Drittes Capitel.

Drittes Capitel.

Welchen Eindruck Barbicane’s Mittheilung machte.

Der Eindruck, welchen diese letzten Worte des ehrenwerthen Präsidenten machten, läßt sich nicht beschreiben. Das war ein Schreien! ein Grunzen! ein Rufen mit Hurrah! Hip! Hip! Hip! und allen den Naturlauten, woran die amerikanische Sprache so reich ist; es war ein Getümmel, ein Lärmen ohne Gleichen! Die Kehlen schrieen, die Hände klatschten, die Füße stampften den Boden. Kein Wunder das: es giebt Kanoniere, die im Lärmen mit ihren Kanonen wetteifern.

Barbicane bewahrte mitten in diesem Enthusiasmus seine Kaltblütigkeit; seine Handbewegungen forderten vergebens zur Stille auf, die donnernden Töne seiner Glocke wurden nicht gehört. Man riß ihn von seinem Präsidentenstuhl und trug ihn im Triumph umher.

Ein Amerikaner läßt sich nicht in Bestürzung versetzen. Für den Begriff »unmöglich« findet sich in seinem Wörterbuch kein Ausdruck. In Amerika ist Alles leicht, einfach, die mechanischen Schwierigkeiten sind wie todtgeboren. Ein wahrer Yankee war nicht im Stande, nur einen Schein von Schwierigkeit zwischen Barbicane’s Vorschlag und seiner Ausführung zu erkennen. Gesagt, gethan.

Der Triumphzug des Präsidenten dauerte den ganzen Abend! es war ein echter Fackelzug. Irländer, Franzosen, Schotten, alle die gemischten Nationalitäten, woraus die Bevölkerung Marylands besteht, schrieen in ihrer Muttersprache, und es mischten sich die Vivat! Hurrah! und Bravo! in einem Schwung, der über alle Beschreibung geht.

Luna, als begriffe sie, daß es sich um sie handle, strahlte in heiterer Pracht, die irdischen Feuer verdunkelnd. Alle Yankees richteten die Blicke nach ihrer glänzenden Scheibe; die Einen grüßten sie mit der Hand, die Anderen mit zärtlichen Worten; diese maßen sie mit den Augen, Andere drohten mit der Faust: ein Optiker hatte bis Mitternacht nur Augengläser zu verkaufen. Frau Luna wurde wie eine Dame der hochvornehmen Welt lorgnettirt, und das mit einer Rücksichtslosigkeit, wie sie amerikanischen Gutsbesitzern eigen ist. Gerade als gehöre die blonde Phöbe bereits ihren kühnen Eroberern an als Gebietstheil der Union. Und doch handelte sich’s erst darum, ein Geschoß zu ihr zu schleudern: eine ziemlich brutale Art Verbindungen anzuknüpfen, selbst gegenüber einem Trabanten; doch ist sie unter den civilisirten Nationen sehr in Gebrauch.

Es war Mitternacht, und der Enthusiasmus war auf seinem Höhepunkt, verbreitete sich gleichmäßig unter allen Klassen der Bevölkerung: die Stadtbehörden, Gelehrten, Großhändler und Kaufleute, Lastträger, verständige Leute und Gelbschnäbel, fühlten sich bis in die zartesten Fasern des Daseins aufgeregt; es handelte sich um eine Nationalunternehmung; so waren denn auch die Ober- und Unterstadt, die Quais an den Ufern des Patapsco, die Fahrzeuge in ihren Bassins dicht voll gedrängt von einer Menge im Rausch der Freude, des Gin und Whisky; jeder plauderte, schwatzte, disputirte, discutirte, billigte, klatschte, von dem Gentleman, der auf dem Kanapee der Schenkstube vor seinem Schoppen Sherry-Cobbler flegelhaft hingestreckt lag, bis zu dem Bootsmann, der in den dunkeln Kneipen von Fells-Point sich mit »Knock me down« betrank.

Gegen zwei Uhr legte sich die Aufregung. Nun gelang es dem Präsidenten heim zu kommen, wie ein geräderter Mann. Es gehörte eine Herkulesnatur dazu, solch einen Enthusiasmus zu bestehen. Die Menge auf den Straßen verlief sich allmälig. Die vier Eisenbahnen, welche in Baltimore zusammentreffen, nach dem Ohio, Susquehanna, Philadelphia und Washington, führten das auswärtige Publicum nach den vier Weltgegenden zurück, und die Stadt kam wieder in einen verhältnißmäßig ruhigeren Zustand.

Uebrigens wäre es ein Irrthum, wenn man glaubte, nur zu Baltimore habe diesen Abend solche Aufregung geherrscht. Die großen Städte der Union, New-York, Boston, Albany, Washington, Richmond, Crescent-City, Charleston, Mobile, von Texas bis Massachussets, von Michigan bis Florida, nahmen alle Theil an der Schwärmerei der Begeisterung. Die dreißigtausend correspondirenden Mitglieder des Gun-Clubs kannten ja den Brief ihres Präsidenten, und warteten mit gleicher Ungeduld auf die merkwürdige Mittheilung des 5. October. Sowie daher die Worte des Redners seinen Lippen entströmten, wurden sie noch denselben Abend von den Telegraphendrähten durch alle Staaten der Union befördert, mit einer Schnelligkeit von zweihundertachtundvierzigtausendvierhundertsiebenundvierzig (engl.) Meilen in der Secunde. Man kann also ganz bestimmt sagen, daß die Vereinigten Staaten Amerikas, welche zehnmal so groß als Frankreich sind, in demselben Augenblick in einem einzigen Hurrah zusammen stimmten, und daß fünfundzwanzig Millionen Herzen, von Stolz geschwellt, denselben Pulsschlag fühlten.

Am folgenden Morgen nahmen fünfzehnhundert Journale, Tags- und Wochenblätter, monatliche und zweimonatliche Zeitschriften, die Frage in Betrachtung; sie prüften dieselbe unter den verschiedenen Gesichtspunkten, dem physischen, meteorologischen, ökonomischen oder moralischen, auf dem Standpunkt des Uebergewichts in Politik oder Civilisation. Man fragte, ob denn der Mond ein fertiger Weltkörper sei, oder noch Umbildungen unterworfen. Glich er der Erde zu der Epoche, da dieselbe noch keine Atmosphäre hatte? Welchen Anblick würde seine unsichtbare Seite unserer Erdkugel darbieten? Obwohl es sich nur erst darum handelte, eine Kugel dahin zu schleudern, so sahen doch Alle, daß eine Reihe von Untersuchungen von diesem Punkte ausgehen würden; Alle gaben sich der Hoffnung hin, Amerika werde in die tiefverhüllten Geheimnisse der mysteriösen Scheibe dringen, und Manche schienen sogar zu befürchten, seine Eroberung werde auffallend das europäische Gleichgewicht stören.

Nachdem das Project besprochen war, setzte kein einziges Blatt seine Ausführbarkeit in Zweifel; die von den gelehrten, wissenschaftlichen oder religiösen Gesellschaften herausgegebenen periodischen Blätter, Brochüren, Bulletins, Magazine strichen seine Vortheile heraus, und die »Gesellschaft für Naturgeschichte« zu Boston, die »Amerikanische Gesellschaft der Wissenschaften und Künste« zu Albany, die »Geographische und Statistische Gesellschaft« zu New-York, die »Amerikanische Philosophische Gesellschaft« zu Philadelphia, das »Smithson’sche Institut« zu Washington, sendeten in tausend Zuschriften dem Gun-Club Glückwünsche, mit unverzüglichen Anerbietungen von Geld und Dienstleistung.

Darum, kann man kecklich versichern, gab’s auch nie einen Vorschlag, dem so viele Anhänger zufielen; von Zweifeln, Bedenken, Besorgnissen war keine Rede. In Europa, zumal in Frankreich, hätte wohl die Idee, ein Geschoß bis zum Mond zu schleudern, Scherzreden, Caricaturen, Spottlieder hervorgerufen: so etwas hätte sich Jemand nicht einfallen lassen dürfen; kein »Lebenssicherer« auf der Welt hätte gegen die allgemeine Entrüstung geschützt. In der neuen Welt giebt’s Dinge, die über’s Lachen hinaus sind.

Impey Barbicane wurde daher von dem Tag an den größten Bürgern der Vereinigten Staaten angereiht, er galt etwa für einen Washington der Wissenschaft. Ein einziger Zug kann unter anderen zeigen, bis zu welchem Grad die Hingebung eines Volkes an einen Mann plötzlich gestiegen war.

Einige Tage nach der famosen Sitzung des Gun-Clubs kündigte der Director einer englischen Theatertruppe zu Baltimore das Shakespeare’sche »Viel Lärmen um Nichts« an. Da das Stadtvolk darin eine verletzende Anspielung auf die Projecte Barbicane’s sah, drang es in den Theatersaal, zertrümmerte die Bänke und nöthigte den unglücklichen Director, seinen Zettel abzuändern. Als gescheiter Mann beugte er sich dem Volkswillen, setzte an die Stelle des leidigen Stücks desselben Dichters »Wie es Euch beliebt,« und bekam einige Wochen beispiellos enorme Einnahmen.

Viertes Capitel.

Viertes Capitel.

Gutachten des Observatoriums zu Cambridge.

Inzwischen verlor Barbicane inmitten der Huldigungen, die ihm zu Theil wurden, keinen Augenblick. Vor allem ließ er die Bureaux des Gun-Clubs zu einer Berathung sich versammeln. Man beschloß, über die astronomische Seite des Unternehmens die Astronomen zu befragen; sodann auf Grund eines Gutachtens derselben sich über die technischen Mittel zu bereden, um nichts zu versäumen was den Erfolg des großen Versuchs sichern könne.

Es wurde daher ein klar und genau abgefaßtes Schreiben mit speciellen Fragen redigirt, und an das Observatorium zu Cambridge in Massachussets gerichtet. Dieser Sitz der ersten Universität in den Vereinigten Staaten ist durch sein astronomisches Bureau sehr berühmt. Da finden sich die verdienstvollsten Gelehrten und das weitreichende Teleskop, mit dessen Hilfe Bond das Nebelgestirn Andromeda durchdrang und Clarke den Trabanten des Sirius entdeckte. Das Vertrauen des Gun-Clubs zu diesem Institut war also in jeder Hinsicht gerechtfertigt.

Zwei Tage nachher traf die so ungeduldig erwartete Antwort beim Präsidenten Barbicane ein. Folgendes ihr Wortlaut:

Der Director des Observatoriums zu Cambridge an den Präsidenten des Gun-Clubs zu Baltimore.

Cambridge, 7. Oktober.

»Bei Empfang Ihres geehrten, unterm 6. d. im Namen der Mitglieder des Gun-Clubs zu Baltimore an das Observatorium zu Cambridge gerichteten Schreibens hat sich unser Bureau unverzüglich versammelt und für angemessen erachtet, folgendermaßen zu antworten:

Die ihm vorgelegten Fragen sind:

»1. Ist’s möglich, ein Wurfgeschoß auf den Mond zu schleudern?

»2. Welches ist genau berechnet die Entfernung der Erde von ihrem Trabanten?

»3. Binnen welcher Zeit hätte das Geschoß bei einer hinreichenden Anfangsgeschwindigkeit diese Distanz zu durchfliegen; folglich in welchem Zeitpunkt wird man es abschleudern müssen, damit es in einem bestimmten Moment auf dem Mond eintreffe?

»4. In welchem Zeitpunkt wird der Mond genau in der Stellung sich befinden, welche am günstigsten ist, daß er von demselben getroffen werde?

»5. Nach welchem Punkt am Himmel wird das Geschütz zu richten sein, womit das Projectil abgeschossen werden soll?

»6. An welcher Stelle wird sich der Mond am Himmel befinden, wann das Geschoß abfliegen wird?

»Die Antwort auf die erste Frage ist:

»Ja, es ist möglich, ein Projectil auf den Mond zu schleudern, wenn es gelingt, demselben eine Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde zu geben. Richtiger Berechnung nach reicht diese Geschwindigkeit hin. Je weiter man sich von der Erde entfernt, nimmt die Schwerkraft ab im umgekehrten Verhältniß des Quadrats der Entfernung, also z.B. für eine dreimal größere Entfernung bedarf’s einer neunmal geringeren Bewegkraft. Folglich wird die Schwere des Geschosses reißend abnehmen und endlich völlig aufhören im Moment, wo die Anziehungskraft der Erde von der des Mondes aufgewogen wird, d. h. bei siebenundvierzig Zweiundfünfzigtheilen der Entfernungslinie. In diesem Moment wird das Projectil keine Schwerkraft mehr haben, und sowie es noch weiter fliegt, wirkt die Anziehungskraft des Mondes auf dasselbe ein, und es fällt auf den Mond. Theoretisch ist hiermit die Möglichkeit des Experiments bewiesen; ob es gelingt, hängt allein von der Kraft der angewendeten Maschine ab.

»Auf die zweite Frage lautet die Antwort:

»Der Mond beschreibt bei seinem Umlauf um die Erde nicht einen Kreis, sondern eine Ellipse, worin unsere Erdkugel einen der Brennpunkte einnimmt; demnach befindet sich der Mond in einer bald näheren, bald weiteren Entfernung von der Erde, astronomisch ausgedrückt, bald in der Erdnähe, bald in der Erdferne. Nun ist der Unterschied zwischen seinem weitesten und nächsten Abstand ziemlich bedeutend, so daß man im besonderen Fall denselben nicht unberücksichtigt lassen darf. Die größte Entfernung des Mondes beträgt nämlich zweihundertsiebenundvierzigtausendfünfhundertzweiundfünfzig Meilen (= neunundneunzigtausendsechshundertvierzig Lieues zu vier Kilometer), die geringste nur zweihundertachtzehntausendsechshundertsiebenundfünfzig (= achtundachtzigtausend und zehn Lieues), so daß der Unterschied achtundzwanzigtausendachthundertundfünfundneunzig (= elftausendsechshundertunddreißig Lieues) beträgt, also mehr als den neunten Theil der Umlaufslinie. Der Abstand der Erdnähe muß nun den Berechnungen zu Grunde gelegt werden.

»Auf die dritte Frage:

»Wenn das Geschoß die Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde, welche man ihm beim Abschießen gäbe, unverändert beibehielte, so bedürfte es nur etwa neun Stunden, um an dem Ort seiner Bestimmung anzulangen; da aber diese Geschwindigkeit in zunehmendem Verhältniß sich beständig vermindert, so wird es aller Berechnung nach dreihunderttausend Secunden brauchen, d. h. dreiundachtzig Stunden und zwanzig Minuten, um an den Punkt zu gelangen, wo die Anziehungskraft der Erde und des Mondes sich aufwiegen, und von diesem Punkt an bedarf es noch fünfzigtausend Secunden, oder dreizehn Stunden, dreiundfünfzig Minuten und zwanzig Secunden, um auf den Mond zu fallen. Man muß es also siebenundneunzig Stunden, dreizehn Minuten und zwanzig Secunden eher abschießen, als der Mond an dem Punkt, wohin man zielt, ankommen wird.

»Auf die vierte Frage:

»Nach dem Gesagten muß man zuerst die Zeit der Erdnähe des Mondes wählen, und zugleich den Moment, wo er sich im Zenith befinden wird, wodurch die Linie, welche das Geschoß zurückzulegen hat, um das Maaß eines Erdradius kürzer wird, nämlich um dreitausendneunhundertundneunzehn Meilen; so daß die zu durchlaufende Linie definitiv zweihundertvierzehntausendneunhundertsechsundsiebenzig Meilen (= sechsundachtzigtausendvierhundertundzehn Lieues) betragen wird. Aber wenn auch der Mond allmonatlich in seine Erdnähe kommt, so steht er in dem Moment nicht immer im Zenith: ein Zusammentreffen, welches nur in langen Zwischenräumen stattfindet. Solch ein Zusammentreffen der Erdnähe mit dem Zenithstand ist also abzuwarten. Glücklicherweise wird am vierten December folgenden Jahres sich bei dem Mond diese doppelte Bedingung ergeben: um Mitternacht wird er in seine Erdnähe treten, d. h. seinen kürzesten Abstand von der Erde, und zu gleicher Zeit wird er im Zenith stehen.

»Auf die fünfte Frage:

»Die vorausgehenden Bemerkungen zu Grunde gelegt, wird das Geschütz auf den Zenith des Ortes gerichtet werden müssen; dergestalt wird der Schuß perpendiculär auf die Fläche des Horizonts gehen, und das Geschoß wird um so schneller der Anziehungskraft der Erde entzogen. Aber damit der Mond in den Zenith eines Ortes zu stehen komme, darf dieser Ort nicht unter höherem Breitegrad liegen, als die Abweichung dieses Gestirns vom Aequator beträgt, mit anderen Worten, er muß zwischen 0° und 28° nördlicher oder südlicher Breite sich befinden. An jedem anderen Ort würde der Schuß nothwendig in schiefer Richtung geschehen, was dem Gelingen des Experiments hinderlich sein würde.

»Auf die sechste Frage:

»Im Augenblick, wo das Projectil in den Weltraum geschleudert wird, muß der Mond, der in seiner Bahn täglich dreizehn Grad, zehn Minuten und fünfunddreißig Secunden läuft, sich viermal so weit vom Zenithpunkt entfernt befinden, nämlich zweiundfünfzig Grad, zweiundvierzig Minuten und zwanzig Secunden, denn so lange wird er noch zu laufen haben. Aber da man auch die Abweichung in Anschlag bringen muß, welche die Bewegung der Erde um ihre Achse bei dem Geschoß hervorbringen wird, und da dasselbe erst nach einer Abweichung von sechzehn Halbdurchmesser der Erde auf dem Mond ankommen wird, welche auf der Mondscheibe gemessen ungefähr elf Grad ausmachen, so muß man diese elf Grad noch zu denen hinzurechnen, welche die erwähnte Zögerung des Mondes ausdrücken, nämlich rund vierundsechzig Grad. So wird also im Moment des Schusses die nach dem Mond gerichtete Sehlinie mit der verticalen des Ortes einen Winkel von vierundsechzig Grad bilden.«

So lauteten die Antworten, welche auf die dem Observatorium zu Cambridge von den Mitgliedern des Gun-Clubs gestellten Fragen ertheilt wurden. Resumiren wir:

»1. Das Geschütz muß in einem Land zwischen 0° und 28° nördlicher oder südlicher Breite aufgestellt werden.

»2. Es muß auf den Zenith des Ortes gerichtet werden.

»3. Dem Geschoß muß eine anfängliche Geschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde gegeben werden.

»4. Es muß am ersten December des folgenden Jahres um elf Uhr, weniger dreizehn Minuten und zwanzig Secunden, abgeschossen werden.

»5. Es wird vier Tage hernach, am vierten December, Punkt zwölf Uhr Nachts, in dem Moment, wo der Mond in den Zenith treten wird, dort anlangen.

»Die Mitglieder des Gun-Clubs müssen also unverzüglich die für eine solche Unternehmung erforderlichen Arbeiten vornehmen, um zu dem bestimmten Zeitpunkt zum Operiren bereit zu sein; denn, lassen sie diesen vierten December vorübergehen, so werden sie erst achtzehn Jahre und elf Tage hernach den Mond wieder in demselben Verhältniß der Erdnähe und des Zeniths finden.

»Das Bureau des Observatoriums zu Cambridge stellt sich ihnen für die Fragen theoretischer Astronomie zu Verfügung, und vereinigt seine Glückwünsche mit denen ganz Amerikas.

»Für das Bureau:

J. M. Belfast,
Director des Observatoriums zu
Cambridge.«

Fünftes Capitel.

Fünftes Capitel.

Roman des Mondes.

Ein mit unendlich scharfem Blick begabter Beobachter in dem unbekannten Centrum, um welches die Welt gravitirt, würde zu der Zeit, als das Weltall im Chaos lag, gesehen haben, wie Myriaden Atome den Raum erfüllten. Aber allmälig, im Laufe der Jahrhunderte, ging eine Veränderung vor, indem ein Gesetz der Anziehung auf die bis dahin unsteten Atome wirkte. Diese Atome traten ihrer Verwandtschaft gemäß in chemische Verbindung, wurden zu Elementartheilchen und bildeten jene Nebelmassen, welche durch den Himmel in seinen Tiefen zerstreut sind.

Diese Massen wurden sogleich von einer Bewegung um ihren Mittelpunkt beseelt. Solch ein Centrum unbestimmter Elementarbestandtheilchen begann in allmäliger Verdichtung sich um sich selbst zu drehen; ferner nahm nach unveränderlichen mechanischen Gesetzen, im Verhältniß wie sein Umfang durch Verdichtung abnahm, seine Rundbewegung an Schnelligkeit zu; und indem diese beiden Wirkungen fortdauerten, ergab sich dadurch ein Hauptstern, der das Centrum der Nebelmasse bildete.

Bei aufmerksamer Betrachtung würde der Beobachter damals gewahrt haben, daß die anderen Elementartheilchen der Masse sich ebenso wie der Centralstern verhielten, sich in eigenthümlicher Weise durch eine Rundbewegung von steigender Schnelligkeit verdichteten, und in Gestalt unzähliger Sterne um denselben als ihren Schwerpunkt kreisten. So entstand ein Nebelflecken, deren die Astronomie jetzt gegen fünftausend aufzählt.

Unter diesen fünftausend Nebelflecken befindet sich die von den Menschen sogenannte Milchstraße, welche achtzehn Millionen Sternen zählt, deren jeder das Centrum einer Sonnenwelt geworden ist.

Hätte der Beobachter damals seine besondere Aufmerksamkeit einem von den achtzehn Millionen Sternen, welcher zu den bescheidensten und am mindesten glänzenden gehört, gewidmet, einem Sterne vierten Ranges, der mit Stolz Sonne genannt wird, so würden sich alle Erscheinungen der Weltbildung der Reihe nach vor seinen Augen vollzogen haben.

In der That würde er diese Sonne noch im gasförmigen Zustand und aus beweglichen Elementarbestandtheilchen gebildet gesehen, und gewahrt haben, wie sie sich um ihre Achse drehte, um ihr Concentrationswerk zu vollziehen. Er würde beobachtet haben, wie diese Bewegung, nach den Gesetzen der Mechanik, mit der Abnahme des Umfangs an Schnelligkeit zunahm, und dann ein Zeitpunkt kam, wo die centrifugale Kraft über die centripetale, welche die Elementarbestandtheile dem Centrum zutreibt, das Uebergewicht bekam.

Dann wäre vor den Augen des Beobachters eine andere Erscheinung vorgegangen. Er hätte gewahrt, wie die Elementartheile in der Gegend des Aequators, gleich dem Stein einer Schleuder, deren Schnur plötzlich zerreißt, sich losmachten, und um die Sonne herum mehrere concentrische Ringe gleich denen des Saturn bildeten; wie sodann diese aus dem Urstoff bestehenden Ringe für sich in eine Rundbewegung um die Centralmasse fortgerissen zerbrachen und in Nebelgestirne untergeordneter Art, d. h. in Planeten, auflösten.

Hätte der Beobachter hierauf alle seine Achtsamkeit auf die Planeten gerichtet, so hätte er gewahrt, daß dieselben sich gerade wie die Sonne verhielten und einem oder mehreren kosmischen Ringen den Ursprung gaben, woraus jene Gestirne niederen Ranges entstanden, welche man Trabanten nennt.

So bekommt man denn, aufsteigend vom Atom zum Elementartheilchen, von diesem zum Nebelflecken und weiter zum Nebelgestirn und zum Hauptstern, von diesem zur Sonne, zu dem Planeten und seinen Trabanten – einen Begriff von der ganzen Reihe der Umbildungen, welche die Himmelskörper seit dem Ursprung der Welt erfuhren.

Die Sonne scheint sich in der Unermeßlichkeit der Sternenwelt zu verlieren, und dennoch gehört sie, der gegenwärtigen wissenschaftlichen Theorie nach, zu den Nebelflecken der Milchstraße. So klein sie auch inmitten der ätherischen Räume erscheinen mag, so ist sie doch Centrum einer Welt und von enormer Größe, denn diese beträgt vierzehntausendmal die der Erde. Um sie herum kreisen acht Planeten, welche zur ersten Schöpfungszeit aus ihr selbst hervorgegangen sind. Diese sind, vom nächsten zum entferntesten weiter gehend: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Außerdem kreisen zwischen Mars und Jupiter regelmäßig noch andere weniger beträchtliche Himmelskörper, vielleicht unstete Trümmer eines in mehrere tausend Stücke zerbrochenen Gestirns, von welchen das Teleskop bis jetzt siebenundneunzig entdeckt hat.

Von diesen abhängigen Körpern, welche die Sonne nach dem großen Gravitationsgesetz in ihrer elliptischen Bahn beherrscht, besitzen einige ihre eigenen Trabanten. Uranus hat deren acht, Saturn acht, Jupiter vier, Neptun vielleicht drei, die Erde einen; dieser, der einer der unbedeutendsten der Sonnenwelt ist, heißt Mond: derselbe, den das kühne Genie der Amerikaner zu erobern trachtete.

Das Nachtgestirn hat durch seine verhältnißmäßige Nähe und die rasch erneuerte Anschauung seiner Phasen von allem Anfang an zugleich mit der Sonne die Aufmerksamkeit der Erdbewohner auf sich gezogen; aber die Sonne ermüdet beim Anblick, und der blendende Glanz ihres Lichtes nöthigt ihre Beschauer die Augen abzuwenden.

Die blonde Phöbe dagegen ist menschenfreundlicher, läßt sich gefällig in ihrer bescheidenen Anmuth betrachten; sanft anzuschauen, wenig ehrgeizig, erlaubt sie sich doch zuweilen, ihren Bruder, den strahlenden Apollo, in Schatten zu stellen, ohne je von ihm verdunkelt zu werden. Die Muhammedaner haben in dankbarer Erkenntlichkeit gegen diese treue Freundin der Erde, ihre Monate nach ihrem Umlauf geregelt.

Die Urvölker widmeten dieser keuschen Göttin einen besonderen Gottesdienst. Die Aegyptier nannten sie Isis, die Phönizier Astarte, die Griechen verehrten sie unter dem Namen Phöbe, Tochter der Latona und Jupiter’s, und erklärten ihre Verfinsterungen durch die geheimnißvollen Besuche der Diana beim schönen Endymion. Der mythologischen Legende nach durchstreifte der Nemeische Löwe, bevor er auf der Erde erschien, die Gefilde Luna’s, und der Dichter Agesianax verherrlichte in Versen die süßen Augen, die reizende Nase und den freundlichen Mund, welche die bestrahlten Theile der anbetungswürdigen Selene erkennen lassen.

Aber begriffen auch die Alten den Charakter, das Temperament, kurz, die moralischen Eigenschaften Luna’s vom mythologischen Gesichtspunkt aus, so waren doch selbst die Gelehrtesten derselben in der Selenographie sehr unwissend.

Jedoch entdeckten einige Astronomen der frühesten Zeiten einige besondere Eigenschaften, welche zu heutiger Zeit von der Wissenschaft bestätigt wurden. Behaupteten die Arkadier, schon zu einer Zeit, da der Mond noch nicht existirte, auf der Erde gewohnt zu haben; hielt Simplicius ihn für unbeweglich am kristallenen Himmelsgewölbe befestigt; sah Tatius ihn als ein von der Sonnenscheibe abgetrenntes Fragment an; nahm des Aristoteles Schüler Klearch ihn als einen polirten Spiegel, auf welchem die Gebilde des Oceans sich abstrahlten; sahen Andere in demselben nur eine Anhäufung von Ausdünstungen der Erde, oder eine Kugel, die halb aus Feuer, halb aus Eis bestand und sich um sich selbst bewegte: so gab es doch einige Gelehrte, die trotz des Mangels an optischen Instrumenten durch scharfsinnige Beobachtung die meisten Gesetze erriethen, welchen das Nachtgestirn unterworfen ist.

Thales aus Milet äußerte 460 Jahre vor Christus die Meinung, der Mond sei von der Sonne erleuchtet; Aristarch zu Samos gab die richtige Erklärung seiner Phasen; Kleomenes lehrte, er strahle entliehenes Licht wieder. Der Chaldäer Berosus machte die Entdeckung, daß die Dauer seiner Rundbewegung der seines Umlaufs gleich sei, und erklärte daraus die Thatsache, daß der Mond stets die nämliche Seite zeigt. Hipparch endlich, zwei Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, erkannte einige Ungleichheiten in den anscheinenden Bewegungen des Erdtrabanten.

Diese Beobachtungen bestätigten sich in der Folge, und wurden den neuen Astronomen nützlich. Ptolemäus im zweiten Jahrhundert, der Araber Abul-Wefa im zehnten, vervollständigten des Hipparch Bemerkungen über die Ungleichheiten, welche der Mond im Verfolgen der wellenförmigen Linie seiner Bahn unter Einwirkung der Sonne zu erleiden hat. Später haben Kopernicus im fünfzehnten Jahrhundert, und Tycho Brahe im sechzehnten, das Weltsystem und die Rolle, welche der Mond unter den Himmelskörpern spielt, vollständig dargestellt.

Zu dieser Zeit wurden seine Bewegungen fast vollständig bestimmt; aber von seiner physischen Beschaffenheit wußte man wenig. Damals erklärte Galiläi die in gewissen Phasen eintretenden Lichterscheinungen durch die Existenz von Bergen, welchen er eine durchschnittliche Höhe von 4500 Toisen beilegte.

Später setzte Helvetius, ein Astronom aus Danzig, die höchsten Angaben auf 2600 Toisen (15,600 par. Fuß) herab; aber sein Genosse Riccioli kam wieder auf 7000 Toisen. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts beschränkte Herschel, der mit dem stärksten Teleskop bewaffnet war, diese Maße bedeutend, indem er für die höchsten Berge neunzehnhundert Toisen annahm, und als durchschnittliche Höhe nur vierhundert Toisen (2400 par. Fuß). Aber auch Herschel irrte noch, und es bedurfte der Beobachtungen von Schröter, Louville, Halley, Nasmyth, Bianchini, Pastorf, Lohrmann, Gruithuysen, und besonders der ausdauernden Studien von Beer und Mädler, um die Frage entschieden zu lösen. Ihnen verdankt man es, daß man jetzt die Höhe der Mondberge genau kennt. Die Letzteren beiden haben neunzehnhundertundfünf Berghöhen gemessen, von denen sechs zweitausendsechshundert Toisen überragen, zweiundzwanzig über 2400; ihr höchster Gipfel reicht bis an 3801 Toisen über der Mondfläche.

Zu gleicher Zeit wurde die Kenntniß von der Beschaffenheit des Mondes vollständiger; er zeigte sich voll Krater, und seine wesentlich vulkanische Natur ward durch jede Beobachtung bestätigt. Aus dem Mangel an Brechung der Lichtstrahlen bei den von ihm verdeckten Planeten schloß man, daß ihm eine Atmosphäre fast gänzlich fehle. Aus diesem Mangel an Luft war auf Mangel an Wasser zu schließen. Daraus ergab sich klar, daß die Seleniten, um zu leben, besonders organisirt und von den Bewohnern der Erde sehr verschieden sein müßten.

Endlich haben die in Folge der neuen Methoden noch mehr vervollkommneten Instrumente den Mond unablässig untersucht und ließen keinen Punkt seiner Oberfläche undurchforscht, und doch mißt sein Durchmesser zweitausendfünfhundert Meilen, seine Oberfläche beträgt den dreizehnten Theil der Erdoberfläche, sein Umfang den neunundvierzigsten Theil der Erdkugel; aber dem Auge der Astronomen blieb keins seiner Geheimnisse verborgen, und diese geschickten Gelehrten gelangten mit ihren wundervollen Beobachtungen noch weiter.

So bemerkten sie, daß zur Zeit des Vollmondes die Scheibe an manchen Stellen von weißen Linien durchfurcht schien, zur Zeit der Phasen mit schwarzen. Durch genauere Studien gelang es ihnen, über die Natur dieser Linien sich nähere Auskunft zu verschaffen. Es waren lange, enge Furchen, tief zwischen parallelen Rändern, welche meist in die Umkreise von Kratern ausliefen, von achthundert Toisen (4800 Fuß) Breite und zehn bis hundert Meilen Länge. Die Astronomen nannten sie Furchen (Streifen), das war aber auch Alles; denn ob es ausgetrocknete Bette vormaliger Flüsse seien, konnten sie nicht bestimmt entscheiden. Daher hofften auch die Amerikaner, diese geologische Thatsache früher oder später in’s Reine zu bringen. Auch behielten sie sich vor, jene Reihe von parallelen Wällen zu durchforschen, welche der gelehrte Professor Gruithuysen zu München entdeckte, der sie für von seleniten Ingenieuren errichtete Befestigungswerke hielt. Diese beiden noch unklaren Punkte, und unstreitig noch viele andere können wohl nicht eher als nach Herstellung einer directen Verbindung mit dem Monde in’s Reine gebracht werden.

In Betreff der Stärke seines Lichtes war nichts weiter zu lernen; man wußte, daß dasselbe dreihunderttausendmal schwächer als das Sonnenlicht ist, und daß seine Wärme nicht berechenbar auf die Thermometer wirkt. Was die unter dem Namen »aschfarbiges Licht« bekannte Erscheinung betrifft, so ist sie natürlich durch die Wirkung der von der Erde auf den Mond zurückgeworfenen Sonnenstrahlen zu erklären, welche die Mondscheibe zu ergänzen scheinen, wann dieser in Form eines Halbmonds beim ersten und letzten Viertel zu sehen ist.

Diesen Stand der Kenntnisse, welche man über den Trabanten der Erde gewonnen hatte, in allen Gesichtspunkten, dem kosmographischen, geologischen, politischen und moralischen, zu vervollständigen, machte sich der Gun-Club zur Aufgabe.

Sechstes Capitel.

Sechstes Capitel.

Was in den Vereinigten Staaten nun nicht mehr unbekannt sein kann, und was man nicht mehr glauben darf.

Barbicane’s Vorschlag hatte zur unmittelbaren Folge, daß alle astronomischen Thatsachen, welche sich auf das Gestirn der Nacht bezogen, auf die Tagesordnung kamen. Jeder machte sich daran, dieselbe eifrig zu studiren. Es schien als sei der Mond zum ersten Male am Horizont aufgetreten, und es habe ihn bisher noch Niemand am Himmel gesehen. Luna wurde zur Mode: sie wurde Löwin des Tages, ohne deshalb weniger bescheiden aufzutreten, sie nahm ihren gebührenden Rang unter den »Gestirnen« ein, ohne darum mehr Stolz erkennen zu lassen. Die Journale wärmten die alten Anekdoten wieder auf, worin diese »Sonne der Wölfe« gepriesen wurde; sie erinnerten an den Einfluß, welchen die Unwissenheit früherer Zeiten ihr geliehen, und sangen ihre Loblieder in allen Tonarten; fast hätten sie bon mots von ihr zum Besten gegeben; ganz Amerika wurde mondsüchtig.

Die wissenschaftlichen Zeitschriften behandelten ihrerseits die mit der Unternehmung des Gun-Clubs zusammenhängenden Fragen specieller; das Schreiben des Observatoriums zu Cambridge wurde von ihnen veröffentlicht, erläutert und rückhaltlos gebilligt.

Kurz, selbst dem mindest wissenschaftlichen Yankee war es nicht mehr gestattet, in Beziehung auf seinen Trabanten nur eine einzige Thatsache nicht zu kennen, sowenig wie der bornirtesten alten Mistreß, ferner die in Betreff desselben gehegten abergläubischen Irrthümer gelten zu lassen. Die Wissenschaft gelangte unter allen Formen zu ihnen, drang durch die Augen und Ohren in ihren Geist; es war nicht mehr möglich, ferner ein Esel zu sein … in Sachen der Astronomie.

Bisher war es vielen Leuten unbekannt, wie man die Entfernung des Mondes von der Erde zu berechnen im Stande war. Man benützte diesen Umstand sie zu belehren, daß man diese Kenntniß durch Messung der Parallaxe des Mondes gewinne. Waren sie über dieses Wort betroffen, so sagte man ihnen, so heiße man den Winkel, welchen zwei gerade Linien bildeten, die man von den beiden Enden des Erddurchmessers zu dem Monde hinzog. Zweifelten sie an der Zulänglichkeit dieser Methode, so bewies man ihnen unmittelbar, nicht allein, daß dieser mittlere Abstand wohl zweihundertvierunddreißigtausenddreihundertsiebenundvierzig (engl.) Meilen (= vierundneunzigtausenddreihundertunddreißig Lieues) betrug, sondern auch, daß die Astronomen sich nicht um siebenzig Meilen irrten.

Denen, welche mit den Bewegungen des Mondes nicht genau bekannt waren, erklärten die Journale täglich, daß er zwei verschiedene Bewegungen habe, erstens die Umdrehung um seine Achse, und zweitens den Umlauf um die Erde, welche beide Bewegungen in gleicher Zeit vorgingen, nämlich binnen siebenundzwanzig und einem Drittel Tag.

Die Umdrehung um seine Achse bewirkt für die Mondoberfläche Tag und Nacht; nur daß es binnen eines Monats auf dem Mond nur einen Tag giebt, und nur eine Nacht, von denen jedes dreihundertvierundfünfzig und ein Drittel Stunden dauert. Aber zum Glück ist die der Erde zugekehrte Seite von dieser mit einem Licht bestrahlt, welches vierzehnmal stärker als das Mondlicht ist. Die andere, stets unsichtbare Seite hat natürlich dreihundertvierundfünfzig Stunden absolute Nacht, welche nur durch das schwache Licht, das von den Sternen her ihr zufällt, gemildert wird. Diese Erscheinung rührt einzig von der Eigentümlichkeit her, daß die Bewegungen der Umdrehung und des Umlaufs in vollständig gleicher Zeit vor sich gehen; eine Erscheinung, die nach Cassini und Herschel auch bei den Trabanten Jupiter’s, und sehr wahrscheinlich bei allen anderen Trabanten vorkommt.

Manche recht gescheite, aber etwas starre Köpfe begriffen nicht sogleich, daß, wenn der Mond bei seinem Umlauf um die Erde derselben stets das nämliche Antlitz zuwendet, er während derselben Zeit sich dabei um sich selber dreht. Zu diesen sagte man: »Treten Sie in Ihren Speisesaal und gehen Sie um den Tisch herum, so daß Sie den Blick stets dem Centrum zuwenden; wenn Sie mit diesem Rundgang fertig sind, findet sich, daß Sie zugleich sich selbst umgedreht haben, denn Ihr Auge hat nach und nach alle Punkte des Saals angeblickt. Nun! Der Saal ist der Himmel, der Tisch ist die Erde, und der Mond sind Sie!« – Und sie waren höchlich befriedigt durch den Vergleich.

Also, der Mond zeigt der Erde unablässig dieselbe Seite; doch muß man, um exact zu sein, beifügen, daß er, in Folge einer gewissen schwankenden Bewegung von Norden nach Süden, und von Westen nach Osten, welche man »Libration« nennt, etwas mehr als die Hälfte seiner Scheibe, nämlich ungefähr siebenundfünfzig Hunderttheile, sehen läßt.

Als die Unwissenden über die Rundbewegung des Mondes ebenso viel wußten, als der Director des Observatoriums zu Cambridge, beunruhigten sie sich über seine Umlaufbewegung um die Erde, und zwanzig wissenschaftliche Zeitschriften waren rasch bei der Hand, sie zu belehren. Sie lernten dabei, daß das Firmament mit seinen unzähligen Sternen wie ein großes Zifferblatt angesehen werden kann, worauf der Mond herum spaziert und allen Erdbewohnern die richtige Stunde angiebt; daß das Nachtgestirn bei dieser Bewegung seine verschiedenen Phasen zeigt; daß es Vollmond ist, wenn er auf der der Sonne entgegengesetzten Seite (in Opposition) steht, d. h. die drei Gestirne in derselben Linie, in der Mitte die Erde; Neumond dagegen, wenn er seinen Stand zwischen der Erde und der Sonne hat (mit ihr in Conjunction ist); endlich, daß der Mond in seinem ersten oder letzten Viertel sich befindet, wenn er an der Spitze eines rechten Winkels steht, welchen die beiden Linien, nach der Sonne und der Erde hin, bilden.

Einige scharfsinnige Yankees zogen daraus den Schluß, daß die Verfinsterungen nur zur Zeit der Conjunction oder Opposition stattfinden könnten, und sie urtheilten richtig. Im Stand der Conjunction vermag der Mond die Sonne zu verfinstern, während bei der Opposition die Erde ihn verfinstern kann, und daß nur deshalb die Finsternisse nicht zweimal bei jedem Mondumlauf eintreten, weil die Ebene der Mondbewegung gegen die Ekliptik, d. h. die Bahn der Erdbewegung, geneigt ist.

Was die Höhe betrifft, welche das Nachtgestirn über dem Horizont einnehmen kann, so hatte das Schreiben des Observatoriums in der Hinsicht Alles gesagt. Jeder wußte, daß diese Höhe sich nach dem Breitegrad des Beobachters ändert. Aber die einzige Zone, für welche der Mond im Zenith, d. h. gerade über dem Scheitel seiner Bewohner, stehen kann, liegt nur zwischen dem Aequator und dem achtundzwanzigsten Grad südlicher wie nördlicher Breite. Deshalb wurde so dringend empfohlen, das Experiment nur auf einem Punkt innerhalb dieser Zone vorzunehmen, damit man das Geschoß senkrecht abschleudern und um so schneller der Wirkung der Schwere entziehen könne. Das Gelingen des Vorhabens war an diese wesentliche Bedingung geknüpft und die öffentliche Meinung mußte sich daher lebhaft dafür interessiren.

In Betreff der Linie, welche der Mond bei seiner Bahn um die Erde beschreibt, hatte das Observatorium zu Cambridge hinlänglich, auch den Ignoranten aller Länder, gezeigt, daß dieselbe nicht ein Kreis ist, sondern eine Ellipse, worin sich die Erde an einem der Brennpunkte befindet. Diese elliptischen Bahnen finden sich bei allen Planeten, wie bei allen Trabanten, und die rationelle Mechanik beweist mit aller Schärfe, daß es nicht anders möglich ist. Selbstverständlich begriff man, daß die Erdferne des Mondes seinen Stand an demjenigen Punkt seiner Bahn bedeute, welcher am weitesten von der Erde ab liegt, seine Erdnähe den an dem nächsten bei derselben.

Dieses also mußte jeder Amerikaner, er mochte wollen oder nicht, wissen, und anständiger Weise konnte Niemand darin unwissend sein. Aber verbreiteten sich auch dergestalt rasch die richtigen Ansichten, so war es nicht so leicht, eine Menge Irrthümer, manche falsche Besorgnisse, auszurotten.

So behaupteten z. B. manche wackeren Leute, der Mond sei ein vormaliger Komet, der bei seiner verlängerten Bahn um die Sonne in der Nähe der Erde vorbeigekommen und in seinem Anziehungskreis festgehalten worden sei. Diese Salon-Astronomen meinten damit das verbrannte Aussehen des Mondes zu erklären. Man brauchte ihnen aber nur die Bemerkung zu machen, daß die Kometen eine Atmosphäre haben, der Mond keine oder sehr wenig, und sie wußten nichts darauf zu erwidern.

Andere äußerten hinsichtlich des Mondes gewisse Besorgnisse. Sie hatten gehört, seit den zur Zeit der Kalifen gemachten Beobachtungen nehme seine Umlaufbewegung an Schnelligkeit in gewissem Verhältniß zu. Daraus folgerten sie ganz logisch, daß einer beschleunigten Bewegung eine Verminderung des Abstandes beider Gestirne entsprechen müsse, und daß, wenn diese doppelte Wirkung in’s Unendliche fortdauere, am Ende der Mond einmal auf die Erde fallen müsse. Doch sie mußten ihre Besorgnisse um die zukünftigen Generationen aufgeben, als man sie lehrte, daß nach Laplace’s Berechnungen diese Beschleunigung der Bewegung sich in sehr engen Schranken hält, und eine verhältnißmäßige Verminderung unfehlbar darauf folgen werde, demnach eine Störung des Gleichgewichts in der Sonnenwelt in Zukunft nicht stattfinden könne.

Nun blieben noch die abergläubischen Ignoranten, welche sich nicht darauf beschränken, nichts zu wissen, vielmehr wissen, was nicht ist; und hinsichtlich des Mondes wußten sie ein Langes und Breites. Die Einen sahen seine Scheibe wie einen Polirspiegel an, vermittelst dessen man an verschiedenen Punkten der Erde sich sehen und seine Gedanken mittheilen könne. Andere behaupteten, bei tausend Neumonden, die man beobachtete, seien auf neunhundertundfünfzig erhebliche Veränderungen erfolgt, Überschwemmungen, Revolutionen, Erdbeben etc.; sie glaubten daher an einen mysteriösen Einfluß des Nachtgestirns auf die menschlichen Schicksale; sie meinten, jeder Erdbewohner stehe durch ein Band der Sympathie mit einem Mondbewohner in Verbindung; mit dem Doctor Mead behaupteten sie, das Lebenssystem sei ihm völlig unterworfen, Knaben würden nur zur Zeit des Neumonds geboren, Mädchen zur Zeit des letzten Viertels etc., etc. Aber endlich mußten sie diese Irrthümer aufgeben; und wenn der Mond, seitdem er seines Einflusses beraubt ist, in den Augen gewisser Leute, die allen Mächtigen den Hof machen, gesunken ist, wenn Manche ihm den Rücken kehrten, so erklärte sich die immense Majorität zu seinen Gunsten. Die Yankees hatten keinen anderen Ehrgeiz mehr, als den, von diesem neuen Kontinent der Lüfte Besitz zu ergreifen, und das Sternenbanner der Vereinigten Staaten Amerikas auf seinem höchsten Gipfel aufzupflanzen.

Siebentes Capitel.

Siebentes Capitel.

Loblied der Kugel.

Das Observatorium zu Cambridge hatte in seinem merkwürdigen Schreiben vom 7. October die Frage vom astronomischen Gesichtspunkte aus behandelt; nun handelte sich’s um die technische Lösung derselben. In jedem anderen Lande hätte man die praktischen Schwierigkeiten für unüberwindlich gehalten. In Amerika war’s nur ein Spiel.

Ohne Zeit zu verlieren, hatte der Präsident Barbicane im Schooße des Gun-Clubs ein Ausführungscomité ernannt. Dieses sollte in drei Sitzungen die drei großen Fragen, der Kanone, des Projectils und des Pulvers, beleuchten. Es waren vier sehr sachverständige Mitglieder: Barbicane, mit überwiegender Stimme bei Stimmengleichheit, der General Morgan, der Major Elphiston, und der unvermeidliche J. T. Maston als berichterstattender Secretär.

Am 8. October versammelte sich das Comité bei dem Präsidenten Barbicane, 3 Republican-street. Da bei einer so ernsten Berathung der Magen keine Störung machen durfte, so war der Tisch, woran die vier Mitglieder des Gun-Clubs Platz nahmen, mit Sandwichs und ansehnlichen Theekannen besetzt. Sogleich befestigte Maston seine Feder an seinem eisernen Hacken, und die Sitzung begann.

Barbicane ergriff das Wort:

»Liebe Collegen, sprach er, wir haben eins der wichtigsten Probleme der Ballistik zu lösen, der Wissenschaft, welche sich mit der Bewegung der Projectile beschäftigt, d. h. der Körper, welche durch irgend eine Treibkraft in den Raum hinausgeschleudert, dann sich selbst überlassen werden.

– O! die Ballistik! die Ballistik! rief J. T. Maston mit gerührter Stimme.

– Vielleicht, fuhr Barbicane fort, wäre es richtiger gewesen, diese erste Sitzung der Besprechung der Maschine zu widmen…

– Ja wohl! erwiderte der General Morgan.

– Doch schien mir, fuhr Barbicane fort, nach reiflicher Erwägung die Frage des Projectils voraus gehen zu müssen, da von dem letzteren die Dimensionen der ersteren abhängen müssen.

– Ich bitte um’s Wort,« rief J. T. Maston.

Es wurde ihm gerne vergönnt.

»Meine tapferen Freunde, sagte er mit gehobener Stimme, unser Präsident hat Recht, dem Projectil den Vorrang zu geben. Diese Kugel, welche wir auf den Mond schleudern wollen, ist unser Abgesandter, und ich möchte mir erlauben, denselben vom rein moralischen Gesichtspunkt aus in Betrachtung zu nehmen.«

Diese ungewöhnliche Betrachtungsweise eines Projectils reizte ausnehmend die Neugierde der Comitémitglieder; sie schenkten daher den Worten Maston’s die gespannteste Aufmerksamkeit.

»Liebe Collegen, fuhr dieser fort, ich will mich kurz fassen; ich lasse die physische Kugel, welche tödtet, bei Seite, um nur die mathematische, die moralische, zu betrachten. Ich erkenne in der Kugel die glänzendste Kundgebung der Macht des Menschen; bei ihrer Schöpfung hat sich der Mensch am meisten dem Schöpfer genähert.

– Sehr gut! sagte der Major Elphiston.

»Wahrhaftig, rief der Redner, wie Gott die Sterne und die Planeten geschaffen hat, so schuf der Mensch die Kugel, das Nachbild der im Weltenraum schweifenden Gestirne, die in Wahrheit nur Projectile sind! Gott schuf die Schnelligkeit der Elektricität, des Lichtes, der Sterne, der Kometen, Planeten und Trabanten, die Schnelligkeit des Tons, des Windes! Wir aber die Schnelligkeit der Kugel, welche die der Bahnzüge und der flüchtigsten Rennpferde hundertmal übertrifft!«

J. T. Maston war begeistert; er sang dieses Loblied mit lyrischem Schwung.

»Zahlen sprechen mit Beredtsamkeit, fuhr er fort. Nehmen Sie nur den bescheidenen Vierundzwanzigpfünder; fliegt er auch achthunderttausendmal weniger rasch als die Elektricität, sechshundertundvierzigtausendmal minder schnell, als das Licht, sechsundsiebenzigmal minder schnell, als die Erde sich um die Sonne bewegt, so übertrifft er doch, wenn er aus der Kanone herauskommt, bereits die Schnelligkeit des Tones, macht in der Secunde zweihundert Toisen (= 1200 par. Fuß), zweitausend in zehn, vierzehn (engl.) Meilen (sechs Lieues) in der Minute, achthundertundvierzig Meilen in der Stunde (vierhundertsechzig Lieues), zwanzigtausendeinhundert Meilen (achttausendsechshundertvierzig Lieues) im Tag, d. h. die Schnelligkeit der Punkte des Aequators bei seiner Umdrehung um seine Achse, sieben Millionen, dreihundertsechsunddreißigtausendfünfhundert Meilen (drei Millionen, einhundertfünfundfünfzigtausendsiebenhundertsechzig Lieues) im Jahr. Er würde also in elf Tagen zum Monde gelangen, in zwölf Jahren bis zur Sonne. Das könnte diese bescheidene Kugel, unserer Hände Werk! Was wäre es, wenn wir ihm diese Schnelligkeit zwanzigfach gäben! Ach! prachtvolle Kugel! ich denke wohl, man wird dich dort oben als Abgesandten der Erde mit gebührenden Ehren empfangen!«

Die Rede wurde mit Hurrah aufgenommen und Maston von seinen Collegen mit Glückwünschen begrüßt.

»Und nun, sagte Barbicane, nachdem wir der Poesie Raum gegeben, lassen Sie uns die Frage direct anfassen.«

– Wir sind dazu bereit, erwiderten die Mitglieder des Comité, und verschlangen jeder ein halbes Dutzend Sandwichs.

– Sie kennen unsere Aufgabe, fuhr der Präsident fort; es handelt sich darum, einem Projectil die Geschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde zu geben. Ich darf wohl glauben, daß wir dieses erreichen können. Zunächst mustern wir die bis jetzt erzielten Geschwindigkeiten; der General Morgan wird im Stande sein, uns darüber zu unterhalten.

– Um so leichter, erwiderte der General, als ich während des Krieges der Commission für die Experimente angehörte. Ich bemerke daher, daß Dahlgreen’s Cent-Kanonen, welche zweitausendfünfhundert Toisen (fünfzehntausend Fuß) weit trugen, ihrem Projectil eine anfängliche Geschwindigkeit von fünfhundert Yards in der Secunde gaben.

– Gut. Und die Columbiade Rodman? fragte der Präsident.

– Die beim Fort Hamilton, nächst New-York, verwendete Columbiade Rodman schleuderte eine Kugel von einer halben Tonne Gewicht sechs Meilen weit mit einer Schnelligkeit von achthundert Yards in der Secunde, ein Resultat, das Armstrong und Palliser in England niemals erreichten.

– Ja! Die Engländer! sagte J. T. Maston mit einer drohenden Bewegung nach Osten.

– Also, fuhr Barbicane fort, diese achthundert Yards wären die größte bis jetzt erzielte Geschwindigkeit.

– Ja, erwiderte Morgan.

– Doch will ich bemerken, fiel J. T. Maston ein, wäre mein Mörser nicht zersprungen…

– Ja, aber er ist doch zersprungen, entgegnete Barbicane mit wohlwollender Handbewegung. Wir haben also diese Geschwindigkeit von achthundert Yards als Ausgangspunkt zu nehmen. Wir müssen sie zwanzigfach erzielen. Da wir nun die Berathung über die Mittel, solch eine Geschwindigkeit zu bekommen, für eine andere Sitzung bestimmt haben, so will ich, werthe Collegen, Ihre Aufmerksamkeit auf die Dimensionen richten, welche wir der Kugel geben müßten. Sie sehen wohl, daß sich’s nicht mehr um Projectile von einer halben Tonne handelt!

– Warum nicht? fragte der Major.

– Weil diese Kugel, fiel Maston lebhaft ein, groß genug sein muß, um die Aufmerksamkeit der Mondbewohner, wenn’s deren giebt, auf sich zu ziehen.

– Ja, erwiderte Barbicane, und noch aus einem anderen wichtigen Grunde.

– Was meinen Sie damit, Barbicane, fragte der Major.

– Ich meine, es genüge nicht, ein Projectil fortzuschleudern, und sich nicht weiter darum zu bekümmern; wir müssen ihm folgen, bis zu dem Moment, wo es am Ziele anlangen wird.

– Hm! äußerten sich der General und der Major etwas überrascht.

– Allerdings, fuhr Barbicane fort, oder unser Experiment wird kein Resultat haben.

– Aber dann, erwiderte der Major, wollen Sie dem Projectil enorme Dimensionen geben?

– Nein. Hören Sie gefälligst. Sie wissen, daß die optischen Instrumente eine große Vollkommenheit erlangt haben; mit einigen Teleskopen hat man bereits sechstausendfache Vergrößerungen erlangt, so daß man damit den Mond bis auf vierzig englische Meilen nahe gebracht hat. In dieser Entfernung nun sind Gegenstände von sechzig Fuß Umfang völlig sichtbar. Hat man die Schärfe der Teleskope noch nicht weiter gebracht, so geschah es, weil dies nur auf Kosten der möglich ist. Da nun der Mond ein schwaches reflectirtes Licht hat, so kann man nicht auf eine weitere Vergrößerung denken.

– Nun! was wollen Sie also machen? fragte der General. Werden Sie Ihrem Projectil einen Durchmesser von sechzig Fuß geben?

– Nein!

– Also wollen Sie dem Mond mehr Leuchtkraft geben?

– Ja wohl.

– Nun, das ist stark! rief J. T. Maston aus.

– Ja, sehr einfach, erwiderte Barbicane. In der That, wenn es mir gelingt, die Dichtheit der Atmosphäre, welche das Mondlicht zu durchdringen hat, zu vermindern, wird dadurch nicht dieses Licht stärker leuchten?

– Unstreitig.

– Nun denn! Zu diesem Zweck wird es genügen, ein Teleskop auf einem hohen Berg aufzustellen.

– Ich ergebe mich, erwiderte der Major. Was haben Sie für eine Art, die Dinge zu vereinfachen! … Und welche Verstärkung hoffen Sie dadurch zu erlangen?

– Achtundvierzigtausendmal, wodurch der Mond auf fünf Meilen nahe gebracht wird; und um sichtbar zu sein, brauchen die Gegenstände nur neun Fuß Durchmesser zu haben.

– Vortrefflich! rief Maston, unser Projectil wird also neun Fuß Durchmesser bekommen?

– Ja wohl.

– Erlauben Sie mir indessen zu bemerken, sprach der Major Elphiston, daß es dann noch ein Gewicht hat . . . 

– O! Major, erwiderte Barbicane, ehe wir sein Gewicht besprechen, lassen Sie mich anführen, daß unsere Väter in der Hinsicht Wunderbares leisteten. Ich bin weit entfernt zu behaupten, die Ballistik habe keine Fortschritte gemacht, aber es ist doch zu merken, daß man bereits im Mittelalter erstaunliche Resultate erzielte, ich darf sagen, erstaunlichere, als unsere sind.

– Zum Beispiel! entgegnete Morgan.

– Beweisen Sie, was Sie sagen, rief lebhaft J. T. Maston.

– Nichts leichter als dies, erwiderte Barbicane, ich kann Beispiele anführen. Bei der Belagerung Constantinopels durch Mahomet II. im Jahre 1543, warf man steinerne Kugeln, die wogen neunzehnhundert Pfund, und waren wohl hübsch groß.

– O! O! sagte der Major, neunzehn Centner ist eine starke Ziffer!

– Zur Zeit der Malteserritter war auf dem Fort St. Elme eine Kanone, die warf Projectile von zweitausendfünfhundert Pfund.

– Nicht möglich!

– Endlich, nach einem französischen Geschichtschreiber unter Louis XI., gab’s einen Mörser, der warf eine Bombe, zwar nur von fünfhundert Pfund; aber diese Bombe flog von der Bastille, wo die Gescheiten von den Narren eingeschlossen wurden, bis nach Charenton, wo die Narren von den Gescheiten eingesperrt werden.

– Sehr gut! sagte J. T. Maston.

– Was haben wir seitdem erlebt, kurz zu sagen? Die Armstrong-Kanonen werfen Fünfhundertpfünder, Rodman’s Columbiade Projectile von einer halben Tonne! Es scheint demnach, die Projectile haben an Tragweite gewonnen, an Gewicht verloren. Wenn wir nun unsere Bemühungen nach dieser Seite hin richten, müssen wir, vermöge des Fortschritts der Wissenschaft, es dahin bringen, das zehnfache Gewicht der Kugeln Mahomet’s II. und der Malteser zu erzielen.

– Offenbar, erwiderte der Major, aber welches Metall denken Sie für das Projectil zu verwenden?

– Gußeisen, ganz einfach, sagte der General Morgan.

– Pfui! Gußeisen! rief Maston verächtlich, das ist doch zu gemein für eine Kugel, die den Mond besuchen soll.

– Lassen wir die Uebertreibungen, mein ehrenwerther Freund, erwiderte Morgan; Gußeisen genügt.

– Nun! fuhr der Major Elphiston fort, dann wird, weil das Gewicht der Kugel im Verhältniß zu ihrem Umfang steht, eine Kugel von Gußeisen mit einem Durchmesser von neun Fuß, immer noch ein furchtbares Gewicht haben!

– Ja, wenn massiv; nicht aber, wenn sie hohl ist, sagte Barbicane.

– Hohl? Also eine Haubitz-Granate?

– In die man Depeschen stecken kann, und Pröbchen von unseren Producten?

– Ja, eine Hohlkugel, erwiderte Barbicane, muß es durchaus sein; eine massive von hundertundacht Zoll würde über zweihunderttausend Pfund wiegen, ein offenbar zu beträchtliches Gewicht; doch da man dem Geschoß eine gewisse Festigkeit bewahren muß, so schlage ich vor, ihm ein Gewicht von fünftausend Pfund zu geben.

– Wie dick sollen denn die Wände sein? fragte der Major.

– Dem regelmäßigen Verhältnis nach, versetzte Morgan, verlangt ein Durchmesser von hundertundacht Zoll mindestens zwei Fuß dicke Wände.

– Das wäre viel zu viel, erwiderte Barbicane; bemerken Sie wohl, es handelt sich hier nicht um eine Kugel, die Platten durchbohren soll; die Wände brauchen nur so stark zu sein, um dem Druck des Pulvergases widerstehen zu können. Also stellt sich die Frage: wie dick muß eine Hohlkugel von Gußeisen sein, die nur zwanzigtausend Pfund wiegen soll? Unser geschickter Berechner, der wackere Maston, wird’s uns unverzüglich sagen können.

– Nichts ist leichter, versetzte der ehrenwerthe Secretär des Comités. Bei diesen Worten schrieb er einige algebraische Formeln nieder; aus seiner Feder kamen π und χ in zweiter Potenz. Es hatte sogar das Ansehen, als ziehe er, ohne nur anzurühren, eine gewisse Kubik-Wurzel aus; darauf sprach er:

»Die Wände brauchen kaum zwei Zoll dick zu sein.

– Sollte das hinreichen? fragte der Major mit zweifelnder Miene.

– Nein, erwiderte der Präsident, sicherlich nicht,

– Nun! was ist dann zu thun? fuhr Elphiston etwas verlegen fort.

– Wir nehmen ein anderes Metall.

– Kupfer? sagte Morgan.

– Nein, das ist auch zu schwer; ich habe Ihnen etwas besseres vorzuschlagen.

– Was denn? sagte der Major.

–- Aluminium, erwiderte Barbicane.

– Aluminium! riefen die drei Collegen des Präsidenten.

– Ganz gewiß! meine Freunde. Sie wissen, daß es einem berühmten französischen Chemiker, Sainte-Claire-Deville, im Jahre 1854 gelungen ist, Aluminium in fester Masse darzustellen. Dieses köstliche Metall ist weiß wie Silber, unveränderlich wie Gold, zäh wie Eisen, schmelzbar wie Kupfer und leicht wie Glas; leicht zu bearbeiten, in der ganzen Natur sehr verbreitet, – denn es bildet die Basis der meisten Gesteine – ist es dreimal leichter wie Eisen, und es scheint ganz dazu geschaffen zu sein, um für unser Projectil den geeigneten Stoff zu liefern!

– Hurrah dem Aluminium! rief der Sekretär des Comités.

– Aber, lieber Präsident, sagte der Major, ist das Aluminium nicht sehr theuer?

– Das war es im Anfang, erwiderte Barbicane, da kostete das Pfund zweihundertundsechzig bis zweihundertundachtzig Dollars; hernach sank es auf siebenundzwanzig Dollars und nun gilt es nur neun Dollars.

– Aber neun Dollars das Pfund, erwiderte der Major, ist noch enorm theuer.

– Allerdings, lieber Major, ist der Preis hoch, aber doch aufzubringen.

– Wie schwer wird dann das Projectil wiegen? fragte Morgan.

– Ich will Ihnen das Ergebniß meiner Berechnungen sagen, erwiderte Barbicane. Eine Kugel von hundertundacht Zoll Durchmesser und zwölf Zoll Dicke würde in Gußeisen siebenundsechzigtausendvierhundertundvierzig Pfund wiegen; aus Aluminium gegossen, würde ihr Gewicht auf neunzehntausendzweihundertundfünfzig Pfund herabsinken.

– Vortrefflich! rief Maston, das paßt ja in unser Programm.

– Vortrefflich! vortrefflich! erwiderte der Major, aber wissen Sie nicht, was bei einem Preis von achtzehn Dollars per Pfund das Projectil kosten wird…

– Hundertdreiundsiebenzigtausendzweihundertfünfzig Dollars, ich weiß es genau; aber haben Sie keine Besorgnisse, meine Freunde, an Geld wird’s für unser Unternehmen nicht fehlen, ich stehe dafür.

– Es wird in unsere Kassen regnen.

– Nun, was halten Sie vom Aluminium? fragte der Präsident.

– Angenommen, riefen sie einstimmig.

– Auf die Form des Projectils kommt wenig an, fuhr Barbicane fort, weil dasselbe, wenn es einmal über der Atmosphäre ist, sich im leeren Raum befindet; ich schlage also eine runde Kugel vor, die nach Belieben sich um sich selbst drehen kann.

So endete die erste Sitzung des Comités; die Frage des Projectils war entschieden, und J. T. Maston war hoch erfreut bei dem Gedanken, eine Kugel von Aluminium abzusenden, »was den Seleniten eine recht hübsche Idee von den Erdbewohnern geben würde!«

Achtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Geschichte der Kanone.

Die in der ersten Sitzung gefaßten Beschlüsse erregten großes Aufsehen. Manche schüchterne Leute erschraken ein wenig beim Gedanken, eine Kugel von zwanzigtausend Pfund durch den Raum zu schleudern. Man fragte sich, welche Kanone jemals im Stande wäre, einer solchen Masse eine hinreichende Anfangsgeschwindigkeit zu geben. Das Protokoll der zweiten Comitésitzung sollte diese Frage siegreich beantworten.

Den folgenden Abend nahmen die vier Mitglieder des Gun-Clubs abermals vor Bergen von Sandwichs und einem Ocean von Thee Platz. Die Berathung begann sogleich, diesmal ohne einleitende Vorrede.

»Liebe Collegen«, sagte Barbicane, »wir haben uns nun mit der zu construirenden Maschine zu beschäftigen, ihrer Länge, Gestalt, Zusammensetzung und Gewicht. Möglich, daß wir derselben werden riesenmäßige Dimensionen geben müssen; aber so groß auch die Schwierigkeiten sein werden, unser industrielles Genie wird sie leicht überwinden. Hören Sie mich also gefälligst an und verschonen mich nicht mit treffenden Einwendungen. Ich fürchte sie nicht!«

Diese Erklärung wurde mit beifälligem Brummen aufgenommen.

»Behalten wir im Sinn, fuhr Barbicane fort, »an welchem Punkt unsere gestrige Berathung angelangt ist; die Aufgabe stellt sich nun unter folgender Form: einer Hohlkugel von hundertundacht Zoll Durchmesser und zwanzigtausend Pfund Gewicht eine Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Secunde zu geben.

– Das ist in der That jetzt die Aufgabe, erwiderte der Major Elphiston.

– Wenn also, fuhr Barbicane fort, ein Projectil in den Raum hinausgeschleudert worden ist, was geht dann vor? Es ist der Einwirkung von drei unabhängigen Kräften ausgesetzt, dem Widerstand der Umgebung, der Anziehung von der Erde, und der ihm einwohnenden Treibkraft. Betrachten wir diese drei Kräfte näher. Der Widerstand der Umgebung, d. h. der Luft, wird unbedeutend sein. In der That erstreckt sich die Atmosphäre der Erde nur auf vierzig englische Meilen. Bei einer Geschwindigkeit von zwölftausend Yards (achtundvierzigtausend Fuß) wird das Projectil sie in fünf Secunden durchlaufen. Nehmen wir sodann die Anziehungskraft der Erde, d. h. Schwere der Kugel. Wir wissen, daß diese Schwerkraft im umgekehrten Verhältniß des Quadrats der Entfernung abnimmt. Die Physik lehrt uns nun Folgendes: Wenn ein sich selbst überlassener Körper auf die Oberfläche der Erde fällt, so ist das Maß dafür in der ersten Secunde fünfzehn Fuß, und wenn derselbe Körper in eine Entfernung von zweihundertsiebenundfünfzigtausendfünfhundertzweiundvierzig Meilen, mit anderen Worten in die Entfernung des Mondes versetzt ist, so beträgt sein Fall in der ersten Secunde etwa eine halbe Linie. Das ist beinahe Unbeweglichkeit. Es handelt sich also darum, diese Widerstandskraft nach und nach zu überwinden. Wie erreichen wir dies? Durch die treibende Kraft.

– Darin liegt eben die Schwierigkeit, erwiderte der Major.

– Ja wohl, darin, fuhr der Präsident fort, aber wir werden sie überwinden; denn diese treibende Kraft, welche wir bedürfen, ergiebt sich aus der Länge des Geschützes und aus der Menge des verwendeten Pulvers, indem diese nur durch den Widerstand jener beschränkt ist. Beschäftigen wir uns also heute mit den Dimensionen, welche man der Kanone geben muß. Wohl verstanden, daß wir sie unter so zu sagen unbegrenzten Widerstandsbedingungen aufstellen können, weil sie nicht zum Manoeuvriren bestimmt ist.

– Das ist Alles sonnenklar, erwiderte der General.

– »Bisher, sagte Barbicane, sind unsere längsten Kanonen, die enormen Columbiaden, nicht über fünfundzwanzig Fuß lang gewesen; wir werden daher unserer Columbiade Dimensionen geben müssen, welche Manche in Erstaunen versetzen.«

– Ja, ganz gewiß! rief Maston. Ich meines Theils verlange eine Kanone, die mindestens eine halbe (englische) Meile lang ist.

– Eine halbe Meile! riefen der Major und der General.

– Ja! eine halbe Meile, und das wird noch um die Hälfte zu kurz sein.

– Aber, Maston, erwiderte Morgan, Sie übertreiben.

– Nein! entgegnete der heißblütige Secretär, und ich weiß wahrhaftig nicht, weshalb Sie mich der Übertreibung beschuldigen.

– Weil Sie zu weit gehen!

– Wissen Sie, mein Herr, versetzte Maston mit stolzer Miene, daß ein Artillerist, wie eine Kugel, niemals zu weit gehen kann!«

Da die Unterredung persönlich wurde, legte sich der Präsident in’s Mittel.

»Seien wir ruhig, Freunde, und überlegen wir; es muß offenbar eine Kanone von langem Lauf sein, weil die Länge des Stücks die Spannkraft des unter dem Projectil angesammelten Gases vermehren wird, aber man braucht nicht gewisse Grenzen zu überschreiten.

– Ganz recht, sagte der Major.

– Welche Regeln befolgt man gewöhnlich in solchem Fall? In der Regel ist eine Kanone zwanzig bis fünfundzwanzigmal so lang, als der Durchmesser der Kugel, und sie wiegt zweihundertundfünfunddreißig bis vierzigmal so viel, als diese.

– Das genügt nicht, rief Maston ungestüm.

– Ich geb’s wohl zu, mein würdiger Freund, und in der That würde diesem Verhältniß nach ein Projectil von neun Fuß Durchmesser und dreißigtausend Pfund schwer nur eine Maschine von zweihundertfünfundzwanzig Fuß Länge und sieben Millionen zweimalhunderttausend Pfund Gewicht erfordern.

– Lächerlich, rief Maston. Ebensogut nähme man eine Pistole!

– Das denk‘ ich auch, erwiderte Barbicane. Deshalb beabsichtige ich diese Länge viermal zu nehmen, und eine neunhundert Fuß lange Kanone zu bauen.

Der General und der Major machten zwar einige Einwendungen; aber dennoch wurde dieser Vorschlag, vom Secretär des Clubs lebhaft unterstützt, definitiv angenommen.

– Jetzt, sagte Elphiston, wie dick sollen die Wände sein?

– Sechs Fuß, erwiderte Barbicane.

– Sie denken wohl nicht daran, solch eine Masse auf eine Lafette zu pflanzen? fragte der Major.

– Das wäre doch prachtvoll, sagte Maston.

– Aber unausführbar, erwiderte Barbicane.

Nein, ich denke, die Maschine in den Boden einzusenken, Ringe von Schmiedeisen darum zu legen und endlich sie mit einem festen Gemäuer von Stein und Kalk zu umgeben, damit sie an der ganzen Widerstandskraft des umgebenden Bodens Theil nehme. Ist das Geschütz einmal gegossen, so wird die Seele sorgfältig ausgefeilt und kalibrirt, daß die Kugel nicht Luft habe; so wird kein Gas verloren, und die ganze Ausdehnungskraft des Pulvers wird als treibende Kraft verwendet.

– Hurrah! Hurrah! rief Maston, da haben wir unsere Kanone.

– Noch nicht, erwiderte Barbicane, indem er seinen ungeduldigen Freund mit der Hand beschwichtigte.

– Und warum?

– Weil wir noch nicht ihre Form berathen haben. Soll es eine Kanone, eine Haubitze oder ein Mörser sein?

– Eine Kanone, versetzte Morgan.

– Eine Haubitze, entgegnete der Major.

– Ein Mörser, rief Maston.«

Es wollte sich eben ein neuer lebhafter Streit entspinnen, da jeder seine Lieblingswaffe anpries, als der Präsident ihn kurz abschnitt.

»Meine Freunde, sagte er, ich will Sie alle zufrieden stellen; unsere Columbiade wird von diesen drei Feuerschlünden etwas haben. Eine Kanone wird’s sein, weil ihr Pulverbehälter denselben Durchmesser wie ihr Lauf haben wird; eine Haubitze, weil sie eine Hohlkugel schleudern wird; und ein Mörser, weil sie unter einem Winkel von neunzig Grad aufgeprotzt sein wird, und weil sie, ohne daß ein Rückstoß möglich, unerschütterlich fest im Boden, dem Projectil alle in ihrem Innern gesammelte Treibkraft mittheilen wird.

– Angenommen, angenommen, erwiderten die Mitglieder des Comités.

– Eine einfache Bemerkung, sagte Elphiston; wird die Haubitzen-Mörserkanone gezogen sein?

– Nein, erwiderte Barbicane, nein, wir bedürfen einer enormen Anfangsgeschwindigkeit, und Sie wissen wohl, daß die Kugel aus den gezogenen Kanonen minder rasch herausfährt, als aus denen mit glattem Lauf.

– Richtig!

– Endlich haben wir sie diesmal, wiederholte Maston.

– Noch nicht ganz, erwiderte der Präsident.

– Und warum?

– Weil wir noch nicht wissen, aus welchem Metall sie bestehen soll.

– Bestimmen wir’s unverzüglich.

– Soeben wollte ich einen Vorschlag machen.«

Die vier Comitémitglieder verschlangen jeder ein Dutzend Sandwichs nebst einer Bulle Thee, dann begann die Berathung von Neuem.

»Meine wackeren College«, sagte Barbicane, unsere Kanone muß in hohem Grade zähe, äußerst hart sein, darf bei der Hitze nicht schmelzen, sich auflösen, noch bei der Einwirkung von Säuren verkalken.

– Kein Zweifel in dieser Hinsicht, erwiderte der Major, und da wir eine sehr beträchtliche Quantität Metall haben müssen, so wird uns die Wahl nicht schwer.

– Nun dann schlage ich, sagte Morgan, für unsere Columbiade die beste bis jetzt bekannte Metallmischung vor, nämlich zu hundert Theilen Kupfer, zwölf Zinn und sechs Messing.

– Meine Freunde, erwiderte der Präsident, ich gebe zu, daß diese Composition vortreffliche Resultate geliefert hat; aber im gegebenen Fall würde sie zu kostspielig und sehr schwierig anzuwenden sein. Ich denke daher, man muß einen trefflichen, aber billigen Stoff wählen, wie Gußeisen. Meinen Sie nicht, Major?

– Sie haben vollkommen Recht, erwiderte Elphiston.

– In der That, fuhr Barbicane fort, Gußeisen kostet zehnmal weniger, als Bronze, ist leicht zu gießen, fließt einfach in die Sandformen und läßt sich rasch behandeln; man spart also dabei Zeit und Geld zugleich. Zudem ist’s ein vortrefflicher Stoff; ich erinnere mich, daß während des Kriegs, bei der Belagerung von Atlanta, gußeiserne Geschütze von fünf zu fünf Minuten je tausend Schüsse gethan haben, ohne dabei Schaden zu leiden.

– Doch das Gußeisen zerspringt leicht, erwiderte Morgan.

– Ja; aber es hat auch große Widerstandskraft; übrigens will ich dafür stehen, daß es uns nicht zerspringen wird.

– Es kann auch einem wackern Mann etwas zerspringen, entgegnete Maston bedeutsam.

– Unstreitig, erwiderte Barbicane. Ich möchte nun unseren würdigen Secretär bitten, das Gewicht einer Kanone von Gußeisen auszurechnen, die neunhundert Fuß lang ist, einen inneren Durchmesser von neun Fuß, und sechs Fuß dicke Wände hat.

– Sogleich, erwiderte J. T. Maston.

Und er brachte, wie am Abend zuvor, mit erstaunlicher Leichtigkeit seine Formeln zu Papier, und sagte nach Verlauf einer Minute:

»Diese Kanone wird achtundsechzigtausendundvierzig Tonnen wiegen (= achtundsechzig Millionen vierzigtausend Kilo).«

– Und was wird sie kosten, das Pfund zu zwei Cent (= zehn Centimes)?

»Zwei Millionen fünfhundertundzehntausend siebenhundertundein Dollars (= dreizehn Millionen sechshundertundachttausend Francs)!«

Maston, der Major und der General blickten mit besorgter Miene auf Barbicane.

»Nun, meine Herren!« sagte der Präsident, »ich wiederhole Ihnen, was ich gestern sagte, seien Sie unbesorgt, an Millionen wird’s nicht mangeln!«

Auf diese Versicherung seines Präsidenten ging das Comité auseinander, nachdem es den folgenden Abend für die dritte Sitzung bestimmt hatte.

Erstes Capitel.

Erstes Capitel.

Der Gun-Club

Während des Bundeskriegs der Vereinigten Staaten bildete sich zu Baltimore in Maryland ein neuer Club von großer Bedeutung. Es ist bekannt, wie energisch sich bei diesem Volk von Rhedern, Kaufleuten und Mechanikern der militärische Instinct entwickelte. Einfache Kaufleute brauchten nur in ihrem Comptoir auf- und abzuschreiten, um unversehens Hauptleute, Obristen, Generäle zu werden, ohne die Militärschule zu Westpoint durchzumachen; bald standen sie in der »Kriegskunst« ihren Collegen der Alten Welt nicht nach und verstanden gleich diesen durch Vergeuden von Kugeln, Millionen und Menschen Siege zu gewinnen.

Aber in der Ballistik übertrafen sie die Europäer ganz außerordentlich. Sie fertigten Geschütze nicht allein von höchster Vollkommenheit, sondern auch von ungewöhnlicher Größe, die folglich eine noch unerhörte Tragweite haben mußten. In Beziehung auf rasante und Breche-Schüsse, Schüsse in schiefer, in gerader Richtung oder vom Rücken her – kann man die Engländer, Franzosen, Preußen nichts mehr lehren; aber ihre Kanonen, Haubitzen und Mörser sind nur Sackpistolen gegen die fürchterlichen Maschinen der amerikanischen Artillerie.

Das ist aber nicht zum Verwundern. Die Jankees, die ersten Mechaniker auf der Welt, sind geborene Ingenieure, wie die Italiener Musiker, die Deutschen Metaphysiker. Ganz natürlich, daß sich ihre kühne Genialität in ihrer Geschützkunde zu erkennen gab. Daher jene Riesenkanonen, die zwar weit weniger nützen, als die Nähmaschinen, doch ebenso viel Staunen, und noch mehr Bewunderung erregen. Bekannt sind von solchen Wunderwerken die Parott, Dahlgreen, Rodman. Die Armstrong, Palliser, Treuille de Beaulieu mußten vor ihren überseeischen Rivalen die Segel streichen.

Daher standen denn auch während des fürchterlichen Kampfes der Nord- und Südstaaten die Artilleristen im allerhöchsten Ansehen; die Journale der Union priesen ihre Erfindungen mit Enthusiasmus, und es gab keinen armseligen Krämer, keinen einfältigen Buben, der sich nicht den Kopf zerbrach mit unsinnigen Schußberechnungen.

Wenn aber einem Amerikaner eine Idee im Kopfe steckt, so sucht er sich einen zweiten Amerikaner, um sie zu theilen. Sind ihrer drei, so wählen sie einen Präsidenten und zwei Secretäre; vier, so ernennen sie einen Archivisten, und das Bureau tritt in Wirksamkeit. Bei fünfen berufen sie eine Generalversammlung, und der Club ist fertig. So ging’s auch zu Baltimore. Einer erfand eine Kanone, associirte sich mit Einem, der sie goß, und einem Anderen, der sie bohrte. Aus einem solchen Kern erwuchs auch der Gun-Club. Einen Monat nach seiner Bildung zählte er 1833 wirkliche Mitglieder und 30.575 correspondirende.

Unerläßliche Bedingung für jedes Mitglied des Clubs war, daß man eine Kanone, oder mindestens irgend eine Feuerwaffe, erfunden, oder doch verbessert hatte. Aber, offen gesagt, die Erfinder von Revolvern zu fünfzehn Schuß, von Pivot-Karabinern oder Säbelpistolen genossen kein großes Ansehen. Die Artilleristen behaupteten in jeder Hinsicht den ersten Rang.

»Die Achtung, welche sie genießen«, sagte einmal einer der gescheitesten Redner des Gun-Clubs, »steht im Verhältniß zur Masse ihrer Kanonen, und zwar nach directem Maßstab des Quadrats der Distanzen, welche ihre Geschosse erreichen!«

Noch etwas mehr, das Newton’sche Gravitationsgesetz verpflanzte sich in die moralische Welt.

Man kann sich leicht vorstellen, was, nachdem der Gun-Club einmal gegründet war, das erfinderische Genie der Amerikaner in dieser Gattung zu Tage förderte. Die Kriegsmaschinen nahmen einen kolossalen Maßstab an, und die Geschosse flogen weit über die ihnen gesteckten Schranken hinaus, um harmlose Spaziergänger zu zerreißen. Alle diese Erfindungen ließen die schüchternen Werkzeuge der europäischen Artillerie weit hinter sich. Man urtheile aus folgenden Zahlen.

Einst »wenn’s gut ging« vermochte ein Sechsunddreißigpfünder in einer Entfernung von dreihundert Fuß sechsunddreißig Pferde von der Seite her zu durchbohren, und dazu achtundsechzig Mann. Die Kunst lag damals noch in der Wiege. Seitdem hat sie Fortschritte gemacht. Die Rodman-Kanone, die eine Kugel von einer halben Tonne sieben (engl.) Meilen weit schleuderte, hätte leicht hundertundfünfzig Pferde und dreihundert Mann niedergeworfen. Es war im Gun-Club gar die Rede davon, eine förmliche Probe damit anzustellen. Aber, ließen sich’s auch die Pferde gefallen, das Experiment zu machen, an Menschen fehlte es leider.

Wie dem auch sei, diese Kanonen leisteten Mörderisches, und bei jedem Schuß fielen die Menschen, wie die Aehren unter der Sense. Was wollte neben solchen Geschossen die berühmte Kugel zu Coutras bedeuten, welche im Jahre 1587 fünfundzwanzig Mann kampfunfähig machte, und die andere, welche bei Zorndorf 1758 vierzig Mann tödtete, und 1742 bei Kesselsdorf die österreichische, die bei jedem Schuß siebenzig Feinde niederwarf? Was war dagegen das erstaunliche Geschützfeuer bei Jena und Austerlitz, das die Schlachten entschied? Da gab’s während des Bundeskriegs ganz andere Dinge zu schauen! Bei Gettysburg traf ein kegelförmiges Geschoß aus einer gezogenen Kanone dreiundsiebenzig Feinde, und beim Uebergang über den Potomak beförderte eine Rodmankugel zweihundertfünfzehn Südländer in eine ohne Zweifel bessere Welt. So verdient auch ein fürchterlicher Mörser, den J. T. Maston, ein hervorragendes Mitglied und beständiger Secretär des Gun-Clubs, erfand, erwähnt zu werden; seine Wirkung war noch mörderischer, denn beim Probiren tödtete er dreihundertsiebenunddreißig Personen – freilich, beim Zerspringen!

Diese Zahlen sprechen beredt ohne Commentar. Auch wird man ohne Widerrede die folgende, vom Statistiker Pitkairn aufgestellte Berechnung gelten lassen: dividirt man die Anzahl der durch die Kugeln gefallenen Opfer mit der Zahl der Mitglieder des Gun-Clubs, so ergiebt sich, daß auf Rechnung jedes Einzelnen des letzteren durchschnittlich 2375 Mann kommen, nebst einem Bruchtheil.

Nimmt man diese Ziffern in Erwägung, so ist’s augenscheinlich, daß das Trachten dieser gelehrten Gesellschaft einzig auf Menschenvertilgung zu philanthropischem Zweck, und auf Vervollkommnung der Kriegswaffen als Civilisationsmittel gerichtet war. Es war ein Verein von Würgengeln, sonst die besten Menschenkinder auf der Welt.

Diese Yankees, muß man weiter anführen, von erprobter Tapferkeit, ließen’s nicht beim Reden bewenden, und traten persönlich ein. Man zählte unter ihnen Officiere jedes Grades vom Lieutenant bis zum General, Militärpersonen jedes Alters, Anfänger im Kriegsdienst und bei der Lafette ergraute Männer. Manche fielen auf der Wahlstatt und ihre Namen wurden in’s Ehrenbuch des Gun-Clubs eingetragen, und von denen, welche davonkamen, trugen die meisten Beweise ihrer unzweifelhaften Unerschrockenheit an sich. Krücken, hölzerne Beine, gegliederte Arme, Hacken statt der Hände, Kinnbacken von Kautschuk, Schädel von Silber, Nasen von Platina, nichts mangelte in der Sammlung, und der obgedachte Pitkairn berechnete ebenfalls, daß im Gun-Club nicht völlig ein Arm auf vier Personen kam, und nur zwei Beine auf sechs.

Aber diese wackeren Artilleristen machten sich nicht so viel daraus, und sie waren mit Recht stolz darauf, wenn das Bulletin einer Schlacht zehnmal mehr Opfer anführte, als Geschosse waren abgefeuert worden.

Eines Tags jedoch – ein trauriger, bedauerlicher Tag – unterzeichneten die Ueberlebenden den Frieden, der Geschützesdonner hörte allmälig auf, die Mörser verstummten, die Haubitzen wurden für lange Zeit unschädlich gemacht, und die Kanonen kehrten gesenkten Hauptes in die Arsenale zurück, die Kugeln wurden in den Zeughäusern aufgeschichtet, die blutigen Erinnerungen erblichen, die Baumwollstauden sproßten üppig auf den reich gedüngten Feldern, mit den Trauerkleidern wurde auch der Schmerz abgelegt, und der Gun-Club versank in vollständige Unthätigkeit.

– Trostlos! sagte eines Abends der tapfere Tom Hunter, während seine hölzernen Beine am Kamin verkohlten: »Nichts mehr zu thun! nichts mehr zu hoffen! Welch langweiliges Leben! O goldene Zeit, da einst jeden Morgen lustiger Kanonendonner uns weckte!

– Die Zeit ist hin! erwiderte der muntere Bilsby. Das war eine Lust! Man erfand seinen Mörser, und war er gegossen, so probirte man ihn vor’m Feind; dann begab man sich wieder in’s Lager mit einer Belobung Sherman’s oder einem Handschlag Mac-Clellan’s! Aber nun sind die Generale wieder auf ihren Comptoirs und versenden harmlose Baumwollenballen! Ja, wahrhaftig, die Artillerie hat in Amerika keine Zukunft mehr!

– Ja, Bilsby, rief der Obrist Blomsberry aus, das sind grausame Täuschungen! Eines Tags verläßt man seine friedlichen Gewohnheiten, übt sich in den Waffen, zieht aus Baltimore in’s Feld, tritt da als Held auf, und zwei, drei Jahre später muß man die Frucht seiner Strapazen wieder verlieren, in leidiger Unthätigkeit einschlafen.

– Und kein Krieg in Aussicht! sagte darauf der berühmte J. T. Maston, und kratzte dabei mit seinem eisernen Haken seinen Guttapercha-Schädel. Kein Wölkchen am Himmel, und zu einer Zeit, da noch so viel in der Artilleriewissenschaft zu thun ist! Da hab‘ ich diesen Morgen einen Musterriß fertig gebracht, sammt Plan, Durchschnitt und Aufriß, für einen Mörser, der die Kriegsgesetze umzuändern bestimmt ist!

– Wirklich? erwiderte Tom Hunter, und dabei fiel ihm unwillkürlich der letzte Versuch des ehrenwerthen J. T. Maston ein.

– Ja, wirklich, entgegnete dieser. Aber wozu nun so viele Studien, das Ueberwinden so vieler Schwierigkeiten? Ist das nicht verlorene Mühe? Die Bevölkerung der Neuen Welt scheint entschlossen zu sein, nun in Frieden zu leben, und unsere kriegerische Tribüne hat bereits Katastrophen in Folge des Anwachsens der Bevölkerung geweissagt!

– Indessen, Maston, fuhr Obrist Blomsberry fort, in Europa giebt’s immer noch Kriege für’s Princip der Nationalitäten!

– Nun denn?

– Nun denn! Da könnte man vielleicht einen Versuch machen, und wenn man unsere Dienste annähme?…

– Was meinen Sie? Ballistik zu Gunsten von Ausländern.

– Besser, als gar nichts damit treiben, entgegnete der Obrist.

– Allerdings, sagte J. T. Maston, es wäre wohl besser, aber an so einen Ausweg darf man nicht einmal denken.

– Und weshalb? fragte der Obrist.

– Weil man in der Alten Welt über das Avancement Ideen hat, die unseren amerikanischen Gewohnheiten schnurstracks zuwider laufen. Die Leute dort meinen, man könne nicht commandirender General werden, wenn man nicht zuvor Unterlieutenant gewesen, was auf dasselbe hinausläuft, als man verstehe nicht, eine Kanone zu richten, wenn man sie nicht selbst gegossen hat! Nun ist aber selbstverständlich . . . 

– Lächerlich! erwiderte Tom Hunter, indem er mit einem Bowie-Messer Schnitte in die Arme seines Lehnsessels machte; und weil dem so ist, so bleibt uns nichts übrig, als Tabak zu pflanzen oder Thran zu sieden!

– Wie? rief J. T. Maston mit laut hallender Stimme, wir sollen unsere letzten Lebensjahre nicht auf die Vervollkommnung der Feuerwaffen verwenden! Es sollte sich keine Gelegenheit mehr ergeben, unsere Geschosse zu probiren! Der Blitz von unseren Kanonen sollte nicht mehr die Luft erhellen! Es sollte sich keine internationale Streitfrage ergeben, die Anlaß gäbe, einer überseeischen Macht den Krieg zu erklären! Sollten nicht die Franzosen eins unserer Dampfboote in Grund bohren, und die Engländer sollten nicht mit Verachtung des Völkerrechts etliche unserer Landsleute hängen!

– Nein, Maston, entgegnete der Obrist Blomsberry, dies Glück wird uns nicht werden! Nein! Kein einziger dieser Fälle wird eintreten, und geschähe es, so würden wir ihn nicht benützen! Das amerikanische Selbstgefühl schwindet von Tag zu Tag, und wir werden zu Weibern!

– Ja, wir sinken herab! erwiderte Bilsby.

– Und man drückt uns herab! entgegnete Tom Hunter.

– Dies Alles ist nur allzu wahr, erwiderte J. T. Maston mit erneuter Heftigkeit. Tausend Gründe, sich zu schlagen, lassen sich aus der Luft greifen, und man schlägt sich nicht! Man will Arme und Beine schonen, und das zu Gunsten von Leuten, die nichts damit anzufangen wissen! Und, denken Sie, man braucht einen Grund zum Krieg nicht so weit herzuholen: hat nicht Nord-Amerika einst den Engländern gehört?

– Allerdings, erwiderte Tom Hunter, indem er mit seiner Krücke das Feuer schürte.

– Nun denn! fuhr J. T. Maston fort, warum sollte nicht England einmal an die Reihe kommen, den Amerikanern zu gehören?

– Das wäre nur recht und billig, erwiderte lebhaft der Obrist Blomsberry.

– Machen Sie einmal dem Präsidenten der Vereinigten Staaten den Vorschlag, rief J. T. Maston, und Sie werden sehen, wie er Sie empfangen wird!

– Gewiß wohl schlecht, brummte Bilsby zwischen den Zähnen, die er noch hatte.

– Meiner Treu! rief J. T. Maston, auf meine Stimme hat er nicht mehr zu rechnen!

– Auch auf die unsrigen nicht, erwiderten einstimmig die kriegerischen Invaliden.

– Unterdessen, erwiderte J. T. Maston zum Schluß, giebt man mir nicht Gelegenheit, meinen neuen Mörser auf einem wirklichen Schlachtfeld zu probiren, so trete ich aus dem Gun-Club und vergrabe mich in den Savannen von Arkansas!

– Da gehen wir mit, erwiderten die Genossen des kühnen J. T. Maston.

So standen die Dinge, die Geister erhitzten sich, und der Club war mit naher Auflösung bedroht, als ein unerwartetes Ereigniß dazwischen kam. Tags nach dieser Unterredung erhielt jedes Mitglied der Gesellschaft ein folgendermaßen abgefaßtes Circular:

Baltimore, 3, October.

»Der Präsident des Gun-Clubs beehrt sich seine Collegen zu benachrichtigen, daß er in der Sitzung am 5. d. eine Mittheilung zu machen hat, welche sie lebhaft interessiren wird. Demnach bittet er sie, ungesäumt der im Gegenwärtigen enthaltenen Einladung zu folgen.

Mit herzlichem Gruß

Impey Barbicane, Präsident.«

IX.

IX.

Untersuchung der Höhle. – Möbel und Geräthe. – Die Bolas und der Lasso. – Die Uhr. – Ein fast unleserliches Heft. – Die Karte des Schiffbrüchigen. – Wo man sich befindet. – Rückkehr nach dem Lager. – Das rechte Ufer des Rio. – Das Schlammloch. – Gordon’s Signal.

———

Briant, Doniphan, Wilcox und Service bewahrten tiefes Stillschweigen. Wer war der Mann, der hier seinen Tod gefunden? War es ein Schiffbrüchiger, dem bis zu seiner letzten Stunde keine Hilfe zutheil geworden? Welcher Nation gehörte er an? War er noch jung nach diesem Lande gekommen? War er erst alt darauf gestorben? Wie hatte er sich die nöthigsten Bedürfnisse verschaffen können? Wenn ein Schiffbruch ihn hierher verschlagen, waren Andere dabei mit dem Leben davon gekommen? Oder war er allein zurückgeblieben, nachdem seine Leidensgefährten vor ihm gestorben? Rührten die verschiedenen in der Höhle befindlichen Gegenstände von einem Schiffe her oder hatte er sie mit eigener Hand hergestellt?

Wie viele Fragen drängten sich hier Jedem unwillkürlich auf, deren Lösung vielleicht niemals gelingen sollte.

Eine derselben schien die wichtigste. Wenn es ein Festland war, auf dem dieser Mann Zuflucht gefunden, warum hatte er nicht eine Stadt des inneren Landes, nicht einen Hafen der Küste aufgesucht? Stellten sich seiner Rückkehr ins Vaterland so schwere Hindernisse entgegen, daß er dieselben nicht zu überwinden vermochte? War die Entfernung eine so große, daß diese jedes derartige Unternehmen vereitelte? Gewiß erschien nur, daß der Unglückliche, geschwächt durch Krankheit oder Alter, hier zusammengesunken war, daß er nicht mehr die Kraft besessen, sich nach seiner Höhle zu schleppen, und daß ihn der Tod am Fuße dieses Baumes ereilt hatte. – Und wenn ihm die Mittel gefehlt hätten, im Norden oder im Osten dieses Gebietes Rettung zu suchen, würden sie dann nicht auch den jungen Schiffbrüchigen vom »Sloughi« fehlen?

Wie dem auch sein mochte, jedenfalls erschien es nothwendig, die Höhle genauer zu untersuchen. Wer weiß, ob sich da nicht vielleicht ein Schriftstück fand, das über diesen Mann, über seine Herkunft und die Dauer seines Verweilens hier, Aufschluß gab. – Andererseits mußte man auch zu erkennen versuchen, ob man sich nach dem Verlassen der Yacht hier für den Winter niederlassen könnte.

»Kommt mit!« sagte Briant.

In Begleitung Phanns drangen sie nun beim Schein eines anderen harzigen Zweiges durch die Oeffnung ein.

Der erste Gegenstand, der ihnen hier auf einem Brett an der Wand in die Augen fiel, erwies sich als ein Paket dicker Kerzen, welche aus Fett und zerfasertem, lose gedrehtem Hanf hergestellt waren. Briant zündete eine derselben an, setzte sie in den hölzernen Leuchter, und die Untersuchung nahm nun ihren weiteren Fortgang.

Vor Allem handelte es sich jetzt um Ergründung der Ausdehnung und Gestalt der Höhle, an deren Bewohnbarkeit nicht zu zweifeln war.

Sie bestand aus einer geräumigen, wahrscheinlich schon seit Urzeiten gebildeten Ausweitung des Kalkfelsens. Von Feuchtigkeit zeigte sich dabei keine Spur, obgleich der Luftwechsel nur durch die einzige, nach dem Uferland zu gelegene Oeffnung stattfinden konnte.

Ihre Wände waren ebenso trocken, als wären sie von Granit aufgemauert gewesen, ohne die Spur jener krystallinischen Infiltrationen – jener Rosenkränze von erstarrten Tropfen, welche in verschiedenen Porphyr- und Basalthöhlen die bekannten Stalactiten bilden. Ihre Lage schützte sie schon allein gegen die Winde vom Meere. Tageslicht drang freilich nur sehr wenig herein, durch Herstellung einer öder zweier Oeffnungen mußte es jedoch leicht sein, diesem Uebelstande abzuhelfen, und auch den Innenraum für das Bedürfniß von fünfzehn Personen hinreichend zu lüften.

Was ihre Ausdehnung anging – fünfundzwanzig Fuß in der Breite und dreißig Fuß der Länge – so erschien diese Höhle zwar zu beschränkt, um gleichzeitig als Schlafraum, Speisekammer und allgemeine Niederlage zu dienen; es handelte sich jedoch nur darum, fünf bis sechs Wintermonate hierin zuzubringen, wonach man nach Nordosten hinausziehen wollte, um eine Stadt in Bolivia oder der Argentinischen Republik aufzusuchen. Sollte es dagegen nothwendig werden, sich hier einzurichten, so konnte man ja versuchen, dadurch mehr Raum zu schaffen, daß man die aus verhältnißmäßig lockerem Kalkstein bestehende Wand weiter aushöhlte, und wie dieses Obdach jetzt sich darbot, durfte man wohl bis zur Wiederkehr der besseren Jahreszeit damit zufrieden sein.

Nachdem er sich davon überzeugt, besichtigte Briant im einzelnen die in derselben vorhandenen Gegenstände. Es waren in der That wenig genug. Dieser Unglückliche mußte fast von Allem entblößt gewesen sein. Was hatte er von seinem Schiffbruche retten können? Nichts als formlose Wrackstücke, zerbrochene Sparren, Theile der Regeling, die ihn zur Herstellung jenes erbärmlichen Lagers, des Tisches, des Koffers, der Bank und jenes Schemels gedient hatten – das einzige Mobiliar dieser Wohnung! Minder begünstigt als die Ueberlebenden vom »Sloughi«, hatte er keine so vollständigen Mittel zur Hand gehabt. Einige Werkzeuge, eine Schaufel, eine Axt, zwei oder drei Küchengeräthe, ein kleines Tönnchen, das wohl Branntwein enthalten haben mochte, ein Hammer, zwei Bankmeißel und eine Säge – das war Alles, was man zunächst vorfand. Diese Gerätschaften hatte er offenbar in dem Boote gerettet, von dem jetzt nur noch wenige Trümmer nahe dem Damme des Rio umherlagen.

Das waren die Gedanken Briant’s, die er seinen Kameraden mittheilte. Nach dem Gefühl des Schauderns, das sie beim Erblicken des Gerippes empfunden und sie daran mahnte, daß ihnen vielleicht ein ähnliches Ende in gleicher Verlassenheit bevorstand, kam ihnen doch der Gedanke, daß ihnen nichts von alledem fehlte, was diesem Unglücklichen gemangelt hatte, und diese Erkenntniß gab ihnen das frühere Vertrauen in die Zukunft wieder.

Doch, wer war nun dieser Mann? Woher stammte derselbe? Zu welcher Zeit hatte er Schiffbruch erlitten? Ohne Zweifel waren viele Jahre seit seinem Ableben verflossen. Der Zustand der am Fuße des Baumes gefundenen Knochen sprach dafür deutlich genug. Wies nicht außerdem das ganz von Rost zerfressene Eisen der Schaufel und des Bootsringes, die Dichtheit des Gebüsches, das den Eingang zur Höhle verdeckte, darauf hin, daß der Tod des Schiffbrüchigen schon vor sehr langer Zeit erfolgt sein mußte?

Sollte nicht ein weiteres Merkzeichen gestatten, diese Vermuthung zur Gewißheit zu erheben?

Bei fortgesetzter Untersuchung wurden in der That noch mehrere Gegenstände gefunden – ein zweites Messer, von dem mehrere Klingen abgebrochen waren, ein Zirkel, ein Siedekessel, ein eiserner Pflock, ein sogenanntes Schließeisen (ein Matrosenwerkzeug), dagegen kein einziges Schiffsinstrument, kein Fernrohr oder Compaß, ebenso keine Feuerwaffe, um Wild erlegen oder sich gegen Raubthiere oder Eingeborne vertheidigen zu können.

Da er nun doch hatte leben müssen, war jener Mann gewiß gezwungen gewesen, Fallen zu stellen. Ueber diesen Punkt erhielten sie noch einige Aufklärung, als Wilcox rief:

»Was ist denn das?

– Ja, das hier? fragte auch Service.

– Ein Kugelspiel?« sagte Briant nicht ohne Verwunderung.

Er erkannte jedoch sofort, welchem Zwecke die zwei runden Steine gedient hatten, die Wilcox eben aufhob. Sie bildeten ein Jagdgeräth und zwar sogenannte »Bolas«, welche aus zwei durch einen Strick verbundenen Kugeln bestehen und die von den Indianern Südamerikas vielfach gebraucht werden. Schleuderte eine geübte Hand diese Kugeln, so schlingen dieselben sich um die Füße des betreffenden Thieres, das dadurch eine leichte Beute des Jägers wird, weil es kaum mehr weiter fort kann.

Unzweifelhaft hatte der Bewohner dieser Höhle das genannte Geräth hergestellt, ebenso wie einen Lasso, das heißt einen langen Lederstreifen, der ganz so wie die Bolas nur auf kürzere Entfernung verwendet wurde.

Das war Alles, was sich von Gegenständen jeder Art in der Höhle vorfand, und in dieser Beziehung mußten sich Briant und seine Kameraden wirklich reich dünken. Freilich waren sie nur Kinder und jener war ein Mann gewesen.

Ob dieser Mann aber ein einfacher Matrose oder ein Officier gewesen war, der sich seine durch früheres Studium erworbenen Kenntnisse hier hatte zu nutze machen können, das hätte sich sehr schwierig entscheiden lassen, wenn nicht noch ein Schriftstück entdeckt worden wäre, welches nach dieser Seite eine unerwartet sichere Auskunft lieferte.

Am Kopfende des Lagers und unter einer Falte der von Briant zurückgeschlagenen Decke fand Wilcox eine Uhr, welche an einem in der Wand eingeschlagenen Nagel hing.

Die Uhr war von ziemlich feiner Arbeit und jedenfalls von besserer Art, als sie die Matrosen zu tragen pflegen. Sie hatte eine doppelte silberne Cüvette, an der mittels einer Kette aus demselben Metall noch der Uhrschlüssel hing.

»Die Stunde! … Seht nach, welche Stunde sie zeigt! rief Service.

– Daraus würden wir auch nichts lernen, erwiderte Briant, auf jeden Fall ist diese Uhr schon mehrere Tage vor dem Ableben des Unglücklichen stehen geblieben.«

Mit einiger Mühe öffnete Briant den Deckel, dessen Gelenk ebenfalls oxydirt war, und konnte nun sehen, daß die Weiser auf drei Uhr siebenundzwanzig Minuten zeigten.

»Jede Uhr, bemerkte Doniphan, trägt aber einen Namen … Das könnte uns darüber aufklären …

– Ja, Du hast Recht,« antwortete Briant.

Nachdem er das Innere des Deckels gemustert, konnte er einige eingravirte Worte lesen.

»Delpeuch, Saint-Malo« – lauteten sie, der Name und die Adresse des Fabrikanten.

»Es ist ein Franzose, ein Landsmann von mir gewesen!« rief Briant gerührt.

Es war nach Allem wohl anzunehmen, daß in dieser Höhle ein Franzose bis zu der Stunde gelebt hatte, wo der Tod ihn endlich von seinen Leiden erlöste.

Zu diesem Beweise kam bald noch ein anderer nicht minder entscheidender, als Doniphan, der das Lager etwas abgerückt hatte, von der Erde ein Schreibheft aufnahm, dessen vergilbte Blätter mit Bleistiftzeichen bedeckt waren. Leider war der größte Theil derselben unleserlich geworden. Einige Worte ließen sich jedoch entziffern und unter diesen der Name François Baudoin.

Das stimmte überein mit den beiden großen Buchstaben, welche in den Baum eingeschnitten waren. Dieses Heft war das Tagebuch seines Lebens gewesen und wohl von dem Zeitpunkt ab, da er an der Küste scheiterte. Unter den von der langen Zeit noch nicht völlig verlöschten Schriftzügen vermochte Briant auch noch die Worte »Duguay-Trouin« zu entziffern, offenbar der Name des Schiffes, das in dieser verlassenen Gegend des Stillen Weltmeeres einst zu Grunde gegangen war.

Ganz zu Anfang endlich stand eine Jahreszahl, dieselbe, welche unter den Anfangsbuchstaben » F. B.« zu lesen war, die wahrscheinlich das Jahr des Schiffbruches bezeichnete.

Es waren also dreiundfünfzig Jahre verflossen, seit François Baudoin an dieses Gestade gekommen war, und während der ganzen Dauer seines Aufenthaltes hier hatte er von außen keine Hilfe gefunden!

Wenn es aber François Baudoin nicht gelungen war, nach einem anderen Orte dieses Festlandes zu kommen, so mußten sich dem wohl unübersteigliche Hindernisse entgegengestellt haben.

Mehr als je trat den jungen Leuten jetzt der Ernst ihrer Lage vor Augen. Wie würden sie das Ziel erreichen, welches selbst ein Mann, ein Seefahrer, der an harte Arbeit gewöhnt und durch Anstrengungen gestählt war, das nicht vermocht hatte? Noch ein anderer Fund sollte ihnen da lehren, daß jeder Versuch, dieses Land zu verlassen, ein vergeblicher sein müsse.

Beim Durchblättern jenes Heftes entdeckte Doniphan noch ein lose zusammengefaltetes Stück Papier. Es war eine Landkarte, gezeichnet mit einer Art Tinte, welcher Jener sich wahrscheinlich aus Wasser und Ruß gemischt hatte.

»Eine Karte! rief er.

– Welche François Baudoin jedenfalls selbst gezeichnet hat, antwortete Briant.

– Wenn das der Fall ist, so könnte dieser Mann kein gewöhnlicher Matrose gewesen sein, bemerkte Wilcox, sondern einer der Officiere des »Duguay-Trouin«, da er im Stande war, eine Karte zu entwerfen …

– Wäre das vielleicht gar eine Karte des? …« rief Doniphan.

Ja, es war eine Karte dieses Landes. Auf den ersten Blick erkannte man auf derselben die »Sloughi-Bai«, den Klippengürtel, den Strand, auf welchem sich ihr Lager zum Theil jetzt befand, den See, an dessen westlichem Ufer Briant mit seinen Kameraden herabgezogen war, die drei Eilande draußen im Meere, das Steilufer, das sich am Rande des Rio hin erstreckte, und die Wälder, von denen das ganze Gebiet des Innern bedeckt war.

Jenseits des entgegengesetzten Seeufers befanden sich noch andere Wälder, die sich bis zum Rande einer anderen Uferstrecke ausdehnten und dieses Ufer … begrenzte das Meer an seinem ganzen Umkreise.

Damit fielen also alle Pläne, nach Osten zu ziehen, um in dieser Richtung Rettung zu suchen, in sich zusammen!

Briant hatte damit gegen Doniphan Recht behalten!

Das Meer umrahmte von allen Seiten dieses vermuthete Festland! Es war eine Insel, und deshalb hatte François Baudoin von hier nicht wieder fortkommen können.

Auf der vorgefundenen Landkarte war es leicht zu erkennen, daß die allgemeinen Umrisse der Insel mit ziemlicher Genauigkeit wiedergegeben waren. Die Längenmaße konnten natürlich nur durch Schätzung gewonnen sein, vielleicht nach der zum Begehen derselben verwendeten Zeit und nicht durch die sonst übliche Triangulation; doch nach dem zu urtheilen, was Briant und Doniphan schon von dem Theile des Gebietes zwischen der Sloughi-Bai und dem See kannten, konnten die etwaigen Irrthümer nicht beträchtlich sein.

Die Karte selbst bewies ferner, daß der Schiffbrüchige seine ganze Insel durchmessen haben mußte, weil er auf derselben die hauptsächlichsten geographischen Einzelheiten eingezeichnet hatte, und ohne Zweifel waren die Ajoupa wie der Plattenweg über den Creek sein eigenstes Werk.

Wir geben hier die Gestalt der Insel wieder, wie François Baudoin sie auf seiner Karte entworfen hatte.

Sie dehnte sich demnach ziemlich lang aus und ähnelte einem ungeheueren Schmetterlinge. Im mittleren Theile, zwischen der Sloughi-Bai und einer im Osten ziemlich tief einschneidenden anderen, verhältnißmäßig schmalen, bildete sie nach Süden zu noch eine dritte, weithin offene Bai. Ganz umrahmt von dichtem Waldbestand, dehnte sich der Binnensee bei einer Länge von achtzehn Meilen bis auf fünf Meilen Breite aus – womit sich genügend erklärte, daß Briant, Doniphan, Service und Wilcox von dessen westlichem Ufer aus das nördliche, südliche und östliche Ufer nicht hatte erblicken können, so daß sie denselben im ersten Augenblick für das Meer ansahen. Mehrere Rios flossen aus dem See ab, und derjenige, welcher vor der Höhle vorbeiströmte, ergoß sich nahe dem Lagerplatze in die Sloughi-Bai.

Die einzige, etwas bedeutende Höhe der Insel schien das Steilufer zu sein, das sich in schräger Richtung von dem Vorgebirge im Norden der Bai bis zum rechten Ufer des Rio fortsetzte. Den nördlichen Theil des Landgebietes bezeichnete die Karte als dürr und sandig, während sich an der anderen Seite des Rio ein ausgedehnter Sumpf ausstreckte, der sich nach Süden zu in einer scharfen Spitze fortsetzte. Im Nordosten und Südosten schlossen sich lange Dünenlinien aneinander, welche diesem Theil des Uferlandes ein von dem der Sloughi-Bai sehr abweichendes Aussehen verliehen.

Nach dem am Fuße der Karte eingezeichneten Maßstabe betrug die größte Länge der Insel von Norden nach Süden ungefähr fünfzig Meilen, und fünfundzwanzig Meilen, in der Breite von Osten nach Westen. Mit Einrechnung der größeren Unregelmäßigkeiten ihrer Küstenlinie mochte sich der Umfang auf etwa hundertfünfzig Meilen belaufen.

Was nun die Gruppe Polynesiens anging, der diese Insel zugehörte, und ob sie inmitten des Stillen Oceans vereinzelt liege oder nicht, darüber konnte man unmöglich zu begründeten Vermuthungen gelangen.

Auf jeden Fall aber sahen sich die Schiffbrüchigen vom »Sloughi« vor die Notwendigkeit gestellt, zu einer dauernden, nicht zu einer zeitweiligen Ansiedlung zu schreiten. Da die Höhle ihnen nun eine vortreffliche Unterkunft bot, so mußte das gesammte Material hierher übergeführt werden, ehe die ersten Winterstürme die Zerstörung des »Sloughi« vollendeten.

Jetzt galt es nun, ohne Verzug zum Lagerplatze zurückzukehren. Gordon mußte, da schon drei Tage seit dem Weggange Briant’s und seiner Kameraden verstrichen waren, sehr beunruhigt sein und konnte wohl fürchten, daß ihnen ein Unfall zugestoßen wäre.

Auf Briant’s Rath wurde denn beschlossen, den Rückmarsch noch am nämlichen Tage um elf Uhr Vormittags anzutreten. Es wäre unnütz gewesen, das Steilufer zu erklimmen, da die Karte erkennen ließ, daß der kürzeste Weg am rechten Ufer des von Osten nach Westen verlaufenden Rio hinführte. Hier trennten sie nur höchstens sieben Meilen von der Bai, und diese konnten in wenigen Stunden zurückgelegt werden.

Bevor sie jedoch aufbrachen, wollten die Knaben dem schiffbrüchigen Franzosen noch die letzten Ehren erweisen. Mittels der Schaufel hoben sie ein Grab am Fuße des Baumes aus, in den François Boudoin die Anfangsbuchstaben seines Namens eingeschnitten hatte, und bezeichneten die Stelle überdies mit einem hölzernen Kreuze.

Nach Beendigung dieser Aufgabe der Pietät kehrten alle Vier nach dem Eingange der Höhle zurück, den sie verschlossen, um dem Eindringen von Thieren zu wehren. Dann verzehrten sie ihre letzten Mundvorräthe und gingen längs des Steilufers auf dem Landstreifen rechts des Flusses hin. Eine Stunde später gelangten sie nach der Stelle, wo die Kalkfelsmasse sich davon entfernte und schräg nach Nordwesten weiterlief.

So lange sie dem Flußufer folgten, kamen sie ziemlich rasch vorwärts, da der Weg neben diesem durch Bäume, Gebüsche und Gräser nur wenig behindert war.

In der Voraussicht, daß der Rio als vermittelndes Glied zwischen dem Binnensee und der Sloughi-Bai diente, behielt Briant diesen unausgesetzt im Auge. Es schien ihm, als ob auf seinem Oberlaufe ein Boot oder ein Floß bequem an Zugleinen geschleppt oder mittelst Stangen fortgestoßen werden könne, was die Fortschaffung des Materials ganz besonders erleichtern mußte, wenn man die Fluth benützte, deren Wirkung sich bis zum See hin bemerkbar machte. Von Wichtigkeit war dabei nur, daß der Wasserlauf nicht durch Stromschnellen unterbrochen oder stellenweise zu seicht und zu schmal würde, um fahrbar zu sein. Davon zeigte sich jedoch nichts; auf eine Strecke von drei Meilen von seinem Austritte am Seeufer an schien der Rio eine vortreffliche Schiffbarkeit zu versprechen.

Um vier Uhr Nachmittags mußten sie jedoch das Flußufer verlassen. An das rechte Ufer schloß sich nämlich eine breite und weiche Schlammlache, worüber und in welche sie sich nicht ohne Gefahr wagen konnten. Es erschien also am räthlichsten, geraden Wegs durch den Wald vorzudringen.

Den Compaß in der Hand, wandte sich Briant daher nach Nordwesten, um die Sloughi-Bai auf kürzestem Wege zu erreichen. Hierbei gab es freilich beträchtliche Verzögerungen, denn das üppig wuchernde hohe Gras bildete auf dem Erdboden wirkliche Dickichte; dazu wurde es unter dem Zweiggewölbe der Birken fast schon mit dem Niedergange der Sonne sehr dunkel. Zwei Meilen wanderten sie so unter recht erschwerenden Umständen hin. Nach Umgehung der weit nach Norden einschneidenden Schlammlache hätte es sich gewiß am meisten empfohlen, das Bett des Rio wieder aufzusuchen, der ja nach der Karte in der Sloughi-Bai ausmündete. Der Umweg erschien Briant und Doniphan aber so bedeutend, daß sie nicht die Zeit damit verlieren wollten. So zogen sie also unter dem Gehölz immer weiter, leider nur, um sich um sieben Uhr zu überzeugen, daß sie sich verirrt hatten.

Sollten sie nun gezwungen sein, die Nacht unter den Bäumen zuzubringen? Das wäre ja nicht allzu schlimm gewesen, wenn es ihnen nicht gerade an Nahrungsmitteln gefehlt hätte, als der Hunger sich bei Allen recht dringend meldete.

»Nur vorwärts! mahnte Briant. Wenn wir nach Westen wandern, müssen wir auf den Lagerplatz treffen …

– Wenigstens, wenn die Karte keine falschen Angaben enthält, antwortete Doniphan, und jener Rio derselbe ist, der sich in die Bai ergießt.

– Warum sollte diese Karte unzuverlässig sein, Doniphan?

– Und warum sollte sie es nicht sein, Briant?«

Man sieht, daß Doniphan, der sein Mißgeschick noch nicht verdaut hatte, hartnäckig die Ansicht vertrat, der Landkarte des Schiffbrüchigen nur ein bedingtes Vertrauen zu schenken. Er hatte damit übrigens Unrecht, denn bezüglich des schon untersuchten Theiles der Insel mußte er deren Genauigkeit ja selbst zugestehen.

Briant hielt es für nutzlos, hierüber weiter zu streiten, und ging kurz entschlossen weiter.

Um acht Uhr konnte man gar nichts mehr erkennen, so tief war die Dunkelheit geworden. Und noch immer erreichte man nicht die Grenze dieses schier endlosen Waldes.

Plötzlich gewahrte Briant durch eine Lichtung der Bäume einen hellen Schein, der sich im Luftraume verbreitete.

»Was war denn das? fragte Service.

– Doch wohl eine Sternschnuppe, meinte Wilcox.

– Nein, das war eine Rakete, erklärte Briant, eine Rakete, welche vom »Sloughi« aus aufgeschossen worden ist.

– Und demnach ein Signal Gordon’s! … rief Doniphan, der dasselbe schon durch einen Flintenschuß beantwortete.

Nachdem man sich als Richtungspunkt einen Stern vermerkt, als eine zweite Rakete durch die Finsterniß aufstieg, hielten sich Briant und seine Gefährten nach diesem Leitungspunkte und trafen drei Viertelstunden später richtig am »Sloughi« ein.

Wirklich hatte Gordon aus Besorgniß, daß sie sich verirrt haben könnten, den Gedanken gehabt, einige Raketen abzubrennen, um ihnen die Lage des Schooners anzuzeigen.

Eine vortreffliche Idee, ohne welche Briant, Doniphan, Wilcox und Service diese Nacht von den überstandenen Mühsalen nicht hätten auf den Lagerstätten des »Sloughi« ausruhen können.

V.

V.

Insel oder Festland? – Ein Ausflug. – Briant zieht allein aus. – Die Amphibien. – Schaaren von Plattfischen. – Frühstück. – Von der Höhe des Vorgebirges. – Die drei Eilande im offenen Meere. – Eine blaue Linie am Horizont. – Rückkehr zum »Sloughi«.

———

Insel oder Festland? – Das blieb noch immer die wichtige Frage, mit der sich Briant, Gordon und Doniphan, ihrem Charakter und ihrer Intelligenz nach die natürlichen Häupter dieser kleinen Welt, unausgesetzt beschäftigten. Bei dem Gedanken an die Zukunft, während die Kleinen nur der Gegenwart lebten, sprachen sie sehr oft über diesen Gegenstand. Ob dieses Land aber einer Insel oder einem Continente angehörte, jedenfalls lag es nicht innerhalb der Tropenzone; das bewies seine Pflanzenwelt, der Bestand an Eichen, Buchen, Birken, Weiden, Fichten und Tannen verschiedener Art, das zeigte sich an den zahlreichen Myrtaceen oder Steinbrecharten, welche als Bäume oder Gebüsche im mittleren Theile des Stillen Oceans nicht vorkommen. Es schien sogar, als liege dieses Gebiet in etwas höherer Breite, also näher dem Südpole, als Neuseeland, weshalb zu befürchten war, daß der Winter hier mit großer Strenge auftreten würde. Schon bedeckte eine dicke Lage welker Blätter den Boden der Gehölze, die sich am Fuße des Steilufers hinzogen. Nur die Tannen und Fichten hatten ihren Nadelschmuck bewahrt, der sich von Jahr zu Jahr erneuert, ohne jemals ganz abzufallen.

»Aus diesem Grunde, bemerkte Gordon am nächsten Tage nach der Festlegung des »Sloughi« auf dem Strande, erscheint es mir rathsam, daß wir uns nicht endgiltig auf diesem Theile der Küste ansiedeln.

– Das mein‘ ich auch, ließ Doniphan sich vernehmen. Doch wenn wir die schlechte Jahreszeit herankommen lassen, wird es zu spät sein, einen bewohnten Ort auszusuchen, wenigstens wenn wir Hunderte von Meilen bis dahin zurückzulegen haben.

– Geduld, Geduld! erwiderte Briant. Noch sind wir erst in der Mitte des März!

– Nun, entgegnete Doniphan, die gute Witterung mag bis Ende April dauern, und binnen sechs Wochen ist ein gutes Stück Wegs zu überwinden.

– Vorausgesetzt, daß es überhaupt einen Weg gibt, meinte Briant.

– Und warum sollt‘ es keinen geben?

– Natürlich, fiel Gordon ein. Doch wenn es einen giebt, wissen wir auch, wohin er führen wird?

– Ich sehe nur das Eine, erwiderte Doniphan, daß es eine große Thorheit wäre, vor Eintritt der Kälte und der Regenzeit den Schooner nicht verlassen zu haben, und schon aus diesem Grunde darf man nicht bei jedem Schritte neue Schwierigkeiten wittern.

– Es ist stets besser, diese scharf ins Auge zu fassen, versetzte Briant, als sich gleich Narren in ein Land hineinzuwagen, das man nicht kennt.

– Und es ist sehr leicht, erklärte Doniphan herausfordernd, Diejenigen Narren zu nennen, welche nicht Eurer Ansicht sind!«

Vielleicht hätte diese Antwort Doniphan’s wieder scharfe Gegenreden seines Kameraden hervorgerufen und das Gespräch in eine Zänkerei ausarten lassen, da trat Gordon vermittelnd dazwischen.

»Es nützt nichts, mit einander zu streiten, sagte er, und um sich in schlimmer Lage zu helfen, gilt es zuerst sich zu verständigen. Doniphan hat damit recht, zu sagen, daß wir, wenn ein bewohntes Land in unserer Nachbarschaft liegt, ungesäumt dahin aufbrechen sollten. Ist das aber anzunehmen? antwortet dagegen Briant, und er hat nicht unrecht, so zu antworten.

– Was zum Teufel! rief Doniphan hitziger. Sieh, Gordon, wenn wir nach Norden hinaufziehen, nach Süden hinunterwandern, wenn wir uns nach Osten hinwenden, so müssen wir schließlich ans Ziel kommen …

– Ja, sobald wir uns auf einem Festlande befinden, unterbrach ihn Briant, nicht aber, wenn wir auf einer Insel sind und diese unbewohnt ist.

– Doch eben deshalb gilt es, sich zu überzeugen, woran wir sind, erwiderte Gordon. Was aber das Verlassen des »Sloughi« betrifft, ohne uns darüber vergewissert zu haben, ob auch im Osten ein Meer sich befindet … – O, der wird uns schon selbst verlassen! rief Doniphan, wie immer auf seiner einmal gefaßten Ansicht bestehend. Auf diesem Strande wird er dem Ansturm des Wetters in der schlechten Jahreszeit doch nicht widerstehen können.

– Das geb‘ ich zu, meinte Gordon, und doch müssen wir vor einem Auszuge nach dem Innern wissen, wohin wir gehen.«

Gordon’s Einwürfe erschienen so berechtigt, daß Doniphan sich ihnen wohl oder übel fügen mußte.

»Ich bin bereit, auf Kundschaft auszuziehen, meldete sich Briant.

– Ich ebenfalls, schloß sich Doniphan an.

– Wir Alle sind gewiß dazu bereit, meinte Gordon; es wäre jedoch sehr unklug, auch die Kleinen bei einem solchen möglicherweise langen und beschwerlichen Zuge mitzunehmen; zwei bis drei von uns werden, denk‘ ich, genug sein?

– Es ist sehr bedauerlich, äußerte Briant, daß sich hier keine beträchtlichere Anhöhe findet, von deren Gipfel aus man Umschau halten könnte. Leider befinden wir uns auf ziemlich niedrigem Lande, und auch von der Seeseite her hab‘ ich, selbst am Horizonte, keinen Berg entdecken können. Hier scheinen andere Höhen, als das schroff ansteigende Ufer im Hintergrunde des Strandes, ganz zu fehlen. Jenseits des letzteren befinden sich sicherlich Wälder, Ebenen und Sümpfe, durch welche der Rio sich hinschlängelt, dessen Ausmündung wir besichtigt haben.

– Und doch wäre es von Nutzen, diese Gegend einmal in Augenschein zu nehmen, warf Gordon ein, ehe wir das Steilufer weiter untersuchen, in dem ich mit Briant vergeblich nach einer Höhle gesucht habe.

– Nun, warum sollen wir uns dann nicht nach dem Norden der Bai begeben? sagte Briant. Ersteigen wir das dortige Vorgebirge, so müßten wir, wie mir scheint, weithin sehen können …

– Ebendaran dachte ich auch, antwortete Gordon. Ja, jenes Cap, welches zwei- bis dreihundert Fuß hoch sein mag, muß das Steilufer überragen.

– Ich erbiete mich, dahin zu gehen … erklärte Briant.

– Wozu aber? warf Doniphan ein. Was wäre von da oben zu sehen?

– Ich meine, den Versuch ist es jedenfalls werth,« erwiderte Briant.

In der That erhob sich am Ende der Bai eine Anhäufung von Felsen, eine Art Hügel, der auf der einen Seite mit schroffer Wand ins Meer abfiel und auf der anderen in das lange Steilufer überzugehen schien. Vom »Sloughi« aus maß die Entfernung dahin längs der Windungen des Strandes höchstens sieben bis acht (englische) Meilen, und nur fünf bis sechs in der Luftlinie. Gordon täuschte sich auch wohl nicht, wenn er die Höhe des Vorgebirges über dem Meere auf dreihundert Fuß abschätzte.

Ob diese Höhe ausreichend war, einen größeren Theil des Hinterlandes zu übersehen? Oder wurde der Ausblick nach Osten hin durch irgend ein Hinderniß beschränkt? Jedenfalls war von dort aus zu erkennen, was jenseits des Vorgebirges lag und ob die Küste sich nach Norden hin unbegrenzt fortsetzte oder ob sich dahinter schon wieder der Ocean ausbreitete. Es empfahl sich also, nach dem Ende der Bai zu gehen und die Anhöhe daselbst zu ersteigen. Lag nach Osten zu ebeneres Land, so mußte man es von jenem Punkte aus auf mehrere Meilen hin überblicken können.

Es wurde also beschlossen, diesen Plan auszuführen. Wollte Doniphan auch dessen Nutzen nicht anerkennen – ohne Zweifel, weil die Anregung dazu von Briant und nicht von ihm herrührte – so war derselbe doch nicht minder geeignet, ein werthvolles Ergebniß zu liefern.

Gleichzeitig wurde bestimmt, und nach reiflicher Erwägung festgestellt, den »Sloughi« nicht eher zu verlassen, als bis man mit Sicherheit wisse, ob dieser auf der Küste eines Festlandes gescheitert sei oder nicht – und dieses Festland konnte kein anderes als Amerika sein.

Nichtsdestoweniger konnte jener Ausflug während der fünf folgenden Tage nicht ausgeführt werden. Das Wetter war dunstig geworden, und zuweilen rieselte ein feiner Regen herab. Zeigte der Wind keine Neigung zum Auffrischen, so mußten die den Horizont verhüllenden Dunstmassen jeden Ausblick verhindern.

Diese Tage waren deshalb jedoch nicht als verloren anzusehen. Man benützte sie zu verschiedenen Arbeiten. Briant beschäftigte sich mit den kleinen Kindern, welche er unablässig überwachte, als wäre es ihm ein natürliches Bedürfniß ihnen eine Art väterlicher Liebe angedeihen zu lassen. Stets hielt er dabei im Auge, daß dieselben, so gut die Umstände es erlaubten, mit Allem versorgt wurden. So nöthigte er sie, da die Temperatur zu sinken schien, wärmere Kleider anzulegen, wobei er ihnen diejenigen passend zurecht machte, welche sich in den Kisten der Matrosen vorfanden. Das war eine Schneiderarbeit, bei der die Scheere mehr zu thun hatte, als die Nadel, und bei welcher Moko, der etwas nähen konnte, wie ja ein Schiffsjunge in Allem bewandert sein muß, sich sehr anstellig erwies. Man hätte freilich nicht sagen können, daß Costar, Dole, Jenkins und Iverson sich besonders elegant ausnahmen in diesen für sie zu großen Beinkleidern und Wolljacken, von denen nur Beine und Aermel passend geschnitten waren; doch darauf kam nicht viel an. Sie mußten sich schon damit zu behelfen suchen und fanden sich bald in diese neue Ausstaffirung hinein.

Uebrigens ließ man sie nicht müßig gehen. Unter Führung Garnett’s oder Baxter’s zogen sie öfters hinaus, um Muscheln zu sammeln oder mit Schnüren oder Netzen im Bett des Rio zu fischen. Das war für sie ein Vergnügen und für Alle ein Vortheil. In dieser Weise mit einer Arbeit beschäftigt, welche sie belustigte, dachten sie gar nicht an ihre Lage, deren Ernst über ihr Begriffsvermögen hinausging. Jedenfalls betrübte sie die Erinnerung an ihre Eltern, ebenso wie diese den Uebrigen schwer auf den Herzen lag. Der Gedanke jedoch, daß sie diese niemals wiedersehen würden, konnte ihnen gar nicht kommen.

Was Gordon und Briant anging, so verließen diese kaum jemals den »Sloughi,« dessen Instandhaltung sie übernommen hatten. Service blieb dann manchmal bei ihnen und machte sich, bei seiner guten Laune, immer recht nützlich. Er liebte Briant und schloß sich niemals denjenigen seiner Kameraden an, welche mit Doniphan in ein Horn bliesen. Auch Briant empfand für ihn eine ausgesprochene Zuneigung.

»Seh‘ Einer, das macht sich! … rief Service gern. Wahrhaftig, unser »Sloughi« ist sehr zu gelegener Zeit von einer gefälligen Welle auf den Strand geworfen, und nicht einmal gar zu sehr beschädigt worden! – Das ist ein Vorzug, den weder Robinson Crusoe noch der Schweizer Robinson auf ihren erdichteten Inseln genossen haben!«

Und Jacques Briant? Nun, wenn Jacques zuweilen seinen Bruder bei den verschiedenen Beschäftigungen an Bord zu Hilfe kam, so antwortete er doch kaum auf die an ihn gerichteten Fragen und wendete allemal schnell die Augen ab, wenn ihm Jemand ins Gesicht sah.

Briant empfand eine rechte Besorgniß über dieses Benehmen Jacques‘. Vier Jahre älter als jener, hatte er auf ihn stets einen unbestrittenen Einfluß ausgeübt. Seit der unfreiwilligen Abfahrt des Schooners schien es jedoch, wie wir schon erfahren haben, als ob das Kind von Gewissensbissen gequält würde. Hatte er sich wohl ein ernstliches Vergehen vorzuwerfen – ein Vergehen, welches er nicht einmal seinem Bruder gestehen mochte? Ganz sicher war, daß seine Augen durch auffallende Röthe wiederholt verriethen, daß er geweint hatte.

Briant legte sich wohl die Frage vor, ob Jacques‘ Gesundheit angegriffen wäre, denn es hätte ihm eine schwere Sorge bereitet, wenn dieses Kind hier wirklich erkrankte. Er drang deshalb öfters in seinen Bruder, ihm mitzutheilen, was ihm fehle, doch dieser antwortete darauf nur:

»Nein, nein, mir fehlt nichts, mir fehlt gar nichts!«

Etwas anderes war nicht aus ihm herauszubringen.

Während der Zeit vom 11. bis 15. März beschäftigten sich Doniphan, Wilcox, Webb und Croß mit der Jagd auf die in den Felsen nistenden Vögel. Sie gingen immer miteinander, sichtlich bestrebt, eine besondere Partei zu bilden. Gordon bemerkte das nicht ohne Beunruhigung. Wenn sich dazu die Gelegenheit bot, unterließ er es auch nie, den Einen oder den Anderen vorzunehmen und ihnen klar zu machen, wie nothwendig Allen ein einmüthiges Zusammenhalten sei. Doniphan aber antwortete auf seine Ermahnung stets mit solcher abweisenden Kälte, daß er es für klug hielt, nicht allzusehr auf ihn zu dringen. Dennoch verzweifelte er nicht, diese Keime der Zwietracht, welche Allen so verderblich werden konnten, rechtzeitig zu ersticken, und vielleicht führten auch die Umstände wieder eine Annäherung herbei, welche er mit seinen Worten nicht erzwingen konnte.

Während dieser dunstigen Tage, welche den geplanten Ausflug nach dem Ende der Bai verhinderten, lieferte die Jagd recht erwünschte Beute. Doniphan, der jeder Art von Sport mit Vorliebe huldigte, erwies sich sehr geschickt in der Handhabung des Gewehres. Sehr stolz – vielleicht etwas zu stolz – auf diese Eigenschaft, zeigte er eine offenbare Verachtung gegen alle übrigen Jagdgeräthe, wie Fallen, Schlingen u. dgl., denen Wilcox den Vorzug gab. Unter den Verhältnissen, in welchen seine Gefährten sich befanden, wurde es übrigens wahrscheinlich, daß dieser Knabe ihnen weit größere Dienste leistete als er. Wilcox schoß wohl auch recht gut, konnte sich hier darin aber mit Doniphan nicht messen. Dem kleinen Croß fehlte es noch an dem »heiligen Feuer,« und er begnügte sich damit, den Heldenthaten seines Vetters zuzujubeln. Hier müssen wir auch den Jagdhund Phann erwähnen, der sich bei diesen Jagden auszeichnete und niemals zögerte, sich in die Wellen zu stürzen, um das über die Klippen hinaus ins Wasser gefallene Federvieh zu holen.

Wir müssen gestehen, daß sich unter den von den jungen Jägern erlegten Stücken eine Anzahl Seevögel befanden, mit denen Moko nicht das geringste anfangen konnte, wie Seeraben, Möven, Meerschwalben, Silbertaucher und ähnliche. Daneben lieferten aber auch die Felsentauben, sowie Gänse und Enten, deren Fleisch sehr geschätzt war, reichliche Beute. Die Gänse gehörten zu den sogenannten Ringelgänsen ( Bernicla), und aus der Richtung, bei der sie beim Krachen der Schüsse entflohen, konnte man annehmen, daß sie gewöhnlich im Innern des Landes wohnten.

Doniphan erlegte auch einige jener Austernfresser, welche gewöhnlich von Schalthieren leben, nach welchen sie sehr lüstern sind, wie von Schüssel-, Venus-, Miesmuscheln u. dergl. Mit einem Worte, an Auswahl fehlte es gerade nicht, nur erforderte dieses Federwild eine gewisse Zubereitung, um seinen thranigen Geschmack zu verlieren, und trotz seines guten Willens erwies sich Moko dieser Schwierigkeit nicht immer so gewachsen, wie es Alle gewünscht hätten. Uebrigens hatte hier, wie der vorsorgliche Gordon bemerkte, Niemand das Recht, zu viel zu verlangen und zu erwarten, da es gerathen schien, die Vorräthe der Yacht mit Ausnahme des in sehr großen Mengen vorhandenen Schiffszwiebacks, möglichst zu schonen.

Natürlich fühlten Alle ein großes Verlangen, die Besteigung des Vorgebirges ausgeführt zu sehen, eine Besteigung, welche vielleicht die wichtige Frage »ob Festland oder Insel« entscheiden konnte. Von dieser Entscheidung hing ja die Zukunft sehr wesentlich ab, wenigstens so weit es sich um eine vorläufige oder eine bleibende Ansiedlung auf diesem Lande handelte.

Am 15. März schien sich die Witterung günstiger zu gestalten, um jenes Vorhaben durchzuführen. Während der Nacht hatte sich der Himmel von den durch die ruhige Luft der letzten Tage angesammelten Dünsten fast befreit, und der vom Lande kommende Wind fegte ihn bald völlig rein. Glänzende Sonnenstrahlen vergoldeten den Rand des hohen Ufers. Man durfte hoffen, daß der Horizont im Osten, wenn ihn die Nachmittagssonne erst schräg beleuchtete, hinlänglich klar erscheinen würde. Erstreckte sich das Wasser dann auch längs dieser Seite hin, so bildete dieses Land eine Insel, und Hilfe war nur dann zu erwarten, wenn sich ein Schiff in die Nähe derselben verirrte.

Der Leser hat nicht vergessen, daß der Plan zu diesem Ausfluge nach dem Norden von Briant ausgegangen war, und dieser es auch übernommen hatte, ihn allein durchzuführen, wenn er eine Begleitung Gordon’s gewiß auch nicht ungern gesehen hätte. Es erschien ihm jedoch zu gefährlich, seine Kameraden zu verlassen, ohne daß dieser bei ihnen zurückblieb.

Am 15. des Abends, als das Barometer auf schön Wetter zeigte, theilte Briant Gordon mit, daß er am nächsten Morgen mit Tagesanbruch aufzubrechen gedenke. Eine Entfernung von zehn bis elf Meilen – Hin- und Rückweg gerechnet – zurückzulegen, das erschreckte den muthigen Knaben nicht, der eine Anstrengung nicht beachtete. Ein ganzer Tag mußte ihm völlig genügen, seine Nachforschung zu vollenden, und Gordon konnte darauf rechnen, daß er vor Einbruch der Nacht zurück sein würde.

Briant brach also mit dem ersten Morgengrauen auf, ohne daß die Anderen etwas davon wußten. Er führte nur einen Stock und einen Revolver mit sich, für den Fall, daß ihm Raubthiere in den Weg kamen, obwohl die Jäger während ihrer bisherigen Ausflüge niemals die Spur eines solchen entdeckt hatten.

Diesen Vertheidigungswaffen hatte Briant noch ein Instrument hinzugefügt, das ihm seine Aufgabe erleichtern sollte, wenn er sich auf dem Gipfel des Vorgebirges befand, nämlich eines der Fernrohre vom »Sloughi«, das sich neben großer Tragweite durch vorzügliche Klarheit auszeichnete. Gleichzeitig trug er in einem am Gürtel befestigten Sacke Schiffszwieback, ein Stück Pöckelfleisch, nebst einem Flaschenkürbis voll mit ein wenig Brandy versetzten Wassers mit sich, um ein Frühstück und nötigenfalls ein Mittagessen einnehmen zu können, wenn irgend ein Zufall seine Rückkehr zum »Sloughi« verzögerte.

Schnellen Schrittes dahinwandelnd, folgte Briant anfänglich der Küstenlinie, welche an der inneren Riffgrenze ein langer Streifen von der letzten Fluth her noch feuchten Varecs bezeichnete. Nach Verlauf einer Stunde gelangte er schon zu dem äußersten, von Doniphan und dessen Begleitern erreichten Punkte, wenn diese sich zur Jagd auf Felsentauben begaben. Das Geflügel hatte augenblicklich nichts von ihm zu fürchten. Er wollte sich nicht aufhalten, um so schnell als möglich bei dem Cap anzulangen. Das Wetter war klar und der Himmel ganz frei von Dunstmassen – das mußte er benutzen. Häuften sich am Nachmittag nach Osten zu wieder Nebelwolken, so war sein ganzes Unternehmen verfehlt.

Während der ersten Stunden hatte Briant ziemlich schnell weiter schreiten und die Hälfte seines Weges zurücklegen können. Stellte sich ihm kein Hinderniß entgegen, so konnte er vor acht Uhr am Vorgebirge eintreffen. Je mehr sich das steile Ufer aber der Klippenbank näherte, desto beschwerlicher wurde für ihn der Boden des Vorlandes. Der Sandstreifen wurde um so schmäler, je mehr die Brandung über ihn hereinbrach. An Stelle des elastisch festen Erdbodens zwischen dem Gehölz und dem Meere mußte Briant jetzt über nasse Felsblöcke und schlüpfrige See-Eichen vordringen, oder gelegentlich Wasserlachen umwandern, so wie über loses Gestein hinbalanciren, auf dem der Fuß nirgends festen Stützpunkt fand. Das machte sein Fortkommen sehr schwierig und – was noch schlimmer war – verursachte ihm eine Verspätung von zwei vollen Stunden.

»Ich muß das Cap vor Wiedereintritt des Hochwassers erreichen! sagte sich Briant. Dieser Theil des Landes ist bei der letzten Fluth überschwemmt gewesen und das wird bei der nächsten bis zum Fuße des hohen Ufers wieder der Fall sein. Bin ich gezwungen, entweder zurückzuweichen oder mich auf ein Felsstück zu flüchten, so komm‘ ich zu spät an. Ich muß also um jeden Preis hindurch, ehe die Fluth das Vorland bedeckt!«

Ohne auf die Anstrengung zu achten, die ihm fast die Glieder lähmte, suchte der muthige Knabe den kürzesten Weg einzuschlagen. Zuweilen mußte er Stiefeln und Strümpfe ausziehen, um bis zum halben Bein versinkend durch Wasseransammlungen zu waten. Befand er sich dann wieder auf den Klippen, so setzte er sich manchem gefährlichen Sturz aus, den er nur durch seine Gewandtheit glücklich vermied.

Wie er sich hier überzeugte, tummelte sich gerade an dieser Stelle der Bai das Seegeflügel in größter Menge; ja, man konnte sagen, daß es hier von Tauben, Austernfressern und Enten wimmelte. Ferner spielten hier zwei oder drei Paar Pelzrobben am Rande der Klippen, welche nicht die geringste Furcht zeigten und gar nicht ins Wasser zu entfliehen suchten. Daraus war der Schluß zu ziehen, daß diese Amphibien dem Menschen nicht mißtrauten, weil sie von ihm nichts zu fürchten zu haben glaubten, und daß mindestens seit langen Jahren keine Fischer hierher gekommen waren, um auf sie Jagd zu machen.

Bei näherer Ueberlegung erkannte Briant aus dieser Anwesenheit von Robben auch, daß diese Küste in noch höherer Breite liegen mußte, als er vorher angenommen, und jedenfalls südlicher als Neuseeland. Der Schooner mußte also bei der Fahrt über den Stillen Ocean nicht unbeträchtlich nach Südosten abgewichen sein.

Diese Wahrnehmung wurde noch weiter bestätigt, als Briant, nachdem er den Fuß des Vorgebirges erreicht, ganze Schaaren von Plattfischen, welche die antarktischen Gegenden bewohnen, sich umhertummeln sah. Diese glitten zu Hunderten durcheinander unter ungeschickter Bewegung ihrer großen Flossen, welche ihnen natürlich mehr zum Schwimmen als zum Fliegen dienen. Uebrigens ist mit deren ranzigem und öligem Fleische nichts anzufangen.

Es war jetzt zehn Uhr Morgens, ein Beweis, wie viel Zeit Briant zur Zurücklegung der letzten Meilen gebraucht hatte.

Erschöpft und ausgehungert, hielt er es für das Klügste, sich erst etwas zu stärken, ehe er die Besteigung des Vorgebirges unternahm, dessen Kamm sich bis dreihundert Fuß über die Meeresfläche erhob.

Briant setzte sich also, geschützt gegen die ansteigende Fluth, welche schon über den Klippengürtel hinwegschäumte, auf einen Felsen nieder. Sicherlich hätte er nach einer Stunde zwischen der Brandung und am Fuße des steilen Ufers nicht mehr hindurch kommen können, ohne von der Fluthwelle umspült zu werden. Das beunruhigte ihn nun nicht weiter, und am Nachmittag, wenn das Wasser sich bei der Ebbe wieder ins Meer zurückgezogen hatte, hoffte er auch an dieser Stelle einen gangbaren Weg zu finden.

Ein tüchtiges Stück Fleisch und einige herzhafte Schlucke aus der Kürbisflasche, mehr bedurfte es nicht, um Hunger und Durst zu stillen, während der Aufenthalt seine Glieder neu stärkte. Gleichzeitig gab er sich aber auch den ihn bestürmenden Gedanken hin. Allein und ferne von seinen Kameraden suchte er sich seine Lage völlig klar zu machen, fest entschlossen, sich dem Wohlsein und der Rettung Aller bis zum Ende mit allen Kräften zu widmen. Wenn das Auftreten Doniphan’s und einiger Anderer ihm manche Sorge einflößte, so war das nur deshalb, weil er eine Trennung für höchst verderblich hielt. Er nahm sich jedoch bestimmt vor, sich jeder Handlung, die ihm seine Kameraden zu gefährden schien, unbedingt zu widersetzen. Dann dachte er an seinen Bruder Jacques, dessen Benehmen ihm rechte Sorge machte. Es schien ihm, als ob das Kind irgend einen, wahrscheinlich vor der Abfahrt begangenen Fehler verheimliche, und er gelobte sich, so lange in Jacques zu dringen, bis dieser sich herbeiließ, ihm zu antworten.

Briant dehnte seinen Aufenthalt bis auf eine Stunde aus, um wieder ganz zu Kräften zu kommen, dann schnürte er den Sack wieder zu, warf ihn auf den Rücken und begann die ersten Felssprossen emporzuklimmen.

Ganz am Ende der Bai gelegen, zeigte das in eine ganz scharfe Spitze auslaufende Vorgebirge eine sehr merkwürdige geologische Bildung. Man hätte es als eine durch Feuer erzeugte Krystallisation ansehen können, welche unter dem Einfluß platonischer Kräfte entstanden war.

Dieser Hügel stand übrigens mit dem steilen Ufer nicht, wie es aus der Ferne den Anschein hatte, in unmittelbarer Verbindung. Seiner Natur nach unterschied er sich ja auch wesentlich von jenem, da er aus Granitfelsen aufgebaut war, statt der Kalkschichten, wie solche den englischen Canal in Europa umrahmen.

Dieses Verhalten fiel Briant sofort ins Auge; er bemerkte ebenso, daß eine enge Schlucht das Vorgebirge von dem Steilufer trennte. Auf der anderen Seite erstreckte sich das Vorland über Sehweite nach Norden hinaus. Da der Hügel die ihn umgebenden Höhenpunkte jedoch gut um hundert Fuß überragte, mußte der Blick von dessen Gipfel eine ziemlich umfassende Fernsicht gewähren, und darauf kam es ihm ja vorzüglich an.

Die Ersteigung war ziemlich beschwerlich: er mußte dabei von einem Felsstück zum andern emporklimmen, und diese waren nicht selten so groß, daß Briant nur mit größter Mühe ihre oberen Kanten erlangen konnte. Da er jedoch zu derjenigen Classe von Knaben gehörte, welche man mit Recht »Kletterthiere« nennen könnte, da er von Jugend auf eine besondere Vorliebe für solche Wagstücke gehabt und sich dadurch eine ungewöhnliche Kühnheit, Geschmeidigkeit und Gewandtheit erworben hatte, so setzte er schließlich den Fuß auf den Gipfel, nachdem er wiederholt manch‘ recht verderblichen Sturz glücklich vermieden hatte.

Das Fernrohr vor den Augen, lugte Briant nun zuerst in der Richtung nach Osten hinaus.

Diese Gegend erschien, soweit er sehen konnte, völlig flach. Das steile Ufer bildete ihre größte Erhebung und dessen Hochebene senkte sich ganz allmählich nach dem Inneren zu hinab. Weiter hinaus unterbrachen noch einige sehr mäßige Erhöhungen diese Fläche, ohne das Bild des Landes besonders zu verändern. Nach derselben Richtung hin bedeckten es große Waldmassen, welche unter ihrem jetzt mehr gelblichen Blätterdache die Wasserläufe bergen mochten, die dem Uferlande zueilten. Das Ganze erschien also bis zum Horizont hinaus als große Ebene, deren Durchmesser etwa zehn Meilen betragen konnte. Es hatte demnach nicht den Anschein, als ob das Meer an dieser Seite das Land begrenzte, und um festzustellen, ob dasselbe einer Insel oder einem Festland angehörte, bedurfte es eines weiter ausgedehnten Ausfluges in der Richtung nach Osten.

Nach Norden hin erkannte Briant kein Ende des Vorlandes, das sich in jener Linie wohl sieben bis acht Meilen weit ausdehnte. Jenseits eines weiter draußen liegenden, sehr verlängerten Vorberges bildete dieses vielmehr eine große sandige Fläche, welche man fast hätte als eine Wüste bezeichnen können.

Nach Süden zu und hinter dem anderen Vorgebirge, das sich dort am Ende der Bai erhob, verlief die Küste von Nordosten nach Südwesten und begrenzte da einen ausgedehnten Sumpf, der mit dem öden Vorlande im Norden auffallend contrastirte.

Briant hatte das Objectiv seines Fernrohres aufmerksam über alle Theile dieses weiten Kreises hinweggeführt. Befand er sich auf einer Insel? War er auf einem Festlande?

… Er hätte es nicht sagen können. Wenn es eine Insel war, – so hatte diese wenigstens einen ziemlich bedeutenden Umfang – mehr konnte er vorläufig nicht feststellen.

Er wandte sich jetzt der Westseite zu. Das Meer erglänzte unter den schrägen Strahlen der Sonne, welche allmählich zum Horizonte hinabsank.

Plötzlich nahm Briant das Fernrohr sehr hastig wieder vor das Auge und richtete es nach der äußersten Linie der offenen See.

»Schiffe! rief er für sich. Vorübersegelnde Schiffe!«

In der That zeigten sich drei schwarze Punkte am Rande der glitzernden Gewässer und in einer Entfernung, welche mindestens fünfzehn Meilen betragen mochte.

Wie fühlte sich Briant seltsam erregt! War er das Opfer einer Augentäuschung! Sah er dort wirklich Fahrzeuge vor sich?

Briant senkte das Fernrohr wieder, reinigte das von seinem Athem angelaufene Ocular und blickte wieder hinaus …

In der That schienen die drei schwarzen Punkte Schiffen anzugehören, von denen man nur den Rumpf sehen konnte. Von einer Bemastung zeigte sich freilich nichts, und jedenfalls deutete keine Rauchsäule darauf hin, daß es Dampfer in Fahrt wären.

Sofort kam Briant der Gedanke, daß diese Schiffe, wenn es solche waren, sich in viel zu großer Entfernung befanden, als daß sie Signale von ihm hätten wahrnehmen können. Da er auch annehmen mußte, daß seine Kameraden diese Fahrzeuge nicht bemerkt hätten, erschien es ihm als das Beste, schnellstmöglich nach dem »Sloughi« zurückzukehren, um auf dem Strande ein großes Feuer anzuzünden und dann … wenn die Sonne versunken war …

Während dieser Gedanken behielt Briant die drei schwarzen Punkte unausgesetzt im Auge. Wie groß war aber seine Enttäuschung, als er sich überzeugte, daß diese sich nicht von der Stelle bewegten.

Von Neuem richtete er das Fernrohr auf dieselben und behielt sie einige Minuten in dessen Gesichtsfelde … Da wurde es ihm bald klar, daß er nur drei kleine Eilande vor sich hatte, die im Westen von der Küste lagen und an denen der Schooner gewiß vorübergekommen war, als der Sturm ihn hierher verschlug, die aber bei der Dunkelheit nicht bemerkt worden waren.

Die Enttäuschung war eine recht schmerzliche.

Jetzt war es um zwei Uhr. Das Meer begann wieder sich zurückzuziehen und ließ den Klippengürtel zur Seite des steilen Ufers trocken liegen. Briant hielt es an der Zeit, nach dem »Sloughi« heimzukehren, und bereitete sich, nach dem Fuße des Hügels hinabzusteigen.

Indessen wollte er noch einmal den östlichen Horizont besichtigen. Vielleicht erkannte er bei dem jetzt tieferen Stand der Sonne noch einen anderen Punkt des Landes, der ihm bisher entgangen war.

Er schritt also nochmals zu einer umfänglichen aufmerksamen Beobachtung in dieser Richtung, und wahrlich, er sollte diese Mühe nicht zu bereuen haben.

In der That unterschied er am äußersten Gesichtskreise und jenseits der Wälder sehr deutlich eine bläuliche Linie, die sich auf die Entfernung von einigen Meilen von Norden nach Süden hin fortsetzte, eine Linie, deren beide Enden sich hinter der verstreuten Masse von Bäumen verbargen.

»Was ist das?« fragte er sich.

Noch einmal blickte er möglichst scharf hinaus.

»Das Meer! … Ja … das ist das Meer!«

Fast wäre das Fernrohr seinen Händen entfallen.

Da sich das Meer auch im Osten ausdehnte, unterlag es keinem Zweifel mehr, daß es kein Festland war, auf dem der »Sloughi« scheiterte, sondern eine Insel, eine in der grenzenlosen Weite des Stillen Oceans verlorene Insel, von der sie unmöglich wieder fortkommen konnten!

Alle diese Gefahren zogen wie eine flüchtige Vision vor den Gedanken des jungen Knaben vorüber. Sein Herz krampfte sich zusammen, daß er es kaum noch klopfen fühlte; doch er entriß sich mit Gewalt dieser Anwandlung von Schwäche, wohl begreifend, daß er sich, so beunruhigend die Zukunft auch erschien, nicht niederdrücken lassen durfte.

Eine Viertelstunde später war Briant wieder nach dem Strande hinabgestiegen und gelangte auf demselben Wege, den er am frühen Morgen eingeschlagen, gegen fünf Uhr nach dem »Sloughi«, wo seine Kameraden seine Heimkehr mit großer Ungeduld erwarteten.

VI.

VI.

Verhandlung. – Ein geplanter und verschobener Ausflug. – Schlechtes Wetter. – Der Fischfang. – Das riesenhafte Meergras. – Costar und Dole auf einem nicht besonders schnellen Renner reitend. – Die Vorbereitungen zum Aufbruch. – Auf den Knieen vor dem südlichen Kreuz.

———

Noch am selben Tage nach dem Abendessen machte Briant die Großen mit den Ergebnissen seiner Nachforschung bekannt, die er wie folgt zusammenfaßte: In der Richtung nach Osten, jenseits der Zone der Waldungen, hatte er sehr deutlich eine Wasserlinie wahrgenommen, welche von Norden nach Süden zu verlief; daß dieselbe dem Meere angehörte, erschien ihm nicht zweifelhaft. Der »Sloughi« hatte also das Unglück gehabt, auf einer Insel und nicht auf einem Festlande zu scheitern.

Anfänglich nahmen Gordon und die Uebrigen diese Mittheilung ihres Gefährten mit großer Erregung auf. Wie, sie befanden sich auf einer Insel und ihnen fehlte es an jedem Mittel, von derselben wieder wegkommen zu können! Auf die frühere Absicht, nach Osten zu weiter in das angenommene Festland vorzudringen, sollten sie verzichten! Sollten verurtheilt sein, auf ein Schiff zu warten, welches zufällig an dieser Küste vorübersegelte! War es denn wirklich an dem, daß das ihnen die einzige Aussicht auf Rettung bot? …

»Doch sollte sich Briant in seiner Wahrnehmung nicht getäuscht haben? bemerkte Doniphan.

– Ja, Briant, ließ sich Croß vernehmen, könntest Du nicht vielleicht eine Wolkenbank für das Meer angesehen haben?

– Nein, versicherte Briant, ich bin fest überzeugt, mich nicht geirrt zu haben. Ich habe im Osten bestimmt eine Strecke Wasser gesehen, die sich bis zum Horizont ausbreitete.

– In welcher Entfernung?

– Etwa sechs Meilen vom Vorgebirge.

– Und bis dahin gab es keine Berge, kein höher aufsteigendes Land?

– Nein; nichts als den weiten Himmel!«

Briant schien seiner Sache so sicher, daß man seine Angaben vernünftiger Weise nicht anzweifeln konnte.

Wie es Doniphan aber immer that, wenn er über irgend etwas mit ihm sprach, so beharrte er auch jetzt bei seiner eigenen Meinung.

»Und ich wiederhole, erklärte er, daß Briant sich doch hat täuschen können, und so lange wir uns nicht mit eigenen Augen überzeugt haben …

– Das soll sehr bald geschehen, unterbrach ihn Gordon, denn wir müssen wissen, woran wir sind.

– Und ich möchte hinzufügen, meldete sich Baxter, daß wir keinen Tag zu verlieren haben, wenn wir noch, im Falle wir auf einem Festlande sind, vor Eintritt der schlechten Jahreszeit weiterziehen wollen.

– Schon morgen, nahm Gordon wieder das Wort, werden wir, falls die Witterung es erlaubt, einen auf mehrere Tage ausgedehnten Ausflug unternehmen. Ich sage, wenn es schönes Wetter ist; denn sich in die dichten Wälder des Inneren bei schlechtem Wetter zu wagen, würde eine entschiedene Thorheit sein …

– Ganz recht, Gordon, bestätigte Briant, und wenn wir die entgegengesetzte Seite der Insel erreicht haben …

– Im Fall es eine Insel ist! rief Doniphan dazwischen, der ungläubig mit den Achseln zuckte.

– Es ist aber eine Insel, versetzte Briant ungehalten. Ich habe mich nicht getäuscht! Mit vollster Deutlichkeit habe ich im Osten das Meer erkannt. Doniphan gefällt sich nur darin, mir, seiner Gewohnheit gemäß, zu widersprechen …

– O, Du bist nicht unfehlbar, Briant!

– Nein, das bin ich nicht; doch dieses Mal werdet Ihr ja sehen, ob ich mich geirrt habe! Ich werde selbst ausziehen, dieses Land näher zu besichtigen, und wenn Doniphan mich begleiten will …

– Natürlich geh‘ ich mit!

– Und wir ebenfalls! riefen drei oder vier der größeren Knaben.

– Gut! … Schon gut! … meinte Gordon; nur nicht über den Strang geschlagen, meine Freunde! Wenn wir auch noch Kinder sind, wollen wir doch gleich Männern handeln. Unsere Lage ist sehr ernst, und eine Unklugheit könnte sie nur noch verschlimmern! Nein, Alle dürfen wir nicht durch jene Wälder ziehen. Die Kleinen könnten uns dahin doch nicht folgen, und sollen wir diese allein auf dem »Sloughi« zurücklassen? Mögen Doniphan und Briant sich dorthin auf den Weg machen, und zwei ihrer Kameraden sie begleiten …

– Ich! meldete sich Wilcox.

– Und ich! rief Service.

– Meinetwegen, antwortete Gordon; drei werden übrig genug sein. Kommt ihr nicht rechtzeitig zurück, so könnte Euch immer noch einer von uns entgegengehen, während die Anderen auf dem Schooner verbleiben. Vergeht nicht, daß hier unser Lager, unser »Haus« ist, und das dürfen wir nicht verlassen, außer wenn wir sicher sind, uns auf einem Festland zu befinden.

– Wir sind auf einer Insel! erwiderte Briant. Ich bleibe bei meiner Behauptung!

– Das werden wir sehen!« sagte Doniphan.

Die klugen Rathschlage Gordon’s hatten der Meinungsverschiedenheit dieser jungen Starrköpfe ein Ende gemacht. Auch Briant erkannte gern an, daß es nothwendig sei, durch die ganze Breite der Wälder des Inneren zu gehen, um bis zu der von ihm gesehenen Wasserlinie selbst zu gelangen. Angenommen, es war das Meer, das sich da im Osten vor ihnen ausdehnte, so konnten in derselben Richtung ja auch noch andere, vielleicht nur durch einen schmalen Canal getrennte Inseln liegen, nach denen sie ohne Schwierigkeiten übersetzen konnten. Und wenn diese Insel einem Archipel angehörte, wenn am Horizont sich größere Höhen zeigten, so mußte man sich doch wohl davon genauere Kenntniß verschaffen, ehe ein Entschluß bezüglich der Rettung Aller gefaßt werden konnte. Unzweifelhaft war ja nur, daß nach Westen hin kein Land lag zwischen diesem Theile des Stillen Oceans und den Küsten von Neuseeland. Die jungen Schiffbrüchigen durften also nur hoffen, ein bewohntes Gebiet zu finden, wenn sie ein solches nach der Seite des Sonnenaufganges suchten.

Jedenfalls schien es gerathen, diese Nachforschung nur bei ganz gutem Wetter anzustellen, und so wie Gordon gesagt hatte, geziemte es sich für sie, nicht wie Kinder, sondern wie Männer zu handeln. Bei den Umständen, unter denen sie sich befanden, bei den noch in Zukunft drohenden Gefahren, mußte ihre Lage, wenn die Knaben nicht eine frühreife Einsicht entwickelten, wenn der leichte Sinn, die natürliche Inconsequenz ihres Lebensalters sie vorwiegend beeinflußten und zwischen ihnen vielleicht gar noch Uneinigkeit eintrat – welche an sich schon bedenklich genug erschien – eine geradezu verzweifelte werden, und in Erwägung dessen war Gordon fest entschlossen, Alles zu thun, um eine gewisse Ordnung unter seinen Kameraden zu erhalten.

So eilig es Briant und Doniphan indeß mit ihrem Ausfluge hatten, zwang sie ein Umschlag der Witterung doch, diesen zu vertagen. Am nächsten Morgen fiel nämlich mit einzelnen Unterbrechungen ein recht kalter Regen herab. Das fortwährende Fallen des Barometers stellte eine Periode unstäter Witterung in Aussicht, von der Niemand vorher wissen konnte, was sie mit sich bringen würde. Unter solchen ungünstigen Bedingungen wäre es mehr als tollkühn gewesen, sich weiter hinaus zu wagen.

Uebrigens war das gewiß nicht besonders zu beklagen. Es versteht sich zwar von selbst, daß es Alle – von den Kleinsten kann hierbei nicht die Rede sein – verlangte zu wissen, ob das Meer sie von allen Seiten umschloß. Doch, wenn sie auch die Gewißheit erlangten, auf einem Festlande zu sein, hätten sie Wohl daran denken können, quer durch ein ihnen völlig unbekanntes Land zu wandern, und noch obendrein, wenn der Eintritt schlechterer Jahreszeit allen Anzeichen nach so nahe bevorstand? Konnten sie die Anstrengung eines Marsches aushalten, der sich möglicher Weise über Hunderte von Meilen hin erstreckte?

Hätte der Kräftigste von ihnen Ausdauer genug besessen, ein so fernes Ziel zu erreichen? Nein! Um ein solches Unternehmen voraussichtlich glücklich durchzuführen, mußte dasselbe bis zur Zeit der langen Tage verschoben werden, wo keine Unbill der Witterung, wie sie der Winter mit sich bringt, zu befürchten war. Die kleine Gesellschaft mußte sich wohl oder übel entschließen, die kalte Jahreszeit auf dem »Sloughi« auszuhalten.

Gordon hatte sich inzwischen die Mühe nicht verdrießen lassen, festzustellen, in welchem Theile des Oceans der Schiffbruch wohl stattgefunden hätte. Der Stieler’sche Atlas, der zur Bibliothek der Yacht gehörte, enthielt auch eine Reihe Karten des Stillen Oceans. Verfolgte man nun die Wegstrecke von Auckland bis zur Westküste Amerikas, so lag nördlich desselben und jenseits der Pomotu-Inseln nichts als die Osterinsel und die Insel Juan Fernandez, auf der Selkirk – ein wirklicher Robinson – einen Theil seines Lebens zugebracht hatte. Nach Süden zu fand sich kein Land bis nach den unbegrenzten Flächen des antarktischen Oceans. Weiter östlich stieß man dann aus die längs der Küste Chiles verstreuten Chiloë- oder Madre-de-Dios-Inseln, und tiefer unten auf die Magellan-Straße und das Feuerland, um welche am Cap Horn das Meer stets mit furchtbarem Wüthen brandete.

War der Schooner gar auf eine dieser öden Inseln verschlagen worden, welche nur die Pampas zu Nachbarn haben, so würden die Knaben Hunderte von Meilen zurückzulegen haben, um nach den bewohnten Gebieten Chiles, La Platas oder der argentinischen Republik zu gelangen. Welche Hilfsmittel boten ihnen aber diese ungeheueren Einöden, wo Gefahren aller Art den Reisenden bedrohen?

Solchen Aussichten gegenüber empfahl es sich, mit größter Vorsicht zu Werke zu gehen und sich nicht einem elenden Untergang auf dem Wege durch unbekannte Gebiete auszusetzen.

Das war nicht nur Gordon’s Ansicht, sondern Briant und Baxter theilten dieselbe gleichmäßig, und Doniphan und sein Anhang mußte sich ihr am Ende gezwungen auch anschließen.

Der Plan einer nach Osten weiter zu verfolgenden Nachforschung, um die Land- und Wasserverhältnisse daselbst genau kennen zu lernen, blieb natürlich bestehen, konnte jedoch während der folgenden vierzehn Tage nicht zur Ausführung gebracht werden. Das Wetter wurde geradezu abscheulich; es regnete oft vom Morgen bis zum Abend und fast unausgesetzt heulte ein mächtiger Sturm. Der Ausflug mußte also wohl oder übel verschoben werden, so sehr es sie auch verlangte, die so wichtige Frage über die Natur des Landes, auf dem sie weilten, endgültig gelöst zu sehen.

Während dieser langen stürmischen Tage sahen sich Gordon und seine Kameraden auf das Schiff beschränkt, ohne daß sie deshalb unthätig blieben. Einestheils erforderten alle Geräthe u.s.w. eine fortwährende Aufmerksamkeit und dann hatten sie auch stets Beschädigungen der Jacht auszubessern, welche von dem Ungestüm des Wetters recht ernstlich zu leiden hatte. Die Planken begannen allmählich sich weiter zu öffnen und das Deck war nicht mehr wasserdicht. An einigen Stellen drang der Regen schon durch die Fugen, deren Werg sich allmählich ausfaserte, so daß sich deren frische Kalfaterung unverzüglich nöthig machte.

Sehr dringend erschien es nun auch, ein minder unzuverlässiges Obdach zu suchen. An eine »Auswanderung« nach dem fernen Osten war unter fünf bis sechs Monaten doch nicht zu denken, und so lange hielt der »Sloughi« sicherlich nicht mehr zusammen. Mußten sie diesen aber während der rauhen Jahreszeit verlassen, wo hätten sie Unterkunft finden sollen, da der Westabhang des Steilufers nicht einmal eine Aushöhlung darbot, welche benutzt werden konnte? Jedenfalls mußten also an der anderen Seite desselben neue Nachforschungen angestellt werden, um dort, geschützt vor den Seewinden, wenn es nicht anders anging, eine für Alle ausreichende Wohnung zu erbauen.

Die jetzt dringendsten Ausbesserungen bezweckten übrigens weniger, dem eindringenden Wasser als der Luft die Wege in den Schiffsrumpf zu verschließen und die innere Wegerung, welche sich schon abzulösen begann, noch einmal zu befestigen.

Gordon hätte gerne die Reservesegel zur Umhüllung des ganzen Rumpfes der Jacht verwendet; er schrak aber doch davor zurück, diese dichten Gewebe zu opfern, welche vortrefflich zur Errichtung eines Zeltes dienen konnten, wenn sie zufällig in die Lage kamen, vorübergehend vielleicht gar unter freiem Himmel zu nächtigen.

Inzwischen war die gesammte Ladung in einzelne Ballen vertheilt und in Gordon’s Notizbuche diejenigen derselben mit Nummern bezeichnet worden, welche im Nothfalle schleunigst ans Land geschafft werden sollten.

Klärte sich das Wetter einmal für wenige Stunden auf, so zogen Doniphan, Webb und Wilcox sogleich zur Jagd auf Felstauben hinaus, welche Moko mit mehr oder weniger Erfolg in verschiedener Weise zuzubereiten sich bemühte. Andererseits beschäftigten sich Garnett, Service und Croß, denen sich auch die Kleinen anschlössen und die selbst Jacques zuweilen begleitete, wenn sein Bruder das ausdrücklich verlangte, mit dem Fischfange. In ihrem Küstengewässer, welches sich sehr fischreich erwies, bot die Bai, inmitten der an den ersten Klippen abgelagerten Algen, vorzügliche Vertreter der Familie »Nothotenia,« sowie größerer und kleinerer Stockfische. Zwischen den Fäden des gewaltigen Meergrases, des »Kelps,« welche bis vierhundert Fuß Länge hatten, wimmelte es von kleinen Fischen, die man mit den Händen fangen konnte.

Da hätte man die Freudenrufe der jungen Fischer hören sollen, als sie ihre Schnuren oder Netze nach dem Rande der Klippenbank herausgezogen!

»Ich habe welche! … Ich habe wunderschöne Fische! rief Jenkius … Ei, wie groß sie sind!

– Und meine, … die sind noch größer als die Deinigen, behauptete Iverson, der Dole zur Unterstützung herbeirief.

– Sie werden uns noch entwischen,« rief Costar.

Die Anderen eilten ihnen zu Hilfe.

»Fest halten! … Fest halten! ermahnten Garnett und Service, von dem Einen zum Anderen laufend, und zieht die Netze schnell ein!

– Ich kann nicht! … Ich kann nicht!« wiederholte Costar, den die Last fast hinunterzog.

Mit vereinigten Kräften gelang es endlich Allen, die Netze bis auf den Sand zu schleppen. Es war die höchste Zeit, denn inmitten des klaren Wassers tummelten sich eine Menge Hyxinen, eine Art Raubbricken, welche die in den Maschen zappelnden Fische gewiß bald weggeschnappt hätten. Obwohl auf diese Weise sehr viele verloren gingen, so genügte der Rest doch noch reichlich für die Bedürfnisse des Tisches. Vorzüglich die kleinen Stockfische lieferten, sowohl frisch genossen, wie in Salz eingesetzt, ein vortreffliches Fleisch.

Bezüglich des Fanges an der Mündung des Rio, so erzielte dieser nur mittelmäßige Exemplare von »Galaxias,« eine Art Gründling, welche Moko als Backfische zubereitete.

Am 27. März gab ein bedeutsamer Fang Veranlassung zu einem recht drolligen Auftritte. Im Laufe des Nachmittags, als der Regen einmal aufgehört hatte, begaben sich die Kleinen mit ihren Fischgeräthen nach dem Rio.

Plötzlich ertönten laute Schreie – mittels welchen sie die Anderen zu Hilfe riefen.

Gordon, Briant, Service und Moko, welche an Bord des Schooners beschäftigt waren, unterbrachen ihre Arbeit und eilten in der Richtung hin, von der die Rufe ertönten. Bald hatten sie die fünf- bis sechshundert Schritte Entfernung bis zum Rio zurückgelegt.

»Schnell, schnell, hierher! … Kommt hierher! rief Jenkins.

– Schnell, schnell, seht nur Costar mit seinem Renner! sagte Iverson.

– Noch schneller, Briant, noch schneller oder er geht uns durch! wiederholte Jenkins.

– Genug! … Genug! Laß mich herunter! … Ich fürchte mich! rief Costar weinend und mit den kläglichsten Geberden.

– Hui! … Hui!« rief dagegen Dole, der hinter Costar auf einer sich bewegenden Masse Platz genommen hatte.

Diese Masse war nichts anderes als eine sehr große Schildkröte, einer jener gewaltigen Chelonier, die man meist auf der Oberfläche des Meeres eingeschlafen antrifft.

Hier war sie jedoch auf dem Strande überrascht worden und suchte jetzt ihr natürliches Element wieder zu gewinnen.

Vergebens bemühten sich die Kinder, nachdem sie eine Leine um den Hals des Thieres geschlungen, die sich auch über dessen Rücken hin fortsetzte, das kräftige Thier zurückzuhalten, dieses kroch immer weiter, und wenn es auch nicht schnell von der Stelle kam, so zog es doch mit unwiderstehlicher Gewalt die ganze Gesellschaft nach sich. Aus Scherz hatte Jenkins den kleinen Costar auf den Rückenschild gesetzt und Dole hielt rittlings hinter ihm den Knaben fest, der nun um so ängstlicher schrie, je mehr die Schildkröte sich dem Meere näherte.

»Nur Muth, Costar, nur Muth! rief Gordon.

– Und achte darauf, daß Dein Pferd nicht die Trense zwischen die Zähne nimmt!« setzte Service hinzu.

Briant konnte sich, da von einer Gefahr gar keine Rede war, des Lachens nicht enthalten. Wenn Dole Costar losließ, so brauchte dieser nur hinabzugleiten, um jeder Furcht ledig zu sein.

Dringend schien es dagegen, das Thier zu fangen. Es lag auf der Hand, daß Alle zusammen, wenn auch Briant seine Kräfte mit denen der Kleinen vereinte, nicht im Stande sein würden, dasselbe aufzuhalten. Man mußte also auf ein Mittel denken, dessen Weiterkriechen zu verhindern, ehe es im Wasser verschwand, wo es dann unbedingt in Sicherheit war.

Die Revolver, welche Gordon und Briant vom Schooner mitgenommen hatten, konnten hier zu nichts dienen, denn der Rückenpanzer einer Schildkröte verträgt eine Kugel ohne Schaden, und wenn man dieselbe mit Äxten angegriffen hätte, so zog jene einfach Kopf und Füße ein und vereitelte damit jeden Angriff.

»Es gibt nur ein einziges Mittel, sagte Gordon, und das besteht darin, sie auf den Rücken zu wenden.

– Doch wie? erwiderte Service, das Thier da wiegt wenigstens seine dreihundert Pfund, und wir werden nie im Stande sein …

– Sparren, Sparren holen!« rief Briant.

Begleitet von Moko lief er, was ihn die Füße tragen konnten, nach dem »Sloughi« zurück.

In diesem Augenblicke befand sich die Schildkröte nur noch dreißig Schritte vom Meere. Gordon beeilte sich, um Costar und Dole, die noch immer auf dem Thiere saßen, herunter zu heben. Dann packten Alle den Strick und zerrten mit Leibeskräften daran rückwärts, ohne den Gang des Thieres nur verzögern zu können; ja, dieses wäre wohl im Stande gewesen, die ganze Pension Chairman fortzuschleppen.

Glücklicherweise kamen Briant und Moko zurück, ehe die Schildkröte das Meer erreicht hatte.

Zwei Sparren wurden ihr unter das Brustschild geschoben, und mit Hilfe dieser Hebel gelang es endlich, freilich nicht ohne große Anstrengung, sie auf den Rücken zu wenden. Hiermit war dieselbe endgiltig gefangen, da sie unmöglich wieder selbst auf die Füße zu kommen vermochte.

In dem Augenblick übrigens, wo sie den Kopf einziehen wollte, traf sie Briant mit einem so wohlgezielten Axthieb, daß sie das Leben fast augenblicklich verlor.

»Nun, Costar, hast du noch immer vor der großen Schnecke Angst? fragte er den kleinen Knaben.

– Nein, nein, Briant, die ist ja todt.

– Schön, rief Service, ich wette aber, daß Du nicht von ihr zu essen wagst.

– Kann man das Thier denn essen?

– Gewiß!

– Dann, wenn es gut ist, ess‘ ich auch davon! erwiderte Costar, dem schon das Wasser im Munde zusammenlief.

– O, es ist sogar ausgezeichnet, versicherte Moko, der gar nicht genug rühmen konnte, wie schmackhaft das Fleisch der Schildkröten sei.

Da man nicht daran denken konnte, diese schwere Masse nach der Yacht zu befördern, mußte man sich zum Ausweiden derselben an Ort und Stelle entschließen. Das war zwar eine etwas widerwärtige Arbeit; die jungen Schiffbrüchigen gewöhnten sich indessen schon langsam an die mancherlei recht unangenehmen Nothwendigkeiten dieses Robinsonlebens. Die schwierigste Aufgabe war es, das Brustschild zu zersprengen, dessen metallische Härte selbst die Schneide einer Axt schartig gemacht hätte. Es gelang das endlich nach Einführung eines Bankmeißels in die Verbindungsstellen der Platten. Darauf wurde das in Stücken geschnittene Fleisch nach dem »Sloughi« geschafft.

Noch am nämlichen Tage konnten sich Alle überzeugen, daß die Schildkrötenbouillon wirklich vorzüglich schmeckte, ganz zu geschweigen von den gerösteten Fleischschnitten, welche verzehrt wurden, obwohl Moko auf den glühenden Kohlen sie hatte etwas schwarz werden lassen. Auch Phann bezeigte auf seine Weise, daß die Reste des Thieres für eine Hundezunge nicht zu verachten waren.

Die Schildkröte hatte über sechzig Pfund Fleisch geliefert, wodurch es möglich wurde, die Vorräthe der Yacht zu schonen.

Unter solchen Verhältnissen verstrich der Monat März. Während der drei Wochen seit dem Schiffbruche des »Sloughi« hatte Jeder nach besten Kräften gearbeitet, schon im Hinblick auf ein längeres Verweilen an dieser Küste. Jetzt kam es, ehe der Winter seinen Einzug hielt, darauf an, die wichtige Frage, ob Festland oder Insel, mit Bestimmtheit zu lösen.

Am 1. April wurde es offenbar, daß die Witterung in nächster Zeit umschlagen würde. Das Barometer stieg langsam und der Wind, der auf das Land zustand, schwächte sich mehr und mehr ab. Man konnte sich über diese Vorzeichen einer bevorstehenden Ruhe der Atmosphäre, und zwar einer länger andauernden, nicht täuschen. Die Umstände gestatteten damit einen Forschungszug nach dem Innern des Landes.

Die Großen sprachen an jenem Tage schon davon und begannen nach reiflicher Ueberlegung bereits die Vorbereitungen zu jenem Ausfluge, dessen hohe Bedeutung sich Keiner verhehlte.

»Ich denke, begann Doniphan, daß uns nichts abhält, schon morgen früh aufzubrechen? …

– Ich hoffe, nichts, antwortete Briant, und dann werden wir uns zu früher Stunde aufmachen müssen.

– Ich habe aufgeschrieben, ließ Gordon sich vernehmen, daß die Landgrenze der im Osten wahrgenommenen Wasserlinie sich sechs bis sieben Meilen vom Vorgebirge befinden soll.

– Ja, bestätigte Briant; da sich die Bai aber tief ins Land hineinzieht, ist es möglich, daß die Entfernung von unserem Lager aus eine kürzere wäre.

– Und dann, nahm Gordon das Wort, könnte Euer Ausflug ja kaum über vierundzwanzig Stunden in Anspruch nehmen.

– Gewiß, Gordon, wenn es uns möglich ist, direct nach Osten hin vorzudringen; doch werden wir einen Weg durch die Wälder finden, wenn wir das Steilufer erst hinter uns haben?

– O, das ist die Schwierigkeit nicht, die uns aufhalten dürfte, bemerkte Doniphan.

– Zugegeben, antwortete Briant, doch andere Hindernisse könnten uns den Weg verlegen, ein Wasserlauf, ein Sumpf oder was weiß ich? Es erscheint also gewiß rathsam, sich mit Nahrungsmitteln für eine mehrtägige Reise zu versehen.

– Und mit Munition, setzte Wilcox hinzu.

– Das versteht sich von selbst, erwiderte Briant, und Du, Gordon, brauchst Dich, im Falle wir nach vierundzwanzig Stunden noch nicht zurück wären, um uns nicht zu ängstigen.

– Ich werde schon unruhig sein, wenn Eure Abwesenheit auch nur einen halben Tag dauert, antwortete Gordon, Doch was reden wir hiervon – der Ausflug ist einmal beschlossen, und Ihr werdet ihn unternehmen. Uebrigens darf der Zweck desselben nicht allein der sein, das im Osten gesehene Meer zu erreichen; Ihr müßt auch das Land jenseits des Steilufers ins Auge fassen. An unserer Seite hier haben wir keine Höhle gefunden, und wenn wir den »Sloughi« erst verlassen müssen, wollen wir unser Lager doch da aufschlagen, wo es vor den Seewinden geschützt ist. Die schlechte Jahreszeit auf diesem Strande zuzubringen, erscheint mir unthunlich.

– Du hast Recht, Gordon, stimmte Briant ihm zu, und wir werden nach einem Plätzchen suchen, wo wir uns später häuslich niederlassen können …

– Es müßte sich denn nachweisen lassen, daß wir diese vermeintliche Insel nicht verlassen können, bemerkte Doniphan, der immer auf seine Rede zurückkam.

– Das versteht sich, vorausgesetzt, daß die schon weit vorgeschrittene Jahreszeit es gestattet, antwortete Gordon. Nun, wir werden ja unser Bestes thun. Morgen also zum Aufbruch!«

Die Vorbereitungen waren bald beendet. Lebensmittel für vier Tage, in Säcken, welche an einem breiten Gurt getragen wurden, vier Flinten, vier Revolver, zwei kleine Schiffsäxte, ein Taschencompaß, ein weittragendes Fernrohr, um das Land in einem Umkreis von drei bis vier Meilen genau überblicken zu können, Reisedecken, ferner neben dem gewöhnlichen Inhalt der Taschen, Lunten und Feuerstahl, nebst Streichhölzchen, das schien für die Bedürfnisse einer kürzeren aber nicht ungefährlichen Expedition zu genügen. Briant, wie Doniphan, ebenso Service und Wilcox, welche Jene begleiten sollten, mußten jedenfalls vorsichtig vorgehen, die Augen immer überall hinwenden und durften sich nicht trennen.

Gordon sagte sich wohl, daß seine Anwesenheit zwischen Briant und Doniphan nicht unnütz gewesen wäre; es erschien ihm aber doch klüger, bei dem »Sloughi« zu bleiben, um die kleineren Gefährten zu überwachen. Von Briant, den er einmal bei Seite nahm, erhielt er übrigens die Zusicherung, daß dieser jede gereizte Auseinandersetzung und jeden Streit unbedingt vermeiden werde.

Die Vorhersagung des Barometers war in Erfüllung gegangen. Vor dem Ende des Tages waren die letzten Wolken im Norden verschwunden. Die Kreislinie des Meeres zeichnete sich im Westen scharf am Horizonte ab. Die prächtigen Sternbilder der südlichen Halbkugel flimmerten am Firmament und unter ihnen das herrliche südliche Kreuz, welches am antarktischen Pole der Welt leuchtet.

Am Abend der bevorstehenden Trennung fühlten Gordon und seine Kameraden ihr Herz recht schwer belastet. Was konnte sich Alles bei einem Ausfluge ereignen, der vielleicht unerwartete Zwischenfälle bot. Und während ihre Blicke am Sternenhimmel hafteten, wendeten sich die Gedanken ihren Eltern, ihren Familien und der theuren Heimat zu, welche sie vielleicht niemals wiedersehen sollten! …

Da knieten die Kleinen vor dem südlichen Kreuz nieder, wie sie es vor dem Kreuze einer Kapelle gethan hätten. Rief es sie denn nicht, zu dem allmächtigen Schöpfer dieser Himmelswunder zu beten und ihre Hoffnung auf ihn zu setzen?