt sagten sie sich, daß sie unrecht gethan, der ersten Empfindung von Schrecken gleich nachgegeben zu haben … Nun wollten sie nach der Brandung hineilen, selbst auf die Gefahr, von der Gewalt des Windes zu Boden geworfen zu werden … Doch, wie hätten sie in pechschwarzer Nacht, quer über ein ganz offenes Vorland hin, das schon zerstäubte Wassermassen von der ansteigenden Fluth bedeckten, den Ort wieder auffinden können, wo jenes Boot gestrandet war, und die Stelle, an der die beiden Körper im Sande lagen?

Uebrigens fehlte es ihnen hierzu gleichmäßig an geistiger wie an körperlicher Kraft. Seit so langer Zeit des Angewiesenseins auf sich selbst fühlten sie, nachdem sie sich vielleicht für Männer gehalten, jetzt plötzlich, daß sie doch nur Kinder waren, als sie sich den ersten menschlichen Wesen gegenüber sahen, die ihnen nach dem Schiffbruche des »Sloughi« begegnet und die das Meer als Leichen auf ihre Insel geworfen hatte.

Endlich gewann die Kaltblütigkeit doch wieder die Oberhand und sie begriffen, was die Pflicht ihnen zu thun auferlege.

Am nächsten Tage wollten sie, sobald es einigermaßen hell wurde, nach dem Strandriffe zurückkehren, eine Grube im Sande ausheben und, nach einem Gebete für die ewige Seelenruhe derselben, die beiden Schiffbrüchigen begraben.

Wie endlos erschien ihnen aber diese Nacht! … So, als sollte das Morgenroth nimmermehr die Schrecken derselben zerstreuen.

Und wenn sie sich nur durch einen Blick auf die Uhr über die verflossene Zeit hätten Rechenschaft geben können! Es war aber ganz unmöglich, auch nur ein Streichhölzchen, selbst unter dem Schutze ihrer Decken, anzuzünden. Croß versuchte es zwar, mußte aber darauf verzichten.

Da kam Wilcox auf eine andere Idee, annähernd zu erfahren, welche Zeit es sei. Für einen vierundzwanzigstündigen Gang seiner Uhr mußte er den Schlüssel derselben zwölfmal, also einmal für je zwei Stunden, umdrehen. Da er sie nun am letzten Abende um acht Uhr aufgezogen hatte, genügte es, die jetzt möglichen Schlüsselumdrehungen zu zählen und danach die seit jener Zeit verflossenen Stunden zu berechnen. Das geschah denn, und da er nur vier Umdrehungen ausführen konnte, schloß er daraus, daß es gegen vier Uhr Morgens sein und nun doch bald Tag werden müsse.

In der That erhellte bald darauf ein schwacher Schein die Ostseite des Himmels. Der Sturm hatte noch immer nicht nachgelassen, und da die Wolken jetzt weit tiefer über dem Meere dahinjagten, war schon Regen zu erwarten, ehe Doniphan und seine Genossen den Hafen von Bear-rock erreichen konnten.

Vor allem Andern hatten sie jedoch den verunglückten Schiffbrüchigen den letzten Liebesdienst zu erweisen, und sobald das Morgenroth die über dem Meere lagernden Dunstmassen durchdrang, schleppten sie sich, mit Mühe gegen den Druck der Windstöße ankämpfend, über den Strand hin. Wiederholt mußten sie sich dabei gegenseitig unterstützen, um nicht umgeworfen zu werden.

Das Boot war neben einer schwachen Sandanhäufung fest sitzen geblieben. Aus der Form der Anschwemmungen durch das Meer erkannte man, daß die durch den Wind gesteigerte Fluth über dasselbe hinweggerauscht sein müsse.

Die beiden Körper lagen nicht mehr hier …

Doniphan und Wilcox gingen auf dem Strande einige zwanzig Schritte weiter hinaus …

Nichts … nicht einmal Fußtapfen, welche die Ebbeströmung jedenfalls verwaschen hatte.

»Die Unglücklichen, rief Wilcox, haben also gelebt, da sie sich zu erheben vermochten! …

– Wo sind sie aber? … fragte Croß.

– Wo sie sind? … antwortete Doniphan, nach dem hochwogenden Meere hinaus zeigend. Da, wohin die abfallende Ebbe sie getragen hat!«

Doniphan kletterte hierauf bis nach dem äußeren Klippenrande und musterte die ganze vorliegende Meeresfläche mit dem Fernrohre.

Kein Leichnam schwamm da draußen!

Die Körper der Verunglückten waren weit ins hohe Meer hinaus geschwemmt worden.

Doniphan kam zu Wilcox, Croß und Webb zurück, welche nahe bei dem Boote geblieben waren.

Vielleicht fand sich hier ein Ueberlebender von diesem Unglücksfalle.

Das Boot erwies sich leer.

Es war die am Vordertheile überdeckte Schaluppe eines Kauffahrers, deren Kiel gegen dreißig Fuß messen mochte. Jetzt war sie nicht mehr brauchbar, da die Beplankung der Steuerbordseite durch die Stöße bei der Strandung in der Schwimmlinie durchgebrochen war. Der an seiner Einsenkung abgebrochene Stumpf des Mastes, einzelne Segelfetzen, welche an den Takelhaken des Dahlbords hingen, und einige Enden von Stricken, das war Alles, was sich von seiner Ausrüstung noch vorfand. Von Lebensmitteln, Werkzeugen und Waffen lag nichts weder in den Seitenkästen noch unter dem kleinen Vordercastell.

Am Hintertheile zeigten nur zwei Namen an, zu welchem Schiffe und welchem Heimatshafen es gehört hatte:

»Severn – San Francisco.«

San Francisco! Einer der Häfen an der Küste Californiens! … Das Schiff war also von amerikanischer Nationalität.

Den Horizont desjenigen Theiles der Inselküste aber, auf welche die Schiffbrüchigen des »Severn« vom Sturme verschlagen worden waren, umrahmte das grenzenlose Weltmeer.

VII.

VII.

Eine Idee Briant’s. – Jubel der Kleinen. – Herstellung eines Drachens. – Ein unterbrochener Versuch. – Kate. – Die Ueberlebenden des »Severn«. – Doniphan und seine Kameraden von Gefahren bedroht. – Briant’s Ergebenheit. – Alle wieder vereinigt.

———

Der freundliche Leser weiß, unter welchen Umständen Doniphan, Webb, Croß und Wilcox French-den verlassen hatten. Seit ihrem Fortgange gestaltete sich das Leben der jungen Colonisten recht traurig. Mit welch‘ tiefem Kummer hatten Alle diese Trennung gesehen, welche in Zukunft die schwerstwiegenden Folgen haben konnte! Gewiß hatte sich Briant deshalb keinen Vorwurf zu machen und doch war er davon mehr ergriffen als die Anderen, weil diese Absonderung seiner Person wegen erfolgt war.

Vergebens suchte Gordon ihn zu trösten.

»Sie werden schon wiederkommen, Briant, sagte er, und vielleicht eher, als sie selbst es denken. So starrsinnig Doniphan auch sein mag, die Verhältnisse sind doch stärker als er. Ich möchte gleich eine Wette darauf eingehen, daß sie noch vor Eintritt der rauhen Jahreszeit bei uns in French-den wieder eingetroffen sind.«

Briant schüttelte den Kopf, ohne sich weiter auszusprechen. Ja, es war ja möglich, daß die Abwesenden durch den Zwang der Verhältnisse zurückgeführt werden konnten, doch dann mußten diese Verhältnisse wohl schon recht drückende geworden sein.

»Vor Wiedereintritt der rauhen Jahreszeit!« hatte Gordon gesagt. Sollten die jungen Colonisten demnach gezwungen sein, einen dritten Winter auf der Insel Chairman zuzubringen? Sollte ihnen auch bis dahin noch keine Hilfe werden? Wurden die umliegenden Theile des Stillen Weltmeeres wirklich auch nicht während des Sommers wenigstens von einzelnen Handelsschiffen besucht, und sollte das auf dem Gipfel des Auckland-hill errichtete Ballonsignal nicht endlich einmal bemerkt werden?

Dieser nur gegen zweihundert Fuß über der mittleren Höhe der Insel angebrachte Ballon konnte freilich nur in ziemlich beschränktem Umkreise wahrgenommen werden. Nachdem er mit Baxter vergeblich versucht, die Aufrisse zu einem neuen Fahrzeuge zu entwerfen, welches im Stande gewesen wäre, das offene Meer zu halten, mußte sich Briant schon um ein Mittel bemühen, irgend ein Signal in bedeutenderer Höhe anzubringen. Er sprach ziemlich häufig davon, und eines Tages äußerte er gegen Baxter, daß er an die Verwendbarkeit eines Drachens (das bekannte, gegen Sommersende und Herbstanfang beliebte Spielzeug der Kinder) zu diesem Zwecke glaube.

»Es fehlt uns dazu weder an Leinwand noch an Hanfschnur, setzte er hinzu, und wenn wir diesem Flugapparate eine hinreichende Größe geben, muß er in sehr hoher Zone – vielleicht tausend Fuß hoch – schweben können.

– Mit Ausnahme der Tage, wo sich überhaupt kein Lüftchen regt, wandte Baxter ein.

– Solche Tage sind sehr selten, antwortete Briant, und bei gänzlicher Luftruhe steht es uns ja frei, den Drachen zur Erde herabzuziehen. Abgesehen von diesem Falle aber würde derselbe, nachdem er mit dem Ende der Schnur einmal am Erdboden befestigt war, von selbst der wechselnden Windrichtung folgen, und wir hätten uns gar nicht weiter um ihn zu bekümmern.

– Einen Versuch ist die Sache werth, meinte Baxter.

– Wenn der Drache übrigens, fuhr Briant fort, tagsüber auf große Entfernung – vielleicht auf sechzig Meilen – hin sichtbar wäre, so würde er es auch in der Nacht sein können, wenn wir am Schwanze oder am Rumpfe desselben eine unserer Signallaternen anbrächten.«

Alles in Allem erschien diese neue Idee Briant’s nicht unpraktisch. Was ihre Ausführung anging, so konnte sie diese Knaben nicht in Verlegenheit bringen, welche schon viele Male hatten derartige Drachen in Neuseeland aufsteigen lassen.

Als das Vorhaben Briant’s mehr bekannt wurde, erregte es auch eine allgemeine Freude. Die Kleinen vorzüglich, wie Jenkins, Iverson, Dole und Costar, faßten die Sache von der unterhaltenden Seite auf und jubelten schon bei dem Gedanken an einen Drachen, der an Größe alle, die sie bisher gesehen, weit übertreffen sollte. Welche Lust, dann an dessen Schnur zu ziehen, wenn er stolz hoch oben in den Lüften schwebte!

»Dem werden wir aber einen gewaltig langen Schwanz anhängen, sagte der Eine.

– Und ein Paar ganz große Ohren, bemerkte der Andere.

– Auch einen prächtigen Hanswurst muß er obenauf bekommen, der dann lustig mit den Beinen zappelt.

– Und wir schicken ihm auch kleine Postillone nach!«

Es war ein reiner Jubel. In der That lag aber doch dem Vorhaben, in welchem diese Kinder nur eine erwünschte Zerstreuung erblickten, ein recht ernster Gedanke zu Grunde, und gewiß war die Hoffnung erlaubt, daß dasselbe günstige Folgen habe.

Schon am zweitnächsten Tage, nachdem Doniphan und seine drei Begleiter French-den verlassen hatten, gingen Briant und Baxter also ans Werk.

»Ei, sapperlot! rief Service; die werden einmal große Augen machen, wenn sie den großen Burschen in der Luft schweben sehen! Wie ewig schade, daß meine Robinsons auch niemals auf den herrlichen Gedanken gekommen sind, so einen Drachen aufsteigen zu lassen!

– Wird man denselben von allen Punkten unserer Insel aus wahrnehmen können? fragte Garnett.

– Nicht allein von unserer Insel aus, antwortete Briant, sondern auch in großem Umfange von dem umgebenden Meere.

– Kann man ihn auch von Auckland aus sehen? … rief Dole.

– Das leider nicht, antwortete Briant, über jenen Gedanken lächelnd. Wenn aber Doniphan und die Anderen ihn erblicken, so veranlaßt sie das vielleicht, doch wieder hierher zu uns zurückzukehren!«

Man sieht, der wackere Knabe dachte auch jetzt nur an die Abwesenden und wünschte nur Eines: … daß diese verderbliche Trennung baldigst ihr Ende finden möchte.

Dieser und die folgenden Tage wurden nun in der Hauptsache der Herstellung des Drachens gewidmet, dem Baxter eine achteckige Form zu geben vorschlug. Das sehr leichte und doch sehr widerstandsfähige Gerippe des Apparates wurde aus einer Art ganz zähen Rohres hergestellt, das an den Ufern des Family-lake in großer Menge vorkam. Die Stengel desselben waren dabei auch stark genug, um selbst einen ziemlich steifen Wind bequem auszuhalten. Auf dieses Rohrgestell ließ Briant nun leichte, mit Kautschuk getränkte Segel spannen, welche zur Bedeckung der Oberlichtfenster des Schooners gedient hatten. Diese Segel waren so undurchlässig, daß nicht einmal der Wind durch das Gewebe derselben zu dringen vermochte. Als Schnur sollte eine gegen zweitausend Fuß lange, ganz dünne, aber scharfgedrehte Leine verwendet werden, welche sonst verwendet wurde, um das Log nachzuschleppen, und die wohl geeignet schien, auch eine sehr starke Anspannung auszuhalten.

Es versteht sich ganz von selbst, daß der Apparat mit einem prächtigen Schwanze geschmückt werden sollte, der ja an sich nothwendig ist, um einen solchen Apparat im Gleichgewichte oder wenigstens stillstehend zu erhalten, wenn er schräg nach vorne gerichtet in den Lüften schwebt. Er war übrigens so fest gebaut, daß er ohne zu große Gefahr jeden beliebigen von den jungen Kolonisten hätte mit emporheben können. Doch davon war ja nicht die Rede; es handelte sich vielmehr nur darum, daß er fest genug war, auch einer ziemlich frischen Brise zu widerstehen, und groß genug, um auf eine solche Höhe emporzusteigen, in der er von einem fünfzig- bis sechzigmeiligen Umkreise aus gesehen werden konnte.

Natürlich war es nicht beabsichtigt, den Drachen mit der Hand zu halten. Unter dem Drucke des Windes hätte er das gesammte Personal der Colonie, und vielleicht schneller als es erwünscht sein mochte, mit fortgezogen. Die Schnur sollte deshalb über eines der sogenannten Bratspille des Schooners gewickelt werden. Dieser kleine horizontale Wellbaum wurde also nach der Mitte der Sport-terrace geschafft und sein Gestell fest im Boden eingerammt, um dem Zuge jenes »Riesen der Lüfte« widerstehen zu können – wie die Kleinen den Drachen einstimmig getauft hatten.

Nachdem diese Arbeit am 15. des Abends glücklich beendigt war, bestimmte Briant für den nächstfolgenden Nachmittag den feierlichen Aufstieg, dem alle seine Kameraden beiwohnen sollten.

Am folgenden Tage erwies es sich jedoch unmöglich, dieses Experiment auszuführen, da ein so heftiger Sturm losgebrochen war, daß er den Apparat sofort in Stücke zerrissen hätte, wenn er, an der Schnur gehalten, in die Luft aufgelassen worden wäre.

Es war das derselbe Sturm, der Doniphan und dessen Begleiter im nördlichen Theile der Insel überfallen hatte und der gleichzeitig jene Schaluppe und die amerikanischen Schiffbrüchigen auf die nach Norden zu gelegenen Klippen schleuderte, welche in Folge dessen den Namen »Severn-shores« (d. i. Severn-Riffe) erhielten.

Am übernächsten Tage, dem 16. October, wehte doch, wenn auch etwas mehr Ruhe eingetreten war, noch eine so steife Brise, daß Briant seinen Steigapparat noch nicht erproben wollte. Da die Witterung sich jedoch, Dank der Richtung des Windes, welcher weit schwächer wurde, bedeutend besserte, sollte das Experiment am folgenden Tage ausgeführt werden.

Es war am 17. October – ein Datum, dem eine hervorragende Stelle in den Annalen der Insel Chairman bestimmt sein sollte.

Obwohl dieser Tag ein Freitag war, glaubte Briant dennoch nicht – aus Aberglauben – noch weitere vierundzwanzig Stunden warten zu sollen. Uebrigens hatte sich die Witterung günstig verändert und es wehte jetzt eine leichte, gleichmäßige Brise, ganz geeignet, einen Drachen in der Luft zu erhalten. In Folge der Neigung, welche seine sogenannte Wage sicherte, mußte er sich zu großer Höhe erheben, und am Abend wollte man ihn dann herunterziehen und eine Signallaterne an ihm befestigen, welche die ganze Nacht sichtbar bleiben würde.

Der Vormittag wurde den letzten Vorbereitungen gewidmet, welche nach dem Frühstücke mehr als eine Stunde in Anspruch nahmen. Dann begaben sich Alle nach der Sport-terrace zurück.

»Welch‘ vortreffliche Idee hat Briant gehabt, diesen Flugapparat zu bauen!« wiederholten Iverson und die Anderen, in die Hände klatschend.

Es war jetzt eineinhalb Uhr. Der mit ausgestrecktem Schwanze auf der Erde liegende Drache sollte schon dem Drucke der Brise preisgegeben werden, und man erwartete nur das letzte Zeichen Briant’s, als dieser die Ausführung des Vorhabens selbst unterbrach.

In diesem Augenblicke wurde seine Aufmerksamkeit nämlich durch Phann abgeleitet, der plötzlich nach der Seite des Waldes hinsprang und ein so klägliches, so seltsames Gebell ertönen ließ, daß man sich mit Recht darüber verwunderte.

»Was mag Phann nur haben? fragte Briant.

– Hätte er vielleicht ein Thier unter den Bäumen aufgespürt? antwortete Gordon.

– Nein, das würde er ganz anders anschlagen.

– Wir wollen doch nachsehen! … rief Service.

– Doch nicht unbewaffnet!« setzte Briant hinzu.

Service und Jacques liefen nach French-den zurück, von wo sie bald Jeder mit einem geladenen Gewehre zurückkamen.

»So kommt!« sagte Briant.

Alle Drei begaben sich nun, begleitet von Gordon, nach dem Saume der Traps-woods. Phann war ihnen dahin schon voraus, und wenn man ihn nicht mehr sah, so hörte man ihn doch immer.

Briant und seine Kameraden hatten kaum fünfzig Schritte zurückgelegt, als sie den Hund vor einem Baume stehen sahen, an dessen Fuße eine menschliche Gestalt lag.

Unbeweglich wie eine Todte lag eine Frau da ausgestreckt, deren Kleidungsstücke – ein Rock aus dickem Stoffe, ein ähnliches Leibchen und ein braunwollenes, um die Taille gebundenes Tuch – noch in ganz gutem Zustande zu sein schienen. Ihr Gesicht ließ die Spuren entsetzlicher Leiden erkennen, obwohl sie von kräftiger Constitution und höchstens vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt war. Erschöpft von Strapazen, vielleicht auch vom Hunger, hatte sie das Bewußtsein verloren, doch bewegten noch schwache Athemzüge ihre Lippen.

Die Erregung der jungen Colonisten angesichts des ersten menschlichen Wesens, das sie seit ihrer Anwesenheit auf der Insel Chairman getroffen, wird man sich leicht vorstellen können.

»Sie athmet! … Sie athmet noch! rief Gordon. Ohne Zweifel ist es nur der Hunger, der Durst« …

Jacques flog bei diesen Worten schon nach French-den, von wo er etwas Schiffszwieback und eine Flasche mit Brandy herbeibrachte.

Ueber die Frau niedergebeugt, öffnete Briant deren festgeschlossene Lippen, und es gelang ihm, ihr einige Tropfen des belebenden Getränkes einzuflößen.

Die Frau machte eine leichte Bewegung und erhob dann die Augenlider. Ihr Blick wurde freier, als sie die im Umkreise versammelten Kinder sah … Dann führte sie das ihr von Jacques dargebotene Stück Zwieback begierig nach dem Munde.

Man erkannte, daß die Unglückliche mehr aus Nahrungsmangel als aus Ermüdung dem Tode nahe gewesen war.

Doch, wer war diese Frau? Würde es möglich sein, mit ihr einige Worte zu wechseln, sich mit ihr zu verständigen?

Briant sollte sofort hierüber klar werden.

Die Unbekannte hatte sich aufgerichtet und sprach eben in reinem Englisch die Worte aus:

»Ich danke Euch … liebe Kinder … ich danke!«

Eine halbe Stunde später hatten Briant und Baxter sie in der Halle niedergelegt, dort unterstützten Gordon und Briant sie noch, ihr alle Pflege, welche ihr trauriger Zustand erforderte, angedeihen zu lassen.

Sobald sie sich etwas erholt, beeilte sie sich, ihre Geschichte zu erzählen.

Wir lassen hier die Worte der Fremden folgen, aus denen zu ersehen ist, daß sie die jungen Colonisten lebhaft interessiren mußten.

Sie war von amerikanischer Herkunft und hatte lange Zeit in den Gebieten des Far-West der Vereinigten Staaten gelebt. Sie nannte sich Katherine Ready oder einfach Kate. Seit zwanzig Jahren schon stand sie als Aufwärterin in Diensten der Familie William R. Penfield, die in Albany, der Hauptstadt des Staates New-York, wohnte.

Vor nur einem Monate waren Mr. und Mrs. Penfield, um sich nach Chili zu begeben, wo deren Eltern wohnten, nach San Francisco, dem Haupthafen Californiens, gekommen, um auf dem Kauffahrteischiffe der »Severn«, geführt vom Capitän John F. Turner, an Bord zu gehen. Dieses Schiff war nach Valparaiso bestimmt. Mr. und Mrs. Penfield nahmen auf demselben mit Kate, die sozusagen zur Familie gehörte, Ueberfahrt.

Der »Severn« war ein tüchtiges Fahrzeug und hätte ohne Zweifel eine ganz glückliche Fahrt gemacht, wenn nicht die seine Besatzung bildenden, erst neuerdings angeworbenen acht Mann Schurken der schlimmsten Art gewesen wären. Neun Tage nach der Abfahrt erregte einer derselben, Walston, unterstützt von seinen Spießgesellen Brandt, Rock, Henley, Cork, Forbes, Cope und Pike eine Meuterei, bei der der Capitän Turner nebst dem Obersteuermanne und gleichzeitig Herr und Frau Penfield getödtet wurden.

Die Absicht der Meuterer war dahin gegangen, das Schiff, nachdem sie es in ihre Gewalt bekommen, zum Sclavenhandel zu verwenden, der damals noch in einigen Ländern Südamerikas in Blüthe stand.

Nur zwei Personen an Bord waren verschont geblieben, Kate, zu deren Gunsten sich der Matrose Forbes – ein weniger grausamer Geselle als die Uebrigen – verwendet hatte, und noch ein Steuermann des »Severn«, ein Mann von dreißig Jahren, Namens Evans, den sie wegen der Führung des Schiffes nicht entbehren konnten.

Jene schrecklichen Scenen hatten sich vom 7. zum 8. October abgespielt, als der »Severn« sich gegen zweihundert Meilen von der chilenischen Küste entfernt befand.

Unter Androhung des Todes wurde Evans nun gezwungen, einen Curs zur Umschiffung des Cap Horn einzuhalten, von wo aus das Schiff nach der Westküste Afrikas segeln sollte.

Einige Tage später entstand jedoch aus irgend einem niemals bekannt gewordenen Grunde eine Feuersbrunst an Bord. In kürzester Zeit gewann dieselbe eine solche Ausbreitung, daß Walston und seine Genossen den »Severn« vergeblich vor gänzlicher Zerstörung zu bewahren sich bemühten. Einer derselben, Henley, fand sogar dabei den Tod, indem er sich, um dem Feuer zu entgehen, ins Meer stürzte. Alle mußten das Schiff verlassen, in größter Eile einigen Proviant, etwas Munition nebst Waffen in die große Schaluppe werfen und sich schleunigst entfernen, weil der »Severn« zuletzt in die Tiefe versank.

Die Lage der Schiffbrüchigen war eine äußerst kritische, da sie noch zweihundert Meilen von dem nächsten Lande trennten. Es wäre nur gerecht gewesen, wenn die Schaluppe mit den Verbrechern, die sie trug, gleichfalls den Untergang fand, wären nicht Kate und der Steuermann Evans mit diesen an Bord derselben gewesen.

Am zweitfolgenden Tage erhob sich ein wüthender Sturm – was die Lage der Leute noch mehr verschlimmerte. Da der Wind jedoch von der hohen See her wehte, wurde das Boot – mit gebrochenem Maste und zerrissenem Segel – nach der Insel Chairman zu getrieben. Wir wissen schon, wie es in der Nacht vom 15. zum 16., nachdem es durch den Klippensaum geschleudert, zuletzt mit theilweise zerbrochenen Rippen und geborstener Beplankung auf dem Vorlande scheiterte.

Erschöpft von dem langen Kampfe gegen den Sturm, konnten Walston und seine Genossen, deren Proviant auch fast zu Ende gegangen war, gegen die Kälte und die Abspannung sich nicht mehr schützen. Sie waren auch fast leblos, als die Schaluppe in die Klippen gerieth. Durch eine ungeheuere Welle wurden noch fünf derselben kurz vor der Strandung über Bord geschleudert und die beiden Letzten wenige Augenblicke später auf den Sand geworfen, während Kate über die andere Seite des Bootes hinausfiel.

Lange Zeit blieben die beiden Männer, ebenso wie Kate zuerst auch, ohne Bewußtsein. Nachdem Letztere bald wieder zu sich gekommen, bestrebte sie sich, unbeweglich liegen zu bleiben, obwohl sie annehmen konnte, daß Walston und die Uebrigen umgekommen seien. Sie wollte den Tag abwarten, um erst dann in diesem unbekannten Lande Hilfe zu suchen, als sie gegen drei Uhr Morgens im Sande neben der Schaluppe Schritte knirschen hörte.

Es waren Walston, Brandt und Rock, die sich nach der Strandung des Bootes nicht ohne Mühe hatten aus den Wellen retten können. Nachdem sie durch die Klippen mehr geklettert als gegangen und nach der Stelle kamen, wo ihre beiden Genossen Forbes und Pike lagen, beeilten sie sich, diese mit allen Mitteln ins Leben zurückzurufen. Dann verhandelten sie hin und her, was nun zu beginnen sei, während der Steuermann Evans einige hundert Schritte weiterhin, bewacht von Cope und Rock, sie erwartete.

Kate hörte dabei deutlich, wie unter ihnen folgende Worte gewechselt wurden:

»Wo sind wir? fragte Rock.

– Ich weiß es nicht, antwortete Walston. Doch das thut nichts; bleiben wir nicht hier, sondern wenden wir uns nach Osten hin. Wenn es wieder Tag wird, werden wir ja sehen, wie wir uns aus der Schlinge ziehen.

– Und unsere Waffen? sagte Forbes.

– Die sind hier sammt der unbeschädigten Munition,« erwiderte Walston.

Damit entnahm er dem Kasten der Schaluppe fünf Gewehre und mehrere Päckchen mit Patronen.

»Das ist freilich wenig, meinte Rock, um sich in diesen von Wilden bewohnten Ländern seiner Haut zu wehren.

– Wo ist Evans? … fragte da Brandt.

– Evans steht dort und wird von Cope und Rock überwacht. Er muß uns wohl oder übel begleiten, und wenn er sich dessen weigert, werd‘ ich ihm schon Vernunft beizubringen wissen.

– Was ist denn aus der Kate geworden? fragte Rock. Sollt‘ es ihr gelungen sein, sich zu retten?

– Kate? … antwortete Walston, o, von der ist nichts zu fürchten. Ich habe sie über Bord gehen sehen, noch ehe die Schaluppe richtig auf Grund gerieth, und sie liegt also jedenfalls da unten.

– Das nimmt uns einen Stein vom Herzen! … ließ Rock sich vernehmen. Sie wußte von uns doch ein Bischen zu viel!

– Aber lange wäre das auch nicht der Fall gewesen!« setzte Walston hinzu, und über den Sinn seiner Worte hätte sich Niemand täuschen können.

Kate, die Alles mit angehört, war entschlossen, zu entfliehen, sobald die Matrosen vom »Severn« weggegangen wären.

Schon nach wenigen Minuten trugen Walston und seine Spießgesellen, während sie Forbes und Pike, deren Beine sich noch nicht recht halten wollten, unterstützten, ihre Waffen und Munition, ferner was vom Proviant in den Kästen der Schaluppe übrig geblieben war, nämlich fünf bis sechs Pfund gepöckeltes Fleisch, etwas Tabak und zwei oder drei Kürbisflaschen mit Gin, von der Unglücksstätte weg. Sie entfernten sich, als der Sturm mit größter Heftigkeit wüthete.

Sobald sie hinreichend entfernt waren, erhob sich Kate. Es war auch Zeit, denn die anschwellende Fluth erreichte schon den Strand, und bald wäre sie von den Wellen mit fortgespült worden.

Das Vorhergehende erklärt, warum Doniphan, Wilcox, Webb und Croß, als sie wieder erschienen, um den Schiffbrüchigen die letzte Ehre zu erweisen, die Stelle leer fanden. Schon waren Walston und seine Bande nach Osten hingewandert, während Kate, die entgegengesetzte Richtung einhaltend, sich, ohne es zu wissen, der Nordspitze des Family-lake näherte.

Hier kam sie im Laufe des Nachmittags des 16., erschöpft von Hunger und Anstrengung, an. Einige wilde Beeren, das war Alles, womit sie sich stärken konnte.

Sie folgte dann dem linken Ufer, ging die ganze Nacht, ebenso den Vormittag des 17., immer weiter und sank endlich an der Stelle zusammen, wo Briant sie halb todt gefunden hatte.

Das waren die gewiß sehr ernst zu nehmenden Vorfälle, welche Kate schilderte.

Auf der Insel Chairman, wo die jungen Colonisten bisher in völliger Sicherheit gewohnt hatten, waren sieben, der schlimmsten Verbrechen fähige Männer ans Land gekommen. Würden diese zaudern, French-den, wenn sie es entdeckten, anzugreifen? Gewiß nicht; sie hatten ein zu großes Interesse, sich der hiesigen Vorräthe zu bemächtigen, den Proviant wegzuführen, die Waffen und vor Allem die Werkzeuge zu rauben, ohne welche es ihnen unmöglich sein mußte, die Schaluppe des »Severn« wieder in seetüchtigen Zustand zu setzen. Und welchen Widerstand vermochten dann Briant und seine Kameraden, von denen die Größten fünfzehn, die Kleinsten kaum zehn Jahre zählten, ihnen wohl zu leisten? Waren das nicht erschreckende Aussichten? Wenn jener Walston auf der Insel blieb, war es ganz unzweifelhaft, daß man einen gewaltsamen Angriff seitens desselben zu erwarten hatte.

Mit welchem Empfinden Alle den Bericht Kate’s anhörten, kann man sich wohl leicht vorstellen.

Briant’s Gedanken beschäftigten sich dabei zuerst aber damit, daß Doniphan, Wilcox, Webb und Croß jetzt zuerst bedroht sein mußten. Wie sollten diese überhaupt auf ihrer Hut sein, da sie von der Anwesenheit der Schiffbrüchigen des »Severn« auf der Insel Chairman ja nichts wußten, von den Verbrechern, welche gerade dort sein mußten, wo die vier Kameraden sich für später eine Wohnung suchten. Genügte von ihrer Seite nicht ein einziger Flintenschuß, um Walston ihre Gegenwart zu verrathen? Und dann fielen wahrscheinlich alle Vier unter den Händen jener Schurken, von denen gewiß kein Mitleid zu erwarten war.

»Wir müssen ihnen zu Hilfe eilen, sagte Briant, und schon vor morgen müssen sie unterrichtet …

– Und nach French-den zurückgeführt sein, setzte Gordon hinzu. Mehr als je gilt es jetzt, vereinigt zu bleiben, um kräftige Maßregeln gegen einen Angriff jener Uebelthäter zu ergreifen.

– Ja, erklärte Briant, und da es nothwendig ist, daß unsere Kameraden zurückkommen, so werden sie auch nicht widerstreben … Ich werde sie holen …

– Du, Briant?

– Ich, Gordon.

– Und wie?

– Ich werde mich mit Moko auf der Jolle einschiffen. Binnen wenigen Stunden können wir über den See und den East-river hinunter gesegelt sein, wie wir es schon gethan haben. Es spricht ja Alles dafür, daß Doniphan an der Mündung anzutreffen sein wird.

– Wann denkst Du abzufahren?

– Noch diesen Abend, antwortete Briant, wenn die Dunkelheit uns gestattet, unbemerkt den See zu überschreiten.

– Soll ich Dich begleiten, Bruder? … fragte Jacques.

– Nein, antwortete Briant; es ist unbedingt nöthig, daß wir Alle in der Jolle zurückkehren können, und es wird schon Mühe haben, darin für Sechs Platz zu finden.

– Es ist also abgemacht? fragte Gordon.

– Abgemacht!« erklärte Briant.

In Wahrheit war das wohl der beste Ausweg, nicht allein im Interesse Doniphan’s, Wilcox‘, Croß‘ und Webb’s, sondern auch im Interesse der kleinen Colonie. Vier Knaben mehr und nicht die vier minder kräftigsten – diese Unterstützung war im Falle eines Angriffes nicht zu verachten. Andererseits war keine Stunde zu verlieren, wenn man Alle vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden in French-den vereinigt sehen wollte.

Wie man leicht denken kann, konnte vom Aufsteigen des Drachens nun nicht mehr die Rede sein. Das wäre die größte Unklugheit gewesen, denn damit hätte man nicht draußen auf offener See vorübersegelnden Schiffen, sondern Walston und seinen Spießgesellen die Anwesenheit der jugendlichen Colonisten verrathen. Aus demselben Grunde ließ Briant auch den Signalmast, der sich auf dem Gipfel des Auckland-hill erhob, niederlegen.

Bis zum Abend blieben Alle in der Halle eingeschlossen. Kate hatte die Erzählung ihrer Abenteuer angehört. Die vortreffliche Frau dachte schon gar nicht mehr an sich, sondern nur an die jungen Leute. Mußten sie auf der Insel Chairman zusammenbleiben, so wollte sie ihnen eine treu ergebene Dienerin sein, wollte sie pflegen und lieben gleich einer Mutter. Schon gab sie den Kleinsten den Schmeichelnamen »Papooses«, mit dem man die englischen Babys in den Gebieten des Far-West bezeichnet.

Schon hatte Service, in Erinnerung an seinen Lieblingsroman, vorgeschlagen, sie »Freitagine« zu nennen, wie es Crusoë mit seinem Gefährten unvergänglichen Andenkens gethan, weil es gerade an einem Freitag gewesen war, wo Kate nach der Insel Chairman kam.

Dann fügte er noch hinzu:

»Jene Uebelthäter … Nun, die entsprechen ganz den Wilden der Robinsone! In diesen kommt allemal eine Zeit, wo sich Wilde einstellen, und immer auch ein Zeitpunkt, wo man sich der Burschen entledigt.«

Um acht Uhr waren die Vorbereitungen zur Abfahrt beendigt. Moko, dessen Ergebenheit ihn vor keiner Gefahr zurückschrecken ließ, freute sich, Briant bei diesem Zuge begleiten zu dürfen.

Beide schifften sich also ein und nahmen etwas Munition und von Waffen Jeder einen Revolver und ein langes Jagdmesser mit. Nachdem sie ihren Kameraden, welche sie nicht ohne ein recht bedrücktes Gefühl sich entfernen sahen, Lebewohl gesagt, waren sie bald inmitten der Schatten des Family-lake verschwunden. Mit Sonnenuntergang hatte sich eine mäßige Brise erhoben, welche von Norden her wehte, und wenn diese anhielt, mußte sie ebenso die Hin- wie die Rückfahrt der Jolle erleichtern.

Jedenfalls blieb die Brise günstig für die Ueberfahrt von Westen nach Osten. Die Nacht war sehr dunkel – ein glücklicher Umstand für Briant, der ja unbemerkt bleiben wollte. Mittels des Compasses seinen Weg suchend, konnte er darauf rechnen, nach dem entgegengesetzten Ufer zu gelangen, dem sie dann nur noch auf- oder abwärts ein Stück zu folgen hatten, je nachdem das leichte Boot ober- oder unterhalb des Wasserlaufs ans Land stoßen würde. Briant’s und Moko’s Aufmerksamkeit war nur nach jener Gegend hin gerichtet, wo sie immer ein Feuer wahrzunehmen fürchteten – was aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Anwesenheit Walston’s und seiner Begleiter hindeuten mußte, da Doniphan sich doch wohl auf dem Küstengebiete, an der Mündung des East-river, aufhielt.

Sechs Meilen wurden in zwei Stunden zurückgelegt. Die Jolle segelte vortrefflich, obwohl die Brise ziemlich stark auffrischte, und landete nahezu an derselben Stelle, wie bei der ersten Fahrt hierher, hatte also noch etwa eine halbe Meile dem Uferlande zu folgen, um die enge Einbuchtung zu erreichen, von welcher aus das Gewässer des Sees durch den Rio ablief. Das erforderte eine gewisse Zeit, denn da der Wind jetzt von vorn her wehte, mußte diese Strecke unter Anwendung der Ruder zurückgelegt werden. Unter den Baumkronen, welche sich zum Theil über den Wasserspiegel hinabneigten, erschien Alles ruhig. Weder Gebell noch Geheul war aus der Tiefe des Waldes hörbar und kein Feuer verbreitete seinen Schein unter den dunkelgrünen Massen.

Gegen zehneinhalb Uhr ergriff jedoch der im Hintergrunde der Jolle sitzende Briant plötzlich den Arm Moko’s. Wenige hundert Schritte vom rechten Ufer des East-river schimmerte ein halb erloschenes Feuer durch die Finsterniß. Wer mochte dort lagern? … Walston oder Doniphan? … Diese Frage mußte entschieden sein, ehe sie sich weiter auf den Rio hineinwagen konnten.

»Setze mich aus, Moko, sagte Briant.

– Sie wünschen nicht, daß ich Sie begleite, Herr Briant? antwortete der Schiffsjunge gedämpften Tones.

– Nein, es ist besser, ich bin allein! Ich laufe dabei weniger Gefahr, beim Anschleichen bemerkt zu werden.«

Die Jolle legte sich ans Ufer und Briant sprang ans Land, nachdem er Moko empfohlen, hier zu warten. In der Hand hatte er das Jagdmesser und im Gürtel einen Revolver, von dem er nur im Falle der höchsten Noth Gebrauch machen wollte, um kein Geräusch zu verursachen.

Nachdem er das etwas ansteigende Ufergelände erklommen, schlich der muthige Knabe unter den Bäumen hin.

Plötzlich blieb er stehen. In der Entfernung von etwa zwanzig Schritten schien es ihm bei dem Halblicht, welches das Feuer noch verbreitete, als bemerkte er einen Schatten, der ebenso durch das Unterholz hinschlich, wie er es eben gethan.

In diesem Augenblicke ertönte ein entsetzliches Gebrüll – dann kam irgend etwas vorgesprungen.

Es war ein großer Jaguar. Sofort erklangen laute Rufe:

»Hierher! … Zu Hilfe!«

Briant erkannte die Stimme Doniphan’s. Dieser war es wirklich. Seine Kameraden waren in dem nahe dem Ufer des Rio errichteten Lager zurückgeblieben.

Von dem Jaguar über den Haufen geworfen, wehrte sich Doniphan aus Leibeskräften, ohne doch von seinen Waffen Gebrauch machen zu können.

Durch seine Rufe erwacht, lief jetzt Wilcox mit dem Gewehre in Anschlag und bereit Feuer zu geben, hinzu …

»Schieße nicht! … Schieße nicht! …« rief Briant.

Und noch ehe Wilcox ihn hatte ordentlich erkennen können, stürzte sich Briant auf die Bestie, die sich jetzt gegen ihn wendete, während Doniphan mit Mühe wieder aufstand.

Zum Glück konnte Briant noch zur Seite springen, nachdem er dem Jaguar mit seinem Messer eine tiefe Wunde beigebracht.

Das Alles ging so schnell von Statten, daß weder Wilcox noch Doniphan das Geringste dabei thun konnten. Zu Tode getroffen, sank das Thier zusammen, als jetzt auch Webb und Croß Doniphan zu Hilfe geeilt kamen.

Der Sieg war Briant aber immerhin theuer zu stehen gekommen, denn von einem Tatzenschlag zerrissen, blutete seine Schulter ziemlich heftig.

»Wie kommst Du hierher? fragte Wilcox.

– Das werdet Ihr später erfahren, antwortete Briant. Kommt nur! … Kommt!

– Nicht eher, als bis ich Dir meinen Dank ausgesprochen habe, Briant! sagte Doniphan. Du hast mir das Leben gerettet …

– Ich habe nur gethan, was Du an meiner Stelle auch gethan hättest, erwiderte Briant. Sprechen wir davon jetzt nicht, folgt mir nur! …«

Obwohl die Verletzung Briant’s keine eigentlich gefährliche war, mußte man sie doch mit einem Taschentuche verbinden, und während Wilcox das so gut wie möglich besorgte, konnte der brave Knabe seine Kameraden über alles Vorgefallene unterrichten.

Die Männer also, welche Doniphan als Leichen von den Wellen weggerissen glaubte, waren noch am Leben und irrten jetzt auf der Insel umher. Es waren mit Blut besudelte Verbrecher! Eine Frau hatte mit ihnen in der Schaluppe des »Severn« Schiffbruch erlitten, und diese Frau befand sich in French-den. Jetzt gab es keine Sicherheit mehr auf der Insel Chairman … Deshalb also, aus Furcht, daß der Knall vernommen werden konnte, hatte Briant Wilcox zugerufen, nicht auf den Jaguar Feuer zu geben, deshalb hatte Briant nur das Jagdmesser benutzt, um das gefährliche Raubthier abzuthun.

»Ach, Briant, Du bist doch besser als ich! rief Doniphan tief erregt und mit einer überquellenden Dankbarkeit, welcher selbst sein sonst so hochmüthiger Charakter unterlag.

– Nein, Doniphan, nein, Kamerad, antwortete Briant; doch da ich einmal Deine Hand in der meinen halte, so werd‘ ich sie nicht eher wieder loslassen, als bis Du einwilligst, wieder mit da hinunter zu kommen …

– Ja, Briant, gern, versicherte Doniphan. Rechne auf mich! In Zukunft werd‘ ich der Erste sein, Dir zu gehorchen! … Morgen … mit Tagesanbruch … ziehen wir davon …

– Nein, sogleich, drängte Briant, damit wir noch ungesehen ankommen können!

– Aber wie denn? fragte Croß.

– Moko ist mit hier, er erwartet uns mit der Jolle. Wir wollten eben in den East-river einfahren, als ich den schwachen Schein eines Feuers bemerkte, das glücklicher Weise von Euch herrührte.

– Und Du kamst gerade zur rechten Zeit, um mich zu retten! wiederholte Doniphan.

– Und auch Dich nach French-den heimzuführen!«

Mit wenigen kurzen Worten erfolgte nun auch eine Erklärung darüber, warum Doniphan, Wilcox, Webb und Croß an dieser Stelle und nicht an der Mündung des East-river gelagert hatten.

Nachdem sie die Küste der Severn-shores verlassen, waren Alle nach dem Hafen des Bear-rock noch am Abend des 16. zurückgekehrt. Am nächsten Morgen wandten sie sich, ihrer Abmachung entsprechend, am linken Ufer des East-river bis zum See hinauf, wo sie Rast machten, um am folgenden Tage nach French-den zu gelangen.

Vor dem ersten Tagesgrauen hatten jetzt Briant und seine Kameraden in der Jolle Platz genommen, und da diese für Sechs ziemlich klein war, mußte bei der Führung derselben alle mögliche Vorsicht angewendet werden.

Der Wind war jedoch günstig und Moko leitete das Boot mit solcher Geschicklichkeit, daß die Ueberfahrt ohne Unfall von Statten ging.

Mit welcher Freude empfingen Gordon und die Anderen aber die Ankommenden, als diese gegen vier Uhr Morgens am Damme des Rio Sealand landeten!

Wenn ihnen jetzt schlimme Gefahren drohten, so waren wenigstens Alle wieder in French-den vereinigt.

XII.

XII.

Die Magellan-Straße. – Die Länder und Inseln an derselben. – Die Niederlassungen, welche daselbst gegründet wurden. – Zukunftspläne. – Gewalt oder List. – Rock und Forbes. – Die falschen Schiffbrüchigen. – Gastfreundlicher Empfang. – Zwischen elf Uhr und Mitternacht. – Ein Schuß Evans‘. – Das Dazwischentreten Kate’s.

———

Ein etwa dreihundertachtzig Meilen langer Canal, der sich von Westen nach Osten hin ausbiegt, vom Cap der Jungfrauen im Atlantischen Ocean bis zum Cap Los Pilares im Stillen Ocean reicht – umrahmt von bergigen Ufern, beherrscht von dreitausend Fuß über die Meeresfläche aufragenden Gebirgshäuptern – unterbrochen von Buchten, deren Hintergrund zahlreiche Häfen bildet – reich an Wasserplätzen, wo die Schiffe mühelos ihren Bedarf an Trinkwasser erneuern können – eingefaßt von dichten Wäldern mit zahlreichem Wild – widerhallend vom Donner mächtiger Wasserfälle, welche sich zu Tausenden in die unzähligen Einbuchtungen stürzen – den Schiffen, die von Osten oder Westen herkommen, einen kürzeren Weg bietend als die Lemaire-Straße, zwischen Staatenland und Feuerland, und weniger von Stürmen aufgewühlt als der Weg um das Cap Horn – das ist die Magellan-Straße, welche der berühmte portugiesische Seefahrer im Jahre 1520 entdeckte.

Die Spanier, welche während eines halben Jahrhunderts allein die Magellan-Länder besuchten, gründeten auf der Halbinsel Braunschweig die Niederlassung des Hunger-Hafens. Den Spaniern folgten die Engländer unter Drake, Cavendish, Chidley und Hawkins, dann die Holländer unter de Weert, de Cord, de Noort mit Lemaire und Shouten, welche im Jahre 1610 die Meerenge dieses Namens entdeckten. Endlich, von 1696 bis 1712, erschienen hier Franzosen unter Degennes, Beauchesne-Gunin und Frenzier, und von dieser Zeit ab besuchten diese Gegenden die berühmtesten Seefahrer aus dem Ende des Jahrhunderts, wie Anson, Cook, Byron, Bougainville und Andere.

Jetzt wurde die Magellan-Straße ein häufig benutzter Weg bei der Fahrt von einem Ocean zum anderen – vorzüglich, seitdem die Dampfschifffahrt, welche weder ungünstigen Wind noch Gegenströmungen kennt, gestattete, dieselbe unter den günstigsten Bedingungen zu durchmessen.

Das war also die Meerenge, welche Evans am nächsten Tage – am 28. November – Briant, Gordon und deren Kameraden auf der Karte des Stieler’schen Atlas zeigte.

Wenn Patagonien – die äußerste Provinz Südamerikas – das König Wilhelms-Land und die Halbinsel Braunschweig die nördliche Begrenzung der Meerenge bildet, so ist diese nach Süden zu durch den Magellan’schen Archipel abgeschlossen, der sehr große Inseln, wie Feuerland, Desolations-Land, die Inseln Clarence, Hoste, Gordon, Navarin, Wollaston, Stevart und eine Anzahl von minder bedeutenden umfaßt bis hinab zur letzten Gruppe der Hermiten, deren äußerste, zwischen den beiden Oceanen gelegene, nichts weiter ist, als der vorgeschobene letzte Gipfel der hohen Cordilleren, der Anden, und sich das Cap Horn nennt.

Im Osten schneidet die Magellan-Straße mit einer oder zwei engen Einfahrten zwischen dem Cap der Jungfrauen (zu Patagonien gehörig) und dem Cap Espiritu-Santo (zu Feuerland gehörig) in das Festland ein. Im Westen sind die Verhältnisse andere – wie Evans durch den Augenschein darlegte. An dieser Seite reihen sich Eilande, Inseln, Archipele, Straßen, Canäle und Meeresmeere bis in’s Unendliche aneinander. Mit einer zwischen dem Vorgebirge Los Pilares und der Südspitze der großen Insel der Königin Adelaide gelegenen Durchfahrt mündet die Meerenge im Stillen Ocean aus. Ueber derselben taucht eine große, unregelmäßig angeordnete Reihe von Inseln auf, die sich von der Meerenge des Lord Nelson bis zur Gruppe der nahe der Grenze Chiles liegenden Gruppe der Chonos- und der Chiloë-Inseln hingestreckt.

»Und seht Ihr nun hier, setzte Evans hinzu, jenseits der Magellan-Straße eine Insel, welche durch einfache Canäle von der Insel Cambridge im Süden und von den Inseln Madre de Dios und Chatam im Norden eingeschlossen ist? Nun, diese Insel auf dem 51. Grade südlicher Breite ist die Insel Hannover, der Ihr den Namen Insel Chairman gegeben und die Ihr seit länger als zwanzig Monaten bewohnt habt!«

Ueber den Atlas gebeugt, betrachteten Gordon, Briant und Doniphan neugierig diese Insel, welche sie für sehr entfernt von jedem Lande gehalten hatten und die doch der amerikanischen Küste so nahe lag.

»Wie, sagte Gordon, wir wären von Chile nur durch einen Meeresarm getrennt?

– Ja, meine Freunde, versicherte Evans, doch zwischen der Insel Hannover und dem Festlande Amerikas liegen nur ganz ebenso verlassene Inseln wie diese hier. Einmal nach genanntem Festlande gelangt, hättet Ihr Hunderte von Meilen bis zu den nächsten Niederlassungen Chiles oder der Argentinischen Republik zurücklegen müssen. Welche Beschwerden hätte das mit sich gebracht, gar nicht von den Gefahren zu reden, denn die Puelche-Indianer, welche durch die Pampas schweifen, sind gerade nicht gastfreundlicher Natur. Ich meine also, es war besser, diese Insel nicht zu verlassen, schon weil die materielle Existenz hier gesichert erschien und wir dieselbe, wie ich zu Gott hoffe, noch zusammen verlassen können.«

Die verschiedenen Canäle also, welche die Insel Chairman umflossen, maßen an gewissen Stellen nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Meilen Breite, und Moko hätte über dieselben bei günstiger Witterung ohne Mühe schon in der kleinen Jolle gelangen können. Daß Briant, Gordon und Doniphan diese Länder bei Gelegenheit ihrer Ausflüge nach dem Norden und dem Osten nicht hatten wahrnehmen können, lag nur daran, daß dieselben völlig flach waren. Der erkannte weißliche Fleck aber gehörte einem der Gletscher des Inneren an, und der flammende Berg war nur ein Vulkan der Magellans-Länder.

Uebrigens hatte, wie Briant bei aufmerksamer Betrachtung der Karte bemerkte, der Zufall sie immer nur nach solchen Punkten der Küste geführt, welche von den Nachbarinseln verhältnißmäßig entfernt lagen. Vielleicht hätte Doniphan bei seinem Besuche der Severn-shores die Südspitze der Insel Chatam erkennen müssen, wenn der von den Dunstmassen des bald ausbrechenden Sturmes erfüllte Horizont nicht blos in beschränktem Umkreise sichtbar gewesen wäre. Was die Deception-Bai angeht, welche ziemlich tief in die Insel Hannover einschneidet, so konnte man weder von der Mündung des East-river, noch vom Gipfel des Bear-rock etwas von dem im Osten gelegenen Eilande sehen, noch weniger natürlich von der Insel Esperance, welche etwa zwanzig Meilen weit entfernt liegt. Um die benachbarten Ländergebiete wahrnehmen zu können, hätte man sich nach dem North-Cape begeben müssen, von wo aus die untersten Theile der Insel Chatsam und der Insel Madre de Dios jenseits der Conceptions-Straße sichtbar gewesen wären; oder nach dem South-Cape, von wo aus man die Spitzen der Insel der Königin Adelaide oder Cambridge hätte wahrzunehmen vermocht; oder endlich nach dem äußersten Küstenpunkte der Down-lands, welche die Höhe der Insel Owen oder die Gletscher der Länder im Südosten beherrschen.

Die jungen Colonisten hatten ihre Streifzüge jedoch niemals bis zu diesen entfernten Punkten ausgedehnt. Was die Karte François Baudoin’s betraf, so konnte sich Evans allerdings nicht erklären, warum jene Inseln und Ländermassen auf ihr nicht verzeichnet standen. Da der französische Schiffbrüchige im Stande gewesen war, die Umfassungslinie der Insel Hannover so richtig wiederzugeben, mußte er um dieselbe doch ganz herumgekommen sein. Sollte man nun annehmen, daß gerade bei seinem Besuche der genannten Punkte der bedeckte Himmel seinen Gesichtskreis auf nur wenige Meilen beschränkt hatte? Das war mindestens nicht unglaublich.

Und wenn es nun gelang, sich der Schaluppe vom »Severn« zu bemächtigen und diese wieder auszubessern, nach welcher Seite hin würde Evans sie wohl führen?

Diese Frage richtete Gordon gelegentlich an den Steuermann.

»Meine lieben Freunde, antwortete Evans, ich würde weder nach Norden, noch nach Osten hin zu segeln suchen. Je weiter wir zu Wasser gelangen können, desto besser. Gewiß könnte uns die Schaluppe bei günstigem Winde nach irgend einem Hafen Chiles bringen, wo wir sicherlich den besten Empfang fänden. Der Seegang an diesen Küsten ist aber stets ziemlich schwer, während die Canäle des Archipels uns immer eine bequeme Fahrt gestatten.

– Gewiß, erklärte Briant. Doch werden wir in jenen Gegenden auch Niederlassungen antreffen und in solchen Niederlassungen Gelegenheit, in die Heimat zurückzukehren?

– Daran zweifle ich nicht, erwiderte Evans. Hier, betrachtet einmal diese Karte. Wenn wir die Durchfahrten des Archipels der Königin Adelaide hinter uns haben, wohin gelangen wir dann durch den Smyth-Canal? In die Magellan-Straße, nicht wahr? Nun, ziemlich am Eingange der Meerenge liegt hier der Hafen Tamar, der zu Desolations-Land gehört, und hier wären wir schon so gut wie auf dem Rückwege.

– Ja, doch wenn wir daselbst kein Schiff finden, antwortete Briant, wollen wir da warten, bis eins vorüberkommt?

– Nein, Herr Briant. Folgen Sie mir nur etwas weiter durch die Magellan-Straße. Sehen Sie hier die große Halbinsel Braunschweig? … Hier, im Hintergrunde der Fortescue-Bai, im Port Galant, legen die Schiffe sehr häufig bei. Müßten wir noch weiter segeln und das Cap Forward im Süden der Halbinsel umschiffen, so finden wir da die Bougainville-Bai, wo die meisten Fahrzeuge anhalten, welche die Meerenge passiren. Ueber diesen Punkt hinaus liegt ferner noch Port Famine (der Hungerhafen), nördlich von Punta Arena.«

Der Steuermann hatte ganz Recht. Einmal in der Meerenge, mußte die Schaluppe zahlreiche Ankerplätze finden. Unter solchen Verhältnissen schien die Heimkehr gesichert, ohne zu erwähnen, daß man ja schon unterwegs Schiffe auf dem Wege nach Australien oder Neuseeland treffen konnte. Wenn Port-Tamar, Port-Galant und Port-Famine zwar nur wenig Hilfsquellen bieten, so ist Punta-Arena dagegen mit Allem versehen, was zur Nothdurft des Leibes und Lebens gehört. Diese große, durch die chilenische Regierung gegründete Niederlassung bildet eine wirkliche, am Ufer erbaute kleine Stadt mit hübscher Kirche, deren Thurmspitze zwischen den prächtigen Bäumen der Halbinsel Braunschweig emporsteigt. Sie befindet sich in blühendem Zustande, während die Station Port-Famine, die aus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts herrührt, heute fast nur noch ein Dorf in Ruinen ist.

Heutzutage gibt es übrigens auch noch weiter im Süden andere Niederlassungen, welche vorzüglich wissenschaftliche Expeditionen aufsuchen, wie die Station Livya auf der Insel Navarin, und vor Allem die von Ooshovia im Beagle-Canal unterhalb Feuerlands. Dank der Opferfreudigkeit englischer Missionäre fördert letztere sehr bedeutend die Kenntnisse der Gegenden, wo die Franzosen zahlreiche Spuren ihrer Anwesenheit zurückgelassen haben, wovon die Namen wie Dumas, Cloné, Pasteur, Chanzy und Grévy, welche verschiedenen Inseln des Magellan’schen Archipels beigelegt wurden, Zeugniß geben.

Die Rettung der jungen Colonisten schien also gesichert, wenn sie die Meerenge erreichen konnten. Dazu war es freilich nothwendig, die Schaluppe des »Severn« wieder in Stand zu setzen, und um das ausführen zu können, sich derselben zu bemächtigen – woran doch nicht eher zu denken war, als bis Walston und seine Spießgesellen zu Paaren getrieben waren.

Wäre dieselbe noch auf der Stelle geblieben, wo Doniphan sie auf der Küste der Severn-shores gefunden hatte, so hätte man vielleicht versuchen können, sie zu erlangen. Walston, der sich in der Hauptsache gegen fünfzehn Meilen von dort aufhielt, würde schwerlich etwas davon bemerkt haben. Was er vermocht hatte, konnte Evans natürlich auch, das heißt, die Schaluppe nicht zur Mündung des East-river, sondern zur Mündung des Rio Sealand, und wenn er diesen stromaufwärts benützte, sie sogar bis zur Höhe von French-den schaffen.

Hier würde die Ausbesserung unter Anleitung des Steuermannes unter den günstigsten Verhältnissen auszuführen gewesen sein. Nachdem das Boot dann neue Takelage erhalten, mit Munition, Lebensmitteln und einigen Gegenständen, welche zurückzulassen es schade gewesen wäre, beladen worden, wären sie von der Insel weggesegelt, ehe die Uebelthäter nur in die Lage kamen, sie anzugreifen.

Unglücklicherweise war das nicht ausführbar. Die Frage der Wegfahrt von hier konnte nur noch durch die Gewalt gelöst werden, ob man nun zum Angriff überging oder sich auf die Vertheidigung beschränkte. Jedenfalls ließ sich aber nichts thun, ehe man nicht die Mannschaft vom »Severn« überwältigt hatte.

Evans flößte übrigens den jungen Colonisten ein unbegrenztes Vertrauen ein. Kate hatte ja so viel und in so warmen Worten von ihm gesprochen. Seit der Steuermann sich Haar und Bart hatte schneiden können, erweckte schon sein offenes, entschlossenes Gesicht die beste Beruhigung. Wenn er energisch und muthig war, fand man, daß er auch gut, von entschlossenem Charakter und zu jeder Aufopferung fähig sein müsse.

Ganz wie Kate gesagt, schien er wirklich wie ein Sendbote des Himmels, der in French-den erschienen – endlich ein Mann inmitten dieser Kinder! Zuletzt wollte der Steuermann die Hilfsmittel kennen lernen, über die er, um Widerstand zu leisten, verfügen konnte.

Der Store-room und die Halle schienen ihm zur Vertheidigung völlig geeignet. Von deren Außenseite beherrschte die eine das Ufergelände und den Rio, die andere die Sport-terrace bis zum Gestade des Sees. Die Wandöffnungen gestatteten nach diesen Richtungen hin bei vollständiger Deckung zu feuern. Mit ihren acht Gewehren konnten die Belagerten die Angreifer entfernt halten und mit den beiden kleinen Kanonen sie mit einem Kartätschenhagel überschütten, wenn sie sich bis French-den heranwagten. Kam es aber gar zu einem Handgemenge, so würden Alle sich des Revolvers, der Aexte und Schiffsmesser zu bedienen wissen.

Evans lobte Briant auch, daß dieser im Innern so viel Steine aufgehäuft hatte, wie zur sicheren Abschließung der Thüren nöthig erschienen. Im Innern also waren die Vertheidiger verhältnißmäßig stark, draußen freilich nur schwach. Man darf nicht vergessen, daß es nur sechs Knaben von dreizehn bis fünfzehn Jahren waren gegen sieben kräftige Männer, welche, waffengewohnt und tollkühn, ja nicht einmal vor einem Morde zurückschreckten.

»Sie halten jene also für sehr zu fürchtende Burschen, Master Evans? fragte Gordon.

– Ja, Herr Gordon, für sehr zu fürchtende Gesellen.

– Bis auf Einen, der vielleicht nicht ganz verloren ist, ließ Kate sich vernehmen, ich meine Forbes, der mir das Leben gerettet hat.

– Forbes? antwortete Evans. Ach, alle Wetter, ob er nun blos durch schlechten Rath und aus Furcht vor seinen Genossen dazu verführt wurde, jedenfalls trägt er auch seinen Theil an dem Gemetzel auf dem »Severn«. Hat der Schurke mich nicht mit Rock auf’s Tollste verfolgt? Hat er nicht auf mich wie auf ein wildes Thier geschossen? Hat er sich nicht beglückwünscht, als er mich im Rio ertrunken glaubte? Nein, liebe Kate, ich fürchte, er ist nicht mehr Werth als die Anderen! Wenn er Sie damals verschonte, so wußte er gewiß recht gut, daß die Schurken Ihrer Dienste noch bedurften, und er würde nicht zurückbleiben, wenn es darauf ankäme, French-den zu überfallen.»

Inzwischen gingen einige Tage dahin, ohne daß etwas Verdächtiges von den jungen Leuten, welche die Umgebung vom Auckland-hill aus stets überwachten, gemeldet worden wäre, was Evans einigermaßen verwunderte.

Da er die Pläne Walston’s kannte und wußte, welches Interesse jener hatte, deren Ausführung zu beschleunigen, so legte er sich die Frage vor, warum zwischen dem 27. und dem 30. November noch gar nichts geschehen sei.

Da kam ihm der Gedanke, daß Walston vielleicht mit List statt mit Gewalt werde zum Ziel zu gelangen und in French-den einzudringen suchen. Er theilte seine Muthmaßungen Briant, Gordon, Doniphan und Baxter, mit denen er meist Alles besprach, gleich darauf mit.

»So lange wir uns im Innern von French-den halten, sagte er, würde er gezwungen sein, eine oder die andere Thür zu stürmen, da er Niemand hat, der sie ihm öffnete. Er könnte also versuchen, durch List Zugang zu erhalten …

– Und wie? fragte Gordon.

– Vielleicht in der Weise, wie es mir zufällig eingefallen ist, antwortete Evans. Ihr wißt, junge Freunde, daß Kate und ich die einzigen Wesen wären, welche Walston als Anführer einer Bande von Mordbuben, deren Angriff die kleine Colonie zu fürchten hätte, anzeigen könnten. Walston hält sich nun überzeugt, daß Kate bei der Strandung umgekommen ist. Was mich betrifft, so bin ich vorschriftsmäßig im Rio ertrunken, nachdem Rock und Forbes auf mich gefeuert hatten – und Ihr wißt ja, daß ich sie habe frohlocken hören, meiner ledig geworden zu sein. Walston muß demnach annehmen, daß Ihr noch von gar nichts unterrichtet seid – nicht einmal von der Anwesenheit der Matrosen vom »Severn« auf Eurer Insel, und daß Ihr, wenn einer derselben in French-den erschiene, ihn wie jeden Schiffbrüchigen bestens aufnehmen würdet. Wäre ein solcher Schuft aber einmal hereingekommen, so müßte es ihm leicht werden, seine Spießgesellen einzulassen – was für uns jeden Widerstand fast unmöglich machte.

– Nun gut, meinte Briant; wenn also Walston oder irgend ein Anderer unsere Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen suchte, so würden wir ihm mit einem Loth Blei die Wege weisen …

– Wenn wir vor ihm nicht etwa besser die Mützen ziehen, warf Gordon ein.

– Ja, Sie haben vielleicht Recht, Herr Gordon, erwiderte der Steuermann. Das könnte sogar besser sein. List wider List! Im gegebenen Falle werden wir ja sehen, was zu thun ist.»

Ja, es empfahl sich gewiß, mit größter Klugheit zu Werke zu gehen. Wendete sich die Sache zum Guten, gelang es Evans sich in den Besitz der Schaluppe des »Severn« zu setzen, so durfte man wohl hoffen, daß die Stunde der Erlösung nicht mehr ferne sei. Doch welche Gefahren drohten noch bis dahin! – Und würde diese ganze kleine Welt noch vollzählig sein, wenn sie endlich nach Neuseeland zurückkehrte?

Am folgenden Tage verlief der Vormittag auch ohne Zwischenfall. In Begleitung Doniphan’s und Baxter’s wagte sich der Steuermann sogar eine halbe Meile weit in der Richtung nach den Traps-woods hinaus, wobei alle Drei hinter den vereinzelten Bäumen am Fuße des Auckland-hill Deckung suchten. Er bemerkte nichts Außergewöhnliches, und Phann, der auch mitlief, gab nichts zu erkennen, was ihn hätte mißtrauisch machen können.

Gegen Abend jedoch, kurz vor Sonnenuntergang, kam es zu einem Alarm. Webb und Croß, die auf dem Steilufer Wache hielten, kamen eiligst herunter und meldeten die Annäherung zweier Männer, welche das südliche Vorland des Sees am anderen Ufer des Rio heraufkamen.

Kate und Evans zogen sich, um nicht bemerkt zu werden, sofort nach dem Store-room zurück. Von da aus bemerkten sie, durch die Schießscharten lugend, die beiden angemeldeten Männer. Es waren zwei Genossen Walston’s, Rock und Forbes.

»Da haben wir’s ja, sagte der Steuermann, sie verlegen sich auf die List und wollen sich hier als Matrosen einführen, die sich aus einem Schiffbruche gerettet haben.

– Was sollen wir nun thun? … sagte Briant.

– Sie bestens aufnehmen, erwiderte Evans.

– Diese Elenden auch noch gut empfangen! rief Briant. Ich wäre nimmermehr im Stande …

– Lass‘ mich das besorgen, unterbrach ihn Gordon.

– Recht so, Herr Gordon! sagte der Steuermann. Doch hüten Sie sich, daß jene keine Ahnung von unserem Hiersein bekommen. Kate und ich, wir werden uns schon zeigen, wenn es Zeit ist!«

Evans und die Aufwärterin versteckten sich in einem der Nebenräume des Verbindungsganges, dessen Thür hinter ihnen verschlossen wurde. Gleich darauf begaben sich Gordon und Baxter nach dem Ufer des Rio Sealand. Bei dem Anblick derselben heuchelten die beiden Männer das größte Erstaunen, und Gordon stellte sich so, als ob er nicht weniger verwundert sei.

Rock und Forbes schienen von Strapazen erschöpft, und als sie an den Wasserlauf herankamen, entstand folgendes kurze Gespräch zwischen beiden Ufern:

»Wer seid Ihr?

– Schiffbrüchige, welche im Süden dieser Insel mit der Schaluppe des Dreimasters »Severn« verunglückt sind.

– Seid Ihr Engländer?

– Nein, Amerikaner.

– Und Eure Gefährten?

– Die sind umgekommen. Uns allein gelang die Rettung aus dem Schiffbruche; doch jetzt sind unsere Kräfte zu Ende! …

Mit wem haben wir es hier zu thun?

– Mit den Colonisten der Insel Chairman.

– So bitten wir diese um Mitleid und um gastfreundliche Aufnahme, denn uns fehlt nicht weniger als Alles …

– Schiffbrüchige haben stets gerechten Anspruch auf Beistand seitens ihres Gleichen! … antwortete Gordon. Auch Ihr sollt uns willkommen sein!«

Auf ein Zeichen Gordon’s bestieg Moko die Jolle, welche nahe dem kleinen Damme angebunden lag, und mit einigen Ruderschlägen hatte er die beiden Matrosen nach dem rechten Ufer des Rio Sealand befördert.

Walston mochte wohl keine Wahl gehabt haben, doch mußte man gestehen, daß die Erscheinung Forbes‘ alles andere als vertrauenerweckend war, selbst gegenüber Kindern, denen es noch so sehr an Uebung fehlte, die Physiognomie eines Menschen zu entziffern. Obwohl er versucht hatte, sich das Ansehen eines ehrbaren Mannes zu geben, zeigte dieser Rock mit seiner gedrückten Stirn, dem hinten weit ausspringenden Kopfe und der dicken unteren Kinnlade unverkennbar den Typus des Verbrechers. Forbes – der, dessen menschliches Gefühl der Aussage Kate’s nach vielleicht noch nicht ganz erloschen war – hatte wenigstens ein etwas besseres Aussehen und wahrscheinlich hatte ihn Walston gerade aus diesem Grunde dem Anderen hier zugesellt.

Nach besten Kräften spielten nun Beide die Rolle falscher Schiffbrüchiger. Um keinen Verdacht zu erregen, vermieden sie es, sich eingehende Fragen vorlegen zu lassen, indem sie erklärten, mehr von Anstrengung als von Nahrungsmangel erschöpft zu sein, und deshalb baten, zunächst etwas ausruhen und vielleicht die Nacht in French-den zubringen zu dürfen. Sie wurden sofort dorthin geleitet. Beim Eintreten – und das entging Gordon keineswegs – hatten sie sich nicht enthalten können, auf die Anordnung der Halle etwas gar zu prüfende Blicke zu werfen. Sie schienen auch nicht wenig erstaunt über das Vertheidigungsmaterial, welches die kleine Colonie besaß – vorzüglich über die Kanone, welche über die Schießscharte lugte.

Die jungen Colonisten mußten also, wenn auch mit größtem Widerstreben, ihre Rolle vorläufig weiter spielen, da Rock und Forbes sich, nachdem sie den Bericht über ihre Erlebnisse bis zum folgenden Tage verschoben, nur schnellstens niederzulegen wünschten.

»Eine Handvoll trockenes Gras wird uns als Lagerstätte genügen, sagte Rock. Da wir Euch so wenig wie möglich belästigen möchten … Habt Ihr vielleicht noch einen ähnlichen Raum wie diesen? …

– Ja, antwortete Gordon, den, der uns als Küche dient, und dort könnt Ihr gut bis morgen ausruhen.«

Rock und sein Begleiter gingen nach dem Store-room hinüber, dessen Inneres sie mit forschendem Blick überflogen, wobei sie auch erkannten, daß die Thür desselben sich nach dem Rio zu öffnete.

Wirklich hätte Niemand zuvorkommender gegen diese armen Verunglückten sein können! Die beiden Schurken mußten sich sagen, daß es sich, um mit diesen unschuldigen Kindern fertig zu werden, gar nicht der Mühe lohne, eine solche Posse aufzuspielen.

Rock und Forbes streckten sich in einem Winkel des Store-room nieder. Hier sollten sie freilich nicht allein bleiben, da Moko in demselben Raume schlief; um diesen Burschen kümmerten sie sich indessen nicht und waren entschlossen, ihn einfach zu erwürgen, wenn sie bemerkten, daß er nur mit einem Auge schliefe. Zur verabredeten Stunde sollten nämlich Rock und Forbes die Thür öffnen, und Walston, der sich mit vier anderen seiner Spießgesellen am Uferlande aufhielt, hoffte damit French-den ohne Widerstand in seine Gewalt zu bekommen.

Gegen neun Uhr, als Rock und Forbes voraussichtlich schon schlafen mußten, trat auch Moko ein und warf sich sogleich auf sein Lager, bereit, beim ersten verdächtigen Zeichen Lärm zu schlagen.

Briant und die Uebrigen waren in der Halle geblieben. Nach Verschluß der Thür des Verbindungsganges gesellten sich Evans und Kate wieder zu ihnen. Alles war so gekommen, wie der Steuermann es vorausgesehen, und dieser zweifelte nicht daran, daß Walston jetzt in der nächsten Umgebung nur den Augenblick abwartete, hier einzudringen.

»Seien wir auf unserer Hut!« sagte er.

Inzwischen vergingen zwei Stunden, und Moko fragte sich schon, ob Rock und Forbes ihren Anschlag nicht bis zu einer anderen Nacht verschoben haben möchten, als seine Aufmerksamkeit durch ein leichtes Geräusch im Store-room erweckt wurde.

Beim Scheine der an der Decke hängenden Laterne sah er da Rock und Forbes den Winkel, in dem sie gelegen hatten, verlassen und nach der Seite der Thür hinkriechen.

Diese Thür war durch eine Anhäufung großer Steine gesichert – eine wirkliche Barricade, welche schwierig, wenn nicht ganz unmöglich auf einmal beseitigt werden konnte.

Die beiden Matrosen begannen also damit, die Steine einzeln abzutragen und geräuschlos längs der rechten Wand aufzuschichten. Nach wenigen Minuten war die Thür vollständig freigelegt. Jetzt brauchte nur noch der Riegel zurückgeschoben zu werden, der sie von innen verschloß, um den Zugang nach French-den jeden Augenblick zu öffnen.

In dem Augenblicke aber, als Rock nach Zurückschiebung jenes Riegels die Thür aufstoßen wollte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er drehte sich um und erkannte den Steuermann, dessen Gesicht die Laterne voll beleuchtete.

»Evans! rief er. Evans hier! …

– Hierher, Jungens! rief der Steuermann.

Briant und seine Genossen stürzten sofort nach dem Store-room. Hier wurde zunächst Forbes von den vier stärksten Knaben, Baxter, Wilcox, Doniphan und Briant, gepackt und ihm jedes Entkommen unmöglich gemacht.

Rock hatte mit einem wuchtigen Stoße Evans zurückgedrängt und versetzte ihm dabei einen Messerstich, der diesen jedoch nur leicht am linken Arme streifte.

Dann eilte er durch die offene Thür hinaus. Er hatte noch keine zehn Schritte gemacht, als ein Schuß hinter ihm krachte.

Der Steuermann war es, der auf Rock geschossen hatte. Allem Anscheine nach war der Flüchtling unverletzt geblieben, wenigstens ließ sich kein Aufschrei hören.

»Alle Wetter! … Ich habe den Schuft gefehlt! rief Evans. Doch wir haben ja den andern … Einer wird also immer weniger sein!«

Das Messer in der Hand, erhob er schon den Arm gegen Forbes.

»Gnade! … Gnade! … winselte der Elende, den die vier Knaben auf der Erde festhielten.

– Ja, Gnade, Evans! bat Kate, sich zwischen den Steuermann und Forbes eindrängend. Gewährt ihm Gnade, da er mir das Leben gerettet hat! …

– Es sei! sagte Evans; ich gebe Ihnen nach, Kate, wenigstens für den Augenblick.«

Sicher geknebelt wurde jetzt Forbes in eine der Nebenkammern gesteckt.

Dann verschloß und verbarricadirte man die Thür des Store-room wieder und Alle blieben bis Tagesanbruch, um jeder Ueberraschung vorzubeugen, wach.

XIII.

XIII.

Ausfragung Forbes‘. – Die Lage. – Eine geplante Auskundschaftung. – Abwägung der Streitkräfte. – Reste des Lagers. – Briant verschwunden. – Doniphan ihm zu Hilfe. – Schwere Verwundung. – Ein Schrei von French-den her. – Auftreten Forbes‘. – Ein Kanonenschuß Moko’s.

———

So anstrengend diese Nacht ohne Schlaf auch gewesen, fiel es am nächsten Tage doch Niemand ein, nur eine Stunde Ruhe zu suchen. Es war jetzt nicht mehr zweifelhaft, daß Walston, nachdem die List mißlungen, Gewalt anwenden würde. Rock, der dem Schusse des Steuermannes entgangen war, mußte jenen wieder aufgesucht und ihm gemeldet haben, daß er, da seine Schliche entdeckt waren, nur durch Sprengung der Thüren nach French-den hinein gelangen könne.

Schon beim Morgenrothe begaben sich Evans, Briant, Doniphan und Gordon vorsichtig hinaus. Mit dem Aufgange der Sonne verdichteten sich die Morgennebel mehr und mehr und legten den See frei, den eine leichte Brise kräuselte.

Die ganze Umgebung von French-den, sowohl nach der Seite des Rio Sealand, wie nach der der Traps-woods zu, erschien völlig still. Im Innern des Geheges bewegten sich die Hausthiere wie gewöhnlich hin und her. Phann, der auf der Sport-terrace herumlief, ließ kein Zeichen von Unruhe erkennen.

Vor Allem beschäftigte sich Evans damit, zu erkennen, ob auf dem Boden Fußeindrücke zu finden seien. Wirklich zeigten sich solche in großer Menge – vorzüglich ganz nahe bei French-den. Sie kreuzten sich in den verschiedensten Richtungen und bewiesen deutlich, daß Walston und seine Begleiter bis nach dem Rio selbst vorgedrungen waren und dort auf Oeffnung der Thür des Store-room gelauert hatten.

Blutflecken bemerkte man auf dem Sande nicht – ein Beweis, daß Rock durch die Kugel des Steuermannes nicht verwundet worden sein konnte.

Hier drängte sich jedoch die Frage auf, ob Walston gleich den falschen Schiffbrüchigen vom Süden des Family-lake gekommen oder nicht vielmehr vom Norden her auf French-den zugezogen sei. In letzterem Falle mußte Rock nach den Traps-woods zu entflohen sein, um sich ihm wieder anzuschließen.

Da es von Wichtigkeit schien, diese Thatsache aufzuklären, beschloß man, Forbes zu fragen, um zu erfahren, welchen Weg Walston wohl eingeschlagen habe. Doch ob Forbes sich auch wohl herbeiließ, zu sprechen, und wenn er sprach, ob er dann auch die Wahrheit sagte? … Würden in seinem Herzen aus Dankbarkeit gegen Kate, die ihm jetzt das Leben gerettet hatte, wohl einige bessere Empfindungen erwachen? … Würde er vergessen, was es bedeutete, Diejenigen zu verrathen, die er erst um gastliche Aufnahme in French-den angesprochen hatte?

Um ihn persönlich zu befragen, kehrte Evans nach der Halle zurück, er öffnete die Thür des Seitenbehälters, in dem Forbes untergebracht worden war, löste seine Fesseln und führte ihn nach der Halle.

»Forbes, begann Evans, Dein und Rock’s listiger Anschlag hat seinen Zweck verfehlt. Mir liegt daran zu wissen, was Walston zunächst geplant, und Du mußt davon unterrichtet sein. Willst Du Antwort geben?«

Forbes hatte den Kopf gesenkt und wagte nicht, die Augen weder auf Evans noch auf Kate oder auf die Knaben zu erheben, denen der Steuermann ihn vorgeführt hatte. Er verhielt sich schweigend.

Kate versuchte zu vermitteln.

»Forbes, sagte sie, früher zeigtet Ihr eine Spur von Mitgefühl, als Ihr Eure Kameraden während des Gemetzels auf dem »Severn« abhieltet, auch mich umzubringen. Wäret Ihr jetzt nicht bereit, auch etwas zu thun, um diese Kinder vor einem noch schauderhafteren Gemetzel zu bewahren?«

Forbes gab keine Antwort.

»Forbes, fuhr Kate fort, sie haben Euch das Leben geschenkt, da Ihr den Tod verdientet! Jede menschliche Regung kann in Euch nicht erloschen sein! Nachdem Ihr so viel Böses gethan, könnt Ihr noch auf den Weg des Guten zurückkehren. Bedenkt, zu welch‘ scheußlichem Verbrechen Ihr jetzt die Hand bietet!«

Ein halberstickter Seufzer rang sich jetzt aus Forbes‘ Brust.

»Was kann ich denn dabei thun? antwortete er mit dumpfer Stimme.

– Du kannst uns mittheilen, nahm Evans wieder das Wort, was diese Nacht geschehen sollte, was später gegen uns geplant ist. Erwartetest Du Walston und die Uebrigen, welche wohl hier eindringen wollten, sobald Ihnen eine Thür geöffnet wurde? …

– Ja! … stammelte Forbes.

– Und diese Knaben, welche Dich so freundlich aufgenommen hatten, wären ermordet worden?« …

Forbes ließ den Kopf noch tiefer sinken und fand nicht die Kraft zu einer Antwort.

»So sage uns, von welcher Seite Walston und die Anderen hierher gekommen waren? fragte der Steuermann.

– Vom Norden des Sees her, erwiderte Forbes.

– Während Ihr Beide, Rock und Du, vom Süden her kamt? …

– Ja!

– Haben Sie schon im Westen die anderen Theile der Insel besucht?

– Noch nicht.

– Wo mögen sie jetzt sich aufhalten?

– Das weiß ich nicht …

– Du kannst uns nicht mehr sagen, Forbes?

– Nein … Evans .. nein! …

– Und Du denkst, daß Walston wiederkommen wird?

– Ja!«

Offenbar hatten Walston und seine Gefährten, als sie den Schuß des Steuermanns hörten und erkannten, daß ihre List durchschaut war, es für rathsam gehalten, sich in Erwartung einer günstigeren Gelegenheit seitwärts zu schlagen.

Evans, der nicht hoffen konnte, von Forbes weitere Aufklärung zu erlangen, führte diesen wieder nach seinem Gefängniß, dessen Thür von außen verschlossen wurde.

Die Lage war und blieb also immer eine höchst ernste. Wo befand sich jetzt Walston? Hielt er sich in den Traps-woods verborgen? Forbes hatte das nicht sagen können oder nicht sagen wollen. Und doch wäre es so wünschenswerth gewesen, in dieser Beziehung unterrichtet zu sein. Deshalb kam der Steuermann auf den Gedanken, in jener Richtung hin eine, wenn auch mit Gefahr verknüpfte Recognoscirung vorzunehmen.

Gegen Mittag brachte Moko dem Gefangenen etwas Nahrung. Forbes saß in sich zusammengesunken da und rührte diese kaum an. Was mochte in der Seele des Unglücklichen vorgehen? Wurde er vielleicht von Gewissensbissen gefoltert? – Wer könnte das errathen?

Nach dem Frühstück eröffnete Evans den Knaben seine Absicht, bis zum Saume der Traps-woods hinauszugehen, da es ihm gar zu sehr am Herzen lag, zu erfahren, ob die Verbrecher noch immer in der Nachbarschaft von French-den verweilten. Dieser Vorschlag wurde ohne weitere Verhandlungen angenommen, und man traf alle geeigneten Maßregeln, um sich gegen jede Eventualität zu sichern.

Gewiß zählten Walston und seine Spießgesellen seit der Gefangennahme Forbes‘ nur sechs Mann, während die kleine Colonie aus fünfzehn Knaben ohne Kate und Evans zu rechnen, bestand.

Von dieser Zahl waren aber die Kleinsten abzuziehen, welche an einem Kampfe nicht unmittelbar theilnehmen konnten. Es wurde also beschlossen, daß während des Recognoscirungszuges des Steuermanns Iverson, Jenkins, Dole und Costar mit Kate, Moko und Jacques unter der Hut Baxter’s in der Halle zurückbleiben sollten. Die Großen dagegen, nämlich Briant, Gordon, Doniphan, Croß, Service, Webb, Wilcox und Garnett, bildeten die Begleitung Evans‘. Acht Knaben gegen sechs Männer im kräftigsten Alter, das war freilich kein gleiches Verhältniß.

Zwar führte jeder derselben als Waffen Gewehr und Revolver, während Walston nur fünf vom »Severn« herrührende Flinten besaß. Unter diesen Umständen mußte also ein Fernkampf noch die besten Aussichten bieten, da Doniphan, Wilcox und Croß sehr gute Schützen und folglich den amerikanischen Matrosen überlegen waren. Dazu fehlte es ihnen nicht an Munition, wogegen Walston, wie der Steuermann gesagt hatte, sich auf nur wenige Patronen beschränkt sah.

Es war gegen zwei Uhr Nachmittags, als die kleine Truppe unter Führung Evans‘ zusammentrat. Baxter, Jacques, Moko, Kate und die Kleinen kehrten sofort nach French-den zurück, wo die Thüre zwar verschlossen, aber nicht verbarricadirt wurde, um gegebenen Falls dem Steuermann und den Anderen schnell Obdach bieten zu können.

Uebrigens war ebenso wenig vom Süden wie vom Westen her etwas zu fürchten, da Walston, um von diesen Richtungen her anzugreifen, erst nach der Sloughi-Bai und dann längs des Rio Sealand hätte hinziehen müssen, was zu viel Zeit erforderte. Nach Aussage Forbes‘ war er vielmehr am westlichen Ufer des Sees heruntergekommen und kannte jenen Theil der Insel wohl überhaupt nicht. Evans brauchte demnach keinen Rückenangriff zu fürchten, da die feindlichen Kräfte jedenfalls nur im Norden zu suchen sein konnten.

Die Knaben und der Steuermann drangen längs des Ufers am Auckland-hill möglichst behutsam vor. Jenseits des Geheges gestatteten ihnen Gesträuche und Baumgruppen den Wald zu erreichen, ohne sich allzusehr bloßzustellen.

Evans marschirte an der Spitze, nachdem er den Feuereifer Doniphan’s, der immer der Erste sein wollte, mühsam gemäßigt hatte. Als er an dem kleinen Erdhügel vorübergekommen war, der die sterblichen Ueberreste des französischen Schiffbrüchigen bedeckte, hielt es der Steuermann für angezeigt, eine schräge Richtung einzuschlagen, um sich dem Strande des Family-lake mehr zu nähern.

Phann, den Gordon vergeblich zurückzuhalten versucht hatte, schien mit aufgerichteten Ohren und die Nase am Boden etwas auszuspüren, und bald gewahrte man, daß er eine Fährte gefunden haben müsse.

»Achtung! rief Briant.

– Ja, antwortete Gordon. Das ist nicht die Fährte eines Thieres. Seht nur das seltsame Verhalten des Hundes!

– Schleichen wir unter dem Gebüsch hin, sagte Evans, und Sie, Herr Doniphan, da Sie sicher schießen, fehlen Sie ja keinen der Schurken, wenn einer sichtbar würde! Eine nützlichere Kugel werden Sie nie verschossen haben!«

Einige Augenblicke später hatten Alle die ersten Baumgruppen erreicht. Hier, am Saume der Traps-woods, fanden sich noch Spuren eines neuerlichen Lagers, halb verkohlte Zweige und kaum erkaltete Asche.

»Ganz sicherlich hat Walston an dieser Stelle die letzte Nacht verweilt, bemerkte Gordon.

– Und vielleicht war er sogar vor wenigen Stunden noch hier, antwortete Evans. Ich halte es also für richtiger, wir ziehen uns mehr nach dem Steilufer hin zurück …«

Er hatte kaum geendet, als von rechts her ein Krachen erschallte. Eine Kugel schlug, nachdem sie Briant leicht am Kopfe gestreift, in den Baum, an den er sich lehnte.

Fast zu derselben Zeit donnerte noch ein anderer Schuß, dem ein Schrei folgte, während etwa fünfzig Schritte weiterhin eine Masse schnell unter den Bäumen verschwand.

Doniphan war es gewesen, der, als Ziel den Rauch des ersten Schusses nehmend, Feuer gegeben hatte.

Da der Hund nicht stehen blieb, eilte Doniphan, von Kampfesmuth beseelt, diesem ohne zu überlegen nach.

»Vorwärts! rief Evans, wir können ihn nicht allein in’s Gedränge kommen lassen!« …

Nur wenige Minuten später hatten sie Doniphan erreicht und bildeten da einen Kreis um einen inmitten des hohen Grases ausgestreckten Körper, der kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

»Der hier, das ist Pike! sagte Evans. Dieser Schurke hat seinen Lohn empfangen! Wenn der Teufel auf ihn Jagd macht, wird er nicht als Schneider wieder nach Hause kommen. – Wieder Einer weniger!

– Die Anderen können nicht weit von hier sein, bemerkte Garnett.

– Nur, junge Freunde, lassen wir uns nicht unnöthig sehen.

– Nieder auf die Knie! Auf die Knie!« …

Ein dritter Knall, dieses Mal von der linken Seite. Service, der den Kopf nicht niedrig genug gehalten hatte, erhielt einen Streifschuß an der Stirn.

»Bist Du verwundet? … rief Gordon auf ihn zueilend.

– O, es ist nichts, Gordon, gar nichts, antwortete Service. Höchstens eine leichte Schramme!«

Jetzt galt es, sich nicht von einander zu trennen. Nachdem Pike getödtet war, blieb nur Walston mit noch vier Leuten übrig, welche in geringer Entfernung hinter den Bäumen Aufstellung genommen haben mochten. Evans und die Seinigen bildeten, unter dem Gesträuch hingekauert, eine gedrängte Truppe, bereit sich zu vertheidigen, von welcher Seite der Angriff auch erfolgte.

Plötzlich rief Garnett:

»Wo ist denn Briant?

– Ich sehe ihn nicht mehr!« antwortete Wilcox.

In der That war Briant verschwunden, und da sich das Gebell Phanns jetzt nur mit erneuerter Heftigkeit hören ließ, war zu fürchten, daß der unerschrockene Knabe mit einigen Leuten der Bande in’s Handgemenge gekommen sei.

»Briant! … Briant!« rief Doniphan.

Alle folgten, vielleicht unbewußt, den Spuren Phanns nach. Evans hatte sie nicht zurückhalten können. Sie schlüpften von Baum zu Baum und gewannen so immer mehr an Terrain.

»Vorsehen, Master, vorsehen!« rief plötzlich Croß, der sich schnell zur Erde niederwarf.

Instinctiv senkte der Steuermann den Kopf, gerade als eine Kugel nur wenige Zoll über ihn hinpfiff.

Als er sich gleich wieder aufrichtete, bemerkte er einen der Spießgesellen Walston’s, der durch das Gehölz flüchtete.

Er erkannte Rock, der ihm die Nacht vorher entkommen war.

»Das für Dich, Rock!« rief er.

Er gab Feuer und Rock verschwand, als ob die Erde sich unter ihm aufgethan hätte.

»Sollt‘ ich ihn nochmals gefehlt haben? … rief Evans. Alle Wetter, das wäre Pech!«

Alles das geschah binnen wenigen Secunden. Plötzlich erschallte das Gebell des Hundes ganz in der Nähe und gleich darauf hörte man die Stimme Doniphan’s.

»Fest halten, Briant, halt aus!« rief er.

Evans und die Anderen sprangen nach der betreffenden Seite hin, und zwanzig Schritte weiter sahen sie Briant im Kampfe mit Cope.

Der Elende hatte den Knaben schon zu Boden geworfen und wollte ihm eben das Messer ins Herz bohren, als Doniphan, der zur rechten Zeit dazu kam, um den Stoß abzulenken, sich auf Cope warf, ohne vorher Gelegenheit gehabt zu haben, seinen Revolver zu ziehen.

Jetzt traf ihn das Messer des Schurken mitten in die Brust … er fiel zusammen, ohne nur einen Laut von sich zu geben.

Cope, welcher bemerkte, daß Evans, Garnett und Webb ihm den Rückzug abzuschneiden versuchten, ergriff nach Norden zu die Flucht. Mehrere Schüsse wurden ihm gleichzeitig nachgesendet. Er verschwand jedoch und Phann kam zurück, ohne Jenen eingeholt zu haben.

Kaum hatte er sich erhoben, da trat Briant an Doniphan heran, unterstützte den Kopf des Verwundeten und bemühte sich, diesen wieder zu beleben.

Evans und die Anderen waren ebenfalls hinzugekommen, nachdem sie ihre Gewehre eiligst wieder geladen hatten.

Der Kampf verlief anfänglich entschieden zum Nachtheile Walston’s, da Pike getödtet und Cope und Rock mindestens außer Gefecht gesetzt waren.

Leider war freilich Doniphan in die Brust, und wie es schien, tödtlich getroffen worden. Die Augen geschlossen, das Gesicht weiß wie Wachs, machte er nicht die geringste Bewegung und hörte nicht einmal, daß Briant seinen Namen rief.

Inzwischen hatte sich Evans über den Körper des Knaben gebeugt, hatte dessen Weste aufgeknöpft und das von Blut getränkte Hemd aufgerissen. Aus einer schmalen dreieckigen Wunde in der Höhe der vierten Rippe an der linken Seite sickerte noch immer Blut. Daß die Spitze des Messers das Herz nicht getroffen haben konnte, ergab sich schon daraus, daß Doniphan noch athmete. Wohl war dagegen zu befürchten, daß die Lunge verletzt sei, denn die Athmung des Verwundeten ging nur sehr schwach vor sich.

»Wir wollen ihn nach French-den schaffen, sagte Gordon; nur dort allein vermögen wir ihn zu pflegen …

– Und zu retten! rief Briant. Ach, mein armer Kamerad! … Für mich, für mich, hast Du Dein Leben auf’s Spiel gesetzt!»

Evans billigte den Vorschlag, Doniphan nach French-den zurückzubringen, um so mehr, als jetzt ein Stillstand des Gefechts eingetreten schien. Wahrscheinlich hatte es Walston angesichts der ungünstigen Wendung der Dinge vorgezogen, sich nach den Tiefen der Traps-woods zu flüchten.

Am meisten beunruhigte es Evans, daß er weder Walston selbst, noch Brandt oder Book, vielleicht die gefährlichsten Mitglieder der Bande, gesehen hatte.

Der Zustand Doniphan’s erforderte, diesen ohne Erschütterung fortzuschaffen. Baxter und Service beeilten sich also, eine Tragbahre aus Aesten und Zweigen herzustellen, auf welche der arme Verwundete gelegt wurde, ohne daß er wieder zum Bewußtsein gekommen wäre. Dann hoben vier seiner Kameraden ihn sorgsam auf, während die Anderen ihn, das Gewehr schußfertig und den Revolver in der Hand, umringten.

Der traurige Zug wandte sich dem Fuße des Auckland-hill zu, was rathsamer schien als der Weg am Seeufer hin. Längs des Steilufers brauchten sie ihre Aufmerksamkeit nur nach links und nach rückwärts zu richten. Nichts störte jedoch den stillen Zug. Zuweilen nur entrang sich Doniphan ein schmerzlicher Seufzer, so daß Gordon anhalten ließ, um die Athemzüge des Verwundeten zu beobachten, und dann ging es wieder langsam vorwärts.

Drei Viertel des Weges wurden in dieser Weise zurückgelegt; jetzt waren nur noch acht- bis neunhundert Schritte zu machen, um French-den zu erreichen, dessen hinter einem Vorsprunge des Steilufers verborgene Thüre man noch nicht sehen konnte.

Plötzlich ertönten Rufe von der Seite des Rio Sealand. Phann sprang in dieser Richtung davon.

Offenbar war French-den von Walston und seinen beiden anderen Spießgesellen angegriffen worden.

In der That war hier, wie sich später herausstellte, Folgendes vorgegangen:

Während Rock, Cope und Pike unter dem Schutze der Bäume der Traps-woods die kleine Truppe des Steuermanns beschäftigten, waren Walston, Brandt und Book, in dem ausgetrockneten Bette des Dike-cree vordringend, nach der Höhe des Auckland-hill gelangt. Nachdem sie schnell das Hochplateau desselben überschritten, kletterten sie in der Schlucht herunter, welche am Ufergelände des Rio unfern vom Eingange zum Store-room ausmündete. Einmal hier angelangt, hatten sie die jetzt nicht verbarricadirte Thüre eingestoßen und waren in French-den selbst eingedrungen.

Sollte Evans nun noch zeitig genug dazu kommen, um das drohende Unheil abzuwenden?

Des Steuermanns Entschluß war schnell gefaßt. Während Croß, Webb und Garnett bei Doniphan blieben, den man nicht allein lassen durfte, eilten Gordon, Briant, Service, Wilcox und er selbst auf kürzestem Wege nach French-den hin. Wenige Minuten später und als sie die Sport-terrace übersehen konnten, hatten sie einen Anblick, der ihnen jede Hoffnung zu rauben schien.

Eben jetzt trat Walston aus der Thüre der Halle und hielt ein Kind, das er nach dem Rio schleppte.

Dieses Kind war Jacques. Vergebens hatte Kate, die Walston nachstürzte, es diesem zu entreißen gesucht.

Gleich darauf erschien auch der zweite Begleiter Walston’s, Brandt, der den kleinen Costar gepackt hatte, und ihn in der nämlichen Richtung hinzog.

Baxter warf sich zwar auf Brandt, doch von einem wuchtigen Stoße getroffen, rollte er zur Erde.

Die übrigen Kinder, Dole, Jenkins und Iverson, waren ebensowenig wie Moko zu erblicken. Sollten sie vielleicht schon innerhalb French-dens umgekommen sein?

Walston und Brandt näherten sich inzwischen rasch dem Rio. Hatten sie eine Möglichkeit, denselben anders als schwimmend zu überschreiten? Ja, Book war da, und zwar in der Jolle, die er aus dem Store-room hierher geschafft hatte.

Einmal erst auf dem linken Ufer, waren sie gegen jeden Angriff gesichert. Ehe man ihnen hätte den Weg verlegen können, mußten sie, mit Jacques und Costar als Geiseln in ihren Händen, das Lager beim Bear-rock schon erreicht haben.

Evans, Briant, Gordon, Croß und Wilcox liefen also, was sie die Füße tragen konnten, um nach der Sport-terrace zu gelangen, ehe Walston, Book und Brandt sich jenseits des Flusses in Sicherheit gebracht hätten. Hätten sie jetzt auf die Schurken feuern wollen, so würden sie Costar und Jacques gleichzeitig gefährdet haben.

Noch war Phann jedoch da. Mit einem furchtbaren Sprunge packte er Brandt an der Kehle. Dieser mußte, um zur Abwehr des Hundes freie Hand zu behalten, Costar loslassen, während Walston sich beeilte, Jacques nach der Jolle zu zerren.

Plötzlich stürmte noch ein Mann aus der Halle.

Das war Forbes.

Wollte er sich seinen früheren Spießgesellen wieder anschließen, nachdem er die Kammerthüre gesprengt hatte? – Walston bezweifelte das nicht.

»Hierher, Forbes! … Komm! … Komm!« … rief er.

Evans war stehen geblieben; er wollte schon Feuer geben, als er Forbes sich auf Walston stürzen sah.

Verdutzt über diesen Angriff, dessen er sich nimmermehr versehen hatte, mußte er jetzt Jacques ebenfalls freigeben, und sich umwendend, stieß er mit dem Messer nach dem neuen Feinde!

Forbes sank zu Walston’s Füßen nieder.

Das ging Alles so blitzschnell von statten, daß Evans, Briant, Gordon, Service und Wilcox sich noch etwa hundert Schritte von der Sport-terrace entfernt befanden.

Walston wollte Jacques wieder ergreifen, um ihn bis in die Jolle zu schleppen, wo Book ihn mit Brandt, der sich mit Mühe von dem Hunde befreit hatte, zum Abstoßen fertig erwartete.

Er gewann nicht die Zeit dazu, denn Jacques, der auch einen Revolver bei sich hatte, schoß ihm diesen mitten auf die Brust ab. Kaum behielt der schwer verwundete Walston Kraft genug, zu seinen beiden Gefährten hinunter zu wanken, die ihn mit den Armen auffingen, ihn niedersetzten und die Jolle kräftig abstießen.

In diesem Augenblicke krachte es wie ein heftiger Donnerschlag. Ein Hagel von Bleikugeln schlug in das Wasser des Flusses.

Dieser kam von dem kleinen Geschütze, das der Schiffsjunge durch die Schießscharte des Store-room abgefeuert hatte.

Mit Ausnahme der beiden Elenden, welche unter dem Baumdickicht der Traps-woods verschwanden, war die Insel jetzt gesäubert von den Mordgesellen des »Severn«, welche durch die Strömung des Rio Sealand nach dem Meere hinab getragen wurden.

XIV.

XIV.

Befreit! – Die Helden des Schlachtfeldes. – Das Ende eines Unglücklichen. – Streifzug in den Wald. – Wiedergenesung Doniphan’s. – Am Hafen des Bear-rock. – Die Neuverplankung. – Abfahrt am 5. Februar. – Stromab den Rio-Sealand. – Begrüßung der Sloughi-Bai. – Die letzte Spitze der Insel Chairman.

———

Ein neuer Lebensabschnitt nahm nun für die jugendlichen Colonisten der Insel Chairman seinen Anfang.

Nachdem sie bisher für die Sicherung ihrer Existenz unter zuweilen sehr bedrohlichen Verhältnissen gekämpft, sollten sie jetzt nur noch für ihre Befreiung arbeiten, um durch eine letzte Anstrengung sich die Aussicht, Angehörige und Vaterland wiederzusehen, zu eröffnen.

Nach dem durch den Kampf hervorgerufenen Zustande stärkster Erregung und Ueberreizung trat jetzt bei Mehreren eine gar zu natürliche Gegenwirkung zu Tage. Sie fühlten sich wirklich erdrückt von ihrem Erfolge, an den sie kaum geglaubt hatten. Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, erschien sie ihnen sogar größer, als sie sich früher darstellte, und in der That auch gewesen war. Gewiß hatten sich ihre günstigen Aussichten nach dem ersten Zusammenstoße am Rande der Traps-woods einigermaßen gehoben, ohne das so unerwartete Dazwischentreten Forbes‘ wären ihnen Walston, Book und Brandt aber doch wohl entgangen. Moko konnte ebensowenig wagen, den Kartätschenhagel abzugeben, der Costar und Jacques jedenfalls gleichzeitig mit den Räubern derselben vernichten mußte … Was wäre dann die Folge gewesen? … Zu welch‘ drückender Vereinbarung hätten sie sich verstehen müssen, um die beiden Kinder auszulösen?

Als dann Briant und seine Kameraden die Sachlage mit mehr nüchternem Auge überschauen konnten, ergriff sie fast eine Art nachträglichen Schauders. Das hielt jedoch nicht lange an, und obwohl man noch nicht wußte, was aus Rock und Cope geworden war, erschien doch die Sicherheit auf der Insel im Großen und Ganzen wieder hergestellt.

Was die Helden des Schlachtfeldes anging, so wurden diese nach Verdienst beglückwünscht – Moko für seinen zu so gelegener Zeit durch die Schießscharte des Store-room abgefeuerten Kanonenschuß, – Jacques für die Kaltblütigkeit, von der er Zeugniß abgelegt, als er seinen Revolver Walston mitten auf die Brust losdrückte, und endlich auch Costar, der »gewiß ganz dasselbe gethan haben würde, wie er sagte, wenn er nur einen solchen sechsschüssigen »Puffer« in der Hand gehabt hätte« – er hatte aber leider keine solche Waffe.

Selbst Phann wurde hierbei nicht übergangen; man überhäufte ihn vielmehr mit Liebkosungen, ohne eine tüchtige Portion Markknochen zu rechnen, mit der Moko ihn dafür belohnte, daß er dem Schurken Brandt, der den kleinen Knaben entführen wollte, mit den Zähnen zu Leibe ging.

Es versteht sich von selbst, daß Briant gleich nach Moko’s Kanonenschusse eiligst nach der Stelle zurücklief, wo seine Kameraden Doniphan bewachten. Wenige Minuten später war die Tragbahre mit dem Verwundeten in der Halle niedergesetzt worden, ohne daß dieser wieder zum Bewußtsein kam, während Forbes, den Evans aufgehoben hatte, eine Lagerstatt im Store-room erhielt. Die Nacht über wachten Kate, Gordon, Briant, Wilcox und der Steuermann bei den beiden Verletzten.

Daß Doniphan sehr schwer verwundet war, zeigte sich nur allzu deutlich. Da er jedoch regelmäßig athmete, konnte die Lunge desselben von Cope’s Messer wenigstens nicht ganz durchbohrt sein. Zum Verbinden seiner Wunde benützte Kate gewisse Blätter, welche man im Far-West gewöhnlich in ähnlichen Fällen verwendete und die ihr hier einige Sträuche vom Ufer des Rio Sealand lieferten. Es waren das Erlenblätter, welche, zerquetscht und zu Ueberschlägen benützt, sich gegen das Auftreten erschöpfender Eiterungen sehr wirksam erweisen, und von solchen war die größte Gefahr zu befürchten. Nicht ebenso gut ging es mit Forbes, den Walston in den Leib gestochen hatte. Er wußte auch, daß er tödtlich getroffen war, und als er das Bewußtsein wieder erlangte und Kate pflegebereit über sein Lager gebeugt sah, sagte er schwach:

»Ich danke, gute Kate, ich danke! … Es ist nutzlos! … Ich bin doch verloren!« Dabei drangen ihm die Thränen aus den Augen.

Hatte die Stimme des Gewissens in ihm nun doch noch wachgerufen, was von besseren Eigenschaften im Herzen des Unglücklichen schlummerte? … Ja! Verführt durch schlimme Einflüsterungen und böse Beispiele, hatte er sich zwar am Gemetzel auf dem »Severn« betheiligt, sein ganzes Wesen empörte sich aber gegen das schreckliche Geschick, das den jungen Colonisten bereitet werden sollte, und er hatte sein Leben für sie in die Schanze geschlagen.

»Hoffe nur, Forbes! redete Kate ihm tröstend zu. Du hast Dein Vergehen gesühnt … Du wirst leben bleiben.« …

Doch nein, der Unglückliche sollte sterben. Trotz der besten Pflege, an der man es ihm nicht fehlen ließ, wurde die Verschlimmerung seines Zustandes von Stunde zu Stunde sichtbarer. Während der wenigen Augenblicke, in welchen der brennende Schmerz ihn einmal verließ, richteten sich seine ruhelosen Augen auf Kate oder Evans … Er hatte Blut vergossen und jetzt floß sein Blut, um frühere Sünden abzuwaschen.

Gegen vier Uhr Morgens hatte Forbes ausgelitten.

Er starb reuevoll, darum hatten ihm Gott und Menschen verziehen und blieb ihm ein qualvoller Todeskampf erspart, denn fast ohne jedes Zeichen von Schmerz hauchte er den letzten Seufzer aus.

Man begrub ihn am nächsten Tage ganz nahe der Stelle, wo der französische Schiffbrüchige ruhte, und jetzt bezeichnen zwei kleine Kreuze die beiden vereinsamten Gräber.

Immerhin bildete die Anwesenheit Rock’s und Cope’s auch jetzt noch eine gewisse Gefahr; die Sicherheit konnte nicht als vollständig gelten, so lange diese nicht außer Stand gesetzt waren, weiter zu schaden.

Evans beschloß also, diesem Zustand ein Ende zu machen, bevor er sich nach dem Bear-rock begab.

Gordon, Briant, Baxter, Wilcox und er brachen, begleitet von Phann, dessen Spürsinn zur Auffindung einer Fährte nicht zu verachten war, mit dem Gewehre unterm Arm und den Revolver im Gürtel noch am nämlichen Tage auf.

Die Nachforschungen waren weder schwierig noch lang, und, wie wir einschalten müssen, auch keineswegs gefährlich. Es zeigte sich nämlich bald, daß man von den Seiden Spießgesellen Walston’s nichts mehr zu fürchten hatte. Cope, dessen Weg man in Folge der Blutspuren in den Traps-woods unschwer verfolgen konnte, wurde nur wenige hundert Schritte von der Stelle, wo ihn eine Kugel ereilte, todt aufgefunden. Ebenso entdeckte man den Leichnam Pike’s, der gleich im Anfang des Gefechtes gefallen war. Was endlich Rock anging, der so überraschend verschwand, als hätte die Erde ihn verschlungen, so konnte Evans sich diese Thatsache sehr schnell erklären: der Elende war tödtlich getroffen in eine der von Wilcox ausgehobenen Fallgruben gerathen. Die drei Leichname wurden sogleich in der zum Grabe verwandelten Aushöhlung beerdigt. Dann kehrten der Steuermann und seine Begleiter mit der erfreulichen Nachricht heim, daß die Colonie jetzt gar nichts mehr zu fürchten habe.

Nun wäre in French-den die Freude vollkommen gewesen, hätte nur Doniphan nicht an der schweren Verletzung daniedergelegen. Immerhin konnte die Hoffnung wieder in Aller Herzen einziehen.

Am folgenden Tage besprachen Evans, Gordon, Briant und Baxter die Aufgaben, welche eine unmittelbare Erledigung erheischten. Vor Allem kam es jetzt darauf an, sich in Besitz der Schaluppe des »Severn« zu setzen. Das bedingte aber einen Ausflug nach dem Bear-rock und selbst einen längeren Aufenthalt daselbst, wenn dort die nöthigen Arbeiten, um das Fahrzeug wieder segeltüchtig zu machen, ausgeführt werden sollten.

Man einigte sich also dahin, daß Evans, Briant und Baxter über den See weg und durch den East-river nach dessen Mündung führen, denn damit benützten sie den kürzesten und auch den sichersten Weg. Die in einem Winkel des Rio wiedergefundene Jolle hatte von dem Kartätschenhagel, der dicht über sie wegfegte, nicht gelitten. Man belud diese also mit den Werkzeugen zum Ausbessern der Beplankung, mit Mundvorrath, Munition und Waffen, und bei günstigem Seitenwinde segelte sie am 6. December des Morgens unter der Führung Evans‘ ab.

Die Fahrt über den Family-lake ging schnell von statten, und der Wind blieb während derselben so beständig, daß die Schote des Segels weder angezogen noch nachgelassen zu werden brauchte. Gegen elfeinhalb Uhr zeigte Briant dem Steuermann die kleine Einbuchtung, durch welche die Gewässer des Sees im Bette des East-river abflossen, und die durch die Ebbe unterstützte Jolle glitt bald zwischen den beiden Ufern des Rio dahin.

Nicht weit von dessen Mündung lag die aus dem Wasser gezogene Schaluppe beim Bear-rock im Sande.

Nach Besichtigung derselben und nach Feststellung der unerläßlich nöthigen Reparaturen sagte Evans:

»Wir haben, meine jungen Freunde, allerdings Werkzeuge zur Hand, dagegen fehlt uns das Material zu Spanten und Planken. In French-den finden sich nun Planken und Krummhölzer genug, welche vom Rumpfe des »Sloughi« herrühren, und wenn wir das Fahrzeug nach dem Rio Sealand bugsiren könnten …

– Ja, das war auch mein Gedanke, fiel Briant ein. Sollte sich das nicht ausführen lassen, Master Evans?

– Daran zweifl‘ ich nicht im geringsten, erwiderte Evans. Da die Schaluppe von den Severn-shores bis zum Bear-rock gelangt ist, wird sie auch vom Bear-rock nach dem Rio Sealand zu schaffen sein. Dort wird uns die Arbeit wesentlich erleichtert, und dann fahren wir endlich von French-den aus nach der Sloughi-Bai und segeln von da aus auf’s Meer hinaus!«

Wenn diese Absicht ausführbar war, so ließ sich ein besseres Vorgehen offenbar gar nicht ersinnen. Es wurde also beschlossen, die erste Fluth des folgenden Tages zu benützen, um den East-river stromauf zu fahren und die Schaluppe dabei im Schlepptau der Jolle mitzunehmen.

Zunächst bemühte sich Evans so gut wie möglich, die Lecke des Fahrzeuges mit Wergpfropfen zu verschließen, welche er von French-den mitgebracht, und mit dieser Arbeit kam er erst spät am Abend zustande.

Die Nacht verlief dann ganz ruhig im Schutze der Grotte, welche Doniphan und seine Begleiter bei ihrem ersten Besuche der Deception-Bai zur Wohnstätte ausersehen hatten.

Sehr früh am folgenden Tage wurde die Schaluppe durch ein Seil mit der Jolle verbunden, und Evans, Briant und Baxter fuhren mit Eintritt der Fluth wieder ab. Indem sie noch obendrein die Ruder gebrauchten, gelangten sie bis zum Eintritt des höchsten Wasserstandes recht gut vorwärts, nur als die Ebbe sich mehr fühlbar machte, wurde das durch eingetretenes Wasser weiter beschwerte Fahrzeug nur mit großer Anstrengung mitgeschleppt. So kam die fünfte Nachmittagsstunde heran, ehe die Jolle das rechte Ufer des Family-lake erreichte.

Der Steuermann hielt es nicht für gut, unter den obwaltenden Verhältnissen eine Nachtfahrt zu wagen.

Uebrigens zeigte der Wind gegen Abend Neigung abzuflauen, während die Brise höchst wahrscheinlich, wie es in der schöneren Jahreszeit fast stets geschieht, mit den ersten Sonnenstrahlen wieder auffrischen mußte. Man lagerte sich also an Ort und Stelle, aß mit vortrefflichem Appetit und schlief ausgezeichnet, wobei sich der Kopf auf die Wurzeln einer großen Buche stützte und die Füße vor einem bis zum Morgenrothe brennenden Feuer ausgestreckt lagen.

»Einsteigen!« das war das erste Wort, welches der Steuermann aussprach, als der erste Tagesschein die Gewässer des Sees erhellte.

Wie erwartet, hatte sich die Nordostbrise mit anbrechendem Tage auf’s neue erhoben, und eine günstigere Richtung, um nach French-den hinüber zu kommen, war gar nicht zu wünschen.

Das Segel wurde also gehißt und die Jolle, die schwere, bis an den Bordrand im Wasser eintauchende Schaluppe nachschleppend, wendete nach Westen.

Die Fahrt über den Family-lake ging ohne die geringste Störung von statten. Aus Vorsicht hielt sich Evans jedoch bereit, das Schleppseil sofort zu kappen, wenn die Schaluppe gänzlich versunken wäre, da diese die leichte Jolle jedenfalls nachgezogen hätte. Diese Möglichkeit machte sie natürlich recht besorgt. Mit dem Versinken des größeren Fahrzeuges war die endliche Abreise auf unbestimmte Zeit vertagt und die ganze Gesellschaft vielleicht gezwungen, noch recht lange auf der Insel Chairman auszuhalten.

Endlich tauchten gegen drei Uhr Nachmittags die Höhen des Auckland-hill am westlichen Horizonte auf. Um fünf Uhr fuhren die Jolle und die Schaluppe in den Rio Sealand ein und gingen unter dem Schutze des kleinen Dammes vor Anker. Laute Hurrahs begrüßten Evans und seine Begleiter, welche so schnell nicht zurückerwartet worden waren.

Während ihrer Abwesenheit hatte sich Doniphan’s Zustand ein wenig gebessert. Der wackere Knabe vermochte jetzt schon den Händedruck seines Kameraden Briant zu erwidern. Seine Athmung ging, da die Lunge nicht angegriffen war, leichter vor sich. Obgleich er noch auf strenge Diät beschränkt blieb, so begannen seine Kräfte doch zuzunehmen, und unter den Kräuteraufschlägen, welche Kate von zwei zu zwei Stunden erneuerte, mußte seine Wunde sich voraussichtlich bald völlig schließen. Ohne Zweifel folgte jetzt noch eine langdauernde Zeit der Wiedergenesung; Doniphan hatte aber soviel gesunde Lebenskraft, daß seine gänzliche Heilung nur eine Frage der Zeit sein konnte.

Am nächsten Tage schon nahmen die Ausbesserungsarbeiten ihren Anfang. Zuerst mußte man sich freilich tüchtig in’s Geschirr legen, um die Schaluppe nur auf’s Land zu ziehen. Bei dreißig Fuß Länge und – an ihrem Hauptquerbalken – sechs Fuß Breite mußte sie für die siebzehn Passagiere ausreichen, welche die kleine Kolonie, Kate und den Steuermann eingerechnet, derzeit zählte.

Nach jenem mühseligen Anfange gingen die Arbeiten in regelmäßigem Verlaufe vor sich. Ein gleich guter Schiffszimmermann, wie guter Seemann, verstand sich Evans darauf vollkommen und lernte dabei auch die Geschicklichkeit Baxter’s schätzen. An Material fehlte es hier ebenso wenig wie an Werkzeugen. Mit den Ueberresten vom Schoonerrumpfe konnte man die zerbrochenen Krummhölzer, die geborstene Bordwand und die zerstörten Kreuzhölzer wieder herstellen; das alte, in eingedicktem Fichtensaft wieder erweichte Werg gestattete, die Fugen des Rumpfes vollständig zu dichten.

Die früher nur am Vordertheile gedeckte Schaluppe wurde jetzt auf zwei Drittel eingedeckt, was bei schlechtem Wetter besseren Schutz versprach, obgleich letzteres während der Sommerzeit kaum zu befürchten war. Die Passagiere konnten sich so nach Belieben unter oder über Deck aufhalten. Die Bramstenge des »Sloughi« vertrat hier den Großmast, und Kate gelang es unter Anleitung des Steuermannes aus der Reserve-Brigantine der Yacht ein Focksegel, ebenso wie ein Hinter- und ein Klüversegel herzustellen. Bei dieser Ausrüstung war das Gleichgewicht des Fahrzeuges besser gesichert und konnte dasselbe den Wind in jeder Haltung und Wendung ausnützen. Diese, dreißig volle Tage in Anspruch nehmenden Arbeiten wurden erst am 8. Januar beendigt, und nun waren blos noch gewisse Einzelheiten der Ausrüstung zu bestimmen.

Der Steuermann wollte nichts außer Acht lassen, die Schaluppe in möglichst guten Zustand zu setzen. Sie sollte ebenso zur Fahrt durch die Wasserstraße des magellanischen Archipels geeignet sein, wie im Nothfalle einige hundert Meilen unter Segel bleiben können, wenn es unumgänglich wurde, bis zur Niederlassung von Punta Arena an der Ostküste der Halbinsel Braunschweig zu fahren.

Hier muß noch eingeschaltet werden, daß im Verlaufe der letzten Zeit die Christmas mit einem gewissen Aufwand gefeiert wurde, und auch der 1. Januar des Jahres 1862, welches die jungen Colonisten allerdings nicht mehr auf ihrer Insel zu vollenden hofften.

Damals war die Genesung Doniphan’s schon so weit vorgeschritten, daß er die Halle verlassen konnte, wenn er sich auch noch recht schwach fühlte. Die gute Luft und gehaltreichere Nahrung gaben ihm seine Kräfte sichtlich wieder. Uebrigens beabsichtigten seine Kameraden gar nicht abzufahren, ehe er nicht im Stande wäre, ohne Gefahr eines Rückfalles eine Reise von einigen Wochen auszuhalten.

Inzwischen nahm das Leben in French-den seinen gewohnten Fortgang.

Freilich wurden die Unterrichtsstunden und die Redeübungen nicht mehr so streng eingehalten. Jenkins, Iverson, Dole und Costar blieben doch der Meinung, daß sie ja Ferien hätten.

Wie man sich wohl denken kann, hatten Wilcox, Croß und Webb die Jagden, sowohl am Rande der South-moors wie in den Dickichten der Traps-woods, wieder aufgenommen. Jetzt verachtete man die Fallen und Schlingen, trotz der Einrede Gordon’s, der immer seine Munition geschont sehen wollte. Da knallte es hier und krachte es dort, daß die Speisekammer Moko’s bald von frischem Wildpret übervoll wurde, was wenigstens die Aufsparung der Conserven für die Reise ermöglichte.

Ach, hätte Doniphan sein Amt als Jägermeister der Colonie versehen können, mit welchem Feuereifer würde er jetzt alles Haar- und Federwild verfolgt haben, wo es auf einen Schuß mehr oder weniger nicht ankam. Er empfand es auch als ein recht schweres Herzeleid, sich seinen Kameraden nicht anschließen zu können; doch er mußte sich schon in Geduld fassen und durfte keine Unklugheit begehen.

Während der letzten zehn Tage des Januars schritt Evans nun zur Beladung des Fahrzeugs. Wohl hatten Briant und die Andern den Wunsch, Alles, was sie aus ihrem »Sloughi« gerettet, mitzunehmen. Aus Mangel an Platz war das jedoch nicht möglich, und es mußte also eine Auswahl davon getroffen werden.

In erster Linie brachte Gordon sicher das Geld unter, das er an Bord der Yacht einst vorfand und das die jungen Colonisten für die bevorstehende Heimfahrt wohl noch brauchen mußten; Moko sorgte in hinreichender Menge für den Mundvorrath der siebzehn Passagiere, und zwar nicht allein für eine, auf einige Wochen berechnete Reise, sondern auch für den Fall, daß die Umstände sie nöthigten, auf einer Insel des Archipels ans Land zu gehen, ehe sie Punta Arena, Port-Galant oder Port-Tamar erreichten.

Was von Schießbedarf noch übrig war, fand, ebenso wie die Gewehre und Revolver von French-den, in den Kästen der Schaluppe Unterkunft. Doniphan bestand selbst darauf, daß man die beiden kleinen Geschütze von der Yacht nicht zurückließ. Belasteten sie das Fahrzeug zu bedeutend, so konnte man sich ihrer unterwegs ja jeder Zeit entledigen.

Briant nahm ebenso den ganzen Vorrath an Kleidungsstücken zum Wechseln mit, den größten Theil der Bücher der Bibliothek, ferner die nöthigsten Geräthe zum Kochen an Bord – unter Anderem einen der Oefen aus dem Store-room – und endlich die zur Schifffahrt unentbehrlichen Instrumente, wie Seechronometer, Fernrohre, Compasse, Log, Signallaternen, das Halkett-boat nicht zu vergessen. Wilcox wählte unter den Leinen und Schnuren aus, was unterwegs zum Fischfang Verwendung finden konnte.

Das Süßwasser, welches zum Mitnehmen aus dem Rio Sealand geschöpft worden war, ließ Gordon in zehn kleine Fässer füllen, welche unten im Boote auf dem Kielschweine regelmäßige Aufstellung fanden. Man vergaß auch nicht, was von Brandy, Gin und den aus den Trulcafrüchten und dem Algarrobebeeren bereiteten Liqueuren übrig war.

Am 3. Februar war die gesammte Ladung an ihrem Platze. Jetzt handelte es sich nur noch um Bestimmung des Abfahrtstages, sobald Doniphan in der Lage war, die Reise aushalten zu können.

Der wackere Knabe veranlaßte keinen nennenswerthen Aufschub. Seine Wunde war gänzlich vernarbt und der Appetit zurückgekehrt, so daß er sich nur hüten mußte, zu viel zu essen. Auf Briant’s oder Kate’s Arm gestützt, unternahm er jetzt tägliche mehrstündige Spaziergänge auf der Sport-terrace.

»Reisen wir ab! … Ohne Verzug! sagte er. Es drängt mich, erst unterwegs zu sein … Die Seeluft wird mich vollends wieder herstellen.«

Die Abfahrt wurde nun auf den 5. Februar bestimmt.

Am Vorabend hatte Gordon die Hausthiere wieder in Freiheit gesetzt. Guanakos, Vigogne-Schafe, Trappen und das ganze Federvieh – Alles flüchtete, undankbar für die genossene Pflege, die einen, was sie laufen, die andern, was sie fliegen konnten, in die Weite, so unwiderstehlich trieb sie ihr Verlangen nach Freiheit.

»Die Undankbaren! rief Gordon. Das ist der Lohn für alle Mühe, die wir an sie verschwendet!

– Ja, so ist einmal die Welt!« antwortete Service mit so komischem Ernste, daß sein philosophischer Ausspruch mit allgemeinem Gelächter aufgenommen wurde.

Am nächsten Morgen schifften sich die jungen Passagiere auf der Schaluppe ein, welche die Jolle, die Evans als Barkasse dienen sollte, in’s Schlepptau nahm.

Bevor sie aber die Taue vom Ufer lösten, wollten Briant und seine Kameraden noch einmal zu den Gräbern François Baudoin’s und Forbes‘ treten. In andächtiger Stimmung begaben sie sich dahin und mit einem letzten Gebete weihten sie den Unglücklichen eine letzte Erinnerung.

Doniphan hatte am Hinterende des Bootes neben Evans, der das Steuer führen sollte, Platz genommen. Im Vordertheile hielten Briant und Moko die Schoten der Segel, obwohl man zur Fahrt längs des Rio Sealand mehr auf die Strömung zu rechnen hatte, als auf den Wind, dessen Richtung durch die Kette des Auckland-hill vielfach geändert wurde.

Die Uebrigen hatten sich, ebenso wie Phann, nach Gutdünken auf dem Deck des Vordertheiles untergebracht.

Die Taue wurden losgeworfen und die Ruder peitschten das Wasser.

Drei Hurrahs erschallten der gastlichen Wohnstätte, welche den jugendlichen Colonisten seit der langen Reihe von Monaten ein so sicheres Obdach gewährt hatte, und nicht ohne gewisse Rührung sahen sie – bis auf Gordon, der ganz untröstlich schien, seine Insel zu verlassen – Auckland-hill hinter den Bäumen des Ufergeländes verschwinden.

Den Rio Sealand hinab kam die Schaluppe kaum schneller als dessen Strömung vorwärts, und diese war eben keine bedeutende. Auf der Höhe der Schlammlache in den Bog-woods mußte Evans dann gegen Mittag Anker werfen.

Dieser Theil des Wasserlaufes gerade hatte so geringe Tiefe, daß die schwer belastete Schaluppe auf Grund zu gerathen drohte. Es erschien also richtiger, eine Fluthperiode abzuwarten und erst mit wieder beginnender Ebbe weiter zu fahren.

Dieser Halt dauerte gegen sechs Stunden. Die Passagiere benützten denselben zu einer reichlichen Mahlzeit, und Wilcox und Croß stiegen dann aus, um am Rande der South-moors einige Becassinen zu schießen.

Vom Achter der Schaluppe aus gelang es Doniphan sogar, ein paar feiste Tinamus zu erlegen, welche über dem rechten Ufer hinflatterten. Damit war er natürlich ganz geheilt.

Erst ziemlich spät Abends traf die Schaluppe an der Ausmündung des Rio ein. Da es die Dunkelheit nicht zuließ, sich durch die engen Rinnen des Klippengürtels zu winden, wollte Evans als vorsichtiger Seemann den andern Tag abwarten, um in See zu stechen.

Eine friedliche Nacht. Gegen Abend hatte sich der Wind gelegt, und als das Seegeflügel, die Felstauben, Möven und Taucherenten, ihre Löcher in der Felswand aufgesucht, herrschte in der Sloughi-Bai das tiefste Schweigen.

Am andern Morgen mußte bei dem herrschenden Landwinde der Seegang bis zur äußersten Spitze der South-moors ein ganz leichter sein, und es galt diesen zu benützen, um gegen zwanzig Meilen zurück zu legen, auf welcher Strecke bei Seewind das Meer recht schwer gewesen wäre.

Mit Tagesanbruch ließ Evans also die drei Segel der Schaluppe hissen, und von der sichern Hand des Steuermannes geleitet, glitt diese aus dem Rio Sealand heraus.

In diesem Augenblicke richteten sich alle Blicke nach dem Kamme des Auckland-hill und dann auf die letzten Felsmassen der Sloughi-Bai, welche mit der Umschiffung des American-Cape ebenfalls verschwanden.

Da wurde ein Kanonenschuß abgegeben, dem ein dreifaches Hurrah folgte, während die Flagge des Vereinigten Königreiches zum Top des Mastes emporstieg.

Acht Stunden später drang die Schaluppe in den Canal zur Seite der Insel Cambridge ein, umsegelte das South-Cape und folgte den Umrissen der Insel Adelaide.

Die letzte Spitze der Insel Chairman versank damit am nördlichen Horizonte.

XV.

XV.

In den Kanälen. – Die Meerenge. – Der Dampfer »Graston«. – Rückkehr nach Auckland. – Empfang in der Hauptstadt Neuseelands. – Evans und Kate. – Schluß.

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Die Fahrt durch die Canäle des magellanischen Archipels brauchen wir kaum eingehender zu schildern; sie verlief ohne jeden bemerkenswerthen Zwischenfall. Die Witterung blieb beständig schön. In jenen, nur sechs bis sieben Meilen breiten Wasserstraßen hätte das Meer auch kaum Zeit gehabt, durch einen kurzen Sturm besonders aufgewühlt zu werden.

Alle diese Canäle waren verlassen, und es war fast ein Vortheil zu nennen, mit den Eingeborenen dieser Gegenden, welche nicht sehr gastfreundlicher Natur sind, nicht zusammenzutreffen. Ein- oder zweimal während der Nacht wurden zwar Feuer im Innern der Inseln wahrgenommen, doch zeigte sich kein Bewohner derselben an deren Strande.

Am 11. Februar gelangte die Schaluppe, welche bis hierher stets vom Winde begünstigt worden war, durch den Smyth-Sund, zwischen der Westküste der Insel der Königin Adelaide und den Höhen des König-Wilhelm-Landes in die Magellan-Straße. Zur Rechten erhob sich die St. Anna-Spitze. Zur Linken, im Hintergrunde der Beaufort-Bucht, bauten sich einige jener prächtigen Gletscherriesen auf, von denen Briant einen der höchsten vom Osten der Insel Hannover – der die jungen Colonisten übrigens immer den Namen der Insel Chairman gaben – vor langer Zeit undeutlich gesehen hatte.

An Bord ging Alles gut; man hätte glauben können, daß die mit »Meeresduft« geschwängerte Luft Doniphan ganz besonders zusagte, denn er aß und trank nicht allein, sondern fühlte sich auch schon gekräftigt genug, an’s Land zu gehen, wenn es der Zufall fügte, das frühere Robinsonleben noch einmal zu beginnen.

Im Laufe des 12. gelangte die Schaluppe in Sicht der Insel Tamar bei König Wihelms-Land, deren Hafen oder vielmehr Bucht in diesem Augenblicke ganz verlassen war. Ohne hier beizulegen, schlug Evans also, nach Umschiffung des Cap Tamar, eine südwestliche Richtung durch die Magellan-Straße ein.

Auf der einen Seite dehnte hier das lange Desolations-Land seine flachen, unfruchtbaren Küsten aus, denen die üppiggrüne Pflanzenwelt der Insel Chairman vollständig abging. An der andern zeigten sich die so auffallend vertheilten Einschnitte oder Einzahnungen der Halbinsel Crooker. An dieser hin suchte Evans nun mehr südlich vorzudringen, um das Cap Forward zu umsegeln und die Ostküste der Halbinsel Braunschweig bis zur Niederlassung von Punta Arena hinauf zu steuern.

Es wurde nicht nothwendig, so weit zu gehen.

Am Morgen des 13. rief Service, der im Vordertheile stand:

»Eine Rauchwolke an Steuerbord!

– Der Rauch von einem Fischerfeuer? fragte Gordon.

– Nein … das ist die Rauchsäule eines Dampfschiffes!« erklärte Evans.

In der That lag von hier aus jedes Land zu entfernt, als daß der Rauch eines Lagers von Fischern hätte sichtbar sein können.

Briant erkletterte sogleich das Tauwerk des Mastes, erreichte die Spitze desselben und rief auch seinerseits:

»Ein Schiff! … Ein Schiff!« …

Das Fahrzeug kam bald in Sicht. Es war ein Dampfer von sieben- bis achthundert Tonnen, der mit einer Geschwindigkeit von elf bis zwölf Meilen dahinglitt.

Von der Schaluppe ertönten Hurrahs und krachten die Gewehre.

Die Schaluppe war bemerkt worden, und zehn Minuten später legte sie schon neben dem, auf der Fahrt nach Australien begriffenen Dampfer »Grafton« an.

Mit kurzen Worten war dessen Capitän Tom Long über die Abenteuer des »Sloughi« verständigt worden. Von dem verschollenen Schooner hatte übrigens, in England und Amerika, Jeder mit Theilnahme gehört, und Tom Long beeilte sich also, die Passagiere der Schaluppe an Bord aufzunehmen. Er bot diesen sogar an, sie geraden Weges nach Auckland überzuführen, was für ihn keinen großen Umweg bildete, da der »Grafton« nach Melbourne, der Hauptstadt der Provinz Adelaide, fast ganz im Süden von Australien, bestimmt war.

Die Ueberfahrt ging rasch von statten, und am 25. Februar schon ankerte der »Grafton« auf der Rhede von Auckland.

Bis auf wenige Tage waren jetzt zwei Jahre verflossen, seit die fünfzehn Zöglinge der Pension Chairman achtzehnhundert Meilen weit von Neuseeland verschlagen wurden.

Wir müssen darauf verzichten, die Freude der Familien zu schildern, welchen ihre Kinder unerwartet wiedergegeben waren – diese Kinder, welche man in die Tiefen des Stillen Weltmeers versunken glaubte. – Nicht Eines fehlte von Allen, die einst der Sturm nach der Gegend des untersten Südamerika entführt hatte.

Fast augenblicklich verbreitete sich in der Stadt die Botschaft, daß der »Grafton« die jungen Schiffbrüchigen wieder heimgebracht habe. Die ganze Bevölkerung strömte zusammen und jubelte laut auf, als diese in die Arme ihrer Eltern sanken.

Und wie begierig zeigten sich Alle, genau kennen zu lernen, was sich auf der Insel Chairman zugetragen hatte. Die berechtigte Neugier sollte bald Befriedigung finden. Erstens hielt Doniphan einige Vorträge darüber – Vorträge, welche rauschenden Beifall fanden, worüber der Knabe natürlich nicht wenig stolz war. Dann wurde auch das von Baxter, man kann sagen, Stunde für Stunde vervollständigte Tagebuch von French-den durch den Druck veröffentlicht und es bedurfte vieler, sehr vieler Tausende von Exemplaren, nur um die Leser auf Neuseeland zu befriedigen. Endlich druckten dasselbe die Zeitungen beider Welten in allen Sprachen ab, denn es gab so gut wie Niemand, der sich nicht für den Unfall des »Sloughi« interessirt hätte. Die Klugheit Gordon’s, die Opferwilligkeit Briant’s, die Unerschrockenheit Doniphan’s, wie die stille Ergebung Aller, der Kleinen wie der Großen, fand überall bewundernde Anerkennung.

Es ist unnütz, bei dem Empfange, der Kate und dem Master Evans zutheil wurde, länger zu verweilen. Hatten sie sich für die Rettung dieser Kinder nicht wirklich geopfert? Mittels einer öffentlichen Subscription wurde deshalb ein Handelsschiff, der »Chairman« angekauft und Evans zum Geschenk gemacht, der damit gleichzeitig dessen Eigenthümer und Capitän wurde, nur mit der Bedingung, daß Auckland der Heimatshafen desselben zu bleiben habe. Und wenn ihn seine späteren Reisen nach Neuseeland zurückführten, fand er stets in den Familien »seiner Jungen« die herzlichste Aufnahme.

Was die vortreffliche Kate anging, so wurde diese von den Familien Briant, Garnett, Wilcox und manchen anderen beansprucht, ja fast erkämpft. Schließlich entschied sie sich für das Haus der Eltern Doniphan’s, dem sie durch liebende Pflege ja einst das Leben gerettet hatte.

Was soll aber als Moral dieser Erzählung, welche wohl mit Recht den Titel »Zwei Jahre Ferien« führt, in der Erinnerung junger Leser haften bleiben?

»Niemals vielleicht werden Zöglinge eines Pensionats während ihrer Ferien so schweren Prüfungen ausgesetzt sein. Doch – das mögen sich Alle merken – bei regem Ordnungssinn, Eifer und Muth gibt es keine noch so gefährliche Lebenslage, aus der man sich nicht zu befreien vermöchte. Vorzüglich sollen sie sich erinnern, wenn sie an die jungen Schiffbrüchigen vom »Sloughi« denken, die unter den schwersten Prüfungen und der härtesten Lehrzeit für dieses Leben heranreiften, daß die Kleinen derselben fast als Große und die Großen fast als Männer in die langentbehrte Heimat zurückkehrten.«