Kapitel 25

V

Als Raskolnikow am andern Morgen pünktlich um elf Uhr in dem Polizeigebäude des …schen Bezirks in die Räume des Untersuchungskommissars eingetreten war und sich bei Porfirij Petrowitsch hatte melden lassen, wunderte er sich, wie lange er warten mußte: es dauerte mindestens zehn Minuten, bis er gerufen wurde. Und er hatte geglaubt, man würde, sowie er nur käme, unverzüglich über ihn herfallen. Aber er stand im Wartezimmer, und es kamen und gingen Leute an ihm vorüber, denen er allem Anschein nach völlig gleichgültig war. Im folgenden Zimmer, das den Eindruck einer Kanzlei machte, saßen einige Schreiber bei ihrer Arbeit, und es war augenscheinlich, daß keiner von ihnen auch nur eine Ahnung hatte, wer und was Raskolnikow sei. Mit unruhigem, argwöhnischem Blicke schaute er sich um, um sich zu vergewissern, ob nicht ein Polizist in seiner Nähe sei, ein geheimer Wächter, der den Auftrag habe, auf ihn aufzupassen, damit er nicht davonginge. Aber er konnte nichts dergleichen entdecken: er sah nur die Kanzlisten mit ihrem kleinlichen Tun und Treiben und sonst noch einige Leute; aber niemand kümmerte sich um ihn; er hätte ohne weiteres auf und davon gehen können. Immer mehr festigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser rätselhafte Mensch von gestern, dieses aus der Erde aufgetauchte Gespenst, wirklich alles gesehen und gewußt hätte, man ihn, Raskolnikow, hier gewiß nicht so ruhig stehen und warten lassen würde. Und sicherlich hätte man heute nicht so lange gewartet, bis es ihm selbst belieben würde herzukommen. Es ergab sich also als Resultat: entweder hatte dieser Mensch noch keine Anzeige erstattet, oder … oder … auch er wußte einfach nichts und hatte nichts mit eigenen Augen gesehen (und wie war es denn auch möglich, daß er etwas gesehen hätte?), und folglich war dieses ganze Erlebnis, das er, Raskolnikow, gestern gehabt hatte, in der Hauptsache wieder nur ein Wahngebilde, welches seine überreizte, kranke Phantasie erzeugt hatte. Der Gedanke, daß die Sache so zu erklären sei, hatte sogar schon gestern während der ärgsten Beunruhigung und Verzweiflung angefangen, sich in ihm festzusetzen. Während er alles dies jetzt nochmals durchdachte und sich zu einem neuen Kampf erlistete, fühlte er auf einmal, daß er zitterte – und eine heiße Empörung wallte in ihm auf bei dem Gedanken, daß er wohl gar aus Furcht vor dem verhaßten Porfirij Petrowitsch zittere. Das Schrecklichste, was ihm begegnen konnte, war für ihn, nochmals mit diesem Menschen zusammenzukommen; er haßte ihn maßlos, grenzenlos und fürchtete sogar, sein Haß könnte schuld daran werden, daß er sich eine Blöße gäbe. Und so heftig war seine Empörung, daß sie dem Zittern sofort ein Ende machte; er machte sich bereit, mit kalter, dreister Miene einzutreten, und nahm sich fest vor, nach Möglichkeit zu schweigen, zu beobachten und zuzuhören und wenigstens diesmal um jeden Preis seine krankhafte Reizbarkeit zu überwinden. In diesem Augenblicke wurde er zu Porfirij Petrowitsch hereingerufen.

Er fand Porfirij Petrowitsch in seinem Arbeitszimmer allein. Das Zimmer war von mittlerer Größe; es standen darin: ein großer Schreibtisch, ein mit Wachstuch bezogenes Sofa mit einem Tisch davor, ein Eckschrank und einige Stühle, lauter fiskalische Möbel aus gelbem, poliertem Holze. In der Hinterwand, die nur von einem Bretterverschlag gebildet wurde, befand sich nach der einen Ecke zu eine geschlossene Tür; also mußten noch andre Zimmer dahinter liegen. Nach Raskolnikows Eintritt schloß Porfirij Petrowitsch sofort die Tür, durch die dieser hereingekommen war, so daß sie allein waren. Er bewillkommnete den Besucher anscheinend in heiterster Stimmung und mit freundlichster Miene, und erst einige Minuten darauf glaubte Raskolnikow an gewissen Anzeichen eine Art von Verlegenheit bei ihm zu bemerken, als sei ihm etwas in die Quere gekommen oder als sei er bei irgendwelcher Heimlichkeit ertappt worden.

»Ah, Verehrtester, da sind Sie ja auch … in unserm Reiche …«, begann Porfirij und streckte ihm beide Hände entgegen. »Nun, setzen Sie sich, Väterchen! Oder vielleicht mögen Sie es nicht gern, daß man Sie … so tout court … Verehrtester und Väterchen nennt? Halten Sie es bitte nicht für Zudringlichkeit! Bitte hierher, auf das Sofa!«

Raskolnikow setzte sich, ohne die Augen von ihm abzuwenden.

»In unserm Reiche«, die Entschuldigung wegen der familiären Anrede, die französische Phrase tout court und andres mehr, das waren alles charakteristische Anzeichen. ›Er hat mir zwar beide Hände entgegengestreckt, mir aber keine Hand gereicht, sondern sie noch rechtzeitig zurückgezogen‹, fuhr es ihm argwöhnisch durch den Kopf. Beide beobachteten sich wechselseitig; aber sobald sich ihre Blicke begegneten, wandten sie sie beide blitzschnell voneinander ab.

»Ich bringe Ihnen hier die Eingabe wegen der Uhr, … hier, bitte. Ist es richtig, wie ich sie aufgesetzt habe, oder soll ich sie noch einmal umschreiben?«

»Was? Ach, die Eingabe! Nein, es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung, seien Sie unbesorgt, alles ganz wunderschön!« erwiderte Porfirij Petrowitsch hastig, als müßte er schnell weg, und nahm erst nach diesen Worten das Schriftstück in die Hand und sah es durch. »Ja, es ist wunderschön; weiter ist nichts erforderlich«, bestätigte er nochmals mit der gleichen Zungenfertigkeit und legte das Schreiben auf den Sofatisch.

Eine Minute später, als er bereits von etwas anderem sprach, nahm er es wieder vom Sofatische weg und trug es nach dem Schreibtische hinüber.

»Sie sagten ja wohl gestern, daß Sie mich in aller Form zu vernehmen wünschten … über meine Bekanntschaft mit dieser ermordeten Frau?« begann Raskolnikow.

›Warum habe ich nur dieses »ja wohl« eingeschaltet?‹ durchzuckte es ihn. ›Na, warum beunruhige ich mich so darüber, daß ich dieses »ja wohl« eingeschaltet habe?‹ folgte ein zweiter Gedanke blitzschnell nach.

Und plötzlich kam es ihm zum Bewußtsein, daß seine Zweifelsucht infolge des bloßen Zusammenseins mit Porfirij, infolge einiger weniger Worte, einiger weniger Blicke bereits in einem Augenblicke zu ungeheuerlichen Dimensionen herangewachsen sei … und daß es enorm gefährlich sei, wenn in solcher Art die Reizbarkeit der Nerven zunehme und die Aufregung steige. ›Schlimm! Schlimm! … Die Zunge wird mir wieder durchgehen!‹

»Ja, ja, ja! Seien Sie unbesorgt! Die Sache hat ja Zeit, viel Zeit«, murmelte Porfirij Petrowitsch; er ging, anscheinend zwecklos, neben dem Sofatische hin und her; dann wieder lief er zum Fenster, dann zum Schreibtisch, dann wieder zum Sofatisch; bald wich er Raskolnikows argwöhnischem Blicke aus, bald blieb er auf einem Fleck stehen und starrte ihm gerade ins Gesicht.

Ganz wunderlich nahm sich dabei seine kleine, dicke, runde Figur aus, wie ein großer Gummiball, der bald nach dieser, bald nach jener Seite hinrollt und immer gleich wieder von allen Wänden und Ecken zurückprallt.

»Das hat ja noch Zeit, das hat ja noch Zeit! … Rauchen Sie? Haben Sie bei sich? Bitte, da ist eine Zigarette!« fuhr er fort, indem er seinem Gaste eine Zigarette reichte. »Wissen Sie, ich empfange Sie hier; meine Wohnung liegt da auf der andern Seite der dünnen Wand, … eine Dienstwohnung; aber ich benutze jetzt einstweilen eine Privatwohnung. Es waren hier ein paar Reparaturen nötig. Jetzt ist alles fast in Ordnung. Eine Dienstwohnung, wissen Sie, das ist doch eine prächtige Sache, nicht wahr? Meinen Sie nicht auch?«

»Ja, das ist eine prächtige Sache«, erwiderte Raskolnikow und blickte ihn beinahe spöttisch an.

»Eine prächtige Sache, eine prächtige Sache«, sagte Porfirij Petrowitsch mehrmals hintereinander, als ob er auf einmal an etwas ganz anderes dächte. »Ja, eine prächtige Sache!« rief er zuletzt sehr laut, richtete plötzlich seine Blicke auf Raskolnikow und blieb zwei Schritte von ihm entfernt stehen.

Diese mehrmalige törichte Wiederholung, daß eine Dienstwohnung eine prächtige Sache sei, bildete in ihrer Plattheit einen schroffen Widerspruch zu dem ernsten, nachdenklichen, rätselhaften Blicke, den er jetzt auf dem Besucher ruhen ließ.

Dadurch wurde Raskolnikows Wut noch mehr ins Kochen gebracht, und er konnte eine spöttische und recht unvorsichtige Herausforderung nicht mehr zurückhalten:

»Wissen Sie was?« fragte er, indem er ihn dreist anblickte und einen wahren Genuß von seiner Dreistigkeit hatte. »Es gibt ja doch wohl bei der Justiz für alle möglichen Untersuchungsbeamten eine Regel, einen Kniff: zuerst weit auszuholen, mit Kleinigkeiten anzufangen oder auch mit etwas Ernsthaftem, aber völlig Fremdartigem, um den, der verhört werden soll, sozusagen zu ermutigen oder, richtiger ausgedrückt, zu zerstreuen und seine Vorsicht einzuschläfern, und ihn dann auf einmal, wenn er es am wenigsten erwartet, durch eine verhängnisvolle, gefährliche Frage, wie durch einen Knüttelschlag gerade auf den Scheitel, zu betäuben; nicht wahr? Das wird ja wohl in allen Leitfäden und Anweisungen bis auf den heutigen Tag als eine besondere Weisheit eingeschärft?«

»Ganz richtig, ganz richtig … Also Sie meinen, ich hätte Sie durch das von der Dienstwohnung … hm … ja?« Nach diesen Worten kniff Porfirij Petrowitsch die Augen zusammen und zwinkerte ihm zu; ein vergnügter, schlauer Ausdruck huschte über sein Gesicht; die Falten auf seiner Stirn glätteten sich; die Äuglein wurden ganz klein; das ganze Gesicht zog sich in die Breite; und plötzlich brach er in ein nervöses, lange anhaltendes Lachen aus, wobei er den ganzen Körper hin und her wiegte und schwankte, seinem Besucher aber gerade in die Augen blickte. Dieser begann, sich etwas Zwang antuend, selbst zu lachen. Aber als nun bei diesem Anblick Porfirij Petrowitsch in einen solchen Lachkrampf hineingeriet, daß er ganz blaurot wurde, da gewann bei Raskolnikow der Widerwille die Oberhand über die Vorsicht; er hörte auf zu lachen, machte ein finsteres Gesicht und richtete einen langen, haßerfüllten Blick auf Porfirij, so daß er während der ganzen Dauer dieses ununterbrochenen Lachens, das, wie mit Absicht, gar nicht enden zu wollen schien, die Augen nicht von ihm abwandte. Ein Mangel an Vorsicht war übrigens auf beiden Seiten deutlich; denn Porfirij Petrowitsch lachte ja ganz unverhohlen seinem Gaste ins Gesicht, obgleich dieser das Lachen mit haßerfüllter Miene aufnahm, und wurde darüber in keiner Weise verlegen. Dieser letztere Umstand war für Raskolnikow von Wichtigkeit zur Beurteilung der Sachlage: er sagte sich nun, daß Porfirij Petrowitsch sicherlich auch vorhin durchaus nicht verlegen gewesen sei, sondern im Gegenteil er selbst, Raskolnikow, wohl in eine Falle hineingeraten sei, daß hier offenbar etwas vorhanden sei, wovon er nichts wisse, irgendeine besondere Absicht, daß vielleicht alles schon vorbereitet sei und sich im nächsten Augenblick enthüllen und entladen werde.

Er wollte der Gefahr sofort entgegentreten; darum stand er auf und griff nach seiner Mütze.

»Porfirij Petrowitsch«, begann er in entschlossenem Tone, der aber sehr gereizt klang, »Sie sprachen gestern den Wunsch aus, ich möchte zum Zwecke eines Verhörs zu Ihnen kommen.« (Er legte besonderen Nachdruck auf das Wort Verhör.) »Ich bin gekommen, und wenn Sie etwas wissen wollen, so fragen Sie mich; andernfalls gestatten Sie mir, mich zu entfernen. Ich habe keine Zeit; ich bin in Anspruch genommen … Ich muß der Beerdigung jenes überfahrenen Beamten beiwohnen, von dem Sie … ja auch bereits wissen …«, fügte er hinzu, ärgerte sich aber sofort über diesen Zusatz und wurde nun noch gereizter. »Mir ist diese ganze Geschichte zum Ekel geworden, hören Sie, und zwar schon längst, … auch meine Krankheit rührte zum Teil davon her … Kurz«, fuhr er beinahe schreiend fort, da er sich bewußt wurde, daß die Bemerkung über die Krankheit noch weniger am Platze gewesen war, »kurz, seien Sie so gut, mich entweder zu befragen oder zu entlassen, aber sofort, … und wenn Sie mich befragen wollen, dann nur in aller Form! Auf eine andre Art der Befragung werde ich nicht eingehen; und darum sage ich Ihnen einstweilen Lebewohl, da wir beide augenblicklich miteinander nichts zu schaffen haben.«

»Um des Himmels willen, was haben Sie denn nur! Worüber soll ich Sie denn vernehmen?« begann Porfirij Petrowitsch plötzlich einen eifrigen Redeschwall, änderte sofort Ton und Miene und hörte im Nu auf zu lachen. »Bitte, regen Sie sich doch nicht auf!« Er entwickelte eine unruhige Geschäftigkeit, indem er bald wieder hin und her rannte, bald Raskolnikow einlud, doch wieder Platz zu nehmen. »Die Sache hat ja Zeit, die Sache hat ja Zeit, und es sind ja doch nur Kleinigkeiten! Ich bin vielmehr so froh, daß Sie endlich einmal zu mir gekommen sind … Ich betrachte Ihr Hiersein als einen freundlichen Besuch. Und wegen dieses verdammten Lachens bitte ich Sie um Entschuldigung, Väterchen Rodion Romanowitsch! Rodion Romanowitsch, so ist doch wohl Ihr Name? Ich bin ein nervöser Mensch; Sie haben mich durch Ihre witzige Bemerkung arg zum Lachen gereizt; manchmal muß ich so lachen, daß mir der Leib schüttert, als ob er aus Gummielastikum wäre, wahrhaftig, eine halbe Stunde lang. Ich bin nun einmal so lachlustig. Bei meiner Konstitution kann ich dabei sogar eines Schlaganfalls gewärtig sein. Aber so setzen Sie sich doch, was haben Sie denn! … Bitte, Väterchen, sonst muß ich ja denken, daß Sie es mir übelgenommen haben …«

Raskolnikow schwieg, hörte und beobachtete, immer noch mit zornigem, finsterem Gesichte. Doch er setzte sich wieder hin, legte aber die Mütze nicht aus der Hand.

»Ich mochte Ihnen, Väterchen Rodion Romanowitsch, etwas über mich selbst mitteilen, sozusagen, um Ihnen mein Wesen verständlich zu machen, fuhr Porfirij Petrowitsch fort; er hastete wieder durch das Zimmer und vermied es, wie vorher, dem Blicke des Besuchers zu begegnen. »Sehen Sie, ich bin Junggeselle, ohne weltmännischen Schliff; ich lebe so still für mich; meine Entwicklung ist bereits zum Stillstand gelangt, ich bin starr geworden, sozusagen in Samen geschossen, und … und … und ist es Ihnen vielleicht auch schon aufgefallen, Rodion Romanowitsch, daß bei uns, ich meine bei uns in Rußland und ganz besonders in unsern Petersburger Kreisen, wenn zwei verständige Menschen zusammenkommen, die miteinander noch nicht näher bekannt sind, aber sich doch sozusagen wechselseitig achten, so wie wir beide jetzt – daß es dann eine gute halbe Stunde dauert, bis sie ein Gesprächsthema finden; sie sitzen sich steif gegenüber und genieren sich einer vor dem andern. Alle andern Leute haben immer einen Gesprächsstoff parat; die Damen zum Beispiel, … die Lebemänner zum Beispiel, die feinen Leute, alle haben sie immer etwas zum Reden, c’est de rigueur; aber Leute aus der Mittelschicht, so wie wir, sind immer verlegen und wortkarg, … ich meine: denkende Menschen. Woher mag das kommen, Väterchen? Haben wir keine gemeinsamen Interessen, oder sind wir so ehrlich, daß wir einander nichts vormachen mögen? Ich weiß es nicht. Nun, wie denken Sie darüber? Aber legen Sie doch Ihre Mütze beiseite; das sieht ja so aus, als wären Sie auf dem Sprunge fortzugehen; das macht sich ja so ungemütlich … Und ich freue mich doch so sehr …«

Raskolnikow legte die Mütze hin, fuhr aber fort, zu schweigen und mit ernstem, finsterem Gesichte Porfirijs leeres, wirres Geschwätz anzuhören. ›Ob er wirklich durch sein dummes Geschwätz meine Aufmerksamkeit ablenken will?‹ dachte er.

»Ich biete Ihnen keinen Kaffee an; es ist hier nicht der Ort dazu«, plauderte Porfirij ohne Unterbrechung weiter. »Aber warum sollte man nicht mal fünf Minuten mit einem Freunde zusammensitzen und sich ein bißchen zerstreuen? Reden von der Dienstwohnung … he-he! Was sind Sie für ein Spötter! Na, ich tu’s nicht wieder! Ach ja, dabei fällt mir ein, ein Wort gibt ja das andre, und ein Gedanke knüpft sich an den andern, Sie haben da vorhin auch von der gesetzlichen Form gesprochen, wissen Sie, in bezug auf Verhöre. Na, wozu denn immer in aller gesetzlichen Form! Wissen Sie, die gesetzliche Form ist dabei oft der reine Unsinn. Manchmal, wenn man nur so ganz freundschaftlich mit einem redet, ist das doch viel vorteilhafter. Die gesetzliche Form läuft einem ja nicht davon; gestatten Sie, daß ich Sie darüber beruhige; ja, und was hat denn auch eigentlich die gesetzliche Form für eine Bedeutung, möchte ich Sie fragen? Durch die gesetzliche Form darf man sich, wenn man eine Untersuchung führt, nicht auf Schritt und Tritt hemmen lassen. Die Tätigkeit eines Untersuchungskommissars ist doch, um mich so auszudrücken, eine freie Kunst in ihrer Art – oder so etwas Ähnliches … he-he-he!«

Porfirij Petrowitsch hielt für einen Augenblick inne, um wieder Atem zu schöpfen. Er redete immer in einem Zuge, ohne müde zu werden; bald waren es sinnlose, leere Redensarten; dann streute er auf einmal dunkle Andeutungen dazwischen und geriet sofort wieder in das sinnlose Gerede hinein. Sein Hin- und Herwandern im Zimmer glich schon beinahe einem Lauf; immer schneller und schneller bewegten sich seine dicken Beinchen; dabei blickte er immer auf den Fußboden; die rechte Hand hielt er auf dem Rücken; die linke schwenkte er fortwährend in der Luft umher und vollführte mit ihr allerlei Gestikulationen, die aber jedesmal auffallend wenig zu seinen Worten paßten. Raskolnikow bemerkte plötzlich, daß er bei seinem Umherlaufen im Zimmer ein paarmal an der Eingangstür stehenblieb, nur einen Augenblick, und auf etwas zu horchen schien …

›Wartet er vielleicht auf etwas?‹ dachte er.

»Und darin haben Sie wirklich vollkommen recht«, fuhr Porfirij wieder fort und blickte dabei Raskolnikow heiter und mit ganz besonderer Gutmütigkeit an (dieser bekam ordentlich einen Schreck darüber und setzte sich schleunigst wieder in Bereitschaft), »wirklich vollkommen recht, daß Sie sich über das Formenwesen bei der Justiz in so geistreicher Weise lustig machten, he-he! Diese unsre Kniffe, von denen manche mit solchem psychologischen Tiefsinn ausgeklügelt sind, sind höchst lächerlich, ja vielleicht sogar ganz wertlos, wenn man sich dabei zu sehr an die Form bindet. Ja, … ich komme wieder auf die gesetzliche Form zu reden: also wenn ich in einer Sache, die mir übertragen ist, den einen oder den andern für den Täter halte oder, besser gesagt, im Verdacht habe … Sie studieren ja doch Jura, Rodion Romanowitsch?«

»Das habe ich allerdings getan.«

»Nun also, da möchte ich Ihnen, um mich so auszudrücken, ein kleines Beispiel für Ihre zukünftige Praxis anführen – das heißt, glauben Sie nicht etwa, daß ich mir herausnehme, Sie belehren zu wollen: Sie lassen ja selbst so schöne Aufsätze über Verbrechen drucken! Nein, ich möchte Ihnen nur ganz ohne solche Absicht, als einen faktischen Fall, ein kleines Beispiel anführen. Also wenn ich zum Beispiel den einen oder den andern für den Täter halte, warum soll ich, frage ich Sie, ihn vor dem richtigen Zeitpunkt beunruhigen, auch wenn ich Indizien gegen ihn in der Hand habe? Manchen muß ich ja allerdings so schnell wie möglich festnehmen; aber ein andrer hat wieder einen ganz andern Charakter, im Ernst; also warum soll ich ihm da nicht gestatten, noch ein bißchen in der Stadt spazierenzugehen, he-he-he! Nein, wie ich sehe, verstehen Sie noch nicht ganz, wie ich es meine; darum will ich es Ihnen noch deutlicher auseinandersetzen: wenn ich ihn nämlich zu früh festnehme, so gebe ich ihm dadurch womöglich noch sozusagen eine moralische Stütze, he-he! Ja, Sie lachen?« (Raskolnikow dachte gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Lippen da und wandte seinen glühenden Blick nicht einen Moment von Porfirijs Augen ab.)

Etwa ins Ausland? Ein Pole würde ins Ausland flüchten, aber er nicht, um so weniger, da ich ihn beobachte und meine Maßregeln getroffen habe. Oder soll er im Inlande nach einem Dorfe oder sonst einem kleinen Neste fliehen? Aber da wohnen Bauern, die richtigen, armen und einfältigen russischen Bauern, und ein Mensch mit moderner Bildung wird, wenn er die Wahl hat, lieber ins Gefängnis gehen als mit unsern Bauern zusammenwohnen, mit denen für ihn gar keine Verständigung möglich ist, he-he-he! Und all das ist noch das wenigste, das sind nur äußere Gründe. Was heißt das: ›er wird fliehen‹? Dabei denkt man an die äußere Handlung; aber das ist gar nicht die Hauptsache. Nicht bloß deswegen wird er mir nicht davongehen, weil er keinen Ort hat, wohin er flüchten könnte; er wird mir psychologisch nicht davongehen, he-he-he! Ein feiner Ausdruck, was? Einem Naturgesetze zufolge wird er mir nicht davongehen, selbst wenn er einen Ort hätte, wohin er fliehen könnte. Haben Sie schon einmal einen Schmetterling in der Nähe einer brennenden Kerze gesehen? Na, ganz so wird auch er immerzu, immerzu um mich wie um eine Kerze herumkreisen; die Freiheit wird ihm zuwider werden; er wird melancholisch und konfus werden, sich selbst wie in einem Netze verwickeln und sich zu Tode ängstigen! … Und noch mehr: er selbst wird mir gleichsam einen evidenten mathematischen Beweis zurechtmachen, wenn ich ihm nur die erforderliche Zeit lasse. … Und unaufhörlich, unaufhörlich wird er um mich Kreise beschreiben, mit immer kleinerem Radius; und bauz! fliegt er mir gerade in den Mund, und ich verschlucke ihn. Und das ist doch sehr angenehm, he-he-he! Sie glauben mir nicht?«

Raskolnikow antwortete nicht; er saß blaß und regungslos da und blickte die ganze Zeit über mit demselben gespannten Ausdruck dem andern ins Gesicht.

›Eine gute Lektion!‹ dachte er fröstelnd. ›Das ist ja ganz anders als gestern, wo er Katze und Maus mit mir spielte. Und daß er mir seine Macht zeigt und mir die Antworten in den Mund legt, das tut er sicher nicht, ohne sich einen Nutzen davon zu versprechen; dazu ist er zu klug … Da steckt eine bestimmte Absicht dahinter, aber welche? Ach, Unsinn, Brüderchen, das ist nur so eine List von dir, du willst mich ins Bockshorn jagen. Du hast keine Beweise in Händen, und der Mensch von gestern existiert in Wirklichkeit gar nicht! Du willst mich bloß aus der Fassung bringen, mich zu einer Übereilung reizen und mich in diesem Zustande überrumpeln; aber du verrechnest dich, es wird dir nicht gelingen! es wird dir nicht gelingen! Aber warum legt er mir eigentlich in dieser Weise die Antworten in den Mund? Ja, warum? … Er rechnet wohl auf meine kranken Nerven! … Nein, Brüderchen, du irrst dich, es wird dir nicht gelingen, obgleich du noch irgend etwas im Schilde führst. Nun, wir wollen einmal sehen, was das eigentlich ist.‹

Er nahm all seine Kraft zusammen, um sich auf eine furchtbare, unbekannte Katastrophe vorzubereiten. Zeitweilig hatte er die größte Lust, sich auf Porfirij zu stürzen und ihn auf dem Fleck zu erwürgen; schon als er eintrat, hatte er befürchtet, daß ihn diese Wut überkommen würde. Er fühlte, daß seine Lippen glühten, sein Herz heftig klopfte, die Feuchtigkeit auf den Lippen vertrocknet war. Dennoch entschied er sich dafür zu schweigen und vor der Zeit kein Wort zu sagen. Er sah ein, daß das in seiner Lage die beste Taktik war, weil er dann nicht nur seinerseits übereilte Äußerungen vermeiden, sondern auch noch durch sein Schweigen den Feind reizen würde; vielleicht würde dann sogar dieser ihm gegenüber sich unbedachte Worte entschlüpfen lassen. Wenigstens hoffte Raskolnikow darauf.

»Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht; Sie denken immer, daß ich Ihnen harmlose Späßchen vormache«, fuhr Porfirij fort; er wurde immer vergnügter, kicherte unaufhörlich vor Lustigkeit und fing wieder an, im Zimmer herumzulaufen. und wieder hat er einen Anhaltspunkt gegeben! Wenn er auch den andern zunächst hinters Licht führt, aber über Nacht überlegt sich der die Sache, wenn er einigermaßen gewitzt ist. Und so geht es auf Schritt und Tritt! Noch mehr: er fängt an, sich seinen Widersachern geradezu aufzudrängen, sich einzumischen, wo man ihn gar nicht gefragt hat, fortwährend über Dinge zu reden, über die er besser schwiege; er erzählt allerlei mit Andeutungen gespickte Geschichten, he-he-he! er kommt selbst und erkundigt sich: ›Warum dauert es denn so lange, bis ich festgenommen werde?‹ He-he-he! Und so kann es sogar dem scharfsinnigsten Menschen gehen, einem ausgezeichneten Psychologen und Schriftsteller! Die Natur ist ein Spiegel, der klarste Spiegel! In den muß man hineinschauen, mit Lust und Eifer hineinschauen; darauf kommt es an! Aber warum sind Sie denn so blaß geworden, Rodion Romanowitsch? Ist es Ihnen hier zu stickig? Soll ich ein Fenster aufmachen?«

»O bitte, bemühen Sie sich nicht!« rief Raskolnikow und lachte plötzlich auf. »Bitte, bemühen Sie sich nicht!«

Porfirij blieb vor ihm stehen, wartete ein Weilchen und lachte dann, seinem Beispiele folgend, auf einmal selbst los. Raskolnikow stand vom Sofa auf und brach jäh sein Lachen ab, das durchaus den Charakter eines krankhaften Anfalls getragen hatte.

»Porfirij Petrowitsch«, sagte er laut und deutlich, obgleich ihn die zitternden Beine kaum noch trugen, »ich sehe endlich klar, daß Sie mich tatsächlich im Verdachte haben, diese alte Frau und ihre Schwester Lisaweta ermordet zu haben. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß diese ganze Sache mir schon längst zum Ekel geworden ist. Wenn Sie der Ansicht sind, daß Sie ein Recht haben, gesetzlich gegen mich vorzugehen, so gehen Sie gegen mich vor; glauben Sie, mich festnehmen zu sollen, so tun Sie es doch. Aber daß Sie mir ins Gesicht lachen und mich martern, das dulde ich nicht …«

Seine Lippen bebten, seine Augen glühten vor Wut, und seine Stimme, die bis dahin nicht überlaut gewesen war, schwoll an.

»Das dulde ich nicht!« schrie er und schlug aus voller Kraft mit der Faust auf den Tisch. »Hören Sie wohl, Porfirij Petrowitsch? Das dulde ich nicht!«

»Aber, mein Gott, was haben Sie denn wieder!« rief Porfirij Petrowitsch, anscheinend höchst erschrocken. »Väterchen, Rodion Romanowitsch! Mein Teuerster! Was haben Sie denn nur?«

»Ich dulde es nicht!« rief Raskolnikow noch einmal.

»Nicht so laut, Väterchen! Die Leute nebenan hören es ja und kommen herein! Und was sollen wir ihnen dann sagen, bedenken Sie doch!« flüsterte Porfirij Petrowitsch bestürzt, indem er sein Gesicht dem Raskolnikows näherte.

»Ich dulde es nicht, ich dulde es nicht!« wiederholte Raskolnikow mechanisch, aber auf einmal gleichfalls im Flüstertone.

Porfirij drehte sich schnell um und lief hin, um ein Fenster zu öffnen.

»Wir wollen ein bißchen frische Luft hereinlassen! Und auch einen Schluck Wasser müssen Sie trinken, mein Bester! Das ist ja ein richtiger Anfall!«

Er stürzte schon zur Tür, um Wasser bringen zu lassen, fand aber dort in einer Ecke selbst noch eine Karaffe mit Wasser.

»Da, Väterchen, trinken Sie!« flüsterte er, indem er mit der Karaffe zu ihm hinlief. »Vielleicht hilft das …«

Porfirijs Schreck und sogar seine Teilnahme wirkten so natürlich, daß Raskolnikow schwieg und ihn befremdet und prüfend anblickte. Das Wasser nahm er jedoch nicht.

»Rodion Romanowitsch! Lieber! Auf diese Art werden Sie sich noch um den Verstand bringen, dessen kann ich Sie versichern! So trinken Sie doch! Trinken Sie wenigstens ein klein bißchen!«

Er zwang ihn, das Glas mit Wasser in die Hand zu nehmen. Raskolnikow führte es schon mechanisch an die Lippen, kam dann aber zur Besinnung und stellte es voll Abscheu auf den Tisch.

»Ja, ja, Sie haben so einen kleinen Anfall gehabt! Auf diese Weise, bester Freund, werden Sie sich Ihre frühere Krankheit von neuem zuziehen«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort mit freundschaftlicher Teilnahme auf ihn einzureden; seine Miene hatte immer noch den Ausdruck der Fassungslosigkeit beibehalten. »Mein Gott, wie kann man sich nur so wenig in acht nehmen! Da ist auch gestern Dmitrij Prokofjitsch bei mir gewesen – ich gebe ja zu, ich gebe ja zu, ich habe einen spöttischen, garstigen Charakter; aber was haben diese Menschen daraus für wunderliche Schlüsse gezogen! … Mein Gott! Er kam gestern, bald nachdem Sie fortgegangen waren, wir aßen gerade zu Mittag, er redete und redete, ich konnte nur die Hände überm Kopfe zusammenschlagen! Na, dachte ich, … ach, du mein Gott! Hatten Sie ihn dazu veranlaßt, zu mir zu kommen? Aber so setzen Sie sich doch, Väterchen, setzen Sie sich, ich bitte Sie dringend!«

»Nein, ich hatte ihn nicht dazu veranlaßt! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen ging und warum er zu Ihnen ging«, antwortete Raskolnikow schroff.

»Sie wußten es?«

»Ja. Was folgt daraus?«

»Ach, Väterchen Rodion Romanowitsch, ich weiß ja noch ganz andre Sachen, die Sie gemacht haben; ich bin von allem unterrichtet! Ich weiß ja, daß Sie eine Wohnung mieten gingen, kurz vor Einbruch der Nacht, als es schon dunkel wurde, und daß Sie an der Türklingel zogen und nach dem Blute fragten und die Gesellen und die Hausknechte stutzig machten. Ich habe ja auch Verständnis für Ihre damalige Gemütsstimmung, … aber ich muß doch sagen, Sie werden sich auf diese Weise einfach um den Verstand bringen, weiß Gott! Es wird Ihnen wirbelig im Kopfe werden! Eine edle Entrüstung wallt heftig in Ihnen wegen der Kränkungen auf, die Sie erlitten haben, zuerst vom Schicksal, dann von den Polizeibeamten; und deswegen stürmen Sie nun hierhin und dahin, um sozusagen möglichst schnell alle zum Reden zu bringen und so der ganzen Geschichte mit einem Male ein Ende zu machen, weil diese Dummheiten und all diese Verdächtigungen Ihnen zum Ekel geworden sind. Ist es nicht so? Habe ich Ihre Stimmung erraten? … Nur werden Sie auf diese Weise nicht bloß sich selbst, sondern auch meinem lieben Rasumichin den Kopf verdrehen; und es wäre doch schade um ihn, ein so braver Mensch, wie er ist; das wissen Sie selbst. Ihre Krankheit kann auf seine Bravheit ansteckend wirken … Ich will Ihnen, wenn Sie sich beruhigt haben, Väterchen, eine Geschichte erzählen … Aber so setzen Sie sich doch, Väterchen, ich bitte Sie um alles in der Welt; bitte, erholen Sie sich; Sie sehen ja ganz entstellt aus. Aber nehmen Sie doch Platz!«

Raskolnikow setzte sich; das Zittern war vorübergegangen, und eine Gluthitze durchströmte jetzt seinen ganzen Körper. Mit größtem Erstaunen und gespanntester Aufmerksamkeit hörte er dem aufgeregten Porfirij zu, der sich freundschaftlich um ihn bemühte. Aber er glaubte ihm kein einziges Wort, obwohl er eine seltsame Neigung dazu verspürte. Porfirijs unerwartete Bemerkung über das Wohnungssuchen hatte ihn in große Bestürzung versetzt. ›Er weiß also die Geschichte mit der Wohnung‹, dachte er, ›und erzählt es mir von selbst?‹

»Ja, wir haben in unsrer Gerichtspraxis einmal fast genau denselben Fall gehabt, bei dem auch krankhafte Seelenstimmungen eine große Rolle spielten«, fuhr Porfirij in seiner Redseligkeit fort. »Da beschuldigte sich auch einer selbst eines Mordes: eine ganze Halluzination trug er vor, führte Tatsachen an, erzählte Begleitumstände, machte uns alle ganz schwindlig und konfus, und was war schließlich an der Sache dran? Er selbst hatte völlig unabsichtlich zu einem gewissen Teil den Mord ermöglicht, aber nur zu einem gewissen Teil, und als er nun erfuhr, daß er den Mördern die Gelegenheit verschafft habe, da wurde er tiefsinnig, sein Denken geriet in Verwirrung, er hatte Visionen, wurde ganz verrückt und glaubte steif und fest, er wäre der Mörder! Aber die oberste Instanz klärte dann doch schließlich die Sache auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und in Pflege gegeben. Ein dankenswertes Verdienst der obersten Instanz! Ja, so etwas ist eine schlimme Sache, Väterchen, o weh, o weh! Auf die Art kann man sich leicht ein hitziges Fieber zuziehen, wenn sich schon ein solcher Hang zeigt, die Nerven zu reizen, nachts wegzugehen und an Türklingeln zu ziehen und sich nach Blut zu erkundigen! Dieses ganze Gebiet der Psychologie habe ich in meiner Praxis genau studiert. Manchmal verspürt ein solcher Kranker einen unwiderstehlichen Trieb, aus dem Fenster oder von einem Turm hinabzuspringen, und es ist das eine sehr verführerische Empfindung. Geradeso wie mit dem Ziehen an der Türklingel … Das ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, eine Krankheit! Aber Sie vernachlässigen Ihre Krankheit gar zu sehr. Sie sollten einen erfahrenen Arzt befragen; was kann Ihnen der Dicke, den Sie da haben, helfen! … Sie haben ein hitziges Fieber! Alles, was Sie tun, tun Sie lediglich im Fieberwahn!«

Einen Augenblick lang hatte Raskolnikow die Empfindung, als ob sich alles um ihn im Kreise drehte.

›Ob er wirklich auch jetzt heuchelt?‹ fuhr es ihm durch den Kopf. ›Unmöglich, unmöglich!‹ Er wies diesen Gedanken von sich, da er im voraus fühlte, daß dieser Gedanke ihn in grenzenlose Wut und Raserei versetzen und die Wut ihn des Verstandes berauben könne.

»Das war nicht im Fieberwahn, das war bei klarem Bewußtsein!« rief er und strengte alle Kräfte seines Verstandes an, um Porfirijs Spiel zu durchschauen. »Bei klarem Bewußtsein, bei klarem Bewußtsein! Hören Sie wohl?«

»Ja, ich höre, ich verstehe! Sie sagten auch gestern schon, daß es nicht im Fieberwahn war, und betonten es sogar ganz besonders, es sei nicht im Fieberwahn gewesen. Ich verstehe alles, was Sie sagen können. Ja, ja! … Hören Sie, mein teuerster Rodion Romanowitsch, wir brauchen ja nur diesen einen Umstand zu bedenken: wenn Sie wirklich, tatsächlich ein Verbrecher oder überhaupt irgendwie an dieser verdammten Geschichte beteiligt wären, na, würden Sie dann, ich bitte Sie, selbst betonen, daß Sie das alles nicht im Fieberwahn getan hätten, sondern im Gegenteil bei vollem Bewußtsein? Und noch dazu es ganz besonders betonen, es mit so ganz besondrer Hartnäckigkeit betonen? Na, wäre das möglich? Ich bitte Sie, wäre das möglich? Meines Erachtens würden Sie ganz entgegengesetzt verfahren. Wären Sie sich irgendwelcher Schuld bewußt, so müßten Sie gerade betonen, daß Sie sich unbedingt im Fieberwahn befunden hätten. Nicht wahr? Habe ich nicht recht?«

Es klang eine gewisse Hinterlist aus dieser Frage heraus. Raskolnikow wich vor Porfirij, der sich zu ihm hinbeugte, bis ganz an die Lehne des Sofas zurück, und starrte ihm schweigend und erstaunt ins Gesicht.

»Und dann, was Herrn Rasumichin betrifft, ich meine die Frage, ob er gestern aus eigenem Antriebe zu mir kam, um mit mir über die Sache zu sprechen, oder auf Ihre Veranlassung. Wenn Sie sich schuldig fühlten, so müßten Sie gerade sagen, daß er von selbst gekommen wäre, und verheimlichen, daß er es auf Ihre Veranlassung getan hätte. Sie aber verheimlichen das nicht. Sie betonen gerade, daß er auf Ihre Veranlassung gekommen sei!«

Raskolnikow hatte das niemals betont. Ein Kältegefühl lief ihm über den Rücken.

»Sie lügen fortwährend«, sagte er langsam und matt; seine Lippen verzogen sich zu einem krankhaften Lächeln. »Sie wollen mir wieder zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel kennen und alle meine Antworten im voraus wissen.« Er merkte selbst, daß er seine Worte nicht mehr so abwog, wie es nötig war. »Sie wollen mich einschüchtern, … oder Sie machen sich einfach über mich lustig.«

Er sah ihn, während er das sagte, immer noch starr an, und auf einmal flammte wieder eine maßlose Wut in seinen Augen auf.

»Sie lügen fortwährend!« rief er. »Sie wissen selbst sehr gut, daß es für einen Verbrecher das klügste ist, nach Möglichkeit die Wahrheit zu sagen, … nichts zu verheimlichen, was nicht verheimlicht zu werden braucht! Ich glaube Ihnen nicht!«

»Nun sehen Sie mal, wie Sie sich hin und her zu wenden verstehen!« kicherte Porfirij. »Mit Ihnen, Väterchen, kann man doch gar nicht fertig werden! Es hat sich so eine Art von fixer Idee bei Ihnen festgesetzt. Also Sie glauben mir nicht? Ich aber sage Ihnen, daß Sie mir allerdings schon glauben, mir schon einen großen Teil von dem, was ich sage, glauben, und ich werde Sie dahin bringen, daß Sie mir alles glauben; denn ich habe Sie von Herzen gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.«

Raskolnikows Lippen fingen an zu zittern.

»Ja, ich wünsche Ihnen alles Gute, und ich rate Ihnen ganz entschieden«, fuhr er fort und faßte mit leiser Berührung Raskolnikow freundschaftlich am Arm, ein wenig oberhalb des Ellbogens, »ich rate Ihnen ganz entschieden: achten Sie recht auf Ihre Krankheit. Es kommt noch hinzu, daß jetzt Ihre nächsten Angehörigen hier bei Ihnen eingetroffen sind; auch an die sollten Sie denken. Es wäre Ihre Pflicht, ihnen ein ruhiges Leben zu bereiten und sie mit zärtlicher Sorge zu umgeben; aber Sie versetzen die Ihrigen nur in Angst …«

»Was geht Sie das an? Woher wissen Sie das? Warum interessieren Sie sich so für mich? Sie lassen mich also beobachten und wollen mir das zeigen?«

»Aber, Väterchen! Ich habe das alles doch von Ihnen, von Ihnen selbst erfahren! Sie merken gar nicht, daß Sie in Ihrer Erregung mir und andern alles selbst zuerst erzählen. Auch von Herrn Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern viele interessante Einzelheiten erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen, und ich muß Ihnen sagen, daß Sie infolge Ihrer Neigung zu Argwohn trotz all Ihres Scharfsinns sogar den gesunden Blick für die Dinge verlieren. Sehen Sie zum Beispiel, was das Ziehen an der Türklingel anlangt, wenn ich noch einmal auf dieses Thema zurückkommen darf: ein so wertvolles Beweismoment, ein solches Faktum (denn es ist ja ein ganz feststehendes Faktum) habe ich, der Untersuchungskommissar, Ihnen so mir nichts, dir nichts preisgegeben! Und in dieser Handlungsweise finden Sie gar nichts? Wenn ich auch nur den geringsten Verdacht gegen Sie hegte, hätte ich dann so verfahren dürfen? Ich müßte vielmehr zunächst Ihren Argwohn einschläfern und gar nicht merken lassen, daß mir dieses Faktum bereits bekannt ist; ich müßte in dieser Weise Ihre Aufmerksamkeit nach der entgegengesetzten Seite ablenken und Sie dann plötzlich, wie mit einem Knüttelschlage auf den Scheitel (nach Ihrem eigenen Ausdrucke), mit diesen Fragen betäuben: ›Was hatten Sie, mein Herr, in der Wohnung der Ermordeten um zehn Uhr abends oder noch später zu suchen? Warum haben Sie an der Türklingel gezogen? Warum erkundigten Sie sich nach dem Blute? Warum verblüfften Sie die Hausknechte und forderten sie auf, nach dem Polizeibureau, zum Revierleutnant, mitzukommen?‹ So müßte ich verfahren, wenn ich auch nur eine Spur von Verdacht gegen Sie hätte. Ich müßte in aller Form ein Verhör mit Ihnen anstellen, eine Haussuchung vornehmen, vielleicht auch Sie festnehmen lassen … Folglich hege ich gegen Sie keinen Verdacht, da ich ja anders gehandelt habe! Aber um es noch einmal zu wiederholen: Sie haben den gesunden Blick verloren und sehen nichts!«

Raskolnikow zuckte mit dem ganzen Körper zusammen, so daß Porfirij Petrowitsch es ganz deutlich bemerkte.

»Sie lügen fortwährend!« rief er. »Ich kenne Ihre Absichten nicht, aber Sie lügen fortwährend! … Vorhin haben Sie in ganz anderem Sinne gesprochen; darin kann ich mich nicht irren … Sie lügen!«

»Ich lüge?« erwiderte Porfirij, der sich anscheinend ereiferte, aber seine heitere, spöttische Miene beibehielt und sich nicht im geringsten darüber aufzuregen schien, was Herr Raskolnikow über ihn für eine Meinung hätte. »Ich lüge? … Na, und wie habe ich mich vorhin gegen Sie benommen, ich, der Untersuchungskommissar? Ich selbst habe Ihnen alle möglichen Verteidigungsmittel mitgeteilt und an die Hand gegeben; ich selbst habe Ihnen dieses ganze Kapitel der Psychologie auseinandergesetzt: ›Krankheit‹, sagt man zu seiner Verteidigung. ›Fieberwahn, ich fühlte mich gekränkt, Schwermut‹, und ›die Polizeibeamten‹ und noch vieles andre. Nicht wahr? He-he-he! Wiewohl, beiläufig bemerkt, all diese der Psychologie entlehnten Verteidigungsmittel, Ausreden und Finten äußerst unzuverlässig sind und gar sehr ihre zwei Seiten haben: ›Krankheit‹, sagt man, ›Fieberwahn, Träume, es ist mir so vorgekommen, ich erinnere mich nicht‹; alles ganz schön; aber, Väterchen, warum stellen sich denn in der Krankheit und im Fieberwahn immer gerade nur solche Träume ein und keine andern? Es könnte einem doch auch etwas andres träumen? Nicht wahr? He-he-he-he!«

Raskolnikow maß ihn mit einem stolzen, verächtlichen Blicke.

»Um es kurz zu machen«, sagte er laut und energisch, indem er aufstand und dabei Porfirij ein wenig beiseite schob, »um es kurz zu machen, ich will wissen: erklären Sie mich endgültig für frei von allem Verdacht oder nicht? Sagen Sie mir das, Porfirij Petrowitsch, sagen Sie mir das bestimmt und endgültig, und recht schnell, sofort!«

»Ach, ist das eine Not! Nein, was man mit Ihnen für Not hat!« rief Porfirij mit durchaus heiterer, schlauer Miene und ohne jedes Zeichen von Erregung. »Wozu brauchen Sie denn das zu wissen, wozu brauchen Sie denn all so etwas zu wissen, da es doch noch keinem Menschen eingefallen ist, Sie irgendwie zu belästigen? Sie sind ja ganz wie ein Kind, das durchaus verlangt, man solle ihm das Feuer in die Hand geben! Und warum beunruhigen Sie sich so? Warum drängen Sie sich uns denn selbst in dieser Weise auf? Was haben Sie dazu für Gründe? He-he-he!«

»Ich wiederhole Ihnen«, schrie Raskolnikow wütend, »daß ich das nicht länger ertragen kann! …«

»Was können Sie nicht ertragen? Die Ungewißheit?« unterbrach ihn Porfirij.

»Verhöhnen Sie mich nicht! Ich will das nicht länger ertragen! … Ich sage Ihnen, daß ich das nicht länger ertragen will! … Ich kann und will es nicht! … Hören Sie! Hören Sie!« schrie er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch.

»Aber leiser, leiser! Das hören ja andre Leute! Ich warne Sie in allem Ernst: schonen Sie Ihre Gesundheit! Ich scherze nicht!« erwiderte Porfirij flüsternd; aber diesmal war auf seinem Gesichte von dem weibisch-gutmütigen, ängstlichen Ausdruck nichts mehr zu bemerken; im Gegenteil, jetzt befahl er geradezu, in strengem Tone, mit zusammengezogenen Brauen; es war, als würfe er mit einem Male alles Versteckspiel und alle Zweideutigkeit beiseite.

Indes dauerte das nur einen Augenblick. Raskolnikow war aufs höchste überrascht und geriet in vollständige Raserei; aber sonderbarerweise fügte er sich wieder dem Befehle, leiser zu sprechen, obwohl er sich in einem wahren Paroxysmus von Wut befand.

»Ich lasse mich nicht so quälen!« flüsterte er gerade wie vorhin; voll Schmerz und Ingrimm wurde er sich in demselben Augenblicke bewußt, daß er nicht die Kraft besaß, dem Befehle zu widerstreben, und dieser Gedanke machte ihn nur noch wütender. »Verhaften Sie mich, halten Sie bei mir Haussuchung; aber verfahren Sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Form und spielen Sie nicht mit mir! Unterstehen Sie sich nicht, das zu tun!«

»Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen der gesetzlichen Form!« unterbrach ihn Porfirij, nun wieder mit seinem schlauen Lächeln, und betrachtete Raskolnikow, wie es schien, sogar mit einer besonderen Art von Genuß. »Ich hatte Sie jetzt doch nur als guten Bekannten zu einem Besuche aufgefordert, Väterchen, nur so ganz freundschaftlich!«

»Ich will Ihre Freundschaft nicht, ich pfeife darauf! Hören Sie? Sehen Sie her: ich nehme meine Mütze und gehe weg. Nun, was werden Sie jetzt dazu sagen, wenn Sie wirklich die Absicht haben, mich zu verhaften?«

Er ergriff seine Mütze und ging zur Tür.

»Ich habe eine kleine Überraschung für Sie; wollen Sie die nicht noch sehen?« kicherte Porfirij, faßte ihn wieder etwas oberhalb des Ellbogens an und hielt ihn an der Tür zurück.

Er wurde augenscheinlich immer heiterer und lustiger, worüber Raskolnikow ganz außer sich kam.

»Was für eine kleine Überraschung? Was wollen Sie damit sagen?« fragte er, blieb plötzlich stehen und blickte Porfirij erschreckt an.

»Die Überraschung ist hier zur Stelle; ich habe sie da hinter der Tür sitzen, he-he-he!« Er wies mit dem Finger auf die geschlossene Tür in dem Bretterverschlag, die nach seiner Dienstwohnung führte. »Ich habe sie sogar eingeschlossen, damit sie nicht davonläuft.«

»Was ist es denn? Wo? Was?«

Raskolnikow trat zu der Tür hin und wollte sie öffnen; aber sie war verschlossen.

»Sie ist zugeschlossen; da ist der Schlüssel!«

Er zog wirklich einen Schlüssel aus der Tasche und zeigte ihn ihm.

»Du lügst fortwährend!« schrie Raskolnikow, der sich nicht mehr beherrschen konnte. »Du lügst, du verdammter Hanswurst!« und er stürzte auf Porfirij los, der sich nach der Eingangstür zurückzog, ohne jedoch irgendwie Furcht zu zeigen.

»Ich durchschaue alles, alles durchschaue ich!« rief Raskolnikow, indem er auf ihn zusprang. »Du lügst und hänselst mich, damit ich mich verraten soll.«

»Ein deutlicherer Selbstverrat ist ja gar nicht denkbar, Väterchen Rodion Romanowitsch. Sie sind ja ganz rasend geworden. Schreien Sie nur nicht so; sonst muß ich Leute herbeirufen.«

»Du lügst, es kann mir nichts geschehen! Rufe deine Leute her! Du hast gewußt, daß ich krank bin, und hast mich so lange reizen wollen, bis ich wütend würde, damit ich mich verriete; das war deine Absicht! Aber bringe Tatsachen vor! Ich habe alles durchschaut! Tatsachen hast du keine; du hast nur klägliche, wertlose Mutmaßungen à la Sametow! … Du kanntest meinen Charakter und wolltest mich in Raserei versetzen, um mich dann plötzlich mit Popen und Zeugen zu überrumpeln … Wartest du auf die? Ja? Worauf wartest du? Wo sind sie? Laß sie herkommen!«

»Aber, Väterchen, was sollen hier Popen und Zeugen! Was manche Leute für Vorstellungen haben! So, wie Sie sagen, zu verfahren, das würde ja der gesetzlichen Form gar nicht entsprechen; Sie verstehen den Geschäftsgang gar nicht, mein Bester … Die gesetzliche Form läuft uns nicht davon; das werden Sie schon noch selbst sehen!« murmelte Porfirij und horchte nach der Eingangstür hin.

Wirklich war in diesem Augenblicke dicht an dieser Tür im Nebenzimmer ein Geräusch zu vernehmen.

»Aha, sie kommen!« rief Raskolnikow. »Du hast sie holen lassen! … Du hast auf sie gewartet! Darauf hast du gerechnet! Nun, laß sie alle herkommen, deine Zeugen und wen du sonst noch willst! Her damit! Ich bin bereit! Ich bin bereit!«

Aber in diesem Augenblicke begab sich etwas Seltsames, etwas, was so außerhalb des gewöhnlichen Ganges der Dinge lag, daß weder Raskolnikow noch Porfirij Petrowitsch mit einer derartigen Entwicklung hatten rechnen können.

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Kapitel 26

VI

Wenn in späteren Zeiten Raskolnikow sich dieser Szene erinnerte, so stellte sie sich ihm folgendermaßen dar:

Das Geräusch, das hinter der Tür vernehmbar geworden war, wurde schnell stärker, und die Tür wurde ein wenig geöffnet.

»Was gibt es?« rief Porfirij Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch befohlen …«

Es erfolgte zunächst keine Antwort; aber es war deutlich, daß sich hinter der Tür mehrere Menschen befanden und bemüht waren, jemand von der Tür wegzustoßen.

»Was gibt es denn da?« fragte Porfirij Petrowitsch noch einmal in erregtem Tone.

»Sie haben den Arrestanten Nikolai hergebracht«, antwortete eine Stimme.

»Den brauche ich nicht! Weg mit ihm! Wartet noch! Was hat er jetzt hier zu suchen! Was ist das für eine Unordnung!« rief Porfirij und stürzte zur Tür.

»Ja, er …«, setzte dieselbe Stimme wieder an, brach aber plötzlich ab.

Ein richtiges Ringen entstand, das nicht länger als zwei Sekunden dauerte; dann schien jemand einen andern mit aller Kraft beiseitezustoßen, und unmittelbar darauf trat ein sehr blaß aussehender Mensch in Porfirijs Arbeitszimmer.

Die äußere Erscheinung dieses Menschen war auf den ersten Blick sehr überraschend. Er schaute gerade vor sich hin, schien aber niemanden zu sehen. In seinen Augen blitzte eine wilde Entschlossenheit; aber dabei bedeckte Totenblässe sein Gesicht, als ob er zum Richtplatz geführt würde. Seine ganz blassen Lippen zuckten leise.

Er war noch sehr jung, gekleidet wie ein Mensch aus dem einfachen Volke, von mittlerem Wuchse und mager; sein Haar war rund geschnitten; die feinen Gesichtszüge hatten etwas Trockenes, Ausdrucksloses. Der Mann, der von ihm unerwarteterweise beiseitegestoßen worden war, ein Polizist, stürzte hinter ihm her ins Zimmer und ergriff ihn an der Schulter; aber Nikolai machte einen heftigen Ruck mit dem Arm und riß sich noch einmal von ihm los.

In der Tür drängten sich mehrere Neugierige, und einige von ihnen hatten die größte Lust hereinzukommen. Dieser ganze Vorgang hatte sich fast in einem Augenblicke abgespielt.

»Fort mit dir! Es ist noch zu früh! Warte, bis du gerufen wirst! … Warum die ihn nur so früh hergebracht haben?« murmelte Porfirij Petrowitsch höchst ärgerlich, als wenn ihm jemand sein Konzept verdorben hätte.

Plötzlich warf sich Nikolai auf die Knie nieder.

»Was willst du?« rief Porfirij verwundert.

»Ich habe es getan! Ich habe das Verbrechen begangen! Ich bin der Mörder!« sagte Nikolai; er atmete nur mühsam, sprach aber mit ziemlich lauter Stimme.

Etwa zehn Sekunden lang schwiegen alle wie versteinert; sogar der Polizist war zurückgewichen und rührte Nikolai nicht mehr an; er zog sich mechanisch zur Tür zurück und blieb dort stehen, ohne sich zu regen.

»Was soll das heißen?« rief Porfirij Petrowitsch, sobald er sich von der momentanen Erstarrung wieder freigemacht hatte.

»Ich … bin der Mörder«, sagte Nikolai noch einmal nach einer kurzen Pause.

»Wie? … Du? … Wie? … Wen hast du ermordet?«

Porfirij Petrowitsch war augenscheinlich fassungslos. Nikolai schwieg wieder ein kleines Weilchen.

»Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna habe ich … mit einem Beile … ermordet. Eine Verblendung war über mich gekommen …«, fügte er hinzu und verstummte wieder. Er lag noch immer auf den Knien.

Porfirij Petrowitsch stand einige Augenblicke in Gedanken versunken da; aber dann raffte er sich zusammen und gab mit der Hand den ungebetenen Zeugen einen Wink, daß sie sich entfernen möchten. Diese verschwanden sofort und machten die Tür wieder zu. Dann richtete er seinen Blick auf Raskolnikow, der in einer Ecke stand und verstört Nikolai ansah, ging ein paar Schritte auf ihn zu, blieb aber auf einmal wieder stehen, ließ seinen Blick zu Nikolai, dann wieder zu Raskolnikow, dann wieder zu Nikolai herüberwandern; endlich stürzte er, wie von einer Eingebung erfüllt, auf Nikolai los.

»Warum kommst du mir denn gleich von vornherein mit deiner Verblendung?« schrie er ihn grimmig an. »Ich habe dich ja noch gar nicht gefragt, ob eine Verblendung über dich gekommen ist oder nicht … Antworte: hast du den Mord begangen?«

»Ich bin der Mörder … Ich gestehe es«, erwiderte Nikolai.

»Ach was! Womit hast du den Mord begangen?«

»Mit einem Beile. Das hatte ich mir vorher beschafft.«

»Ach was! Nur nicht so eilig! Allein?«

Nikolai verstand die Frage nicht.

»Hast du den Mord allein begangen?«

»Ja, ganz allein. Mitjka ist unschuldig; er war gar nicht daran beteiligt.«

»Rede nicht vorschnell von Mitjka! … Na so was! … Wie bist du denn damals die Treppe hinuntergekommen? Die Hausknechte haben euch doch beide zusammen gesehen?«

»Ich bin damals absichtlich mit Mitjka zusammen hinuntergelaufen, … um den Verdacht von mir abzulenken« erwiderte Nikolai prompt, als hätte er sich vorher auf die Antwort vorbereitet.

»Na ja, es ist so!« rief Porfirij wütend. »Er sagt eine Lektion auf!« murmelte er wie für sich und sah auf einmal wieder Raskolnikow an.

Seine Gedanken waren offenbar so stark von Nikolai in Anspruch genommen gewesen, daß er für einen Augenblick an Raskolnikow gar nicht mehr gedacht hatte. Jetzt kam ihm das auf einmal zum Bewußtsein, und er wurde ordentlich verlegen.

»Entschuldigen Sie, Väterchen Rodion Romanowitsch«, wandte er sich zu ihm, »das geht wohl nicht so in Gegenwart eines Dritten; haben Sie die Güte … Sie haben ja hier nichts mehr zu tun … Ich bin selbst … Sie sehen, was man für Überraschungen erlebt! … Darf ich Sie bitten! …«

Er faßte ihn an der Hand und zeigte nach der Tür.

»Das scheinen Sie nicht erwartet zu haben«, sagte Raskolnikow, der die Sache natürlich noch nicht klar begriff, aber doch bereits erheblich an Mut gewonnen hatte.

»Auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Ei, wie Ihre Hand zittert! He-he!«

»Auch Sie zittern, Porfirij Petrowitsch.«

»Jawohl, jawohl; das hatte ich nicht erwartet.«

Sie standen schon in der Tür. Porfirij wartete ungeduldig darauf, daß Raskolnikow hinausginge.

»Und die Überraschung, von der Sie sprachen, die wollen Sie mir nun nicht zeigen?« fragte Raskolnikow spöttisch.

»So reden Sie nun, und dabei schlagen Ihnen doch noch die Zähne im Munde aufeinander, he-he! Was sind Sie für ein spottlustiger Mensch! Na, auf Wiedersehen!«

»Meiner Ansicht nach können wir einander einfach Adieu sagen!«

»Wie es Gott lenken wird, wie es Gott lenken wird!« murmelte Porfirij und verzog den Mund zu einem eigentümlichen Lächeln.

Beim Durchschreiten der Kanzlei bemerkte Raskolnikow, daß viele ihn aufmerksam betrachteten. Im Vorzimmer erkannte er unter der Menge die beiden Hausknechte aus »jenem« Hause, die er damals in der Nacht aufgefordert hatte, mit zum Polizeibureau zu kommen. Sie standen da und warteten auf etwas. Kaum war er jedoch auf die Treppe gelangt, als er hinter sich Porfirijs Stimme hörte. Er drehte sich um und sah, daß ihm dieser ganz außer Atem nachgelaufen kam.

»Nur noch ein Wort, Rodion Romanowitsch! Wie sich diese ganze Geschichte lösen wird, das wollen wir Gott anheimgeben; aber ich werde Sie über einige Punkte doch noch in der gesetzlichen Form befragen müssen … Also sehen wir uns noch, nicht wahr?«

Porfirij blieb lächelnd vor ihm stehen.

»Nicht wahr?« fügte er noch einmal hinzu.

Es machte den Eindruck, als wollte er noch weiterreden; aber es kam nichts mehr.

»Ich möchte Sie noch um Entschuldigung bitten, Porfirij Petrowitsch, wegen meines Verhaltens von vorhin, … ich bin etwas zu hitzig geworden«, begann Raskolnikow; er war schon wieder ganz dreist geworden und verspürte ein unwiderstehliches Verlangen, ein bißchen zu schauspielern.

»Oh, das tut ja nichts, tut ja gar nichts!« fiel Porfirij in freudigem Tone ein. »Ich bin ja auch meinerseits … Ich habe nun einmal so einen bissigen Charakter; ich gestehe es, ich gestehe es! Nun aber, wir sehen uns ja noch. So Gott will, sehen wir uns noch recht oft wieder! …«

»Und dann werden wir einander recht genau kennenlernen?« erwiderte Raskolnikow.

»Jawohl, recht genau werden wir einander dann kennenlernen«, stimmte ihm Porfirij Petrowitsch bei und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen sehr ernst an. »Sie gehen jetzt zur Feier eines Namenstages?«

»Nein, zu einer Beerdigung.«

»Ja, richtig, zu einer Beerdigung! Achten Sie nur auf Ihre Gesundheit; auf die müssen Sie recht sehr achten …«

»Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich Ihnen nun meinerseits wünschen soll!« antwortete Raskolnikow, der schon anfing, die Treppe hinabzusteigen, sich aber wieder zu Porfirij umwandte. »Ich möchte Ihnen guten Erfolg in Ihrer amtlichen Tätigkeit wünschen; aber Sie sehen ja selbst, wie komisch Ihr Amt ist.«

»Wieso komisch?« fragte Porfirij Petrowitsch, der sich gleichfalls bereits umgedreht hatte, um fortzugehen, nun aber sofort die Ohren spitzte.

»Aber gewiß! Da ist dieser arme Nikolai; den haben Sie wahrscheinlich in Ihrer psychologischen Manier gequält und gemartert, solange er noch nicht gestand! Tag und Nacht haben Sie ihm wahrscheinlich bewiesen: ›Du bist der Mörder, du bist der Mörder! …‹ Na, und nun, wo er es bereits gestanden hat, fangen Sie von neuem an, ihn durchzukneten: ›Du lügst‹, heißt es jetzt, ›du bist nicht der Mörder! Du kannst es nicht sein! Du sagst eine Lektion auf!‹ Nun, ist da Ihr Amt nicht komisch?«

»He-he-he! Das haben Sie also gehört, daß ich vorhin eben zu Nikolai sagte, er sage eine Lektion auf?«

»Natürlich habe ich es gehört!«

»He-he! Ein scharfsinniger Mann sind Sie, ein scharfsinniger Mann. Alles bemerken Sie! Ein überaus reger Verstand! Und Sie gewinnen einer Sache immer die komischste Seite ab … he-he! … Von den Schriftstellern besaß ja wohl Gogol diese Fähigkeit im höchsten Grade?«

»Gewiß.«

»Ja, ja, Gogol … Auf angenehmes Wiedersehen!«

»Auf angenehmes Wiedersehen!«

Raskolnikow ging geradeswegs nach Hause. Er war so wirr und benommen, daß er, als er nach Hause gekommen war, sich auf das Sofa warf und eine Viertelstunde still dasaß, lediglich damit beschäftigt, sich zu erholen und seine Gedanken einigermaßen zu sammeln. Über die Geschichte mit Nikolai ins klare zu kommen, das versuchte er gar nicht; er fühlte sich tief erschüttert; er fühlte, daß in Nikolais Geständnis etwas Unerklärliches, Wunderbares enthalten war, was er jetzt schlechterdings nicht begreifen könne. Aber Nikolais Geständnis war eine Tatsache. Die Folgen dieser Tatsache standen ihm sofort klar vor Augen: die Unwahrheit dieser Selbstbezichtigung konnte nicht verborgen bleiben, und dann hielt man sich wieder an ihn. Aber bis dahin wenigstens war er frei und mußte unbedingt etwas für sich tun; denn die Gefahr drohte ihm mit Sicherheit.

Aber wie groß war diese Gefahr? Die Lage begann sich zu klären. Während er sich in großen, allgemeinen Umrissen die ganze Szene ins Gedächtnis zurückrief, die er soeben mit Porfirij gehabt hatte, fuhr er unwillkürlich noch einmal vor Schreck zusammen. Allerdings, er kannte noch nicht alle Absichten Porfirijs, konnte noch nicht alle seine Berechnungen durchschauen. Aber ein Teil des Spieles war bereits aufgedeckt, und natürlich konnte niemand besser als er verstehen, wie schrecklich für ihn diese von Porfirij ausgespielte Karte war. Nur wenig hatte gefehlt, und er wäre imstande gewesen, sich vollständig und unzweideutig zu verraten. Porfirij, der die Krankhaftigkeit seines Charakters wahrgenommen und gleich beim ersten Blick richtig erfaßt und durchschaut hatte, hatte daraufhin ein zwar etwas zu keckes, aber doch fast sicheres Spiel gespielt. Es war nicht zu bestreiten, daß er, Raskolnikow, sich vorhin schon arg kompromittiert hatte; aber bis zu Tatsachen war es doch noch nicht gekommen; alles, was vorlag, war immer noch verschiedener Deutungen fähig. Aber faßte er auch alles Vorgefallene richtig auf? Irrte er sich auch nicht? Zu welchem Resultate hatte Porfirij heute eigentlich gelangen wollen? Hatte er wirklich heute etwas, was zu seiner Überführung dienen konnte, vorbereitet gehabt und im Hintergrunde gehalten? Und was konnte das gewesen sein? Hatte er wirklich auf etwas gewartet oder nicht? Wie hätte sich wohl heute ihr Auseinandergehen gestaltet, wenn die unerwartete Katastrophe mit Nikolai nicht eingetreten wäre?

Porfirij hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt; das war ja von ihm sehr riskant; aber er hatte es trotzdem getan, und Raskolnikow hatte die bestimmte Vorstellung: hätte Porfirij wirklich noch mehr Beweismaterial gehabt, so hätte er auch das noch enthüllt. Was hatte es nun mit dieser »Überraschung« für eine Bewandtnis? Hatte er ihn damit nur hinters Licht führen wollen? War etwas Ernsthaftes daran oder nicht? Konnte etwas, was einer Tatsache, einem positiven, belastenden Momente ähnlich sah, dahinterstecken? Der Mann von gestern vielleicht? Wo war der geblieben? Wo war er heute? Wenn Porfirij überhaupt positives Beweismaterial hatte, so stand das sicherlich in Beziehung zu dem Manne von gestern.

Er saß auf dem Sofa mit tief herabgesunkenem Kopfe, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht mit den Händen verdeckt. Ein nervöses Zittern lief ihm immer noch durch den ganzen Körper. Schließlich stand er auf, ergriff seine Mütze, stand einen Augenblick in Gedanken und ging zur Tür.

Er hatte die Vorstellung, daß er wenigstens für den heutigen Tag sich mit einiger Sicherheit für ungefährdet halten könne. Auf einmal empfand er in seinem Herzen beinahe ein Gefühl der Freude: er wollte so schnell wie möglich zu Katerina Iwanowna gehen. Zur Beerdigung kam er natürlich zu spät; aber an dem Gedächtnismahle konnte er noch teilnehmen, und dabei würde er in wenigen Minuten Sonja sehen.

Er blieb stehen und überlegte ein Weilchen; ein schmerzliches Lächeln spielte um seine Lippen.

›Heute noch, heute noch!‹ sagte er vor sich hin. ›Ja, heute noch; es muß sein!‹

In dem Augenblicke, wo er die Tür öffnen wollte, ging sie plötzlich von selbst auf. Zitternd sprang er zurück. Die Tür öffnete sich langsam und leise, und vor ihm stand die Gestalt des Mannes, der ihm gestern »wie aus der Erde gewachsen« erschienen war.

Der Mann blieb auf der Schwelle stehen, blickte Raskolnikow schweigend an und machte einen Schritt in das Zimmer hinein. Seine äußere Erscheinung war die gleiche wie gestern, dieselbe Gestalt, dieselbe Kleidung; aber in seinem Gesicht und in seinem Blick war eine starke Veränderung vorgegangen: er sah jetzt ganz niedergeschlagen aus, und nachdem er einen Augenblick so dagestanden hatte, seufzte er tief. Es fehlte nur, daß er dabei die Hand an die Backe gelegt und den Kopf zur Seite gebeugt hätte; dann hätte er vollständig wie ein altes Weib ausgesehen.

»Was wünschen Sie?« fragte Raskolnikow, der leichenblaß geworden war.

Der Mann schwieg noch eine kleine Weile und verneigte sich dann auf einmal tief vor ihm, fast bis zur Erde; wenigstens berührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand.

»Was wollen Sie?« rief Raskolnikow.

»Verzeihen Sie mir!« erwiderte der Mann leise.

»Was soll ich Ihnen verzeihen?«

»Meine bösen Gedanken.«

Beide blickten einander an.

»Ich hatte mich geärgert. Als Sie damals kamen, vielleicht wirklich in betrunkenem Zustande, und die Hausknechte aufforderten, mit nach dem Polizeibureau zu kommen, und nach dem Blute gefragt hatten, da ärgerte ich mich, daß man Sie so einfach für betrunken hielt und unbehelligt gehen ließ. Und ich ärgerte mich so, daß ich in der Nacht nicht schlafen konnte. Und da ich Ihre Adresse im Kopfe behalten hatte, so kam ich gestern hierher und erkundigte mich nach Ihnen … Ich habe Sie beleidigt.«

»Sie sind also aus jenem Hause?«

»Ja, ich wohne da. Ich stand damals mit den Hausknechten im Torweg; erinnern Sie sich vielleicht? Ich habe da auch meine Werkstatt, seit vielen Jahren. Ich bin Kürschner, Kleinbürger; ich arbeite im Hause. Und ich ärgerte mich so …«

Nun erinnerte sich Raskolnikow auf einmal deutlich an die ganze Szene von vorgestern im Torweg; er hatte noch im Gedächtnis, daß damals außer den Hausknechten dort noch ein paar Leute gestanden hatten, auch eine Frau. Er entsann sich einer Stimme, die den Vorschlag gemacht hatte, ihn ohne weiteres auf die Polizei zu bringen. Auf das Gesicht dessen, der das gesagt hatte, konnte er sich nicht besinnen und erkannte ihn auch jetzt in seinem Besucher nicht wieder; aber es war ihm erinnerlich, daß er ihm damals eine Antwort gegeben und sich auch nach ihm umgewandt hatte.

Also das war nun die Erklärung des ganzen schrecklichen Erlebnisses von gestern. Am furchtbarsten war es ihm, sich sagen zu müssen, daß er infolge eines so nichtigen Umstandes beinahe zugrunde gegangen wäre, sich beinahe zugrunde gerichtet hätte. Also hatte dieser Mensch von nichts erzählen können als von dem Wohnungmieten und dem Gespräche über das Blut. Folglich hatte auch Porfirij kein Beweismaterial außer diesem »Fieberwahn«, keine Tatsachen, nur »psychologische Beweise«, die »ihre zwei Seiten … hier fehlt eine ganze Zeile im Buch … Beweismaterial außer diesem »Fieberwahn«, keine Tatsachen ans Licht kamen (und solche durften nicht mehr ans Licht kommen, unter keinen Umständen!) – was konnte man ihm dann anhaben? Wodurch konnte man ihn dann überführen, selbst wenn man ihn festnahm? Und folglich hatte Porfirij erst jetzt, erst eben jetzt von dem Besuch in der Wohnung erfahren und vorher nichts davon gewußt.

»Da haben Sie also heute wohl Porfirij davon erzählt, … daß ich nach Ihrem Hause gekommen war?« rief er, von einem Gedanken, der ihm plötzlich gekommen war, überrascht.

»Was für einem Porfirij?«

»Dem Untersuchungskommissar.«

»Ja, dem habe ich es gesagt. Die Hausknechte wollten damals nicht hingehen, und da bin ich hingegangen.«

»Heute?«

»Ich war unmittelbar vor Ihnen da. Und ich habe alles gehört, wie er Sie gefoltert hat.«

»Wo? Was? Wann?«

»Nun dort, bei ihm hinter der Bretterwand; da habe ich die ganze Zeit über gesessen.«

»Wie? Also Sie waren die Überraschung? Aber ich bitte Sie, wie ist denn das zugegangen?«

»Als ich sah«, erwiderte der Kleinbürger, »daß die Hausknechte trotz meines Zuredens nicht hingehen wollten (sie sagten, nun wäre es schon zu spät, und er würde womöglich noch böse werden, weil sie nicht sogleich mit Ihnen hingekommen wären), da ärgerte ich mich und konnte nicht schlafen und wollte mich nach Ihnen erkundigen. Und nachdem ich mich gestern nach Ihnen erkundigt hatte, ging ich heute zu dem Untersuchungskommissar hin. Als ich zum ersten Male hinkam, war er nicht da; als ich eine Stunde später wieder hinkam, empfing er mich nicht; als ich zum dritten Male kam, wurde ich vorgelassen. Ich berichtete ihm alles, wie es sich zugetragen hatte, und da fing er an, im Zimmer hin und her zu rennen und sich mit der Faust gegen die Brust zu schlagen. ›Ihr nichtswürdige Bande‹, sagte er, ›warum habt ihr mir das nicht gleich gemeldet? Hätte ich das gewußt, so hätte ich ihn mir durch die Polizei herholen lassen!‹ Dann lief er hinaus, rief jemanden herein und redete mit ihm in einer Ecke; dann wendete er sich wieder zu mir, fragte mich allerlei und schimpfte. Er machte mir viele Vorwürfe, und ich hatte ihm doch alles berichtet und ihm auch gesagt, daß Sie gestern nicht gewagt hätten, mir auf meine Worte etwas zu antworten, und daß Sie mich nicht wiedererkannt hätten. Da fing er wieder an herumzulaufen und schlug sich immer gegen die Brust und war ärgerlich und lief umher; und als Sie angemeldet wurden, da sagte er zu mir: ›Na, geh mal hinter die Zwischenwand, sitze da einstweilen und rühre dich nicht, was du auch hören magst!‹ und er brachte mir selbst einen Stuhl dorthin und schloß mich ein. ›Vielleicht werde ich dich noch befragen‹, sagte er. Als aber Nikolai hereingekommen war, da ließ er mich, nachdem Sie weg waren, hinaus. ›Ich werde dich noch einmal vorladen und noch weiter befragen‹, sagte er.«

»Hat er Nikolai in Ihrer Gegenwart verhört?«

»Nachdem er Sie hinausbegleitet hatte, entließ er mich auch gleich und fing an, Nikolai zu verhören.«

Der Kleinbürger hielt inne, verbeugte sich nochmals und berührte dabei wieder mit dem Finger den Boden.

»Verzeihen Sie mir, daß ich Sie verleumdet und so schlecht von Ihnen gedacht habe.«

»Gott wird es Ihnen verzeihen«, antwortete Raskolnikow.

Sowie er dies gesagt hatte, verbeugte sich der Kleinbürger wieder vor ihm, aber nun nicht bis zur Erde, sondern nur bis zur Höhe des Gürtels, drehte sich langsam um und ging aus dem Zimmer.

›Jetzt hat alles seine zwei Seiten!‹ sagte sich Raskolnikow und verließ mutiger als je das Zimmer.

›Jetzt wollen wir noch unsere Kräfte miteinander messen‹, dachte er mit einem ingrimmigen Lächeln, während er die Treppe hinabstieg. Der Ingrimm richtete sich gegen ihn selbst; nur mit Geringschätzung und Beschämung erinnerte er sich jetzt seines »Kleinmutes«, wie er sich in Gedanken ausdrückte.

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Kapitel 27

I

Der Morgen, welcher auf die für Pjotr Petrowitsch so verhängnisvolle Aussprache mit Dunja und Pulcheria Alexandrowna folgte, übte auch auf Pjotr Petrowitsch seine ernüchternde Wirkung aus. Das Ereignis, das ihm noch gestern als etwas Phantastisches und, obgleich es sich zugetragen hatte, dennoch sozusagen als ein Ding der Unmöglichkeit erschienen war, dieses Ereignis mußte er zu seinem größten Mißvergnügen allmählich als eine vollendete und nicht mehr rückgängig zu machende Tatsache anerkennen. Die schwarze Schlange der verletzten Eigenliebe hatte die ganze Nacht über an seinem Herzen genagt. Sobald er sich vom Bette erhoben hatte, besah er sich sogleich im Spiegel. Er fürchtete, es könnte ihm die Galle ins Blut getreten sein. In dieser Hinsicht jedoch war vorläufig alles noch in guter Ordnung, und als er sein vornehmes, weißes und in letzter Zeit etwas voller gewordenes Gesicht betrachtete, fühlte er sich sogar für einen Augenblick getröstet, in der festen Überzeugung, daß er wohl auch noch anderwärts eine Braut für sich finden werde, vielleicht sogar eine noch bessere; aber sofort trat auch wieder der Gedanke an die ihm widerfahrene Kränkung in den Vordergrund, und er spuckte energisch seitwärts aus, wodurch er ein stillschweigendes, aber spöttisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Stubengenossen Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow hervorrief. Pjotr Petrowitsch bemerkte dieses Lächeln und notierte es sich in Gedanken, um es seinem jungen Freunde bei Gelegenheit heimzuzahlen. So hatte er ihm in der letzten Zeit schon gar manches zu diesem Zwecke aufs Kerbholz gesetzt. Sein Ärger wuchs noch mehr, als er auf einmal zu der Einsicht kam, daß es gestern töricht von ihm gewesen war, von dem Ausgange seines Gesprächs mit der Familie Raskolnikow diesem Andrej Semjonowitsch Mitteilung zu machen. Das war der zweite Fehler, der ihm gestern passiert war; er hatte ihn in der Erregung, in einem überflüssigen Drange, sich auszusprechen, und infolge seiner gereizten Stimmung begangen … Weiter folgte nun an diesem Vormittag, gerade als ob das Schicksal es darauf angelegt hätte, eine Unannehmlichkeit auf die andre. Sogar beim Senat hatte er einen Mißerfolg in der Angelegenheit, die er betrieb. In besondere Entrüstung aber geriet er über den Hauswirt, von dem er im Hinblick auf seine baldige Verheiratung eine Wohnung gemietet hatte, die er bereits auf eigene Kosten hatte instand setzen lassen. Dieser Wirt, ein reich gewordener deutscher Handwerker, ließ sich absolut nicht darauf ein, den eben erst abgeschlossenen Kontrakt einfach wieder aufzuheben, sondern forderte die volle im Kontrakt vorgesehene Abstandssumme, obwohl ihm doch Pjotr Petrowitsch die Wohnung in fast vollständig renoviertem Zustande zurückgab. Ebenso wollten die Leute in der Möbelhandlung auch nicht einen Rubel von der Anzahlung für die dort gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückgeben.

›Ich kann mich doch nicht extra um der Möbel willen verheiraten!‹ dachte Pjotr Petrowitsch zähneknirschend, und gleichzeitig zuckte in seinem Gehirn noch einmal ein Hoffnungsschimmer auf: ›Ist denn dort wirklich alles unwiederbringlich verloren und zu Ende? Ob ich es nicht doch noch einmal versuchen kann?‹ Der Gedanke an Dunja zog ihm noch einmal verlockend durch den Sinn. Es waren qualvolle Augenblicke, die er jetzt durchlebte, und hätte Pjotr Petrowitsch jetzt auf dem Fleck durch den bloßen Wunsch Raskolnikow ermorden können, so hätte er, ohne zu zögern, diesen Wunsch ausgesprochen.

›Ein Fehler war es auch von mir, daß ich ihnen gar kein Geld gegeben habe‹, dachte er, als er trüben Mutes in Lebesjatnikows Stube zurückkehrte. ›Hol´s der Kuckuck, warum bin ich eigentlich so ein Geizkragen geworden? Das war eine ganz falsche Sparsamkeit! Ich beabsichtigte, sie recht kurz zu halten und sie dahin zu bringen, daß sie mich als ihren Schutzgott ansähen, und nun kommen sie mir so! … Scheußlich! … Ja, wenn ich diese ganze Zeit her so anderthalbtausend Rubel auf sie verwandt hätte, zur Beschaffung der Aussteuer und in Form von Geschenken, von allerlei Schächtelchen, Necessaires, Bijouterien, Kleiderstoffen und anderm Firlefanz, dann wäre die Sache besser gewesen, … und ich hätte mehr Sicherheit gehabt! Dann hätten sie mir jetzt nicht so leicht aufgekündigt! Solche Leute halten es unbedingt für ihre Pflicht, bei der Lösung einer Verlobung die Geschenke und das Geld zurückzugeben; und die Rückerstattung hätte ihnen doch Schwierigkeiten gemacht, hätte ihnen auch bei den Geschenken wohl leid getan! Auch das Gewissen würde sie beunruhigt haben: »wir können doch nicht«, hätten sie sich gesagt, »einem Menschen so ohne weiteres den Laufpaß geben, nachdem er sich bisher so freigebig und zartfühlend gezeigt hat.« … Hm! Da habe ich einen Bock geschossen!‹

Wieder knirschte Pjotr Petrowitsch mit den Zähnen und nannte sich einen Dummkopf, natürlich nur ganz im stillen.

So befand er sich nicht gerade in rosigster Stimmung. Die Vorbereitungen zu dem Gedächtnismahle in Katerina Iwanownas Zimmer nahmen dann ein wenig sein Interesse in Anspruch. Er hatte schon gestern etwas von diesem Gedächtnismahle gehört; er hatte sogar eine undeutliche Erinnerung, als ob auch er dazu eingeladen worden wäre; aber bei seinen eigenen Sorgen und Geschäften hatte er für nichts andres Aufmerksamkeit übrig gehabt. Schnell erkundigte er sich jetzt bei Frau Lippewechsel, die in Katerina Iwanownas Abwesenheit (denn diese war auf dem Kirchhofe) damit beschäftigt war, den Tisch zurechtzumachen, und erfuhr von ihr, das Gedächtnismahl würde sehr großartig sein; fast alle Mitmieter, darunter auch solche, die mit dem Verstorbenen gar nicht bekannt gewesen wären, seien eingeladen; sogar Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow sei eingeladen, trotz des Streites, den er unlängst mit Katerina Iwanowna gehabt hätte; endlich sei auch er selbst, Pjotr Petrowitsch, nicht nur eingeladen, sondern er würde sogar als der vornehmste Gast unter allen Mietern mit besonderer Sehnsucht erwartet. Amalia Iwanowna selbst hatte gleichfalls eine höchst respektvolle Einladung erhalten, trotz aller vorhergegangenen unangenehmen Zwistigkeiten, und arrangierte daher jetzt mit großer Geschäftigkeit und nicht ohne Genuß alles für die Mahlzeit Erforderliche. Sie war bereits höchst geputzt, obwohl es natürlich ein Trauerkleid war; aber es war ganz neu und aus Seide, und sie war sehr stolz darauf. Alle diese Tatsachen und Mitteilungen brachten Pjotr Petrowitsch auf einen ganz besonderen Gedanken, und in seine Überlegungen vertieft, begab er sich in sein, das heißt in Herrn Lebesjatnikows Zimmer. Die Hauptsache war: er hatte unter anderm erfahren, daß zu den Eingeladenen auch Raskolnikow gehörte.

Andrej Semjonowitsch war aus irgendeinem Grunde an diesem Tage den ganzen Vormittag über zu Hause. Zwischen ihm und Pjotr Petrowitsch bestand ein eigentümliches Verhältnis, das jedoch zum Teil sehr erklärlich war. Pjotr Petrowitsch verachtete und haßte ihn über alle Maßen, fast gleich von dem Tage an, wo er sich bei ihm einlogiert hatte; gleichzeitig aber empfand er vor ihm eine gewisse Furcht. Er hatte nach seiner Ankunft in Petersburg nicht lediglich aus schäbiger Sparsamkeit bei ihm Quartier genommen, wiewohl dies allerdings der Hauptgrund war, sondern er hatte dazu noch einen andern Grund gehabt. Schon als er noch in der Provinz wohnte, hatte er über Andrej Semjonowitsch, seinen früheren Mündel, gehört, er sei einer der hervorragendsten jungen Reformer und spiele sogar in manchen interessanten, geheimnisvollen Klubs eine bedeutende Rolle. Das hatte ihm imponiert. Diese mächtigen, allwissenden Klubs, die niemanden fürchteten und jeden geheimen Übeltäter entlarvten, hatten ihm schon längst eine gewaltige, jedoch ganz vage Furcht eingeflößt. Er selbst hatte sich natürlich, noch dazu in der Provinz, von derartigen Vereinen keinen auch nur annähernd genauen Begriff machen können. Er hatte, wie alle Leute, gehört, es gebe namentlich in Petersburg sogenannte Reformer, Nihilisten, Entlarver usw.; aber gleich vielen andern Leuten hatte er mit diesen Bezeichnungen ganz übertriebene und ins Absurde entstellte Vorstellungen verbunden. Am allermeisten fürchtete er, und zwar schon seit einigen Jahren, die »Entlarvungen«, und dies war die hauptsächlichste Ursache seiner fortwährenden übermäßigen Unruhe gewesen, besonders wenn er an die Verlegung seiner Tätigkeit nach Petersburg gedacht hatte. In dieser Hinsicht war er, wie man sich auszudrücken pflegt, verängstigt, wie einem manchmal verängstigte kleine Kinder vorkommen. Einige Jahre vorher hatte er in der Provinz (er stand damals noch am Beginn seiner Laufbahn) zwei solche Fälle von grausamer Entlarvung mit angesehen; die beiden Betroffenen waren recht hochgestellte Beamte in der Verwaltung des Gouvernements, und er hatte sich in ihre Gefolgschaft begeben und sich ihrer Gönnerschaft erfreut. Der eine Fall endete für die entlarvte Persönlichkeit mit einem großen Skandal, und der zweite hätte beinahe ein ganz, ganz übles Ende genommen. Aus diesem Grunde hatte sich Pjotr Petrowitsch vorgenommen, sich gleich nach seiner Ankunft in Petersburg zu erkundigen, was es mit diesen Klubs für eine Bewandtnis habe, und, wenn es erforderlich schiene, der Gefahr vorzubeugen und sich bei »unsrer jungen Generation« einzuschmeicheln. Für diesen Fall hoffte er auf Lebesjatnikows Unterstützung, und er hatte, wie er das bei dem Besuche bei Raskolnikow bewies, bereits gelernt, ein paar entlehnte Phrasen klangvoll vorzubringen.

Allerdings hatte er Andrej Semjonowitsch recht bald als einen sehr gewöhnlichen, einfältigen Menschen durchschaut. Dadurch war aber sein Glaube an die Macht der Klubs in keiner Weise erschüttert und sein Mut nicht gehoben worden. Selbst wenn er sich überzeugt hätte, daß alle Reformer ebensolche Dummköpfe seien, auch dann hätte sich seine Unruhe nicht gelegt. Im Grunde interessierten all diese Lehren, Ideen und Systeme, mit denen Andrej Semjonowitsch ihn aufs freigebigste regalierte, ihn nicht im geringsten. Er hatte sein eigenes Ziel. Er wollte nur so schnell wie irgend möglich in Erfahrung bringen, was in diesen Klubs vorginge und wie dabei verfahren würde. Besaßen diese Leute Macht oder nicht? Hatte er für seine eigene Person etwas von ihnen zu befürchten oder nicht? Würden sie ihn »entlarven«, wenn er dies oder das unternähme, oder nicht? Und wenn sie sich mit Entlarvungen abgaben, auf welche Handlungsweisen hatten sie es dabei besonders abgesehen? Welche Handlungsweisen machten sie gerade jetzt zum Objekte ihrer entlarvenden Tätigkeit? Und dann: konnte man sich nicht auf irgendeine Weise mit ihnen freundlich stellen und sie dabei düpieren, wenn sie wirklich Macht besitzen sollten? War das erforderlich oder nicht? Konnte er nicht vielleicht gerade durch ihre Vermittlung in seiner Karriere etwas erreichen? Kurz, es drängten sich ihm Hunderte von Fragen auf.

Dieser Andrej Semjonowitsch war ein Mann von ungesunder Konstitution, skrofulös, von kleiner Statur; er bekleidete irgendeine Beamtenstelle; sein Haar war von auffallend hellblonder Farbe; er trug einen Backenbart in Kotelettform, auf den er sehr stolz war. Fast beständig litt er an den Augen. Er hatte ein sehr weiches Herz; aber sein Redeton klang sehr selbstbewußt und manchmal geradezu hochmütig, was sich bei seiner kleinen Figur meist recht lächerlich ausnahm. Amalia Iwanowna betrachtete ihn als einen hochanständigen Mieter; denn er trank nicht und bezahlte pünktlich seine Miete. Aber trotz mancher guten Eigenschaften war Andrej Semjonowitsch tatsächlich ein bißchen dumm. Er hatte sich mit leidenschaftlichem Eifer den Reformern und »unsrer jüngeren Generation« angeschlossen. Er gehörte zu der zahllosen, buntscheckigen Menge mittelmäßiger Menschen, kläglicher Frühgeburten und dünkelhafter Halbwisser, die sich eiligst zu Anhängern der modernsten, landläufigsten Idee machen und sie sofort verhunzen und alle Bestrebungen, denen sie (manchmal mit der besten Absicht) dienen, in eine Karikatur verwandeln.

Übrigens war Herrn Lebesjatnikow trotz all seiner Gutmütigkeit sein Stubengenosse und ehemaliger Vormund Pjotr Petrowitsch gleichfalls recht zuwider geworden. Das hatte sich von beiden Seiten ganz von selbst so ergeben. Wie einfältig er auch war, durchschaute Andrej Semjonowitsch doch allmählich, daß Pjotr Petrowitsch gegen ihn nicht aufrichtig war und ihn im stillen verachtete und daß überhaupt nichts Rechtes an ihm dran war. Er versuchte, ihm Fouriers System und die Darwinsche Theorie auseinanderzusetzen; aber Pjotr Petrowitsch hörte, namentlich in der letzten Zeit, mit gar zu spöttischer Miene zu und fing in der allerletzten Zeit sogar an, ihn auszuschelten. Pjotr Petrowitsch hatte nämlich instinktmäßig herausgefühlt, daß Lebesjatnikow nicht nur ein recht gewöhnlicher, ziemlich dummer Mensch, sondern wohl noch dazu ein arger Aufschneider war und überhaupt keine einflußreichen Beziehungen, nicht einmal in seinem Klub, besaß, sondern nur von weitem etwas läuten hören, ja, daß er nicht einmal sein eigentliches Geschäft, die Propaganda, ordentlich verstand, weil er gar zu wirr und unverständlich redete; wie konnte der ein »Entlarver« sein! Nebenbei sei noch bemerkt, daß Pjotr Petrowitsch in diesen anderthalb Wochen (namentlich am Anfange dieser Zeit) von Andrej Semjonowitsch ganz sonderbare Lobsprüche für Bestrebungen, die dieser bei ihm voraussetzte, entgegengenommen hatte; er hatte nämlich nicht widersprochen, sondern stillgeschwiegen, wenn Andrej Semjonowitsch ihm zum Beispiel die Absicht zugeschrieben hatte, die künftige, baldige Errichtung einer neuen »Kommune« nicht weit vom Kanal in der Meschtschanskaja-Straße zu fördern oder auch seiner Gattin Awdotja Romanowna nicht hinderlich zu sein, wenn diese gleich im ersten Monat der Ehe auf den Gedanken käme, sich einen Liebhaber anzuschaffen, oder auch seine künftigen Kinder nicht taufen zu lassen usw. Pjotr Petrowitsch widersprach grundsätzlich nicht, wenn ihm solche Absichten zugeschrieben wurden, und ließ es sich gefallen, dafür gelobt zu werden; so willkommen war ihm jedes Lob.

Pjotr Petrowitsch, der an diesem Morgen einige fünfprozentige Staatsschuldscheine verkauft hatte, saß am Tische und zählte die Banknotenpäckchen durch. Andrej Semjonowitsch, der fast nie Geld hatte, ging im Zimmer auf und ab und tat, als ob ihn der Anblick des vielen Geldes völlig kalt ließe und sogar mit Verachtung erfülle. Pjotr Petrowitsch glaubte ganz und gar nicht, daß der Anblick einer solchen Geldsumme Andrej Semjonowitsch wirklich kalt ließe; und Andrej Semjonowitsch seinerseits dachte bei sich voll Erbitterung, daß Pjotr Petrowitsch vielleicht tatsächlich eine niedrige, materielle Gesinnung bei ihm voraussetze und sich nun ein Vergnügen daraus mache, ihn, seinen jungen Freund, durch die nebeneinanderliegenden Banknotenpäckchen zu reizen und zu verhöhnen, indem er dadurch seine Unbedeutendheit und den großen zwischen ihnen vorhandenen Abstand demonstrieren wolle.

Er fand Pjotr Petrowitsch augenblicklich außerordentlich reizbar und unaufmerksam, obwohl er, Andrej Semjonowitsch, angesetzt hatte, ihm sein Lieblingsthema, die Gründung einer neuen, eigenartigen Kommune, zu erläutern. Die kurzen Entgegnungen und Bemerkungen, welche Pjotr Petrowitsch dazwischenwarf, wenn er einen Augenblick aufhörte, die Kügelchen am Rechenbrett klappern zu lassen, waren von einem ganz unverhohlenen und geflissentlich unhöflichen Spott durchtränkt. Aber Andrej Semjonowitsch, der einer humanen Auffassung zuneigte, führte diese Gemütsstimmung seines Stubengenossen auf das gestrige Zerwürfnis mit Dunja zurück und brannte vor Verlangen, schnell zu eingehenderer Behandlung seines Themas zu gelangen; er habe da, so bemerkte er, in Sachen der Reform und Propaganda seinem verehrten Freunde etwas mitzuteilen, was diesen interessieren und »zweifellos« in seiner weiteren Entwicklung fördern werde.

»Was ist denn das für ein Gedächtnismahl, zu dem da bei dieser … bei dieser Witwe Anstalten getroffen werden?« fragte Pjotr Petrowitsch auf einmal und unterbrach so seinen Freund bei der interessantesten Stelle der Auseinandersetzung.

»Das müssen Sie ja doch wissen! Ich habe doch erst gestern mit Ihnen darüber gesprochen und Ihnen meine Anschauungen über all solche religiösen Gebräuche entwickelt … Und die Frau hat Sie ja auch eingeladen; ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Sie haben ja selbst mit ihr gestern gesprochen …«

»Ich hätte nicht gedacht, daß diese bettelarme Närrin das ganze Geld, das sie von diesem andern Narren, diesem Raskolnikow, bekommen hat, für ein Gedächtnismahl vergeuden würde. Ich war ja ganz erstaunt, als ich vorhin durch das Zimmer hindurchging: großartige Vorbereitungen; mehrere Weine auf dem Tische! … Eine ganze Menge Menschen sind eingeladen; weiß der Kuckuck, was das heißen soll!« fuhr Pjotr Petrowitsch fort, der mit bestimmter Absicht bei diesem Gegenstande zu verweilen schien. »Wie? Sie sagen, ich wäre auch eingeladen?« fügte er hinzu und hob den Kopf. »Wann sollte denn das gewesen sein? Ich kann mich gar nicht erinnern. Übrigens werde ich nicht hingehen. Was soll ich da? Ich habe gestern nur so im Vorbeigehen mit ihr darüber gesprochen, daß sie als bedürftige Beamtenwitwe vielleicht eine einmalige Unterstützung in Höhe des Jahresgehaltes ihres Mannes bekommen könne. Sollte sie mich etwa deshalb gleich einladen? He-he-he!«

»Ich habe auch nicht vor, hinzugehen«, sagte Lebesjatnikow.

»Das wäre ja auch noch schöner! Wo Sie sie doch eigenhändig durchgeprügelt haben! Sehr begreiflich, daß es Ihnen peinlich ist, hinzugehen, he-he!«

»Wer hat wen durchgeprügelt?« fuhr Lebesjatnikow auf; er hatte einen ganz roten Kopf bekommen.

»Na, Sie haben doch Katerina Iwanowna vor einem Monat durchgeprügelt! Es wurde mir erzählt, noch gestern … Ja, ja, so ist’s mit den theoretischen Grundsätzen! Die Frauenfrage scheint also auch noch sehr im argen zu liegen. He-he-he!«

Anscheinend höchstlich amüsiert, begann Pjotr Petrowitsch wieder an dem Rechenbrett zu klappern.

»Das ist alles Unsinn und Verleumdung!« brauste Lebesjatnikow auf, dem jede Erwähnung dieses Vorfalls stets sehr unangenehm war. »So ist das gar nicht gewesen! Die Sache war ganz anders … Sie sind falsch unterrichtet; das ist lauter Klatscherei! Ich habe mich damals lediglich verteidigt. Sie ging zuerst mit den Nägeln auf mich los … Den ganzen Backenbart riß sie mir aus. Das ist denn doch jedem Menschen erlaubt, hoffe ich, seine Person zu verteidigen. Außerdem lasse ich mir von niemand Gewalttätigkeit gefallen … Grundsätzlich nicht. Denn das wäre ja eine Art Despotismus. Was hätte ich denn tun sollen? Etwa ruhig vor ihr stehenbleiben? Ich habe sie nur zurückgestoßen.«

»He-he-he!« lachte Lushin von neuem boshaft.

»Daß Sie gegen mich so sticheln, das tun Sie nur deshalb, weil Sie selbst Ärger gehabt haben und nun wütend sind … Aber die Geschichte mit Katerina Iwanowna ist doch eine törichte Lappalie und hat mit der Frauenfrage nicht das geringste zu tun. Sie fassen die Sache eben ganz falsch auf. Ich habe früher sogar folgendermaßen gedacht: wenn man die These akzeptiert, daß die Frau dem Manne in allen Stücken gleichsteht, sogar hinsichtlich der Körperkraft (was manche bereits behaupten), so muß auch, wo es sich um Schlägerei zwischen Männern und Frauen handelt, mit gleichem Maße gemessen werden. Natürlich aber habe ich mir nachher überlegt, daß eine solche Frage gar keine Existenzberechtigung hat, weil Schlägereien überhaupt keine Existenzberechtigung haben und das Vorkommen von Schlägereien in der künftigen Gesellschaft undenkbar ist … und weil es doch sonderbar wäre, auf eine Gleichberechtigung bei Schlägereien hinzustreben. So dumm bin ich nicht, … obwohl Schlägereien doch vorkommen, … das heißt, später werden keine mehr vorkommen, aber jetzt kommen noch welche vor, … Donnerwetter, wenn man mit Ihnen redet, wird man ja ganz konfus. Dieser frühere unangenehme Vorfall bildet also nicht den Grund für mein Fernbleiben von dem Gedächtnismahle. Sondern ich gehe einfach aus Prinzip nicht hin, um nicht an einem so törichten, auf sinnlosen Voraussetzungen beruhenden Brauche, wie es diese Gedächtnismahle sind, teilzunehmen; das ist der Grund! Übrigens könnte man ja auch bloß so aus Unsinn hingehen, um sich darüber lustig zu machen … Schade, daß keine Popen dabei sein werden. Sonst würde ich jedenfalls hingehen.«

»Also Sie möchten die gastliche Bewirtung annehmen und dann über diese Bewirtung und über die Leute, von denen Sie eingeladen sind, Ihren Hohn ausschütten. So meinen Sie es ja wohl?«

»Von Hohn ist nicht die Rede, sondern von einem Proteste gegen diesen Brauch. Ich habe dabei ein nützliches Ziel im Auge. Ich kann dadurch indirekt die Entwicklung der Menschheit und die Propaganda fördern. Jeder Mensch hat die Pflicht, die geistige Entwicklung seiner Mitmenschen zu fördern und Propaganda zu treiben, und je energischer er es tut, um so besser ist es. Ich kann eine Idee wie ein Samenkorn hinstreuen … Aus dieser gesäten Idee erwächst dann etwas Tatsächliches. Inwiefern kränke ich da die Leute? Und wenn sie sich auch zunächst gekränkt fühlen, so werden sie nachher doch einsehen, daß ich ihnen Nutzen gebracht habe. So wollten manche seinerzeit der Terebjewa (sie ist jetzt Mitglied einer Kommune) einen Vorwurf machen; als diese nämlich von ihrer Familie fortging und … sich einem Manne hingab, da schrieb sie ihrer Mutter und ihrem Vater, sie wolle nicht mehr in veralteten, sinnlosen Anschauungen weiterleben und gehe eine freie, zivile Ehe ein. Da meinten nun die Tadler, das sei doch gar zu grob den Eltern gegenüber, und sie hätte mit ihnen etwas rücksichtsvoller verfahren und in milderem Tone schreiben können. Meiner Ansicht nach ist das alles Unsinn; Milde ist dabei gar nicht angebracht, sondern vielmehr energischer Protest. Da sehen Sie einmal, wie es Frau Warenz machte! Sieben Jahre lang hatte sie mit ihrem Manne zusammen gelebt; da verließ sie ihn und ihre zwei Kinder und schrieb ihrem Manne in einem Briefe eine energische Absage: ›Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß ich mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde es Ihnen nie verzeihen, daß Sie mich betrogen haben, indem Sie mir verheimlicht haben, daß es dank den Kommunen noch eine andre Gesellschaftsordnung gibt. Ich habe das alles vor kurzem von einem hochgesinnten Manne erfahren, dem ich mich auch zu eigen gegeben habe, und mit ihm zusammen will ich eine Kommune gründen. Ich rede ganz offen, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu betrügen. Meinerseits haben Sie völlige Freiheit, zu tun, was Sie mögen; aber hoffen Sie nicht, mich zur Rückkehr zu bewegen; damit ist es für Sie zu spät. Leben Sie glücklich!‹ In diesem Stil müssen derartige Briefe geschrieben werden.«

»Diese Terebjewa ist doch dieselbe, von der Sie neulich erzählten, daß sie schon in der dritten freien Ehe lebe?«

»Streng genommen erst in der zweiten! Aber wenn sie selbst in der vierten oder in der fünfzehnten Ehe lebte! Das ist ja alles Nebensache! Und wenn ich es jemals bedauert habe, daß mein Vater und meine Mutter gestorben sind, so bedauere ich es jedenfalls jetzt ganz besonders. Ich habe mir das schon manchmal so im stillen ausgemalt, wie ich sie, wenn sie noch am Leben wären, mit meinem Proteste verblüffen wollte! Ich hätte absichtlich einen Anlaß gesucht. Ich würde ihnen die Sache schon klargemacht haben! Ich hätte sie in Erstaunen versetzt! Es ist wirklich jammerschade, daß ich niemand mehr habe!«

»Um ihn in Erstaunen zu versetzen? He-he! Na, darüber wollen wir nicht streiten«, unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch. »Sagen Sie mir lieber: Sie kennen ja die Tochter des Verstorbenen, so ein kümmerliches, dürftiges Ding; ist das alles richtig, was über sie erzählt wird, ja?«

»Nun, was ist denn dabei? Nach meiner Ansicht, das heißt nach meiner persönlichen Überzeugung, ist das für eine Frau der eigentlich normale Zustand. Warum auch nicht? Das heißt: distinguons! In der jetzigen Gesellschaftsordnung ist dieser Zustand selbstverständlich nicht normal, weil er durch eine Notlage herbeigeführt wird; aber in der künftigen Gesellschaftsordnung wird er völlig normal sein, weil er da ein freiwilliger ist. Und auch unter jetzigen Verhältnissen hatte dieses Mädchen ein Recht, so zu handeln, wie sie gehandelt hat: sie litt Not, und ihr Körper war ihr Fonds, sozusagen ihr Anlagekapital, über das sie vollständig berechtigt war zu verfügen. Natürlich, in der künftigen Gesellschaftsordnung werden keine Fonds nötig sein; sondern die Stellung der Frau wird anderweitig festgesetzt und in harmonischer, vernunftgemäßer Weise geregelt sein. Was Sofja Semjonowna persönlich anlangt, so betrachte ich unter den gegenwärtigen Umständen ihre Handlungsweise als einen energischen, zur Tat gewordenen Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung und empfinde vor ihr große Hochachtung deswegen; ich freue mich sogar jedesmal, wenn ich sie sehe!«

»Mir ist aber doch erzählt worden, gerade Sie hätten sie gezwungen, aus dieser Wohnung fortzuziehen!«

Lebesjatnikow wurde ganz wütend.

»Das ist wieder nur so eine Klatscherei!« schrie er. »Die Sache war ganz anders, ganz anders! Das hat alles Katerina Iwanowna damals nur so hingeschwatzt, weil sie für meine Bestrebungen kein Verständnis hatte! Ich bin ganz und gar nicht zudringlich gegen Sofja Semjonowna geworden; ich habe lediglich ihre geistige Entwicklung zu fördern gesucht, in ganz uneigennütziger Weise, und habe mich bemüht, in ihr den Protest zu erwecken. Ich zielte nur auf den Protest ab; übrigens konnte Sofja Semjonowna sowieso in dieser Wohnung nicht länger bleiben!«

»Haben Sie sie zum Eintritt in die Kommune aufgefordert?«

»Sie spotten fortwährend; gestatten Sie mir aber die Bemerkung, daß Ihr Spott bei mir durchaus seine Wirkung verfehlt. Sie verstehen eben nichts davon! Derartige Berufe für Frauen gibt es in der Kommune nicht. Eben deshalb werden die Kommunen gegründet, damit es solche Berufe nicht mehr gibt. In der Kommune wird dieser Beruf seinen gesamten jetzigen Charakter verändern, und was hier dumm ist, wird dort vernünftig sein; was hier unter den jetzigen Verhältnissen unnatürlich ist, das wird dort durchaus natürlich sein. Es hängt alles davon ab, in welcher Umgebung und in welchem Milieu ein Mensch lebt. Alles hängt von dem Milieu ab; an sich ist der Mensch nichts, weder gut noch schlecht. Mit Sofja Semjonowna stehe ich mich auch jetzt noch ganz freundschaftlich, was Ihnen als Beweis dafür dienen kann, daß sie mich nicht als ihren Feind und Beleidiger betrachtet hat. Ich suche sie jetzt für eine Kommune zu gewinnen, die aber nach ganz, ganz anderen Prinzipien eingerichtet werden soll! Was ist Ihnen denn daran lächerlich? Wir wollen eine eigene, besondere Kommune gründen, aber auf breiteren Grundlagen als die früheren. Wir sind in unsern Anschauungen weiter vorgeschritten. Wir negieren mehr! Wenn Dobroljubow aus dem Grabe auferstände, würde ich gern einmal mit ihm disputieren. Und nun gar Belinskij, na, den würde ich mir schön vornehmen! Vorläufig aber fahre ich fort, an Sofja Semjonownas geistiger Entwicklung zu arbeiten. Sie ist ein herrliches, herrliches Wesen!«

»Na, und Sie machen sich dieses herrliche Wesen auch zunutze, wie? He-he!«

»Nein, nein! O nein! Im Gegenteil!«

»Na, na, also sogar im Gegenteil! He-he-he! Sehr schön gesagt!«

»Sie können es mir glauben! Weshalb sollte ich denn vor Ihnen heimlichtun, sagen Sie selbst! Wirklich im Gegenteil; es kommt mir sogar selbst sonderbar vor: mir gegenüber ist sie von einer unnatürlichen, ängstlichen Schamhaftigkeit und Keuschheit!«

»Und Sie fördern selbstverständlich ihre geistige Entwicklung, he-he, und beweisen ihr, daß diese ganze Schamhaftigkeit Unsinn ist?«

»Durchaus nicht, durchaus nicht! Oh, in wie plumper, törichter Weise – verzeihen Sie den Ausdruck! – Sie das Wort Entwicklung auffassen! Sie haben aber auch gar kein, rein gar kein Verständnis! O Gott, wie sind Sie noch unreif! Wir erstreben für das Weib die Freiheit, und Sie denken immer nur an das eine … Ich will mich auf die Streitfrage über Keuschheit und weibliche Schamhaftigkeit nicht weiter einlassen (diese Dinge haben an und für sich keinen Wert und beruhen auf vorgefaßten Meinungen); aber ich habe gegen Sofja Semjonownas Keuschheit mir gegenüber absolut nichts einzuwenden; das ist Sache ihres freien Willens, sie ist da vollständig in ihrem Rechte. Natürlich, wenn sie selbst zu mir sagte: ›Ich will dich haben‹, so würde ich meinen, daß mir ein großes Glück zuteil geworden sei, weil das Mädchen mir wirklich sehr gefällt; aber sicherlich hat niemals jemand sie höflicher und korrekter und mit mehr Achtung vor ihrer weiblichen Würde behandelt, als ich es jetzt tue … Ich warte und hoffe nur; weiter gehe ich nicht!«

»Sie sollten ihr lieber etwas schenken. Ich möchte wetten, daß Sie daran noch nicht gedacht haben.«

»Sie haben aber auch gar kein Verständnis; das kann ich Ihnen nur wiederholen. Gewiß, ihre Lage ist ja derart, daß sie Geschenke gebrauchen könnte; aber hier handelt es sich um etwas andres, um etwas ganz andres. Sie verachten das Mädchen einfach. Weil Sie eine Tatsache sehen, die Sie irrtümlicherweise für verachtenswert halten, versagen Sie ohne weiteres einem menschlichen Wesen eine humane Würdigung. Sie wissen noch gar nicht, was für einen trefflichen Charakter sie hat! Sehr leid tut mir nur, daß sie in der letzten Zeit so gut wie ganz aufgehört hat zu lesen und sich von mir keine Bücher mehr geben läßt, was sie doch früher tat. Schade ist auch, daß sie bei all ihrer Energie und bei ihrer bereits einmal bewiesenen Entschlossenheit, gegen die bestehende Gesellschaftsordnung zu protestieren, doch immer noch nicht genug Selbständigkeit, sozusagen nicht genug Unabhängigkeit, nicht genug Drang zum Negieren besitzt, um sich von gewissen vorgefaßten Anschauungen und Dummheiten völlig loszureißen. Wiewohl sie für manche Fragen ein vorzügliches Verständnis bekundet. Ganz vorzüglich hat sie zum Beispiel die Frage des Handkusses begriffen, das heißt, daß der Mann eine Frau, wenn er ihr die Hand küßt, beleidigt, weil er sie dadurch als ihm nicht gleichstehend bezeichnet. Über diese Frage wurde bei uns debattiert, und ich habe ihr sofort davon Mitteilung gemacht. Auch als ich ihr etwas über die Arbeiterassoziationen in Frankreich vortrug, hörte sie aufmerksam zu. Jetzt behandle ich mit ihr die Frage des freien Eintritts in die Zimmer unter der künftigen Gesellschaftsordnung.«

»Was soll das heißen?«

»Es wurde in letzter Zeit über die Frage debattiert: ist ein Kommunemitglied berechtigt, jederzeit in das Zimmer eines andern – männlichen oder weiblichen – Kommunemitgliedes einzutreten? Und wir kamen zu der Entscheidung, daß jedes Mitglied dazu berechtigt sei.«

»Na, aber wenn nun da betreffende männliche oder weibliche Mitglied gerade in dem Augenblicke mit der Erledigung eines notwendigen Bedürfnisses beschäftigt ist? He-he!«

Andrej Semjonowitsch wurde ganz ärgerlich.

»Ja, das bringen Sie jedesmal vor! Immer kommen Sie mir mit ein und demselben, mit diesen verdammten ›Bedürfnissen‹!« rief er ingrimmig. »Ich ärgere mich und bereue es, daß ich damals, als ich Ihnen das System auseinandersetzte, verfrüht diese verdammten Bedürfnisse erwähnte! Das ist immer für Leute von Ihrem Schlage der Stein des Anstoßes, und das schlimmste ist: sie machen ihre Witze darüber, ehe sie den Kern der Sache begriffen haben! Und dann tun sie noch, als wenn sie recht hätten und stolz sein könnten! Ich habe schon wiederholt die Ansicht vertreten, daß man Neulingen diese Frage erst ganz zuletzt auseinandersetzen kann, wenn sie bereits von der Richtigkeit des Systems überzeugt sind und eine gewisse geistige Entwicklung erreicht haben und sich auf dem rechten Wege befinden. Ja, sagen Sie mir doch, bitte, was finden Sie denn zum Beispiel an einer Müllgrube Ekelhaftes oder Gemeines? Ich erkläre mich als erster bereit, alle Müllgruben, so viele Sie nur wollen, auszuräumen! Da ist auch nicht einmal irgendwelche Selbstaufopferung dabei! Das ist einfach eine Arbeit, eine anständige, der Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder andern an Wert gleichkommt und zum Beispiel weit höher steht als die Tätigkeit eines Raffael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.«

»Auch anständiger, auch anständiger, he-he-he!«

»Was heißt ›anständiger‹? Ich verstehe solche Ausdrücke nicht, wenn es sich, um die Definition menschlicher Tätigkeiten handelt. ›Anständiger‹, ›edler‹, das ist lauter Unsinn. Abgeschmacktheit, veraltete, törichte Wörter, die ich negiere! Alles, was der Menschheit nützlich ist, ist auch anständig. Ich lasse nur das eine Wort ›nützlich‹ gelten! Kichern Sie, so viel Sie wollen; es ist doch so!«

Pjotr Petrowitsch lachte laut. Er war mit seinen Berechnungen bereits fertig und hatte das Geld verwahrt; jedoch hatte er einen Teil noch auf dem Tische liegenlassen. Die Frage der Müllgruben hatte trotz ihrer Absurdität schon mehrmals Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten und Streit zwischen Pjotr Petrowitsch und seinem jungen Freunde gegeben. Sehr dumm war es von Andrej Semjonowitsch, daß er sich tatsächlich ärgerte. Daran hatte nun Lushin seine wahre Freude, und gerade jetzt legte er es besonders darauf an, Lebesjatnikow wütend zu machen.

»Die Sache ist die: Sie sind wegen Ihres gestrigen Malheurs erbost und suchen nun Händel«, brach Lebesjatnikow endlich los, der im allgemeinen trotz all seiner »Unabhängigkeit« und all seiner »Proteste« es nicht recht wagte, Pjotr Petrowitsch Opposition zu machen, und noch immer von früheren Jahren her ihm gegenüber einen gewohnheitsmäßigen Respekt beobachtete.

»Sagen Sie mir lieber«, unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch hochmütig und ärgerlich, »können Sie … oder, besser ausgedrückt, sind Sie wirklich mit der vorhin erwähnten jungen Person so gut bekannt, daß Sie sie bitten können, jetzt gleich auf einen Augenblick in dieses Zimmer zu kommen? Ich glaube, sie sind schon alle vom Kirchhofe zurück … Ich höre so viele gehen … Ich möchte gern einmal mit ihr sprechen, mit dieser Person.«

»Was wollen Sie denn von ihr?« fragte Lebesjatnikow verwundert.

»Weiter nichts Besonderes. Heute oder morgen ziehe ich von hier weg, und da möchte ich ihr noch etwas mitteilen. Übrigens können Sie ruhig während dieses Gesprächs hier im Zimmer bleiben. Es ist sogar besser. Sonst denken Sie sich womöglich noch Gott weiß was.«

»Ich denke mir einfach gar nichts. Es war von mir nur eine ganz harmlose Frage. Wenn Sie ihr etwas zu sagen haben, so ist nichts leichter, als sie herzurufen. Ich will sofort zu ihr gehen. Ich selbst werde Sie bei dem Gespräche nicht stören; davon wollen Sie überzeugt sein.«

Wirklich kehrte Lebesjatnikow nach fünf Minuten mit Sonja zurück. Diese trat äußerst erstaunt und, wie das in ihrer Gewohnheit lag, sehr schüchtern ein. Sie war bei solchen Gelegenheiten stets schüchtern und fürchtete sich in hohem Grade vor neuen Gesichtern und neuen Bekanntschaften; diese Furcht war ihr schon früher, schon in ihrer Kindheit, eigen gewesen, hatte aber jetzt noch zugenommen … Pjotr Petrowitsch empfing sie »freundlich und höflich« und mit einem Anfluge von jovialer Vertraulichkeit, die nach seiner Ansicht einem so achtungswerten, gesetzten Manne, wie er, wohl anstand gegenüber einem so jungen und in gewisser Hinsicht »interessanten« Wesen, wie sie. Vor allen Dingen bemühte er sich, sie zu »ermutigen«, und lud sie ein, an dem Tische ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sonja setzte sich, ließ ihre Blicke nach allen Seiten schweifen, zu Lebesjatnikow, zu dem Gelde, das auf dem Tische lag, dann wieder zu Pjotr Petrowitsch und wandte nun die Augen nicht mehr von ihm ab, als ob sie an ihn gefesselt wäre. Lebesjatnikow ging zur Tür; aber Pjotr Petrowitsch stand auf, bedeutete Sonja durch eine Geste, sitzenzubleiben, und hielt Lebesjatnikow zurück.

»Ist dieser Raskolnikow dort? Ist er gekommen?« fragte er ihn flüsternd.

»Raskolnikow? Ja, der ist da. Wieso? Ja, er ist da. Er ist eben erst gekommen; ich habe ihn gesehen. Wieso?«

»Nun, dann möchte ich Sie dringend bitten, hierzubleiben, hier bei uns, und mich nicht mit dieser … jungen Dame allein zu lassen. Was ich mit ihr zu reden habe, ist nur eine harmlose Kleinigkeit; aber sonst machen die Leute womöglich Gott weiß was daraus. Ich möchte nicht, daß Raskolnikow seinen Angehörigen etwas erzählen könnte … Verstehen Sie, was ich meine?«

»Gewiß, gewiß!« erwiderte Lebesjatnikow verständnisvoll. »Ja, Sie haben ganz recht. Allerdings gehen Sie, nach meiner persönlichen Überzeugung, in Ihren Befürchtungen zu weit; aber … Sie haben trotzdem recht. Also, wenn Sie es wünschen, so bleibe ich. Ich stelle mich dort ans Fenster und werde Sie nicht stören … Meiner Ansicht nach haben Sie recht …«

Pjotr Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, setzte sich Sonja gegenüber, richtete einen forschenden Blick auf sie und nahm auf einmal eine ganz besonders ehrbare, sogar etwas strenge Miene an, die ungefähr bedeutete: ›Machen Sie sich nur nicht etwa ganz falsche Gedanken, mein Fräulein!‹ Sonja wurde höchst verlegen.

»Zunächst möchte ich Sie bitten, Sofja Semjonowna, mich bei Ihrer hochverehrten Frau Mutter zu entschuldigen … Ich bin doch wohl recht unterrichtet? Katerina Iwanowna vertritt bei Ihnen Mutterstelle?« begann Pjotr Petrowitsch in sehr würdigem, aber dabei doch ganz freundlichem Tone.

Augenscheinlich hegte er die freundschaftlichsten Absichten.

»Ja gewiß, gewiß; sie vertritt bei mir Mutterstelle«, antwortete Sonja hastig und furchtsam.

»Nun also, dann entschuldigen Sie mich bei ihr, daß ich durch zwingende Umstände verhindert bin, an dem Gedächtnismahle teilzunehmen, zu welchem Ihre Frau Mutter mich so liebenswürdig eingeladen hat.«

»Jawohl, … ich werde es ausrichten, … ich werde es gleich ausrichten.« Sonja sprang eilig auf.

»Ich bin noch nicht am Ende«, hielt Pjotr Petrowitsch sie zurück und lächelte über ihre Naivität und über ihre Unkenntnis der Umgangsformen. »Sie kennen mich schlecht, liebste Sofja Semjonowna, wenn Sie glauben, daß ich aus diesem unbedeutenden, nur mich betreffenden Grunde jemand wie Sie persönlich bemüht und hergebeten hätte. Mein Zweck war ein anderer.«

Sonja nahm rasch wieder Platz. Wieder fiel ihr Blick einen Augenblick auf die grauen und regenbogenfarbigen Banknoten, die noch auf dem Tische lagen; aber schnell wandte sie das Gesicht von ihnen weg und sah wieder Pjotr Petrowitsch an; es kam ihr auf einmal der Gedanke, daß es sich, namentlich für ein Mädchen wie sie, ganz und gar nicht schicke, fremdes Geld anzublicken. Sie richtete ihren Blick zunächst auf die goldne Lorgnette, die Pjotr Petrowitsch in der linken Hand hielt, und zugleich auf den großen, massiv goldenen, sehr schönen Ring mit gelbem Stein, den er am Mittelfinger dieser Hand trug; aber hastig wendete sie ihre Augen auch davon ab, und da sie nicht wußte, wo sie mit ihren Blicken bleiben sollte, schaute sie schließlich ihrem Gegenüber wieder gerade ins Gesicht. Nach einer kurzen Pause fuhr Pjotr Petrowitsch in noch würdevollerem Tone als vorher fort:

»Es traf sich gestern zufällig, daß ich im Vorbeigehen mit der unglücklichen Katerina Iwanowna ein paar Worte wechselte. Diese wenigen Worte genügten, um mich erkennen zu lassen, daß sie sich in einem, wenn man sich so ausdrücken kann, unnatürlichen Geisteszustande befindet …«

»Jawohl, in einem unnatürlichen Geisteszustande«, stimmte ihm Sonja eilig zu.

»Oder, um es einfacher und verständlicher auszudrücken, in einem krankhaften Geisteszustande.«

»Jawohl, einfacher und verständ… Jawohl, sie ist krank.«

»Ganz richtig. Nun also, aus Menschenfreundlichkeit und … und … und sozusagen aus Teilnahme möchte ich mich gern meinerseits irgendwie behilflich zeigen, im Hinblick auf das traurige Schicksal, das ihr unvermeidlich bevorsteht. Ich möchte glauben, daß diese ganze arme Familie sich jetzt einzig und allein auf Ihre Unterstützung angewiesen sieht.«

»Gestatten Sie die Frage«, sagte Sonja und stand dabei plötzlich auf, »was haben Sie ihr gestern über die Möglichkeit, eine Pension zu bekommen, gesagt? Sie hat gestern zu mir gesagt, Sie hätten es auf sich genommen, ihr eine Pension zu erwirken. Ist das richtig?«

»Durchaus nicht; das ist sogar in gewisser Hinsicht sinnlos«, erwiderte Pjotr Petrowitsch und bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. »Ich habe nur darauf hingedeutet, daß die Witwe eines im Dienst gestorbenen Beamten eine zeitweilige Unterstützung erhalten könne, wenn sie irgendwelche Protektion habe; es scheint jedoch, daß ihr verstorbener Vater nicht das erforderliche Dienstalter hatte, ja sogar in der letzten Zeit sich überhaupt nicht im Dienste befand. Kurz, es mag wohl einige Aussicht da sein, aber jedenfalls ist sie äußerst problematisch; denn ein Recht auf Unterstützung ist im vorliegenden Falle ganz und gar nicht vorhanden; im Gegenteil … Und da hat sie gleich auf eine Pension spekuliert? He-he-he! Die Dame muß ja eine rege Phantasie haben!«

»Ja, sie hat sich Hoffnung auf eine Pension gemacht. Sie ist nämlich leichtgläubig und gutherzig, und aus Gutherzigkeit glaubt sie alles, und … und … und ihr Verstand ist so … Ja, dann entschuldigen Sie«, sagte Sonja und stand wieder auf, um fortzugehen.

»Erlauben Sie, Sie haben noch nicht alles gehört, was ich sagen wollte.«

»Ja, ich habe noch nicht alles gehört«, murmelte Sonja.

»Also nehmen Sie doch Platz!«

Sonja wurde entsetzlich verlegen und setzte sich von neuem hin.

»Da ich sehe, in welcher Lage sie sich mit den unglücklichen kleinen Kindern befindet, so möchte ich, wie bereits gesagt, mich nach dem Maße meiner Kräfte irgendwie behilflich zeigen, das heißt, eben nur, was man so nennt, nach dem Maße meiner Kräfte, nicht in weiterem Umfange. Man könnte zum Beispiel zu ihren Gunsten eine Kollekte veranstalten oder sozusagen eine Lotterie … oder so etwas Ähnliches, wie dergleichen immer in solchen Fällen von Nahestehenden oder auch von Fernerstehenden, überhaupt von Hilfsbereiten unternommen wird. Das ist es, worüber ich gern mit Ihnen reden wollte. So etwas wäre möglich.«

»Ach ja, das wäre schön … Gott wird Sie dafür …«, stammelte Sonja und blickte Pjotr Petrowitsch unverwandt an.

»Das wäre möglich; aber … darüber können wir später einmal … das heißt, wir könnten auch gleich heute schon anfangen. Wir wollen heute abend noch einmal zusammenkommen, uns besprechen und sozusagen den Grund legen. Kommen Sie also so gegen sieben Uhr wieder zu mir hierher. Ich hoffe, Andrej Semjonowitsch wird gleichfalls an unsrer Beratung teilnehmen … Aber … da ist ein Punkt, der schon vorher genau erwogen werden muß; und eben deshalb habe ich Sie auch hierher bemüht, Sofja Semjonowna. Nämlich meine Ansicht ist die: der unglücklichen Katerina Iwanowna selbst kann man kein Geld in die Hände geben; das ist sogar geradezu gefährlich; als Beweis dafür dient gleich das heutige Gedächtnismahl. Es ist für morgen sozusagen keine trockene Brotrinde da, kein Schuhzeug, nichts; aber trotzdem kauft sie heute Jamaikarum ein und Madeira und … und … und Kaffee. Ich habe es gesehen, als ich durch das Zimmer ging. Morgen aber fällt wieder die ganze Last des Unterhaltes der Familie auf Ihre Schultern, und ohne Sie hätten sie keinen Bissen Brot. Ein solches Verfahren ist ja geradezu sinnlos. Daher muß auch eine etwaige Kollekte nach meiner persönlichen Ansicht in der Weise veranstaltet werden, daß von dem Gelde die unglückliche Witwe gar nichts erfährt, sondern etwa nur Sie. Habe ich nicht recht?«

»Ich weiß nicht. Es ist ja nur heute, daß sie so ist, … nur einmal im Leben; … es lag ihr so viel daran, ein Gedächtnismahl zu veranstalten, dem Toten eine Ehre zu erweisen, sein Andenken zu feiern; … sie ist sonst sehr vernünftig. Aber machen Sie es ganz, wie es Ihnen gut scheint, und ich werde Ihnen sehr, sehr, … sie alle werden Ihnen … und Gott wird Sie… und die vaterlosen Kinderchen …«

Sonja konnte nicht zu Ende sprechen; sie brach in Tränen aus.

»Nun ja. Also dann überlegen Sie sich das; jetzt aber wollen Sie für Ihre Mutter zunächst von mir persönlich eine meinen Kräften entsprechende Summe entgegennehmen. Ich spreche die dringende Bitte aus, daß mein Name dabei nicht erwähnt werden möge. Hier, bitte … Da ich sozusagen selbst meine Sorgen habe, bin ich nicht imstande, eine größere Summe …«

Und Pjotr Petrowitsch reichte Sonja einen Zehnrubelschein hin, den er sorgsam auseinandergefaltet hatte. Sonja nahm ihn, wurde rot, murmelte etwas und verabschiedete sich hastig. Pjotr Petrowitsch begleitete sie würdevoll bis an die Tür. Endlich schlüpfte sie ganz aufgeregt und erschöpft aus dem Zimmer und kehrte in größter Verwirrung zu Katerina Iwanowna zurück.

Während dieses ganzen Vorganges hatte Andrej Semjonowitsch bald am Fenster gestanden, bald war er im Zimmer auf und ab gegangen, ohne sich in das Gespräch einzumischen; als Sonja hinausgegangen war, trat er auf Pjotr Petrowitsch zu und reichte ihm feierlich die Hand.

»Ich habe alles gehört und alles gesehen«, sagte er, wobei er auf das letzte Wort einen besonderen Nachdruck legte. »Das war edel und vornehm von Ihnen gehandelt, das heißt, ich wollte sagen, human! Sie wollten die Danksagungen vermeiden; ich habe es wohl gesehen! Und wiewohl ich, offen gestanden, grundsätzlich kein Freund der privaten Wohltätigkeit bin, weil sie, statt das Übel auszurotten, es sogar noch steigert, so muß ich trotzdem bekennen, daß ich Ihre Handlungsweise mit Vergnügen mit angesehen habe; ja, wirklich, das hat mir sehr gefallen.«

»Ach, dummes Zeug!« murmelte Pjotr Petrowitsch etwas aufgeregt und blickte den andern forschend an.

»Nein, das ist kein dummes Zeug! Ein Mann, der wie Sie durch den gestrigen Vorfall gekränkt und aufgebracht ist und doch gleichzeitig imstande ist, an das Unglück andrer zu denken, ein solcher Mann – mag er auch durch sein Tun in sozialer Hinsicht einen Fehler begehen – verdient dennoch Hochachtung! Ich hatte das von Ihnen, Pjotr Petrowitsch, gar nicht erwartet, um so weniger, da nach Ihren Anschauungen … Ach, wie sehr hindern diese Ihre Anschauungen Sie noch an richtiger Lebensgestaltung! Wie arg regen Sie sich zum Beispiel über dieses gestrige Malheur auf«, rief der gutmütige Andrej Semjonowitsch, der wieder eine verstärkte Zuneigung zu Pjotr Petrowitsch empfand. »Aber wozu haben Sie eigentlich diese Ehe, diese gesetzliche Ehe, so unbedingt nötig, liebster, bester Pjotr Petrowitsch? Wozu haben Sie so unbedingt diese Gesetzlichkeit der Ehe nötig? Na, wenn Sie Lust haben, können Sie mich ja dafür prügeln; aber ich muß doch sagen: ich freue mich, freue mich geradezu, daß aus dieser Ehe nichts geworden ist, daß Sie frei sind, daß Sie noch nicht ganz für die Sache der Menschheit verloren sind; ich freue mich … Sehen Sie, nun habe ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet!«

»Wozu ich die gesetzliche Ehe nötig habe? Weil ich keine Lust habe, mir in Ihrer freien Ehe Hörner aufsetzen zu lassen und fremde Kinder aufzuziehen. Darum brauche ich die gesetzliche Ehe«, erwiderte Lushin, um überhaupt eine Antwort zu geben; es ging ihm offenbar etwas anderes sehr im Kopfe herum und beschäftigte seine Gedanken.

»Kinder? Sie sprachen von Kindern?« fuhr Andrej Semjonowitsch auf, wie ein Schlachtroß, das die Kriegstrompete hört. »Die Kinder, ja, das ist eine soziale Frage von höchster Wichtigkeit; ganz meine Ansicht; aber die Kinderfrage wird sich in andrer Weise erledigen. Manche gehen so weit, die Kinder vollständig zu negieren, wie überhaupt alles, was irgendwie mit Familie zu tun hat. Wir können ja über die Kinder später einmal reden; beschäftigen wir uns jetzt lieber zunächst mit den Hörnern! Ich muß gestehen, einen anzuschaffen. ›Liebe Frau‹, würde ich sagen, ›ich liebe dich; aber ich wünsche auch, daß du mich hochachtest; hier … nimm ihn!‹ Habe ich nicht recht? Habe ich nicht recht?«

Pjotr Petrowitsch kicherte über diese Darlegungen, aber ohne lebhaftere Teilnahme. Er hatte kaum zugehört. In Wirklichkeit hatte er ganz andre Gedanken im Kopfe, was selbst Lebesjatnikow schließlich bemerkte. Pjotr Petrowitsch war in Aufregung, rieb sich die Hände und überlegte. Erst später erinnerte sich Andrej Semjonowitsch an alles dies und verstand den Zusammenhang.

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Kapitel 28

II

Es würde schwer sein, genau die Ursachen anzugeben, die in Katerina Iwanownas verwirrtem Kopfe den Plan zu diesem sinnlosen Gedächtnismahle hatten entstehen lassen. In der Tat waren darauf fast zehn Rubel von den mehr als zwanzig verwendet worden, die sie von Raskolnikow, eigentlich zu Marmeladows Beerdigung, erhalten hatte. Vielleicht hielt es Katerina Iwanowna für ihre Pflicht dem Verstorbenen gegenüber, sein Andenken »in angemessener Form« zu ehren, damit alle Mitbewohner und ganz besonders Amalia Iwanowna zu der Erkenntnis kämen, daß er »nicht nur nicht geringer als sie, sondern sogar vielleicht etwas weit Besseres« gewesen sei und daß niemand von ihnen ein Recht habe, über ihn die Nase zu rümpfen. Möglicherweise hatte am allermeisten dazu jener besondere Stolz armer Leute beigetragen, welcher bei gewissen herkömmlichen Feierlichkeiten, die nach unsrer ganzen Lebensordnung nun einmal für alle und jeden obligatorisch sind, gar manchen armen Tropf veranlaßt, mit Aufbietung der letzten Kräfte großzutun und die letzten gesparten Groschen dranzuwenden, um nur »nicht schlechter als andre« zu sein und um nur nicht von jenen andren »ins Gerede gebracht« zu werden. Auch wünschte Katerina Iwanowna wahrscheinlich gerade bei diesem Anlasse und gerade in diesem Augenblicke, wo sie anscheinend von aller Welt verlassen war, allen diesen »niedrigstehenden, abscheulichen Mitbewohnern« zu zeigen, daß sie sich nicht nur auf gute Lebensart verstehe und Gäste zu bewirten wisse, sondern ihrer Herkunft nach überhaupt nicht für ein solches Los bestimmt sei, daß sie vielmehr »in dem vornehmen, man könnte sogar sagen: aristokratischen Hause eines Beamten im Range eines Obersten« ihre Jugend verlebt habe und ganz und gar nicht dazu erzogen sei, selbst den Fußboden zu fegen und in der Nacht zerlumptes Kinderzeug zu waschen. Von solchen Anfällen eines törichten Stolzes und einer sinnlosen Prunksucht werden manchmal gerade ganz arme, tiefgebeugte Leute heimgesucht, und es wird dadurch mitunter bei ihnen ein geradezu krankhaftes, unwiderstehliches Verlangen erregt. Übrigens gehörte Katerina Iwanowna gar nicht zu diesen Tiefgebeugten: die äußeren Umstände konnten ihr wohl den Tod bringen, nicht aber sie seelisch beugen, das heißt sie einschüchtern und zur Unterordnung unter einen fremden Willen zwingen. Außerdem sagte Sonja von ihr nicht ohne Grund, daß ihr Geist gestört sei. Ein bestimmtes, abschließendes Urteil war ja zwar darüber noch nicht möglich; aber immerhin hatte in letzter Zeit, im ganzen letzten Jahre, ihr armes Hirn zu viel Qualen auszustehen gehabt, als daß es nicht dadurch einigen Schaden hätte erleiden müssen. Auch trägt, wie die Ärzte sagen, eine stark vorgeschrittene Schwindsucht zur Störung der geistigen Fähigkeiten bei.

Mehrere Weine, verschiedene Sorten Wein waren nicht vorhanden, auch kein Madeira; das war von Lushin eine Übertreibung gewesen; aber Wein war da. Auf dem Tische stand Branntwein, Rum und Lissabonner Wein, alles von schlechtester Qualität, aber in ausreichender Menge. An Speisen waren außer Kutja drei oder vier Gerichte vor*handen, besonders streng und ersuchte sie dann sehr von oben herab, am Tische Platz zu nehmen. Da sie aber, Gott weiß warum, meinte, an dem Ausbleiben der Nichterschienenen trage Amalia Iwanowna die Schuld, so fing sie auf einmal an, diese äußerst geringschätzig zu behandeln; die letztere bemerkte das sofort und fühlte sich darüber im höchsten Grade pikiert. Ein solcher Anfang ließ kein gutes Ende erwarten. Endlich saß alles am Tische.

Raskolnikow war fast in demselben Augenblicke eingetreten, als sie vom Kirchhofe zurückkehrten. Katerina Iwanowna hatte sich über seine Ankunft ganz außerordentlich gefreut, erstens weil er der einzige »Gebildete« unter allen Gästen war und »bekanntlich in zwei Jahren an der hiesigen Universität eine Professorenstelle erhalten werde«, und zweitens weil er sich sofort in respektvoller Weise bei ihr entschuldigte, daß er trotz seines aufrichtigen Wunsches nicht habe an der Beerdigung teilnehmen können. Sie hatte ihn ordentlich mit Beschlag belegt, ihm am Tische den Platz zu ihrer Linken angewiesen (rechts von ihr saß Amalia Iwanowna), und trotz der steten Unruhe und Sorge, daß die Gerichte nur auch ja richtig herumgingen und alle Gäste hinreichend damit versehen würden, trotz des quälenden Hustens, der sie alle Augenblicke unterbrach und sie zu ersticken drohte und gerade in den letzten zwei Tagen besonders zugenommen zu haben schien, wandte sie sich nun fortwährend an Raskolnikow und schüttete alles, was sich an unangenehmen Empfindungen bei ihr angesammelt hatte, und all ihre gerechte Entrüstung über dieses mißglückte Gedächtnismahl vor ihm aus, wobei die Entrüstung oft von einem sehr heiteren, sehr ungenierten Lachen über die versammelten Gäste, namentlich aber über die Wirtin selbst, abgelöst wurde.

»An allem ist diese Eule schuld. Sie verstehen wohl, wen ich meine: die da, die da!« Dabei wies Katerina Iwanowna durch eine Kopfbewegung nach der Wirtin hin. »Sehen Sie sie nur mal an: sie reißt die Augen auf; sie merkt, daß wir von ihr reden, kann aber nicht verstehen und sperrt nun die Augen weit auf. Pfui, so eine Eule, ha-ha-ha! … Kche-kche-kche! Und was bezweckt sie denn eigentlich mit ihrer Haube? Kche-kche-kche! Haben Sie wohl bemerkt, sie möchte gern alle glauben machen, daß sie hier die hohe Gönnerin sei und mir durch ihre Anwesenheit eine Ehre erweise. Ich hatte sie, in der Meinung, es mit einer anständigen Dame zu tun zu haben, gebeten, mir zu dieser Feier Leute besseren Standes und namentlich die Bekannten des Verstorbenen einzuladen; und nun sehen Sie nur, wen sie mir hergebracht hat: wahre Hansnarren! Mistfinken! Sehen Sie nur den da mit dem unreinen Teint; so ein Rotzkerl! Und diese Polacken … ha-ha-ha! Kche-kche-kche! Kein Mensch hat sie je vorher hier zu sehen bekommen; auch ich habe sie noch nie gesehen; nun frage ich Sie: warum sind die hergekommen? Sie sitzen so hübsch brav in einer Reihe nebeneinander! Pan, Sie da!« rief sie auf einmal einem von ihnen zu. »Haben Sie sich auch Pfannkuchen genommen? Langen Sie doch noch zu! Trinken Sie Bier! Mögen Sie keinen Schnaps? Sehen Sie: er ist aufgesprungen und verbeugt sich; sehen Sie nur, sehen Sie nur; die armen Kerle sind gewiß ganz ausgehungert. Na immerzu, mögen sie essen! Wenigstens machen sie keinen Lärm; aber … aber … allerdings … ich bin in Sorge um die silbernen Löffel der Wirtin! … Amalia Iwanowna«, wandte sie sich auf einmal ziemlich laut an diese, »wenn Ihnen etwa Ihre Löffel gestohlen werden sollten, so übernehme ich keine Haftung, das sage ich Ihnen im voraus. – Ha-ha-ha!« lachte sie, sich wieder an Raskolnikow wendend, auf, machte ihm wieder mit dem Kopfe ein Zeichen nach der Wirtin hin und freute sich über ihre witzige Bemerkung. »Sie hat nicht verstanden, sie hat wieder nicht verstanden! Sie sitzt mit aufgesperrtem Munde da; sehen Sie nur: eine Eule, eine richtige Eule, ein Uhu mit neuen Haubenbändern, ha-ha-ha!«

Hier ging das Lachen wieder in einen unerträglichen Husten über, der fünf Minuten lang anhielt. Auf dem Taschentuche zeigten sich Blutflecke, Schweißtropfen erschienen auf ihrer Stirn, die roten Flecke auf den Wangen traten schärfer hervor. Schweigend wies sie Raskolnikow das Blut; aber kaum hatte sie sich wieder erholt, so begann sie von neuem, ihm mit außerordentlicher Lebhaftigkeit zuzuflüstern:

»Sehen Sie, ich hatte ihr den, man kann wohl sagen, sehr delikaten Auftrag gegeben, diese Dame und ihre Tochter einzuladen; Sie wissen doch, von wem ich spreche? Dabei war ein sehr taktvolles Benehmen, eine besondere Geschicklichkeit erforderlich; aber sie hat es so töricht angegriffen, daß dieses eben von auswärts angekommene dumme Frauenzimmer, diese hochmütige Kreatur, diese unbedeutende Provinzialin, nur weil sie eine Majorswitwe ist – sie ist nämlich hergekommen, um sich eine Pension auszuwirken und die Behörden mit ihren Besuchen zu belästigen; bei ihren fünfundfünfzig Jahren färbt sie sich noch die Augenbrauen und schminkt sich, das ist Tatsache, … und eine solche Kreatur hat nicht die Gewogenheit gehabt, zu erscheinen; ja, sie hat sich nicht einmal wegen ihres Ausbleibens entschuldigen lassen, wie das doch in solchen Fällen die gewöhnlichste Höflichkeit erfordert! Ich kann nicht begreifen, warum auch Pjotr Petrowitsch nicht gekommen ist. Aber wo ist Sonja? Wo mag sie hingegangen sein? Ah, da ist sie ja, endlich! Nun, Sonja, wo bist du denn gewesen? Wunderlich, daß du sogar bei der Beerdigungsfeier für deinen Vater so unpünktlich bist. Rodion Romanowitsch, gestatten Sie, daß sie neben Ihnen Platz nimmt. Da ist dein Platz, Sonja, … lang zu, nimm, was du magst. Nimm von dem Fisch in Gelee; der ist recht gut. Du sollst auch gleich Pfannkuchen haben. Haben die Kinder auch etwas bekommen? Polenjka, habt ihr auch alles? Kche-kche-kche! Nun, schön! Sei recht artig, Lida, und du, Kolja, schlenkere nicht mit den Beinen; sitze, wie es sich für ein anständiges Kind schickt. Was sagst du, Sonja?«

Sonja richtete ihr schnell Pjotr Petrowitschs Entschuldigung aus, wobei sie sich Mühe gab, recht laut zu sprechen, damit es alle hören könnten, und recht gewählte, respektvolle Ausdrücke zu gebrauchen, die sie sich von Pjotr Petrowitsch gemerkt hatte und noch weiter ausschmückte. Sie fügte hinzu, Pjotr Petrowitsch habe ihr besonders aufgetragen, zu bestellen, daß er, sobald es ihm irgend möglich sei, schleunigst herkommen werde, zum Zwecke ungestörter Besprechung geschäftlicher Angelegenheiten und zum Zwecke von Verabredungen darüber, was sich nun weiter tun und unternehmen lasse usw. usw.

Sonja wußte, daß dies dazu beitragen werde, Katerina Iwanowna zu beruhigen und friedlicher zu stimmen, da es ihr schmeichelte und namentlich ihren Stolz befriedigte. Sie setzte sich neben Raskolnikow, den sie kurz begrüßte und mit einem forschenden Blick eine Sekunde lang betrachtete. Die ganze übrige Zeit vermied sie es aber, ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen. Sie schien zerstreut, wiewohl sie fortwährend die Augen auf Katerina Iwanownas Gesicht gerichtet hielt, um ihr Dienste zu erweisen. Weder sie noch Katerina Iwanowna waren in Trauerkleidung, da sie keine derartigen Sachen besaßen; Sonja trug ein ziemlich dunkles braunes Kleid und Katerina Iwanowna das einzige, das sie hatte, ein dunkles, gestreiftes Kattunkleid. Die Nachricht über Pjotr Petrowitsch machte sich vorzüglich. Nachdem Katerina Iwanowna sehr würdevoll Sonjas Bericht angehört hatte, erkundigte sie sich ebenso würdevoll nach Pjotr Petrowitschs Befinden. Darauf flüsterte sie sofort sehr vernehmlich dem neben ihr sitzenden Raskolnikow zu, daß es einem so angesehenen, wohlsituierten Manne wie Pjotr Petrowitsch allerdings habe peinlich sein müssen, sich in eine so eigenartige Gesellschaft zu begeben, trotz seiner treuen Anhänglichkeit an ihre Familie und seiner alten Freundschaft für ihren Papa.

»Eben deswegen bin ich Ihnen besonders dankbar, Rodion Romanowitsch, daß Sie es nicht verschmäht haben, an meinem Tische einen Bissen zu genießen, trotz dieser Umgebung«, fügte sie ziemlich laut hinzu. »Ich bin aber überzeugt, daß nur die innige Freundschaft, die Sie mit meinem armen verstorbenen Gatten verband, Sie bewogen hat, Ihr Wort zu halten.«

Sie ließ noch einmal einen würdevollen, stolzen Blick um ihre Tafelrunde herumwandern und erkundigte sich plötzlich mit besonderer Sorglichkeit laut über den Tisch hinüber bei dem tauben alten Manne, ob er nicht noch ein Stückchen Braten möge und ob er auch Lissabonner bekommen habe. Der Alte antwortete nicht und konnte lange Zeit nicht begreifen, wonach er eigentlich gefragt wurde, obwohl seine Nachbarn ihn des Spaßes wegen anstießen, er möchte doch antworten. Er blickte nur mit offenem Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch steigerte.

»Nein, so ein Tölpel! Sehen Sie nur, sehen Sie nur! Wozu man mir den bloß hergebracht hat! Was aber Pjotr Petrowitsch anlangt, so war ich stets von seiner freundlichen Gesinnung überzeugt«, fuhr Katerina Iwanowna, zu Raskolnikow gewendet, fort. »Der steht natürlich auf einer ganz andern Stufe«, hier wandte sie sich mit lauter Stimme, in scharfem Tone und mit sehr strenger Miene an Amalia Iwanowna, die darüber ganz ängstlich wurde, »auf einer ganz andern Stufe als Ihre beiden neuen Mieterinnen, diese aufgedonnerten Weibsbilder mit ihren langen Schleppen! Solche Frauenzimmer hätten in dem Hause meines Papas nicht einmal als Köchinnen dienen dürfen, und mein verstorbener Gatte hätte ihnen eine Ehre damit erwiesen, wenn er ihren Besuch entgegengenommen hätte, was eben nur ein Ausfluß seiner unerschöpflichen Herzensgüte gewesen wäre.«

»Trinken, das tat er gern; das liebte er sehr; ganz gehörig hat er getrunken!« rief auf einmal der verabschiedete Proviantbeamte und goß sein zwölftes Glas Schnaps hinunter.

»Das war allerdings eine Schwäche meines verstorbenen Gatten, und sie war allgemein bekannt«, antwortete Katerina Iwanowna sofort auf diese Bemerkung, »aber er war ein guter, edler Mensch, der seine Familie liebte und schätzte; das Unglück war nur, daß er in seiner Gutherzigkeit allerlei verkommenen Subjekten zuviel Vertrauen schenkte und Gott weiß mit wem zusammen trank, mit Leuten zusammen, die nicht wert waren, ihm die Schuhriemen zu lösen. Denken Sie sich, Rodion Romanowitsch, wir haben in seiner Tasche einen Hahn von Pfefferkuchen gefunden. Trotz seiner Betrunkenheit hatte er doch noch an die Kinder gedacht.«

»Einen Hahn? Sagten Sie nicht: einen Hahn?« rief der Proviantbeamte.

Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie war nachdenklich geworden und seufzte.

»Sie meinen gewiß auch wie alle, daß ich zu streng gegen ihn gewesen sei«, fuhr sie, zu Raskolnikow gewendet, fort. »Aber das ist nicht richtig! Er hat mich hochgeschätzt; außerordentlich hoch hat er mich geschätzt! Er war eine gute Seele! Und wie leid hat er mir manchmal getan! Er saß oft so in einer Ecke da und schaute mich an; so leid tat er mir; ich wäre am liebsten freundlich zu ihm gewesen; aber ich sagte mir: ›Wenn du jetzt freundlich zu ihm bist, betrinkt er sich wieder.‹ Nur durch Strenge war es möglich, ihn einigermaßen davon zurückzuhalten.«

»Ja, ja, manchmal wurde er auch an den Haaren gerissen; das war nichts Seltenes!« schrie der Proviantbeamte wieder und goß noch ein Glas hinunter.

»Manchen Dummköpfen wäre es heilsam, wenn sie nicht nur an den Haaren gerissen, sondern sogar mit dem Besenstiel geprügelt würden. Ich meine damit nicht den Verstorbenen!« erwiderte Katerina Iwanowna scharf.

Die roten Flecke auf ihren Wangen zeichneten sich immer greller ab; ihre Brust atmete schwer. Sie war offenbar nahe daran, eine Skandalszene zu beginnen. Viele kicherten; denen hätte so etwas augenscheinlich das größte Vergnügen gemacht. Sie fingen an, den Proviantbeamten anzustoßen und ihm etwas zuzuflüstern. Zweifellos wollten sie die beiden aneinanderhetzen.

»Gestatten Sie mir die Frage: was haben Sie damit gemeint?« begann der Proviantbeamte. »Das heißt, auf wen … sollte das gehen, … was Sie soeben bemerkten? … Na, übrigens, ich will doch lieber nicht … Dummes Zeug! Eine Witwe! So ein armes Tierchen! Ich verzeihe es ihr … Ich geb’s auf!« Und er griff wieder zum Schnaps.

Raskolnikow saß da und hörte schweigend und voll Widerwillen zu. Die guten Bissen, die ihm Katerina Iwanowna alle Augenblicke auf den Teller legte, rührte er nur aus Höflichkeit an, nur um sie nicht zu kränken. Er blickte unverwandt Sonja an. Sonja aber wurde immer unruhiger und ängstlicher; sie ahnte, daß dieses Gedächtnismahl kein friedliches Ende nehmen werde, und beobachtete voll Furcht, wie die Gereiztheit ihrer Stiefmutter immer schlimmer wurde. Sonja wußte unter anderm, daß sie, Sonja, selbst die Hauptursache war, weswegen die beiden kürzlich angekommenen Damen Katerina Iwanownas Einladung in so verächtlicher Weise abgelehnt hatten. Sie hatte von Amalia Iwanowna selbst gehört, daß die Mutter sich durch die Einladung geradezu beleidigt gefühlt und gefragt habe, wie man ihr denn zumuten könne, ihre Tochter neben »dieses Mädchen« zu setzen. Sonja vermutete, daß Katerina Iwanowna dies bereits auf irgendwelchem Wege erfahren habe, und wußte, daß eine beleidigende Äußerung über sie, Sonja, auf Katerina Iwanowna heftiger wirkte als eine über sie selbst oder über ihre Kinder oder über ihren vornehmen Papa, mit einem Worte: ihr als tödliche Beleidigung galt. So sah denn Sonja voraus, daß Katerina Iwanowna jetzt keine Ruhe haben werde, »ehe sie nicht diesen hoffärtigen Frauenzimmern würde bewiesen haben, daß sie alle beide usw. usw.« Unglücklicherweise schickte in diesem Augenblicke jemand vom andern Ende des Tisches her an Sonja einen Teller, auf welchem zwei aus Schwarzbrot geknetete Herzen, von einem Pfeil durchbohrt, lagen. Katerina Iwanowna geriet sofort in Wut und bemerkte laut über den Tisch hinüber, der Übersender müsse wohl ein betrunkener Esel sein. Amalia Iwanowna, die gleichfalls ahnte, daß Unheil im Anzuge sei, und sich gleichzeitig durch Katerina Iwanownas Hochmut in tiefster Seele gekränkt fühlte, beabsichtigte dem Gespräche eine andre Richtung zu geben und so die unangenehme Stimmung der Gesellschaft zu bessern. Deshalb, und auch um bei dieser Gelegenheit ihre eigene Person in der allgemeinen Achtung steigen zu lassen, begann sie auf einmal ohne äußere Veranlassung zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr, »Karl aus der Apotheke«, eines Nachts in einer Droschke gefahren sei; der Kutscher habe ihn ermorden wollen, und Karl habe ihn »serr, serr« gebeten, ihn doch nicht zu ermorden, und habe geweint und die Hände gefaltet, und »erschreckt« und vor Furcht »sei ihm das Herz gebeben«. Katerina Iwanowna bemerkte dazu, wenn auch lächelnd, Amalia Iwanowna täte besser, keine Geschichten auf Russisch zu erzählen. Diese fühlte sich noch mehr gekränkt und erwiderte, ihr Vater, ein geborener Berliner, sei eine sehr hochgestellte Persönlichkeit gewesen und habe immer »beim Gehen seine Hände in Taschen gesteckt«. Die spottlustige Katerina Iwanowna konnte sich nicht mehr halten und brach in ein lautes Gelächter aus, so daß Amalia Iwanowna den letzten Rest von Geduld verlor und sich kaum noch beherrschen konnte.

»Nein, diese Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna wieder Raskolnikow zu; sie war ordentlich lustig geworden. »Sie wollte sagen, er habe immer die Hände in den Taschen gehabt; es klang aber so, als habe er fremde Taschen ausgeräumt, kche-kche! Haben Sie wohl auch schon bemerkt, Rodion Romanowitsch, daß alle diese Ausländer in Petersburg, und ganz besonders die Deutschen, die hier bei uns zusammenströmen, ohne Ausnahme dümmer sind als wir? Nun, sagen Sie selbst, kann ein vernünftiger Mensch so erzählen, daß ›diesem Karl aus der Apotheke das Herz gebeben sei‹ und daß er (so eine Rotznase!), statt dem Droschkenkutscher die Hände zu binden, die Hände gefaltet und geweint und sehr gebeten habe? Ach, dieses dumme Frauenzimmer! Sie bildet sich ein, was sie da erzählt, sei furchtbar rührend, und ahnt gar nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist der betrunkene Proviantbeamte da weit klüger als diese Person. Bei ihm sieht man wenigstens ohne weiteres, daß er ein Liedrian ist und den letzten Rest seines Verstandes durch Trinken ruiniert hat; aber diese Deutschen haben alle so etwas Affektiertes, Ernsthaftes … Sehen Sie nur, wie sie dasitzt und die Augen aufreißt. Sie ärgert sich! Sie ärgert sich! Ha-ha-ha! Kche-kche-kche!«

Katerina Iwanowna, die nun sehr vergnügt geworden war, kam auf alles mögliche zu reden und begann unter anderm zu erzählen, wie sie mit Hilfe der erwirkten Witwenpension in ihrer Heimatstadt T… ganz bestimmt ein vornehmes Mädchenpensionat eröffnen werde. Hiervon hatte Raskolnikow aus Katerina Iwanownas eigenem Munde bisher noch nichts erfahren, und so erging sie sich denn alsbald in der Ausmalung der verlockendsten Einzelheiten. Auf einmal befand sich in ihren Händen (man wußte gar nicht, woher es so plötzlich gekommen war) eben jenes Belobigungszeugnis, das noch der verstorbene Marmeladow in der Schenke Raskolnikow gegenüber erwähnt hatte, als er ihm erzählte, daß seine Gattin Katerina Iwanowna bei der Entlassungsfeier aus dem Institut »in Gegenwart des Gouverneurs und andrer hoher Persönlichkeiten« den Schleiertanz getanzt habe. Dieses Belobigungszeugnis wollte Katerina Iwanowna augenblicklich offenbar dazu benutzen, ihre Berechtigung zur Gründung eines Pensionates nachzuweisen; hauptsächlich aber hatte sie es in der Absicht bereitgehalten, »den beiden aufgedonnerten Weibsbildern mit den langen Schleppen« gehörig das Maul zu stopfen, wenn sie zum Gedächtnismahle kämen, und Iwanowna stand vom Stuhle auf und bemerkte ihr in strengem Tone mit anscheinend ruhiger Stimme, wiewohl sie ganz blaß war und ihre Brust sich heftig hob und senkte: wenn sie sich noch ein einziges Mal erdreiste, ihren Lumpenkerl von Vater mit ihrem Papa auf eine Stufe zu stellen, so würde sie, Katerina Iwanowna, ihr die Haube abreißen und mit Füßen treten. Als Amalia Iwanowna das hörte, fing sie an im Zimmer hin und her zu rennen und schrie aus vollem Halse, sie sei die Wirtin und Katerina Iwanowna solle augenblicklich aus der Wohnung ausziehen. Dann stürzte sie zum Tische und raffte die silbernen Löffel zusammen. Ein gräßlicher Lärm und Skandal entstand; die Kinder fingen an zu weinen. Sonja bemühte sich, Katerina Iwanowna zurückzuhalten, aber als in Amalia Iwanownas Gekreische auch etwas von dem gelben Scheine vorkam, stieß Katerina Iwanowna Sonja von sich und stürzte auf Amalia Iwanowna los, um ihre Drohung betreffs der Haube unverzüglich zur Ausführung zu bringen. In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle des Zimmers erschien Pjotr Petrowitsch Lushin. Er stand einen Moment still und musterte mit scharfem, prüfendem Blicke die ganze Gesellschaft. Katerina Iwanowna stürzte zu ihm hin.

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Kapitel 29

III

»Pjotr Petrowitsch!« schrie sie. »Schützen Sie mich! Machen Sie dieser dummen Kreatur klar, daß sie sich nicht unterstehen darf, sich gegen eine vornehme Dame, die ins Unglück geraten ist, so zu benehmen; sagen Sie ihr, daß es ein Gericht gibt … An den Generalgouverneur selbst werde ich mich wenden … Sie wird sich zu verantworten haben … Gedenken Sie der Gastfreundschaft, die Sie bei meinem Vater genossen haben, und schützen Sie uns in unserer Verlassenheit!«

»Erlauben Sie, Madame … Erlauben Sie, erlauben Sie, Madame«, wehrte Pjotr Petrowitsch sie von sich ab. »Ihren Herrn Vater habe ich, wie Sie wissen, gar nicht die Ehre gehabt zu kennen … Erlauben Sie, Madame!« (Hier lachte jemand laut auf.) »Und mich in Ihre ewigen Zänkereien mit Amalia Iwanowna einzumengen liegt durchaus nicht in meiner Absicht … Mich führt eine eigne Angelegenheit her, und ich möchte sofort mit Ihrer Stieftochter Sofja … Iwanowna sprechen, so ist ja wohl der Name. Erlauben Sie mir, näherzutreten.«

Nach diesen Worten ging Pjotr Petrowitsch seitwärts um Katerina Iwanowna herum und begab sich in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Sonja befand.

Katerina Iwanowna blieb, wie vom Donner gerührt, starr auf demselben Fleck stehen. Es war ihr unbegreiflich, wie Pjotr Petrowitsch in Abrede stellen konnte, bei ihrem Papa Gastfreundschaft genossen zu haben. Nachdem sie sich die Geschichte von dieser Gastfreundschaft einmal ausgedacht hatte, glaubte sie selbst steif und fest daran. Und Pjotr Petrowitschs geschäftsmäßiger, trockner Ton, in dem sogar etwas Verächtliches, Drohendes lag, versetzte sie in Bestürzung. Auch die anderen Anwesenden waren bei seinem Erscheinen alle allmählich still geworden. Ganz abgesehen davon, daß dieser »ernste Geschäftsmann« einen schneidenden Kontrast gegen die ganze übrige Gesellschaft bildete, war auch klar, daß er aus irgendeinem wichtigen Anlasse gekommen war, daß nur eine außerordentliche Ursache ihn in diese Gesellschaft hatte führen können und daß somit gleich etwas passieren mußte. Raskolnikow, der neben Sonja stand, trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen; Pjotr Petrowitsch bemerkte ihn anscheinend gar nicht. Einen Augenblick darauf erschien auch Lebesjatnikow auf der Schwelle; ins Zimmer hinein kam er nicht, sondern blieb, lebhaft interessiert, beinahe verwundert, dort stehen; er hörte zu, schien aber lange Zeit aus dem, was da vorging, nicht klug zu werden.

»Entschuldigen Sie, wenn ich vielleicht störe; aber es ist eine ziemlich wichtige Angelegenheit«, bemerkte Pjotr Petrowitsch für alle Anwesenden, ohne sich an jemand im besonderen zu wenden. »Es ist mir sogar recht erwünscht, eine größere Zuhörerschaft zu haben. Amalia Iwanowna, ich bitte Sie in Ihrer Eigenschaft als Wirtin der Wohnung ganz ergebenst, dem Gespräche, das ich jetzt mit Sofja Iwanowna führen werde, Ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sofja Iwanowna«, fuhr er fort, indem er sich nunmehr direkt an die höchst erstaunte und schon im voraus erschrockene Sonja wandte, »von meinem Tische im Zimmer meines Freundes Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow ist, wie sich unmittelbar nach Ihrem Besuche herausgestellt hat, eine mir gehörige Banknote im Werte von hundert Rubel verschwunden. Wenn Sie auf irgendwelche Weise wissen und uns zeigen, wo sie sich jetzt befindet, so versichere ich Ihnen mit meinem Ehrenworte und nehme alle Anwesenden dafür als Zeugen, daß die Sache damit abgetan sein wird. Im entgegengesetzten Falle werde ich mich genötigt sehen, zu sehr ernsten Maßregeln zu greifen, und dann … würden Sie sich den Schaden selbst zuzuschreiben haben.«

Im Zimmer herrschte absolutes Schweigen. Sogar die weinenden Kinder waren still geworden. Sonja stand leichenblaß da, blickte Lushin an und war unfähig, etwas zu antworten. Sie schien ihn noch gar nicht verstanden zu haben. So vergingen einige Sekunden.

»Nun also, wie ist’s?« fragte Lushin und blickte sie fest an.

»Ich weiß nicht … ich weiß von nichts …«, erwiderte Sonja endlich mit schwacher Stimme.

»Nicht? Sie wissen es nicht?« fragte Lushin noch einmal und schwieg wieder ein paar Sekunden. »Besinnen Sie sich, Mademoiselle«, fuhr er dann in strengem Tone fort, aber immer noch so, als ob er ihr ins Gewissen redete, »denken Sie nach; ich bin gern bereit, Ihnen noch etwas Zeit zur Überlegung zu lassen. Bitte, erwägen Sie dies: wenn ich Interesse Ihrer armen Stiefmutter zu einer Besprechung ein; ich überreiche Ihnen eine meinen Verhältnissen entsprechende Gabe von zehn Rubel, und Sie danken mir gleich auf demselben Fleck, gleich in demselben Augenblick für all dies durch eine derartige Handlungsweise! Nein, das ist denn doch gar zu häßlich! Dafür müssen Sie eine Lektion erhalten. Nun überlegen Sie; ja, als Ihr aufrichtiger Freund (denn einen bessern Freund können Sie in diesem Augenblicke nicht haben) bitte ich Sie: kommen Sie zur Besinnung! Sonst werde ich unerbittlich sein! Nun, wie ist’s?«

»Ich habe Ihnen nichts weggenommen«, flüsterte Sonja in höchstem Entsetzen. »Sie haben mir zehn Rubel gegeben; hier, bitte, nehmen Sie sie zurück.«

Sie zog ihr Taschentuch aus der Tasche, suchte den Knoten, knüpfte ihn auf, nahm den Zehnrubelschein heraus und hielt ihn Lushin hin.

»Und wegen der übrigen hundert Rubel wollen Sie kein Geständnis ablegen?« sagte er im Tone des Vorwurfs und der eindringlichen Mahnung, ohne die Banknote zu nehmen.

Sonja blickte um sich. Alle schauten mit so furchtbaren, strengen, spöttischen, feindseligen Gesichtern nach ihr hin. Sie richtete ihre Augen auf Raskolnikow, … dieser stand an der Wand, die Arme über der Brust verschränkt, und sah sie mit flammendem Blicke an.

»O Gott!« stöhnte sie unwillkürlich auf.

»Amalia Iwanowna, es wird erforderlich sein, die Polizei zu benachrichtigen, und deshalb bitte ich Sie ergebenst, zunächst den Hausknecht rufen zu lassen«, sagte Lushin leise und sogar in freundlichem Tone.

»Gott der Barmherzige! Das habe ich mir doch gedacht, daß sie stiehlt!« rief Amalia Iwanowna und schlug die Hände zusammen.

»So? Das haben Sie sich gedacht?« fragte Lushin schnell. »Also hatten Sie auch früher schon irgendwelche Gründe zu solcher Annahme. Ich bitte Sie, verehrteste Amalia Iwanowna, sich Ihrer Worte zu erinnern, die Sie ja übrigens auch in Gegenwart von Zeugen gesprochen haben.«

Auf allen Seiten erhob sich nun plötzlich lautes Reden. Alle kamen in lebhafte Bewegung.

»Wie? Wie?« schrie auf einmal Katerina Iwanowna, die von ihrer ersten Bestürzung wieder zu sich gekommen war, und stürzte wie ein Hund, der sich von der Kette losgerissen hat, auf Lushin zu. »Wie? Sie beschuldigen sie des Diebstahls? Meine Sonja? Oh, Sie Schurke, Sie Schurke!«

Sie eilte zu Sonja hin und umschlang sie fest, ganz fest mit ihren abgemagerten Armen.

»Sonja, wie hast du die zehn Rubel von ihm annehmen können! Oh, du Einfältige! Gib sie her! Gib gleich diese zehn Rubel her! Da! Nehmen Sie!«

Katerina Iwanowna riß Sonja die Banknote aus der Hand, knüllte sie zu einem Knäuel zusammen und schleuderte ihn, weit ausholend, Lushin gerade ins Gesicht. Der Knäuel traf ihn ins Auge und fiel zurückprallend auf den Fußboden. Amalia Iwanowna sprang hinzu und hob das Geld auf. Pjotr Petrowitsch wurde zornig.

»Haltet die Verrückte fest!« rief er.

In der Tür erschienen in diesem Augenblicke neben Lebesjatnikow noch einige Personen, zwischen denen auch die beiden neulich angekommenen Damen hervorschauten.

»Wie? Verrückt? Ich soll verrückt sein? Du Esel!« kreischte Katerina Iwanowna. »Du bist selbst ein Esel, ein Rechtsverdreher, ein grundgemeiner Mensch! Sonja, Sonja wird ihm Geld wegnehmen! Sonja eine Diebin! Eher könnte sie dir etwas geben, du Esel!« Katerina Iwanowna brach in ein hysterisches Lachen aus. »Habt ihr schon je einen solchen Esel gesehen?« wandte sie sich ringsum an alle und zeigte auf Lushin. »Wie? Du auch?« Es fiel ihr gerade die Wirtin in die Augen. »Du altes Hökerweib, auch du willst das bestätigen, daß sie gestohlen hat? Du greulicher preußischer Affe in der großen Krinoline! Oh, ihr Lumpenbande! Sie ist ja seitdem gar nicht aus dem Zimmer hinausgegangen; gleich als sie von dir, du Schurke, zurückkam, hat sie sich ganz in meiner Nähe an den Tisch gesetzt; das haben alle gesehen. Da neben Rodion Romanowitsch hat sie gesessen! Also visitiert sie doch! Da sie nirgends hingegangen ist, müßte sie ja das Geld noch bei sich haben! Visitiere sie nur, visitiere sie nur! Aber wenn du nichts findest, Freundchen, dann sollst du zur Verantwortung gezogen werden! Zum Zaren, zum Zaren selbst laufe ich hin; er ist barmherzig; ich werfe mich ihm zu Füßen, gleich, heute noch! Ich bin ein schutzloses Weib! Man wird mich vorlassen! Denkst du etwa, ich werde nicht vorgelassen werden? Da irrst du dich, ich werde schon zu ihm gelangen! Du hast wohl darauf gerechnet, daß sie so schüchtern ist? Darauf hast du wohl deine Hoffnung gesetzt? Aber dafür bin ich um so kühner, Brüderchen! Du wirst den kürzeren ziehen! So visitiere sie doch! Immer zu! Nur zu!«

Und Katerina Iwanowna packte in ihrer Wut Lushin an und zerrte ihn zu Sonja hin.

»Ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen, und will die Verantwortung auf mich nehmen, … aber benehmen Sie sich ruhiger, Madame, benehmen Sie sich ruhiger. Daß Sie kühn sind, sehe ich nur zu gut … Indessen, eine Visitierung, … das … das … geht doch nicht so«, murmelte Lushin, »das muß in Gegenwart der Polizei geschehen, … es sind ja freilich auch jetzt Zeugen genug vorhanden … Ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen … Aber in jedem Falle ist das für einen Mann eine mißliche Sache, … wegen des Geschlechts … Wenn es unter Amalia Iwanownas Beihilfe geschehen könnte, … allerdings ist das kein ordnungsmäßiges Verfahren … Sicherlich nicht!«

»Bestimmen Sie selbst, wer sie visitieren soll! Mag es tun, wer da will!« schrie Katerina Iwanowna. »Sonja, wende ihnen deine Taschen um! Da, da! Sieh, du Scheusal, da, sie ist leer, hier steckte das Taschentuch drin, die Tasche ist leer, siehst du! Da ist die andre Tasche, da, da! Siehst du, siehst du!«

Dabei wandte Katerina Iwanowna die beiden Taschen nacheinander um oder riß sie vielmehr nach außen. Aber aus der zweiten, der rechten Tasche, flog plötzlich eine Banknote heraus, beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel dann vor Lushins Füßen auf den Boden. Alle hatten es gesehen; viele schrien auf. Pjotr Petrowitsch bückte sich, nahm die Banknote mit zwei Fingern vom Fußboden auf, hob sie in die Höhe, so daß es alle sahen, und faltete sie auseinander. Es war ein auf den achten Teil seiner Größe zusammengelegter Hundertrubelschein. Pjotr Petrowitsch bewegte seinen Arm im Kreise herum und zeigte die Banknote allen.

»Eine Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!« heulte Amalia Iwanowna. »Nach Sibirien müssen sie geschickt werden! Hinaus!«

Von allen Seiten erschollen Ausrufe des Staunens und der Entrüstung. Raskolnikow schwieg und wendete die Augen nicht von Sonja ab; nur selten warf er Lushin einen schnellen Blick zu. Sonja stand wie besinnungslos immer noch auf demselben Fleck; sie schien kaum erstaunt zu sein. Plötzlich übergoß eine glühende Röte ihr ganzes Gesicht; sie schrie auf und verbarg das Gesicht in den Händen.

»Nein, ich bin es nicht gewesen! Ich habe nichts genommen! Ich weiß von nichts!« rief sie mit einem herzzerreißenden Aufschrei und stürzte zu Katerina Iwanowna hin.

Diese schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich, als wollte sie sie mit ihrer Brust gegen alle verteidigen.

»Sonja, Sonja, ich glaube es nicht! Siehst du wohl, ich glaube es nicht!« rief sie, allem Augenschein zum Trotz, preßte sie immer wieder an sich wie ein Kind, küßte sie unzählige Male, ergriff ihre Hände und bedeckte auch diese mit heißen Küssen. »Du solltest das genommen haben? Ach, was sind das für dumme Menschen! O Gott! Dumm seid ihr, dumm!« rief sie, zu allen gewendet. »Ihr wißt noch gar nicht, ihr habt keine Ahnung davon, was für ein Herz sie hat, ein wie gutes Mädchen sie ist! Sie sollte jemandem etwas wegnehmen, sie! Eher zieht sie sich das letzte Kleid vom Leibe und verkauft es und geht barfuß und gibt euch alles hin, wenn ihr in Not seid; so ist sie! Auch den gelben Schein hat sie nur deshalb genommen, weil meine Kinder vor Hunger umkamen; um unsertwillen hat sie sich verkauft! … Ach, du Dahingeschiedener! Ach, du Dahingeschiedener! Siehst du wohl? Siehst du wohl? Das ist nun dein Gedächtnismahl! O Gott! So verteidigt sie doch; was steht ihr alle da? Rodion Romanowitsch! Warum treten denn Sie, Sie nicht für sie ein? Glauben Sie es etwa auch? Ihr alle seid nicht so viel wert wie ihr kleiner Finger, ihr alle, ihr alle! O Gott! Schütze du sie doch endlich!«

Das Weinen der armen schwindsüchtigen, hilflosen Katerina Iwanowna schien doch auf die Anwesenden starken Eindruck zu machen. Es lag ein solcher Jammer, ein solches Leid in diesem schmerzverzerrten, abgemagerten, schwindsüchtigen Gesichte, in diesen eingeschrumpften, noch blutigen Lippen, in dieser heiser kreischenden Stimme, in diesem aufschluchzenden Weinen, das wie Kinderweinen klang, in diesem vertrauensvollen, kindlichen und dabei doch verzweifelten Flehen um Schutz, daß, wie es schien, alle mit der Unglücklichen Mitleid empfanden. Pjotr Petrowitsch wenigstens beeilte sich, »sein Bedauern auszusprechen«.

»Madame, Madame!« rief er mit erhobener Stimme. »Sie selbst werden ja durch das Geschehene gar nicht berührt! Niemand beschuldigt Sie der Anstiftung oder der Teilnehmerschaft, um so weniger, als Sie ja durch das Umwenden der Taschen die Überführung bewerkstelligt haben; daraus geht ja klar hervor, daß Sie nichts Übles vermuteten. Ich bin bereit, mein außerordentliches Bedauern auszusprechen, wenn, um mich so auszudrücken, es die bittre Armut gewesen ist, wodurch sich Sofja Semjonowna hat verleiten lassen; aber warum, Mademoiselle, wollten Sie denn kein Geständnis ablegen? Fürchteten Sie die Schande? Es war wohl Ihr erster Schritt gewesen? Sie waren vielleicht zu fassungslos? Alles begreiflich, sehr begreiflich! … Aber andrerseits, warum haben Sie sich auch auf solche Dinge eingelassen? Meine Herrschaften!« wandte er sich an alle Anwesenden, »meine Herrschaften! Aus Mitleid und sozusagen aus Teilnahme an diesem Schmerze bin ich bereit zu verzeihen, selbst jetzt noch, trotz der persönlichen Beleidigungen, die mir widerfahren sind. Möge Ihnen, Mademoiselle, die jetzige Beschämung als Lehre für die Zukunft dienen«, wandte er sich an Sonja; »ich meinerseits werde von weiteren Maßregeln absehen; meinetwegen mag die Sache hiermit abgetan sein. Also genug davon!«

Pjotr Petrowitsch schielte verstohlen zu Raskolnikow hin; ihre Blicke begegneten einander. Raskolnikows flammender Blick drohte den andern zu Asche zu verbrennen. Katerina Iwanowna schien überhaupt nichts mehr gehört zu haben; sie umarmte und küßte Sonja wie eine Wahnsinnige. Auch die Kinder umschlangen von allen Seiten Sonja mit ihren Ärmchen, und Polenjka, die übrigens nicht recht verstand, worum es sich handelte, war ganz in Tränen aufgelöst, verging fast vor Schluchzen und verbarg ihr vom Weinen geschwollenes hübsches Gesichtchen an Sonjas Schulter.

»Ist das eine Gemeinheit!« rief plötzlich eine laute Stimme in der Tür.

Pjotr Petrowitsch blickte sich hastig um.

»Ist das eine Gemeinheit!« sagte Lebesjatnikow noch einmal und blickte ihm unverwandt in die Augen.

Pjotr Petrowitsch zuckte ordentlich zusammen. Alle bemerkten es und erinnerten sich dessen später. Lebesjatnikow trat ins Zimmer herein.

»Und Sie haben sich erdreistet, mich als Zeugen anzurufen?« sagte er, indem er auf Pjotr Petrowitsch zutrat.

»Was soll das bedeuten, Andrej Semjonowitsch? Wovon reden Sie?« murmelte dieser.

»Das bedeutet, daß Sie ein Verleumder sind! Das habe ich gemeint!« sagte Lebesjatnikow erregt und blickte ihn zornig mit seinen schwachsichtigen Augen an.

Er war furchtbar ergrimmt. Raskolnikow ließ keinen Blick von ihm, als ob er jedes Wort auffinge und auf die Waagschale legte. Wieder herrschte Schweigen. Pjotr Petrowitsch hatte fast ganz seine Fassung verloren, namentlich im ersten Augenblick.

»Wenn Sie mir damit …«, begann er stotternd. »Aber was haben Sie denn? Sind Sie bei Sinnen?«

»Ich bin schon bei Sinnen; aber Sie sind ein Schurke! Ach, was ist das für eine Gemeinheit! Ich habe hier jetzt den ganzen Vorgang mit angehört; ich habe absichtlich immer noch gewartet, um über die Sache völlig klarzuwerden; denn ich muß gestehen, selbst jetzt durchschaue ich den logischen Zusammenhang noch nicht ganz … Warum haben Sie denn eigentlich das alles getan? Das ist mir unbegreiflich!«

»Aber was soll ich denn getan haben? So hören Sie doch auf, in sinnlosen Rätseln zu sprechen! Oder sind Sie vielleicht betrunken?«

»Sie mögen vielleicht trinken, Sie gemeiner Mensch, ich nicht. Ich trinke überhaupt nie Schnaps, weil das meinen ganzen Anschauungen widerstreitet! Denken Sie sich«, hier wandte Lebesjatnikow sich an alle Anwesenden, »er selbst hat eigenhändig diesen Hundertrubelschein Sofja Semjonowna gegeben. Ich habe es gesehen, ich bin Zeuge, ich kann es beschwören! Er selbst, er selbst!«

»Sie sind wohl übergeschnappt, Sie Milchbart?« kreischte Lushin. »Da steht sie Ihnen ja selbst persönlich gegenüber, und sie selbst hat hier soeben in Gegenwart aller ausgesagt, daß sie außer den zehn Rubeln nichts von mir bekommen hat. Wie können Sie denn da behaupten, daß ich ihr den Schein gegeben hätte?«

»Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!« rief Lebesjatnikow nachdrücklich. »Und obwohl das Schwören meinen Anschauungen widerstreitet, so bin ich doch bereit, sofort vor Gericht jeden beliebigen Eid darauf abzulegen; denn ich habe gesehen, wie Sie ihr die Banknote heimlich zusteckten! Nur dachte ich Dummkopf, Sie wollten ihr damit eine Wohltat erweisen! Als Sie sich in der Tür von ihr verabschiedeten und sie sich umwandte und Sie ihr mit der einen Hand die Hand drückten, da haben Sie mit der andern Hand, mit der linken, ihr heimlich die Banknote in die Tasche gesteckt. Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!«

Lushin wurde blaß.

»Was schwatzen Sie da zusammen!« schrie er dreist. »Wie hätten Sie überhaupt, da Sie doch am Fenster standen, die Banknote erkennen können! Das war wohl eine Augentäuschung; Sie mit Ihrer Kurzsichtigkeit! Sie faseln!«

»Nein, es war keine Augentäuschung! Und obwohl ich weit weg stand, so habe ich doch alles gesehen, ja, alles; und obwohl es vom Fenster aus allerdings schwer war, die Banknote zu erkennen (darin haben Sie recht), so wußte ich doch infolge eines besonderen Zufalls genau, daß es gerade ein Hundertrubelschein war; denn als Sie Sofja Semjonowna den Zehnrubelschein gaben, da nahmen Sie (das habe ich selbst gesehen) gleichzeitig einen Hundertrubelschein vom Tische. Das habe ich gesehen, weil ich damals gerade in der Nähe stand; und da mir dabei sofort ein bestimmter Gedanke kam, so vergaß ich es nicht, daß Sie die Banknote in der Hand hatten. Sie hatten sie zusammengefaltet und hielten sie die ganze Zeit über in der geschlossenen Hand. Später hatte ich es schon beinahe wieder vergessen; aber als Sie aufstanden, nahmen Sie die Banknote aus der rechten Hand in die linke und hätten sie dabei beinahe fallenlassen; da erinnerte ich mich wieder, weil mir wieder derselbe Gedanke kam, daß Sie ihr nämlich, ohne daß ich es merken sollte, eine Wohltat erweisen wollten. Sie können sich vorstellen, wie ich nun aufpaßte – na, und da sah ich, wie es Ihnen gelang, ihr die Banknote in die Tasche zu schieben. Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen, und ich will es beschwören.«

Lebesjatnikow war fast außer Atem gekommen. Von allen Seiten erschollen Ausrufe verschiedener Art, meistens des Staunens; jedoch waren auch solche darunter, die einen drohenden Ton annahmen. Alle drängten sich zu Pjotr Petrowitsch hin. Katerina Iwanowna stürzte auf Lebesjatnikow zu.

»Andrej Semjonowitsch! Ich habe Sie verkannt! Beschützen Sie sie! Sie sind der einzige, der für sie eintritt! Sie ist eine Waise; Gott hat Sie ihr gesandt! Andrej Semjonowitsch, bester Freund, Väterchen!«

Bei diesen Worten warf sich Katerina Iwanowna, die kaum noch wußte, was sie tat, vor ihm auf die Knie.

»So ein Blödsinn!« schrie Lushin, rasend vor Wut. »Sie schwatzen Blödsinn, mein Herr! … ›Ich vergaß, ich erinnerte mich, ich erinnerte mich, ich vergaß‹, was hat das für Wert! Also ich hätte ihr die Banknote absichtlich zugesteckt? Wozu? Welchen Zweck sollte ich dabei gehabt haben? Was habe ich zu schaffen mit dieser …«

»Wozu? Das ist es ja eben, was ich selbst nicht verstehe; aber daß ich eine wahre Tatsache erzähle, das ist sicher! Ich irre mich ganz und gar nicht, Sie abscheulicher Mensch, Sie Verbrecher; ganz im Gegenteil erinnere ich mich genau, wie mir aus diesem Anlaß gleich damals eine bestimmte Frage in den Kopf kam, nämlich als ich Ihnen dankte und Ihnen die Hand drückte. Ich fragte mich nämlich, warum Sie es ihr eigentlich heimlich in die Tasche gesteckt hätten. Das heißt, warum gerade heimlich? Sollten Sie das wirklich nur deswegen getan haben, weil Sie es vor mir verheimlichen wollten, da Sie wußten, daß ich der entgegengesetzten Meinung bin und die private Wohltätigkeit verwerfe, die ja doch nie eine radikale Heilung herbeiführt? Na, ich kam schließlich zu der Meinung, Sie möchten sich wohl tatsächlich vor mir darüber schämen, daß Sie einen solchen Batzen Geld weggäben, und außerdem dachte ich, Sie wollten ihr vielleicht eine Überraschung bereiten und sie in Staunen versetzen, wenn sie in ihrer Tasche volle hundert Rubel fände; denn manche Wohltäter lieben es sehr, ihren Wohltaten in solcher Weise noch einen besonderen Anstrich zu geben; das weiß ich recht wohl. Dann kam mir auch der Gedanke, daß Sie sie vielleicht auf die Probe stellen wollten, ob sie wohl, wenn sie das Geld fände, kommen würde, um sich zu bedanken. Dann, daß Sie vielleicht dem Danke aus dem Wege gehen wollten, … na, wie man so sagt, daß die rechte Hand nicht wissen soll, … kurz, etwas in dieser Art. Nun also, es kamen mir damals eine ganze Menge verschiedener Gedanken in den Sinn, so daß ich beschloß, über alles dies später nachzudenken; ich hielt es aber für taktlos, Ihnen gegenüber zu äußern, daß ich um Ihr Geheimnis wisse. Gleich darauf jedoch fiel mir ein, Sofja Semjonowna könnte am Ende gar das Geld verlieren, ehe sie von seinem Vorhandensein etwas gemerkt hätte; darum beschloß ich, hierherzugehen, sie herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß ihr ein Hundertrubelschein in die Tasche gesteckt worden sei. Da ich aber dabei an dem Zimmer der Kobyljatnikowschen Damen vorbeikam, so ging ich vorher noch zu ihnen hinein, um ihnen die ›Allgemeine Kritik der positiven Methode‹ zu überbringen und ihnen besonders einen Artikel von Piderit (übrigens auch einen von Wagner) zu empfehlen; dann kam ich hierher und wurde hier Zeuge dieser abscheulichen Szene! Hätte ich denn nun alle diese Gedanken haben, alle diese Überlegungen anstellen können, wenn ich nicht tatsächlich gesehen hätte, daß Sie ihr die hundert Rubel in die Tasche steckten?«

Als Andrej Semjonowitsch seine wortreichen Erläuterungen mit einer so logischen Folgerung abgeschlossen hatte, war er ganz matt geworden, und der Schweiß rann ihm vom Gesichte. Denn leider besaß er nicht die Fähigkeit, seine Gedanken auf russisch klar und deutlich darzulegen (übrigens beherrschte er auch keine andere Sprache), so daß er jetzt nach seiner sachwalterischen Großtat auf einmal ganz erschöpft war; ja, es sah sogar so aus, als ob er davon magerer geworden wäre. Trotzdem hatte sein Rede ganz außerordentlich gewirkt. Er hatte mit so lebhaftem Affekt und in so echtem Tone eigener Überzeugung gesprochen, daß ihm offenbar alle glaubten. Pjotr Petrowitsch fühlte, daß seine Sache schlecht stand.

»Was kümmert es mich, was Ihnen da für dumme ›Fragen‹ in den Kopf gekommen sind«, rief er. »Das ist kein Beweis! Das können Sie alles geträumt haben; weiter nichts! Und ich sage Ihnen, mein Herr, daß Sie lügen! Sie lügen und verleumden mich, weil Sie auf mich wütend sind, namentlich aus Ärger darüber, daß ich von Ihren freidenkerischen, gottlosen sozialen Plänen nichts wissen wollte. Das ist der ganze Grund!«

Aber diese Ausrede brachte ihm keinen Nutzen; im Gegenteil, auf allen Seiten wurde ein unwilliges Murren laut.

»Aha, so willst du dich herausreden!« rief Lebesjatnikow. »Aber da irrst du dich! Rufe nur die Polizei, dann will ich einen Eid schwören! Nur das eine kann ich nicht begreifen: warum er eine so gemeine Handlung riskiert hat! So ein abscheulicher, niederträchtiger Mensch!«

»Ich kann es erklären, warum er eine solche Handlung gewagt hat, und werde nötigenfalls auch meinerseits einen Eid ablegen«, sagte nun endlich Raskolnikow mit fester Stimme und trat vor.

Er war anscheinend ruhig und festen Sinnes. Schon bei seinem bloßen Anblicke wurde es allen klar, daß er wirklich wußte, wie die Sache zusammenhing, und daß die Lösung des Rätsels jetzt erfolgen werde.

»Jetzt ist mir alles völlig verständlich geworden«, fuhr Raskolnikow fort und wandte sich dabei direkt an Lebesjatnikow. »Gleich vom Beginne dieser Szene an argwöhnte ich, daß irgendein schändlicher Betrug dahinterstecke; dieser Argwohn gründete sich auf gewisse besondere Umstände, der kleine Finger von Sofja Semjonowna, über die er so abfällig gesprochen habe. Auf seine Frage, ob ich wohl Sofja Semjonowna auffordern würde, neben meiner Schwester Platz zu nehmen, antwortete ich, daß ich es bereits an eben dem Tage getan hätte. Erbittert darüber, daß meine Mutter und meine Schwester nicht auf seine Verleumdungen hin sich mit mir verfeinden wollten, sagte er ihnen im weiteren Wortwechsel unverzeihliche Frechheiten. Es kam zu einem vollständigen Bruche, und er wurde aus dem Hause gewiesen. Alles dies begab sich gestern abend. Jetzt bitte ich Sie, ganz besonders aufzumerken: Stellen Sie sich vor, es wäre ihm jetzt gelungen, zu beweisen, daß Sofja Semjonowna eine Diebin sei, so hätte er doch damit zugleich meiner Mutter und meiner Schwester bewiesen, daß er mit seiner üblen Beurteilung nahezu recht gehabt habe und daß er mit Fug und Recht über die von mir vorgenommene Gleichstellung meiner Schwester mit Sofja Semjonowna empört gewesen sei und daß er somit durch einen Angriff auf mich die Ehre meiner Schwester, seiner Braut, verteidigt und geschützt habe. Kurz, durch alles dies hätte er mich mit meinen Angehörigen entzweien können, und er hoffte bestimmt, auf diese Art wieder mit ihnen in ein freundliches Verhältnis zu gelangen. Davon will ich schon gar nicht einmal reden, daß er sich dabei auch an mir persönlich rächen wollte, weil er Grund zu der Annahme hatte, daß Sofja Semjonownas Ehre und Glück mir sehr teuer seien. Das also war sein ganzer wohlüberlegter Plan! So fasse ich die Sache auf. Das war der ganze Grund für sein Handeln; ein anderer kann nicht existieren.«

So oder ungefähr so schloß Raskolnikow seine Rede, die oftmals durch Ausrufe seiner aufmerksamen Zuhörer unterbrochen worden war. Aber trotz aller Unterbrechungen hatte er energisch, ruhig, bestimmt, klar und fest gesprochen. Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein ernster Gesichtsausdruck machten auf alle einen gewaltigen Eindruck.

»Ja, ja, so muß es gewesen sein!« pflichtete ihm Lebesjatnikow, ganz hingerissen, bei. »So muß es gewesen sein; denn gleich nachdem Sofja Semjonowna zu uns ins Zimmer getreten war, fragte er mich ausdrücklich, ob Sie hier wären, ob ich Sie unter Katerina Iwanownas Gästen gesehen hätte. Er rief mich dazu beiseite, ans Fenster, und fragte mich dort leise. Folglich war ihm für die Ausführung seines Vorhabens Ihre Anwesenheit notwendig. Das ist richtig, das ist alles ganz richtig!«

Lushin schwieg und lächelte verächtlich. Indes sah er sehr blaß aus. Er schien zu überlegen, wie er sich wohl aus der Affäre ziehen könnte. Vielleicht hätte er mit Vergnügen alles auf sich beruhen lassen und wäre davongegangen; aber das war im gegenwärtigen Augenblicke so gut wie unmöglich; damit hätte er geradezu die Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen zugegeben, auch in dem Punkte, daß er Sofja Semjonowna verleumdet habe. Außerdem war das Publikum, das sowieso schon angetrunken war, allzu aufgeregt. Der Proviantbeamte, der übrigens nicht alles verstanden hatte, schrie am allermeisten und brachte einige Maßnahmen in Vorschlag, die für Lushin sehr unangenehm gewesen wären. Es standen aber auch Leute da, die nicht betrunken waren; denn aus allen Zimmern waren die Mieter zusammengeströmt. Die drei Polen zeigten sich besonders ergrimmt und schrien ihm fortwährend zu: »Pan łajdak!« (Sie Lump!), wobei sie noch allerlei Drohungen auf polnisch murmelten. Sonja hatte gespannt zugehört, schien aber gleichfalls nicht alles verstanden zu haben; sie machte den Eindruck, als sei sie soeben aus einer Ohnmacht erwacht. Sie wandte ihre Augen von Raskolnikow nicht ab, in dem Gefühle, daß er ihr einziger Schutz sei. Katerina Iwanowna atmete mühsam und pfeifend und befand sich allem Anscheine nach in einem Zustande furchtbarer Erschöpfung. Am dümmsten stand Amalia Iwanowna da; sie hielt den Mund geöffnet und konnte offenbar aus der Sache absolut nicht schlau werden. Das einzige, was sie begriff, war, daß Pjotr Petrowitsch irgendwie in die Klemme geraten sein müsse. Raskolnikow bat, noch etwas hinzufügen zu dürfen; aber man ließ ihn nicht weiterreden; alle schrien und drängten sich unter Schimpfworten und Drohungen um Lushin herum. Dieser aber zeigte sich nicht feige. Da er sah, daß er bezüglich der gegen Sonja erhobenen Beschuldigung sein Spiel verloren hatte, so nahm er seine Zuflucht ohne weiteres zur Unverschämtheit.

»Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie; drängen Sie nicht so; lassen Sie mich hindurch!« sagte er, indem er sich durch den Haufen hindurcharbeitete. »Und tun Sie mir den Gefallen, Ihre Drohungen zu unterlassen; ich versichere Ihnen, das ist ganz zwecklos, Sie erreichen dadurch nichts; ängstlich bin ich nicht; im Gegenteil werden Sie, meine Herren, dafür zur Verantwortung gezogen werden, daß Sie ein Kriminalvergehen in Schutz genommen haben. Die Diebin ist völlig überführt, und ich werde die Sache weiter verfolgen. Die Herren vom Gericht sind nicht so blind und … nicht betrunken und werden nicht zwei solchen notorischen Gottesleugnern, Revolutionären und Freidenkern Glauben schenken, die mich aus persönlicher Rachsucht beschuldigen, was sie ja in ihrer Dummheit selbst eingestehen … Also erlauben Sie!«

»Ziehen Sie sofort aus meinem Zimmer aus und lassen Sie sich nie wieder bei mir blicken; zwischen uns beiden ist alles zu Ende! Und wenn ich bedenke, wie ich mich abgequält habe, ihm unser ganzes System auseinanderzusetzen, … volle zwei Wochen lang! …«

»Ich habe Ihnen doch vorhin, als Sie mich noch zurückhalten wollten, selbst gesagt, Andrej Semjonowitsch, daß ich auszuziehen beabsichtigte; jetzt füge ich nur noch hinzu, daß Sie ein Dummkopf sind. Ich wünsche Ihnen guten Erfolg für eine Kur Ihrer physischen und geistigen Sehkraft. Erlauben Sie, meine Herren!«

Er drängte sich durch; aber ihn so leichten Kaufs, lediglich unter Schimpfwörtern, wegzulassen, das war nicht im Geschmacke des Proviantbeamten; er nahm ein Glas vom Tische, holte aus und warf damit nach Pjotr Petrowitsch. Indessen flog das Glas Amalia Iwanowna gerade an den Kopf. Sie kreischte auf; der Proviantbeamte aber, der bei dem Schwunge das Gleichgewicht verloren hatte, sank schwerfällig unter den Tisch. Pjotr Petrowitsch begab sich in sein Zimmer und hatte bereits eine halbe Stunde darauf das Haus verlassen. Die von Natur ängstliche Sonja hatte schon von jeher gewußt, daß niemand leichter ins Verderben zu bringen war als sie und daß jeder sie fast straflos beleidigen konnte; trotzdem aber hatte sie es bis auf diese Stunde für möglich gehalten, dem Unglück durch Vorsicht, durch Sanftmut und durch Demut allen und jedem gegenüber zu entgehen. Die jetzige Enttäuschung war ihr gar zu schmerzlich. Sie war allerdings imstande, geduldig und ohne Murren alles, auch dies, zu ertragen; aber im ersten Augenblicke fiel es ihr doch gar zu schwer. Als der erste Schreck und die erste Betäubung vorüber waren und sie alles begriff und sich vergegenwärtigte, da preßte ihr, trotz ihres Triumphes und des völligen Beweises ihrer Schuldlosigkeit, das Gefühl der Hilflosigkeit und der erlittenen Kränkung doch das Herz qualvoll zusammen. Ein Weinkrampf befiel sie. Schließlich konnte sie es nicht länger aushalten; sie stürzte aus dem Zimmer und lief nach Hause. Das geschah, gleich nachdem Lushin weggegangen war. Amalia Iwanowna mochte, als ihr unter lautem Gelächter der Anwesenden das Glas gegen den Kopf flog, es auch nicht ruhig hinnehmen, daß sie so für fremde Sünden büßen sollte. Kreischend stürzte sie wie eine Rasende auf Katerina Iwanowna los, der sie die Schuld an allem beimaß.

»Hinaus aus der Wohnung! Augenblicklich! Marsch, hinaus!«

Mit diesen Worten fing sie an, alles, was ihr von Katerina Iwanownas Sachen unter die Hände kam, auf dem Fußboden auf einen Haufen zusammenzuwerfen. Katerina Iwanowna, ohnehin schon völlig erschöpft, halb ohnmächtig, atemlos und blaß, sprang von dem Bette, auf das sie kraftlos niedergesunken war, in die Höhe und warf sich auf Amalia Iwanowna. Aber der Kampf war zu ungleich; Amalia Iwanowna stieß sie wie eine Feder von sich.

»Wie? Nicht genug daran, daß man uns auf das gottloseste verleumdet hat, will auch diese Kreatur ihr Mütchen an mir kühlen? Wie? Am Begräbnistage meines Mannes, nachdem sie eben an meinem gastlichen Tische gesessen hat, jagt sie mich aus der Wohnung, auf die Straße, mit den vaterlosen Waisen? Ja, wo soll ich denn bleiben?« stöhnte das arme Weib schluchzend und keuchend. »O Gott!« rief sie auf einmal, und ihre Augen funkelten, »gibt es denn keine Gerechtigkeit? Wenn du uns arme Verlassene nicht schützest, wen willst du denn dann schützen? Aber wir wollen einmal sehen! Es gibt noch Recht und Gerechtigkeit auf der Welt, und ich werde sie zu finden wissen! Und sofort! Warte nur, du gottloses Geschöpf! Polenjka, bleibe bei den Kindern; ich komme bald wieder. Wartet auf mich, wenn’s nicht anders ist, auf der Straße! Wir wollen doch einmal sehen, ob es noch Gerechtigkeit auf der Welt gibt!«

Katerina Iwanowna warf dasselbe grüne Tuch von drap de dame um den Kopf, das der verstorbene Marmeladow in seiner Erzählung Raskolnikow gegenüber erwähnt hatte, drängte sich durch den wüsten, betrunkenen Schwarm der Gäste hindurch, die noch immer das Zimmer füllten, und lief weinend und wehklagend auf die Straße hinaus, in der festen Absicht, irgendwo sofort unter allen Umständen und um jeden Preis Gerechtigkeit zu finden. Polenjka verkroch sich in ihrer Angst mit den Kindern in die Ecke auf den Kasten, umschlang, am ganzen Leibe zitternd, die beiden Kleinen und wartete so auf die Rückkehr der Mutter. Amalia Iwanowna tobte im Zimmer umher, kreischte, jammerte, schleuderte alles, was ihr in die Hände kam, auf den Fußboden und vollführte einen greulichen Spektakel. Die Mieter schrien durcheinander: manche redeten über das Vorgefallene, soweit sie es verstanden hatten; andere zankten sich und beschimpften sich; einige fingen an zu singen.

»Jetzt wird es auch für mich Zeit«, dachte Raskolnikow. »Nun wollen wir einmal sehen, Sofja Semjonowna, was Sie jetzt sagen werden!«

Er ging nach Sonjas Wohnung.

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Kapitel 3

III

Am andern Tage erwachte er erst spät, nach einem unruhigen Schlafe, der ihn nicht gekräftigt hatte. Er erwachte in verbitterter, gereizter, ingrimmiger Stimmung und blickte sich mit wahrem Hasse in seinem Kämmerchen um. Dies war ein winziger Käfig, sechs Schritte lang, der mit seiner gelblichen, verstaubten, sich überall von der Wand loslösenden Tapete einen überaus kläglichen Eindruck machte und so niedrig war, daß es einem nur einigermaßen hochgewachsenen Manne darin bange wurde und er jeden Augenblick befürchten mußte, mit dem Kopfe an die Decke zu stoßen. Das Mobiliar paßte zu der Räumlichkeit: es waren drei alte, etwas defekte Stühle da; in einer Ecke ein gestrichener Tisch, auf dem ein paar Hefte und Bücher lagen; schon an der Staubschicht, die sie bedeckte, war zu erkennen, daß seit langer Zeit keines Menschen Hand sie mehr berührt hatte; endlich ein plumpes, großes Sofa, das beinahe die ganze Längswand und die halbe Breite des Zimmers einnahm; einstmals war es mit Kattun überzogen gewesen, von dem aber jetzt nur Fetzen übrig waren; es diente dem Bewohner als Bett. Oft schlief er darauf so, wie er gerade war, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, mit seinem alten, abgenutzten Studentenpaletot zugedeckt, unter dem Kopfe nur ein kleines Kissen, unter welches er alles, was er an reiner und getragener Wäsche besaß, herunterpackte, um es am Kopfe etwas höher zu haben. Vor dem Sofa stand ein kleines Tischchen.

Schwerlich konnte jemand tiefer sinken und mehr verkommen; aber Raskolnikow empfand dies in seinem jetzigen Gemütszustande sogar als angenehm. Er hatte sich von allen Menschen völlig zurückgezogen, wie eine Schildkröte in ihre Schale, und selbst das Gesicht der Magd, die die Aufwartung zu besorgen hatte und manchmal einen Blick in sein Zimmer warf, erregte ihm die Galle und reizte ihn zu Krämpfen. Es ist das eine häufige Erscheinung bei Leuten, die an einer bestimmten fixen Idee leiden und ihre Gedanken immer nur auf diesen einen Punkt richten. Seine Wirtin hatte schon vor zwei Wochen aufgehört, ihm Essen zu verabfolgen; aber er hatte noch gar nicht daran gedacht, hinzugehen und sich mit ihr darüber auseinanderzusetzen, obwohl er seitdem eben kein Mittagbrot hatte. Nastasja, die Köchin und einzige Magd der Wirtin, war in gewisser Hinsicht mit dieser Stimmung des Mieters ganz zufrieden; sie hatte nämlich vollständig aufgehört, bei ihm aufzuräumen und auszufegen, und nur so etwa einmal wöchentlich, wenn es sich gerade traf, griff sie nach dem Besen. Sie war es auch, die ihn jetzt weckte.

»Steh auf! Was schläfst du denn noch?« rief sie, neben ihm stehend. »Es ist schon neun durch. Ich habe dir Tee gebracht; willst du ein bißchen Tee trinken? Du bist wohl schon ganz verhungert?«

Raskolnikow öffnete die Augen, fuhr zusammen und erkannte Nastasja.

»Den Tee schickt mir wohl die Wirtin?« fragte er und richtete sich langsam und mit schmerzlichem Gesichtsausdrucke auf dem Sofa auf.

»Die Wirtin wird dir gerade Tee schicken!«

Sie stellte ihre eigene Teekanne, die einen großen Sprung hatte, mit einem zweiten Aufguß vor ihn hin und legte zwei Stückchen gelben Zuckers dazu.

»Hier, Nastasja«, sagte er, nachdem er in seiner Tasche gesucht und ein Häufchen Kupfermünzen hervorgeholt hatte (er hatte in seinen Kleidern geschlafen), »nimm das und geh und kaufe mir Semmeln. Und bringe auch vom Fleischer ein Stückchen Wurst mit, billige.«

»Semmeln will ich dir gleich holen, aber willst du nicht statt der Wurst lieber Kohlsuppe? Sehr gute Kohlsuppe, von gestern. Ich hatte schon gestern welche für dich beiseite gestellt, aber du kamst erst so spät nach Hause. Sehr gute Kohlsuppe!«

Als sie die Kohlsuppe gebracht hatte und er zu essen begann, setzte sich Nastasja neben ihn auf das Sofa und fing an zu plaudern. Sie war vom Lande und sehr redselig.

»Praskowja Pawlowna will dich bei der Polizei verklagen«, sagte sie.

Er zog das Gesicht finster zusammen.

»Bei der Polizei? Warum denn?«

»Du bezahlst nicht und ziehst auch nicht aus. Ist doch klar.«

›Zum Teufel, das hat gerade noch gefehlt!‹ murmelte er zähneknirschend. ›Nein, das ist mir jetzt … sehr ungelegen.‹ – »So ein dummes Frauenzimmer«, fügte er laut hinzu. »Ich werde heute mal zu ihr hingehen und mit ihr sprechen.«

»Dumm mag sie schon sein, gerade so wie ich; aber du bist doch nun so ein kluger Mensch und liegst immer da wie ein Sack, und man sieht nicht, daß du etwas schaffst. Früher gingst du Kinder unterrichten, wie du sagst; warum tust du denn jetzt gar nichts?«

»Ich tue doch etwas …«, erwiderte Raskolnikow mißmutig und finster.

»Na, was denn?«

»Ich habe eine Arbeit vor.«

»Was denn für eine Arbeit?«

»Ich denke«, antwortete er nach einer kurzen Pause ernst.

Nastasja wälzte sich ordentlich vor Lachen. Sie war sehr lachlustig, und wenn sie einmal ins Lachen kam, so lachte sie lautlos, mit dem ganzen Körper sich schüttelnd und schaukelnd, bis sie nicht mehr konnte.

»Du hast dir wohl schon viel Geld verdient mit dem Denken?« vermochte sie endlich herauszubringen.

»Wenn man keine Stiefel hat, kann man keine Stunden geben. Übrigens pfeife ich darauf.«

»Die Leute sagen: Spuck nicht in den Brunnen, aus dem du trinken mußt.«

»Für solche Privatstunden bekommt man einen Quark. Was soll ich mit so ein paar Kopeken?« fuhr er verdrossen fort, wie wenn er seine eigenen Gedanken beantwortete.

»Du möchtest wohl gleich mit einem Male ein ganzes Kapital verdienen?«

Er warf ihr einen seltsamen Blick zu.

»Ja, ein ganzes Kapital«, erwiderte er nach kurzem Überlegen entschieden.

»Na, mach’s nur lieber so ganz allmählich, sonst muß man sich ja vor dir fürchten. Das klingt ja ganz schrecklich. Soll ich nun Semmeln holen oder nicht?«

»Wie du willst.«

»Ja, das hatte ich ganz vergessen: während du gestern fort warst, ist ein Brief für dich angekommen.«

»Ein Brief? An mich? Von wem?«

»Von wem, weiß ich nicht. Ich habe dem Briefträger drei Kopeken von meinem Gelde gegeben. Die gibst du mir doch wieder, nicht wahr?«

»So hole mir doch den Brief, um Gottes willen, hol ihn her!« rief Raskolnikow in größter Aufregung. »O Gott!«

Einen Augenblick darauf war der Brief zur Stelle. Wirklich: von seiner Mutter, aus dem Gouvernement R…! Er wurde blaß, als er ihn in Empfang nahm. Schon seit langer Zeit hatte er keinen Brief erhalten; aber jetzt machte ihm plötzlich noch etwas anderes das Herz beklommen.

»Bitte, geh hinaus, Nastasja! Da sind deine drei Kopeken; nur geh recht schnell hinaus, ich bitte dich dringend«

Der Brief zitterte ihm in den Händen; er wollte ihn nicht in ihrer Gegenwart aufmachen; es verlangte ihn, mit diesem Briefe allein zu sein. Sobald Nastasja hinausgegangen war, führte er ihn schnell an seine Lippen und küßte ihn; dann betrachtete er noch lange die Handschrift der Adresse, die ihm so wohlbekannte und liebe, feine, schräge Handschrift seiner Mutter, seiner Mutter, die ihn einst lesen und schreiben gelehrt hatte. Er zauderte; es war sogar, wie wenn er sich vor etwas fürchtete. Endlich öffnete er ihn; es war ein großer, dicker Brief von zwei Lot; zwei große Briefbogen waren mit kleiner Schrift ganz vollgeschrieben.

»Mein lieber Rodja«, schrieb die Mutter, »es sind schon mehr als zwei Monate, daß ich mich nicht brieflich mit Dir unterhalten habe; das ist mir selbst sehr schmerzlich gewesen, und ich habe sogar manche Nacht vor allerlei Gedanken nicht geschlafen. Du wirst mir aber gewiß wegen dieses meines unfreiwilligen Schweigens nicht böse sein. Du weißt ja, wie ich Dich liebe; Du bist mir und Dunja unser ein und alles, unsere ganze Hoffnung, unsere Zuversicht. Wie war mir zumute, als ich erfuhr, daß Du schon seit einigen Monaten aus Mangel an Existenzmitteln die Universität verlassen hast und daß Deine Privatstunden und sonstigen Erwerbsquellen aufgehört haben! Wie konnte ich Dir mit meinen hundertundzwanzig Rubeln in dieser Hinsicht Dunjetschka gesagt, sie könne sich auf sich selbst verlassen; es sei kein Grund vorhanden, sich darüber zu beunruhigen, und sie könne vieles ertragen, unter der Voraussetzung, daß in ihren wechselseitigen Beziehungen immer Ehrlichkeit und Gerechtigkeit herrsche. Er schien mir anfangs auch etwas schroff; aber das kann ja auch gerade daher kommen, weil er ein freimütiger, redlicher Mensch ist, und so wird es gewiß sein. Zum Beispiel bei seinem zweiten Besuche, als er schon das Jawort erhalten hatte, bemerkte er im Gespräche, er habe schon früher, noch ehe er Dunja gekannt habe, sich vorgenommen, ein ehrenhaftes Mädchen, aber ohne Mitgift, zu nehmen, und unbedingt eine solche, die schon die Armut aus eigener Erfahrung kenne; denn, wie er uns auseinandersetzte, der Mann müsse seiner Frau nichts zu verdanken haben; weit besser sei es, wenn die Frau den Mann als ihren Wohltäter betrachte. Ich muß hinzufügen, daß er sich etwas milder und freundlicher ausdrückte, als ich es hier geschrieben habe; denn ich habe den eigentlichen Wortlaut vergessen und erinnere mich nur noch an den Sinn, und überdies sagte er das ganz und gar nicht nach vorheriger Überlegung, sondern weil er beim Reden so in Zug gekommen war, im Eifer des Gespräches, so daß er sich sogar nachher bemühte, es zu korrigieren und abzuschwächen. Aber mir kam das doch ein wenig schroff vor, und ich äußerte nachher diese meine Empfindung Dunja gegenüber. Aber Dunja antwortete mir sogar ärgerlich: ›Worte sind noch keine Taten‹, und das ist gewiß richtig. Dunja hat die ganze Nacht, bevor sie sich dazu entschloß, schlaflos zugebracht; in dem Glauben, daß ich schon schliefe, stand sie vom Bette auf und ging die ganze Nacht über im Zimmer hin und her; zuletzt kniete sie vor dem Heiligenbilde nieder und betete lange und mit heißer Inbrunst; am Morgen erklärte sie mir dann, sie habe sich dazu entschlossen.

Ick habe schon erwähnt, daß Pjotr Petrowitsch sich jetzt nach Petersburg begeben wird. Er hat dort wichtige Geschäfte Wiedersehen und gebe Dir meinen mütterlichen Segen. Lieber Rodja, liebe Deine Schwester Dunja; liebe sie so, wie sie Dich liebt, und sei Dir bewußt, daß sie Dich grenzenlos liebt, mehr als sich selbst. Sie ist ein Engel, und Du, Rodja, bist unser ein und alles, unsere ganze Hoffnung, unsere ganze Zuversicht. Wenn Du nur glücklich bist, dann sind wir es auch. Betest Du auch wohl wie früher zu Gott, lieber Rodja, und glaubst Du an die Gnade unsres Schöpfers und Erlösers? Ich fürchte in meinem Herzen, daß auch Du Dich von dem Unglauben, der in neuester Zeit Mode geworden ist, habest anstecken lassen. Wenn es so sein sollte, dann will ich für Dich beten. Denke daran, mein Sohn, wie Du damals, als Du noch ein Kind warst und Dein Vater noch lebte, auf meinem Schoße Deine Gebete lalltest und wie glücklich wir damals alle waren. Adieu, oder vielmehr: auf Wiedersehen! Ich umarme Dich von ganzem, ganzem Herzen und küsse Dich unzählige Male.

Deine bis in den Tod getreue
Pulcheria Raskolnikowa.«

Fast die ganze Zeit, während Raskolnikow las, vom Anfang des Briefes an, war sein Gesicht feucht von Tränen; als er aber bis zum Schlüsse gelangt war, war es bleich und krampfhaft verzerrt, und ein trübes, bitteres, ingrimmiges Lächeln spielte auf seinen Lippen. Er legte sich mit dem Kopfe auf sein dünnes, abgenutztes Kissen und dachte lange, lange nach. Heftig schlug ihm das Herz, und heftig wogten seine Gedanken hin und her. Schließlich wurde es ihm zu schwül und zu eng in diesem gelben Kämmerchen, das wie ein Schrank oder wie ein Koffer aussah. Sein Blick und seine Gedanken verlangten nach freiem Räume. Er ergriff seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne sich davor zu fürchten, daß er jemandem auf der Treppe begegnen könnte; dieser Gedanke kam ihm gar nicht. Er schlug die Richtung nach der Wassilij-Insel ein, den W…-Prospekt entlang, als hätte er einen eiligen Geschäftsgang dorthin, ging aber nach seiner Gewohnheit, ohne auf den Weg zu achten, vor sich hin flüsternd und sogar laut mit sich redend, worüber sich die Vorübergehenden nicht wenig wunderten. Viele hielten ihn für betrunken.

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Kapitel 23

III

Die Hauptsache war, daß er bis zum letzten Augenblicke einen solchen Ausgang in keiner Weise erwartet hatte. Noch bis ganz zuletzt hatte er die Oberhand zu haben geglaubt und gar nicht an die Möglichkeit gedacht, daß sich zwei arme, schutzlose Frauen seiner Gewalt entziehen könnten. Zu dieser Überzeugung trugen seine Eitelkeit und jener hohe Grad von Selbstbewußtsein viel bei, den man am treffendsten als ein »Verliebtsein in sich selbst« bezeichnen kann. Pjotr Petrowitsch, der sich aus sehr niedriger Lebenslage hinaufgearbeitet hatte, hatte sich eine übermäßige Bewunderung seiner eigenen Person angewöhnt; er hegte eine sehr hohe Meinung von seinem Verstande und seinen Fähigkeiten und liebäugelte sogar manchmal, wenn er allein war, im Spiegel mit seinem Gesicht. Mehr aber als alles andre in der Welt liebte und schätzte er sein Geld, das er sich durch Arbeit und mancherlei andre Mittel erworben hatte; denn dieses Geld stellte ihn, wie er meinte, mit allen, die ihn geistig überragten, doch wieder auf gleiche Stufe.

Als er jetzt Dunja mit Bitterkeit daran erinnert hatte, daß er trotz des üblen Geredes über sie gewillt gewesen sei, sie zu heiraten, hatte Pjotr Petrowitsch vollkommen seiner Überzeugung gemäß gesprochen; er empfand sogar eine tiefe Entrüstung über einen solchen schwarzen Undank, wie er es bei sich nannte. Und doch war er schon damals, als er um Dunja anhielt, von der Sinnlosigkeit aller dieser Klatschereien völlig überzeugt gewesen; sie waren ja auch von Marfa Petrowna selbst in aller Öffentlichkeit als unwahr erklärt worden und wurden längst von niemand in der Stadt mehr aufrechterhalten, wo man vielmehr nun eifrig für Dunja Partei nahm. Auch hätte er selbst jetzt nicht in Abrede gestellt, daß er das alles schon damals gewußt hatte. Aber trotzdem rechnete er sich seinen Entschluß, Dunja zu sich heraufzuheben, hoch an und hielt ihn für eine große, edle Tat. Indem er dies soeben Dunja gegenüber ausgesprochen hatte, hatte er einen geheimen, gern gehegten Gedanken geäußert, an dem er selbst schon mehr als einmal seine Freude gehabt hatte, und er fand es unbegreiflich, daß andre seiner edlen Tat ihre Bewunderung versagten. Als er damals Raskolnikow seinen Besuch machte, war er mit dem Gefühle eines Wohltäters eingetreten, der sich anschickt, die Früchte seines Edelmutes zu ernten und süß mundende Lobeserhebungen zu hören. Und als er jetzt die Treppe hinunterstieg, hielt er sich natürlich für tief beleidigt und verkannt.

Dunja war ihm geradezu unentbehrlich; daß er auf sie verzichten sollte, war ihm ganz undenkbar. Schon lange, schon seit mehreren Jahren hatte er mit wonnigem Behagen von seiner künftigen Heirat geträumt, hatte aber immer noch mehr Geld dazugespart und gewartet. Mit Entzücken hatte er sich im geheimsten Winkel seines Innern das Bild eines Mädchens ausgemalt: wohlgesittet sollte sie sein und arm (arm unter allen Umständen), noch sehr jung, sehr hübsch, von guter Herkunft, gebildet, sehr schüchtern; sie müßte bereits sehr viel Not und Elend durchgemacht haben, sich völlig an ihn schmiegen, ihn ihr ganzes Leben lang als ihren Retter betrachten, voll Ehrfurcht zu ihm aufschauen, sich ihm unterordnen und ihn, einzig und allein ihn, bewundern. Wieviel hübsche Szenen, wieviel wonnige Idylle hatte ihm nicht über dieses interessante, lockende Thema seine Phantasie vor Augen geführt, wenn er sich in der Stille von seinen Geschäften erholte! Und siehe da, der Traum so vieler Jahre hatte sich beinahe schon verwirklicht: Awdotja Romanownas Schönheit und Bildung hatten ihn unbehaglichen Empfindung erinnerte er sich unwillkürlich auch an Rasumichin, … indessen in dieser Hinsicht beruhigte er sich bald wieder: das wäre ja noch besser, wenn auch der mit ihm auf gleiche Stufe gestellt würde! Vor wem er sich aber wirklich im Ernste fürchtete, das war Swidrigailow … Kurz, es standen ihm mancherlei unangenehme Dinge, viele Scherereien bevor …


»Nein, ich bin am meisten schuld!« sagte Dunjetschka und umarmte und küßte ihre Mutter. »Ich habe mich von seinem Gelde verlocken lassen; aber ich schwöre dir, Bruder, ich habe keine Ahnung davon gehabt, daß er ein so unwürdiger Mensch ist. Hätte ich ihn früher durchschaut, so hätte ich mich durch nichts verlocken lassen! Urteile nicht zu streng über mich, Bruder!«

»Gott hat uns gerettet! Gott hat uns gerettet!« murmelte Pulcheria Alexandrowna; aber sie war noch ganz benommen und schien sich über alles Vorgefallene noch nicht recht klargeworden zu sein.

Alle freuten sich, und fünf Minuten darauf lachten sie sogar. Nur wurde Dunja mitunter blaß und zog die Brauen zusammen, wenn sie sich des Geschehenen erinnerte. Pulcheria Alexandrowna hätte vorher nie gedacht, daß auch sie selbst sich darüber freuen würde: noch am Vormittag war ihr ein Bruch mit Lushin als ein furchtbares Unglück erschienen. Rasumichin aber war geradezu entzückt. Er wagte noch nicht, seine Glückseligkeit in vollem Umfange zu zeigen; aber er zitterte am ganzen Leibe wie im Fieber, als wäre ihm ein zentnerschwerer Stein vom Herzen gefallen. Jetzt hatte er, seiner Anschauung nach, das Recht, ihnen sein ganzes Leben zu weihen, ihnen zu dienen … Und was konnte sich jetzt nicht sonst noch alles begeben! Jedoch verscheuchte er ängstlich alle weitergehenden Gedanken und fürchtete sich vor seiner eigenen Phantasie. Nur Raskolnikow saß immer noch auf demselben Platze, mit beinahe düsterem und sogar zerstreutem Gesichtsausdrucke. Er, der am allermeisten auf Lushins Entfernung bestanden hatte, schien sich jetzt weniger als alle andern für das Vorgefallene zu interessieren. Dunja kam unwillkürlich auf den Gedanken, daß er ihr vielleicht immer noch sehr böse sei, und Pulcheria Alexandrowna betrachtete ihn mit heimlicher Angst.

»Was hat dir denn Swidrigailow gesagt?« fragte Dunja, zu ihm tretend.

»Ach ja, ja!« rief Pulcheria Alexandrowna.

Raskolnikow hob den Kopf.

»Er will dir durchaus zehntausend Rubel schenken und spricht dabei den Wunsch aus, mit dir einmal in meiner Gegenwart zusammenzukommen.«

»Mit ihr zusammenzukommen! Um keinen Preis!« rief Pulcheria Alexandrowna. »Und wie kann er es wagen, ihr Geld anzubieten!«

Darauf berichtete Raskolnikow in recht trockener Art über sein Gespräch mit Swidrigailow, erwähnte aber nichts davon, daß Marfa Petrowna diesem als Geist erschienen sei, um nicht in ein unnötiges Gesprächsthema hineinzugeraten; denn er empfand einen Widerwillen dagegen, irgendein Gespräch zu führen, das nicht durchaus notwendig war.

»Was hast du ihm geantwortet?« fragte Dunja.

»Zuerst habe ich gesagt, ich würde dir nichts davon mitteilen. Darauf erklärte er, dann würde er selbst mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln eine Begegnung mit dir herbeizuführen suchen. Er versicherte, daß seine Leidenschaft für dich eine Verrücktheit gewesen sei und daß er jetzt nichts mehr für dich empfinde … Er will nicht, daß du Lushin heiratest … Er sprach überhaupt verworren und unklar.«

»Wie erklärst du dir selbst sein Verhalten, Rodja? Was hat er auf dich für einen Eindruck gemacht?«

»Ich muß gestehen, ich sehe da noch nicht klar. Er bietet dir zehntausend Rubel an und sagt selbst, daß er nicht reich sei. Er erklärt, er wolle eine größere Reise antreten, und nach zehn Minuten hat er bereits vergessen, daß er davon gesprochen hat. Dann wieder sagt er auf einmal, er wolle sich verheiraten und lasse bereits um ein junges Mädchen werben. Jedenfalls verfolgt er eine bestimmte Absicht, und aller Wahrscheinlichkeit nach eine schlechte. Aber andrerseits ist schwer anzunehmen, daß er die Sache so dumm angreifen würde, wenn er gegen dich Schlechtes im Schilde führte … Ich habe natürlich dieses Geld in deinem Namen ein für allemal abgelehnt. Überhaupt machte er mir einen sehr sonderbaren Eindruck, und … ich glaubte sogar … Anzeichen von Verrücktheit bei ihm wahrzunehmen. Möglich aber auch, daß ich mich geirrt habe; vielleicht liegt hier einfach ein absonderlicher Überlistungsversuch vor. Der Tod seiner Frau hat, wie es scheint, auf ihn Eindruck gemacht …«

»Gott schenke ihrer Seele die ewige Ruhe!« rief Pulcheria Alexandrowna. »Mein lebelang will ich für sie zu Gott beten! Was würde jetzt aus uns werden, Dunja, ohne diese dreitausend Rubel! O Gott, die sind ja wie vom Himmel gefallen! Ach, Rodja, wir hatten ja heute früh nur noch drei Rubel im Vermögen, und Dunja und ich überlegten nur noch, wie wir irgendwo die Uhr möglichst schnell versetzen könnten, um nur nicht diesen Menschen bitten zu müssen, ehe es ihm nicht selbst in den Sinn käme, uns etwas anzubieten.«

Dem jungen Mädchen war Swidrigailows Anerbieten gar zu überraschend gekommen; sie stand noch immer in Gedanken versunken.

»Er hat irgend etwas Schreckliches vor!« sprach sie fast flüsternd vor sich hin und schauderte zusammen.

Raskolnikow bemerkte diese gewaltige Furcht.

»Ich glaube, ich werde ihn noch manchmal zu sehen bekommen«, sagte er zu Dunja.

»Wir wollen ihn beobachten! Ich werde schon hinter ihm her sein!« rief Rasumichin energisch. »Nicht aus den Augen lasse ich den Menschen! Rodja hat es mir erlaubt. Er hat selbst zu mir gesagt: ›Beschütze meine Schwester!‹ Und wollen auch Sie es mir erlauben, Awdotja Romanowna?«

Dunja lächelte und reichte ihm die Hand; aber ihr Gesicht verlor nicht den sorgenvollen Ausdruck. Pulcheria Alexandrowna blickte sie schüchtern an, fühlte sich indes durch die dreitausend Rubel offenbar nicht wenig beruhigt.

Eine Viertelstunde darauf befanden sie sich alle im lebhaftesten Gespräche. Sogar Raskolnikow, obgleich er selbst nicht sprach, hörte eine Zeitlang aufmerksam zu. Rasumichin redete unermüdlich.

»Und warum, warum sollten Sie von hier wieder wegziehen?« rief er entzückt und begeistert aus. »Was können Sie denn in dem kleinen Neste dort anfangen? Und die Hauptsache ist doch: hier sind Sie alle beieinander; und Sie haben einander nötig, sehr nötig, verstehen Sie mich! Na, versuchen Sie es hier wenigstens eine Zeitlang … Und mich nehmen Sie als Freund, als Kompagnon an, und ich versichere Ihnen, das Unternehmen, das wir gründen wollen, wird famos prosperieren. Hören Sie nur zu, ich will Ihnen alles im einzelnen auseinandersetzen, das ganze Projekt! Schon heute früh, als noch nichts passiert war, fuhr mir der Gedanke durch den Kopf … Also die Sache ist die: Ich habe einen Onkel (ich werde Sie mit ihm bekannt machen; ein sehr vernünftiger, achtungswerter alter Herr), und dieser Onkel besitzt ein Kapital von tausend Rubel; aber er selbst lebt von seiner Pension und braucht weiter nichts. Schon seit mehr als einem Jahre setzt er mir mit Bitten zu, ich möchte diese tausend Rubel von ihm annehmen und sie ihm mit sechs Prozent verzinsen. Ich durchschaue ja seine Schliche: er will mich einfach unterstützen. Im vorigen Jahre brauchte ich nicht notwendig Geld; aber in diesem Jahre habe ich nur auf seine Ankunft gewartet und bin entschlossen, das Geld anzunehmen. Dann geben Sie von Ihren dreitausend noch tausend dazu; das reicht für den ersten Anfang; wir assoziieren uns. Aber nun: von welcher Art wird das Unternehmen sein?«

Nun begann Rasumichin sein Projekt darzulegen und redete ein langes und breites darüber, daß fast alle unsre Buchhändler und Verleger kein rechtes Verständnis für Bücher hätten und daher auch gewöhnlich beim Verlegen schlechte Geschäfte machten, daß aber wirklich gute Verlagsartikel sich immer rentierten und Gewinn abwürfen, manchmal sogar recht bedeutenden. Die Verlagstätigkeit, das war das Ideal Rasumichins, der schon zwei Jahre lang für andre gearbeitet hatte und drei europäische Sprachen ganz gut kannte, obgleich er vor sechs Tagen zu Raskolnikow gesagt hatte, er sei im Deutschen schwach. Aber das hatte er damals eben nur gesagt, um ihn dazu zu bewegen, die Hälfte der Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen; er hatte damals gelogen, und Raskolnikow hatte gewußt, daß er log.

»Warum sollen wir uns denn unsern Vorteil entgehen lassen, wenn uns plötzlich das wichtigste Hilfsmittel zugefallen ist: eigenes Anlagekapital?« sagte Rasumichin in hellem Eifer. »Natürlich wird es genug Arbeit kosten; aber arbeiten wollen wir schon, Sie, Awdotja Romanowna, und ich, und Rodja … Manche Bücher werfen jetzt einen vorzüglichen Profit ab! Und die beste Garantie für das Gedeihen unseres Unternehmens liegt darin, daß wir immer wissen werden, was gerade übersetzt werden muß. Wir wollen übersetzen und verlegen und studieren, alles zugleich. Ich kann mich dabei nützlich machen, weil ich bereits Erfahrung besitze. Es sind jetzt fast schon zwei Jahre, daß ich mit Verlegern zu schaffen habe, und ich kenne alle ihre Kniffe und Pfiffe; eine Hexerei ist es nicht, das können Sie mir glauben! Warum sollen wir denn nicht zuschnappen, wenn sich uns ein fetter Bissen darbietet! Ich kenne selbst zwei, drei außerordentlich geeignete Bücher; das ist ein Geheimnis, das ich sorgsam bewahre. Die bloße Idee, sie zu übersetzen und zu verlegen, ist hundert Rubel pro Buch wert, und bei dem einen von ihnen verkaufe ich die Idee nicht für fünfhundert Rubel. Und was meinen Sie wohl: wenn ich meine Idee einem Verleger mitteilte, würde er am Ende noch seine Bedenken haben, so ein Esel! Und was die eigentlichen Geschäftssachen anlangt, also Druck, Papier, Verkauf, so übertragen Sie das nur mir! Ich kenne alle Schliche. Wir wollen klein anfangen und uns in die Höhe bringen; wenigstens werden wir unsern Unterhalt davon haben und jedenfalls das hineingesteckte Geld wieder herausbekommen.«

Dunjas Augen glänzten.

»Was Sie uns da vortragen, gefällt mir sehr, Dmitrij Prokofjitsch«, sagte sie.

»Ich verstehe natürlich nichts davon«, bemerkte Pulcheria Alexandrowna. »Es kann ja sein, daß es ganz gut ist; aber Gott mag’s wissen. Es ist alles so neuartig und fremd. Natürlich müssen wir hierbleiben, mindestens für die nächste Zeit …«

Sie blickte Rodja an.

»Wie denkst du darüber, Bruder?« fragte Dunja.

»Ich denke, daß es eine sehr gute Idee von ihm ist«, antwortete er. »An eine wirkliche Verlagsfirma darf man selbstverständlich vorläufig nicht denken; aber so fünf oder sechs Bücher wird man in der Tat mit unzweifelhaftem Erfolge verlegen können. Ich kenne auch selbst ein Werk, das mit Sicherheit gut gehen wird. Und was seine Fähigkeit, die Sache durchzuführen, anlangt, so kann daran kein Zweifel sein; er versteht die Sache … Aber ihr werdet ja noch Zeit haben, alles miteinander zu besprechen …«

»Hurra!« rief Rasumichin. »Nun passen Sie einmal auf: hier in diesem Hause ist eine Wohnung zu haben, bei denselben Wirtsleuten. Sie liegt ganz für sich, abgesondert, und steht mit diesem Hotel garni nicht in Verbindung; sie ist möbliert, der Preis ist mäßig, es sind drei Stübchen. Also die sollten Sie fürs erste mieten. Die Uhr werde ich morgen für Sie versetzen und Ihnen das Geld bringen, und dann wird alles in Ordnung kommen. Und die Hauptsache ist, daß Sie alle drei zusammen wohnen können; denn auch Rodja kann bei Ihnen wohnen. Wo willst du denn hin, Rodja?«

»Wie, Rodja, du willst schon fortgehen?« fragte Pulcheria Alexandrowna ganz erschrocken.

»In einem solchen Augenblick?« rief Rasumichin.

Dunja blickte ihren Bruder mit mißtrauischer Verwunderung an. Er hielt die Mütze in der Hand und schickte sich an wegzugehen.

»Na aber, ihr tut ja gerade, als ob ihr mich begraben wolltet oder für immer von mir Abschied nähmet!« sagte er in seltsamem Tone. Es sah aus, als ob er lächelte; aber ein wirkliches Lächeln war es nicht. »Allerdings, wer weiß, vielleicht ist es auch das letzte Mal, daß wir uns sehen«, fügte er unvermutet hinzu.

Er hatte das eigentlich nur denken wollen; aber wie von selbst waren es vernehmliche Worte geworden.

»Aber was ist denn mit dir?« rief die Mutter.

»Wohin gehst du, Rodja?« fragte Dunja auffallend ernst.

»Ich habe nichts Besonderes vor, einen notwendigen Weg«, antwortete er unklar und unbestimmt, als sei er unsicher, was er sagen solle; aber sein blasses Gesicht trug den Ausdruck fester Entschlossenheit.

»Ich nahm mir vor, … als ich hierherging, … ich nahm mir vor, Ihnen, Mama, … und dir, Dunja, zu sagen, daß es wohl das beste ist, wenn wir uns eine Zeitlang trennen. Ich fühle mich nicht wohl, ich habe eine solche Unruhe, … ich komme später wieder zu euch, ich komme ganz von selbst wieder, sobald … es möglich ist. Ich werde an euch denken und euch liebbehalten … Aber laßt mich jetzt, laßt mich allein! Ich habe diesen Entschluß gefaßt, … schon früher … Ich habe mich fest dazu entschlossen … Was auch mit mir geschehen möge, ob ich nun zugrunde gehe oder nicht, jedenfalls will ich allein sein. Vergeßt mich völlig; das ist das beste … Erkundigt euch nicht nach mir. Sobald es nötig ist, komme ich selbst wieder, oder … ich rufe euch zu mir. Vielleicht wird noch alles gut! … Aber jetzt, wenn ihr mich liebt, trennt euch von mir … Sonst fange ich an, euch zu hassen; das fühle ich … Lebt wohl!«

»O Gott, o Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.

Mutter und Schwester waren beide aufs tiefste erschrocken; nicht minder Rasumichin.

»Rodja, Rodja! Sei doch wieder gut zu uns; laß uns doch miteinander so weiterleben, wie wir es immer getan haben!« rief die arme Mutter.

Langsam wandte er sich um und ging langsam zur Tür, um das Zimmer zu verlassen. Dunja eilte ihm nach.

»Bruder! Was tust du unsrer Mutter an!« flüsterte sie; in ihren Augen funkelte die Entrüstung.

Er schaute sie düster an.

»Ihr braucht euch nicht zu beunruhigen; ich komme wieder; ich werde manchmal kommen!« murmelte er halblaut, als wäre er sich selbst nicht recht bewußt, was er eigentlich sagen wollte, und ging aus dem Zimmer.

»Ein böser, gefühlloser Egoist!« rief Dunja.

»Verrückt ist er, nicht gefühllos! Er ist geisteskrank! Sehen Sie denn das nicht? Sonst wären Sie ja selbst gefühllos! …« flüsterte Rasumichin ihr in größter Erregung ins Ohr und drückte ihr kräftig die Hand.

»Ich komme gleich wieder!« rief er Pulcheria Alexandrowna zu, die vor Schreck wie gelähmt war, und stürzte aus dem Zimmer.

Raskolnikow wartete draußen, am Ende des Korridors, auf ihn.

»Ich hatte es mir gedacht, daß du noch zu mir herauskommen würdest«, sagte er. »Geh wieder zu ihnen zurück und bleib bei ihnen … Bleib auch morgen bei ihnen … und immer. Ich … komme vielleicht wieder, … wenn ich kann. Leb wohl!«

Und ohne ihm die Hand zu reichen, wandte er sich zum Gehen.

»Aber wo willst du denn hin? Was hast du nur? Was ist mit dir los? Wie ist so was nur möglich!« murmelte Rasumichin ganz fassungslos.

Raskolnikow blieb noch einmal stehen.

»Ein für allemal: frage mich nie und nach nichts. Ich kann dir keine Antwort geben … Komm nicht zu mir. Vielleicht komme ich wieder hierher … Verlaß mich, … aber die beiden da verlaß nicht! Verstehst du mich?«

Im Korridor war es dunkel; aber sie standen bei einer Lampe. Eine Minute lang blickten sie einander schweigend an. Sein ganzes Leben lang erinnerte sich Rasumichin dieser Minute. Raskolnikows brennender, starrer Blick schien jeden Augenblick schärfer zu werden und bohrte sich ihm in Herz und Hirn. Auf einmal zuckte Rasumichin zusammen. Es war, als sei etwas Seltsames zwischen ihnen beiden hindurchgegangen, hindurchgeschlüpft, … ein Gedanke, eine Art Ahnung, etwas Furchtbares, Ungeheuerliches, was beiden auf einmal zum Bewußtsein kam … Rasumichin wurde leichenblaß.

»Verstehst du mich jetzt?« sagte Raskolnikow mit krampfhaft verzogenem Gesichte. »Kehre zurück, geh zu ihnen«, fügte er hinzu, wendete sich schnell um und ging aus dem Hause.

Es ist nicht meine Absicht, zu schildern, was an diesem Abend bei Pulcheria Alexandrowna vorging: wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie beruhigte, wie er auseinandersetzte, man müsse Rodja, solange er krank sei, Ruhe gönnen, wie er beteuerte, Rodja werde jedenfalls wiederkommen, jeden Tag kommen: seine Nerven seien furchtbar angegriffen, und man dürfe ihn nicht reizen; er, Rasumichin, werde ihn nicht aus den Augen lassen; er werde ihm einen guten Arzt beschaffen, den besten, den es gebe, ein ganzes Konsilium … Kurz, Rasumichin wurde ihnen an diesem Abend Sohn und Bruder.

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Kapitel 22

II

Es war schon fast acht Uhr; beide machten sich eilig nach dem Bakalejewschen Hotel garni auf, um noch vor Lushin dort einzutreffen.

»Nun, wer war denn das?« fragte Rasumichin, als sie auf die Straße traten.

»Das war Swidrigailow, eben jener Gutsbesitzer, in dessen Hause meine Schwester Gouvernante war und schwer gekränkt wurde. Infolge der Liebesanträge, mit denen er ihr zusetzte, verließ sie ihre Stellung; sie wurde nämlich von seiner Frau, Marfa Petrowna, aus dem Hause gejagt. Diese Marfa Petrowna hat dann später den wahren Sachverhalt erfahren und Dunja um Verzeihung gebeten; jetzt ist sie ganz plötzlich gestorben. Meine Mutter und meine Schwester sprachen heute morgen von ihr. Ich weiß nicht recht, warum, aber ich fürchte mich sehr vor diesem Menschen. Gleich nach der Beerdigung seiner Frau ist er hierhergereist. Er hat ein ganz sonderbares Wesen und verfolgt energisch irgendein bestimmtes Ziel … Es macht den Eindruck, als wüßte er irgend etwas … Dunja muß vor ihm beschützt werden, … das wollte ich auch dir sagen, hörst du?«

»Beschützen! Was kann er ihr denn tun? Na, aber ich danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst … Wir wollen sie schon beschützen; das wollen wir!… Wo wohnt er denn?«

»Das weiß ich nicht.«

»Warum hast du ihn nicht gefragt? Schade! Aber das werde ich bald herausbekommen!«

»Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikow nach einem kurzen Schweigen.

»Jawohl, ich habe ihn mir gemerkt, ordentlich gemerkt.«

»Hast du ihn auch genau gesehen, deutlich gesehen?« fragte Raskolnikow nochmals.

»Aber ja! Ich habe ihn ganz deutlich in der Erinnerung; aus tausend Menschen will ich ihn herauserkennen; ich habe für Physiognomien ein gutes Gedächtnis.«

Wieder schwiegen sie ein Weilchen.

»Hm! … Na ja …«, murmelte Raskolnikow. »Sonst, weißt du, … ich dachte schon, … es scheint mir immer, … daß das vielleicht nur eine Sinnestäuschung von mir ist.«

»Was willst du damit sagen? Ich verstehe dich nicht recht.«

»Ihr sagt doch alle«, fuhr Raskolnikow fort und verzog den Mund zu einem Lächeln, »ich wäre verrückt; jetzt eben hatte ich nun auch die Empfindung, daß ich vielleicht wirklich verrückt wäre und nur eine Vision gehabt hätte.«

»Aber was redest du da?«

»Ja, wer weiß? Vielleicht bin ich tatsächlich verrückt, und alle Ereignisse dieser letzten Tage haben sich nur in meiner Einbildung zugetragen …«

»Ach, Rodja! Das Gespräch mit dem Menschen hat dich wieder aufgeregt! … Was hat er denn gesagt? Warum ist er zu dir gekommen?«

Raskolnikow antwortete nicht; Rasumichin überlegte eine Minute lang; dann begann er:

»Nun, dann höre mal meinen Bericht an. Ich bin schon einmal bei dir gewesen, aber da schliefst du. Darauf aßen wir zu Mittag, und dann ging ich zu Porfirij. Sametow war immer noch bei ihm. Ich wollte ein Gespräch über die Sache anfangen, aber es gelang mir nicht recht; ich konnte es immer nicht in der richtigen Weise in Gang bringen. Es sah aus, als ob sie mich nicht verständen und nicht verstehen könnten, aber gar nicht verlegen wären. Ich nahm mir Porfirij beiseite ans Fenster und fing an zu sprechen; aber ich weiß nicht, es wurde wieder nichts Rechtes: er sah zur Seite, und ich sah zur Seite. Schließlich hielt ich ihm die Faust vors Gesicht und sagte, ich würde ihn zermalmen, so in verwandtschaftlicher Weise. Aber er sah mich bloß an. Ich spuckte aus und ging weg, und damit war die Sache zu Ende. Dumm, sehr dumm! Mit Sametow habe ich kein Wort gesprochen. Aber nun sieh mal: ich dachte zuerst, ich hätte die Sache noch mehr verdorben; aber als ich die Treppe hinunterstieg, kam mir ein Gedanke oder vielmehr eine Art Erleuchtung: warum machen wir beide, du und ich, uns eigentlich soviel Sorge und Mühe? Ja, wenn für dich eine Gefahr bestände, na, dann natürlich! Aber was geht es dich an? Du hast ja mit der Geschichte nichts zu tun, also scher dich nicht um die Kerle! Wir werden nachher noch weidlich über sie lachen, und ich würde sie an deiner Stelle noch absichtlich irreführen. Wie sie sich nachher schämen werden! Scher dich nicht um sie; nachher können wir sie auch durchprügeln, aber jetzt wollen wir über sie lachen!«

»Gewiß, selbstverständlich!« antwortete Raskolnikow.

›Aber was wirst du morgen sagen?‹ dachte er bei sich. Sonderbarerweise war ihm bisher noch nie der Gedanke gekommen: ›Was wird Rasumichin dazu sagen, wenn er es erfährt?‹ Bei diesem Gedanken blickte Raskolnikow ihn prüfend an. Für Rasumichins jetzigen Bericht über seinen Besuch bei Porfirij interessierte er sich nur sehr wenig: so vieles war in der Zwischenzeit in den Hintergrund getreten, und anderes hatte an Wichtigkeit gewonnen! …

Im Korridor trafen sie mit Lushin zusammen: er war pünktlich um acht Uhr gekommen und suchte nun die Zimmernummer, so daß sie alle drei gleichzeitig eintraten, aber ohne einander anzusehen und zu begrüßen. Die beiden jungen Männer gingen voran; Pjotr Petrowitsch dagegen, der immer den Anstand wahrte, verweilte noch einen Augenblick im Vorzimmer und legte dort seinen Überzieher ab. Pulcheria Alexandrowna ging sogleich hinaus, um ihn an der Schwelle zu empfangen. Dunja begrüßte ihren Bruder.

Pjotr Petrowitsch trat ein und verbeugte sich vor den Damen sehr artig, aber mit ganz besonders gemessenem Wesen. Es machte den Eindruck, als ob er einigermaßen überrascht wäre und sich noch nicht gefaßt hätte. Pulcheria Alexandrowna, die gleichfalls verlegen schien, forderte eilfertig alle auf, an dem runden Tische, auf dem der Samowar summte, Platz zu nehmen. Dunja und Lushin setzten sich einander gegenüber; Rasumichin und Raskolnikow kamen Pulcheria Alexandrowna gegenüber zu sitzen, und zwar Rasumichin näher an Lushin, Raskolnikow neben seiner Schwester.

Einen Augenblick schwiegen alle. Pjotr Petrowitsch zog langsam sein batistenes, parfümiertes Taschentuch heraus und benutzte es mit der Miene eines edlen, tugendhaften Menschen, der sich in seiner Würde etwas gekränkt fühlt und fest entschlossen ist, eine Erklärung zu verlangen. Als er noch im Vorzimmer war, war ihm der Gedanke gekommen, ob es nicht das beste sei, den Überzieher gar nicht auszuziehen, sondern wieder fortzugehen und dadurch die beiden Damen in strenger, nachdrücklicher Weise zu bestrafen, damit sie gleich mit einem Male seinen ganzen Unwillen zu fühlen bekämen. Aber er hatte sich doch nicht dazu entschließen können. Außerdem war er kein Freund unklarer Situationen, und hier mußte etwas klargestellt werden: wenn sein Befehl so offenkundig mißachtet worden war, so steckte gewiß etwas Besonderes dahinter; mithin war es das beste, dies zunächst in Erfahrung zu bringen; zur Bestrafung würde immer noch Zeit sein; das hatte er ja in der Hand.

»Ich hoffe, Ihre Reise ist glücklich vonstatten gegangen?« wandte er sich in förmlichem Tone an Pulcheria Alexandrowna.

»Ja, Gott sei Dank, Pjotr Petrowitsch.«

»Das freut mich sehr. Und Sie sind auch nicht zu sehr davon angegriffen, Awdotja Romanowna?«

»Ich bin jung und kräftig; mich greift so etwas nicht an; aber meiner Mama ist es recht schwer geworden«, antwortete Dunja.

»Was ist da zu machen? Die Entfernungen bei uns zulande sind eben gar zu groß. Groß ist unser sogenanntes Mütterchen Rußland. Ich konnte es beim besten Willen gestern leider nicht ermöglichen, Sie auf dem Bahnhofe zu empfangen. Ich hoffe indes, daß sich alles ohne besondre Schwierigkeiten erledigt hat?«

»Ach nein, Pjotr Petrowitsch, wir waren sehr mutlos«, beeilte sich Pulcheria Alexandrowna mit besondrer Betonung zu erwidern, »und wenn uns nicht Gott selbst, möchte ich meinen, in Dmitrij Prokofjitsch einen Helfer gesandt hätte, so wären wir ganz verloren gewesen. Hier: Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin«, stellte sie ihn Herrn Lushin vor.

»Jawohl, ich hatte bereits das Vergnügen, … schon gestern«, murmelte Lushin, indem er jenem einen schrägen, feindseligen Blick zuwarf; dann machte er ein finsteres Gesicht und schwieg.

Überhaupt gehörte Pjotr Petrowitsch allem Anscheine nach zu den Leuten, die sich in Gesellschaft äußerst liebenswürdig benehmen und auch als sehr liebenswürdig anerkannt zu werden beanspruchen, die aber, sobald nur etwas nicht nach ihrem Wunsche ist, sogleich alle ihre gesellschaftlichen Fähigkeiten verlieren und dann eher Mehlsäcken gleichen als gewandten Kavalieren, die eine Gesellschaft zu beleben verstehen. Alle waren wieder stumm: Raskolnikow schwieg hartnäckig; auch Dunja wollte nicht vor der Zeit das Schweigen brechen; Rasumichin hatte keinen Anlaß zu sprechen; so wurde denn Pulcheria Alexandrowna wieder unruhig.

»Marfa Petrowna ist gestorben; haben Sie davon gehört?« begann sie, indem sie wieder zu ihrem besten Gesprächsthema ihre Zuflucht nahm.

»Gewiß habe ich es erfahren. Ich wurde sofort davon benachrichtigt und bin sogar jetzt hierhergekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow unmittelbar nach der Beerdigung seiner Gemahlin eiligst nach Petersburg gereist ist. Wenigstens besagen das die sehr genauen Nachrichten, die ich erhalten habe.«

»Nach Petersburg? Hierher?« fragte Dunja beunruhigt und wechselte einen Blick mit ihrer Mutter.

»Ganz richtig, und selbstverständlich nicht ohne besondre Absichten, wie man sich das leicht denken kann, wenn man die Eilfertigkeit seiner Abreise und überhaupt die vorangegangenen Umstände in Erwägung zieht.«

»Mein Gott! Will er denn Dunjetschka nicht einmal hier in Ruhe lassen?« rief Pulcheria Alexandrowna.

»Mir scheint, zu besondrer Beunruhigung ist kein Anlaß, weder für Sie noch für Awdotja Romanowna, vorausgesetzt natürlich, daß Sie nicht selbst mit ihm in irgendwelche Beziehungen zu treten wünschen. Was mich anbetrifft, so werde ich ihn beobachten und jetzt zunächst ausfindig zu machen suchen, wo er Quartier genommen hat.«

»Ach, Pjotr Petrowitsch, Sie glauben gar nicht, wie Sie mich durch diese Nachricht erschreckt haben!« fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen, und er erschien mir entsetzlich, geradezu entsetzlich! Ich bin überzeugt, daß er die Schuld an dem Tode der seligen Marfa Petrowna trägt.«

»Zu einem abschließenden Urteile kann man darüber nicht kommen, obwohl ich recht genaue Nachrichten habe. Ich bestreite nicht, daß er vielleicht den Gang der Dinge durch die sozusagen seelische Wirkung der Beleidigung beschleunigt hat; was aber das Betragen dieses Mannes und überhaupt seinen sittlichen Charakter betrifft, so stimme ich Ihnen durchaus bei. Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und wieviel ihm Marfa Petrowna eigentlich hinterlassen hat; darüber werde ich in kürzester Frist orientiert sein; aber wenn er nur einigermaßen über Geldmittel verfügt, so wird er sicher hier in Petersburg sofort wieder sein altes Leben anfangen. Er ist das verkommenste, lasterhafteste Subjekt unter dieser ganzen Menschenklasse! Ich habe schwerwiegende Gründe zu der Annahme, daß Marfa Petrowna, die vor acht Jahren das Unglück hatte, sich heftig in ihn zu verlieben, und ihn vom Schuldgefängnis loskaufte, ihm auch in andrer Hinsicht einen großen Dienst geleistet hat: es wurde nämlich einzig und allein infolge ihrer Bemühungen und der von ihr gebrachten Opfer ein Kriminalprozeß in seinen ersten Anfängen unterdrückt, bei welchem es sich um einen bestialischen und sozusagen exzentrischen Mord handelte, für den er recht wohl hätte nach Sibirien spazieren können. So ein Mensch ist das, wenn es Sie interessiert.«

»Ach Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna.

Raskolnikow hatte aufmerksam zugehört.

»Ist das auch wahr, daß Sie darüber zuverlässige Nachrichten haben?« fragte Dunja streng und nachdrücklich.

»Ich erzähle nur wieder, was ich selbst unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der verstorbenen Marfa Petrowna gehört habe. Ich muß bemerken, daß diese Sache vom juristischen Standpunkte aus recht dunkel ist. Hier lebte und lebt auch wohl noch eine gewisse Frau Rößlich, eine Ausländerin, die in kleinem Maßstabe Wuchergeschäfte macht und sich auch mit andern Sachen befaßt. Mit dieser Frau Rößlich stand Herr Swidrigailow seit langer Zeit in sehr nahen, geheimnisvollen Beziehungen. Bei ihr wohnte eine entfernte Verwandte, wenn ich mich recht besinne, eine Nichte, ein taubstummes Mädchen von fünfzehn oder auch nur vierzehn Jahren, auf die diese Frau Rößlich einen grenzenlosen Haß hatte; sie gönnte ihr keinen Bissen Brot und schlug sie sogar in unmenschlicher Weise. Eines Tages fand man dieses Mädchen auf dem Boden erhängt. Nach Ansicht der Gerichtskommission lag Selbstmord vor, und man hielt nach Erledigung der üblichen Formalitäten die Sache für abgetan. Aber später tauchte eine Denunziation auf, das Kind sei von Swidrigailow in grausamer Weise … entehrt worden. Allerdings war das alles sehr dunkel; die Denunziation rührte von einer andern Deutschen her, einem übel beleumundeten, wenig glaubwürdigen Frauenzimmer. Schließlich stellte sich dank den Bemühungen und Geldopfern Marfa Petrownas heraus, daß in Wirklichkeit gar keine Denunziation vorlag; es beschränkte sich alles auf ein Gerücht. Aber freilich war dieses Gerücht recht vielsagend. Sie, Awdotja Romanowna, haben gewiß in dem Swidrigailowschen Hause auch von der Geschichte mit dem Diener Filipp gehört, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, infolge der erlittenen Mißhandlungen starb.«

»Ich habe im Gegenteil gehört, daß dieser Filipp sich selbst erhängt hat.«

»Ganz richtig; aber gezwungen oder, richtiger gesagt, veranlaßt wurde er zum Selbstmord durch die unaufhörlichen, systematischen Verfolgungen und Bestrafungen seitens dieses Herrn Swidrigailow.«

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte Dunja trocken; »ich habe nur eine sehr sonderbare Geschichte gehört: dieser Filipp wäre eine Art Hypochonder, so ein Dorfphilosoph gewesen; er hätte nach der Ansicht der Leute zuviel gelesen und hätte sich eher infolge der Spöttereien des Herrn Swidrigailow als infolge von erhaltenen Schlägen erhängt. Während meiner Anwesenheit auf dem Gute behandelte er seine Leute gut, und die Leute hatten ihn sogar recht gern, obgleich sie ihm tatsächlich die Schuld an Filipps Tode beimaßen.«

»Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie auf einmal die Neigung bekommen haben, ihn zu verteidigen«, bemerkte Lushin und verzog den Mund zu einem zweideutigen Lächeln. »In der Tat, er ist ein schlauer Mann und hat für Damen etwas Verführerisches; dafür dient Marfe Petrowna, die auf so merkwürdige Weise gestorben ist, als betrübliches Beispiel. Ich wollte nur Ihnen und Ihrer Frau Mutter im Hinblick auf die neuen Anschläge, die von seiner Seite zweifellos bevorstehen, mit meinem Rate dienen. Ich für meine Person bin fest überzeugt, daß dieser Mensch mit Sicherheit wieder im Schuldgefängnis verschwinden wird. Marfa Petrowna hat niemals die Absicht gehabt, ihm etwas zu vermachen; sie nahm das Interesse ihrer Kinder wahr; und wenn sie ihm wirklich etwas hinterlassen haben sollte, so dürfte es nur das für den notwendigen Unterhalt Erforderliche sein, eine kleine Summe, die bei einem Menschen mit seinen Gewohnheiten auch nicht ein Jahr reicht.«

»Pjotr Petrowitsch, ich bitte Sie«, sagte Dunja, »wir wollen nicht mehr von Herrn Swidrigailow sprechen. Es ruft in mir zu schmerzliche Gefühle wach.«

»Er ist soeben bei mir gewesen«, sagte plötzlich Raskolnikow, der zum ersten Male sein Schweigen brach.

Von allen Seiten erschollen Ausrufe der Verwunderung; alle wandten sich zu ihm. Sogar Pjotr Petrowitsch geriet in Erregung.

»Vor anderthalb Stunden, als ich schlief«, fuhr Raskolnikow fort, »kam er zu mir herein, weckte mich und stellte sich mir vor. Er war recht ungezwungen und heiter und hofft zuversichtlich, daß wir beide einander nähertreten werden. Unter anderm bittet er dringend um eine Zusammenkunft mit dir, Dunja, und hat mich gebeten, das zu vermitteln. Er will dir einen Vorschlag machen und hat mir mitgeteilt, worin dieser besteht. Außerdem hat er mir auf das bestimmteste versichert, daß Marfa Petrowna noch eine Woche vor ihrem Tode dir, Dunja, dreitausend Rubel testamentarisch hinterlassen hat und daß du dieses Geld in Bälde erhalten kannst.«

»Gott sei Dank!« rief Pulcheria Alexandrowna und bekeuzigte sich. »Bete für sie, Dunja, bete für sie!«

»Ja, das verhält sich wirklich so«, sagte Lushin unwillkürlich und unbedacht.

»Nun, und was weiter?« fragte Dunja ungeduldig.

»Dann sagte er, er selbst sei nicht reich, und das ganze Vermögen falle seinen Kindern zu, die sich jetzt bei ihrer Tante befänden. Ferner erwähnte er, daß er irgendwo nicht weit von meiner Wohnung sich einquartiert habe; aber wo, das weiß ich nicht, ich habe ihn nicht danach gefragt …«

»Aber was will er denn eigentlich unsrer Dunjetschka für einen Vorschlag machen?« fragte Pulcheria Alexandrowna in großer Beunruhigung. »Hat er es dir gesagt?«

»Ja, er hat es mir gesagt.«

»Nun, was ist es denn?«

»Ich will es nachher sagen.«

Raskolnikow schwieg und machte sich mit seinem Tee zu schaffen.

Pjotr Petrowitsch zog die Uhr heraus und sah nach der Zeit.

»Ich muß in einer geschäftlichen Angelegenheit notwendig fortgehen und werde Sie somit nicht stören«, bemerkte er mit etwas gekränkter Miene und schickte sich an, von seinem Stuhle aufzustehen.

»Bleiben Sie doch, Pjotr Petrowitsch«, sagte Dunja. »Sie beabsichtigten ja eigentlich, den Abend bei uns zuzubringen. Und außerdem haben Sie ja auch selbst geschrieben, Sie wünschten über einen gewissen Gegenstand eine Aussprache mit Mama.«

»Ganz richtig, Awdotja Romanowna«, erwiderte Pjotr Petrowitsch mit besonderem Nachdruck; er setzte sich wieder auf den Stuhl, behielt aber den Hut noch in der Hand. »Ich wünschte allerdings eine Aussprache sowohl mit Ihnen als auch mit Ihrer hochverehrten Frau Mutter, und sogar über sehr wichtige Gegenstände. Aber ebenso wie Ihr Bruder sich über gewisse Vorschläge des Herrn Swidrigailow in meiner Gegenwart nicht äußern mag, so kann und mag auch ich mich … in Gegenwart andrer … nicht über gewisse überaus wichtige Gegenstände aussprechen. Überdies ist auch meine angelegentliche, dringende Bitte nicht erfüllt worden …«

Lushin machte ein tiefbeleidigtes Gesicht und schwieg würdevoll.

»Ihre Bitte, daß mein Bruder bei unsrer Zusammenkunft nicht zugegen sein möchte, ist einzig und allein auf mein Verlangen hin nicht erfüllt worden«, entgegnete Dunja. »Sie schrieben, mein Bruder habe Sie beleidigt. Meiner Ansicht nach bedarf das einer unverzüglichen Aufklärung, und Sie müssen sich dann wieder miteinander versöhnen. Und wenn Rodja Sie wirklich beleidigt hat, so muß und wird er Sie um Verzeihung bitten.«

Pjotr Petrowitsch wurde sofort wieder energischer.

»Es gibt Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten Willen nicht vergessen kann. In allen Dingen gibt es eine Grenze, deren Überschreitung gefährlich ist; denn wenn sie einmal überschritten ist, so ist eine Rückkehr unmöglich.«

»Das ist eigentlich nicht das, worüber ich mit Ihnen sprach, Pjotr Petrowitsch«, unterbrach ihn Dunja etwas ungeduldig. »Sind Sie sich wohl auch klar darüber, daß unsre ganze Zukunft jetzt davon abhängt, ob dies alles sich möglichst schnell aufklären und beilegen läßt oder nicht? Ich sage Ihnen von vornherein unverhohlen, daß ich die Sache nicht anders aufzufassen vermag, und wenn Sie mich auch nur ein wenig schätzen, so muß diese ganze Geschichte, und wenn es auch noch so schwer ist, noch heute erledigt werden. Ich wiederhole Ihnen: wenn mein Bruder Sie beleidigt hat, so wird er Sie um Verzeihung bitten.«

»Ich bin erstaunt, daß Sie die Frage so formulieren, Awdotja Romanowna«, erwiderte Lushin, der immer mehr in eine gereizte Stimmung geriet. »Obwohl ich Sie schätze und, um mich so auszudrücken, anbete, ist es doch gleichzeitig sehr wohl möglich, daß ich einen Ihrer Angehörigen nicht leiden kann. Und wenngleich ich nach dem Glücke strebe, Ihr Gatte zu werden, so brauche ich darum doch nicht gleichzeitig Verpflichtungen auf mich zu nehmen, die mit meinem Ehrgefühl unvereinbar sind und …«

»Ach, lassen Sie doch all diese Empfindlichkeiten beiseite, Pjotr Petrowitsch«, unterbrach ihn Dunja in warmem, herzlichem Tone, »und seien Sie der verständige, edeldenkende Mensch, für den ich Sie immer gehalten habe und auch weiter halten will. Ich habe Ihnen ein bedeutsames Versprechen gegeben; ich bin Ihre Braut. Schenken Sie mir doch in dieser Angelegenheit Vertrauen, und seien Sie überzeugt, ich werde imstande sein, unparteiisch zu urteilen. Daß ich die Rolle des Schiedsrichters übernehmen will, ist für meinen Bruder eine ebenso große Überraschung wie für Sie. Als ich ihn heute nach Empfang Ihres Briefes aufforderte, unter allen Umständen auch zu unsrer Zusammenkunft zu kommen, habe ich ihm nichts von meinen Absichten mitgeteilt. Werden Sie sich darüber klar, daß, wenn Sie sich nicht miteinander versöhnen, ich zwischen Ihnen beiden wählen muß: entweder er oder Sie! So lautet die Frage, mit Bezug sowohl auf Sie als auf ihn. Ich will und darf mich bei der Wahl nicht irren. Um Ihretwillen muß ich dann mit meinem Bruder brechen, um meines Bruders willen mit Ihnen. Jetzt will und kann ich zuverlässig erfahren, ob er gegen mich ein wahrer, echter Bruder ist, und was Sie anlangt, ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen, ob Sie ein Gatte für mich sind.«

»Awdotja Romanowna«, antwortete Lushin, indem er sich, wie tief verletzt, hin und her krümmte, »Ihre Worte sind für mich überaus bedeutsam, ja, ich muß sagen, kränkend in Anbetracht des Verhältnisses, in welchem ich mich zu Ihnen zu befinden die Ehre habe. Ich will gar nicht einmal davon reden, wie sonderbar und beleidigend es ist, daß Sie mich mit einem … dünkelhaften jungen Menschen auf eine Stufe stellen; aber in Ihren Worten ziehen Sie einen Bruch des mir gegebenen Versprechens als möglich mit in Betracht. Sie sagen: ›er oder Sie!‹ Sie drücken also damit aus, wie wenig ich Ihnen gelte … Bei den Beziehungen und … Verpflichtungen, die zwischen uns bestehen, kann ich mich damit nicht einverstanden erklären.«

»Wie!« rief Awdotja Romanowna erregt. »Ich stelle Ihre Interessen auf gleiche Stufe mit allem, was mir bisher im Leben teuer gewesen ist, was bisher meinen ganzen Lebensinhalt bildete, und da fühlen Sie sich gekränkt, weil ich Ihnen zu wenig Wert beimäße!«

Raskolnikow schwieg und lächelte höhnisch; Rasumichin konnte vor Aufregung seine Glieder nicht ruhig halten; Pjotr Petrowitsch aber war mit dieser Erwiderung sehr wenig zufrieden; im Gegenteil wurde er, je länger das Gespräch dauerte, immer heftiger und gereizter; seine Streitlust schien im Wachsen zu sein.

»Die Liebe zu dem künftigen Lebensgefährten, zum Gatten, muß größer sein als die Liebe zum Bruder«, sagte er in lehrhaftem Tone; »jedenfalls kann ich mich nicht auf dieselbe Stufe mit Ihrem Bruder stellen lassen … Ich habe nun zwar vorhin erklärt, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders nicht alles, weswegen ich hergekommen bin, darlegen kann und mag; aber nichtsdestoweniger beabsichtige ich mich jetzt an Ihre hochverehrte Frau Mutter zu wenden, um über einen sehr wichtigen Punkt, in welchem ich mich beleidigt fühle, die notwendige Aufklärung zu erhalten. Ihr Sohn«, wandte er sich an Pulcheria Alexandrowna, »hat mich gestern in Gegenwart des Herrn Rassudkin oder … so ist’s ja wohl richtig? Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen«, sagte er mit höflicher Verbeugung zu Rasumichin, »dadurch beleidigt, daß er einen Gedanken von mir, den ich Ihnen einmal in einem Privatgespräche bei einer Tasse Kaffee mitteilte, arg verdrehte. Ich hatte mich nämlich dahin geäußert, daß die Heirat mit einem armen Mädchen, welches bereits die Sorgen des Lebens hat kosten müssen, meiner Ansicht nach hinsichtlich der Gestaltung des ehelichen Lebens den Vorzug verdiene vor der Heirat mit einem Mädchen, das nur Wohlleben kennt; denn jene Situation sei in ethischer Hinsicht nützlicher. Ihr Sohn hat den Sinn dieser Worte geflissentlich ins Absurde übertrieben und mich böswilliger Absichten beschuldigt, wobei er sich meiner Ansicht nach auf eine briefliche Mitteilung von Ihnen selbst stützte. Ich werde mich glücklich schätzen, wenn Sie, Pulcheria Alexandrowna, imstande sein sollten, mich vom Gegenteil zu überzeugen und mich dadurch wesentlich zu beruhigen. Teilen Sie mir bitte mit, mit welchen Ausdrücken Sie in Ihrem Briefe an Rodion Romanowitsch meine Worte wiedergegeben haben.«

»Darauf kann ich mich nicht besinnen«, erwiderte Pulcheria Alexandrowna verlegen, »ich habe Ihre Worte so wiedergegeben, wie ich sie selbst aufgefaßt hatte. Wie sie Rodja Ihnen gegenüber wiedergegeben hat, weiß ich nicht … Es mag sein, daß er dabei ein wenig übertrieben hat.«

»Ohne Veranlassung von Ihrer Seite hätte er nicht übertreiben können.«

»Pjotr Petrowitsch«, erwiderte Pulcheria Alexandrowna ernst und würdig, »daß wir beide, Dunja und ich, Ihre Worte nicht gerade in schlimmem Sinne aufgefaßt haben, das beweist schon der Umstand, daß wir hier sind.«

»Sehr gut, Mama!« bemerkte Dunja beifällig.

»Also liegt auch dabei die Schuld wieder auf meiner Seite!« entgegnete Lushin gekränkt.

»Sehen Sie, Pjotr Petrowitsch«, fügte Pulcheria Alexandrowna, mutiger werdend, hinzu, »Sie beschuldigen immer Rodja, und doch haben Sie auch selbst eben erst in Ihrem Briefe eine Unwahrheit über ihn geschrieben.«

»Ich erinnere mich nicht, irgendwelche Unwahrheit geschrieben zu haben.«

»Sie haben geschrieben«, sagte Raskolnikow in scharfem Tone, ohne sich Lushin zuzuwenden, »ich hätte gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen gegeben, wie das tatsächlich der Fall war, sondern seiner Tochter (die ich vor dem gestrigen Tage überhaupt noch nie gesehen hatte). Sie haben das geschrieben in der Absicht, mich mit meinen Angehörigen zu entzweien, und haben auch zu diesem Zwecke eine schmähliche Bemerkung über den Lebenswandel des jungen Mädchens hinzugefügt, das Sie gar nicht kennen. All das ist nichts als Klatschsucht und Gemeinheit.«

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, erwiderte Lushin, vor Wut zitternd, »in meinem Briefe habe ich mich über Ihre Eigenschaften und Ihre Handlungsweise lediglich in der Absicht ausgelassen, um eben dadurch eine Bitte Ihrer Schwester und Ihrer Frau Mutter zu erfüllen; denn diese hatten mich gebeten, ihnen zu schildern, wie ich Sie vorgefunden und welchen Eindruck Sie auf mich gemacht hätten. Was meine Angaben in meinem Briefe anlangt, so möchte ich Sie ersuchen, mir auch nur eine einzige unwahre Zeile darin nachzuweisen, also zu zeigen, daß Sie das Geld nicht ausgegeben haben und daß zu dieser allerdings unglücklichen Familie keine unwürdigen Mitglieder gehören.«

»Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen nicht soviel wert wie der kleine Finger dieses unglücklichen Mädchens, auf das Sie einen Stein werfen.«

»Also würden Sie auch kein Bedenken tragen, sie in die Gesellschaft Ihrer Mutter und Ihrer Schwester einzuführen?«

»Das habe ich bereits getan, wenn Sie das interessiert. Ich habe sie heute aufgefordert, neben meiner Mutter und neben Dunja Platz zu nehmen.«

»Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna aus.

Dunja wurde rot; Rasumichin zog die Augenbrauen zusammen. Lushin lächelte höhnisch und hochmütig.

»Nun sehen Sie wohl selbst, Awdotja Romanowna«, sagte er, »ob da eine Einigung möglich ist. Ich hoffe jetzt, daß diese Sache ein für allemal klargestellt und erledigt ist. Ich möchte mich nun entfernen, um bei dem weiteren vergnüglichen Zusammensein der Verwandten und bei der Mitteilung von Geheimnissen nicht zu stören.« Er stand auf und griff nach dem Hute. »Aber beim Abschiede bin ich so frei, zu bemerken, daß ich in Zukunft mit solchen Begegnungen und, sozusagen, Vermittlungsversuchen verschont zu bleiben hoffe. Sie, hochverehrte Pulcheria Alexandrowna, möchte ich ganz besonders darum bitten, um so mehr, als auch mein Brief lediglich an Sie, und an niemand sonst, adressiert war.«

Pulcheria Alexandrowna fühlte sich etwas gekränkt.

»Aber Pjotr Petrowitsch, Sie wollen uns ja völlig unter Ihre Botmäßigkeit bringen! Dunja hat Ihnen doch den Grund gesagt, weshalb wir Ihren Wunsch nicht erfüllt haben: sie hatte dabei die besten Absichten. Und Sie schreiben auch an mich so, daß es wie ein Befehl klingt. Sollen wir denn jeden Ihrer Wünsche als einen Befehl auffassen? Im Gegenteil möchte ich Ihnen bemerken, daß Sie jetzt uns gegenüber besonders zartfühlend und freundlich sein sollten, weil wir alles im Stiche gelassen haben und im Vertrauen auf Sie hierhergereist sind und uns somit ohnehin schon beinahe in Ihrer Gewalt befinden.«

»Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und namentlich nicht im jetzigen Augenblicke, wo Sie erfahren haben, daß Marfa Petrowna Ihnen dreitausend Rubel vermacht hat. Und das scheint Ihnen ja recht gelegen gekommen zu sein, wie ich aus dem neuen Tone, in dem Sie jetzt zu mir reden, schließen muß«, fügte er höhnisch hinzu.

»Nach dieser Bemerkung könnte man wirklich glauben, daß Sie bei Ihren Plänen auf unsere Hilflosigkeit gebaut haben«, entgegnete Dunja gereizt.

»Jetzt wenigstens kann ich darauf nicht mehr bauen, und namentlich möchte ich nicht bei der Mitteilung der geheimen Vorschläge dieses Herrn Swidrigailow stören, mit deren Übermittlung er Ihren Bruder beauftragt hat und die, wie ich sehe, Ihnen hochwichtig und vielleicht auch sehr angenehm sind.«

»Ach, mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna. Rasumichin vermochte kaum noch auf seinem Stuhle sitzenzubleiben.

»Schämst du dich jetzt nicht, Schwester?« fragte Raskolnikow.

»Ja, ich schäme mich, Rodja!« antwortete Dunja. »Pjotr Petrowitsch, gehen Sie!« wandte sie sich an diesen; sie war ganz blaß vor Zorn.

Pjotr Petrowitsch schien ein solches Resultat des Gespräches ganz und gar nicht erwartet zu haben. Er hatte sich allzu sehr auf seine Persönlichkeit, auf seine Macht und auf die Hilflosigkeit seiner Opfer verlassen. Er konnte es auch jetzt nicht fassen. Er erbleichte, und seine Lippen zitterten.

»Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt, von einem solchen Scheidegruße geleitet, zu dieser Tür hinausgehe, dann – bedenken Sie das wohl! – kehre ich nie wieder zurück. Überlegen Sie sich das recht ordentlich! Ich halte Wort.«

»Welche Unverschämtheit!« rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem Platze. »Ich wünsche auch gar nicht, daß Sie wiederkommen!«

»Aha! Also so steht es!« rief Lushin, der bis zum letzten Augenblicke einen solchen Ausgang gar nicht für möglich gehalten hatte und daher jetzt ganz seine Haltung verlor. »Also so steht es! Aber wissen Sie auch wohl, Awdotja Romanowna, daß ich dagegen Protest einlegen könnte?«

»Was haben Sie für ein Recht, in dieser Art mit ihr zu sprechen?« griff nun auch Pulcheria Alexandrowna erregt in das Gespräch ein. »Wieso können Sie Protest einlegen? Was für Rechte haben Sie denn uns gegenüber? Und einem Menschen wie Sie sollte ich meine Dunja geben? Gehen Sie nur fort, und lassen Sie uns künftig ganz in Ruhe! Wir tragen selbst die Schuld, weil wir uns auf eine so unnoble Sache eingelassen haben, und ich am allermeisten …«

»Aber Sie haben mich«, sprudelte Lushin in seiner Wut heraus, »durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt lossagen wollen, Pulcheria Alexandrowna, … und … und schließlich, schließlich bin ich dadurch sozusagen zu Ausgaben verleitet worden …«

Diese letzte dreiste und taktlose Behauptung entsprach so sehr dem gesamten Charakter Lushins, daß Raskolnikow, der vor Zorn und vor dem Bemühen, sich zu beherrschen, ganz bleich war, sich nicht mehr halten konnte und laut auflachte. Pulcheria Alexandrowna aber geriet außer sich.

»Zu Ausgaben? Zu was für Ausgaben denn? Sie meinen doch wohl nicht etwa gar unsern Koffer? Den hat ja doch ein Schaffner Ihnen zu Gefallen umsonst herbefördert. Mein Gott, und wir sollen Sie gebunden haben! Besinnen Sie sich doch nur, Pjotr Petrowitsch! Sie sind es ja gewesen, der uns an Händen und Füßen gebunden hatte, nicht wir Sie!«

»Hör auf, Mama, bitte, hör auf!« bat Dunja. »Pjotr Petrowitsch, seien Sie so gut und gehen Sie!«

»Ich gehe; nur noch ein letztes Wort!« sagte er; alle Selbstbeherrschung hatte er verloren. »Ihre Frau Mutter hat, wie es scheint, ganz vergessen, daß ich sozusagen trotz der in der ganzen Stadt über Ihren Ruf in Umlauf befindlichen Gerüchte gewillt war, Sie zu heiraten. Wenn ich so Ihretwegen auf die öffentliche Meinung keine Rücksicht nahm und Ihren Ruf wiederherstellte, so hätte ich doch natürlich auf eine Gegenleistung hoffen und sogar von Ihrer Seite Dankbarkeit verlangen können … Und erst jetzt sind mir die Augen aufgegangen. Ich sehe nun selbst ein, daß ich vielleicht sehr übereilt gehandelt habe, indem ich auf die Stimme der gesamten Gesellschaft keine Rücksicht nahm …«

»Jetzt reicht es aber!« rief Rasumichin, sprang vom Stuhle auf und schickte sich an, tätlich zu werden.

»Sie sind ein schlechter, gemeiner Mensch!« sagte Dunja.

»Schweig und rühr ihn nicht an!« rief Raskolnikow und hielt Rasumichin zurück; dann trat er ganz nahe an Lushin heran, fast Gesicht an Gesicht, und sagte leise, langsam und deutlich: »Gehen Sie hinaus! Und kein Wort weiter, sonst …«

Pjotr Petrowitsch blickte ihn einige Sekunden lang mit blassem, wutverzerrtem Gesichte an; darauf wandte er sich um und ging hinaus. Selten hat wohl jemand einen so grimmigen Haß gegen einen andern in seinem Herzen davongetragen wie dieser Mensch gegen Raskolnikow. Ihm und nur ihm allein maß er die Schuld an allem Geschehenen bei. Merkwürdigerweise bildete er sich, als er schon die Treppe hinunterstieg, immer noch ein, daß die Sache vielleicht doch noch nicht ganz verloren sei und, soweit dabei die Damen allein in Betracht kämen, sich sogar recht wohl noch in Ordnung bringen lasse.

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Kapitel 16

II

Als Rasumichin am andern Tage zwischen sieben und acht Uhr erwachte, war er in recht ernster, sorgenvoller Stimmung. Eine Menge neuer, unvorhergesehener Bedenken drängte sich ihm jetzt am Morgen plötzlich auf. Er hätte früher nie gedacht, daß er jemals so aufwachen würde. Er erinnerte sich aller seiner gestrigen Erlebnisse bis auf die kleinsten Einzelheiten und war sich bewußt, daß mit ihm etwas Ungewöhnliches vorgegangen war, daß er einen ihm bisher völlig unbekannten Eindruck empfangen hatte, mit dem sich keiner der früheren vergleichen ließ. Gleichzeitig erkannte er mit voller Klarheit, daß an eine Verwirklichung des Zukunftstraumes, der in seinem Kopfe aufgezuckt war, nicht im entferntesten zu denken sei, so wenig zu denken sei, daß er sich dieses Traumes sogar schämte und möglichst schnell zu den andern, mehr der Wirklichkeit angehörenden Sorgen und Aufgaben überging, die »der verfluchte gestrige Tag« ihm hinterlassen hatte.

Die schauderhafteste Erinnerung war für ihn, wie »niedrig und gemein« er sich gestern gezeigt habe, nicht allein deswegen weil er betrunken gewesen war, sondern auch weil er, die schwierige Lage der jungen Dame ausnutzend, in ihrer Gegenwart aus Eifersucht und törichter Übereilung auf ihren Bräutigam geschimpft hatte, ohne daß er die gegenseitigen Beziehungen und Verpflichtungen der beiden, ja, ohne daß er diesen Menschen selbst ordentlich kannte. Und welches Recht hatte er überhaupt, so übereilt und vorschnell über ihn zu urteilen? Wer hatte ihn zum Richter berufen? Und war es denn denkbar, daß ein Wesen wie Awdotja Romanowna sich einem Unwürdigen um des Geldes willen hingab? Also mußte er doch auch einen sittlichen Wert besitzen. Das Hotel garni? Woher hätte er denn eigentlich in Erfahrung bringen können, was das für ein Hotel war? Er war doch dabei, eine ordentliche Wohnung einzurichten … Pfui, wie gemein er sich da in jeder Hinsicht benommen hatte! Und konnte etwa seine Betrunkenheit als Rechtfertigung gelten? Eine dumme Entschuldigung, durch die er sich nur noch mehr erniedrigte! Durch die Trunkenheit kommt nach dem Sprichwort die Wahrheit an den Tag, und nun war ja auch die ganze Wahrheit an den Tag gekommen, nämlich die ganze Gemeinheit seines neidischen, rohen Charakters! Durfte er, Rasumichin, sich eine solche Zukunftsträumerei denn überhaupt erlauben? Was war er im Vergleich mit einem solchen Mädchen – er, der betrunkene Krakeeler und Prahlhans von gestern? War denn eine so absurde, lächerliche Zusammenstellung überhaupt möglich? Rasumichin wurde bei diesem Gedanken vor Ärger und Verzweiflung ganz rot, und nun mußte ihm auch gerade jetzt noch einfallen, wie er ihnen gestern, als sie auf der Treppe standen, erzählt hatte, die Wirtin habe eine Zuneigung zu ihm und werde auf Awdotja Romanowna eifersüchtig werden, … das war ja nun vollends unerträglich. Wütend schlug er aus voller Kraft mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich dabei die Hand und schlug einen Mauerstein heraus.

›Natürlich‹, murmelte er nach einer kleinen Weile in dem Gefühle, daß er sich selbst entehrt habe, vor sich hin, ›natürlich lassen sich alle diese Gemeinheiten jetzt nie mehr wieder beschönigen und gutmachen, … folglich hat es keinen Zweck, daran auch nur noch zu denken; sondern ich habe eine stumme Rolle zu spielen und … meine Pflicht zu erfüllen, schweigend, und … und ich darf nicht um Verzeihung bitten und darf überhaupt nicht davon reden, und … und natürlich ist nun alles für mich verloren!‹

Dessenungeachtet musterte er beim Ankleiden seinen Anzug sorgsamer als sonst. Einen andern Anzug besaß er nicht, und hätte er einen andern gehabt, so hätte er ihn vielleicht doch nicht angezogen, absichtlich nicht. Andrerseits mochte er auch nicht wie ein Strolch und Schmutzfink auftreten; er durfte die Gefühle andrer nicht verletzen, um so weniger, da diese andern ihn nötig hatten und ihn selbst zu sich beriefen. Daher reinigte er seine Kleider auf das sorgfältigste mit einer Bürste. Seine Wäsche war immer leidlich; in dieser Hinsicht war er besonders auf Sauberkeit bedacht.

Auch wusch er sich an diesem Morgen gründlicher – er hatte sich von Nastasja Seife geben lassen –; er wusch sich das Haar, den Hals und namentlich die Hände. Als aber die Frage an ihn herantrat, ob er seine Stoppeln wegrasieren sollte oder nicht (Praskowja Pawlowna besaß vorzügliches Rasierzeug, das noch von ihrem seligen Gatten, Herrn Sarnizyn, herrührte), so entschied er diese Frage sogar mit einem gewissen Ingrimm in verneinendem Sinne: ›Mag es bleiben, wie es ist! Wenn die etwa denken, ich hätte mich rasiert, um … und bestimmt würden sie das denken! Nein, um keinen Preis! – Das schlimmste ist, daß ich so ein ungeschliffener, schmutziger Patron bin und solche Kneipenmanieren an mir habe, … ich weiß ja freilich, daß ich wenigstens ein leidlich anständiger Mensch bin; na, aber damit kann man doch nicht prahlen, daß man ein anständiger Mensch ist. Ein anständiger Mensch muß eben jeder sein, und noch ein bißchen mehr, und … und ich habe doch auch schon dies und das angestellt, … nicht eigentlich etwas Ehrloses, aber doch … Und was habe ich manchmal für Gedanken im Kopfe gehabt! Hm! All das mit Awdotja Romanowna in Parallele zu stellen, das ist ja Verrücktheit! Na, hol´s der Teufel! Mir ganz egal! Nun will ich mich gerade als recht schmutziger, schmieriger Kneipenbruder zeigen und mich um nichts scheren! Nun gerade!‹

Bei solchen Selbstgesprächen traf ihn Sossimow an, der in Praskowja Pawlownas Wohnstube die Nacht zugebracht hatte.

Er wollte nun nach Hause gehen, vorher aber noch einmal nach dem Kranken sehen. Rasumichin berichtete ihm, daß dieser wie ein Murmeltier schlafe. Sossimow ordnete an, daß er nicht geweckt werden sollte, ehe er nicht von selbst aufwache; er versprach, selbst nach zehn Uhr wieder mit heranzukommen.

»Wenn ich ihn dann nur zu Hause treffe«, fügte er hinzu. »Eine tolle Geschichte: so ein Kranker läßt sich von seinem Arzte nichts sagen, und da soll man ihn behandeln! Weißt du vielleicht, ob er zu denen geht oder die hierherkommen?«

»Ich glaube, die kommen hierher«, erwiderte Rasumichin, der den Zweck der Frage verstand, »und natürlich werden sie über ihre Familienangelegenheiten sprechen. Ich mache mich dann davon. Du, als Arzt, hast selbstverständlich weitergehende Rechte als ich.«

»Ein Beichtvater bin ich auch nicht; ich werde kommen, aber baldigst wieder gehen; ich habe mit meiner sonstigen Praxis genug zu tun.«

»Eines beunruhigt mich«, unterbrach ihn Rasumichin mit finsterem Gesichte, »ich habe ihm gestern in meiner Trunkenheit unterwegs allerlei Dummheiten vorgeschwatzt, … unter anderm habe ich ihm von deiner Befürchtung gesagt, … von deiner Befürchtung, daß sich bei ihm eine Geisteskrankheit entwickeln könnte.«

»Auch zu den Damen hast du gestern davon geplaudert.«

»Ich weiß, daß das dumm von mir war! Meinetwegen prügle mich dafür! Aber sage mal, glaubtest du das im Ernst?«

»Ach, Unsinn! Wie werde ich das denn im Ernst glauben! Du selbst hast ja, als du mich zu ihm holtest, es so dargestellt, als sei er von einer fixen Idee besessen … Na, und gestern haben wir die Sache noch verschlimmert, das heißt du, durch deine Erzählungen von dem Malergesellen; ein sehr geeignetes Gespräch, wenn möglicherweise sein Fieber und Irrereden von diesem Anlaß herrührt! Hätte ich genau gewußt, was damals im Polizeibureau passiert war, und daß ihn da so eine Kanaille mit diesem Verdachte beleidigt hatte, hm, dann hätte ich gestern ein solches Gespräch nicht geduldet. Leute mit einer derartigen fixen Idee machen ja aus einer Mücke einen Elefanten und sehen in wachem Zustande die unglaublichsten Dinge leibhaftig vor sich … Gestern ist mir aus Sametows Erzählung die Sache schon so halb und halb verständlich geworden. Es kommen noch seltsamere Dinge vor! Ich kenne einen Fall, wo ein Hypochonder, ein Mann von vierzig Jahren, nicht imstande war, es zu ertragen, daß ein achtjähriger Knabe sich täglich bei Tische über ihn lustig machte; er ermordete ihn deswegen! Und nun in vorliegendem Falle: er in Lumpen, ein frecher Polizeibeamter, eine sich entwickelnde Krankheit, und nun dazu so eine Verdächtigung! Bei einem so krassen Hypochonder! Mit einem rasenden, grenzenlosen Ehrgefühl! Da steckt vielleicht der eigentliche Ausgangspunkt der Krankheit. Na, hol die ganze Geschichte der Kuckuck! … Apropos, dieser Sametow ist ja wirklich ein ganz netter junger Mensch; aber … hm! … er hätte das gestern nicht alles zu erzählen brauchen. Ein rechter Schwatzmichel!«

»Wem hat er es denn erzählt? Doch nur dir und mir!«

»Und Porfirij.«

»Na, und wenn er es auch dem erzählt hat, was schadet das?«

»Was ich noch sagen wollte: hast du irgendwelchen Einfluß auf die beiden, ich meine auf die Mutter und die Schwester? Sie sollten ihn heute recht vorsichtig behandeln …«

»Sie werden sich schon vertragen!« antwortete Rasumichin mißmutig.

»Und warum ist er nur so ergrimmt auf diesen Lushin? Er ist doch ein wohlhabender Mann, und ihr scheint er nicht unangenehm zu sein, … und sie stecken ja in arger Geldklemme? Nicht wahr?«

»Wozu fragst du mich aus?« rief Rasumichin gereizt.

»Woher soll ich wissen, ob sie sich in Geldklemme befinden oder nicht? Frage sie doch selbst; vielleicht erfährst du es dann …«

»Hör mal, wie bist du doch manchmal verdreht! Wohl noch die Nachwirkung der gestrigen Betrunkenheit! … Auf Wiedersehen! Übermittle deiner Praskowja Pawlowna meinen Dank für das Nachtlager. Sie hatte sich eingeschlossen; ich rief ihr durch die Tür ›Guten Morgen!‹ zu; aber sie antwortete nicht. Sie war schon um sieben Uhr aufgestanden und ließ sich den Samowar aus der Küche durch den Korridor bringen. Ich bin ihres persönlichen Anblicks nicht für würdig befunden worden.«

Punkt neun Uhr stellte sich Rasumichin in dem Bakalejewschen Hotel garni ein. Die beiden Damen warteten auf ihn schon lange mit schmerzlicher Ungeduld. Aufgestanden waren sie schon um sieben Uhr oder noch früher. Er trat mit einem Gesichte, finster wie die Nacht, ein und machte eine unbeholfene Verbeugung, worüber er sofort auf sich selbst wütend wurde. Aber von ganz anderer Art waren die Empfindungen der Damen: Pulcheria Alexandrowna eilte auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und hätte sie beinahe geküßt. Er warf einen schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna; aber auch dieses stolze Gesicht zeigte in diesem Augenblicke einen solchen Ausdruck von Dankbarkeit und Freundlichkeit und einer von ihm ganz unerwarteten vollkommenen Achtung (statt spöttischer Blicke und unwillkürlicher, schlecht verhehlter Geringschätzung), daß ihm tatsächlich leichter ums Herz gewesen wäre, wenn man ihn mit Scheltworten empfangen hätte; denn so wurde er gar zu verlegen. Zum Glück lag ein Gesprächsthema sehr nahe, und er ergriff dasselbe unverzüglich.

Als Pulcheria Alexandrowna hörte, daß Rodja noch nicht aufgewacht sei und alles ausgezeichnet stände, erklärte sie, daß ihr dies sehr erwünscht sei, da sie vorher noch dringend, ganz dringend mit ihm zu reden habe. Es folgte zunächst die Frage, ob er schon Tee getrunken habe, und die Einladung, mit ihnen zusammen zu trinken; denn in der Erwartung, daß Rasumichin bald kommen würde, hatten sie selbst noch nicht getrunken. Awdotja Romanowna klingelte, worauf ein schmutziges Subjekt in schäbiger Kleidung erschien. Bei diesem wurde Tee bestellt, der denn auch schließlich kam, aber in so unsauberer und unfeiner Ausstattung, daß die Damen sich schämten. Rasumichin setzte schon dazu an, sehr kräftig über dieses Hotel garni zu schimpfen; aber bei dem Gedanken an Lushin verstummte er, wurde verlegen und war heilfroh, als nun endlich Pulcheria Alexandrownas Fragen wie ein Hagelwetter auf ihn losprasselten.

Ihre Beantwortung nahm drei viertel Stunden in Anspruch, da er fortwährend durch neue Fragen unterbrochen wurde. Er teilte den Damen alles mit, was er an wichtigen und wissenswerten Tatsachen aus Rodjas letztem Lebensjahre nur irgend wußte, und schloß mit einer ausführlichen Erzählung von seiner Krankheit. Er überging jedoch vieles, dessen Übergehung ihm zweckmäßig schien, unter anderm den Auftritt auf dem Polizeibureau nebst allem, was sich daran angeschlossen hatte. Die Damen hörten gespannt zu; aber als er nun glaubte, er sei fertig und seine Zuhörerinnen seien zufriedengestellt, da zeigte es sich, daß er für ihre Wißbegierde kaum angefangen hatte.

»Bitte, sagen Sie mir doch, was glauben Sie, … ach, entschuldigen Sie, ich kenne noch nicht Ihren Vor- und Vatersnamen!« sagte Pulcheria Alexandrowna eifrig.

»Dmitrij Prokofjitsch.«

»Also, Dmitrij Prokofjitsch, ich möchte sehr, sehr gern wissen, … wie er überhaupt … wie er jetzt das Leben anschaut, ich meine, verstehen Sie mich recht, wie soll ich mich ausdrücken? ich meine: wohin gehen seine Neigungen und Abneigungen? Ist er immer so reizbar? Was hat er für Wünsche und, um mich so auszudrücken, für Zukunftspläne? Was übt jetzt auf ihn besonderen Einfluß aus? Kurz, ich möchte gern wissen …«

»Aber, Mama, diese Fragen lassen sich doch nicht alle so mit einem Male beantworten!« bemerkte Awdotja Romanowna.

»Ach, mein Gott, ich hatte ihn ja ganz anders zu finden erwartet, Dmitrij Prokofjitsch.«

»Nun, das ist ja ganz natürlich«, erwiderte Dmitrij Prokofjitsch. »Eine Mutter habe ich zwar nicht mehr; aber ein Onkel von mir, der alle Jahre einmal herkommt, findet mich immer so verändert, selbst im Äußern, daß er mich gar nicht wiedererkennt, und dabei ist er ein ganz kluger Mann. Na, und die drei Jahre, wo Sie Rodja nicht gesehen haben, das ist doch eine lange, lange Zeit. Ja, was soll ich Ihnen nun über ihn sagen? Ich kenne ihn seit anderthalb Jahren: er ist mürrisch, finster, hochmütig und stolz; in der letzten Zeit (vielleicht aber auch schon erheblich früher) ist er argwöhnisch und hypochondrisch geworden. Er ist hochherzig und brav. Seine Gefühle zu zeigen liebt er nicht und begeht eher eine Grausamkeit, als daß er mit Worten seine Herzensempfindung zum Ausdruck brächte. Manchmal indessen ist er ganz und gar nicht hypochondrisch, sondern einfach kalt und gefühllos bis zur Unmenschlichkeit, geradezu als ob bei ihm zwei entgegengesetzte Charaktere einander ablösten. Mitunter ist er furchtbar schweigsam. Nie hat er Zeit; immer stört man ihn; aber dabei liegt er nur da, ohne irgend etwas zu tun. Er ist nicht spottlustig, und zwar nicht daß es ihm an Witz mangelte, sondern als ob er für solche Possen keine Zeit hätte. Wenn man ihm etwas sagt, so hört er gar nicht bis zu Ende zu. Niemals interessiert er sich für das, wofür sich gerade alle andern interessieren. Er hat von sich selbst eine gewaltig hohe Meinung, und wohl nicht ganz ohne Grund. Nun, was wünschen Sie noch weiter zu wissen? … Ich denke, Ihre Ankunft wird auf ihn eine recht wohltätige Wirkung ausüben.«

»Ach, das gebe Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna; sie fühlte sich sehr bedrückt durch die Schilderung, die Rasumichin von ihrem Rodja gemacht hatte.

Endlich getraute sich Rasumichin, auch Awdotja Romanowna etwas mutiger anzusehen. Er hatte ihr während des vorhergehenden Gespräches häufig einen Blick zugeworfen, aber nur flüchtig, nur für eine Sekunde, und hatte dann immer sogleich wieder die Augen weggewendet. Awdotja Romanowna hatte sich bald an den Tisch gesetzt und aufmerksam zugehört, bald wieder war sie aufgestanden und hatte angefangen, nach ihrer Gewohnheit mit verschränkten Armen und zusammengepreßten Lippen von einer Ecke des Zimmers nach der andern zu gehen; ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, stellte sie ab und zu ihrerseits eine Frage und versank dann wieder in ihre Gedanken. Auch sie hatte die Gewohnheit, das, was der andre sagte, nicht ganz bis zu Ende zu hören. Sie trug ein leichtes dunkles Kleid und hatte ein weißes, durchscheinendes Tüchelchen um den Hals geknüpft. Aus vielen Anzeichen hatte Rasumichin sehr schnell erkannt, daß die Verhältnisse der beiden Frauen äußerst dürftige sein mußten. Wäre Awdotja Romanowna wie eine Königin gekleidet gewesen, so hätte er sich wahrscheinlich gar nicht vor ihr gefürchtet; so aber hatte vielleicht gerade deshalb, weil sie so ärmlich gekleidet war und er die ganze trübe Lage durchschaute, sich seiner eine merkwürdige Scheu bemächtigt, und er war bei jedem seiner Worte, bei jeder seiner Bewegungen in Angst, er könnte einen Verstoß begehen; dies machte natürlich einen Menschen, der ohnehin kein großes Selbstvertrauen besaß, außerordentlich verlegen.

»Sie haben uns viel Interessantes über den Charakter meines Bruders mitgeteilt, … und Sie haben dabei unparteiisch geurteilt. Das ist recht; ich hatte gedacht, Sie wären ein blinder Verehrer von ihm«, bemerkte Awdotja Romanowna lächelnd. »Ich glaube, auch das ist richtig, daß er ein weibliches Wesen um sich haben muß«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Davon habe ich nichts gesagt; indessen haben Sie vielleicht auch darin recht, nur …«

»Nun?«

»Er liebt ja niemand und wird auch vielleicht nie jemand lieben«, erwiderte Rasumichin rasch.

»Sie meinen, er ist unfähig, jemand zu lieben?«

»Wissen Sie, Awdotja Romanowna, Sie selbst haben mit Ihrem Bruder eine ganz außerordentliche Ähnlichkeit, aber auch in allen Stücken!« platzte er plötzlich unwillkürlich heraus; sofort aber fiel ihm ein, was er ihr soeben über ihren Bruder gesagt hatte, und er wurde rot wie ein Krebs und schrecklich verlegen.

Awdotja Romanowna mußte laut auflachen, als sie ihn ansah.

»Was Rodja anlangt, so könntet ihr euch doch beide leicht irren«, mischte sich Pulcheria Alexandrowna etwas empfindlich ein. »Ich rede nicht von der Gegenwart, Dunjetschka. Was uns Pjotr Petrowitsch da in diesem Briefe schreibt, und was wir beide, du und ich, vorläufig als wahr angenommen haben, das ist vielleicht gar nicht wahr; aber Sie können sich gar keine Vorstellung davon machen, Dmitrij Prokofjitsch, wie phantastisch und, ich möchte sagen, launenhaft er ist. Verlaß war auf seinen Charakter niemals, selbst nicht, als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin überzeugt, er ist auch jetzt imstande, auf einmal irgend etwas zu unternehmen, was einem andern Menschen nie in den Sinn kommen würde zu tun … Wir haben ja dafür ein ganz naheliegendes Beispiel: ist es Ihnen bekannt, was für einen Todesschreck er mir vor anderthalb Jahren einjagte, als er auf den Einfall kam, dieses Fräulein – wie hieß sie doch? – die Tochter der Frau Sarnizyna, seiner Wirtin, zu heiraten?«

»Wissen Sie etwas Genaueres über diese Geschichte?« fragte Awdotja Romanowna.

»Meinen Sie etwa«, fuhr Pulcheria Alexandrowna erregt fort, »daß er sich damals durch meine Tränen, durch meine Bitten, durch den Gedanken an unsere Armut hätte zurückhalten lassen? Und wenn ich vor Gram krank geworden und vielleicht gar gestorben wäre, so hätte er sich dadurch nicht davon abbringen lassen. Seelenruhig wäre er über all diese Hindernisse hinweggeschritten. Aber sollte er uns denn wirklich, wirklich nicht lieben?«

»Er selbst hat mir nie etwas von dieser Geschichte erzählt«, antwortete Rasumichin vorsichtig, »aber ich habe einiges wenige von Frau Sarnizyna gehört, die sich gleichfalls nicht durch Mitteilsamkeit auszeichnet, und was ich gehört habe, ist vielleicht ein bißchen eigentümlich.«

»Was haben Sie denn gehört?« fragten die beiden Frauen gleichzeitig.

»Nun, etwas besonders Schlimmes, ganz Abnormes war es ja eigentlich nicht. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die schon eine völlig abgemachte Sache war und nur wegen des Todes der Braut nicht zustande kam, der Frau Sarnizyna selbst durchaus nicht recht war … Außerdem soll die Braut nicht einmal hübsch gewesen sein, vielmehr sogar geradezu häßlich … und kränklich … und sonderbar, … aber sie wird ja wohl auch ihre guten Eigenschaften gehabt haben. Irgendwelche guten Eigenschaften muß sie jedenfalls besessen haben, sonst könnte man ja die ganze Sache schlechterdings nicht begreifen … Mitgift hatte sie auch gar keine; und auf Mitgift hätte er auch nicht gesehen … Es ist überhaupt schwer, sich in einer solchen Sache ein Urteil zu bilden.«

»Ich bin überzeugt, daß sie seiner Liebe würdig war«, bemerkte Awdotja Romanowna kurz.

»Gott wird es mir verzeihen, aber ich habe mich damals ordentlich über ihren Tod gefreut, obwohl ich nicht weiß, wer von ihnen beiden den andern zugrunde gerichtet hätte, er sie oder sie ihn«, sagte Pulcheria Alexandrowna und schloß damit diesen Gegenstand ab. Dann begann sie, vorsichtig und stockend, sich wieder nach dem gestrigen Auftritt zwischen Rodja und Lushin zu erkundigen; sie warf dabei fortwährend ihrer Tochter Blicke zu, was dieser offenbar unangenehm war.

Es war ihr anzumerken, daß dieser Vorfall sie ganz besonders beunruhigte; sie zitterte geradezu vor Besorgnis. Rasumichin erzählte alles noch einmal mit allen Einzelheiten, fügte aber diesmal die Meinung, die er sich gebildet hatte, hinzu: er beschuldigte nämlich Raskolnikow, daß er Pjotr Petrowitsch mit vollem Vorbedacht beleidigt habe, und wollte diesmal seine Krankheit als Entschuldigung nicht recht gelten lassen.

»Er hatte sich das schon vor seiner Krankheit vorgenommen«, fügte er hinzu.

»Das glaube ich auch«, sagte Pulcheria Alexandrowna sehr niedergeschlagen.

Sie war aber sehr verwundert, daß Rasumichin diesmal von Pjotr Petrowitsch so vorsichtig und sogar mit einer gewissen Achtung sprach. Auch Awdotja Romanowna wunderte sich darüber.

»Das ist also Ihre Meinung über Pjotr Petrowitsch?« konnte sich Pulcheria Alexandrowna nicht enthalten zu fragen.

»Über den künftigen Gatten Ihrer Tochter kann ich keiner anderen Meinung sein«, erwiderte Rasumichin fest und mit besonderer Wärme, »und ich sage das nicht aus bloßer trivialer Höflichkeit, sondern weil … weil … nun, schon allein deswegen, weil Awdotja Romanowna selbst nach eigenem Willen diesen Mann für wert erachtet hat, ihr Gatte zu werden. Wenn ich ihn gestern verunglimpft habe, so erklärt sich das daher, weil ich gestern schmählich betrunken war und außerdem auch noch von Sinnen; jawohl, von Sinnen war ich, ganz ohne Verstand; verrückt war ich geworden, vollständig, … und heute schäme ich mich darüber!«

Er hatte einen ganz roten Kopf bekommen und verstummte. Auch Awdotja Romanowna war dunkelrot geworden, schwieg aber weiter. Von dem Augenblicke an, wo die Rede auf Lushin gekommen war, hatte sie kein Wort gesagt.

Unterdessen fühlte sich Pulcheria Alexandrowna ohne ihre Unterstützung offenbar unsicher. Schließlich sagte sie stockend, und indem sie fortwährend ihre Tochter fragend anblickte, daß ein Umstand ihr jetzt große Sorge mache.

»Sehen Sie, Dmitrij Prokofjitsch«, fing sie an. »Nicht wahr, Dunja, ich kann doch gegen Dmitrij Prokofjitsch ganz offenherzig sein?«

»Aber natürlich, Mama!« erwiderte Awdotja Romanowna mit nachdrücklicher Betonung.

»Die Sache ist nämlich die«, begann sie nun eilig ihre Auseinandersetzung, als ob ihr durch die Erlaubnis, ihren Kummer mitzuteilen, eine schwere Last von der Seele genommen wäre. »Heute in aller Frühe erhielten wir von Pjotr Petrowitsch einen Brief als Antwort auf unsere gestrige Anzeige von unserer Ankunft. Sehen Sie, er hätte uns eigentlich gestern, wie er uns das auch versprochen hatte, gleich auf dem Bahnhof empfangen sollen. Statt dessen schickte er zu unserm Empfange nach dem Bahnhofe einen Kellner, der uns die Adresse dieses Hotels geben und uns den Weg zeigen sollte, und ließ uns sagen, er würde uns heute früh hier persönlich aufsuchen. Aber statt seiner kam heute früh von ihm dieser Brief hier … Das beste ist, wenn Sie ihn selbst lesen; es ist eine Sache darin, die mich sehr beunruhigt … Sie werden sofort selbst sehen, welche Sache ich meine, und … ich bitte Sie, Dmitrij Prokofjitsch, mir ganz offenherzig Ihre Meinung zu sagen! Sie kennen Rodjas Charakter besser als jeder andere und können uns daher am besten Rat geben. Ich will nur noch vorher bemerken, daß Dunjetschka sich sofort eine bestimmte Meinung darüber gebildet hat, was wir nun zu tun haben, daß ich für meine Person aber noch nicht weiß, wie wir uns verhalten sollen; ich habe auf Sie gewartet.«

Rasumichin entfaltete den Brief, der vom vorhergehenden Tage datiert war, und las folgendes:

»Gnädige Frau, Pulcheria Alexandrowna! Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß es mir wegen eingetretener plötzlicher Abhaltungen nicht möglich war, Sie auf dem Bahnsteige zu empfangen, und ich Ihnen daher zu diesem Zwecke einen sehr gewandten Menschen hinsandte. Desgleichen werde ich auch morgen früh nicht die Ehre haben können, Sie wiederzusehen, sowohl wegen unaufschiebbarer Geschäfte beim Senat, als auch um nicht bei dem Wiedersehen der Mutter mit dem Sohne und der Schwester mit dem Bruder zu stören. Ich werde also die Ehre, Sie in Ihrer Wohnung zu besuchen und zu begrüßen, erst etwas später haben, und zwar pünktlich morgen um acht Uhr abends, wobei ich mir die Freiheit nehme, die inständige und – wie ich hinzufügen möchte – dringende Bitte anzuschließen, daß bei unserem gemeinsamen Wiedersehen Rodion Romanowitsch nicht zugegen sein möge, weil er, als ich ihm heute einen Krankenbesuch abstattete, mich in einer unerhört unhöflichen Weise beleidigt hat und weil ich außerdem mit Ihnen eine notwendige, eingehende persönliche Aussprache über einen bestimmten Punkt haben möchte, hinsichtlich dessen ich Ihre eigene Auffassung zu erfahren wünsche. Dabei beehre ich mich, im voraus mitzuteilen, daß, wenn ich meiner Bitte zuwider Rodion Romanowitsch bei Ihnen antreffen sollte, ich mich genötigt sehen würde, mich sofort zu entfernen; Sie würden sich dann die Schuld selbst zuzuschreiben haben. Ich schreibe dies in der Voraussetzung, daß sein Gesundheitszustand Ihren Sohn nicht hindern würde, zu Ihnen zu kommen; denn obwohl er bei meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, wurde er zwei Stunden darauf plötzlich gesund und ging aus. Davon habe ich mich mit eigenen Augen überzeugen können, und zwar in der Wohnung eines von einem Wagen überfahrenen Trunkenboldes, der an den Folgen dieses Unfalls gestorben ist. Der Tochter dieses Menschen, einem Mädchen von notorisch schlechtem Lebenswandel, hat er heute etwa fünfundzwanzig Rubel geschenkt, unter dem Vorwande, daß sie zur Bestreitung der Begräbniskosten dienen sollten. Ich habe mich darüber sehr gewundert, da ich weiß, wieviel Mühe und Not es Ihnen gemacht hat, diese Summe aufzubringen. Indem ich auch der verehrten Awdotja Romanowna meine besondere Hochachtung ausspreche, bitte ich Sie, den Ausdruck meiner ehrerbietigen Ergebenheit entgegennehmen zu wollen.

Ihr gehorsamster Diener
P. Lushin.«

»Was soll ich nun tun, Dmitrij Prokofjitsch?« fragte Pulcheria Alexandrowna beinahe weinend. »Wie kann ich an Rodja das Ansinnen stellen, nicht zu uns zu kommen? Er verlangte gestern so hartnäckig, wir sollten an Pjotr Petrowitsch einen Absagebrief schreiben, und nun soll ich seinen eigenen Besuch nicht annehmen! Wenn er es erfährt, wird er gerade erst recht kommen, und … was wird dann daraus werden?«

»Handeln Sie so, wie Awdotja Romanowna es für richtig erachtet hat«, erwiderte Rasumichin sofort mit ruhiger Bestimmtheit.

»Ach, mein Gott! Sie sagt … sie sagt etwas ganz Wunderliches und erklärt mir nicht, was das für einen Zweck haben soll! Sie sagt, das beste würde sein, das heißt, nicht eigentlich das beste, sondern es sei, ich weiß nicht zu welchem Zwecke, unbedingt erforderlich, daß auch Rodja heute um acht Uhr herkäme und die beiden sich hier träfen … Und ich wollte ihm gar nicht einmal den Brief zeigen, sondern es durch Ihre Vermittlung, ohne daß er etwas merkte, so einrichten, daß er nicht herkäme, … er ist ja so reizbar … Und ich verstehe auch gar nicht, was da für ein Trunkenbold gestorben ist, und was das für eine Tochter ist, und wie er dieser Tochter sein ganzes letztes Geld hingeben konnte, … dieses Geld, das …«

»Das für Sie ein so schweres Opfer bedeutet, Mama«, fügte Awdotja Romanowna hinzu.

»Er war gestern nicht im vollen Besitze seiner geistigen Kräfte«, sagte Rasumichin nachdenklich. »Wenn Sie erst wüßten, was er da gestern in einem Restaurant für eine Geschichte gemacht hat; es war ja allerdings ganz klug … Hm! Von einem Gestorbenen und von einem Mädchen hat er mir gestern tatsächlich etwas gesagt, als wir nach seiner Wohnung gingen; aber ich habe kein Wort davon verstanden … Übrigens war ich auch selbst gestern …«

»Liebe Mama, das beste ist wohl, wir gehen selbst zu ihm hin; ich glaube bestimmt, wir werden uns dort ohne weiteres darüber klarwerden, was zu tun ist. Und es wird auch wohl schon Zeit sein. Herr Gott! Schon zehn durch!« rief sie nach einem Blicke auf ihre prachtvolle goldene, emaillierte Uhr, die sie an einer feinen venezianischen Kette um den Hals trug und die mit ihrem Anzuge gar nicht harmonierte.

›Ein Geschenk des Bräutigams‹, dachte Rasumichin.

»Ach ja, es ist Zeit, … höchste Zeit, Dunja!« stimmte ihr Pulcheria Alexandrowna bei und geriet in unruhige Hast. »Er wird am Ende denken, wir sind ihm noch von gestern her böse, wenn wir so lange ausbleiben. Ach, mein Gott!«

Bei diesen Worten legte sie eilfertig ihre Mantille um und setzte den Hut auf; Awdotja Romanowna machte sich gleichfalls zurecht. Ihre Handschuhe waren nicht nur stark abgenutzt, sondern sogar zerrissen, was Rasumichin bemerkte; indessen verlieh diese augenfällige Ärmlichkeit der Kleidung den beiden Damen sogar ein besonders achtungswertes Aussehen, wie das stets bei Leuten der Fall ist, die es verstehen, ärmliche Kleidung zu tragen. Rasumichin blickte das junge Mädchen in stiller Verehrung an und war stolz darauf, sie begleiten zu dürfen. ›Jene Königin‹, dachte er bei sich, ›die im Gefängnis ihre Strümpfe ausbesserte, sah gewiß in jenem Augenblicke wie eine echte Königin aus, ja, wohl noch in höherem Grade als bei den prachtvollsten Hoffesten und Galaempfängen.‹

»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna, »hätte ich wohl je gedacht, daß ich mich vor einem Wiedersehen mit meinem Sohne, mit meinem lieben, lieben Rodja fürchten würde, wie ich es jetzt wirklich tue! … Ich fürchte mich davor, Dmitrij Prokofjitsch«, fügte sie hinzu und blickte ihn schüchtern an.

»Fürchten Sie sich nicht, liebe Mama«, sagte Awdotja Romanowna und küßte sie. »Haben Sie lieber Vertrauen zu ihm wie ich.«

»Ach, mein Gott! Vertrauen habe ich ja auch; aber ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen!« rief die arme Frau. Sie traten auf die Straße hinaus.

»Weißt du, Dunjetschka, als ich heute morgen ein bißchen eingeschlafen war, träumte mir von der verstorbenen Marfa Petrowna, … sie war ganz in Weiß, … sie trat auf mich zu, ergriff meine Hand und schüttelte den Kopf mit so ernster, strenger Miene, als wollte sie mir einen schweren Vorwurf machen …. Ob das auch etwas Gutes zu bedeuten hat? Ach, mein Gott, Sie wissen wohl noch gar nicht, Dmitrij Prokofjitsch: Marfa Petrowna ist gestorben!«

»Nein, ich wußte es nicht; wer ist das, Marfa Petrowna?«

»Ganz urplötzlich! Und denken Sie sich nur …«

»Erzählen Sie es ein andermal, Mama!« unterbrach sie Awdotja Romanowna. »Dmitrij Prokofjitsch weiß ja auch noch gar nicht, wer Marfa Petrowna ist.«

»Ach, Sie wissen nicht von ihr? Und ich glaubte, es wäre Ihnen bereits alles bekannt. Verzeihen Sie mir, Dmitrij Prokofjitsch; ich weiß in diesen Tagen gar nicht, wo mir der Kopf steht. Ich sehe Sie wirklich geradezu für unsern Schutzengel an, und darum war ich auch so sicher, daß Ihnen alles schon bekannt wäre. Ich betrachte Sie wie einen lieben Verwandten … Seien Sie nicht böse, daß ich so offen rede. Ach du mein Gott, was ist denn mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie sich verletzt?«

»Ja, ich habe mich verletzt«, murmelte Rasumichin ganz glückselig.

»Ich rede manchmal gar zu offenherzig, so daß Dunja mich schilt … Aber, mein Gott, in was für einem elenden Kämmerchen wohnt er! Ob er jetzt wohl schon aufgewacht ist? Und diese Frau, seine Wirtin, rechnet ihm das als Zimmer an! Noch eins: Sie sagten, er liebe es nicht, sein Herz zu zeigen; da werde ich ihm vielleicht mit dieser meiner Schwäche mißfallen? … Möchten Sie mich nicht belehren, Dmitrij Prokofjitsch, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll? Wissen Sie, ich bin ganz rat- und hilflos!«

»Hören Sie auf, nach etwas zu fragen, wenn Sie sehen, daß er ein finsteres Gesicht macht; fragen Sie ihn namentlich nicht zuviel nach seiner Gesundheit; das mag er nicht.«

»Ach, Dmitrij Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein! Aber da sind wir ja schon an der Treppe! … Was für eine gräßliche Treppe das ist!«

»Sie sind so blaß, liebe Mama, beruhigen Sie sich doch!« sagte Awdotja Romanowna und streichelte sie liebkosend. »Er muß doch glücklich darüber sein, Sie zu sehen, und Sie martern sich mit solchen Sorgen!« fügte sie mit blitzenden Augen hinzu.

»Warten Sie einen Augenblick; ich möchte erst einmal nachsehen, ob er schon aufgewacht ist.«

Die Damen gingen langsam hinter Rasumichin her, der ihnen voran die Treppe hinaufstieg, und als sie im dritten Stock an der Wohnung der Wirtin vorbeikamen, bemerkten sie, daß die Tür einen kleinen Spalt weit geöffnet war und daß zwei sich lebhaft bewegende schwarze Augen aus dem dunklen Raume sie beide beobachteten. Als ihre Blicke sich trafen, wurde die Tür plötzlich zugeschlagen, und zwar mit einem solchen Knall, daß Pulcheria Alexandrowna beinahe vor Schrecken aufgeschrien hätte.

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Kapitel 17

III

»Er ist gesund! Er ist gesund!« rief Sossimow den Eintretenden fröhlich entgegen.

Er war schon vor etwa zehn Minuten gekommen und saß in derselben Sofaecke wie gestern. Raskolnikow saß ihm gegenüber in der andern Ecke, vollständig angekleidet und sogar sauber gewaschen und sorgfältig gekämmt, was bei ihm schon recht lange nicht mehr dagewesen war. Das Zimmer hatte sich auf einmal gefüllt; aber Nastasja hatte es doch fertiggebracht, hinter den Besuchern mit hereinzuschlüpfen, um zuzuhören.

Raskolnikow war wirklich fast gesund, namentlich im Vergleich mit gestern; nur war er sehr blaß, zerstreut und finster. Äußerlich sah er aus wie ein Verwundeter oder wie jemand, der einen starken, physischen Schmerz erduldet: die Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen aufeinandergepreßt, der Blick hatte etwas Flackerndes. Er sprach nur wenig und widerwillig, als wenn es ihn übermäßige Anstrengung kostete, oder als wenn er lediglich eine Pflicht erfüllte, und in seinen Bewegungen machte sich mitunter eine gewisse Unruhe bemerkbar.

Es fehlte nur ein Verband an der Hand oder ein taftener Überzug am Finger, um die Ähnlichkeit mit einem Patienten vollständig zu machen, der etwa ein böses Geschwür am Finger oder eine Verletzung an der Hand oder sonst dergleichen hat.

Aber über dieses blasse, finstere Gesicht flog es für einen Augenblick wie ein heller Strahl, als die Mutter und die Schwester eintraten; zugleich jedoch ging die bisherige melancholische Zerstreutheit in den Ausdruck qualvollen Leidens über. Der helle Strahl verschwand schnell wieder; aber der Ausdruck des Leidens blieb, und Sossimow, der seinen Patienten mit dem ganzen jugendlichen Eifer eines erst kürzlich in die Praxis eingetretenen Arztes beobachtete und studierte, bemerkte zu seinem Staunen, daß sich auf dessen Gesichte nach der Ankunft seiner Angehörigen nicht etwa Freude spiegelte, sondern der heimliche, schwere Entschluß, nun ein bis zwei Stunden lang eine Folter auszuhalten, der eben nicht mehr zu entgehen sei. Später sah er dann, wie fast jedes Wort des nun folgenden Gespräches gleichsam an eine Wunde seines Patienten rührte und sie wieder schmerzhaft machte; gleichzeitig war er aber manchmal erstaunt, wie der Mensch, der gestern noch an seiner fixen Idee gelitten hatte und sich durch das harmloseste Wort hatte in Raserei versetzen lassen, es heute verstand, sich zu beherrschen und seine Gefühle zu verbergen.

»Ja, ich sehe jetzt selbst, daß ich beinahe gesund bin«, sagte Raskolnikow und küßte die Mutter und die Schwester freundlich, worüber Pulcheria Alexandrownas Gesicht vor Freude strahlte, »und das ist nicht so eine leere Behauptung von mir wie gestern«, fügte er, zu Rasumichin gewendet, hinzu und drückte ihm freundschaftlich die Hand.

»Ich bin heute ordentlich erstaunt über ihn gewesen«, begann Sossimow, der sich über das Kommen der Gäste außerordentlich freute, weil ihm in den zehn Minuten das Gespräch mit seinem Patienten schon völlig ins Stocken geraten war. »Wenn es so weiter geht, so wird er in drei bis vier Tagen ganz wie früher sein, das heißt, wie er vor einem Monat oder vor zweien … oder vielleicht auch vor dreien war. Denn diese Geschichte datiert in ihren Anfängen weit zurück und hat sich so ganz allmählich herausgebildet. Sie müssen wohl zugeben, daß Sie vielleicht selbst mit daran schuld sind«, fügte er mit vorsichtigem Lächeln hinzu, als ob er noch immer fürchtete, ihn durch etwas zu reizen.

»Sehr leicht möglich«, antwortete Raskolnikow kühl.

»Ich sage das deswegen«, fuhr Sossimow, der nun ins Reden hineinkam, fort, »weil Ihre vollständige Wiederherstellung, wenigstens in der Hauptsache, jetzt von Ihnen allein abhängen wird. Jetzt, wo man wieder mit Ihnen ein vernünftiges Wort reden kann, möchte ich Ihnen dringend ans Herz legen, daß es notwendig ist, die Grundursachen zu beseitigen, die auf die Entstehung Ihres krankhaften Zustandes von Einfluß gewesen sind, sozusagen die Wurzeln des Übels; dann werden Sie auch wieder vollständig gesund werden; andernfalls kann es sich leicht sogar noch schlimmer gestalten. Diese Grundursachen kenne ich nicht; aber Ihnen müssen sie ja bekannt sein. Sie sind ein verständiger Mensch und haben sich gewiß selbst beobachtet. Mir scheint, der Beginn Ihres Leidens fällt so ziemlich mit dem Verlassen der Universität zusammen. Sie dürfen nicht ohne Beschäftigung bleiben, und daher könnten Ihnen Arbeit und ein fest vorgestecktes Ziel meiner Ansicht nach sehr nützlich sein.«

»Ja, ja, Sie haben ganz recht, … ich trage mich auch mit der Absicht, sobald wie möglich wieder an der Universität zu beginnen, und dann wird alles wieder wunderschön gehen …«

Sossimow, der bei seinen klugen Ratschlägen zum Teil auch den Zweck verfolgt hatte, auf die Damen Eindruck zu machen, war natürlich einigermaßen betroffen, als er nun nach Beendigung seiner Rede seinen Zuhörer anblickte und auf dessen Gesichte einen entschieden spöttischen Ausdruck wahrnahm. Indessen dauerte das nur einen Augenblick. Pulcheria Alexandrowna begann sogleich, sich bei Sossimow zu bedanken, besonders auch für seinen nächtlichen Besuch im Hotel.

»Wie? Ist er auch noch in der Nacht bei euch gewesen?« fragte Raskolnikow anscheinend aufgeregt. »Da habt ihr wohl nach der Reise gar nicht geschlafen?«

»Ach, Rodja, das war ja alles noch vor zwei Uhr. Dunja und ich haben uns auch zu Hause nie vor zwei hingelegt.«

»Ich weiß auch nicht, wie ich ihm danken soll«, fuhr Raskolnikow mit finsterer Miene und gesenktem Kopfe fort. »Da ein Honorar nicht in Frage kommt – Sie entschuldigen, daß ich das überhaupt erwähne«, sagte er, sich zu Sossimow wendend –, »so weiß ich gar nicht, wodurch ich eine so besondere Aufmerksamkeit von Ihrer Seite verdient habe. Ich verstehe es schlechterdings nicht … und … und sie bedrückt mich sogar, weil sie mir eben so ganz unbegreiflich ist; ich rede zu Ihnen ganz offen.«

»Regen Sie sich nur darüber nicht auf!« erwiderte Sossimow mit gekünsteltem Lachen. »Nehmen Sie an, Sie wären mein erster Patient; na, und wenn unsereiner eben erst seine Praxis beginnt, dann liebt er seine ersten Patienten wie seine eigenen Kinder, und mancher ist in sie tatsächlich verliebt. Und ich bin ja gerade nicht reich an Patienten.«

»Von dem da will ich erst gar nicht reden«, fügte Raskolnikow hinzu, indem er auf Rasumichin wies, »der hat auch von mir nichts gehabt als Kränkungen und Mühe.«

»Dummes Zeug! Du bist wohl heute in rührseliger Stimmung?« rief Rasumichin.

Wäre er scharfblickender gewesen, so hätte er bemerkt, daß eine rührselige Stimmung absolut nicht vorlag, sondern eher das gerade Gegenteil. Aber Awdotja Romanowna hatte dies erkannt; aufmerksam und voll Unruhe beobachtete sie ihren Bruder.

»Von Ihnen, Mama, wage ich gar nicht zu sprechen«, fuhr er fort, wie wenn er eine am Morgen auswendig gelernte Lektion aufsagte. »Erst heute ist es mir einigermaßen zum Bewußtsein gekommen, wie Sie sich gestern hier geängstigt haben müssen, als Sie auf meine Heimkehr warteten.«

Nach diesen Worten streckte er auf einmal schweigend und lächelnd seiner Schwester die Hand hin. Aber aus diesem Lächeln leuchtete dieses Mal eine wahre, unverstellte Empfindung hervor. Dunja ergriff sofort, erfreut und dankbar, die ihr hingestreckte Hand und drückte sie warm und herzlich. Zum ersten Male hatte er sich nach dem gestrigen Zerwürfnis an sie gewandt. Das Gesicht der Mutter strahlte vor Entzücken und Glückseligkeit beim Anblick dieser völligen, wortlosen Aussöhnung zwischen Bruder und Schwester.

»Deswegen habe ich ihn auch so gern!« flüsterte der leicht zu enthusiasmierende Rasumichin und rückte kräftig auf seinem Stuhle hin und her. »Ich kenne diese schönen Regungen an ihm.«

›Und wie prächtig das alles bei ihm herauskommt!‹ dachte die Mutter bei sich. ›Was hat er für ein edles Herz, und wie schlicht und zartfühlend hat er dieses ganze gestrige Mißverständnis mit der Schwester erledigt, einfach dadurch, daß er ihr im rechten Augenblicke die Hand reichte und sie freundlich anblickte … Und was er für schöne Augen hat, und wie schön sein ganzes Gesicht ist! … Er ist sogar schöner als Dunja … Aber, mein Gott, was hat er für einen Anzug an, wie jämmerlich ist er gekleidet! … Der Austräger Wasja in Afanassij Iwanowitschs Geschäft ist besser angezogen! … Und ich möchte am liebsten zu ihm hinstürzen und ihn umarmen … und weinen; aber ich fürchte mich, … er ist ja so seltsam, o Gott! Jetzt redet er ja so freundlich, und doch fürchte ich mich. Warum denn eigentlich?«

»Ach, Rodja«, antwortete sie nun eilig auf das, was er zu ihr gesagt hatte, »du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglücklich wir gestern waren, ich und Dunja. Jetzt, wo alles vorbei und erledigt ist und wir alle wieder glücklich sind, darf ich ja davon reden. Denke dir nur, wir kommen in größter Eile hierher, fast direkt von der Bahn, um dich zu umarmen, und da sagt uns auf einmal das Dienstmädchen – ach, da ist sie ja! Guten Tag, Nastasja! –, da sagt sie uns, du hättest das Delirium und seiest soeben ohne Wissen des Arztes im Fieber auf die Straße gelaufen und würdest nun überall gesucht. Du glaubst gar nicht, wie uns zumute war! Ich mußte gleich an das tragische Ende des Leutnants Postantschikow denken; er war ein Bekannter von uns, ein Freund deines Vaters, du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja; der hatte auch das Delirium und war ebenso weggelaufen und auf dem Hofe in einen Brunnen gestürzt; erst am andern Tage konnte er herausgezogen werden. Wir stellten uns natürlich alles mit dir noch schlimmer vor, als es war. Wir dachten schon daran, Pjotr Petrowitsch aufzusuchen, um wenigstens mit seiner Hilfe … denn wir waren ja allein, ganz allein«, jammerte sie kläglich, verstummte aber plötzlich ganz, weil ihr einfiel, daß es noch recht gefährlich sei, über Pjotr Petrowitsch zu sprechen, obwohl sie »alle wieder vollkommen glücklich« waren.

»Ja, ja, das war alles gewiß sehr verdrießlich …«, murmelte Raskolnikow als Antwort, aber mit so zerstreuter und unaufmerksamer Miene, daß Dunja ihn ganz verwundert ansah.

»Was wollte ich denn noch sagen«, fuhr er, mühsam seine Gedanken sammelnd, fort. »Ja: seid versichert, Mama und Dunja, daß ich vorhatte, euch heute meinerseits zuerst zu besuchen und euch nicht etwa hier erwarten wollte.«

»Aber was redest du nur, Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna, gleichfalls höchst erstaunt.

›Was hat er denn?‹ dachte Dunja. ›Er spricht ja mit uns so förmlich und so pflichtgemäß! Er versöhnt sich und bittet um Verzeihung, ungefähr in der Art, wie ein Beamter eine amtliche Verrichtung vornimmt oder ein Schüler seine Lektion aufsagt.‹

»Ich wollte gleich, sowie ich aufgewacht war, zu euch hingehen; aber ich konnte nicht wegen meiner Kleider; ich hatte gestern vergessen, ihr … Nastasja … zu sagen, sie möchte das Blut aus den Kleidern auswaschen … Ich bin eben erst mit dem Anziehen fertig geworden.«

»Blut? Was für Blut?« fragte Pulcheria Alexandrowna erschrocken.

»Es ist nichts Schlimmes, … beunruhigen Sie sich nicht. Das Blut war daher gekommen: als ich gestern im Fieber umherirrte, kam ich dazu, wie ein Mensch überfahren wurde, ein Beamter …«

»Im Fieber? Aber du erinnerst dich doch an alles?« unterbrach ihn Rasumichin.

»Das ist richtig«, antwortete Raskolnikow überlegend, »ich erinnere mich an alles, sogar bis auf die geringsten Kleinigkeiten; aber merkwürdig: warum ich dies oder das getan habe und hierhin oder dahin gegangen bin und dies oder das gesprochen habe, davon kann ich mir keine Rechenschaft ablegen.«

»Das ist eine sehr bekannte Erscheinung«, fiel Sossimow ein. »Die Ausführung einer Handlung ist manchmal meisterhaft, außerordentlich schlau; aber das treibende Motiv, der Beweggrund zu dem ganzen Vorgehen, bleibt unklar und hängt mit allerlei krankhaften Empfindungen zusammen. Das Ganze hat mit einem Traum Ähnlichkeit.«

›Das ist am Ende ganz gut, daß er mich beinahe für irrsinnig hält‹, dachte Raskolnikow.

»Aber das kommt doch wohl manchmal auch bei Gesunden vor?« bemerkte Dunja und sah Sossimow beunruhigt an.

»Eine sehr richtige Bemerkung«, antwortete dieser. »In dieser Hinsicht sind wir tatsächlich alle, und zwar sehr häufig, fast wie Verrückte, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß die ›Kranken‹ ein bißchen verrückter sind als wir; man muß da eben auf die Grenzlinie achten. Vollständig normale Menschen aber gibt es so gut wie gar nicht, das ist richtig; unter Zehntausenden, vielleicht sogar erst unter vielen Hundertausenden, mag man einen antreffen …«

Bei dem Worte »verrückt«, das Sossimow sich unvorsichtigerweise hatte entschlüpfen lassen, da er bei seinem Lieblingsthema in Redeeifer geraten war, machten alle Anwesenden finstere Gesichter. Raskolnikow saß in Gedanken versunken und mit einem eigentümlichen Lächeln auf den blassen Lippen da, als ob er auf nichts achtete. Er verharrte in seinen Überlegungen.

»Nun, wie war das also mit dem Überfahrenen? Ich habe dich unterbrochen!« rief Rasumichin schnell.

»Was?« fragte der, als ob er aus dem Schlafe erwachte. »Ja, … nun, da habe ich mich blutig gemacht, als ich dabei behilflich war, ihn in seine Wohnung zu tragen. Und dabei fällt mir ein, Mama: ich habe gestern einen unverzeihlichen Streich begangen; ich hatte wirklich nicht meinen Verstand. Das ganze Geld, das Sie mir geschickt hatten, habe ich gestern weggegeben … an seine Frau … zur Beerdigung. Sie ist jetzt Witwe, schwindsüchtig, ein bedauernswertes Weib, … drei kleine, hungrige Waisen sind da, … im Hause kein Geld, keine Sachen, … eine Tochter ist noch da … Vielleicht hätten Sie selbst das Geld hingegeben, wenn Sie das alles gesehen hätten … Ich gestehe übrigens ein, daß ich ganz und gar kein Recht dazu hatte, so zu handeln, besonders da ich wußte, auf welche Weise Sie dieses Geld beschafft hatten. Um zu helfen, muß man zuallererst ein Recht dazu haben; sonst mag man sagen: Crevez, chiens, si vous n’êtes pas contents!« Er lachte auf. »Hab ich recht, Dunja?«

»Nein, du hast nicht recht«, antwortete Dunja fest und bestimmt.

»Pah! Du hast eben auch gerade jetzt solche Absichten, jemandem behilflich zu sein!« murmelte er, blickte sie dabei fast mit einem Gefühl des Hasses an und lächelte spöttisch. »Das hätte ich in Betracht ziehen sollen! Na, nur zu! Es ist ja auch ganz löblich; und für dich eine Verbesserung, … und wenn du an eine bestimmte Grenze gelangst und sie nicht überschreitest, so wirst du unglücklich sein, und wenn du sie überschreitest, vielleicht noch unglücklicher … Aber das ist ja alles Unsinn!« fügte er gereizt hinzu; er ärgerte sich darüber, daß er sich zu solchen Äußerungen hatte hinreißen lassen. »Ich wollte nur sagen, daß ich Sie, liebe Mama, um Verzeihung bitte«, schloß er scharf und kurz.

»Laß doch gut sein, Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« sagte die Mutter erfreut.

»Davon sollten Sie nicht so überzeugt sein«, antwortete er und verzog den Mund zu einem Lächeln.

Es folgte allgemeines Schweigen. Es lag etwas Gezwungenes in diesem ganzen Gespräche und in dem Schweigen und in der Versöhnung und in der Verzeihung, und alle empfanden das.

›Gerade als ob sie sich vor mir fürchteten‹, dachte Raskolnikow bei sich und warf der Mutter und der Schwester einen mißtrauischen Blick zu. Pulcheria Alexandrowna wurde in der Tat, je länger sie schwieg, um so ängstlicher.

›Und ich liebte sie beide doch so sehr, als sie fern von mir waren‹, mußte er plötzlich denken.

»Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« brach Pulcheria Alexandrowna das Schweigen.

»Was für eine Marfa Petrowna?«

»Ach, mein Gott, Marfa Petrowna Swidrigailowa! Ich habe dir doch noch so viel über sie geschrieben.«

»Ah, ja, ich erinnere mich … Also die ist gestorben? Wirklich?« fuhr er plötzlich auf, wie wenn er eben aufwachte. »Ist sie wirklich gestorben? Woran denn?«

»Denk nur mal, ganz urplötzlich!« begann Pulcheria Alexandrowna eilfertig, ermutigt durch das Interesse, das er bekundete. »Und gerade zu der Zeit, als ich dir damals den Brief schickte, an demselben Tage! Denk nur, dieser schreckliche Mensch scheint sogar an ihrem Tode schuld zu sein. Er soll sie so furchtbar geschlagen haben!«

»Standen sie denn so miteinander?« fragte er, sich an die Schwester wendend.

»Nein, ganz im Gegenteil. Er benahm sich ihr gegenüber immer sehr rücksichtsvoll, sogar höflich. Bei vielen Gelegenheiten bewies er sogar allzu große Nachsicht mit ihrem Charakter, ganze sieben Jahre lang … Nun mochte er auf einmal die Geduld verloren haben.«

»Dann ist er also gar nicht so schrecklich, wenn er es sieben Jahre lang ertragen hat? Du scheinst ihn in Schutz zu nehmen, Dunja?«

»Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Ich kann mir überhaupt gar nichts Schrecklicheres vorstellen«, antwortete Dunja beinahe mit einem Schauder, zog die Augenbrauen zusammen und gab sich ihren Gedanken hin.

»Das war bei ihnen am Vormittag vorgefallen«, fuhr Pulcheria Alexandrowna eifrig fort. »Darauf gab sie sofort Befehl, die Pferde anzuspannen, um gleich nach dem Mittagessen nach der Stadt zu fahren; denn sie fuhr, wenn sie irgendeine Aufregung hatte, immer nach der Stadt. Sie soll noch mit gutem Appetite Mittagbrot gegessen haben …«

»Trotz der Schläge, die sie bekommen hatte?«

»Ja, sie war immer gewohnt, stark zu essen, und gleich nachdem sie gegessen hatte, ging sie, um ihre Fahrt nicht zu lange hinauszuschieben, ins Badehäuschen … Weißt du, sie machte so eine Art Badekur durch; sie haben nämlich da eine sehr kalte Quelle, und sie badete regelmäßig alle Tage darin. Und sowie sie nur ins Wasser gegangen war, rührte sie sogleich der Schlag!«

»Ganz natürlich!« sagte Sossimow.

»Hatte er sie denn sehr geschlagen?«

»Darauf kommt es doch nicht an«, entgegnete Dunja.

»Hm! Übrigens, Mama, was kann Ihnen das nur für Spaß machen, solches Zeug zu erzählen«, sagte Raskolnikow auf einmal in gereiztem Tone; es schien ihm unwillkürlich zu entfahren.

»Ach, lieber Sohn, ich wußte gar nicht mehr, wovon ich noch sprechen sollte«, erwiderte Pulcheria Alexandrowna, ohne zu überlegen.

»Ja, was ist denn? Sie fürchten sich wohl gar vor mir?« fragte er mit einem verzerrten Lächeln.

»Das ist wirklich der Fall«, sagte Dunja und sah ihrem Bruder mit ernstem, strengem Blicke gerade ins Gesicht. »Als Mama die Treppe heraufstieg, hat sie sich sogar vor Angst bekreuzigt.«

Sein Gesicht verzog sich krampfhaft.

»Ach, Dunja, was du nur redest! Bitte, sei nur nicht böse, Rodja! Warum sagst du denn das, Dunja!« fiel Pulcheria Alexandrowna in größter Verlegenheit ein. »Ich habe ja doch, als wir hierherfuhren, während der ganzen Reise es mir ausgemalt, wie wir uns wiedersehen würden, wie wir einander alles erzählen würden, … und ich war so glücklich, daß mir die Reise gar nicht lang vorkam! Aber was rede ich! Ich bin ja auch jetzt glücklich! … Torheit, was du da redest, Dunja! … Schon daß ich dich sehe, macht mich glücklich, Rodja!«

»Laß gut sein, Mama«, murmelte er verlegen, ohne sie anzublicken, und drückte ihr die Hand. »Wir können uns ja noch genug aussprechen.«

Nach diesen Worten wurde er plötzlich wieder ganz verstört und blaß; wieder durchzog, wie schon unlängst einmal, ein schreckliches Gefühl wie Todeskälte seine Seele; wieder wurde es ihm auf einmal völlig klar und deutlich, daß er soeben eine furchtbare Lüge gesagt hatte, daß er nie mehr dazu kommen werde, sich frei auszusprechen, ja, daß er über nichts, niemals und mit niemand überhaupt nur werde unbefangen reden können. Der Eindruck dieses qualvollen Gedankens war so stark, daß er für einen Augenblick beinahe sich und alles um sich ganz vergaß, von seinem Platze aufstand und, ohne jemand anzusehen, nach der Tür ging, um das Zimmer zu verlassen.

»Was ist mit dir?« rief Rasumichin und ergriff ihn bei der Hand.

Er setzte sich wieder hin und blickte schweigend um sich her; alle sahen ihn bestürzt an.

»Ja, warum seid ihr denn alle so langweilig?« rief er plötzlich zur Verwunderung aller. »So redet doch etwas! Wozu sitzen wir denn eigentlich so stumm da? Na, so sprecht doch! Wir wollen uns unterhalten! … Nun sind wir hier zusammengekommen und schweigen! … Na, sagt doch irgend etwas!«

»Gott sei Dank! Ich dachte schon, es stieße ihm etwas Ähnliches zu wie gestern!« sagte Pulcheria Alexandrowna und bekreuzigte sich.

»Was hast du nur, Rodja?« fragte Dunja unsicher.

»Ich? Gar nichts, es fiel mir nur eine komische Geschichte ein«, erwiderte er und lachte auf.

»Nun, wenn’s das ist, dann ist’s ja gut! Sonst dachte ich selbst schon …«, murmelte Sossimow und erhob sich vom Sofa. »Ich muß aber nun gehen; ich komme vielleicht noch einmal mit heran, … wenn ich Sie zu Hause treffe …«

Er verabschiedete sich und ging hinaus.

»Was für ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna.

»Ja, er ist ein prächtiger, ausgezeichneter, gebildeter, kluger Mensch«, begann Raskolnikow; er redete auf einmal ungewöhnlich schnell und mit einer Lebhaftigkeit, die er bisher nicht gezeigt hatte. »Ich kann mich gar nicht besinnen, wo ich ihn vor meiner Krankheit getroffen haben sollte … Mir ist so, als hatte ich ihn irgendwo getroffen … Der da ist auch ein guter Mensch!« fuhr er, mit einer Kopfbewegung nach Rasumichin hin, fort. »Gefällt er dir, Dunja?« fragte er und brach in ein unmotiviertes Lachen aus.

»Gewiß, sehr!» antwortete Dunja.

»Was du für dumme Späße machst!« rief Rasumichin, der ganz rot geworden war, in furchtbarer Verlegenheit und stand von seinem Stuhle auf.

Pulcheria Alexandrowna lächelte leise; Raskolnikow aber lachte laut los.

»Wo willst du denn hin?«

»Ich will auch … ich muß fort.«

»Du mußt ganz und gar nicht, bleib nur hier! Du denkst, Sossimow ist fortgegangen, also mußt du es auch tun. Geh noch nicht! … Was ist denn die Uhr? Schon zwölf? Was du für eine hübsche Uhr hast, Dunja! Aber warum seid ihr denn wieder so stumm geworden? Ich bin immer nur der einzige, der redet!«

»Es ist ein Geschenk von Marfa Petrowna«, antwortete Dunja.

»Und es ist eine sehr wertvolle Uhr«, setzte Pulcheria Alexandrowna hinzu.

»Ei! Sie ist ja so groß; man kann sie kaum noch als Damenuhr betrachten.«

»Ich habe gern eine so große«, entgegnete Dunja.

›Also kein Geschenk von ihrem Bräutigam‹, dachte Rasumichin und freute sich unwillkürlich.

»Ich glaubte, es wäre ein Geschenk von Lushin«, bemerkte Raskolnikow.

»Nein, er hat Dunja noch nichts geschenkt.«

»So, so! Erinnern Sie sich noch, Mama, ich war einmal verliebt und wollte heiraten«, sagte er unvermittelt und blickte die Mutter an, die durch diese unerwartete Wendung des Gespräches und den Ton, in dem er von diesem Gegenstande sprach, sehr überrascht war.

»Ach ja, lieber Sohn, ich erinnere mich!«

Pulcheria Alexandrowna wechselte Blicke mit Dunja und Rasumichin.

»Hm! … Ja! Aber was soll ich euch davon erzählen? Ich kann mich gar nicht mehr recht auf alles besinnen. Sie war immer so krank«, fuhr er fort, indem er den Kopf senkte, als ob er sich wieder ganz in seine Gedanken vertiefte, »ganz hinfällig war sie; ihre größte Freude war, den Bettlern Almosen zu geben, und immer sehnte sie sich nach dem Kloster und zerfloß einmal ganz in Tränen, als sie mit mir davon sprach; ja, ja, … ich erinnere mich, … ganz genau erinnere ich mich. Sie war unschön … in ihrer äußeren Erscheinung. Ich weiß wirklich nicht, warum ich damals so an ihr hing, vielleicht weil sie immer krank war … Wenn sie dazu noch lahm oder buckelig gewesen wäre, ich glaube, ich hätte sie nur noch lieber gehabt …« (Er lächelte melancholisch.) »Es war so eine Jugendeselei …«

»Nein, die war es nicht«, sagte Dunja lebhaft und mit Wärme.

Er blickte seine Schwester starr und anscheinend aufmerksam an, hatte aber ihre Worte nicht verstanden und wohl gar nicht gehört. Dann stand er tief in Gedanken auf, trat zu seiner Mutter, küßte sie, kehrte zu seinem Platze zurück und setzte sich wieder hin.

»Du liebst sie wohl auch jetzt noch?« fragte Pulcheria Alexandrowna gerührt.

»Sie? Jetzt? Ach so … Sie meinen die Verstorbene! Nein. Das ist, wie wenn’s in einer andern Welt geschehen wäre, … es liegt so unendlich weit zurück. Ja, auch alles um mich herum, … mir ist, als ob es gar nicht hier geschähe …«

Er sah die beiden aufmerksam an.

»Und auch euch selbst … wenn ich euch ansehe, so kommt mir’s vor, als wäret ihr tausend Werst weit von mir entfernt … Weiß der Kuckuck, warum wir über solche Dinge hier reden! Und wozu fragt ihr mich so aus?« fügte er ärgerlich hinzu; dann schwieg er, biß sich auf die Nägel und versank wieder in seine Gedanken.

»Was du für ein schlechtes Zimmer hast, Rodja; es sieht wie ein Sarg aus«, sagte Pulcheria Alexandrowna, um das bedrückende Schweigen zu unterbrechen. »Ich bin überzeugt, daß diese Wohnung zu einem großen Teil mit daran schuld ist, daß du so melancholisch geworden bist.«

»Die Wohnung?« antwortete er zerstreut. »Ja, die Wohnung hat sehr dazu beigetragen, … das habe ich mir auch schon gesagt … Wenn Sie aber wüßten, was für einen interessanten Gedanken Sie da eben ausgesprochen haben, Mama«, fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu.

Es war ganz nahe daran, daß diese Gesellschaft, diese seine nächsten Angehörigen, die er nach dreijähriger Trennung wiedersah, dieser vertrauliche Gesprächston neben der vollständigen Unmöglichkeit, über irgendeinen Gegenstand zu sprechen – daß dies alles ihm schließlich geradezu unerträglich wurde. Indes, da war noch eine unaufschiebbare Angelegenheit, die auf die eine oder andre Weise, aber unbedingt heute noch entschieden werden mußte – darüber war er sich schon vorhin, gleich nachdem er aufgewacht war, schlüssig geworden. Jetzt freute er sich über diese Angelegenheit wie über einen Ausweg aus der peinlichen Lage.

»Was ich noch sagen wollte, Dunja,« begann er in ernstem, trockenem Tone, »ich bitte dich natürlich wegen meines gestrigen Benehmens um Verzeihung; aber ich halte es für meine Pflicht, dich nochmals daran zu erinnern, daß ich von dem, was mir der Hauptpunkt war, nicht abgehe. Entweder ich oder Lushin. Mag ich immerhin ein Schuft sein, aber du darfst es nicht werden. Es ist genug an einem von uns. Wenn du Lushin heiratest, betrachte ich dich sofort nicht mehr als meine Schwester.«

»Rodja, Rodja! Das ist ja aber ganz dasselbe wie gestern!« rief Pulcheria Alexandrowna bekümmert. »Und warum nennst du dich denn immer einen Schuft? Ich kann das nicht ertragen! Das hast du auch gestern getan!«

»Bruder«, antwortete Dunja fest und in ebenso trockenem Tone, »in alledem liegt ein Irrtum deinerseits vor. Ich habe heute nacht darüber nachgedacht und den Irrtum herausgefunden. Er besteht darin, daß du anscheinend annimmst, ich brächte mich jemandem und für jemand zum Opfer. So steht es keineswegs. Ich heirate einfach um meiner selbst willen, weil mir mein jetziges Leben gar zu drückend ist; natürlich werde ich mich aber auch freuen, wenn es mir möglich werden sollte, meinen Angehörigen nützlich zu sein; aber das Hauptmotiv zu meinem Entschlusse ist das nicht …«

›Sie lügt!‹ dachte er bei sich und biß sich ingrimmig auf die Nägel. ›Sie ist stolz und möchte nicht eingestehen, daß sie einem eine Wohltat erweisen will! Welch ein Hochmut! O diese kleinlich denkenden Menschen! Sie maskieren ihre Liebe als Gleichgültigkeit … Oh, wie ich sie alle hasse!‹

»Mit einem Worte, ich werde Pjotr Petrowitsch heiraten«, fuhr Dunja fort, »weil ich von zwei Übeln das kleinere wählen möchte. Ich habe den Vorsatz, ehrlich alles zu erfüllen, was er von mir erwartet; also täusche ich ihn nicht … Warum hast du jetzt eben so gelächelt?«

Sie wurde rot, und in ihren Augen funkelte der Zorn.

»Du wirst alles erfüllen?« fragte er, boshaft lächelnd.

»Bis zu einer bestimmten Grenze. Pjotr Petrowitschs ganzes Verhalten und die Art seiner Werbung haben mich sofort erkennen lassen, was er nötig hat. Er ist ja gewiß von seinem eigenen Werte überzeugt, vielleicht zu sehr; aber ich hoffe, daß er auch mich zu schätzen weiß … Warum lachst du wieder?«

»Und du, warum wirst du wieder rot? Du lügst, Schwester, du lügst absichtlich, nur aus weiblichem Eigensinn, lediglich um mir gegenüber deine Behauptung aufrechtzuerhalten … Du kannst Lushin nicht achten: ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Folglich verkaufst du dich für Geld, und folglich handelst du unter allen Umständen unwürdig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch darüber erröten kannst!«

»Das ist nicht wahr, ich lüge nicht!« rief Dunja, die nun ihre Kaltblütigkeit völlig verlor. »Ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß er mich achtet und schätzt; ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, daß auch ich ihn achten kann. Zum Glück kann ich mich zuverlässig davon überzeugen, und sogar heute noch. Und eine solche Heirat ist nicht, wie du dich ausdrückst, eine Schuftigkeit! Und selbst wenn du recht hättest, wenn ich mich wirklich zu einer Schuftigkeit entschlossen hätte – ist es dann nicht eine Unbarmherzigkeit von dir, so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir einen Heroismus, der vielleicht in dir selbst nicht steckt? Das ist Despotismus, das ist Vergewaltigung! Wenn ich jemand zugrunde richte, so doch nur mich allein … Ich habe noch keinen Menschen gemordet! … Was siehst du mich denn so an? Warum bist du so blaß geworden? Rodja, was fehlt dir? Liebster Rodja!«

»Herrgott! Sie hat ihn bis zur Ohnmacht gebracht!« schrie Pulcheria Alexandrowna auf.

»Nein, nein … Dummes Zeug … Es ist nichts … Mir wurde nur ein bißchen schwindlig. Von Ohnmacht ist nicht die Rede! … Ihr immer mit euren Ohnmachten! … Hm! ja, … was wollte ich doch noch sagen? Ja: wie willst du dich denn heute noch davon überzeugen, daß du ihn achten kannst und daß er dich schätzt, wie du sagtest? Du sagtest ja wohl: heute? Oder habe ich mich verhört?«

»Mama, zeigen Sie ihm doch Pjotr Petrowitschs Brief«, sagte Dunja.

Pulcheria Alexandrowna reichte mit zitternden Händen den Brief hin. Er ergriff ihn höchst gespannt. Aber ehe er ihn entfaltete, blickte er auf einmal seine Schwester wie verwundert an.

»Sonderbar«, sagte er langsam, wie von einem neuen Gedanken überrascht, »warum ereifre ich mich eigentlich so? Wozu dieser ganze Lärm? Mag sie doch heiraten, wen sie will!«

Er sagte das scheinbar nur für sich, sprach aber dabei ganz laut und blickte eine Weile seine Schwester an, als ob er ganz erstaunt wäre.

Endlich faltete er den Brief auseinander, immer noch mit derselben Miene einer eigentümlichen Verwunderung; dann begann er ihn langsam und aufmerksam zu lesen und las ihn zweimal durch. Pulcheria Alexandrowna befand sich in heftiger Unruhe; alle erwarteten sie etwas Besonderes.

»Eines setzt mich in Verwunderung«, begann er, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, und reichte den Brief der Mutter wieder hin, wandte sich aber mit seinen Worten nicht direkt an einen der Anwesenden, »er führt doch Prozesse, ist Rechtsanwalt, und auch seine Art zu reden zeigte so eine geschäftliche Routine – aber was schreibt er für einen ungebildeten Stil!«

Alle gerieten in Bewegung; sie hatten etwas ganz anderes erwartet.

»So schreiben doch diese Leute alle!« warf Rasumichin kurz hin.

»Hast du den Brief gelesen?«

»Ja.«

»Wir haben ihn ihm gezeigt, Rodja; wir haben ihn vorhin um Rat gefragt«, fügte Pulcheria Alexandrowna verlegen zur Erklärung hinzu.

»Es ist im Grunde der übliche Gerichtsstil«, unterbrach sie Rasumichin. »Gerichtliche Schriftstücke werden noch heutzutage so abgefaßt.«

»Gerichtsstil? Ja, ganz richtig, Gerichtsstil, Geschäftsstil, das ist’s. Nicht gerade sehr ungebildet, aber auch nicht gerade sehr geschmackvoll; Geschäftsstil!«

»Pjotr Petrowitsch macht auch gar kein Geheimnis daraus, daß er für seine Bildung nicht viel Geld ausgeben konnte, und er ist sogar stolz darauf, daß er sich seinen Weg selbst gebahnt hat«, bemerkte Dunja, die sich durch den neuen Ton, in dem ihr Bruder sprach, einigermaßen gekränkt fühlte.

»Nun, wenn er stolz ist, so wird er auch seinen Anlaß dazu haben – ich widerspreche nicht. Du fühlst dich wohl dadurch verletzt, liebe Schwester, daß ich über den ganzen Brief nur diese spöttische Bemerkung gemacht habe, und glaubst, ich spräche absichtlich über solche Kleinigkeiten, weil ich ärgerlich wäre und mich über dich lustig machen wollte. Aber dem ist nicht so; sondern gerade anläßlich des Stils hat sich mir eine für den vorliegenden Fall ganz und gar nicht nebensächliche Beobachtung aufgedrängt. Da findet sich in dem Briefe eine Wendung: ›Sie würden sich dann die Schuld selbst zuzuschreiben haben‹; das ist recht bedeutsam und verständlich gesagt. Und außerdem kommt die Drohung vor, er werde sofort weggehen, wenn ich zu euch hinkäme; diese Drohung, fortzugehen, bedeutet einfach, daß er sich von euch beiden lossagen will, falls ihr euch ungehorsam zeigt, und daß er sich von euch jetzt lossagen will, wo er euch schon hat nach Petersburg kommen lassen. Nun, was meinst du, kann man einem solchen Manne wie Lushin einen solchen Ausdruck in gleichem Grade übelnehmen, wie wenn ihn der hier« (er zeigte auf Rasumichin) »oder Sossimow oder sonst jemand aus unserm Kreise gebraucht hätte?«

»N-nein«, erwiderte Dunja eifrig, »ich habe recht wohl gefühlt, daß der Ausdruck etwas zu plump gewählt war und daß Lushin wohl die Feder nicht ganz in seiner Gewalt hat … Dein Urteil ist durchaus zutreffend, lieber Bruder. Ich bin geradezu überrascht…«

»Das ist im Gerichtsstil ausgedrückt, und im Gerichtsstil kann man eben nicht anders schreiben, und es ist gröber herausgekommen, als es vielleicht in seiner eigenen Absicht gelegen hat. Übrigens muß ich dich noch über einen Punkt aufklären; in diesem Briefe ist noch so ein Ausdruck enthalten, eine gegen mich gerichtete Verleumdung, und zwar eine recht nichtswürdige. Ich habe das Geld gestern der Witwe gegeben, einer schwindsüchtigen, tiefgebeugten Frau, und nicht ›unter dem Vorwande, daß es zur Bestreitung der Begräbniskosten dienen solle‹, sondern tatsächlich zur Bestreitung der Begräbniskosten, auch nicht der Tochter, die er als ›ein Mädchen von notorisch schlechtem Lebenswandel‹ bezeichnet (ich habe sie gestern zum ersten Male in meinem Leben gesehen), sondern wirklich der Witwe. In alledem erkenne ich das übereifrige Bestreben, mich mit Kot zu bewerfen und mit euch zu entzweien. Es ist wieder im Gerichtsstil ausgedrückt, das heißt mit gar zu deutlicher Klarlegung der Absicht und mit sehr naiver Eilfertigkeit. Er ist ein kluger Mann; aber um nun auch klug zu handeln, dazu ist der bloße Verstand nicht ausreichend. Dies alles ist für den Menschen charakteristisch, und … ich glaube nicht, daß er dich sehr schätzt. Ich teile dir das nur zur Erwägung mit, weil ich aufrichtig dein Bestes wünsche …«

Dunja antwortete nicht; sie hatte ihren Entschluß schon vorhin gefaßt und erwartete nur noch den Abend.

»Wofür entscheidest du dich denn also, Rodja?« fragte Pulcheria Alexandrowna, die sich durch den neuen, geschäftsmäßigen Ton, den er jetzt angeschlagen hatte, noch mehr beunruhigt fühlte als vorher.

»Was meinst du damit?«

»Nun, Pjotr Petrowitsch schreibt doch, du solltest heute abend nicht bei uns sein, und er würde fortgehen, … wenn du hinkämest. Also was hast du vor? … Wirst du kommen?«

»Das habe natürlich nicht ich zu entscheiden, sondern in erster Linie Sie, wenn Sie sich durch eine solche Forderung Pjotr Petrowitschs nicht beleidigt fühlen, und in zweiter Linie Dunja, wenn sie sich gleichfalls nicht beleidigt fühlt. Ich werde tun, was euch am besten scheint«, fügte er trocken hinzu.

»Dunja ist sich bereits darüber schlüssig geworden, und ich bin vollständig mit ihr einverstanden«, beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu erklären.

»Ich habe mich dafür entschieden, dich zu bitten, Rodja, dich dringend zu bitten, daß du an dieser Zusammenkunft bei uns unter allen Umständen teilnehmen möchtest«, sagte Dunja. »Wirst du kommen?«

»Ja.«

»Ich bitte auch Sie, um acht Uhr bei uns zu sein«, wandte sie sich an Rasumichin. »Mama, ich möchte den Herrn gleichfalls auffordern.«

»Vortrefflich, Dunjetschka. Nun, mag es geschehen, wie ihr bestimmt habt«, fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. »Auch mir ist dabei leichter ums Herz; Verstellung und Lüge liegen nicht in meiner Art; wir wollen lieber die volle Wahrheit sagen … Dann mag sich Pjotr Petrowitsch ärgern oder nicht.«

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