Fünftes Capitel.


Fünftes Capitel.

Der Schlüssel des Documents.

Ich hatte nur noch Zeit, das unglückselige Document wieder auf den Tisch zu legen.

Der Professor Lidenbrock schien gänzlich erschöpft. Der ihn beherrschende Gedanke ließ ihm keinen Augenblick Ruhe; er hatte während seines Spazierganges offenbar die Sache durchforscht, zergliedert, alle Hilfsquellen seines Geistes erschlossen, und er kam zurück, einen neuen Gedanken in Anwendung zu bringen.

In der That setzte er sich in seinen Lehnstuhl, ergriff die Feder und fing an, Formeln niederzuschreiben, die einem algebraischen Rechenexempel glichen.

Meine Blicke begleiteten seine zitternde Hand; ich ließ mir nicht eine einzige seiner Bewegungen entgehen. Sollte wohl unversehens ein unverhofftes Resultat sich ergeben? Ich zitterte, doch ohne Grund, denn da die einzig richtige Verbindungsweise bereits aufgefunden war, so mußte nothwendig jedes andere Nachforschen vergeblich sein.

Drei Stunden lang arbeitete mein Oheim, ohne zu reden, ohne den Kopf zu heben, tilgte aus, fuhr fort, radirte, fing tausendmal von Neuem an.

Ich wußte wohl, daß, wenn er’s dahin brächte, diese Buchstaben in alle möglichen Verbindungen mit einander zu bringen, die Phrase dabei heraus käme. Aber ich wußte auch, daß aus nur zwanzig Buchstaben sich zwei Quintillionen, vierhundertzweiunddreißig Quadrillionen, neunhundertundzwei Trillionen, acht Milliarden, hundertsechsundsiebenzig Millionen, sechshundertvierzehntausend Verbindungen bilden lassen. Nun waren in der Phrase hundertzweiunddreißig Buchstaben vorhanden, und diese hundertzweiunddreißig ergaben eine Anzahl verschiedener Phrasen, die aus hundertdreiunddreißig Ziffern mindestens bestanden, eine Zahl, die fast zu zählen unmöglich ist, und über alle Schätzungen hinausgeht.

Ich war beruhigt in Hinsicht dieses heroischen Mittels, das Problem zu lösen.

Inzwischen verfloß die Zeit; es ward Nacht; der Lärm der Straße verstummte; mein Oheim, stets über seiner Aufgabe, sah nichts, selbst die gute Martha nicht, als sie die Thür etwas öffnete; er hörte nichts, selbst die Stimme dieser guten Dienerin nicht, als sie sagte:

»Wird der Herr diesen Abend speisen?«

Auch Martha mußte ohne Antwort sich zurückziehen.

Ich meines Theils, nachdem ich einige Zeit widerstanden, verfiel in einen unüberwindlichen Schlaf, und ich schlief an einem Ende des Canapee’s ein, während mein Oheim Lidenbrock immer fort rechnete und stets ausstrich.

Als ich am folgenden Morgen wieder erwachte, war der unermüdliche Forscher immer noch bei der Arbeit. Seine rothen Augen, seine bleifarbige Haut, seine verwirrten Haare unter seiner fieberhaften Hand, seine gerötheten Wangen gaben hinlänglich seinen Kampf mit dem Unmöglichen zu erkennen, und in welcher Erschöpfung des Geistes, welcher Anstrengung des Gehirns ihm die Stunden verfließen mußten.

Wahrlich, er dauerte mich. Trotz der Vorwürfe, die ich glaubte ihm machen zu dürfen, war ich einigermaßen gerührt. Der arme Mann war dermaßen von seiner Idee befangen, daß er sich zu erzürnen vergaß. Alle seine Lebenskräfte concentrirten sich auf einen einzigen Punkt, und da sie nicht ihren gewöhnlichen Ableitungsweg hatten, so konnte man fürchten, es werde ihre Spannung ihm jeden Augenblick den Kopf zersprengen.

Ich konnte den eisernen Schraubstock, worin sein Schädel gespannt war, mit einer Handbewegung, mit einem einzigen Wort ihm lockern! Und ich that’s nicht.

Doch war ich gutmüthig. Weshalb blieb ich denn stumm unter solchen Umständen? Im eigenen Interesse meines Oheims.

»Nein, nein, sagte ich wiederholt, nein, ich werde nicht reden! Er würde hinreisen wollen, ich kenne ihn; nichts würde ihn zurückhalten können. Es ist ein vulkanischer Gedanke, und um zu thun, was andere Geologen nicht gethan haben, würde er sein Leben riskiren. Ich will schweigen; ich will das Geheimniß, in dessen Besitz mich der Zufall gesetzt hat, für mich behalten! Es ihm mitzutheilen wäre sein Tod. Er mag’s errathen, wenn er kann. Ich will mir nicht einen einzigen Tag den Vorwurf aufbürden, ihn in sein Verderben geführt zu haben!«

Nachdem ich diesen Entschluß gefaßt hatte, kreuzte ich die Arme, und wartete ab. Aber ich hatte doch die Rechnung ohne den Wirth gemacht.

Als die gute Martha aus dem Hause auf den Markt gehen wollte, fand sie die Thür verschlossen, und es war kein Schlüssel im Schloß. Wer hatte ihn weggenommen? Offenbar mein Oheim, als er am Abend von seinem Ausgang heimgekehrt war.

War’s absichtlich oder aus Versehen? Wollte er uns der Pein des Hungers aussetzen? Das wäre doch ein wenig stark. Wie! Martha und ich, wir sollten unter der Verlegenheit leiden, die uns auf der Welt nichts anging? Ganz gewiß, und ich erinnerte mich eines andern Falles der Art, welcher uns in Schrecken setzen konnte. In der That, vor einigen Jahren, zur Zeit als mein Oheim an seiner großen mineralogischen Classification arbeitete, enthielt er sich einmal achtundvierzig Stunden des Essens, und das ganze Haus mußte sich dieser wissenschaftlichen Diät fügen. Ich bekam damals Magenkrämpfe, die einem Jungen von etwas gefräßigem Charakter sehr wenig erquicklich waren.

Nun dünkte es mir, das Frühstück werde ebenso in Ausfall kommen, wie Tags zuvor das Abendessen. Doch entschloß ich mich, heroisch zu sein, und den Forderungen des Magens nicht nachzugeben. Martha nahm das sehr ernst und ward trostlos, die gute Frau. Mir machte die Unmöglichkeit, das Haus verlassen zu können, viel zu schaffen, aus gutem Grunde.

Mein Oheim arbeitete immer fort; seine Phantasie verlor sich in der idealen Welt der Combinationen; er lebte fern von der Erde, und wahrhaftig außerhalb der irdischen Bedürfnisse.

Gegen Mittag stachelte mich der Hunger ernstlich. Martha hatte in aller Unschuld Tags zuvor alle Vorräthe der Speisekammer aufgezehrt; es war gar nichts mehr im Hause vorhanden. Doch hielt ich standhaft aus; es war mir eine Art Ehrensache geworden.

Es schlug zwei Uhr. Es wurde lächerlich, unerträglich sogar. Ich machte über die Maßen große Augen. Ich fing an, zu der Ansicht zu kommen, daß ich die Wichtigkeit des Documents übertrieb; daß mein Oheim nicht daran glauben, eine bloße Mystification darin finden würde; daß im schlimmsten Falle, wenn er das Abenteuer versuchen wollte, man ihn wider Willen zurückhalten könne; daß er endlich doch selbst den Schlüssel der Chiffre finden könnte, und dann hätte ich umsonst gefastet.

Diese Gründe, die ich am Tag zuvor mit Unwillen verworfen hätte, schienen mir jetzt vortrefflich; es kam mir so ganz lächerlich vor, daß ich so lange gewartet hatte, und ich entschloß mich, Alles zu sagen.

Ich suchte daher, als der Professor aufstand und, um auszugehen, seinen Hut aufsetzte, eine Gelegenheit der Sache beizukommen, aber nicht zu grell.

Wie! Das Haus verlassen, und uns abermals einschließen! Nimmermehr.

»Oheim!« sagte ich.

Er schien mich nicht zu hören.

»Oheim Lidenbrock? rief ich nochmals laut.

– Was? sagte er, wie ein Mensch, der plötzlich aufwacht.

– Nun! dieser Schlüssel?

– Welcher Schlüssel? von der Hausthür?

– Nein, rief ich, der Schlüssel des Documents!«

Der Professor sah mich über die Brille hinweg an; er bemerkte wohl etwas Ungewöhnliches in meinen Gesichtszügen, denn er faßte mich lebhaft beim Arm und fragte mich, unfähig zu reden, mit dem Blick. Doch war die Frage klar ausgesprochen.

Ich bewegte den Kopf von oben nach unten.

Er schüttelte den seinigen etwas mitleidig, als habe er’s mit einem Narren zu thun.

Ich machte ein noch stärkeres Zeichen der Bejahung.

Seine Augen glänzten lebhaft; seine Hand wurde drohend.

Diese stumme Unterhaltung unter diesen Umständen hätte den gleichgiltigsten Zuschauer interessirt. Und wahrlich, ich wagte nicht einmal ein Wort zu sagen, aus Besorgniß, mein Oheim möge in den ersten freudigen Umarmungen mich ersticken. Aber es war doch dringend geworden, zu antworten.

»Ja, dieser Schlüssel! … Zufällig! …

– Was sagst Du? rief er in unbeschreiblicher Gemüthsbewegung.

– Hier, sagte ich, und hielt ihm das Blatt Papier hin, worauf ich geschrieben hatte, lesen Sie.

– Aber das bedeutet nichts! erwiderte er, indem er das Blatt zerknitterte.

– Nichts«, und fing an, den Anfang zu lesen, aber vom Ende an …

Ich hatte meine Phrase noch nicht fertig gelesen, als der Professor einen Schrei, mehr noch, ein wahres Gebrüll hören ließ! Es war seinem Geist ein Licht aufgegangen. Er war ganz umgewandelt.

»Ach! sinnreicher Saknussemm! rief er aus, Du hattest also anfangs Deine Phrase umgekehrt geschrieben?«

Und er fiel über das Papier her, mit trübem Auge, bewegter Stimme, und las das Document vollständig vom letzten Buchstaben aufwärts bis zum ersten.

Es lautete also:

In Sneffels Yoculis craterem kem delibat umbra Scartaris Julii intra calendas descende, audax viator, et terrestre centrum attinges. Kod feci.

Arne Saknussemm.

Was in gut Deutsch sich so übersetzen läßt:

Steig hinab in den Krater des Sneffels Yocul, welchen der Schatten des Skartaris vor dem ersten Juli liebkoset, kühner Wanderer, und Du wirst zum Mittelpunkt der Erde gelangen. Das hab ich vollbracht.

Arne Saknussemm.

Als mein Oheim dies gelesen, hüpfte er, als habe er unversehens eine Flasche Leydener getrunken. Vor Freude, Ueberzeugung und Kühnheit war er prachtvoll. Er ging hin und her, faßte seinen Kopf mit beiden Händen, rückte die Stühle, legte seine Bücher auf einander, spielte – kaum glaublich – Ball mit seinen kostbaren Klappersteinen, schlug mit der Faust hierhin, mit der Hand dorthin. Endlich wurden seine Nerven ruhiger und er sank erschöpft in seinen Lehnstuhl.

»Wieviel Uhr ist’s doch? fragte er nach einer kleinen Weile.

– Drei Uhr, erwiderte ich.

– Höre! Mein Essen war bald vorüber. Ich habe Hunger zum Umfallen. Zu Tische. Hernach …

– Hernach …

– Wirst Du meinen Koffer packen.

– Gut, rief ich.

– Und den Deinigen!« erwiderte der unbarmherzige Professor beim Eintritt in das Speisezimmer.

Achtunddreißigstes Capitel.


Achtunddreißigstes Capitel.

Ein fossiler Mensch.

Um meines Oheims Anrufung dieser berühmten französischen Gelehrten zu verstehen, muß ich bemerken, daß kurz vor unserer Abreise eine für die Paläontologie höchst wichtige Thatsache vorgefallen war.

Am 28. März 1863 wurde von den Grabarbeitern, welche unter Leitung des H. Boucher de Perches in den Steinbrüchen zu Moulin-Quignon bei Abbeville arbeiteten, vierzehn Fuß unter der Erdoberfläche ein menschlicher Kinnbacken aufgefunden. Es war dies das erste Fossil dieser Art, welches an’s Tageslicht gefördert wurde. Neben demselben fand man steinerne Hacken und behauene Kiesel, bemalt und mit der Zeit von einförmiger Patina überzogen.

Diese Entdeckung erregte großes Aufsehen, nicht allein in Frankreich, sondern auch in England und Deutschland. Einige Gelehrte vom Institut français, unter anderen die Herren Milne-Edwards und de Quatrefages, nahmen sich lebhaft der Sache an, bewiesen die unbestreitbare Aechtheit des fraglichen Knochens, und traten als die eifrigsten Verfechter desselben bei diesem »Kinnbackenproceß«, wie die Engländer sich ausdrückten, auf.

Zu den Geologen des Vereinigten Königreichs, welche die Thatsache für zuverlässig hielten, Falconer, Busk, Carpenter u.s.w. gesellten sich deutsche Gelehrte, und unter ihnen in vorderster Reihe der enthusiastischste, mein Oheim Lidenbrock.

Die Echtheit eines fossilen Menschen in der vierten Epoche schien also unbestreitbar bewiesen und zugegeben.

Dieses System hatte zwar einen hitzigen Gegner in dem Herrn Elie de Beaumont. Dieser Gelehrte von so großer Autorität behauptete, das Terrain von Moulin- Quignon gehöre nicht dem »Diluvium«, sondern einer minder alten Schichte an, und in diesem Punkt mit Cuvier einig, gab er nicht zu, daß das Menschengeschlecht aus gleicher Zeit mit den Thieren der vierten Epoche stammte. Mein Oheim Lidenbrock, in Uebereinstimmung mit der großen Majorität der Geologen, hatte sich wacker gehalten, disputirt, discutirt, und Herr E. de Beaumont war fast der einzige Mann seiner Partei.

Wir kannten alle Einzelheiten der Sache, aber wir wußten nicht, daß seit unserer Abreise die Frage neue Fortschritte gemacht hatte. Andere Kinnbacken derselben Art, obwohl Individuen verschiedener Typen und von verschiedenen Nationen, wurden in lockerem und grauem Erdreich gewisser Grotten in Frankreich, der Schweiz, Belgien gefunden, sowie Waffen, Geräthe, Werkzeuge, Gebeine von Kindern, jungen Leuten, Männern, Greisen. Die Existenz des quaternären Menschen wurde täglich mehr bestätigt.

Nicht genug dies. Weitere, im tertiären Boden ausgegrabene Reste hatten kühneren Gelehrten gestattet, dem Menschengeschlecht ein noch höheres Alter zuzuschreiben. Diese Reste waren zwar nicht Menschengebeine, sondern nur Gegenstände seiner Industrie, Bein- und Hüftknochen fossiler Thiere, regelmäßig gestreift, sozusagen vom Bildhauer gemacht, und das Gepräge menschlicher Arbeit an sich tragend.

Also ist der Mensch mit einem Male die Stufenleiter einer größeren Zahl von Jahrhunderten hinaufgestiegen; er ging dem Mastodon voraus, wurde Zeitgenosse des südlichen Elephanten; seine Existenz berechnete sich auf hunderttausend Jahre.

Bei diesem Stand der paläontologischen Wissenschaft wird das Staunen und die Freude meines Oheims begreiflich, zumal da er, zwanzig Schritte weiter, auf ein Exemplar des quaternären Menschen stieß.

Es war ein völlig kenntlicher Menschenkörper. Hatte ein Boden von besonderer Beschaffenheit, wie der des Friedhofs St. Michael zu Bordeaux, ihn so wohl erhalten Jahrhunderte lang bewahrt? Ich könnte es nicht sagen. Aber dieser Leichnam, die pergamentartige Haut, die – dem Anschein nach – noch markigen Glieder, die noch erhaltenen Zähne, das reiche Haar, die erschrecklich langen Nägel an Händen und Zehen – das Alles zeigte sich unseren Augen, so wie es bei Leben gewesen.

Ich war stumm bei dieser Erscheinung aus einem anderen Zeitalter. Mein Oheim, der sonst so geschwätzig ist, schwieg ebenfalls. Wir hoben den Körper auf, betasteten seinen Rumpf, er blickte uns aus seinen Augenhöhlen an. Nach einer kleinen Pause machte sich der Professor in dem Oheim geltend. Er vergaß die Umstände, worin wir uns befanden, glaubte ohne Zweifel vor seinen Zuhörern am Johanneum zu stehen. Denn er sprach im Ton des Docenten, wie vor einem Auditorium:

»Meine Herren, ich habe die Ehre, Ihnen einen Menschen aus der quaternären Epoche vorzustellen. Große Gelehrte haben seine Existenz in Abrede gestellt; nun kann auch der Ungläubigste sich überzeugen, wenn er mit den Fingern ihn berührt und seinen Irrthum inne wird. Ich weiß nun wohl, daß die Wissenschaft bei Entdeckungen dieser Art vorsichtig sein muß! Ich weiß wohl, was die Barnum und andere Charlatane mit fossilen Menschen für ein Unwesen getrieben haben. Ich kenne alle Geschichten der Art, weiß auch, daß Cuvier und Blumenbach solche Gebeine für bloße Mammuthknochen erklärt haben. Aber hier ist kein Zweifel statthaft. Der Cadaver ist da! Sie können ihn sehen, berühren; es ist ein unversehrter Körper, ein Skelet.

Sie sehen, er ist nicht völlig sechs Fuß groß; gehört unstreitig der kaukasischen Race an, ja ich wage zu behaupten, er gehört zur japhelischen Familie, welche von Indien bis zu den Grenzen West-Europas verbreitet ist. Ja, es ist ein fossiler Mensch, ein Zeitgenosse des Mastodon. Aber auf welchem Wege er hieher gekommen ist in diese enorme Höhlung, das wage ich nicht zu bestimmen. Doch das weiß ich zu sagen, der Mensch ist da, umgeben von Werken seiner Hand, und ich kann nicht die Echtheit seines Ursprungs aus der Urzeit in Zweifel ziehen.«

Als der Professor geendigt hatte, klatschte ich Beifall. Uebrigens hätten viel gelehrtere Leute, als sein Neffe ist, Mühe gehabt, mit ihm zu streiten.

Hiezu kommt weiter. Der fossile Körper war nicht der einzige auf dem großen Gebeinfeld; bei jedem Schritt stießen wir noch auf andere, so daß mein Oheim die Wahl hatte, um für die Ueberzeugung der Ungläubigen ein Musterstück zu haben.

Eine wichtige Frage drängte sich dabei auf, welche wir nicht zu entscheiden uns getrauen. Sind diese Geschöpfe zu einer Zeit, als sie schon vermodert waren, durch eine gewaltsame Erschütterung des Bodens an’s Ufer des Meeres Lidenbrock hinabgerutscht, oder haben sie in dieser unterirdischen Welt, unter diesem künstlichen Himmel gelebt, wurden geboren und starben gleich unseren Erdbewohnern?

Bis jetzt hatten wir nur Seeungeheuer und Fische lebendig angetroffen! Sollte wohl auch ein Mensch an diesem öden Gestade der Unterwelt vorhanden sein?

Neununddreißigstes Capitel.


Neununddreißigstes Capitel.

Ein Proteus der Urwelt.

Eine halbe Stunde lang durchwanderten wir dieses Lager von Gebeinen. Glühende Neugierde trieb uns weiter. Was für andere Wunder, welche Schätze für die Wissenschaft barg noch diese Höhle? Ich war auf jede Ueberraschung gefaßt.

Wir waren von dem Meeresufer hinter dem Gebeinfeld längst abgekommen.

Den unvorsichtigen Professor kümmerte es wenig, ob wir uns verirrten, und ich ließ mich von ihm fortziehen. Wir gingen schweigend vorwärts. Das elektrische Licht beleuchtete gleichmäßig die Gegenstände, ohne daß ein bestimmter Brennpunkt existirte, der einen Schatten bewirken konnte. Alle Dünste waren verschwunden. Die Felsen, die fernen Gebirge, einige undeutliche Gruppen von Waldung bekamen bei der gleichen Vertheilung des leuchtenden Fluidums ein seltsames Aussehen.

Nachdem wir eine Meile weit gegangen, kamen wir an den Rand eines ungeheuren Waldes. Es waren aber nicht Champignons, wie bei Gretchen-Hafen; es zeigte sich die tertiäre Vegetation in voller Pracht. Große Palmbäume, jetzt verschwundene Gattungen, Fichten, Eiben, Cypressen, Thuya’s waren netzartig mit Lianen durchflochten. Ein Teppich von Moos und Leberkraut bekleidete körnig den Boden. Einige Bäche rieselten unter dem schattenlosen Gebüsch. An ihrem Uferrand wuchsen baumhohe Farrenkräuter gleich denen in unseren Gewächshäusern. Nur waren alle diese Bäume, Gebüsche, Pflanzen farblos, da die belebende Sonnenwärme fehlte. Alles verschwommen in einförmiger Färbung, bräunlich und wie verblichen. Die Blätter ohne Grün, und selbst die Blumen, welche in dieser tertiären Epoche zahlreich sproßten, damals farb- und geruchlos, sahen aus wie von Papier gemacht, das durch Einwirken der Luft seine Farbe verloren hat.

Mein Oheim Lidenbrock wagte sich in dieses riesige Gehölz. Ich folgte ihm, nicht ohne Angst. Da die Natur hier die vegetale Nahrung sprossen ließ, warum sollten sich nicht da auch die fürchterlichen Säugethiere finden? Ich bemerkte an den lichten Stellen Leguminosen, Rubiaceen und die unzähligen Nahrungssträuche, welche die Wiederkäuer aller Perioden gerne fressen. Hernach zeigten sich die Bäume verschiedener Gegenden der Erdoberfläche durcheinander gemischt: die Eiche neben der Palme, der australische Eucalyptus an der Seite der norwegischen Tanne, die Birke des Nordens mit der seeländischen Kauris, das Gezweig verflechtend.

Plötzlich stand ich stille, hielt meinen Oheim mit der Hand zurück.

Das zerstreute Licht gestattete in der Tiefe der Waldung die geringsten Gegenstände zu sehen. Ich glaubte zu sehen … Nein, wirklich, mit eigenen Augen sah ich ungeheure Gestalten unter den Bäumen sich bewegen! Wirklich, es waren Riesenthiere, eine Heerde Mastodone, nicht fossil, nein, leibhaftige, gleich denen, deren Reste 1801 in den Sümpfen des Ohio aufgefunden wurden!

Ich gewahrte diese großen Elephanten, deren Rüssel unter den Bäumen wühlten gleich wimmelnden Schlangen. Ich hörte sie mit ihren langen Haaren die alten Stämme anbohren. Die Zweige krachten, und das massenweis herabgerissene Laub verschwand in den weiten Rachen dieser Ungeheuer.

Diesen wilden Bewohnern waren wir also, einsam mitten im Schoße der Erde, Preis gegeben!

Mein Oheim schaute hin.

»Auf! sagte er auf einmal, und faßte mich beim Arm, vorwärts, vorwärts!

– Nein, rief ich, nein! Wir sind waffenlos! Was sollen wir mitten in der Heerde von Riesenthieren anfangen? Kommen Sie, Oheim, kommen Sie! Kein menschliches Geschöpf kann ungestraft den Zorn dieser Ungeheuer herausfordern.

– Kein menschliches Geschöpf! erwiderte mein Oheim mit leiser Stimme. Du irrst, Axel. Schau, schau nur, dort unten! Es dünkt mir, da seh‘ ich ein lebendes Wesen! ein Unsersgleichen! einen Mann!«

Ich blickte hin, zuckte die Achseln, entschlossen, die Ungläubigkeit bis zum Aeußersten zu treiben. Doch, ich mußte mich durch den Augenschein überführen lassen.

Wirklich, nicht eine Viertelmeile weit, an den Stamm eines enormen Kauris gelehnt, war ein menschliches Wesen, ein Proteus jener unterirdischen Gegenden, ein neuer Sohn des Neptun, welcher diese zahllose Heerde von Mastodonten hütete!

Es war kein Fossil, wie jener Cadaver im Gebeinfeld, sondern ein Riese, der diesen Ungeheuern zu gebieten verstand. Seine Größe betrug über zwölf Fuß. Sein Kopf, so groß wie der eines Büffels, verschwand im Gebüsch eines wilden Haupthaars. Er schwang in der Hand einen ungeheuren Baumzweig, einen würdigen Hirtenstab des Schäfers der Urzeit.

Wir waren unbeweglich, voller Bestürzung, stehen geblieben. Aber man konnte uns bemerkt haben, wir mußten entfliehen.

»Kommen Sie, kommen Sie«, rief ich, und zog meinen Oheim mit mir, welcher zum ersten Male mir nachgab!

Nach einer Viertelstunde befanden wir uns außer dem Gesichtskreis dieses fürchterlichen Feindes.

Und jetzt, da ich ruhig daran denke, jetzt, da mein Geist wieder Besonnenheit gewonnen hat, da Monate seit der übernatürlichen Begegnung verflossen sind, was soll ich denken, glauben? Nein! Unmöglich! Es war Sinnentäuschung, was unsere Augen sahen, ist nicht in Wirklichkeit so gewesen! In dieser unterirdischen Welt existirt kein menschliches Geschöpf! Eine Generation von Menschen, welche diese Höhlen im Schoße des Erdkörpers, ohne Verbindung mit der Oberwelt, bewohnte, ist vollständiger Unsinn!

Eher ließe ich die Existenz eines Thieres gelten, dessen Bau dem menschlichen ähnlich ist, eines Affen der Urzeit, eines Protopitheken. Aber dieser übertraf an Wuchs alle bekannten Maße! Gleichviel! Ein Affe, so unwahrscheinlich auch, ein Affe mag’s sein; aber ein lebendiger Mensch nie!

Inzwischen hatten wir den klaren und hellen Wald verlassen, stumm vor Erstaunen, gedrückt von Bestürzung. Wir liefen wider Willen. Unser Instinct leitete uns dem Meer Lidenbrock wieder zu, und ein Gedanke brachte mich wieder auf praktischere Beobachtungen.

Obwohl ich gewiß war, daß wir uns auf völlig unbetretenem Boden befanden, so bemerkte ich mitunter Felsengruppen, deren Form an die von Gretchen-Hafen erinnerte. Dies war übrigens durch die Angaben des Compasses und unsere unwillkürliche Rückkehr auf die Nordseite des Meeres bestätigt. Es war mitunter täuschend ähnlich. Bäche und Wasserfälle stürzten zahlreich aus den Felsvorsprüngen. Ich glaubte das Lager von Surtarbrandur, unsern treuen Hansbach und die Grotte, worin ich wieder zu Besinnung kam, zu erkennen. Hernach etwas weiter wurde ich wieder durch die Gestaltung der Berge, durch einen Bach und die überraschende Zeichnung eines Felsens in den Zweifel zurückgeworfen.

Ich theilte meinem Oheim mein Schwanken mit. Er schwankte ebenfalls. Er konnte sich in dieser Umgebung nicht auskennen.

»Offenbar, sagte ich, sind wir nicht bei unserm Abfahrtspunkt gelandet, sondern der Sturm hat uns etwas weiter oberhalb getrieben, und wenn wir uns längs dem Ufer halten, werden wir nach Gretchen-Hafen gelangen.

– In diesem Falle, erwiderte mein Oheim, ist’s unnütz, diese Untersuchung fortzusetzen, und das Beste wäre, nach unserm Floß zurückzukehren. Aber, Axel, irrst Du Dich nicht?

– Es ist schwer, ein bestimmtes Urtheil darüber zu fällen, lieber Oheim, denn alle diese Felsen gleichen sich. Ich glaube jedoch das Vorgebirge wieder zu erkennen, an dessen Fuß Hans das Fahrzeug gebaut hat. Wir müssen nahe bei dem kleinen Hafen sein, wenn er nicht schon hier ist.

– Nein, Axel, wir würden wenigstens unsere eigenen Spuren finden, und ich sehe nichts …

– Aber ich sehe etwas, rief ich aus, und stürzte auf einen Gegenstand, der im Sande glänzte.

– Was ist’s denn?

– Dies«, erwiderte ich.

Und ich zeigte meinem Oheim einen verrosteten Dolch, den ich aufgehoben hatte.

»Ah! sagte er, Du hattest also doch diese Waffe mitgenommen?

– Ich? Keineswegs! Aber Sie …

– Nein, soviel ich wüßte, versetzte der Professor. Ich habe diesen Gegenstand nie im Besitz gehabt.

– Das ist aber eigenthümlich!

– Nein, es ist sehr einfach, Axel. Die Isländer haben oft Waffen dieser Art, und Hans, dem diese angehört, wird sie verloren haben …«

Ich schüttelte den Kopf. Hans hatte diesen Dolch nie in Besitz.

»Ist’s vielleicht die Waffe eines urweltlichen Kriegers, rief ich aus, eines lebenden Menschen, Zeitgenossen des riesigen Schäfers? Aber nein! Es ist nicht ein Werkzeug aus dem Zeitalter des Steins! nicht einmal der Bronce! Diese Klinge ist von Stahl …«

Mein Oheim unterbrach mich bei diesem Gedanken und fügte mit kaltem Tone bei:

»Beruhige Dich, Axel, und komme zur Vernunft. Dieser Dolch ist eine Waffe aus dem sechzehnten Jahrhundert, ein wirklicher Dolch, wie die Edelleute ihn am Gürtel trugen, um den Gnadenstoß zu geben. Er ist spanischen Ursprungs. Er gehört weder Dir, noch mir, noch dem Jäger, noch auch den menschlichen Wesen, welche vielleicht im Schoße des Erdballs leben!

– Wagen Sie dies zu behaupten? …

– Sieh, man hat ihn nicht durch Menschenmord schartig gemacht; seine Klinge ist mit einem Rost bedeckt, der älter ist, als ein Tag, ein Jahr, ein Jahrhundert!«

Der Professor ereiferte sich wie gewöhnlich und ließ sich durch seine Phantasie fortreißen.

»Axel, sagte er, wir sind der großen Entdeckung auf der Spur! Diese Klinge liegt hier auf dem Sande seit hundert, zweihundert, dreihundert Jahren, und ist an den Felsen dieses unterirdischen Meeres schartig geworden!

– Aber sie ist nicht allein gekommen, rief ich aus; es ist Jemand vor uns hier gewesen! …

– Ja! ein Mann.

– Und dieser Mann?

– Dieser Mann hat mit diesem Dolch seinen Namen eingegraben! Dieser Mann hat noch einmal eigenhändig den Weg nach dem Mittelpunkt zeigen wollen! Suchen wir nur!«

Und mit erstaunlichem Eifer gingen wir längs der hohen Felswand und forschten nach den geringsten Spalten, die zur Galerie werden konnten.

So gelangten wir zu einer Stelle, wo das Gestade enger wurde. Das Meer drang fast bis an den Fuß der Vorberge und ließ nur eine oder zwei Klafter als Weg frei. Zwischen zwei Felsenvorsprüngen gewahrte man den Eingang zu einem dunkeln Tunnel.

Hier zeigten sich auf einer Granitfläche zwei geheimnißvolle halb verwitterte Buchstaben, die beiden Anfangsbuchstaben des kühnen und abenteuerlichen Reisenden:

»A.S.! rief mein Oheim. Arne Saknussemm! Stets Arne Saknussemm!«

Viertes Capitel.


Viertes Capitel.

Entzifferung des Geheimnisses.

»Er ist fort, rief Martha, die herbeigelaufen kam, als er die Hausthür so heftig zuschlug, daß von dem Schmettern das ganze Haus erschüttert wurde.

– Ja, erwiderte ich, ganz und gar fort!

– Nun! und sein Mittagessen? sagte die alte Dienerin.

– Er wird nicht zu Mittag speisen!

– Und sein Abendessen?

– Er wird auch nicht zu Abend speisen!

– Wie? sagte Martha und rang die Hände.

– Nein, gute Martha, er wird nicht mehr essen, und Niemand im ganzen Hause. Mein Oheim läßt uns alle fasten, bis es ihm gelingt, ein altes Gekritzel, das durchaus unleserlich ist, zu entziffern!

– Jesus! So bleibt uns also nichts, als Hungers sterben.«

Ich getraute nicht, einzugestehen, daß bei einem so unbedingten Mann, wie mein Oheim, dies uns unvermeidlich bevorstehe.

Ernstlich beunruhigt begab sich die alte Dienerin mit Seufzen in ihre Küche zurück.

Als ich allein war, kam mir der Gedanke, zu Gretchen zu eilen und ihr Alles zu erzählen. Aber wie konnte ich das Haus verlassen? Der Professor konnte jeden Augenblick heim kommen. Und wenn er nach mir rief? Und wenn er seine Enträthselungsarbeit, die man dem alten Oedipus vergeblich vorgelegt haben würde, wieder anfangen wollte? Und was würde es geben, wenn ich auf sein Rufen nicht Antwort gäbe?

Das Klügste war, zu bleiben. Eben hatte uns ein Mineralog aus Besançon eine Sammlung Klappersteine vom Kieselgeschlecht zugeschickt, welche zu classificiren waren. Ich machte mich an die Arbeit. Ich sonderte aus, machte Etiketten, ordnete in ihrem Glaskasten alle die hohlen Steine, worin kleine Krystalle eingeschlossen waren.

Aber diese Thätigkeit beschäftigte mich nicht völlig. Das alte Document machte mir in den Gedanken viel zu schaffen. Mein Kopf glühte, und eine unbestimmte Unruhe ergriff mich. Ich ahnte eine bevorstehende Katastrophe.

Nach Verlauf einer Stunde waren meine Klappersteine geordnet. Darauf wiegte ich mich in dem großen Lehnstuhl, den Kopf rückwärts, die Arme baumelnd. Ich zündete meine Pfeife an, deren lange krumme Röhre am Kopf mit dem Bild einer Nymphe geziert war, und ergötzte mich daran, die Fortschritte der Verkohlung zu beobachten, wodurch die Nymphe zu einer vollständigen Negerin geworden war. Von Zeit zu Zeit lauschte ich, ob sich nicht Tritte auf der Treppe vernehmen ließen. Nichts zu hören. Wo mochte mein Oheim eben sein? Ich sah ihn in Gedanken die schöne Allee der Altonaer Straße entlang laufen, gesticulirend, mit kräftigem Arm die Kräuter zerschlagen, Disteln köpfen und die Schwäne in ihrem Frieden stören.

Wird er triumphirend oder entmuthigt heim kommen? Sollte er das Geheimniß heraus bekommen haben? So fragte ich mich, und nahm maschinenmäßig das Blatt Papier in die Hand, worauf die von mir geschriebenen unverständlichen Zeilen sich befanden. Ich wiederholte:

»Was bedeutet dies?«

Ich versuchte die Buchstaben so zu gruppiren, daß sie Worte bildeten. Unmöglich. Man mochte sie zu zwei, drei, fünf oder sechs zusammenstellen, es kam durchaus nichts Verständliches heraus. Doch ließ sich aus dem vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Buchstaben das englische Wort »ice« bilden, aus dem vier-, fünf- und sechsundachtzigsten das Wort »sir«. Endlich erkannte ich mitten in dem Document auf der dreißigsten Zeile die lateinischen Worte »rota«, »mutabile«, »ira«, »nec«, »atra«.

Teufel, dacht‘ ich, diese letzteren Wörter könnten wohl meinem Oheim Auskunft über die Sprache des Documents geben! Und da sehe ich gar, auf der vierten Zeile noch das Wort »luco«, das einen »heiligen Hain« bedeutet. Zwar auf der dritten Zeile ist das Wort »tabiled« zu lesen, welches ganz hebräisch aussieht, und auf der letzten die Wörter »mer«, »arc«, »mère«, die rein französisch sind.

Darüber konnte man den Kopf verlieren: Vier verschiedene Sprachidiome in einer sinnlosen Phrase! In welchem Zusammenhang konnten die Wörter »Eis«, »Herr«, »Zorn«, »grausam«, »heiliger Hain«, »wechselnd«, »Mutter«, »Bogen«, »Meer« stehen? Das letzte und erste allein ließen sich leicht an einander reihen: es wäre nicht zu verwundern, wenn in einem auf Island geschriebenen Document von »Eismeer« die Rede wäre. Aber den übrigen Theil des Geheimschriftstücks zu begreifen, war doch eine andere Aufgabe.

Ich rang also mit einer unlöslichen Schwierigkeit; mein Gehirn erhitzte sich, meine Augen blinzelten bei dem Blick auf das Blatt; die hundertzweiunddreißig Buchstaben schienen um mich herum zu hüpfen, wie die Silbertropfen, die in der Luft unseren Kopf umflimmern, wenn das Blut stark dahin dringt.

Es wandelten mich Phantasiegesichte an; der Athem ging mir aus; ich bedurfte Luft. Unwillkürlich fächelte ich mich mit dem Blatt Papier, so daß seine Vorder- und Rückseite abwechselnd mir vor Augen kamen. Wie war ich überrascht, als ich bei einem solchen raschen Umwenden vollkommen lesbare Wörter zu erkennen glaubte, lateinische Wörter, z.B. »craterem«, »terrestre«.

So drang auf einmal ein Lichtstrahl in meinen Geist; diese einzigen Spuren führten mich auf den Weg der Wahrheit; ich hatte das Gesetz der Chiffre gefunden. Um das Document zu verstehen, brauchte man nicht einmal quer über auf die Rückseite des Blattes zu lesen! Nein.

Gerade so, wie es war, gerade so, wie mir’s dictirt wurde, konnte es geläufig buchstabirt werden. Alle sinnreichen Gedanken des Professors verwirklichten sich. Er hatte Recht in Hinsicht der Zusammenreihung der Buchstaben, sowie in Hinsicht der Sprache. Um dieses lateinische Schreiben von Anfang bis zu Ende lesen zu können, bedurfte er nur noch »etwas«, und dieses »etwas« wurde mir vom Zufall gegeben.

Natürlich war ich sehr im Gemüth ergriffen. Meine Augen wurden trübe, so daß sie mir den Dienst versagten. Ich hatte das Papier auf dem Tisch ausgebreitet. Ich brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um das Geheimniß in Besitz zu bekommen.

Endlich ward ich mit Mühe meiner Bewegung Herr. Um meine Nerven ruhig werden zu lassen, legte ich mir auf, zweimal durch das Zimmer zu gehen, darauf wiegte ich mich wieder in dem großen Lehnstuhl.

»So will ich lesen«, rief ich aus, nachdem ich aus tiefer Brust aufgeathmet.

Ich neigte mich über den Tisch, verfolgte mit dem Finger der Reihe nach jeden Buchstaben, und las ohne anzuhalten, ohne einen Augenblick zu stocken, mit lauter Stimme den ganzen Satz.

Aber welche Bestürzung, welcher Schrecken befiel mich! Ich stand Anfangs wie vom Schlag gerührt. Wie! Was ich eben gelernt hatte, war schon am Ziel! Ein Mensch war kühn genug, dahin zu dringen! …

»Ah! rief ich hüpfend aus, nein! nein! Mein Oheim soll’s nicht erfahren! Er würde unfehlbar eine solche Reise vornehmen! Er würde auch diesen Genuß haben wollen! Nichts würde ihn abhalten können! Ein so entschlossener Geolog! Er würde jedenfalls hinreisen, trotz Allem! und er würde mich mitnehmen, um nimmer heimzukehren! Niemals! nie!«

Ich war in unbeschreiblicher Aufregung.

»Nein! nein! Das wird nicht geschehen, sagte ich mit Energie, und da es in meiner Macht steht, zu verhindern, daß meinem Tyrannen eine solche Idee in den Sinn komme, so will ich’s thun. Wenn er das Document um- und herumwendet, könnte er zufällig den Schlüssel desselben entdecken! So will ich’s vernichten!«

Im Kamin war noch ein wenig Feuer. Ich ergriff nicht allein das Blatt Papier, sondern auch das Pergament des Saknussemm; mit fieberhaft zitternder Hand war ich im Begriff, es mit einander auf die Kohlen zu werfen, und so das gefährliche Geheimniß zu vernichten. Da öffnete sich die Thür des Zimmers und mein Oheim trat ein.

Dreißigstes Capitel.


Dreißigstes Capitel.

Das Meer Lidenbrock.

Anfangs konnte ich nichts sehen. Meine des Lichts entwöhnten Augen schlossen sich unverzüglich. Als ich sie wieder zu öffnen vermochte, war ich noch mehr bestürzt als erstaunt.

»Das Meer! rief ich aus.

– Ja, erwiderte mein Oheim, das Meer Lidenbrock, und ich glaube gern, kein Seefahrer wird mir die Ehre der Entdeckung streitig machen, und das Recht, ihm meinen Namen beizulegen.«

Eine große Wasserfläche, der Anfang eines See’s oder Meeres, breitete sich vor unsern Blicken bis über die Grenzen des Gesichtskreises aus. Das buchtenreiche Ufer bot den letzten Wellenschlägen einen feinen Sand dar voll kleiner Muscheln, welche den ersten Wesen der Schöpfung zur Behausung gedient hatten. Die Wellen brachen sich daran mit dem lauten Gemurmel, welches den umschlossenen Räumen eigenthümlich ist. Beim Wehen eines mäßigen Windes flog ein leichter Schaum auf, und es benetzten einige Flocken desselben mein Gesicht. An diesem flachen Ufer, hundert Klaftern vom Rande der Wellen, verliefen sich die Strebemauern enormer Felsen, welche zu einer unmeßbaren Höhe sich erhoben. Einige zerrissen mit scharfer Kante das Ufer und bildeten Vorgebirge, welche der Wellenschlag benagte. Weiter hinaus verfolgte das Auge ihre klar gezeichnete Masse auf dem nebeligen Hintergrund des Horizonts.

Es war ein wirkliches Meer mit der eigenwilligen Gestalt der Ufer auf der Oberwelt, aber öde und von erschrecklich wildem Aussehen.

Meine Blicke konnten sich weithin über dieses Meer ergehen, weil ein ganz besonderes Licht es bis auf’s kleinste Detail erleuchtete. Nicht das Sonnenlicht mit seinen glänzenden Büscheln und seiner prachtvollen Strahlenergießung, noch das blasse und unstete des Nachtgestirns, das ein rückgestrahltes ohne Wärme ist. Nein. Die Leuchtkraft dieses Lichtes, seine zitternde Verbreitung, seine klare und trockene Weiße, die geringe Höhe seiner Temperatur, sein Glanz, der an Gehalt den des Mondlichtes übertraf – dies Alles bekundete klar einen elektrischen Ursprung. Es war gleichsam ein Nordlicht, ein dauerndes kosmisches Phänomen, welches diese Höhle erfüllte, die einen Ocean zu enthalten fähig war.

Das Gewölbe über meinem Kopf, der Himmel, wenn man will, schien aus großem Gewölk zu bestehen, beweglichen und wechselnden Dünsten, welche in Folge ihrer Verdichtung nach einigen Tagen sich in heftigen Regen entladen mußten. Ich hatte geglaubt, unter einem so starken Druck der Atmosphäre könne die Verdünstung des Wassers nicht vor sich gehen, und doch war, aus einem mir noch unbekannten physikalischen Grund, reichlich Gewölk in der Luft verbreitet. Damals aber war es schönes Wetter. Die elektrischen Streifen erzeugten auf den sehr hohen Wolken staunenswerthe Lichtspiele. Lebhafte Schatten fielen auf ihre unteren Schichten, und oft drang zwischen zwei getrennten Schichten ein Strahl mit merkwürdiger Stärke bis zu uns. Aber im Ganzen war’s nicht Sonnenlicht, denn es fehlte ihm an Wärme. Seine Wirkung war traurig, ganz besonders melancholisch. Anstatt eines Firmaments mit seinem Sternenglanz fühlte ich über diesen Wolken ein granitenes Gewölbe, das mit seiner ganzen Wucht auf mir lastete, und so unermeßlich dieser Raum war, hätte er doch für den bescheidensten Trabanten nicht zum Spaziergang hingereicht.

Wir waren in einer enormen Höhle, in Wirklichkeit doch im Gefängniß. Ihre Breite konnte man nicht beurtheilen, weil das Gestade unabsehbar sich erweiterte, und auch ihre Länge nicht, weil der Blick bald durch eine etwas unbestimmte Linie des Horizonts aufgehalten war. Ihre Höhe mußte mehr als einige Meilen betragen. Wo dies Gewölbe sich auf seine granitenen Strebemauern stützte, konnte das Auge nichts wahrnehmen; aber es hing manches Gewölk in der Atmosphäre, dessen Höhe auf zweitausend Klaftern zu schätzen war, eine Höhe, welche die der Erdendünste übertraf und ohne Zweifel der beträchtlichen Dichtigkeit der Luft zuzuschreiben ist.

Der Ausdruck »Höhle« ist offenbar nicht passend, um diesen unermeßlichen Raum zu bezeichnen. Aber wer sich in die Abgründe des Erdballs hinabwagt, für den reichen die Worte der menschlichen Sprache nicht mehr aus!

Ich wußte übrigens nicht, durch welche geologische Thatsache ich das Vorhandensein einer solchen Aushöhlung erklären sollte. War es möglich, daß dieselbe durch das Erkalten des Erdkörpers entstand? Ich kannte wohl aus den Berichten der Reisenden einige berühmte Grotten, aber keine von solcher Ausdehnung.

A. von Humboldt hat die Grotte zu Guachara in Columbia untersucht, und eine Strecke von zweitausendfünfhundert Fuß ausgekundet; wenn dabei nicht hinsichtlich ihrer Tiefe ein Geheimniß vorbehalten blieb, so erstreckte sie sich wahrscheinlich nicht viel weiter. Die ungeheure Mammuth-Grotte in Kentucky zeigte wohl riesenhafte Verhältnisse, denn ihre Wölbung erhob sich fünfhundert Fuß über einen unergründlichen See, und es sind Reisende darin über zehn Meilen weit gedrungen, ohne das Ende zu finden. Aber was wollten diese Höhlen neben derjenigen bedeuten, welche ich damals bewunderte, mit ihrem Dunsthimmel, ihrer elektrischen Beleuchtung und einem ungeheuren Meer innerhalb ihres Schooßes? Für diesen unermeßlichen Umfang reichte meine Phantasie nicht aus.

Alle diese Wunder betrachtete ich im Stillen. Es mangelte mir der Ausdruck für meine Empfindungen, denn für neue Lebenserscheinungen fehlte die Bezeichnung. Ich betrachtete, dachte nach, bewunderte mit einer Bestürzung, zu der sich einiger Schrecken gesellte.

Das Unerwartete dieses Anblicks rief die Farbe der Gesundheit wieder auf mein Angesicht, und ich war im Zug mich durch Erstaunen zu kuriren und meine Genesung durch diese neue therapeutische Methode zu vollenden; zudem belebte mich die Lebenskraft einer sehr dichten Luft, indem sie meinen Lungen mehr Sauerstoff zuführte.

Es ist leicht begreiflich, daß nach einer siebenundvierzigtägigen Einkerkerung in einem engen Gange ein unendlicher Genuß darin lag, diesen Seewind voll salzhaltiger Feuchtigkeit einzuathmen.

Darum hatte ich auch nicht zu bereuen, daß ich aus meiner dunkeln Grotte herausgekommen war. Mein Oheim, der schon an solche Wunder gewöhnt war, gerieth nicht mehr in Erstaunen.

»Fühlst Du Dich stark genug zu einem kleinen Spaziergang? fragte er mich.

– Ja, gewiß, erwiderte ich; es wird mir höchst angenehm sein.

– Nun, so nimm meinen Arm, Axel, wir wollen uns längs dem Ufer halten.«

Voll Eifer nahm ich’s an, und wir begannen an der neuen Meeresküste zu wandeln. Links bildeten steile, über einander gethürmte Felsen eine riesenhafte Gruppe von wundervoller Wirkung, an deren Seiten zahllose Cascaden mit klarem, rauschendem Wasser herabströmten. Einige leichte Dünste, die zwischen den Felsen hervordrangen, zeigten warme Quellen an, und Bäche rieselten sanft zu dem gemeinschaftlichen Becken.

Unter diesen Bächen erkannte ich unseren treuen Reisegefährten, den Hansbach, der sich gemächlich in dem Meer verlief, als hätte er seit Anfang der Welt es so gemacht.

»Er wird von nun an uns fehlen, sagte ich seufzend.

– Bah! erwiderte der Professor, ob dieser oder ein anderer, gleichviel.«

Die Antwort kam mir etwas undankbar vor.

Aber in dem Augenblick erregte ein unerwarteter Anblick meine Aufmerksamkeit. In einer Entfernung von hundert Schritten, an der Ecke eines hohen Vorgebirgs, lag vor unseren Augen ein hoher, dichter Wald. Derselbe bestand aus Bäumen mittlerer Höhe von einem Wuchs gleich regelmäßigen Sonnenschirmen mit deutlich abgezirkelten Umrissen; die Lichtströmung schien ihrem Laube nicht beizukommen, denn trotz eines Windes blieben sie unbeweglich, wie ein Gebüsch versteinerter Cedern.

Ich beeilte mich hinzukommen, ich wußte diese ganz sonderbaren Wesen nicht zu benennen. Gehörten sie nicht zu den bereits bekannten zweimalhunderttausend Pflanzengattungen, und mußte man ihnen in der Flora der Sumpfgewächse eine besondere Stelle anweisen? Nein. Als wir nahe kamen, war meine Ueberraschung so groß, als mein Erstaunen.

In der That hatten wir Producte der Erde vor uns, aber von riesenhaftem Maßstab. Mein Oheim wußte sie sogleich richtig zu benennen.

»Nur ein Wald von Champignons«, sagte er.

Und er täuschte sich nicht. Nun mache man sich einen Begriff, welche Entwickelung diese theuren Pflanzen in warmer, feuchter Umgebung erreichen können. Ich wußte, daß nach Bulliard das Lycoperdon giganteum acht bis neun Fuß Umfang erreichen kann; hier aber waren weiße Champignons, dreißig bis vierzig Fuß hoch, mit einer Kappe von entsprechendem Durchmesser. Sie standen da zu Tausenden. Kein Lichtstrahl drang durch ihren dichten Schatten und es herrschte völliges Dunkel unter diesen Domen, die gleich runden Dächern einer afrikanischen Stadt neben einander gereiht waren.

Doch wünschte ich weiter vorzudringen. Todeskälte drang aus diesen fleischigen Wölbungen herab. Eine halbe Stunde lang schweiften wir in diesem feuchten Dunkel umher, so daß wir mit wahrem Wohlbehagen uns wieder am Meeresufer einfanden.

Aber die Vegetation dieser unterirdischen Landschaft beschränkte sich nicht auf diese Champignons. Weiter hinaus sah man gruppenweise eine Menge anderer Bäume mit farblosem Laub. Sie waren leicht zu erkennen; es waren niedere Gesträuche der Erdoberfläche in außerordentlichen Dimensionen, hundert Fuß hohe Lycopodien riesenhafte Sigillarien, Farrenkräuter so hoch wie breitastige Tannenbäume, Lepidodendreen mit runden gabelförmigen Stämmen, die in lange Blätter endigten und mit rauhen Haaren besetzt waren.

»Zum Staunen, prachtvoll! rief mein Oheim. Da ist ja die ganze Flora der zweiten Epoche der Welt, der Uebergangsepoche. Da sehen wir unsere niedrigen Gartengewächse in den ersten Jahrhunderten als Bäume! Schau doch, Axel, bewundere! Eine festliche Freude für einen Botaniker!

– Sie haben Recht, lieber Oheim. Die Vorsehung scheint in diesem ungeheuren Gewächshaus die vorsündfluthigen Pflanzen aufbewahrt zu haben, welche der Scharfsinn der Gelehrten so glücklich wieder aufgefunden hat.

– Du sagst ganz richtig, es sei ein Gewächshaus; besser noch würdest Du’s vielleicht eine Menagerie nennen.

– Eine Menagerie!

– Ja, ohne Zweifel. Sieh nur diesen Staub unter unseren Füßen, diese auf dem Boden zerstreuten Gebeine.

– Gebeine! rief ich aus. Ja, Gebeine vorsündfluthiger Thiere!«

Ich stürzte über diese Jahrhunderte alten Trümmer von einer unzerstörbaren Mineralsubstanz her, und wußte ohne Besinnen diese riesenhaften Knochen, welche wie ausgetrocknete Baumstämme aussahen, zu benennen.

»Hier ist der Unterkiefer des Mastodon, sagte ich; hier die Backenzähne des Dinotherium; dieser Hüftknochen kann nur dem allergrößten dieser Gattung, dem Megatherium, angehört haben. Ja, es ist wohl eine Menagerie, denn diese Gebeine sind gewiß nicht durch eine Ueberschwemmung hieher verpflanzt worden. Die Thiere, von welchen sie herrühren, haben an den Ufern dieses unterirdischen Meeres, unter dem Schatten dieser Riesenpflanzen gelebt. Sieh, da sind ja ganze Skelette. Und dennoch.

– Dennoch? sagte mein Oheim.

– Ich begreife nicht das Vorkommen solcher Vierfüßler in dieser Granithöhle.

– Weshalb?

– Weil das thierische Leben auf der Erde erst in den secundären Perioden existirt hat, als sich durch Anschwemmungen aus dem Niederschlag das Erdreich gebildet und an die Stelle der Felsen der Urperiode getreten war.

– Ah nun, Axel, auf Deinen Einwand giebt’s eine sehr einfache Antwort, nämlich, daß dieses Terrain ein durch Niederschlag gebildetes ist.

– Wie? in einer solchen Tiefe unter der Erdoberfläche!

– Ja wohl, und diese Thatsache läßt sich geologisch erklären. Zu einer gewissen Zeit bestand die Erde nur aus einer elastischen Rinde, welche kraft der Gesetze der Anziehung abwechselnden Bewegungen nach oben und unten unterworfen war. Es ist wahrscheinlich, daß Einsenkungen des Bodens stattfanden, und daß ein Theil des sedimentären Terrains auf den Grund eines plötzlich geöffneten Abgrundes hinabgezogen wurde.

– Das muß wohl der Fall sein. Aber wenn vorsündsluthige Thiere in diesen unterirdischen Regionen gelebt haben, wer sagt uns, daß nicht eins von diesen Ungeheuern noch jetzt in dieser dunkeln Waldung oder hinter diesen steilen Felsen umherstreift?«

Bei diesem Gedanken prüfte ich, nicht ohne Schrecken, den Horizont in verschiedenen Richtungen; aber es zeigte sich kein lebendes Wesen an diesen öden Gestaden.

Ich war ein wenig müde und setzte mich am Ende eines Vorgebirgs nieder, an dessen Fuß sich die Wellen rauschend brachen. Von da aus umfaßte mein Blick die ganze durch eine Ausbiegung der Küste gebildete Bai. Im Hintergrunde fand sich ein kleiner Hafen zwischen den pyramidalen Felsen. Seine Gewässer schlummerten ruhig im Schutze vor’m Wind. Eine Brigg und zwei bis drei Goeletten hätten daselbst bequem ankern können. Ich war fast darauf gefaßt, ein Fahrzeug mit vollen Segeln herauskommen zu sehen, um unter’m Südwind das Weite zu suchen.

Aber diese Täuschung verschwand rasch. Wir waren wohl die einzigen lebenden Geschöpfe dieser unterirdischen Welt. Wenn es mitunter windstille war, kam eine tiefere Stille, als die der Wüste über die trockenen Felsen und lastete auf der Oberfläche des Meeres. Ich suchte dann den Nebel der Ferne zu durchdringen, diesen vor den geheimnißvollen Hintergrund des Horizonts gezogenen Vorhang zu zerreißen. Wie drängten da sich die Fragen auf meinen Lippen? Wo endigte das Meer? Wohin führte es? Würden wir je die jenseitigen Ufer desselben zu erkennen im Stande sein?

Mein Oheim zweifelte seinerseits nicht daran. Ich wünschte und fürchtete es zugleich.

Nachdem wir eine Stunde in Betrachtung dieses merkwürdigen Anblicks hingebracht, gingen wir zu der sandigen Uferstelle zurück, um wieder in die Grotte zu gelangen. Und so schlief ich unter’m Eindruck der seltsamsten Gedanken ein und ruhte in tiefem Schlummer.

Einunddreißigstes Capitel.


Einunddreißigstes Capitel.

Zu Schiffe.

Am folgenden Tag wachte ich völlig geheilt auf. Ich dachte, ein Bad würde mir sehr heilsam sein, und tauchte mich einige Minuten lang in die Gewässer dieses mittelländischen Meeres.

Als ich zurückkam, speiste ich mit trefflichem Appetit. Hans verstand sich darauf, ein Frühstück zu bereiten; er war mit Wasser und Feuer versehen, so daß er ein wenig Abwechselung in unser Frühstück bringen konnte. Zum Dessert lieferte er uns einige Tassen Kaffee, und nie hat mir dieses köstliche Gebräu angenehmer geschmeckt.

»Jetzt, sagte mein Oheim, ist die Zeit der Ebbe und Fluth, und wir dürfen die Gelegenheit, diese Erscheinung zu studiren, nicht vorüber gehen lassen.

– Wie? Ebbe und Fluth?

– Allerdings.

– Reicht der Einfluß von Sonne und Mond so weit hinab?

– Warum nicht? Sind die Körper nicht im Ganzen der allgemeinen Anziehung unterworfen? Diese Wassermasse kann sich folglich nicht dem allgemeinen Gesetz entziehen. Daher wirst Du auch sehen, daß sie, trotz des Drucks der Atmosphäre, welcher auf ihre Oberfläche wirkt, steigt, wie das atlantische Meer.«

In diesem Augenblick betraten wir den Sand am Ufer, und sahen die Wellen nach und nach mehr auf dem flachen Boden vordringen.

»Da ist ja die beginnende Fluth, rief ich aus.

– Ja, Axel, und aus dieser Anhäufung von Schaum kannst Du abnehmen, daß das Meer wohl zehn Fuß hoch steigt.

– Wunderbar!

– Nein, es ist natürlich.

– Sie haben gut reden, lieber Oheim, alles dies kommt mir außerordentlich vor, und ich kann kaum meinen Augen trauen. Wer hätte jemals sich in dieser Erdrinde ein wirkliches Meer gedacht, mit Ebbe und Fluth, Seewind und Stürmen!

– Warum nicht? Spricht ein Grund der Physik dagegen?

– Ich sehe nicht, sobald man das System der Central-Wärme aufgeben muß.

– Also bis auf diesen Punkt findet sich Davy’s Theorie gerechtfertigt?

– Offenbar, und dennoch liegt darin kein Widerspruch, daß es Meere oder Landschaften im Innern der Erde giebt.

– Ohne Zweifel, aber unbewohnte.

– Gut! Warum sollten diese Wasser nicht einige Fische von einer unbekannten Gattung enthalten?

– Jedenfalls haben wir bis jetzt noch nicht einen einzigen wahrgenommen.

– Nun, wir können Angeln machen, und sehen, ob der Köder hier unten ebenso anzieht als in den Gewässern unter’m Mond.

– Wir wollen’s versuchen, Axel, denn wir müssen in alle Geheimnisse dieser neuen Gegenden dringen.

– Aber wo befinden wir uns denn? lieber Oheim, denn ich habe noch nicht diese Frage an Sie gerichtet, worauf Ihre Instrumente Ihnen die Antwort schon gegeben haben müssen.

– Horizontal dreihundertundfünfzig Meilen von Island.

– So weit?

– Ich bin überzeugt, daß ich nicht um fünfhundert Klaftern irre.

– Und die Magnetnadel weist fortwährend auf Süd-Ost?

– Ja, mit einer westlichen Abweichung von neunzehn Grad und zweiundvierzig Minuten, gerade wie oben auf der Erde. Was die verticale Richtung betrifft, so ist ein merkwürdiger Fall eingetreten, den ich sorgfältig beobachtet habe.

– Und welcher?

– Die Nadel, anstatt sich, wie sonst auf der nördlichen Hemisphäre, gegen den Pol hin zu richten, hebt sich dagegen.

– Also muß man daraus schließen, daß der magnetische Anziehungspunkt sich zwischen der Erdoberfläche und dem Punkt, wo wir eben sind, findet.

– Ganz richtig, und es ist zu vermuthen, daß, wenn wir in die Polargegenden kämen, zum siebenzigsten Grad, wo James Roß den magnetischen Pol entdeckt hat, die Nadel in senkrechter Richtung stehen würde. Folglich liegt dies geheimnißvolle Centrum der Anziehung nicht sehr tief.

– Wirklich, und das ist eine von der Wissenschaft nicht geahnte Thatsache.

– Die Wissenschaft, lieber Junge, ist voll Irrthümer, die man aber nicht zu scheuen hat, weil sie allmälig der Wahrheit zuführen.

– Und wie tief sind wir jetzt unten?

– Fünfunddreißig Meilen.

– Also, sagte ich mit einem Blick auf die Karte, das schottische Hochland über unserm Kopf, und dort die mit Schnee bedeckten Gipfel der Grampiangebirge sind wunderbar hoch.

– Ja, erwiderte der Professor lachend. Eine etwas schwere Bürde, aber das Gewölbe ist solid; der große Baumeister des Weltalls hat es aus guten Materialien errichtet, und niemals hätte der Mensch ihm eine gleiche Tragfähigkeit zu geben vermocht. Was wollen die Brückenbogen und die Gewölbe der Kathedralen gegen dieses Schiff mit einem Halbmesser von drei Meilen, unter welchem ein Meer und seine Stürme sich bequem entwickeln können?

– O! Ich habe keine Angst, daß mir der Himmel auf den Kopf falle. Jetzt, lieber Oheim, was haben Sie im Plan? Denken Sie nicht auf die Erdoberfläche zurückzukehren?

– Zurückkehren? Das wäre! Im Gegentheil, die Reise fortsetzen, weil Alles bis jetzt so gut gegangen.

– Doch weiß ich nicht, wie wir unter dieser flüssigen Ebene weiter dringen werden.

– O! Ich denke nicht kopfüber mich hinein zu stürzen. Aber wenn die Oceane, richtig benannt, nur Seen sind, weil sie von Land umgeben werden, so ist mit um so mehr Grund anzunehmen, daß dieses innere Meer vom granitenen Bau umgeben ist.

– Kein Zweifel.

– Nun, auf dem jenseitigen Ufer bin ich sicher neue Ausgänge zu finden.

– Wie groß glauben Sie, daß dieser Ocean sei?

– Dreißig bis vierzig Meilen.

– Ah! sagte ich; doch meinte ich, diese Schätzung möchte wohl nicht völlig genau sein.

– Also wir haben keine Zeit zu verlieren, und gleich morgen wollen wir in die See stechen.«

Unwillkürlich sah ich mich um nach dem Fahrzeug, das uns hinüberschaffen sollte.

»Nun, sagte ich, einschiffen werden wir uns. Gut! und auf welchem Boot werden wir Platz nehmen?

– Dafür bedarf’s keines Bootes, lieber Junge, sondern ein gutes und solides Floß wird ausreichen.

– Ein Floß! rief ich aus. Ein Floß ist ebenso schwer zu bauen, und ich sehe nicht …

– Du siehst nicht, Axel, aber wenn Du hören willst, könntest Du hören!

– Hören?

– Ja, die Hammerschläge würden Dir begreiflich machen, daß Hans schon an der Arbeit ist.

– Er errichtet ein Floß?

– Ja.

– Wie! hat er schon Bäume gefällt?

– O! die Bäume waren sämmtlich gefällt. Komm, und Du wirst ihn bei der Arbeit finden.«

Nachdem wir eine Viertelstunde weit gegangen, bemerkte ich jenseits des Vorgebirgs, welches den kleinen Hafen bildete, Hans bei der Arbeit. Nur noch einige Schritte und ich war bei ihm. Zu meiner großen Ueberraschung lag ein halb fertiges Floß auf dem Sand; es war aus Balken einer ganz besonderen Holzart gefertigt, und eine Anzahl Bohlen, Kniestücke, Spante aller Art bedeckten den Boden. Man konnte daraus schon eine Flotte bauen.

»Oheim, rief ich, was ist das für ein Holz?

– Fichten, Tannen, Birken, allerlei zapfentragende Bäume des Nordens, die durch’s Seewasser mineralisirt worden.

– Ist’s möglich?

– Man nennt dies fossile Holz ’surtarbrandur‘.

– Aber dann muß es, als versteinertes Holz und hart wie ein Stein, im Wasser untergehen?

– Das ist zuweilen der Fall; manches Holz der Art ist vollständig Anthracit geworden; anderes aber, wie dieses, hat nur einen Anfang der Umbildung erlitten. Schaue nur«, fuhr mein Oheim fort, und warf eins dieser kostbaren Stücke in’s Meer.

Das Stück kam, nachdem es untergesunken, wieder an die Oberfläche des Wassers und schwankte auf den Wellen.

»Hast Du Dich überzeugt? sagte mein Oheim.

– Um so mehr, als es unglaublich ist!«

Am folgenden Abend war, Dank der Geschicklichkeit des Führers, das Floß fertig; es war zehn Fuß lang und fünf breit. Die mit starken Stricken zusammengeschnürten Balken von Surtarbrandur gewährten eine solide Fläche, und als dieses improvisirte Fahrzeug in’s Wasser gelassen war, schwamm es ruhig auf den Wogen des Meeres Lidenbrock.

Zweiunddreißigstes Capitel.


Zweiunddreißigstes Capitel.

Eine Wasserpartie.

Am 13. August standen wir frühzeitig auf. Es handelte sich darum, eine neue Art von Transportmittel einzuweihen.

Ein aus zwei mit Schalen verstärkten Stäben verfertigter Mast, eine aus einem dritten gebildete Raa, ein unseren Decken entliehenes Segel – dies war das Takelwerk des Flosses. An Stricken mangelte es nicht. Alles war solid.

Um sechs Uhr gab der Professor das Zeichen zum Einschiffen. Die Lebensmittel, Bagage, Instrumente, die Waffen und ein ansehnlicher Vorrath süßen Wassers, welcher in den Felsen gesammelt worden war, befanden sich an der Stelle. Hans hatte ein Steuerruder eingerichtet, womit er seinen schwimmenden Apparat leiten konnte. Er stellte sich an die Barre. Ich machte das Ankertau, womit wir am Ufer befestigt waren, los. Das Segel wurde gerichtet, und wir stießen rasch vom Ufer ab.

Im Augenblick, als wir den Hafen verließen, wollte mein Oheim demselben einen Namen geben, etwa den meinigen.

»Wahrhaftig, sagt‘ ich, ich habe Ihnen einen anderen vorzuschlagen.

– Welchen?

– Den Namen Gretchen’s. Hafen Gretchen wird sich gut auf der Karte ausnehmen.

– Richtig: Hafen Gretchen.«

So hat sich das Andenken an meine liebe Vierländerin mit unserer abenteuerlichen Fahrt verknüpft.

Der Wind wehte aus Nord-Ost. Wir fuhren von ihm getrieben äußerst schnell. Die dichte Atmosphäre hatte bedeutende Treibkraft und wirkte auf das Segel wie ein starker Blasebalg.

Nach Verlauf einer Stunde konnte mein Oheim unsere Schnelligkeit ziemlich genau schätzen.

»Wenn es so fort geht, sagte er, machen wir in vierundzwanzig Stunden mindestens dreißig Meilen, und werden bald das jenseitige Ufer erkennen.«

Ich erwiderte nichts und nahm meinen Platz vornen auf dem Floß. Bereits sank das nördliche Ufer zum Horizont herab. Vor meinen Augen erstreckte sich ein unermeßliches Meer. Große Wolken breiteten rasch ihre grauen Schatten über seine Oberfläche. Die silbernen Strahlen des elektrischen Lichtes, hie und da von einigen Tröpfchen reflectirt, ließen in den von dem Fahrzeug aufgeregten Wirbeln leuchtende Punkte hervorglänzen. Bald war alles Land aus dem Gesicht verloren, jedes Merkzeichen verschwunden, und wäre nicht das schäumende Fahrwasser des Flosses gewesen, so hätte ich meinen können, dasselbe sei vollständig unbeweglich.

Gegen Mittag sah man ungeheure Seegrasmassen auf der Oberfläche der Wellen treiben. Ich kannte die vegetative Kraft dieser Pflanzen, welche in einer Tiefe von mehr als zwölftausend Fuß auf dem Meeresgrund kriechen, sich unter’m Druck von vierhundert Atmosphären fortpflanzen, und oft sehr ansehnliche Bänke bilden, um den Lauf der Schiffe zu hemmen; aber niemals, glaub‘ ich, gab’s riesenhafteres Seegras, als im Meer Lidenbrock.

Unser Floß fuhr an drei- bis viertausend Fuß langem Fucus vorüber, ungeheure Schlangengewinde, die sich über die Weite des Gesichtskreises hinauszogen; es machte mir Vergnügen, ihre unendlichen Bänder mit dem Blick zu verfolgen, ohne ihr Ende zu erreichen, und meine Geduld, wo nicht meine Erwartung, wurde Stunden lang getäuscht.

Was war dies für eine Naturkraft, welche solche Pflanzen hervorbrachte, und wie muß das Aussehen der Erde in den ersten Jahrhunderten ihrer Bildung gewesen sein, als unter Zusammenwirken von Wärme und Feuchtigkeit das Pflanzenreich allein auf seiner Oberfläche zur Entwickelung kam!

Der Abend kam, und wie ich Tags zuvor bemerkt hatte, die Helle der Luft blieb unvermindert. Es war eine dauernde Naturerscheinung, auf deren Fortbestehen man rechnen konnte.

Nach dem Abendessen legte ich mich am Fuße des Masts nieder und schlief unverzüglich ein inmitten sorgloser Träume.

Hans, unbeweglich am Steuer, ließ dem Floß seinen Lauf, das übrigens, vom Winde getrieben, einer Leitung nicht bedurfte.

Seit unserer Abfahrt aus Gretchen-Hafen hatte mich der Professor Lidenbrock beauftragt, das Tagebuch der Fahrt zu führen, die geringsten Wahrnehmungen darin zu verzeichnen, die interessanten Erscheinungen einzutragen, die Richtung des Windes, die erlangte Schnelligkeit, den durchlaufenen Weg, kurz, alle Ereignisse dieser merkwürdigen Fahrt.

Ich beschränke mich nun darauf, diese täglichen, sozusagen von den Ereignissen dictirten Bemerkungen hier wiederzugeben, um einen desto genaueren Bericht von unserer Ueberfahrt zu geben.

Freitag, 14. August. – Gleichmäßig. N.-O.- Wind. Das Floß fährt rasch geradeaus. Die Küste bleibt 30 Meilen unter dem Wind. Nichts am Horizont. Die Stärke des Lichts unverändert. Schönes Wetter, d.h. die Wolken sehr hoch, wenig dicht und in einer Atmosphäre, die weiß ist wie geschmolzenes Silber.

Thermometer +32° hundertth.

Um Mittag fügt Hans eine Angel an eine Schnur, und wirft sie mit einem Bröckchen Fleisch als Köder in’s Meer. Binnen zwei Stunden fängt er nichts. Also sind diese Gewässer ohne Bewohner? Nein. Man spürt eine Erschütterung. Hans zieht die Schnur heraus und hebt einen Fisch aus dem Wasser, der gewaltig zappelt.

»Ein Fisch! rief mein Oheim.

– Es ist ein Stör! rief ich, ein kleiner Stör!«

Der Professor betrachtet das Thier achtsam und ist nicht meiner Ansicht. Dieser Fisch hat einen platten zugerundeten Kopf und den vorderen Theil des Leibes mit knochenartigen Plättchen besetzt; sein Maul ist ohne Zähne; am schwanzlosen Körper befinden sich ziemlich entwickelte Brustflossen. Dies Thier gehört wohl zu einer Klasse, welcher die Naturforscher den Stör zugewiesen haben, aber es unterscheidet sich auch in wesentlichen Punkten von diesem.

Mein Oheim irrt sich nicht und äußert nach kurzer Untersuchung:

»Dieser Fisch gehört zu einer seit Jahrhunderten ausgestorbenen Familie, wovon man nur fossile Reste im Terrain der Uebergangsepoche findet.

– Wie? sagte ich, wir hätten einen solchen Bewohner der Meere der Urzeit gefangen?

– Ja, erwiderte der Professor, indem er zu beobachten fortfuhr, und Du siehst, daß diese fossilen Fische keineswegs mit den gegenwärtigen Gattungen einerlei sind. Ein solches Wesen lebend zu besitzen, ist für einen Naturforscher ein wahres Glück.

– Aber zu welcher Familie gehört er?

– Zur Ordnung der Ganoiden, Familie der Cephalaspiden, Gattung …

– Nun?

– Gattung Pterychtis, wollt‘ ich beschwören! Aber dieser zeigt eine Eigenthümlichkeit, welche, wie man sagt, nur bei den Fischen der unterirdischen Gewässer angetroffen wird.

– Welche?

– Er ist blind!

– Blind!

– Nicht allein blind, sondern es fehlt das Sehorgan gänzlich.«

Ich schaue, völlig richtig. Aber das kann wohl ein besonderer Fall sein. Man wirft die Angel von Neuem aus. Dies Meer ist allerdings sehr fischreich, denn binnen zwei Stunden fangen wir eine Menge Pterychtis, sowie von der gleichfalls ausgestorbenen Familie der Dipieriden, deren Gattung jedoch mein Oheim nicht erkennen kann. Alle sind ohne Gesichtsorgan. Dieser unverhoffte Fischfang ergänzt reichlich unseren Lebensmittelvorrath.

Also dies scheint ausgemacht, dieses Meer enthält nur fossile Gattungen, worunter die Fische wie Reptilien um so vollkommener sind, als ihre Schöpfung älter ist.

Vielleicht stoßen wir auch auf einige von den Sauriern, welche die Wissenschaft mit einem Stück Knochen oder Knorpel zu ergänzen verstanden hat?

Ich ergreife das Fernrohr und untersuche das Meer. Es ist öde. Ohne Zweifel sind wir noch zu nahe bei den Küsten.

Ich richte meine Blicke in die Lüfte. Warum sollten nicht einige von den Vögeln, welche der unsterbliche Cuvier wieder hergestellt hat, diese schwere Luft mit ihren Flügeln schlagen? An den Fischen fänden sie reichlich Nahrung. Ich beobachte, aber die Lüfte sind ohne Bewohner, wie die Gestade.

Inzwischen führt mich meine Phantasie in die wundervollen Hypothesen der Paläontologie hinein. Ich träume im vollen Wachen. Es dünkt mir, ich sehe auf der Oberfläche der Gewässer jene enormen vorsündfluthigen Schildkröten gleich schwimmenden Inselchen. Am düsteren Strande wandeln die großen Säugethiere der Urzeit, das Leptotherium, das man in den Höhlen Brasiliens fand, das Mericotherium aus den Eisgegenden Sibiriens. Weiterhin der Dickhäuter Lophiodon, dieser Riesentapir versteckt sich hinter den Felsen, bereit, dem Anoplotherium seine Beute streitig zu machen: dieses seltsame Thier hat etwas mit dem Rhinoceros, dem Pferd, dem Flußpferd und dem Kameel gemein, als hätte der Schöpfer eilfertig mehrere Thiergattungen in einer vereinigt. Das riesige Mastodon windet seinen Rüssel und zerbröckelt mit seinen Hauern die Felsen, während das Megatherium mit seinen enormen Tatzen die Erde aufwühlt und mit seinem Gebrüll das hallende Echo der Granite wachruft. Oben erklettert das Urbild des Affen, der Protopitheke, die steilen Gipfel. Weiter oben gleitet der Pterodaktylus mit der geflügelten Hand, wie eine große Fledermaus über der dichten Luft. Endlich, in den höchsten Schichten, entfalten ungeheure Vögel, stärker als der Kasuar, größer als der Strauß, ihre weitgebreiteten Flügel, um mit dem Kopf wider das Granitgewölbe zu stoßen.

Diese ganze fossile Welt kommt mir in der Phantasie wieder zum Bewußtsein. Ich versetze mich in die Schöpfungsepochen der Bibel, welche weit über die Schaffung des Menschen hinausreichen, als die noch unvollständig entwickelte Erde für den Menschen noch nicht genügend war, ja noch ehe lebende Wesen darauf erschienen. Die Säugethiere, dann die Vögel, hierauf die Reptilien der zweiten Epoche verschwanden, endlich die Fische, Schalthiere, Mollusken. Auch die Zoophyten der Uebergangsepoche kehren wieder in ihr Nichts zurück. Es giebt keine Jahreszeiten, kein Klima; die dem Erdkörper eigenthümliche Wärme wächst unaufhörlich und wiegt die der Sonne auf. Die Vegetation überbietet sich. Ich wandle wie ein Schatten unter baumartigen Farrenkräutern, betrete mit schwankendem Schritt die bunten Märgel und Sandsteine des Bodens; ich lehne mich wider einen Stamm ungeheurer Zapfenbäume, und schlafe unter’m Schatten hundert Fuß hoher Lykopodien.

Die Jahrhunderte verfließen wie Jahre! Ich steige die Reihe der Umbildungen der Erde aufwärts. Die Pflanzen verschwinden; die Granitfelsen verlieren ihre Härte; der feste Zustand geht unter Einwirkung einer stärkeren Hitze in den flüssigen über; die Gewässer fließen auf der Oberfläche des Erdballs; sie sieden, verflüchtigen sich; Dünste umhüllen die Erde, die allmälig nur eine gasartige Masse bildet, so groß und glänzend wie die Sonne.

Im Centrum dieses Nebelgestirns, vierzehnhunderttausendmal ansehnlicher, als die Erdkugel, welche es einst bilden soll, fühle ich mich in die Planetenräume fortgezogen!

Was für ein Traum? Wohin führt er mich? Meine fieberhafte Hand bringt diese seltsamen Details zu Papier! Ich habe Alles vergessen, den Professor, den Führer und das Floß.

»Was ist Dir denn?« sagte mein Oheim.

Meine offenen Augen starren ihn an, ohne ihn zu sehen.

»Gieb Acht, Axel, Du wirst in’s Meer fallen!«

Zugleich faßte mich Hans mit kräftiger Hand, sonst wäre ich in meinem Traum in die Wellen hinabgestürzt.

»Ist er ein Narr geworden? schrie der Professor.

– Was giebt’s denn? sagte ich endlich, als ich wieder zu mir kam.

– Bist Du krank?

– Nein, ich war einen Augenblick in Traumgesichte verloren, jetzt ist’s vorüber. Sonst geht Alles gut?

– Ja! Guter Wind, gutes Meer! Wir gleiten rasch voran, und irre ich nicht in meiner Schätzung, so müssen wir bald landen.«

Bei diesen Worten stand ich auf, forschte am Horizont; aber die Linie des Wassers vermischte sich stets mit der des Gewölbes.

Dreiunddreißigstes Capitel.


Dreiunddreißigstes Capitel.

Ein Riesenkampf.

Samstag, 15. August. – Das Meer ist fortwährend einförmig. Kein Land in Sicht. Der Horizont scheint sehr zurückgewichen.

Der Kopf ist mir noch schwer von meinem gewaltigen Traum.

Mein Oheim hat nicht geträumt, aber er ist übler Laune. Er blickt mit seinem Fernrohr in allen Richtungen und kreuzt die Arme mit verdrießlicher Miene.

Ich bemerke, daß der Professor Lidenbrock dazu neigt, wieder der ungeduldige Mann, wie vormals, zu werden, und zeichne die Thatsache auf. Es hatte meiner Gefahren und Leiden bedurft, um ihm einige Funken Menschlichkeit zu entlocken; aber seit meiner Genesung ist er wieder der Alte.

»Sie scheinen unruhig, lieber Oheim? sagte ich, da ich ihn oft das Fernrohr vor die Augen halten sah.

– Unruhig? Nein.

– Also ungeduldig.

– Man könnte es wenigstens sein.

– Doch fahren wir so schnell …

– Gleichviel. Nicht die Schnelligkeit ist zu gering, sondern das Meer zu groß!«

Nun erinnerte ich mich, daß der Professor vor unserer Abfahrt die Länge dieses unterirdischen Meeres auf dreißig Meilen geschätzt hatte. Aber wir hatten bereits einen dreimal so langen Weg gemacht, und die südlichen Ufer waren noch nicht zu sehen.

»Wir kommen damit nicht abwärts! fuhr der Professor fort. Das ist nur Zeit verloren, und, kurz, ich bin nicht so weit hergekommen, um eine Vergnügungsfahrt auf einem Teich zu machen!«

Er nannte also diese Ueberfahrt eine Vergnügungspartie und dies Meer einen Teich.

»Aber, sagte ich, da wir den von Saknussemm angegebenen Weg eingeschlagen haben …

– Das ist die Frage. Sind wir auf diesem Weg geblieben? hat Saknussemm diese Wasserfläche angetroffen? Ist er darüber gefahren? Hat uns nicht der Bach, welchen wir zum Führer nahmen, völlig irre geführt?

– Jedenfalls haben wir nicht zu bedauern, daß wir so weit gekommen sind. Das ist ein prachtvolles Schauspiel, und …

– Um das Schauen handelt sich’s nicht. Ich habe mir einen Zweck vorgesteckt, und ich will ihn erreichen! Also sprich mir nicht von bewundern!«

Ich ließ mir’s gesagt sein, und kümmerte mich nicht darum, daß der Professor sich vor Ungeduld die Lippen zerbiß. Um sechs Uhr Abends forderte Hans seinen Lohn, und seine drei Reichsthaler wurden ihm ausgezahlt.

Sonntag, 16. August. – Nichts Neues. Gleiches Wetter. Der Wind wird etwas frischer. Beim Erwachen ist meine erste Sorge, die Stärke des Lichtes zu constatiren. Ich besorge stets, die elektrische Erscheinung möge dunkler werden, dann verlöschen. Kein Grund dazu. Der Schatten des Flosses ist auf der Wasserfläche klar gezeichnet.

Wahrhaftig, dieses Meer ist unendlich groß! Es muß so breit als das Mittelländische, oder gar Atlantische sein. Warum nicht?

Mein Oheim sondirt öfters. Er befestigt eine der schwersten Spitzhauen an’s Ende eines Strickes und läßt ihn zweihundert Klafter tief hinab. Kein Grund. Es kostet viel Mühe, die Sonde wieder herauf zu bekommen.

Als die Haue wieder herauskam, macht mir Hans bemerklich, wie sich auf derselben stark eingedrückte Stellen befanden. Man konnte meinen, das Stück Eisen sei zwischen zwei harten Körpern stark eingeklemmt gewesen.

Ich sah den Jäger an.

»Tänder!« sprach er.

Ich verstand ihn nicht, wendete mich an meinen Oheim, der ganz in Betrachtungen versunken war. Ich mochte ihn nicht stören, wendete mich daher wieder zu dem Isländer. Dieser machte mir durch wiederholtes Oeffnen und Schließen seines Mundes begreiflich, was er meinte.

»Zähne!« sagte ich mit Bestürzung, als ich achtsamer das Stück Eisen betrachtete.

Ja wohl! es sind die Spuren von Zähnen dem Metall eingedrückt! Die Kinnbacken, worin dieselben stecken, müssen ausnehmend stark sein! Tief unten da treibt sich wohl ein Ungeheuer von den untergegangenen Gattungen um, gefräßiger als der Haifisch, fürchterlicher als der Wallfisch. Ich kann meinen Blick von dem halb zerfressenen Stück Eisen nicht wegwenden. Soll mein Traum der letzten Nacht sich verwirklichen?

Diese Gedanken peinigen mich den ganzen Tag, und meine Phantasie kann sich kaum in einem mehrstündigen Schlaf beruhigen.

Montag, 17. August. Ich suche mir die eigenthümlichen Instincte dieser vorsündfluthigen Thiere wieder zum Bewußtsein zu bringen, welche auf die Weichthiere, Schalthiere und Fische folgend, dem Auftreten der Säugethiere vorausgingen. Die Welt gehörte damals den Reptilien. Diese Ungeheuer beherrschten die Meere der zweiten Epoche. Die Natur hatte ihnen die vollständigste Organisation verliehen. Welch‘ riesenhafter Bau! welche wunderhafte Kraft! Die größten und furchtbarsten der gegenwärtigen Saurier, Alligatore oder Krokodile sind doch nur schwache Nachbilder ihrer Ahnen der Urzeit!

Ich schaudere bei dem Gedanken, daß ich diese Ungeheuer heraufbeschwöre. Kein menschliches Auge hat sie lebend gesehen. Sie erscheinen tausend Jahrhunderte vor dem Menschen auf der Erde; aber aus ihren fossilen Knochen, die man in dem thonigen Kalkstein, welchen die Engländer Lias nennen, wieder auffand, ist es möglich gewesen, sie anatomisch wieder herzustellen und ihren riesenhaften Bau kennen zu lernen.

Ich habe im Museum zu Hamburg das Skelet eines dieser Saurier gesehen, welches dreißig Fuß lang war. Trifft etwa mich, den Erdbewohner, das Loos, einen der Repräsentanten einer vorsündfluthigen Familie vor mir zu sehen? Nein, unmöglich! Doch sind die starken Zähne desselben auf das Eisen eingegraben, und an ihrem Abdruck erkenne ich, daß sie konisch sind, gleich denen des Krokodils.

Mit Schrecken sind meine Augen auf das Meer gerichtet. Ich habe Angst, es möge ein solcher Bewohner der unterseeischen Höhlen aus demselben hervortauchen.

Ich vermuthe, daß der Professor Lidenbrock meine Gedanken, wenn auch nicht meine Besorgnisse theilt, denn nachdem er die Haue untersucht, schweift sein Blick über den Ocean.

»Verflucht, sagte ich bei mir selbst, daß er den Gedanken hatte, zu sondiren! Er hat ein oder das andere Thier aus seiner Ruhestätte aufgestört, und wenn wir nicht während der Fahrt angegriffen werden! …«

Mit einem Blick auf die Waffen versichere ich mich, daß sie in gutem Zustand sind. Mein Oheim sieht’s und giebt seine Billigung zu erkennen.

Bereits zeigen weit reichende Bewegungen der Oberfläche des Wassers, daß die tieferen Schichten beunruhigt sind. Die Gefahr ist nahe. Es gilt zu wachen.

Dienstag, 18. August. Es naht der Abend, oder vielmehr die Zeit, wo der Schlaf auf unsere Augenlider drückt, denn auf diesem Ocean giebt’s keine Nacht, und das unversöhnliche Licht ermüdet unablässig unsere Augen, als wenn wir unter der Sonne des nördlichen Eismeeres führen. Hans steht am Steuer, und während er wacht, schlafe ich.

Zwei Stunden hernach weckt mich eine fürchterliche Erschütterung. Das Floß wird mit unbeschreiblicher Gewalt emporgehoben und zwanzig Klaftern weggeschleudert.

»Was giebt’s? rief mein Oheim. Sind wir aufgefahren?«

Hans weist mit dem Finger auf eine zweihundert Klaftern entfernte schwärzliche Masse, die abwechselnd auf- und niedertaucht. Ich blicke hin und schreie auf:

»Es ist ein riesenmäßiges Meerschwein …

– Ja, versetzte mein Oheim, und dort eine Meereidechse von seltener Größe.

– Und weiter hinaus ein ungeheuerliches Krokodil! Sehen Sie seine große Kinnlade und die Reihen Zähne, womit es gewaffnet ist! Ah! es verschwindet!

– Ein Wallfisch! ein Wallfisch! rief darauf der Professor. Ich sehe seine ungeheuren Flossen! Sieh den Strahl von Wasser und Luft, den er ausstößt!«

Wirklich, man sah zwei Strahlen zu beträchtlicher Höhe über’s Meer emporschießen. Staunen, Bestürzung, Entsetzen ergriff uns beim Anblick dieser Heerde Seeungeheuer. Sie sind von übernatürlicher Größe und das kleinste derselben würde mit einem Biß das ganze Floß zertrümmern.

Hans will das Segel zur schleunigen Flucht aus der gefährlichen Gegend richten; aber er sieht auf der andern Seite nicht minder furchtbare Feinde: eine vierzig Fuß große Schildkröte und eine dreißig Fuß lange Schlange, die den Kopf aus den Wogen emporstreckt.

Flucht ist unmöglich. Die Ungethüme kommen nahe, kreisen um das Floß mit einer Schnelligkeit daß ein Eilzug der Eisenbahn ihnen nicht gleich käme; sie ziehen concentrische Kreise um dasselbe. Ich ergreife meinen Karabiner. Aber was könnte eine Kugel für eine Wirkung auf die Schuppen machen, womit der Körper dieser Thiere gedeckt ist?

Wir sind stumm vor Schrecken. Da kommen sie schon heran! Auf der einen Seite das Krokodil, auf der anderen die Schlange. Die übrigen sind verschwunden. Ich will Feuer geben. Hans hält mich durch ein Zeichen zurück. Die beiden Ungeheuer schießen fünfzig Klaftern vom Floß entfernt vorüber, stürzen sich aufeinander, so daß sie in ihrer Wuth des Kampfes uns nicht gewahren.

Hundert Klaftern vom Floß entfernt entspinnt sich der Kampf. Wir sehen deutlich die beiden Ungeheuer mit einander ringen.

Aber mir kommt’s vor, als kämen jetzt die anderen Thiere herbei, um Theil an dem Kampf zu nehmen, das Meerschwein, der Wallfisch, die Eidechse, die Schildkröte. Ich sehe sie jeden Augenblick dabei, zeige sie dem Hans. Der schüttelt aber den Kopf verneinend.

»Tva, sprach er.

– Was! Zwei? Er behauptet, nur zwei …

– Er hat Recht, rief mein Oheim, der das Fernrohr stets vor den Augen hatte.

– Das wäre!

– Ja! Das erste dieser beiden Ungeheuer hat die Schnauze eines Meerschweins, den Kopf einer Eidechse; die Zähne eines Krokodils, das hat uns getäuscht. Es ist das fürchterlichste der vorsündfluthigen Reptilien, der Ichthyosaurus!

– Und das andere?

– Das andere ist eine Schlange unter der hüllenden Schale einer Schildkröte, des ersteren furchtbarer Feind, der Plesiosaurus!«

Hans hatte Recht. Nur zwei Ungeheuer sind’s, welche so die Oberfläche des Meeres beunruhigen, und ich habe vor den Augen zwei Seereptile der Urzeit. Ich sehe das blutige Auge des Ichthyosaurus, so groß wie ein Menschenkopf, das von der Natur mit einem äußerst starken optischen Apparat versehen ist, so daß es dem Druck der Wasserschichten in der Tiefe widerstehen kann. Man hat dieses Thier mit Recht den Wallfisch der Saurier genannt, denn es ist eben so rasch und groß. Es mißt nicht weniger als hundert Fuß, und ich kann auf seine Größe schließen, wenn es seine Schwanzflossen vertikal über die Wellen herausstreckt. Seine enorme Kinnlade zählt, nach Angabe der Naturforscher, nicht minder als hundertzweiundachtzig Zähne.

Der Plesiosaurus, eine Schlange mit cylinderförmigem Leib und kurzem Schwanz, hat Tatzen, die wie Ruder geformt sind. Sein Leib ist ganz mit einer Schildkrötenschale bekleidet, und seinen biegsamen Schwanenhals kann er dreißig Fuß aus dem Wasser herausstrecken.

Diese beiden Thiere bekämpfen sich einander mit unbeschreiblicher Wuth. Sie regen das Wasser berghoch auf bis zu unserem Floß hin, so daß wir zwanzigmal in Gefahr kommen umzuschlagen. Man hört ein wunderhaft starkes Zischen. Die beiden Thiere verwickeln sich in einander, so daß man sie nicht unterscheiden kann. Von der Wuth des Siegers ist Alles zu fürchten.

Eine, zwei Stunden verlaufen, und der Kampf dauert mit gleicher Hitze fort. Die Kämpfenden kommen dem Floß bald näher, bald entfernen sie sich. Wir halten uns unbeweglich, zum Feuern fertig.

Plötzlich verschwinden sie beide im Schooße der Wellen. Wird der Kampf in der Tiefe beendigt werden?

Auf ein Mal schießt ein ungeheurer Kopf aus dem Wasser empor, der Kopf des Plesiosaurus. Das Ungeheuer ist tödtlich verwundet. Ich sehe nicht mehr seine ungeheure Schildhülle. Nur sein langer Hals ragt empor, duckt sich, richtet sich wieder auf, krümmt sich, geißelt die Wogen wie eine riesige Peitsche und windet sich, wie ein zerschnittener Wurm. Das Wasser spritzt weit ab, benimmt uns die Aussicht. Aber bald geht der Todeskampf des Reptils zu Ende, seine Bewegungen werden schwächer, seine krampfhaften Verdrehungen hören auf, und das lange Stück der verstümmelten Schlange ragt wie eine träge Masse über den ruhigen Fluthen.

Hat sich der Ichthyosaurus wieder in seine Höhle in der Tiefe zurückgezogen, oder wird er wieder auf der Oberfläche des Meeres zum Vorschein kommen?

Vierunddreißigstes Capitel.


Vierunddreißigstes Capitel.

Ein Geyser.

Mittwoch, 19. August. – Zum Glück hat der kräftig wehende Wind uns gestattet, rasch vom Kriegstheater weg zu fliehen. Hans ist stets beim Steuer. Mein Oheim, den das Ereigniß des Kampfes aus seinen Gedanken, worin er versunken war, herausgezogen, sank wieder in seine ungeduldige Betrachtung des Meeres zurück.

Die Reise bekam wieder ihre monotone Einförmigkeit, die ich um den Preis der gestrigen Gefahren nicht aufgeben möchte.

Donnerstag, 20. August. – Wind N.-N.-O., ziemlich ungleich. Temperatur warm. Wir fahren mit einer Geschwindigkeit von dreieinhalb Meilen in der Stunde.

Gegen Mittag vernimmt man aus weiter Entfernung ein Getöse. Ich zeichne hier nur die Thatsache auf, ohne sie zu erklären. Es ist ein anhaltendes Rauschen.

»Es muß in der Ferne, sagte der Professor, ein Felsen oder Inselchen sein, woran das Meer sich bricht.«

Hans klettert auf den Mast, kann aber keine Klippe wahrnehmen. Der Ocean ist eben bis zur Linie des Horizonts.

Drei Stunden verlaufen. Das Rauschen scheint von einem fernen Wasserfall herzurühren.

Ich bemerke dies meinem Oheim, der schüttelt aber den Kopf. Doch bin ich überzeugt, daß ich nicht irre. Fahren wir wohl einem Wasserfall zu, der uns in den Abgrund stürzen wird? Mag diese Art abwärts zu kommen dem Professor zusagen, weil sie der senkrechten Richtung näher kommt, möglich, aber ich …

Jedenfalls muß einige Meilen entfernt in der Richtung des Windes ein Ereigniß sein, wodurch das Getöse verursacht wird, denn jetzt läßt sich das Rauschen sehr heftig vernehmen. Kommt es vom Himmel oder dem Ocean her?

Ich blicke auf zu den in der Atmosphäre schwebenden Dünsten und suche ihre Tiefe zu ergründen. Der Himmel ist ruhig. Das Gewölk, welches sich ganz oben an’s Gewölbe gezogen hat, scheint unbeweglich und verliert sich in der starken Lichtstrahlung. Die Ursache der Erscheinung ist also anderwärts zu suchen.

Ich frage darauf den reinen, durchaus nebelfreien Horizont. Sein Aussehen hat sich nicht geändert. Aber wenn das Getöse von einem Wasserfall herrührt, wenn dieses ganze Meer in ein tieferes Becken hinabstürzt, wenn das Brausen von einer herabfallenden Wassermasse kommt, so muß der Strom lebhafter werden, und seine zunehmende Schnelligkeit kann mir den Maßstab der Gefahr geben, wovon wir bedroht sind. Ich untersuche die Strömung. Es ist keine vorhanden.

Gegen vier Uhr kletterte Hans den Mast hinan, überblickt oben den ganzen Kreis, welchen der Ocean vor dem Floß beschreibt, und hält an einem Punkte an. Sein Angesicht zeigt nichts von Ueberraschung, aber sein Auge haftet da fest.

»Er hat etwas gesehen, sagte mein Oheim.

– Ich glaube.«

Hans steigt wieder herab, streckt seinen Arm südlich und sagt:

»Der nere!

– Dort unten?« wiederholte mein Oheim.

Und er ergriff sein Fernrohr, blickte achtsam eine Minute lang, die mir sehr lange dauerte.

»Ja, ja! rief er aus.

– Was sehen Sie?

– Einen ungeheuren Wasserstrahl, der aus dem Wasser aufsteigt.

– Noch ein Seeungeheuer?

– Vielleicht.

– Also richten wir das Vordertheil mehr westlich, denn wir wissen, wie wir daran sind mit der Gefahr, diesen Ungeheuern der Urzeit zu begegnen.

– Lassen wir’s gehen«, erwiderte mein Oheim.

Ich begebe mich wieder zu Hans, der mit unbeugsamer Strenge sein Steuer handhabt.

Jedoch, wenn man von so weiter Entfernung aus – sie ließ sich mindestens auf zwölf Meilen schätzen – den emporgeworfenen Wasserstrahl wahrnehmen kann, so muß es ein Thier von übernatürlicher Größe sein. Zu fliehen verlangte die ganz gewöhnliche Vorsicht. Aber wir sind nicht gekommen, um vorsichtig zu sein.

Also fahren wir voran. Je näher wir kommen, desto größer der Strahl. Was für ein Ungeheuer muß das sein, das eine solche Menge Wasser in sich aufnehmen und unaufhörlich wieder ausstoßen kann!

Um acht Uhr Abends sind wir weniger als zwei Meilen von demselben entfernt. Sein schwärzlicher, enormer, bergähnlicher Körper streckt sich gleich einem Inselchen in’s Meer hin. Ist’s Täuschung, ist’s Schrecken? es scheint über tausend Klaftern lang zu sein! Was für eine Gattung von Wallfischgeschlecht ist das, die weder von Cuvier noch von Blumenbach vorgesehen wurde? Unbeweglich, wie schlafend liegt es da; das Meer scheint es nicht emporheben zu können, und die Wogen umspielen seine Seiten. Die fünfhundert Fuß hohe Wassersäule fällt mit betäubendem Getöse als Regen nieder. Unsinnig, auf eine solche Masse, die hundert Wallfische nur einen Tag nicht sättigen könnten, loszufahren.

Der Schrecken befällt mich. Ich will nicht weiter! Ich werde nöthigenfalls das Segeltau zerhauen! Ich empöre mich gegen den Professor, der mir keine Antwort giebt.

Plötzlich steht Hans auf, zeigt mit dem Finger auf den drohenden Punkt und spricht:

»Holme.

– Eine Insel, rief mein Oheim.

– Eine Insel! sagte auch ich mit Achselzucken.

– Offenbar, versetzte der Professor und lachte laut auf.

– Aber diese Wassersäule?

– Geyser, sprach Hans.

– Ja wohl, Geyser! erwiderte mein Oheim, ein Geyser gleich denen, wie sie auf Island vorkommen.«

Anfangs sträubte ich mich dagegen, mich so gröblich getäuscht zu haben. Ein Inselchen für ein Seeungeheuer zu halten! Aber der Augenschein zeigt es, und ich muß endlich meinen Irrthum eingestehen. Es ist hier nur eine Naturerscheinung.

Je näher wir kommen, zeigen sich die Verhältnisse des Wasserstrahls großartiger. Das Inselchen ist wirklich einem Wallfisch täuschend ähnlich, einem riesenhaften Thier, dessen Kopf zehn Klaftern hoch das Meer überragt. Der Geyser erhebt sich majestätisch am einen Ende. Von Zeit zu Zeit hört man dumpfes Getöse, und der enorme Wasserstrahl, vom heftigsten Zorn getrieben, schüttelt seine Dunstbüschel, bis zur obersten Wolkenschichte empordringend. Er ist vereinzelt; keine Rauchsäulen, keine heißen Quellen umgeben ihn, die gesammte vulkanische Kraft concentrirt sich in ihm. Die Strahlen des elektrischen Lichtes mischen sich mit diesem blendenden Strahlenbüschel, dessen Tropfen in allen Farben des Prisma’s spielen.

»Landen wir«, sagte der Professor.

Aber man muß sorgfältig dieser Wassersäule ausweichen, welche in einem Moment das Floß versenken würde. Hans bringt uns durch geschickte Wendungen an das äußerste Ende der Insel.

Ich springe heraus auf den Felsen. Mein Oheim folgt mir flink nach, während der Jäger auf seinem Posten bleibt, als ein Mensch, der über solches Erstaunen hinaus ist.

Wir schreiten über einen mit Kieseltuff vermischten Granit; der Boden erzittert unter unseren Füßen; er ist brennend. Wir gelangen zu einem kleinen Central-Becken, woraus der Geyser sich erhebt. Ich halte in das siedende Wasser ein Thermometer, welcher eine Hitze von hundertdreiundsechzig Grad nachweist.

Also dieses Wasser kommt aus einem Herde der Gluth. Dies widerspricht auffallend den Theorien des Professors Lidenbrock. Ich konnte mich nicht enthalten, dieses bemerklich zu machen.

»Wie nun, entgegnete er, was beweist dies gegen meine Lehre?

– Nichts«, sagte ich trocken, denn ich sah, daß ich wider vollendete Hartnäckigkeit stieß.

Demungeachtet muß ich gestehen, daß wir bis jetzt ausnehmend begünstigt sind, und daß, aus einem mir unbekannten Grunde, diese Reise besonderen Bedingungen der Temperatur unterliegt; aber es scheint mir klar, gewiß, daß wir früher oder später in solche Regionen kommen werden, wo die Centralwärme den höchsten Grad erreicht und über alle Thermometermessungen hinausgeht.

»Nun, wir werden sehen«, sprach der Professor. Er benannte das vulkanische Inselchen nach seinem Neffen, dann gab er das Zeichen zum Einschiffen.

Einige Minuten noch betrachte ich den Geyser. Ich bemerke, daß sein Strahl unregelmäßig im Aufsprudeln ist, daß er manchmal an Stärke abnimmt, dann mit erneuter Kraft fortfährt, was ich der wechselnden Stärke des Drucks der in seinem Vorrathsbehälter gesammelten Dünste zuschreibe.

Endlich fahren wir ab um die sehr steilen Felsen des Südens herum. Hans hatte während unseres Aufenthaltes das Floß wieder in guten Stand gesetzt.

Aber ehe wir abstachen, mache ich einige Bemerkungen, um die durchlaufene Entfernung zu berechnen, und verzeichne sie in meinem Tagebuch. Wir haben seit unserer Abfahrt aus Gretchen-Hafen zur See zweihundertundsiebenzig Meilen zurückgelegt, und befinden uns sechshundertundzwanzig Meilen von Island entfernt, unter England.

Fünfunddreißigstes Capitel.


Fünfunddreißigstes Capitel.

Ein Gewitter.

Freitag, 21. August. – Am folgenden Tag verschwand der prachtvolle Geyser. Der frische Wind trieb uns rasch vom Inselchen Axel weg. Das Brausen wurde nach und nach unvernehmlich.

Dies Wetter, wenn man sich so ausdrücken darf, wird sich bald ändern. Die Atmosphäre wird mit Dünsten erfüllt, welche alle durch die Verdunstung der Salzwasser gebildete Elektricität in sich aufnehmen; die Wolken senken sich merklich und nehmen eine gleichförmig olivenartige Färbung an; die elektrischen Strahlen können durch diesen dunkeln Vorhang kaum dringen, welcher vor das Theater herabgelassen ist, worauf ein Sturmdrama aufgeführt werden soll.

Es machte dies auf mich einen ganz besonderen Eindruck, so wie auf der Erde ein bevorstehender Wolkenbruch auf jedes Geschöpf wirkt. Das im Süden aufsteigende Gewölk gewährt einen unheimlichen Anblick; es sieht so unbarmherzig aus, wie oft beim Ausbruch eines Gewitters. Die Luft ist schwül, das Meer ruhig.

In der Ferne häufen sich die Wolken gleich dicken Baumwollballen in malerischer Unordnung; allmälig schwellen sie an, sind minder zahlreich, dagegen größer und so schwer, daß sie nicht vom Horizont sich losmachen können; aber ein stärkerer Wind treibt sie in die Höhe, daß sie allmälig zusammenfließen, dunkel werden und bald eine einzige Schichte von drohendem Aussehen bilden.

Offenbar ist die Atmosphäre vom elektrischen Fluidum gesättigt; ich bin davon ganz durchdrungen; meine Haare auf dem Kopf sträuben sich, wie wenn man einer Elektrisirmaschine nahe kommt. Es dünkt mir, wenn meine Gefährten mich in diesem Augenblick anrührten, würden sie einen starken Stoß bekommen.

Um zehn Uhr sind die Anzeichen des Sturmes entschiedener. Ich will zwar noch nicht den Drohungen des Himmels glauben, doch kann ich nicht umhin zu sagen:

»Ein Unwetter bereitet sich vor.«

Der Professor bleibt die Antwort schuldig. Er ist sehr übel gelaunt, da er den Ocean vor seinen Augen sich unendlich ausdehnen sieht. Er zuckt nur die Achseln.

»Wir werden ein Gewitter bekommen, sagte ich, indem ich die Hand nach dem Horizont ausstreckte. Diese Wolken senken sich auf’s Meer, als wollten sie’s erdrücken!«

Allgemeine Stille. Auch der Wind ist stille. Die Natur sieht wie erstorben aus, und kein Lüftchen weht. Am Mast, worauf ich schon ein leichtes St. Elmsfeuer glänzen sehe, fällt das gespannte Segel in Falten herab. Das Floß ist unbeweglich auf einem Meer ohne Wellenschlag. Aber, wenn wir nicht mehr vorwärts kommen, wozu dann dieses Segel, das uns beim ersten Stoß des Sturms in Verderben bringen kann?

»Nehmen wir’s herab, sagt‘ ich, senken wir den Mast nieder! Das wäre vorsichtig!

– Nein, zum Teufel! schrie mein Oheim, hundertmal nein! Mag der Wind uns fassen! der Sturm uns fortreißen! aber ich muß endlich die Felsen eines Ufers sehen, wenn auch unser Schiff daran in tausend Splitter zerschellen sollte.«

Unverzüglich bekommt der Horizont im Süden ein anderes Aussehen. Die gesammelten Dünste lösen sich in Wasser auf, und da die Luft, um den durch die Verdichtung entstandenen leeren Raum zu füllen, in heftigem Zug dorthin strömt, so entsteht ein Orkan. Er kommt aus den entferntesten Enden der Höhle. Es wird dunkler; kaum kann ich noch einige unvollständige Notizen machen.

Das Floß wird in die Höhe gehoben, hüpft auf den Wellen. Mein Oheim wird vom oberen Theil herabgeworfen. Ich schleppe mich zu ihm hin. Er hat sich an ein Stück Tau festgeklammert und scheint dem Schauspiel der entfesselten Elemente mit Vergnügen zuzusehen.

Hans rührt sich nicht, seine vom Sturm rückwärts getriebenen langen Haare umhüllen sein unbewegliches Angesicht, und dies giebt ihm eine seltsame Physiognomie, denn alle Haarspitzen sind mit kleinen leuchtenden Strahlenbüscheln geziert. Er sieht aus wie ein verkleideter Mensch der Urzeit.

Indessen der Mast widersteht. Das Segel ist gespannt, wie eine zum Bersten gefüllte Blase. Das Floß treibt mit einer Schnelligkeit, die ich nicht schätzen kann.

»Das Segel! das Segel! rief ich, mit einem Wink, es abzunehmen.

– Nein! erwidert mein Oheim.

– Nej«, sagt Hans und schüttelt sanft den Kopf.

Der Regen bildet inzwischen einen brausenden Katarakt vor dem Horizont, auf welchen wir unsinnig zufahren. Aber ehe er noch bis zu uns gelangt, zerreißt das Gewölk, das Meer geräth in Wallung, und die durch eine umfassende chemische Thätigkeit in den oberen Schichten entwickelte Elektricität kommt mit in’s Spiel. Unzählige Blitze durchkreuzen sich, und der Donner folgt Schlag auf Schlag; die ganze Dunstmasse glüht; hellleuchtender Hagel schlägt wider unsere Geräthe, und die aufgeregten Wogen scheinen Feuer zu sprühen.

Meine Augen sind geblendet, meine Ohren betäubt! Ich muß mich am Mast festhalten, der wie ein Rohr von der Gewalt des Sturms gebeugt wird!

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(Hier werden meine Reisenotizen sehr unvollständig. Ich habe nur einige flüchtige Bemerkungen wiedergefunden, die in ihrer Kürze, selbst in ihrer Dunkelheit das Gepräge meiner Gemüthsbewegung an sich tragen, und besser als meine Erinnerung von der Lage einen Begriff geben.)

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Sonntag, 23. August. – Wo sind wir? Wohin hat uns die unberechenbare Fahrt verschlagen?

Es war eine fürchterliche Nacht. Der Sturm will sich nicht legen. Inmitten des Tobens und Brausens unablässiges Donnergeroll. Unsere Ohren sind wund. Unmöglich ist’s, ein Wort mit einander zu reden.

Unaufhörliche Blitze. Ich sehe rückwärtsgehende Zickzackstrahlen, die, von oben geschleudert, wieder rückwärts wider das Granitgewölbe schlagen. Wenn es zusammenbräche! Andere Blitze spalten sich oder nehmen die Gestalt von Feuerkugeln an, die wie Bomben zerplatzen. Das allgemeine Getöse scheint nicht zuzunehmen; es hat den Höhepunkt erreicht, welchen das menschliche Ohr fassen kann. Unablässig ist die Strömung des Lichts aus der Oberfläche der Wolken, der elektrische Stoff entladet sich unaufhörlich; unzählige Wassersäulen thürmen sich in der Atmosphäre und sinken schäumend wieder zurück.

Wohin treiben wir? … Mein Oheim liegt der Länge nach am Ende des Flosses.

Verdoppelte Wärme. Ich sehe auf das Thermometer; es zeigt … (die Ziffer ist ausgelöscht).

Montag, 24. August. – Das nimmt kein Ende! Warum sollte der Zustand dieser dichten Atmosphäre, wenn er einmal sich ändert, nicht ein definitiver werden.

Wir sind von Strapazen erschöpft. Hans, wie gewöhnlich. Das Floß läuft unverändert südöstlich. Wir haben vom Inselchen Axel aus über zweihundert Meilen zurückgelegt.

Zu Mittag verdoppelt sich die Gewalt des Sturmes. Man ist genöthigt, alle Gegenstände der Ladung festzubinden. Jeder von uns bindet sich ebenfalls an. Die Wellen gehen uns über den Kopf.

Seit drei Tagen ist’s nicht möglich, ein Wort mit einander zu reden. Wir öffnen den Mund, bewegen die Lippen, ein verständlicher Ton kommt nicht zum Vorschein. Selbst wenn man sich in’s Ohr spricht, kann man sich nicht verstehen.

Mein Oheim nähert sich mir, artikulirt einige Worte. Ich glaube, er sagte: »Wir sind verloren«. Doch weiß ich’s nicht gewiß.

Ich schreibe ihm die Worte auf: »Weg mit unserm Segel!«

Er giebt durch ein Zeichen seine Zustimmung.

Auf einmal fällt eine feurige Kugel auf das Floß. Mast und Segel sind augenblicklich entfernt und flattern hoch in den Lüften, wie ein urweltlicher Vogel.

Wir sind starr vor Schrecken. Die Kugel, halb weiß, halb lazurblau, von der Größe einer sechszölligen Bombe, rollt langsam, hier und dorthin, springt auf den Lebensmittelsack, gleitet langsam wieder herunter, hüpft, streift an die Pulverkiste. Grauenhaft! Wir alle in die Luft springen! Nein. Die schreckliche Kugel entfernt sich, nähert sich Hans, der sie fest anstarrt; meinem Oheim, der, um auszuweichen, auf die Kniee fällt; mir, der todtenblaß zurückschaudert vor dem Glanz und der Hitze; sie kreiselt neben meinem Fuß, den ich zurückziehen will, was aber nicht möglich ist.

Ein Geruch von Salpetergas füllt die Luft, dringt in die Kehle, die Lungen – zum Ersticken.

Weshalb kann ich meinen Fuß nicht zurückziehen? Die elektrische Kugel hat alles Eisen an Bord magnetisirt; die Instrumente, Geräthe, Waffen gerathen in Bewegung und stoßen mit hellem Klang an einander; die Nägel an meinen Schuhen hängen fest an einer Eisenplatte, die in Holz eingelassen ist. Darum kann ich meinen Fuß nicht wegziehen! Endlich gelingt mir’s mit höchster Anstrengung, als eben die Kugel in ihrer Kreisbewegung ihn erreichen will …

Da zerspringt sie mit hellem Lichtglanz; wir sind mit Flammenströmen übergossen! Darauf erlischt Alles. Ich hatte eben nur Zeit, meinen Oheim auf dem Floß hingestreckt zu sehen, und Hans, getreulich an seinem Steuer, »Feuer speiend«, da er von Elektricität durchdrungen ist!

Wohin fahren wir? Wohin?

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Dienstag, 25. August. – Ich erwache aus langer Ohnmacht. Das Gewitter dauert fort; die Blitze zischen entfesselt, wie eine Brut Schlangen.

Sind wir noch immer auf dem Meer? Ja, fortgerissen mit unberechenbarer Schnelligkeit. Wir sind unter England hergefahren, dem Kanal, Frankreich, vielleicht ganz Europa!

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Abermals wird ein Getöse vernehmbar! Offenbar bricht sich das Meer an Felsen! Aber dann …

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