Kapitel 24

IV

Raskolnikow aber ging geradeswegs nach dem Hause am Kanal, wo Sonja wohnte. Es war ein altes zweistöckiges, grün angestrichenes Haus. Er suchte den Hausknecht auf, der ihm so ungefähr beschrieb, wo der Schneider Kapernaumow wohne. Auf dem Hofe fand er in einer Ecke den Eingang zu einer engen, dunklen Treppe, gelangte auf ihr, langsam hinaufsteigend, endlich zum ersten Stockwerk und trat auf eine Galerie hinaus, die an diesem Stockwerk auf der Hofseite hinlief. Während er in der Dunkelheit umhertappte, ohne den Eingang zu Kapernaumows Wohnung finden zu können, wurde plötzlich drei Schritte von ihm entfernt eine Tür geöffnet; ganz mechanisch trat er hinzu und faßte nach ihr.

»Wer ist da?« fragte ängstlich eine weibliche Stimme.

»Ich bin es, … ich wollte zu Ihnen«, antwortete Raskolnikow und trat in ein winziges Vorzimmer ein. Hier brannte auf einem durchgesessenen Stuhle ein Licht in einem verbogenen Messingleuchter.

»Sie sind es! O Gott!« rief Sonja mit schwacher Stimme und blieb wie erstarrt stehen.

»Wo geht es in Ihr Zimmer? Hier?«

Raskolnikow vermied es, sie anzusehen, und trat schnell in das Zimmer.

Einen Augenblick darauf kam auch Sonja mit dem Lichte herein, stellte das Licht hin und blieb selbst ganz fassungslos vor ihm stehen; sie befand sich in unbeschreiblicher Aufregung und war über seinen unerwarteten Besuch augenscheinlich im höchsten Grade erschrocken. Plötzlich übergoß tiefe Röte ihr bleiches Gesicht, und die Tränen traten ihr in die Augen … Sie fühlte sich sehr bedrückt und schämte sich und empfand dabei doch eine Art von wonniger Freude … Raskolnikow wendete sich schnell von ihr ab und setzte sich auf einen Stuhl am Tische. Mit einem schnellen Blicke musterte er das Zimmer.

Das Zimmer war groß, aber außerordentlich niedrig; es war das einzige, welches Kapernaumows vermieteten; die zu ihnen führende Tür befand sich in der Wand links und war geschlossen. Gegenüber, in der Wand rechts, befand sich noch eine andre Tür, die fest zugenagelt war. Dort lag schon eine andre Wohnung, die Nachbarwohnung, die eine andre Nummer hatte. Sonjas Zimmer glich einer Scheune; es bildete ein ganz unregelmäßiges Viereck, wodurch es sehr mißgestaltet aussah. Die nach dem Kanal zu gelegene Wand, welche drei Fenster hatte, verlief schräg; infolgedessen verlor sich die eine sehr spitze Ecke des Zimmers ganz im Hintergrunde, so daß man sie bei der schwachen Beleuchtung gar nicht einmal ordentlich erkennen konnte; die andre Ecke dagegen war in häßlichem Grade stumpf. In diesem ganzen großen Zimmer standen fast gar keine Möbel. In der Ecke rechts stand ein Bett; daneben, mehr nach der Tür zu, ein Stuhl. An derselben Wand, wo das Bett war, stand dicht an der nach der fremden Wohnung führenden Tür ein einfacher Brettertisch; darüber lag eine blaue Decke; neben dem Tische standen zwei Rohrstühle. Ferner stand an der gegenüberliegenden Wand in der Nähe der spitzen Ecke eine kleine Kommode aus einfachem Holze, die in dem leeren Raume wie verloren aussah. Das war alles, was sich im Zimmer befand. Die gelbliche, abgenutzte und zerrissene Tapete war überall in den Zimmerecken schwarz geworden, was darauf schließen ließ, daß es hier im Winter feucht und muffig war. Die Ärmlichkeit war überall sichtbar: es fehlte sogar am Bette der Vorhang.

Sonja blickte den Besucher schweigend an, der ihr Zimmer so aufmerksam und ungeniert betrachtete, und fing schließlich vor Furcht an zu zittern, als stände sie vor einem Richter, der über ihr Geschick entscheiden sollte.

»Ich komme zu so später Stunde … Es ist wohl schon elf?« fragte er, immer noch, ohne sie anzusehen.

»Ja«, murmelte Sonja. »Ach ja, es ist elf«, fuhr sie eilig fort, als käme darauf für sie viel an. »Eben hat bei den Wirtsleuten die Uhr geschlagen, … ich habe es selbst gehört … Es ist elf.«

»Es ist das letztemal, daß ich zu Ihnen komme«, fuhr Raskolnikow düster fort, obwohl es überhaupt erst das erstemal war. »Ich werde Sie vielleicht nie wiedersehen.«

»Sie wollen … wegreisen?«

»Ich weiß es nicht … Das wird sich alles morgen zeigen …«

»Also werden Sie morgen nicht zu Katerina Iwanowna kommen?« fragte Sonja mit bebender Stimme.

»Ich weiß es nicht. Morgen früh wird sich alles zeigen … Aber darum handelt es sich nicht: ich bin hergekommen, um Ihnen nur wenige Worte zu sagen …«

Er hob seinen schwermütigen Blick zu ihr auf und bemerkte erst jetzt, daß er saß und sie immer noch vor ihm stand.

»Warum stehen Sie denn? Setzen Sie sich doch hin!« sagte er mit veränderter, leiser, milder Stimme. Er blickte sie einen Augenblick lang freundlich und beinahe mitleidig an.

»Wie mager Sie sind! Was haben Sie für eine Hand! Ganz durchsichtig! Finger wie bei einer Toten!«

Er ergriff ihre Hand. Sonja lächelte schwach.

»Ich bin immer so gewesen«, erwiderte sie.

»Auch als Sie noch zu Hause wohnten?«

»Ja.«

»Nun ja, natürlich!« stieß er kurz hervor, und sein Gesichtsausdruck und der Klang seiner Stimme veränderten sich plötzlich wieder.

Er blickte noch einmal um sich.

»Sie haben das Zimmer dem Schneider Kapernaumow abgemietet?«

»Ja.«

»Ihre Wirtsleute wohnen dort, hinter dieser Tür?«

»Ja … Sie haben ein ebensolches Zimmer.«

»Wohnen die alle in einem Zimmer?«

»Ja.«

»Ich würde mich nachts in Ihrem Zimmer fürchten«, sagte er düster.

»Die Wirtsleute sind sehr gut und freundlich«, antwortete Sonja, die immer noch nicht die Fassung wiedergewonnen und ihre Gedanken gesammelt hatte. »Auch alle Möbel und alles hier … alles gehört ihnen. Es sind sehr brave Leute, und auch die Kinder kommen oft zu mir …«

»Stottert die Familie nicht?«

»Ja, er stottert und ist außerdem lahm. Und die Frau stottert auch … Das heißt, eigentlich stottern tut sie nicht, aber sie spricht nicht alle Buchstaben aus. Es ist eine gute Frau, eine sehr gute Frau. Er ist früher Knecht auf einem Gute gewesen. Sie haben sieben Kinder, … bloß der älteste stottert, die andern sind nur immer krank, … aber stottern tun sie nicht … Aber woher wissen Sie das?« fügte sie einigermaßen erstaunt hinzu.

»Ihr Vater hat mir damals alles erzählt. Auch von Ihnen hat er mir alles erzählt … Auch wie Sie um sechs Uhr weggingen und um neun wiederkamen, und wie Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien gelegen hat.«

Sonja wurde befangen.

»Ich habe ihn heute gesehen«, flüsterte sie zaghaft.

»Wen?«

»Den Vater. Ich ging auf der Straße, da nebenan, an der Ecke, zwischen neun und zehn, und da war mir, als ginge er vor mir. Ganz genau wie er. Ich wollte schon zu Katerina Iwanowna gehen …«

»Gingen Sie spazieren?«

»Ja«, flüsterte Sonja kurz; sie wurde wieder befangen und schlug die Augen nieder.

»Als Sie noch bei dem Vater wohnten, hat wohl manchmal nicht viel daran gefehlt, daß Katerina Iwanowna Sie geschlagen hätte?«

»Ach nein! Was sagen Sie da! Nein, nein!« erwiderte Sonja und blickte ihn beinahe erschrocken an.

»Also haben Sie Ihre Stiefmutter lieb?«

»Aber ja-a, ja-a, gewiß!« antwortete Sonja in gedehntem klagendem Tone und faltete mit schmerzlichem Ausdruck die Hände. »Ach, Sie sollten sie kennen … Wenn Sie nur alles wüßten! Sie ist ja ganz wie ein Kind … Es ist, als ob ihr Verstand gelitten hätte … von all dem Kummer. Und wie klug sie früher war, … wie hochherzig, … wie gut! Davon wissen Sie nichts, … ach!«

Sonja sagte das im Tone der Verzweiflung und rang in schmerzlicher Erregung die Hände. Eine heiße Röte trat wieder in ihre blassen Wangen, und ihre Augen spiegelten die Qual wider, die sie empfand. Es war deutlich, daß eine kräftige Saite ihres Herzens angeschlagen war, daß es ihr ein Bedürfnis war, etwas über ihre Stiefmutter zu sagen, sie zu verteidigen. Eine Art von unersättlichem Mitleid, wenn man sich so ausdrücken kann, malte sich auf ihren Zügen.

»Geschlagen! Was sagen Sie nur! O Gott, geschlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre dabei gewesen? Nun, was wäre dabei gewesen? Sie kennen sie nicht, kennen sie gar nicht … Sie ist so unglücklich, ach, so unglücklich! Und krank! … Sie verlangt nach Gerechtigkeit … Sie ist ehrenhaft. Sie ist fest davon überzeugt, daß in der Welt Gerechtigkeit herrschen müsse, und fordert sie auch für sich … Und wenn man sie martern wollte, sie würde nichts Ungerechtes tun. Sie sieht nicht, daß es eben bei den Menschen nicht gerecht zugehen kann, und regt sich darüber auf … Wie ein Kind ist sie, wie ein Kind! Sie ist eine Gerechte, eine Gerechte!«

»Und was wird nun mit Ihnen werden?«

Sonja sah ihn fragend an.

»Die Hinterbliebenen sind nun doch auf Sie angewiesen. Das war freilich auch früher mit der ganzen Familie so, und auch der Verstorbene kam zu Ihnen, um Sie um Geld zum Trinken zu bitten. Aber was wird jetzt werden?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sonja traurig.

»Werden die dort wohnen bleiben?«

»Ich weiß es nicht; sie sind die Miete schuldig; die Wirtin hat, wie ich gehört habe, heute gesagt, sie wollte sie heraussetzen; aber Katerina Iwanowna sagt, sie würde auch von selbst nicht einen Augenblick länger dableiben.«

»Woher ist sie denn so couragiert? Sie hofft wohl auf Hilfe von Ihrer Seite?«

»Ach, sprechen Sie nicht so! … Wir gehören zueinander, wir bilden eine einzige Familie!« antwortete Sonja, wieder in Erregung und sogar etwas gereizt, ganz wie wenn ein Kanarienvogel oder ein andres kleines Vögelchen böse wird. »Was soll sie denn anfangen? Nun, was soll sie anfangen?« fragte sie eifrig und hitzig. »Und wieviel, wieviel hat sie heute geweint! Der Verstand ist bei ihr gestört; haben Sie das nicht bemerkt? Er ist wirklich gestört; bald regt sie sich wie ein kleines Kind darüber auf, ob auch morgen bei dem Gedächtnismahl alles anständig sein wird, daß nur ja ein Imbiß da sei und das andre alles, … bald wieder ringt sie die Hände, spuckt Blut, weint und fängt auf einmal verzweifelt an, mit dem Kopfe gegen die Wand zu schlagen. Dann beruhigt sie sich wieder; sie setzt ihre ganze Hoffnung auf Sie: sie sagt, Sie seien jetzt ihr Helfer, und sie werde sich irgendwo ein bißchen Geld leihen und nach ihrer Heimatstadt reisen, und mich werde sie auch mitnehmen; und dort wolle sie ein vornehmes Mädchenpensionat errichten und mir dabei eine Stelle als Inspektorin geben, und dann werde für uns ein ganz neues, schönes Leben beginnen; und sie küßt mich, umarmt mich und tröstet mich und glaubt an diese Hirngespinste, glaubt fest daran! Nun, kann man ihr da wohl widersprechen? Und dabei hat sie heute den ganzen Tag gescheuert, gewaschen und geflickt; das Waschfaß hat sie selbst mit ihren schwachen Kräften ins Zimmer geschleppt; dabei ging ihr der Atem aus, und sie ist auf das Bett hingefallen. Und heute vormittag bin ich mit ihr zusammen in einen Laden, gegangen, um für Polenjka und Lida Schuhe zu kaufen, weil ihre alten vollständig zerrissen sind; aber als wir nun bezahlen sollten, hatten wir nicht genug Geld; es fehlte eine ziemliche Menge. Und sie hatte so hübsche kleine Stiefelchen ausgesucht; denn sie besitzt einen guten Geschmack; Sie kennen sie nur nicht … Und da fing sie im Laden so an zu schluchzen, in Gegenwart des Kaufmanns und seiner Leute, darüber, daß das Geld nicht reichte … Ach, es tat mir so leid, das mit anzusehen!«

»Unter solchen Umständen ist es schon zu verstehen, daß Sie … so leben«, sagte Raskolnikow mit bitterem Lächeln.

»Und tut sie Ihnen denn nicht auch leid?« ereiferte sich Sonja wieder. »Ich weiß doch, daß Sie selbst ihr das letzte Geld, das Sie hatten, hingegeben haben, und Sie hatten eigentlich noch nichts von dem Elend gesehen. Und wenn Sie erst alles sähen, o Gott! Und wie oft, wie oft bin ich daran schuld gewesen, daß sie weinte! Noch in der vorigen Woche! Ach, ich Schändliche! Nur eine Woche vor seinem Tode! Ich habe hartherzig gehandelt. Und wie oft, wie oft habe ich das getan! Ach, ich habe heute den ganzen Tag daran gedacht, und es ist mir so schmerzlich gewesen!«

Bei diesen Worten rang Sonja, durch die Erinnerung schmerzlich ergriffen, die Hände.

»Sie behaupten, Sie seien hartherzig gewesen?«

»Ja, das bin ich gewesen! Ich war damals zu ihnen hingekommen«, fuhr sie weinend fort, »und da sagte der Verstorbene zu mir: ›Lies mir etwas vor, Sonja, ich habe Kopfschmerzen; lies mir etwas vor, … da ist ein Buch‹; er hatte da irgendein Buch, das hatte er von Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow bekommen; der wohnt auch dort; von dem bekam er immer solche seltsamen Bücher. Und ich sagte: ›Ich habe keine Zeit, ich muß weggehen‹, und wollte ihm nicht vorlesen. Und ich war auch hauptsächlich nur deshalb zu ihnen gegangen, um Katerina Iwanowna meine Kragen zu zeigen; nämlich eine Althändlerin, Lisaweta, hatte mir Kragen und Manschetten besorgt, die waren recht billig, sehr hübsch, ganz neu, mit einem netten Muster. Und sie gefielen Katerina Iwanowna sehr; sie knöpfte sich einen Kragen um und legte ein Paar Manschetten an und besah sich im Spiegel; sie gefielen ihr sehr; ganz außerordentlich gefielen sie ihr. ›Schenk sie mir, Sonja‹, sagte sie, ›bitte, sei so gut!‹ Sie sagte ›bitte!‹ und hätte sie so sehr gern gehabt. Aber sie hat ja jetzt gar keine Verwendung für solche Wäsche; es schwebte ihr wohl nur die frühere, glückliche Zeit vor. Sie betrachtete sich im Spiegel und fand sich so schön damit, und sie hat doch nichts, was dazugehört, nichts, einfach gar nichts an Kleidern und sonstigen Sachen; und schon seit vielen Jahren nicht! Aber sie bittet nie jemand um etwas; sie ist stolz und gibt lieber selbst das Letzte weg. Und nun hatte sie mich doch gebeten – so hatten ihr die Kragen und die Manschetten gefallen! Aber mir tat es leid, sie wegzugeben, und ich sagte: ›Wozu können Sie sie denn gebrauchen, Katerina Iwanowna?‹ So habe ich gesagt: ›Wozu können Sie sie gebrauchen?‹ Das hätte ich nicht zu ihr sagen sollen! Sie sah mich so traurig an, und es war ihr so schmerzlich, daß ich es ihr abgeschlagen hatte, und es tat mir so leid, das zu sehen … Und nicht wegen der Kragen und Manschetten war sie traurig, sondern darüber, daß ich ihr etwas abgeschlagen hatte; das sah ich recht wohl. Ach, wie gern möchte ich jetzt das alles ungeschehen machen und alle meine früheren Worte zurücknehmen! … Wie schändlich bin ich gewesen! … Aber wozu sage ich Ihnen das? Das hat ja für Sie kein Interesse!«

»Also diese Althändlerin Lisaweta haben Sie gekannt?«

»Ja … Haben Sie sie etwa auch gekannt?« fragte Sonja etwas verwundert.

»Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht, im letzten Stadium; sie wird bald sterben«, sagte Raskolnikow nach kurzem Schweigen, ohne auf Sonjas Frage zu antworten.

»Ach nein, nein, nein!«

Und Sonja ergriff unwillkürlich und unbewußt seine beiden Hände, als wollte sie ihn anflehen, dies abzuwenden.

»Aber es ist ja sogar das beste, wenn sie stirbt.«

»Nein, das ist nicht das beste, nicht das beste, durchaus nicht das beste!« rief sie angstvoll und heftig.

»Und was wird dann aus den Kindern? Wo werden Sie die unterbringen? Sie werden sie doch wohl zu sich nehmen?«

»Ach, ich weiß es nicht!« rief Sonja verzweifelt und griff nach ihrem Kopfe.

Es war augenscheinlich, daß sie selbst sich schon oft, schon sehr oft diesen Gedanken hatte durch den Kopf gehen lassen und Raskolnikow ihn nur von neuem wachgerufen hatte.

»Nun, und wenn Sie jetzt, noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten, krank werden und man Sie ins Krankenhaus bringt, was wird dann aus den andern?« fragte er mit erbarmungsloser Hartnäckigkeit weiter.

»Ach, sagen Sie doch so etwas nicht! Sagen Sie doch so etwas nicht! Das kann doch nicht geschehen!« Sonjas Gesicht verzerrte sich in furchtbarer Angst.

»Warum soll das nicht geschehen können?« fuhr Raskolnikow mit grausamem Lächeln fort. »Sind Sie dagegen irgendwie versichert? Also, was wird dann aus den andern werden? Sie werden alle zusammen auf die Straße gehen; die Mutter wird husten und betteln und mit dem Kopfe gegen eine Wand schlagen, wie heute, und die Kinder werden weinen … Und dann wird sie hinfallen und nach der Polizeiwache gebracht werden und von da ins Krankenhaus, und dann wird sie sterben, und die Kinder …«

»Ach nein! Das wird Gott nicht zulassen!« rang es sich wie ein Angstschrei aus Sonjas gequälter Brust. Während sie seine Worte anhörte, hatte sie ihn flehend angeblickt und in stummer Bitte die Hände gefaltet, als ob alles von ihm abhinge.

Raskolnikow stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Sonja stand in tiefem Gram da, mit gesenktem Kopfe und schlaff herabhängenden Armen.

»Können Sie nicht etwas sparen? Etwas zurücklegen für die Zeit der Not?« fragte er, indem er plötzlich vor ihr stehenblieb.

»Nein«, flüsterte Sonja.

»Selbstverständlich sagen Sie nein! Aber haben Sie es auch versucht?« fügte er beinahe spöttisch hinzu.

»Ja, ich habe es versucht.«

»Aber es ging nicht! Nun ja, natürlich! Wozu frage ich da erst!«

Er setzte seine Wanderung im Zimmer fort. Es verging wieder etwa eine Minute.

»Sie nehmen nicht täglich etwas ein?«

Sonja wurde noch befangener als vorher, und die Röte stieg ihr wieder ins Gesicht.

»Nein«, flüsterte sie mit qualvoller Anstrengung.

»Mit Polenjka wird es gewiß ebenso werden«, sagte er plötzlich.

»Nein! Nein! Das kann nicht sein, nein!« schrie Sonja in Verzweiflung laut auf, als hätte jemand sie mit einem Messer verwundet. »Gott wird so etwas Fürchterliches nicht zulassen!«

»Er läßt es ja doch bei so vielen andern zu!«

»Nein, nein! Gott wird sie davor bewahren!« wiederholte sie ganz außer sich.

»Aber vielleicht gibt es überhaupt keinen Gott«, antwortete Raskolnikow mit einer Art von Schadenfreude, lachte auf und sah sie an.

Auf Sonjas Gesichte ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor; krampfhafte Zuckungen liefen darüber hin. Ein unbeschreiblicher Vorwurf lag in dem Blicke, mit dem sie ihn ansah; sie wollte etwas sagen, konnte aber nichts herausbringen; sie brach nur in ein bitterliches Schluchzen aus und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Sie sagen, bei Katerina Iwanowna sei der Verstand gestört; aber auch Ihr eigener Verstand ist gestört«, sagte er nach einem kurzen Schweigen.

Es vergingen fünf Minuten. Er ging die ganze Zeit über schweigend auf und ab, ohne sie anzublicken. Endlich trat er an sie heran; seine Augen funkelten. Er faßte sie mit beiden Händen an den Schultern und sah ihr gerade in das von Tränen überströmte Gesicht. Seine trockenen, heißen Augen blickten scharf und durchdringend; seine Lippen zuckten heftig … Plötzlich beugte er sich mit dem ganzen Leibe nieder, warf sich auf den Boden und küßte ihren Fuß. Sonja wankte erschrocken von ihm wie von einem Wahnsinnigen zurück. Und er sah auch wirklich völlig wie ein Wahnsinniger aus.

»Was ist Ihnen? Was tun Sie da? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Er erhob sich sofort wieder.

»Nicht vor dir habe ich meine Knie gebeugt, sondern vor dem ganzen unendlichen Leide der Menschheit«, sagte er wie in wildem Ingrimm und trat ans Fenster. »Höre«, fügte er hinzu, als er einen Augenblick darauf zu ihr zurückkam, »ich habe vorhin zu einem Verleumder gesagt, daß er nicht soviel wert ist wie dein kleiner Finger … und daß ich heute meiner Schwester eine Ehre angetan habe, indem ich sie neben dir sitzen ließ.«

»Ach, wie haben Sie nur so etwas sagen können! Und etwa gar in Gegenwart Ihrer Schwester?« rief Sonja erschrocken. »Neben mir sitzen! Eine Ehre! Aber ich bin ja eine … Ehrlose … Ach, wie haben Sie nur so etwas sagen können!«

»Nicht wegen deiner Ehrlosigkeit und Sünde habe ich das von dir gesagt, sondern wegen deines großen Leides. Daß du eine große Sünderin bist, das ist die Wahrheit«, fügte er in schwärmerischem Tone hinzu. »Und ganz besonders bist du deshalb eine Sünderin, weil du dich nutzlos getötet und zum Opfer gebracht hast. Ist das nicht gräßlich? Ist das nicht gräßlich, daß du in diesem Schmutze lebst, den du so hassest, und gleichzeitig selbst weißt (du brauchst ja nur die Augen zu öffnen), daß du niemandem dadurch hilfst, niemand aus seinem Elend errettest! Ja, ich bitte dich um alles in der Welt«, rief er beinahe wütend, »sage mir doch nur: wie kann solche Schande und Gemeinheit in deiner Seele neben andern, ganz entgegengesetzten, heiligen Empfindungen Raum finden? Da wäre es doch richtiger, tausendmal richtiger und vernünftiger, kopfüber ins Wasser zu springen und mit einem Schlage alledem ein Ende zu machen!«

»Aber was soll dann aus den andern werden?« fragte Sonja leise und blickte ihn mit schmerzlichem Ausdrucke an; verwundert schien sie aber über seinen Vorschlag ganz und gar nicht zu sein. Raskolnikow sah sie in seltsamer Weise prüfend an.

Schon allein in ihrem Blicke hatte er alles gelesen. Also sie hatte tatsächlich diesen Gedanken bereits selbst gehabt. Vielleicht hatte sie in der Verzweiflung schon oftmals und ernstlich überlegt, wie sie ihrem Elende mit einem Schlage ein Ende machen könne, so ernstlich, daß sie sich jetzt über seinen Vorschlag weiter nicht wunderte. Selbst die Grausamkeit seiner Worte war ihr nicht zum Bewußtsein gekommen; auch der Sinn seiner Vorwürfe und seine besondre Auffassung von ihrer Schande war ihr offenbar unklar geblieben; auch das durchschaute er. Er seinerseits aber begriff vollständig, welche Folterqualen, und zwar schon seit langer Zeit, ihr der Gedanke an ihre ehrlose, schmähliche Lage bereitete. ›Was in aller Welt‹, dachte er, ›was hat sie bisher zurückhalten können, alledem mit einem Schlage ein Ende zu machen?‹ Er hatte erst jetzt völlig verstanden, welch eine Bedeutung für dieses Mädchen diese armen, kleinen, vaterlosen Kinderchen hatten und diese bedauernswerte, halb irrsinnige, schwindsüchtige Katerina Iwanowna, die mit dem Kopfe gegen die Wand schlug. Aber nicht minder klar war es ihm, daß Sonjas Charakter und die freilich nur mäßige Bildung, die sie genossen hatte, ihr hatten ein Antrieb sein müssen, sich aus dieser Lage zu befreien. So war für ihn immer noch nicht die Frage beantwortet: wenn sie nicht die Kraft hatte, sich ins Wasser zu stürzen, wie hatte sie so lange schon in dieser Lage verbleiben können, ohne den Verstand zu verlieren? Gewiß, er sah ein, daß Sonjas Lage eine Erscheinung war, wie sie nur gelegentlich in unsern gesellschaftlichen Verhältnissen vorkommt, wiewohl leider keineswegs nur ganz vereinzelt und ausnahmsweise. Aber gerade diese Besonderheit der Lage, diese wenn auch nur geringe Bildung und ihr ganzes Vorleben hätten sie doch, meinte er, gleich beim ersten Schritte auf diesem abscheulichen Wege zum Selbstmorde führen müssen. Was hielt sie denn im Leben zurück? Doch wahrlich nicht die Unzucht? Mit dieser ganzen Gemeinheit hatte sie offenbar nur physisch zu schaffen gehabt; in ihr Herz hatte noch kein Atom der wirklichen Unzucht Eingang gefunden. Das sah er; sie stand ja vor ihm wie aus Glas …

›Drei Wege hat sie vor sich‹, dachte er, ›sich in den Kanal zu stürzen, ins Irrenhaus zu kommen oder … oder der wirklichen Unzucht zu verfallen, die den Verstand betäubt und das Herz gefühllos macht.‹

Die letzte von diesen drei Möglichkeiten war ihm am widerwärtigsten; aber er war bereits Skeptiker, er war jung, ein abstrakter Denker und somit Pessimist, und daher konnte er nicht umhin zu glauben, daß dieser letzte Ausgang, das heißt die Unzucht, am meisten Wahrscheinlichkeit habe.

›Aber soll denn wirklich‹, rief er in Gedanken aus, ›soll denn wirklich dieses Wesen, das sich die Reinheit der Seele noch bewahrt hat, sich mit sehenden Augen schließlich in diesen greulichen, stinkenden Pfuhl hineinziehen lassen? Hat dieser Prozeß vielleicht schon begonnen, und hat sie wirklich ihren Zustand nur deswegen bisher ertragen können, weil ihr das Laster nicht mehr so widerwärtig erscheint? Nein, nein, das kann nicht sein!‹ rief er ähnlich wie vorhin Sonja. ›Nein, was sie von dem Sprunge in den Kanal bisher zurückhielt, das war der Gedanke an die Sündhaftigkeit des Selbstmordes und der Gedanke an jene andern. Und wenn sie bisher noch nicht den Verstand verloren hat … Aber wer sagt denn das, daß sie den Verstand bisher noch nicht verloren hat? Hat sie denn noch ihren gesunden Verstand? Kann man etwa bei gesundem Verstande so urteilen, wie sie es tut? Wie kann sie denn so am Rande des Verderbens, dicht am Rande dieses stinkenden Pfuhles sitzen, in den eine geheime Gewalt sie schon hineinzieht, und abwinken und sich die Ohren zustopfen, wenn sie jemand auf die Gefahr aufmerksam macht? Was will sie denn? Erwartet sie ein Wunder? Das scheint sie wirklich zu tun. Sind das nicht lauter Anzeichen geistiger Störung?‹

Hartnäckig verblieb er bei diesem Gedanken. Dieser Ausgang gefiel ihm sogar besser als jeder andre. Er betrachtete sie schärfer.

»Du betest wohl viel zu Gott, Sonja?« fragte er sie.

Sonja schwieg; er stand neben ihr und wartete auf ihre Antwort.

»Was wäre ich ohne Gott?« flüsterte sie schnell mit sicherer Stimme, blickte ihn einen Augenblick mit aufleuchtenden Augen an und drückte ihm fest die Hand,

›So ist es also!‹ dachte er.

»Und was empfängst du denn von Gott dafür?« examinierte er sie weiter.

Sonja schwieg lange, als wäre sie nicht imstande zu antworten. Ihre schwächliche Brust hob und senkte sich stark vor Aufregung.

»Seien Sie still! Fragen Sie nicht so! Sie sind ein Unwürdiger …«, rief sie endlich und blickte ihn streng und zornig an.

›So ist es also! So ist es also!‹ wiederholte er hartnäckig in Gedanken.

»Alles gibt er mir!« flüsterte sie hastig und schlug wieder die Augen nieder.

›Das ist der Weg, den sie einschlägt; das ist die Lösung der Frage‹, sagte er sich mit voller Bestimmtheit im stillen und musterte sie mit brennendem Interesse.

Mit einem neuen, eigentümlichen, beinahe physisch schmerzhaften Gefühle schaute er auf dieses blasse, magere, unregelmäßige, eckige Gesichtchen, auf diese sanften blauen Augen, in denen ein solches Feuer, ein so starker, energischer Affekt aufleuchten konnte, auf diesen schmächtigen Körper, der noch vor Entrüstung und Zorn bebte, und dies alles kam ihm immer seltsamer vor, beinahe unmöglich. ›Eine Gottesnärrin!‹ sagte er sich überzeugt und bestimmt.

Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal bei seinem Hin- und Hergehen hatte er es bemerkt; jetzt nahm er es in die Hand und besah es. Es war das Neue Testament in russischer Übersetzung. Das Buch war in Leder gebunden, aber schon alt und abgenutzt.

»Wo hast du das her?« rief er ihr von der entfernten Ecke des Zimmers aus zu.

Sie stand noch immer an derselben Stelle, drei Schritte vom Tische entfernt.

»Es hat es mir jemand gebracht«, antwortete sie, anscheinend nur ungern und ohne ihn anzusehen.

»Wer hat es dir gebracht?«

»Lisaweta. Ich hatte sie darum gebeten.«

›Lisaweta! Seltsam!‹ dachte er.

Hier bei Sonja kam ihm alles mit jedem Augenblicke seltsamer und wunderbarer vor. Er trug das Buch zu der Kerze hin und fing an, darin zu blättern.

»Wo steht hier die Geschichte von Lazarus?« fragte er.

Sonja blickte hartnäckig auf den Fußboden und antwortete nicht. Sie stand von dem Tische halb abgewendet.

»Die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus, wo ist die? Suche sie mir, Sonja.«

Sie sah mit schrägem Blicke nach ihm hin.

»Sie suchen an der falschen Stelle … Im Evangelium des Johannes …«, flüsterte sie in strengem Tone, ohne zu ihm zu treten.

»Such es und lies es mir vor«, sagte er und setzte sich hin; einen Ellbogen auf den Tisch aufsetzend, den Kopf in die Hand stützend und finster zur Seite starrend, machte er sich fertig, zuzuhören.

›In drei Wochen ist sie im Irrenhause! Ich werde wohl auch da sein, wenn mir nicht noch Schlimmeres widerfährt‹, murmelte er vor sich hin.

Sonja nahm Raskolnikows sonderbares Verlangen mißtrauisch auf und trat zögernd zum Tische. Indes faßte sie nach dem Buche.

»Haben Sie es denn nicht auch schon gelesen?« fragte sie und blickte ihn über den Tisch herüber mit gesenktem Kopfe von unten her an. Der Ton, in dem sie sprach, wurde immer strenger.

»Das ist schon lange her … Als ich in die Schule ging. Lies doch!«

»Haben Sie es denn aber nicht in der Kirche gehört?«

»Nein, da bin ich nie hingegangen. Aber du gehst wohl oft hin?«

»N–nein«, flüsterte Sonja.

Raskolnikow lächelte.

»Ich verstehe … Da gehst du auch wohl morgen zu dem Totenamt für deinen Vater nicht mit hinein?«

»Doch; ich werde hineingehen. Ich bin auch vorige Woche in der Kirche gewesen, … ich habe eine Totenmesse lesen lassen.«

»Für wen denn?«

»Für Lisaweta. Die ist mit einem Beile erschlagen worden.«

Der gereizte Zustand seiner Nerven wurde immer schlimmer; der Kopf begann ihm zu schwindeln.

»Warst du mit Lisaweta befreundet?«

»Ja, … sie war fromm und rechtschaffen, … sie kam manchmal zu mir, … aber nur selten, … sie konnte nicht oft … Wir lasen zusammen und … sprachen darüber miteinander. Sie wird Gott schauen.«

Einen seltsamen Klang hatten für sein Ohr diese biblischen Worte, und schon wieder hatte er etwas Neues gehört: Sonja und Lisaweta hatten religiöse Zusammenkünfte gehabt, und beide waren Gottesnärrinnen.

›Hier kann man noch selbst so ein verrückter Heiliger werden! So etwas ist ansteckend!‹ dachte er.

»Lies!« rief er plötzlich eigensinnig und gereizt.

Sonja zögerte immer noch. Das Herz klopfte ihr heftig. Sie fand nicht den Mut dazu, ihm vorzulesen. Der Anblick der »unglücklichen Geisteskranken« schnitt ihm ins Herz.

»Was haben Sie denn davon? Sie glauben ja doch nicht daran?« flüsterte sie leise; sie konnte kaum atmen.

»Lies! Ich will es so!« wiederholte er hartnäckig. »Du hast doch deiner Freundin Lisaweta auch vorgelesen.«

Sonja schlug das Buch auf und suchte die Stelle. Die Hände zitterten ihr; es versagte ihr die Stimme. Zweimal fing sie an und konnte das erste Wort nicht aus der Kehle bekommen.

»Es lag aber einer krank, mit Namen Lazarus, von Bethanien«, brachte sie endlich mit Anstrengung hervor; aber hier brach ihre Stimme plötzlich mit einem unartikulierten Laute ab wie eine zu stark gespannte, zerreißende Saite. Sie bekam keine Luft, die Brust war ihr wie zusammengeschnürt.

Raskolnikow hatte bis zu einem gewissen Grade Verständnis dafür, warum es Sonja widerstrebte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so schärfer und gereizter bestand er auf seinem Verlangen. Er verstand recht wohl, wie schwer es ihr jetzt werden mußte, ihr ganzes seelisches Empfinden ans Licht zu bringen und zu enthüllen. Er verstand, daß diese Gefühle in der Tat bei ihr ein wirkliches und vielleicht schon seit langer Zeit gehütetes Geheimnis bildeten, vielleicht schon im Kindesalter, schon in der Zeit, da sie noch in der Familie lebte, neben dem unglücklichen Vater und der vor Kummer irrsinnig gewordenen Stiefmutter, mitten unter den hungrigen Kindern, bei sinnlosem Geschrei und ewigen Vorwürfen. Aber gleichzeitig erkannte er jetzt, und zwar mit Sicherheit, daß sie trotz der Beklemmung und der Beängstigung, die jetzt beim Beginn des Lesens an ihr sichtbar waren, doch gleichzeitig selbst von dem heißen Wunsche, vorzulesen, erfüllt war, und zwar gerade ihm vorzulesen, damit er, er es höre, und gerade jetzt – mochte nachher kommen, was da wollte! … Er hatte das in ihren Augen gelesen und aus ihrer schwärmerischen Erregung geschlossen! … Sie bezwang sich, unterdrückte den Krampf in der Kehle, der ihr beim ersten Verse die Stimme geraubt hatte, und las das elfte Kapitel aus dem Evangelium des Johannes weiter vor. So gelangte sie bis zum neunzehnten Verse:

»Und viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: ›Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber ich weiß auch noch, daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.‹«

Hier hielt sie wieder inne; sie merkte, daß ihr die Stimme wieder zittern und versagen werde, und schämte sich dessen …

»Jesus spricht zu ihr: ›Dein Bruder soll auferstehen.‹ Martha spricht zu ihm: ›Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage.‹ Jesus spricht zu ihr: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubest du das?‹ Sie spricht zu ihm:« (und anscheinend nur unter Schmerzen Atem holend, las Sonja mit deutlicher, kräftiger Stimme, als ob sie selbst vor aller Ohren ein Bekenntnis ihres Glaubens ablegte) »›Herr, ja; ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.‹«

Sie hielt einen Augenblick inne, hob schnell die Augen zu Raskolnikow, beherrschte sich aber sofort wieder und las weiter. Raskolnikow saß da und hörte, ohne sich zu regen, zu. Er wendete sich nicht zu der Vorleserin hin, sondern hatte den Ellbogen auf den Tisch gestützt und sah zur Seite. Nun waren sie bis zum zweiunddreißigsten Verse gelangt:

»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sähe ihn, fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: ›Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben!‹ Als Jesus sie sahe weinen und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst und sprach: ›Wo habt ihr ihn hingelegt?‹ Sie sprachen zu ihm: ›Herr, komm und siehe es.‹ Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: ›Siehe, wie hat er ihn so liebgehabt!‹ Etliche aber unter ihnen sprachen: ›Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe?‹«

Raskolnikow wandte sich zu ihr um und blickte sie aufgeregt an. Ja, richtig! Sie zitterte am ganzen Leibe in wirklichem, wahrem Fieber. Er hatte das erwartet. Sie näherte sich jetzt der Stelle, die von dem größten, unerhörten Wunder handelt, und das Gefühl eines gewaltigen Triumphes ergriff sie. Ihre Stimme wurde klangvoll wie Metall; Triumph und Freude klangen aus ihr heraus und verliehen ihr Kraft. Die Zeilen verwirrten sich vor ihrem Blicke, weil es ihr dunkel vor den Augen wurde; aber sie konnte das, was sie las, auswendig. Bei dem letzten Verse: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat«, hatte sie, die Stimme senkend, in heißer Erregung den Zweifel, den Vorwurf und den Tadel der ungläubigen, blinden Juden zum Ausdruck gebracht, die nun gleich, einen Augenblick darauf, wie vom Donner gerührt niederfallen, schluchzen und glauben würden … ›Auch er, auch er, der auch ein Verblendeter und Ungläubiger ist, auch er wird es jetzt gleich hören, auch er wird glauben, ja, ja! Jetzt gleich, jetzt gleich!‹ Dieser Gedanke zuckte ihr durch den Kopf, und sie zitterte vor freudiger Erwartung.

»Jesus aber ergrimmte abermal in sich selbst und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: ›Hebt den Stein ab.‹ Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: ›Herr, er stinkt schon; denn er ist vier Tage gelegen.‹«

Sie legte einen starken Ton auf das Wort »vier«.

»Jesus spricht zu ihr: ›Hab ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen?‹ Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: ›Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast. Doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest; aber um des Volks willen, das umherstehet, sage ich es, daß sie glauben, du habest mich gesandt.‹ Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: ›Lazare, komm heraus!‹ Und der Verstorbene kam heraus« (sie las dies mit lauter, verzückter Stimme, bebend und fröstelnd, als sähe sie alles mit eigenen Augen vor sich), »gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Gesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: ›Löset ihn auf und lasset ihn gehen.‹ Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.«

Weiter las sie nicht, und sie war auch nicht imstande dazu; sie machte das Buch zu und stand schnell vom Stuhle auf.

»Da ist die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus zu Ende«, sagte sie stockend und mit finsterem Gesichte und stand nun regungslos da, zur Seite abgewandt; sie wagte vor Scham nicht die Augen zu ihm zu erheben. Ihr fieberhaftes Zittern dauerte noch fort. Das Licht in dem verbogenen Leuchter war schon ganz tief herabgebrannt und beleuchtete trübe in diesem ärmlichen Zimmer den Mörder und die Dirne, die sich so sonderbar zum Lesen des ewigen Buches zusammengefunden hatten. Es vergingen fünf Minuten oder noch mehr.

»Ich bin hergekommen, um mit dir über eine ernste Angelegenheit zu reden«, sagte Raskolnikow endlich laut mit düsterer Miene, erhob sich und trat zu ihr hin. Sie schaute auf und sah ihn schweigend an. Sein Blick war überaus finster; eine wilde Entschlossenheit sprach aus ihm.

»Ich habe mich heute von meinen Angehörigen getrennt«, sagte er, »von meiner Mutter und von meiner Schwester. Ich gehe nun nicht wieder zu ihnen; alle Bande, die mich mit ihnen verknüpften, habe ich zerrissen.«

»Warum?« fragte Sonja; sie war wie betäubt.

Ihre heutige Begegnung mit seiner Mutter und seiner Schwester hatte auf sie einen außerordentlichen Eindruck gemacht, der allerdings ihr selbst nicht recht klar war. Die Mitteilung, daß er mit ihnen völlig gebrochen habe, erfüllte sie mit Schrecken.

»Ich habe jetzt niemand auf der Welt als dich«, fügte er hinzu. »Laß uns unsern Weg zusammen gehen … Darum bin ich zu dir gekommen. Wir sind beide verflucht; so laß uns denn auch zusammen gehen.«

Seine Augen funkelten. ›Wie halb irrsinnig!‹ dachte nun Sonja ihrerseits.

»Wohin sollen wir denn gehen?« fragte sie angstvoll und wich unwillkürlich vor ihm zurück.

»Wie kann ich das wissen? Ich weiß nur, daß derselbe Weg vor uns liegt; das weiß ich sicher – weiter nichts. Wir haben das gleiche Ziel.«

Verständnislos sah sie ihn an. Sie verstand nur das eine, daß er tief unglücklich, grenzenlos unglücklich war.

»Wenn du zu andern Menschen so sprichst, wie du zu mir gesprochen hast, so wird dich niemand verstehen«, fuhr er fort, »aber ich habe dich verstanden. Du bist mir unentbehrlich; darum bin ich zu dir gekommen.«

»Ich verstehe Sie nicht«, flüsterte Sonja.

»Du wirst mich später verstehen. Hast du denn nicht das gleiche getan wie ich? Auch du bist über eine Grenze hinübergeschritten, … hast die Kraft besessen, hinüberzuschreiten. Du hast Hand an dich gelegt; du hast ein Leben vernichtet, … dein eigenes Leben; aber das macht keinen Unterschied. Du wärest befähigt, ein verständiges, sittlich gutes Leben zu führen, und wirst auf dem Heumarkt enden … Aber du kannst diesen Zustand nicht ertragen, und wenn du allein bleibst, so wirst du den Verstand verlieren, gerade wie ich. Du bist schon jetzt wie irrsinnig; also müssen wir beide zusammen gehen, denselben Weg! So laß es uns denn tun!«

»Aber warum, warum sagen Sie denn das alles?« rief Sonja, durch seine Worte in eine seltsame, stürmische Aufregung versetzt.

»Warum ich das sage? Weil es so nicht bleiben kann; darum! Wir müssen unsre Lage doch endlich ernsthaft und ohne Selbsttäuschung erwägen und nicht wie kleine Kinder weinen und schreien: ›Gott wird es nicht zulassen!‹ Nun also, was soll dann werden, wenn du wirklich morgen ins Krankenhaus gebracht wirst? Deine Stiefmutter ist irrsinnig und schwindsüchtig; die stirbt bald; und was wird dann aus den Kindern? Hältst du für möglich, daß Polenjka vor dem sittlichen Untergange bewahrt bleibt? Hast du denn nicht schon hier an den Straßenecken Kinder gesehen, die von ihren Müttern auf den Bettel ausgeschickt werden? Ich habe festgestellt, wo und in welcher Umgebung diese Mütter wohnen. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Da ist ein Knabe von sieben Jahren schon unsittlich und ein Dieb. Und doch sind die Kinder ein Ebenbild Christi: ›Ihrer ist das Himmelreich.‹ Er hat geboten, sie zu achten und zu lieben; sie sind die Menschheit der Zukunft …«

»Was soll ich denn tun? Was soll ich tun?« rief Sonja schluchzend und händeringend.

»Was du tun sollst? Niederreißen, was niedergerissen werden muß, ein für allemal, und das Leid auf dich nehmen! Du verstehst mich nicht? Später wirst du mich verstehen … Freiheit und Macht müssen wir erlangen, besonders Macht! Macht über die ganze zitternde Kreatur und über dieses ganze Ameisenvolk! … Das ist das Ziel! Vergiß das nicht! Das ist die Mahnung, die ich dir auf den Weg mitgebe. Vielleicht spreche ich mit dir jetzt zum letztenmal. Wenn ich morgen nicht zu dir kommen sollte, so wirst du anderweitig alles erfahren, und dann erinnere dich an meine jetzigen Worte. Und irgendeinmal, später, nach Jahren, im Laufe der Zeit, wirst du vielleicht auch verstehen, was sie bedeuteten. Sollte ich aber morgen zu dir kommen, so will ich dir sagen, wer Lisaweta getötet hat. Leb wohl!«

Sonja fuhr in jähem Schreck zusammen.

»Wissen Sie denn, wer sie getötet hat?« fragte sie ihn; sie war ganz starr vor Entsetzen und sah ihn verstört an.

»Ja, ich weiß es und werde es dir sagen … Dir, nur dir. Ich habe dich dazu erwählt. Ich werde nicht kommen, um dich um Verzeihung zu bitten, sondern ich werde es dir einfach sagen. Ich habe dich schon lange dazu erwählt, dir dies zu sagen; schon damals, als dein Vater mir von dir erzählte und als Lisaweta noch lebte, nahm ich es mir vor. Lebe wohl! Gib mir nicht die Hand! Auf morgen!«

Er ging hinaus. Sonja starrte den Hinausgehenden an wie einen Irrsinnigen; aber auch sie selbst war wie wahnsinnig und war sich dessen bewußt. Der Kopf schwindelte ihr. ›O Gott! Wie kann er wissen, wer Lisaweta getötet hat? Was haben diese Worte zu bedeuten? Es ist entsetzlich!‹

Aber auf den wahren Sinn kam sie nicht, mit keinem Gedanken. Oh, er mußte furchtbar unglücklich sein! … Von seiner Mutter und von seiner Schwester hatte er sich losgesagt. Warum? Was war vorgefallen? Und was hatte er nur vor? Was hatte er ihr doch noch gesagt? Er hatte ihr den Fuß geküßt und gesagt … gesagt … ja, ganz deutlich hatte er gesagt, er könne ohne sie nicht mehr leben … O Gott!

In Fieber und wirren Gedanken brachte Sonja die ganze Nacht zu. Von Zeit zu Zeit sprang sie auf, weinte und rang die Hände; dann versank sie wieder in fieberhaften Schlaf; sie träumte von Polenjka, von Katerina Iwanowna, von Lisaweta, vom Vorlesen aus dem Evangelium und von ihm, … von ihm mit dem bleichen Gesicht, mit den glühenden Augen, … und wie er ihr die Füße küßt und weint … O Gott!

Auf der andern Seite der Tür in der Wand rechts, eben der Tür, welche Sonjas Zimmer von der Wohnung der Frau Gertruda Karlowna Rößlich trennte, befand sich ein schon geraume Zeit leerstehendes Zimmer, das zu Frau Rößlichs Wohnung gehörte und zu vermieten war, wie das ein Papptäfelchen am Haustor und ein Zettel an einer Scheibe des nach dem Kanal hinausgehenden Fensters besagte. Sonja hatte sich schon seit langer Zeit daran gewöhnt, dieses Zimmer für unbewohnt zu halten. Indessen hatte während dieses ganzen Gespräches Herr Swidrigailow in dem leeren Zimmer an der Tür gestanden und heimlich zugehört. Als Raskolnikow sich entfernt hatte, blieb Herr Swidrigailow noch einen Augenblick überlegend stehen, dann ging er auf den Zehen in sein Zimmer, das neben dem leeren lag, holte von dort einen Stuhl und stellte ihn leise dicht an die Tür, die zu Sonjas Zimmer führte. Das Gespräch war ihm merkwürdig und interessant erschienen und hatte ihm ganz außerordentlich gefallen, so sehr, daß er sich sogar einen Stuhl hinstellte, um künftig, möglicherweise schon morgen, nicht wieder die Unbequemlichkeit zu haben, eine ganze Stunde lang stehen zu müssen; er wollte sich die Sache bequemer einrichten, um das Vergnügen ungestört auskosten zu können.

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Kapitel 25

V

Als Raskolnikow am andern Morgen pünktlich um elf Uhr in dem Polizeigebäude des …schen Bezirks in die Räume des Untersuchungskommissars eingetreten war und sich bei Porfirij Petrowitsch hatte melden lassen, wunderte er sich, wie lange er warten mußte: es dauerte mindestens zehn Minuten, bis er gerufen wurde. Und er hatte geglaubt, man würde, sowie er nur käme, unverzüglich über ihn herfallen. Aber er stand im Wartezimmer, und es kamen und gingen Leute an ihm vorüber, denen er allem Anschein nach völlig gleichgültig war. Im folgenden Zimmer, das den Eindruck einer Kanzlei machte, saßen einige Schreiber bei ihrer Arbeit, und es war augenscheinlich, daß keiner von ihnen auch nur eine Ahnung hatte, wer und was Raskolnikow sei. Mit unruhigem, argwöhnischem Blicke schaute er sich um, um sich zu vergewissern, ob nicht ein Polizist in seiner Nähe sei, ein geheimer Wächter, der den Auftrag habe, auf ihn aufzupassen, damit er nicht davonginge. Aber er konnte nichts dergleichen entdecken: er sah nur die Kanzlisten mit ihrem kleinlichen Tun und Treiben und sonst noch einige Leute; aber niemand kümmerte sich um ihn; er hätte ohne weiteres auf und davon gehen können. Immer mehr festigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser rätselhafte Mensch von gestern, dieses aus der Erde aufgetauchte Gespenst, wirklich alles gesehen und gewußt hätte, man ihn, Raskolnikow, hier gewiß nicht so ruhig stehen und warten lassen würde. Und sicherlich hätte man heute nicht so lange gewartet, bis es ihm selbst belieben würde herzukommen. Es ergab sich also als Resultat: entweder hatte dieser Mensch noch keine Anzeige erstattet, oder … oder … auch er wußte einfach nichts und hatte nichts mit eigenen Augen gesehen (und wie war es denn auch möglich, daß er etwas gesehen hätte?), und folglich war dieses ganze Erlebnis, das er, Raskolnikow, gestern gehabt hatte, in der Hauptsache wieder nur ein Wahngebilde, welches seine überreizte, kranke Phantasie erzeugt hatte. Der Gedanke, daß die Sache so zu erklären sei, hatte sogar schon gestern während der ärgsten Beunruhigung und Verzweiflung angefangen, sich in ihm festzusetzen. Während er alles dies jetzt nochmals durchdachte und sich zu einem neuen Kampf erlistete, fühlte er auf einmal, daß er zitterte – und eine heiße Empörung wallte in ihm auf bei dem Gedanken, daß er wohl gar aus Furcht vor dem verhaßten Porfirij Petrowitsch zittere. Das Schrecklichste, was ihm begegnen konnte, war für ihn, nochmals mit diesem Menschen zusammenzukommen; er haßte ihn maßlos, grenzenlos und fürchtete sogar, sein Haß könnte schuld daran werden, daß er sich eine Blöße gäbe. Und so heftig war seine Empörung, daß sie dem Zittern sofort ein Ende machte; er machte sich bereit, mit kalter, dreister Miene einzutreten, und nahm sich fest vor, nach Möglichkeit zu schweigen, zu beobachten und zuzuhören und wenigstens diesmal um jeden Preis seine krankhafte Reizbarkeit zu überwinden. In diesem Augenblicke wurde er zu Porfirij Petrowitsch hereingerufen.

Er fand Porfirij Petrowitsch in seinem Arbeitszimmer allein. Das Zimmer war von mittlerer Größe; es standen darin: ein großer Schreibtisch, ein mit Wachstuch bezogenes Sofa mit einem Tisch davor, ein Eckschrank und einige Stühle, lauter fiskalische Möbel aus gelbem, poliertem Holze. In der Hinterwand, die nur von einem Bretterverschlag gebildet wurde, befand sich nach der einen Ecke zu eine geschlossene Tür; also mußten noch andre Zimmer dahinter liegen. Nach Raskolnikows Eintritt schloß Porfirij Petrowitsch sofort die Tür, durch die dieser hereingekommen war, so daß sie allein waren. Er bewillkommnete den Besucher anscheinend in heiterster Stimmung und mit freundlichster Miene, und erst einige Minuten darauf glaubte Raskolnikow an gewissen Anzeichen eine Art von Verlegenheit bei ihm zu bemerken, als sei ihm etwas in die Quere gekommen oder als sei er bei irgendwelcher Heimlichkeit ertappt worden.

»Ah, Verehrtester, da sind Sie ja auch … in unserm Reiche …«, begann Porfirij und streckte ihm beide Hände entgegen. »Nun, setzen Sie sich, Väterchen! Oder vielleicht mögen Sie es nicht gern, daß man Sie … so tout court … Verehrtester und Väterchen nennt? Halten Sie es bitte nicht für Zudringlichkeit! Bitte hierher, auf das Sofa!«

Raskolnikow setzte sich, ohne die Augen von ihm abzuwenden.

»In unserm Reiche«, die Entschuldigung wegen der familiären Anrede, die französische Phrase tout court und andres mehr, das waren alles charakteristische Anzeichen. ›Er hat mir zwar beide Hände entgegengestreckt, mir aber keine Hand gereicht, sondern sie noch rechtzeitig zurückgezogen‹, fuhr es ihm argwöhnisch durch den Kopf. Beide beobachteten sich wechselseitig; aber sobald sich ihre Blicke begegneten, wandten sie sie beide blitzschnell voneinander ab.

»Ich bringe Ihnen hier die Eingabe wegen der Uhr, … hier, bitte. Ist es richtig, wie ich sie aufgesetzt habe, oder soll ich sie noch einmal umschreiben?«

»Was? Ach, die Eingabe! Nein, es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung, seien Sie unbesorgt, alles ganz wunderschön!« erwiderte Porfirij Petrowitsch hastig, als müßte er schnell weg, und nahm erst nach diesen Worten das Schriftstück in die Hand und sah es durch. »Ja, es ist wunderschön; weiter ist nichts erforderlich«, bestätigte er nochmals mit der gleichen Zungenfertigkeit und legte das Schreiben auf den Sofatisch.

Eine Minute später, als er bereits von etwas anderem sprach, nahm er es wieder vom Sofatische weg und trug es nach dem Schreibtische hinüber.

»Sie sagten ja wohl gestern, daß Sie mich in aller Form zu vernehmen wünschten … über meine Bekanntschaft mit dieser ermordeten Frau?« begann Raskolnikow.

›Warum habe ich nur dieses »ja wohl« eingeschaltet?‹ durchzuckte es ihn. ›Na, warum beunruhige ich mich so darüber, daß ich dieses »ja wohl« eingeschaltet habe?‹ folgte ein zweiter Gedanke blitzschnell nach.

Und plötzlich kam es ihm zum Bewußtsein, daß seine Zweifelsucht infolge des bloßen Zusammenseins mit Porfirij, infolge einiger weniger Worte, einiger weniger Blicke bereits in einem Augenblicke zu ungeheuerlichen Dimensionen herangewachsen sei … und daß es enorm gefährlich sei, wenn in solcher Art die Reizbarkeit der Nerven zunehme und die Aufregung steige. ›Schlimm! Schlimm! … Die Zunge wird mir wieder durchgehen!‹

»Ja, ja, ja! Seien Sie unbesorgt! Die Sache hat ja Zeit, viel Zeit«, murmelte Porfirij Petrowitsch; er ging, anscheinend zwecklos, neben dem Sofatische hin und her; dann wieder lief er zum Fenster, dann zum Schreibtisch, dann wieder zum Sofatisch; bald wich er Raskolnikows argwöhnischem Blicke aus, bald blieb er auf einem Fleck stehen und starrte ihm gerade ins Gesicht.

Ganz wunderlich nahm sich dabei seine kleine, dicke, runde Figur aus, wie ein großer Gummiball, der bald nach dieser, bald nach jener Seite hinrollt und immer gleich wieder von allen Wänden und Ecken zurückprallt.

»Das hat ja noch Zeit, das hat ja noch Zeit! … Rauchen Sie? Haben Sie bei sich? Bitte, da ist eine Zigarette!« fuhr er fort, indem er seinem Gaste eine Zigarette reichte. »Wissen Sie, ich empfange Sie hier; meine Wohnung liegt da auf der andern Seite der dünnen Wand, … eine Dienstwohnung; aber ich benutze jetzt einstweilen eine Privatwohnung. Es waren hier ein paar Reparaturen nötig. Jetzt ist alles fast in Ordnung. Eine Dienstwohnung, wissen Sie, das ist doch eine prächtige Sache, nicht wahr? Meinen Sie nicht auch?«

»Ja, das ist eine prächtige Sache«, erwiderte Raskolnikow und blickte ihn beinahe spöttisch an.

»Eine prächtige Sache, eine prächtige Sache«, sagte Porfirij Petrowitsch mehrmals hintereinander, als ob er auf einmal an etwas ganz anderes dächte. »Ja, eine prächtige Sache!« rief er zuletzt sehr laut, richtete plötzlich seine Blicke auf Raskolnikow und blieb zwei Schritte von ihm entfernt stehen.

Diese mehrmalige törichte Wiederholung, daß eine Dienstwohnung eine prächtige Sache sei, bildete in ihrer Plattheit einen schroffen Widerspruch zu dem ernsten, nachdenklichen, rätselhaften Blicke, den er jetzt auf dem Besucher ruhen ließ.

Dadurch wurde Raskolnikows Wut noch mehr ins Kochen gebracht, und er konnte eine spöttische und recht unvorsichtige Herausforderung nicht mehr zurückhalten:

»Wissen Sie was?« fragte er, indem er ihn dreist anblickte und einen wahren Genuß von seiner Dreistigkeit hatte. »Es gibt ja doch wohl bei der Justiz für alle möglichen Untersuchungsbeamten eine Regel, einen Kniff: zuerst weit auszuholen, mit Kleinigkeiten anzufangen oder auch mit etwas Ernsthaftem, aber völlig Fremdartigem, um den, der verhört werden soll, sozusagen zu ermutigen oder, richtiger ausgedrückt, zu zerstreuen und seine Vorsicht einzuschläfern, und ihn dann auf einmal, wenn er es am wenigsten erwartet, durch eine verhängnisvolle, gefährliche Frage, wie durch einen Knüttelschlag gerade auf den Scheitel, zu betäuben; nicht wahr? Das wird ja wohl in allen Leitfäden und Anweisungen bis auf den heutigen Tag als eine besondere Weisheit eingeschärft?«

»Ganz richtig, ganz richtig … Also Sie meinen, ich hätte Sie durch das von der Dienstwohnung … hm … ja?« Nach diesen Worten kniff Porfirij Petrowitsch die Augen zusammen und zwinkerte ihm zu; ein vergnügter, schlauer Ausdruck huschte über sein Gesicht; die Falten auf seiner Stirn glätteten sich; die Äuglein wurden ganz klein; das ganze Gesicht zog sich in die Breite; und plötzlich brach er in ein nervöses, lange anhaltendes Lachen aus, wobei er den ganzen Körper hin und her wiegte und schwankte, seinem Besucher aber gerade in die Augen blickte. Dieser begann, sich etwas Zwang antuend, selbst zu lachen. Aber als nun bei diesem Anblick Porfirij Petrowitsch in einen solchen Lachkrampf hineingeriet, daß er ganz blaurot wurde, da gewann bei Raskolnikow der Widerwille die Oberhand über die Vorsicht; er hörte auf zu lachen, machte ein finsteres Gesicht und richtete einen langen, haßerfüllten Blick auf Porfirij, so daß er während der ganzen Dauer dieses ununterbrochenen Lachens, das, wie mit Absicht, gar nicht enden zu wollen schien, die Augen nicht von ihm abwandte. Ein Mangel an Vorsicht war übrigens auf beiden Seiten deutlich; denn Porfirij Petrowitsch lachte ja ganz unverhohlen seinem Gaste ins Gesicht, obgleich dieser das Lachen mit haßerfüllter Miene aufnahm, und wurde darüber in keiner Weise verlegen. Dieser letztere Umstand war für Raskolnikow von Wichtigkeit zur Beurteilung der Sachlage: er sagte sich nun, daß Porfirij Petrowitsch sicherlich auch vorhin durchaus nicht verlegen gewesen sei, sondern im Gegenteil er selbst, Raskolnikow, wohl in eine Falle hineingeraten sei, daß hier offenbar etwas vorhanden sei, wovon er nichts wisse, irgendeine besondere Absicht, daß vielleicht alles schon vorbereitet sei und sich im nächsten Augenblick enthüllen und entladen werde.

Er wollte der Gefahr sofort entgegentreten; darum stand er auf und griff nach seiner Mütze.

»Porfirij Petrowitsch«, begann er in entschlossenem Tone, der aber sehr gereizt klang, »Sie sprachen gestern den Wunsch aus, ich möchte zum Zwecke eines Verhörs zu Ihnen kommen.« (Er legte besonderen Nachdruck auf das Wort Verhör.) »Ich bin gekommen, und wenn Sie etwas wissen wollen, so fragen Sie mich; andernfalls gestatten Sie mir, mich zu entfernen. Ich habe keine Zeit; ich bin in Anspruch genommen … Ich muß der Beerdigung jenes überfahrenen Beamten beiwohnen, von dem Sie … ja auch bereits wissen …«, fügte er hinzu, ärgerte sich aber sofort über diesen Zusatz und wurde nun noch gereizter. »Mir ist diese ganze Geschichte zum Ekel geworden, hören Sie, und zwar schon längst, … auch meine Krankheit rührte zum Teil davon her … Kurz«, fuhr er beinahe schreiend fort, da er sich bewußt wurde, daß die Bemerkung über die Krankheit noch weniger am Platze gewesen war, »kurz, seien Sie so gut, mich entweder zu befragen oder zu entlassen, aber sofort, … und wenn Sie mich befragen wollen, dann nur in aller Form! Auf eine andre Art der Befragung werde ich nicht eingehen; und darum sage ich Ihnen einstweilen Lebewohl, da wir beide augenblicklich miteinander nichts zu schaffen haben.«

»Um des Himmels willen, was haben Sie denn nur! Worüber soll ich Sie denn vernehmen?« begann Porfirij Petrowitsch plötzlich einen eifrigen Redeschwall, änderte sofort Ton und Miene und hörte im Nu auf zu lachen. »Bitte, regen Sie sich doch nicht auf!« Er entwickelte eine unruhige Geschäftigkeit, indem er bald wieder hin und her rannte, bald Raskolnikow einlud, doch wieder Platz zu nehmen. »Die Sache hat ja Zeit, die Sache hat ja Zeit, und es sind ja doch nur Kleinigkeiten! Ich bin vielmehr so froh, daß Sie endlich einmal zu mir gekommen sind … Ich betrachte Ihr Hiersein als einen freundlichen Besuch. Und wegen dieses verdammten Lachens bitte ich Sie um Entschuldigung, Väterchen Rodion Romanowitsch! Rodion Romanowitsch, so ist doch wohl Ihr Name? Ich bin ein nervöser Mensch; Sie haben mich durch Ihre witzige Bemerkung arg zum Lachen gereizt; manchmal muß ich so lachen, daß mir der Leib schüttert, als ob er aus Gummielastikum wäre, wahrhaftig, eine halbe Stunde lang. Ich bin nun einmal so lachlustig. Bei meiner Konstitution kann ich dabei sogar eines Schlaganfalls gewärtig sein. Aber so setzen Sie sich doch, was haben Sie denn! … Bitte, Väterchen, sonst muß ich ja denken, daß Sie es mir übelgenommen haben …«

Raskolnikow schwieg, hörte und beobachtete, immer noch mit zornigem, finsterem Gesichte. Doch er setzte sich wieder hin, legte aber die Mütze nicht aus der Hand.

»Ich mochte Ihnen, Väterchen Rodion Romanowitsch, etwas über mich selbst mitteilen, sozusagen, um Ihnen mein Wesen verständlich zu machen, fuhr Porfirij Petrowitsch fort; er hastete wieder durch das Zimmer und vermied es, wie vorher, dem Blicke des Besuchers zu begegnen. »Sehen Sie, ich bin Junggeselle, ohne weltmännischen Schliff; ich lebe so still für mich; meine Entwicklung ist bereits zum Stillstand gelangt, ich bin starr geworden, sozusagen in Samen geschossen, und … und … und ist es Ihnen vielleicht auch schon aufgefallen, Rodion Romanowitsch, daß bei uns, ich meine bei uns in Rußland und ganz besonders in unsern Petersburger Kreisen, wenn zwei verständige Menschen zusammenkommen, die miteinander noch nicht näher bekannt sind, aber sich doch sozusagen wechselseitig achten, so wie wir beide jetzt – daß es dann eine gute halbe Stunde dauert, bis sie ein Gesprächsthema finden; sie sitzen sich steif gegenüber und genieren sich einer vor dem andern. Alle andern Leute haben immer einen Gesprächsstoff parat; die Damen zum Beispiel, … die Lebemänner zum Beispiel, die feinen Leute, alle haben sie immer etwas zum Reden, c’est de rigueur; aber Leute aus der Mittelschicht, so wie wir, sind immer verlegen und wortkarg, … ich meine: denkende Menschen. Woher mag das kommen, Väterchen? Haben wir keine gemeinsamen Interessen, oder sind wir so ehrlich, daß wir einander nichts vormachen mögen? Ich weiß es nicht. Nun, wie denken Sie darüber? Aber legen Sie doch Ihre Mütze beiseite; das sieht ja so aus, als wären Sie auf dem Sprunge fortzugehen; das macht sich ja so ungemütlich … Und ich freue mich doch so sehr …«

Raskolnikow legte die Mütze hin, fuhr aber fort, zu schweigen und mit ernstem, finsterem Gesichte Porfirijs leeres, wirres Geschwätz anzuhören. ›Ob er wirklich durch sein dummes Geschwätz meine Aufmerksamkeit ablenken will?‹ dachte er.

»Ich biete Ihnen keinen Kaffee an; es ist hier nicht der Ort dazu«, plauderte Porfirij ohne Unterbrechung weiter. »Aber warum sollte man nicht mal fünf Minuten mit einem Freunde zusammensitzen und sich ein bißchen zerstreuen? Reden von der Dienstwohnung … he-he! Was sind Sie für ein Spötter! Na, ich tu’s nicht wieder! Ach ja, dabei fällt mir ein, ein Wort gibt ja das andre, und ein Gedanke knüpft sich an den andern, Sie haben da vorhin auch von der gesetzlichen Form gesprochen, wissen Sie, in bezug auf Verhöre. Na, wozu denn immer in aller gesetzlichen Form! Wissen Sie, die gesetzliche Form ist dabei oft der reine Unsinn. Manchmal, wenn man nur so ganz freundschaftlich mit einem redet, ist das doch viel vorteilhafter. Die gesetzliche Form läuft einem ja nicht davon; gestatten Sie, daß ich Sie darüber beruhige; ja, und was hat denn auch eigentlich die gesetzliche Form für eine Bedeutung, möchte ich Sie fragen? Durch die gesetzliche Form darf man sich, wenn man eine Untersuchung führt, nicht auf Schritt und Tritt hemmen lassen. Die Tätigkeit eines Untersuchungskommissars ist doch, um mich so auszudrücken, eine freie Kunst in ihrer Art – oder so etwas Ähnliches … he-he-he!«

Porfirij Petrowitsch hielt für einen Augenblick inne, um wieder Atem zu schöpfen. Er redete immer in einem Zuge, ohne müde zu werden; bald waren es sinnlose, leere Redensarten; dann streute er auf einmal dunkle Andeutungen dazwischen und geriet sofort wieder in das sinnlose Gerede hinein. Sein Hin- und Herwandern im Zimmer glich schon beinahe einem Lauf; immer schneller und schneller bewegten sich seine dicken Beinchen; dabei blickte er immer auf den Fußboden; die rechte Hand hielt er auf dem Rücken; die linke schwenkte er fortwährend in der Luft umher und vollführte mit ihr allerlei Gestikulationen, die aber jedesmal auffallend wenig zu seinen Worten paßten. Raskolnikow bemerkte plötzlich, daß er bei seinem Umherlaufen im Zimmer ein paarmal an der Eingangstür stehenblieb, nur einen Augenblick, und auf etwas zu horchen schien …

›Wartet er vielleicht auf etwas?‹ dachte er.

»Und darin haben Sie wirklich vollkommen recht«, fuhr Porfirij wieder fort und blickte dabei Raskolnikow heiter und mit ganz besonderer Gutmütigkeit an (dieser bekam ordentlich einen Schreck darüber und setzte sich schleunigst wieder in Bereitschaft), »wirklich vollkommen recht, daß Sie sich über das Formenwesen bei der Justiz in so geistreicher Weise lustig machten, he-he! Diese unsre Kniffe, von denen manche mit solchem psychologischen Tiefsinn ausgeklügelt sind, sind höchst lächerlich, ja vielleicht sogar ganz wertlos, wenn man sich dabei zu sehr an die Form bindet. Ja, … ich komme wieder auf die gesetzliche Form zu reden: also wenn ich in einer Sache, die mir übertragen ist, den einen oder den andern für den Täter halte oder, besser gesagt, im Verdacht habe … Sie studieren ja doch Jura, Rodion Romanowitsch?«

»Das habe ich allerdings getan.«

»Nun also, da möchte ich Ihnen, um mich so auszudrücken, ein kleines Beispiel für Ihre zukünftige Praxis anführen – das heißt, glauben Sie nicht etwa, daß ich mir herausnehme, Sie belehren zu wollen: Sie lassen ja selbst so schöne Aufsätze über Verbrechen drucken! Nein, ich möchte Ihnen nur ganz ohne solche Absicht, als einen faktischen Fall, ein kleines Beispiel anführen. Also wenn ich zum Beispiel den einen oder den andern für den Täter halte, warum soll ich, frage ich Sie, ihn vor dem richtigen Zeitpunkt beunruhigen, auch wenn ich Indizien gegen ihn in der Hand habe? Manchen muß ich ja allerdings so schnell wie möglich festnehmen; aber ein andrer hat wieder einen ganz andern Charakter, im Ernst; also warum soll ich ihm da nicht gestatten, noch ein bißchen in der Stadt spazierenzugehen, he-he-he! Nein, wie ich sehe, verstehen Sie noch nicht ganz, wie ich es meine; darum will ich es Ihnen noch deutlicher auseinandersetzen: wenn ich ihn nämlich zu früh festnehme, so gebe ich ihm dadurch womöglich noch sozusagen eine moralische Stütze, he-he! Ja, Sie lachen?« (Raskolnikow dachte gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Lippen da und wandte seinen glühenden Blick nicht einen Moment von Porfirijs Augen ab.)

Etwa ins Ausland? Ein Pole würde ins Ausland flüchten, aber er nicht, um so weniger, da ich ihn beobachte und meine Maßregeln getroffen habe. Oder soll er im Inlande nach einem Dorfe oder sonst einem kleinen Neste fliehen? Aber da wohnen Bauern, die richtigen, armen und einfältigen russischen Bauern, und ein Mensch mit moderner Bildung wird, wenn er die Wahl hat, lieber ins Gefängnis gehen als mit unsern Bauern zusammenwohnen, mit denen für ihn gar keine Verständigung möglich ist, he-he-he! Und all das ist noch das wenigste, das sind nur äußere Gründe. Was heißt das: ›er wird fliehen‹? Dabei denkt man an die äußere Handlung; aber das ist gar nicht die Hauptsache. Nicht bloß deswegen wird er mir nicht davongehen, weil er keinen Ort hat, wohin er flüchten könnte; er wird mir psychologisch nicht davongehen, he-he-he! Ein feiner Ausdruck, was? Einem Naturgesetze zufolge wird er mir nicht davongehen, selbst wenn er einen Ort hätte, wohin er fliehen könnte. Haben Sie schon einmal einen Schmetterling in der Nähe einer brennenden Kerze gesehen? Na, ganz so wird auch er immerzu, immerzu um mich wie um eine Kerze herumkreisen; die Freiheit wird ihm zuwider werden; er wird melancholisch und konfus werden, sich selbst wie in einem Netze verwickeln und sich zu Tode ängstigen! … Und noch mehr: er selbst wird mir gleichsam einen evidenten mathematischen Beweis zurechtmachen, wenn ich ihm nur die erforderliche Zeit lasse. … Und unaufhörlich, unaufhörlich wird er um mich Kreise beschreiben, mit immer kleinerem Radius; und bauz! fliegt er mir gerade in den Mund, und ich verschlucke ihn. Und das ist doch sehr angenehm, he-he-he! Sie glauben mir nicht?«

Raskolnikow antwortete nicht; er saß blaß und regungslos da und blickte die ganze Zeit über mit demselben gespannten Ausdruck dem andern ins Gesicht.

›Eine gute Lektion!‹ dachte er fröstelnd. ›Das ist ja ganz anders als gestern, wo er Katze und Maus mit mir spielte. Und daß er mir seine Macht zeigt und mir die Antworten in den Mund legt, das tut er sicher nicht, ohne sich einen Nutzen davon zu versprechen; dazu ist er zu klug … Da steckt eine bestimmte Absicht dahinter, aber welche? Ach, Unsinn, Brüderchen, das ist nur so eine List von dir, du willst mich ins Bockshorn jagen. Du hast keine Beweise in Händen, und der Mensch von gestern existiert in Wirklichkeit gar nicht! Du willst mich bloß aus der Fassung bringen, mich zu einer Übereilung reizen und mich in diesem Zustande überrumpeln; aber du verrechnest dich, es wird dir nicht gelingen! es wird dir nicht gelingen! Aber warum legt er mir eigentlich in dieser Weise die Antworten in den Mund? Ja, warum? … Er rechnet wohl auf meine kranken Nerven! … Nein, Brüderchen, du irrst dich, es wird dir nicht gelingen, obgleich du noch irgend etwas im Schilde führst. Nun, wir wollen einmal sehen, was das eigentlich ist.‹

Er nahm all seine Kraft zusammen, um sich auf eine furchtbare, unbekannte Katastrophe vorzubereiten. Zeitweilig hatte er die größte Lust, sich auf Porfirij zu stürzen und ihn auf dem Fleck zu erwürgen; schon als er eintrat, hatte er befürchtet, daß ihn diese Wut überkommen würde. Er fühlte, daß seine Lippen glühten, sein Herz heftig klopfte, die Feuchtigkeit auf den Lippen vertrocknet war. Dennoch entschied er sich dafür zu schweigen und vor der Zeit kein Wort zu sagen. Er sah ein, daß das in seiner Lage die beste Taktik war, weil er dann nicht nur seinerseits übereilte Äußerungen vermeiden, sondern auch noch durch sein Schweigen den Feind reizen würde; vielleicht würde dann sogar dieser ihm gegenüber sich unbedachte Worte entschlüpfen lassen. Wenigstens hoffte Raskolnikow darauf.

»Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht; Sie denken immer, daß ich Ihnen harmlose Späßchen vormache«, fuhr Porfirij fort; er wurde immer vergnügter, kicherte unaufhörlich vor Lustigkeit und fing wieder an, im Zimmer herumzulaufen. und wieder hat er einen Anhaltspunkt gegeben! Wenn er auch den andern zunächst hinters Licht führt, aber über Nacht überlegt sich der die Sache, wenn er einigermaßen gewitzt ist. Und so geht es auf Schritt und Tritt! Noch mehr: er fängt an, sich seinen Widersachern geradezu aufzudrängen, sich einzumischen, wo man ihn gar nicht gefragt hat, fortwährend über Dinge zu reden, über die er besser schwiege; er erzählt allerlei mit Andeutungen gespickte Geschichten, he-he-he! er kommt selbst und erkundigt sich: ›Warum dauert es denn so lange, bis ich festgenommen werde?‹ He-he-he! Und so kann es sogar dem scharfsinnigsten Menschen gehen, einem ausgezeichneten Psychologen und Schriftsteller! Die Natur ist ein Spiegel, der klarste Spiegel! In den muß man hineinschauen, mit Lust und Eifer hineinschauen; darauf kommt es an! Aber warum sind Sie denn so blaß geworden, Rodion Romanowitsch? Ist es Ihnen hier zu stickig? Soll ich ein Fenster aufmachen?«

»O bitte, bemühen Sie sich nicht!« rief Raskolnikow und lachte plötzlich auf. »Bitte, bemühen Sie sich nicht!«

Porfirij blieb vor ihm stehen, wartete ein Weilchen und lachte dann, seinem Beispiele folgend, auf einmal selbst los. Raskolnikow stand vom Sofa auf und brach jäh sein Lachen ab, das durchaus den Charakter eines krankhaften Anfalls getragen hatte.

»Porfirij Petrowitsch«, sagte er laut und deutlich, obgleich ihn die zitternden Beine kaum noch trugen, »ich sehe endlich klar, daß Sie mich tatsächlich im Verdachte haben, diese alte Frau und ihre Schwester Lisaweta ermordet zu haben. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß diese ganze Sache mir schon längst zum Ekel geworden ist. Wenn Sie der Ansicht sind, daß Sie ein Recht haben, gesetzlich gegen mich vorzugehen, so gehen Sie gegen mich vor; glauben Sie, mich festnehmen zu sollen, so tun Sie es doch. Aber daß Sie mir ins Gesicht lachen und mich martern, das dulde ich nicht …«

Seine Lippen bebten, seine Augen glühten vor Wut, und seine Stimme, die bis dahin nicht überlaut gewesen war, schwoll an.

»Das dulde ich nicht!« schrie er und schlug aus voller Kraft mit der Faust auf den Tisch. »Hören Sie wohl, Porfirij Petrowitsch? Das dulde ich nicht!«

»Aber, mein Gott, was haben Sie denn wieder!« rief Porfirij Petrowitsch, anscheinend höchst erschrocken. »Väterchen, Rodion Romanowitsch! Mein Teuerster! Was haben Sie denn nur?«

»Ich dulde es nicht!« rief Raskolnikow noch einmal.

»Nicht so laut, Väterchen! Die Leute nebenan hören es ja und kommen herein! Und was sollen wir ihnen dann sagen, bedenken Sie doch!« flüsterte Porfirij Petrowitsch bestürzt, indem er sein Gesicht dem Raskolnikows näherte.

»Ich dulde es nicht, ich dulde es nicht!« wiederholte Raskolnikow mechanisch, aber auf einmal gleichfalls im Flüstertone.

Porfirij drehte sich schnell um und lief hin, um ein Fenster zu öffnen.

»Wir wollen ein bißchen frische Luft hereinlassen! Und auch einen Schluck Wasser müssen Sie trinken, mein Bester! Das ist ja ein richtiger Anfall!«

Er stürzte schon zur Tür, um Wasser bringen zu lassen, fand aber dort in einer Ecke selbst noch eine Karaffe mit Wasser.

»Da, Väterchen, trinken Sie!« flüsterte er, indem er mit der Karaffe zu ihm hinlief. »Vielleicht hilft das …«

Porfirijs Schreck und sogar seine Teilnahme wirkten so natürlich, daß Raskolnikow schwieg und ihn befremdet und prüfend anblickte. Das Wasser nahm er jedoch nicht.

»Rodion Romanowitsch! Lieber! Auf diese Art werden Sie sich noch um den Verstand bringen, dessen kann ich Sie versichern! So trinken Sie doch! Trinken Sie wenigstens ein klein bißchen!«

Er zwang ihn, das Glas mit Wasser in die Hand zu nehmen. Raskolnikow führte es schon mechanisch an die Lippen, kam dann aber zur Besinnung und stellte es voll Abscheu auf den Tisch.

»Ja, ja, Sie haben so einen kleinen Anfall gehabt! Auf diese Weise, bester Freund, werden Sie sich Ihre frühere Krankheit von neuem zuziehen«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort mit freundschaftlicher Teilnahme auf ihn einzureden; seine Miene hatte immer noch den Ausdruck der Fassungslosigkeit beibehalten. »Mein Gott, wie kann man sich nur so wenig in acht nehmen! Da ist auch gestern Dmitrij Prokofjitsch bei mir gewesen – ich gebe ja zu, ich gebe ja zu, ich habe einen spöttischen, garstigen Charakter; aber was haben diese Menschen daraus für wunderliche Schlüsse gezogen! … Mein Gott! Er kam gestern, bald nachdem Sie fortgegangen waren, wir aßen gerade zu Mittag, er redete und redete, ich konnte nur die Hände überm Kopfe zusammenschlagen! Na, dachte ich, … ach, du mein Gott! Hatten Sie ihn dazu veranlaßt, zu mir zu kommen? Aber so setzen Sie sich doch, Väterchen, setzen Sie sich, ich bitte Sie dringend!«

»Nein, ich hatte ihn nicht dazu veranlaßt! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen ging und warum er zu Ihnen ging«, antwortete Raskolnikow schroff.

»Sie wußten es?«

»Ja. Was folgt daraus?«

»Ach, Väterchen Rodion Romanowitsch, ich weiß ja noch ganz andre Sachen, die Sie gemacht haben; ich bin von allem unterrichtet! Ich weiß ja, daß Sie eine Wohnung mieten gingen, kurz vor Einbruch der Nacht, als es schon dunkel wurde, und daß Sie an der Türklingel zogen und nach dem Blute fragten und die Gesellen und die Hausknechte stutzig machten. Ich habe ja auch Verständnis für Ihre damalige Gemütsstimmung, … aber ich muß doch sagen, Sie werden sich auf diese Weise einfach um den Verstand bringen, weiß Gott! Es wird Ihnen wirbelig im Kopfe werden! Eine edle Entrüstung wallt heftig in Ihnen wegen der Kränkungen auf, die Sie erlitten haben, zuerst vom Schicksal, dann von den Polizeibeamten; und deswegen stürmen Sie nun hierhin und dahin, um sozusagen möglichst schnell alle zum Reden zu bringen und so der ganzen Geschichte mit einem Male ein Ende zu machen, weil diese Dummheiten und all diese Verdächtigungen Ihnen zum Ekel geworden sind. Ist es nicht so? Habe ich Ihre Stimmung erraten? … Nur werden Sie auf diese Weise nicht bloß sich selbst, sondern auch meinem lieben Rasumichin den Kopf verdrehen; und es wäre doch schade um ihn, ein so braver Mensch, wie er ist; das wissen Sie selbst. Ihre Krankheit kann auf seine Bravheit ansteckend wirken … Ich will Ihnen, wenn Sie sich beruhigt haben, Väterchen, eine Geschichte erzählen … Aber so setzen Sie sich doch, Väterchen, ich bitte Sie um alles in der Welt; bitte, erholen Sie sich; Sie sehen ja ganz entstellt aus. Aber nehmen Sie doch Platz!«

Raskolnikow setzte sich; das Zittern war vorübergegangen, und eine Gluthitze durchströmte jetzt seinen ganzen Körper. Mit größtem Erstaunen und gespanntester Aufmerksamkeit hörte er dem aufgeregten Porfirij zu, der sich freundschaftlich um ihn bemühte. Aber er glaubte ihm kein einziges Wort, obwohl er eine seltsame Neigung dazu verspürte. Porfirijs unerwartete Bemerkung über das Wohnungssuchen hatte ihn in große Bestürzung versetzt. ›Er weiß also die Geschichte mit der Wohnung‹, dachte er, ›und erzählt es mir von selbst?‹

»Ja, wir haben in unsrer Gerichtspraxis einmal fast genau denselben Fall gehabt, bei dem auch krankhafte Seelenstimmungen eine große Rolle spielten«, fuhr Porfirij in seiner Redseligkeit fort. »Da beschuldigte sich auch einer selbst eines Mordes: eine ganze Halluzination trug er vor, führte Tatsachen an, erzählte Begleitumstände, machte uns alle ganz schwindlig und konfus, und was war schließlich an der Sache dran? Er selbst hatte völlig unabsichtlich zu einem gewissen Teil den Mord ermöglicht, aber nur zu einem gewissen Teil, und als er nun erfuhr, daß er den Mördern die Gelegenheit verschafft habe, da wurde er tiefsinnig, sein Denken geriet in Verwirrung, er hatte Visionen, wurde ganz verrückt und glaubte steif und fest, er wäre der Mörder! Aber die oberste Instanz klärte dann doch schließlich die Sache auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und in Pflege gegeben. Ein dankenswertes Verdienst der obersten Instanz! Ja, so etwas ist eine schlimme Sache, Väterchen, o weh, o weh! Auf die Art kann man sich leicht ein hitziges Fieber zuziehen, wenn sich schon ein solcher Hang zeigt, die Nerven zu reizen, nachts wegzugehen und an Türklingeln zu ziehen und sich nach Blut zu erkundigen! Dieses ganze Gebiet der Psychologie habe ich in meiner Praxis genau studiert. Manchmal verspürt ein solcher Kranker einen unwiderstehlichen Trieb, aus dem Fenster oder von einem Turm hinabzuspringen, und es ist das eine sehr verführerische Empfindung. Geradeso wie mit dem Ziehen an der Türklingel … Das ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, eine Krankheit! Aber Sie vernachlässigen Ihre Krankheit gar zu sehr. Sie sollten einen erfahrenen Arzt befragen; was kann Ihnen der Dicke, den Sie da haben, helfen! … Sie haben ein hitziges Fieber! Alles, was Sie tun, tun Sie lediglich im Fieberwahn!«

Einen Augenblick lang hatte Raskolnikow die Empfindung, als ob sich alles um ihn im Kreise drehte.

›Ob er wirklich auch jetzt heuchelt?‹ fuhr es ihm durch den Kopf. ›Unmöglich, unmöglich!‹ Er wies diesen Gedanken von sich, da er im voraus fühlte, daß dieser Gedanke ihn in grenzenlose Wut und Raserei versetzen und die Wut ihn des Verstandes berauben könne.

»Das war nicht im Fieberwahn, das war bei klarem Bewußtsein!« rief er und strengte alle Kräfte seines Verstandes an, um Porfirijs Spiel zu durchschauen. »Bei klarem Bewußtsein, bei klarem Bewußtsein! Hören Sie wohl?«

»Ja, ich höre, ich verstehe! Sie sagten auch gestern schon, daß es nicht im Fieberwahn war, und betonten es sogar ganz besonders, es sei nicht im Fieberwahn gewesen. Ich verstehe alles, was Sie sagen können. Ja, ja! … Hören Sie, mein teuerster Rodion Romanowitsch, wir brauchen ja nur diesen einen Umstand zu bedenken: wenn Sie wirklich, tatsächlich ein Verbrecher oder überhaupt irgendwie an dieser verdammten Geschichte beteiligt wären, na, würden Sie dann, ich bitte Sie, selbst betonen, daß Sie das alles nicht im Fieberwahn getan hätten, sondern im Gegenteil bei vollem Bewußtsein? Und noch dazu es ganz besonders betonen, es mit so ganz besondrer Hartnäckigkeit betonen? Na, wäre das möglich? Ich bitte Sie, wäre das möglich? Meines Erachtens würden Sie ganz entgegengesetzt verfahren. Wären Sie sich irgendwelcher Schuld bewußt, so müßten Sie gerade betonen, daß Sie sich unbedingt im Fieberwahn befunden hätten. Nicht wahr? Habe ich nicht recht?«

Es klang eine gewisse Hinterlist aus dieser Frage heraus. Raskolnikow wich vor Porfirij, der sich zu ihm hinbeugte, bis ganz an die Lehne des Sofas zurück, und starrte ihm schweigend und erstaunt ins Gesicht.

»Und dann, was Herrn Rasumichin betrifft, ich meine die Frage, ob er gestern aus eigenem Antriebe zu mir kam, um mit mir über die Sache zu sprechen, oder auf Ihre Veranlassung. Wenn Sie sich schuldig fühlten, so müßten Sie gerade sagen, daß er von selbst gekommen wäre, und verheimlichen, daß er es auf Ihre Veranlassung getan hätte. Sie aber verheimlichen das nicht. Sie betonen gerade, daß er auf Ihre Veranlassung gekommen sei!«

Raskolnikow hatte das niemals betont. Ein Kältegefühl lief ihm über den Rücken.

»Sie lügen fortwährend«, sagte er langsam und matt; seine Lippen verzogen sich zu einem krankhaften Lächeln. »Sie wollen mir wieder zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel kennen und alle meine Antworten im voraus wissen.« Er merkte selbst, daß er seine Worte nicht mehr so abwog, wie es nötig war. »Sie wollen mich einschüchtern, … oder Sie machen sich einfach über mich lustig.«

Er sah ihn, während er das sagte, immer noch starr an, und auf einmal flammte wieder eine maßlose Wut in seinen Augen auf.

»Sie lügen fortwährend!« rief er. »Sie wissen selbst sehr gut, daß es für einen Verbrecher das klügste ist, nach Möglichkeit die Wahrheit zu sagen, … nichts zu verheimlichen, was nicht verheimlicht zu werden braucht! Ich glaube Ihnen nicht!«

»Nun sehen Sie mal, wie Sie sich hin und her zu wenden verstehen!« kicherte Porfirij. »Mit Ihnen, Väterchen, kann man doch gar nicht fertig werden! Es hat sich so eine Art von fixer Idee bei Ihnen festgesetzt. Also Sie glauben mir nicht? Ich aber sage Ihnen, daß Sie mir allerdings schon glauben, mir schon einen großen Teil von dem, was ich sage, glauben, und ich werde Sie dahin bringen, daß Sie mir alles glauben; denn ich habe Sie von Herzen gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.«

Raskolnikows Lippen fingen an zu zittern.

»Ja, ich wünsche Ihnen alles Gute, und ich rate Ihnen ganz entschieden«, fuhr er fort und faßte mit leiser Berührung Raskolnikow freundschaftlich am Arm, ein wenig oberhalb des Ellbogens, »ich rate Ihnen ganz entschieden: achten Sie recht auf Ihre Krankheit. Es kommt noch hinzu, daß jetzt Ihre nächsten Angehörigen hier bei Ihnen eingetroffen sind; auch an die sollten Sie denken. Es wäre Ihre Pflicht, ihnen ein ruhiges Leben zu bereiten und sie mit zärtlicher Sorge zu umgeben; aber Sie versetzen die Ihrigen nur in Angst …«

»Was geht Sie das an? Woher wissen Sie das? Warum interessieren Sie sich so für mich? Sie lassen mich also beobachten und wollen mir das zeigen?«

»Aber, Väterchen! Ich habe das alles doch von Ihnen, von Ihnen selbst erfahren! Sie merken gar nicht, daß Sie in Ihrer Erregung mir und andern alles selbst zuerst erzählen. Auch von Herrn Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern viele interessante Einzelheiten erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen, und ich muß Ihnen sagen, daß Sie infolge Ihrer Neigung zu Argwohn trotz all Ihres Scharfsinns sogar den gesunden Blick für die Dinge verlieren. Sehen Sie zum Beispiel, was das Ziehen an der Türklingel anlangt, wenn ich noch einmal auf dieses Thema zurückkommen darf: ein so wertvolles Beweismoment, ein solches Faktum (denn es ist ja ein ganz feststehendes Faktum) habe ich, der Untersuchungskommissar, Ihnen so mir nichts, dir nichts preisgegeben! Und in dieser Handlungsweise finden Sie gar nichts? Wenn ich auch nur den geringsten Verdacht gegen Sie hegte, hätte ich dann so verfahren dürfen? Ich müßte vielmehr zunächst Ihren Argwohn einschläfern und gar nicht merken lassen, daß mir dieses Faktum bereits bekannt ist; ich müßte in dieser Weise Ihre Aufmerksamkeit nach der entgegengesetzten Seite ablenken und Sie dann plötzlich, wie mit einem Knüttelschlage auf den Scheitel (nach Ihrem eigenen Ausdrucke), mit diesen Fragen betäuben: ›Was hatten Sie, mein Herr, in der Wohnung der Ermordeten um zehn Uhr abends oder noch später zu suchen? Warum haben Sie an der Türklingel gezogen? Warum erkundigten Sie sich nach dem Blute? Warum verblüfften Sie die Hausknechte und forderten sie auf, nach dem Polizeibureau, zum Revierleutnant, mitzukommen?‹ So müßte ich verfahren, wenn ich auch nur eine Spur von Verdacht gegen Sie hätte. Ich müßte in aller Form ein Verhör mit Ihnen anstellen, eine Haussuchung vornehmen, vielleicht auch Sie festnehmen lassen … Folglich hege ich gegen Sie keinen Verdacht, da ich ja anders gehandelt habe! Aber um es noch einmal zu wiederholen: Sie haben den gesunden Blick verloren und sehen nichts!«

Raskolnikow zuckte mit dem ganzen Körper zusammen, so daß Porfirij Petrowitsch es ganz deutlich bemerkte.

»Sie lügen fortwährend!« rief er. »Ich kenne Ihre Absichten nicht, aber Sie lügen fortwährend! … Vorhin haben Sie in ganz anderem Sinne gesprochen; darin kann ich mich nicht irren … Sie lügen!«

»Ich lüge?« erwiderte Porfirij, der sich anscheinend ereiferte, aber seine heitere, spöttische Miene beibehielt und sich nicht im geringsten darüber aufzuregen schien, was Herr Raskolnikow über ihn für eine Meinung hätte. »Ich lüge? … Na, und wie habe ich mich vorhin gegen Sie benommen, ich, der Untersuchungskommissar? Ich selbst habe Ihnen alle möglichen Verteidigungsmittel mitgeteilt und an die Hand gegeben; ich selbst habe Ihnen dieses ganze Kapitel der Psychologie auseinandergesetzt: ›Krankheit‹, sagt man zu seiner Verteidigung. ›Fieberwahn, ich fühlte mich gekränkt, Schwermut‹, und ›die Polizeibeamten‹ und noch vieles andre. Nicht wahr? He-he-he! Wiewohl, beiläufig bemerkt, all diese der Psychologie entlehnten Verteidigungsmittel, Ausreden und Finten äußerst unzuverlässig sind und gar sehr ihre zwei Seiten haben: ›Krankheit‹, sagt man, ›Fieberwahn, Träume, es ist mir so vorgekommen, ich erinnere mich nicht‹; alles ganz schön; aber, Väterchen, warum stellen sich denn in der Krankheit und im Fieberwahn immer gerade nur solche Träume ein und keine andern? Es könnte einem doch auch etwas andres träumen? Nicht wahr? He-he-he-he!«

Raskolnikow maß ihn mit einem stolzen, verächtlichen Blicke.

»Um es kurz zu machen«, sagte er laut und energisch, indem er aufstand und dabei Porfirij ein wenig beiseite schob, »um es kurz zu machen, ich will wissen: erklären Sie mich endgültig für frei von allem Verdacht oder nicht? Sagen Sie mir das, Porfirij Petrowitsch, sagen Sie mir das bestimmt und endgültig, und recht schnell, sofort!«

»Ach, ist das eine Not! Nein, was man mit Ihnen für Not hat!« rief Porfirij mit durchaus heiterer, schlauer Miene und ohne jedes Zeichen von Erregung. »Wozu brauchen Sie denn das zu wissen, wozu brauchen Sie denn all so etwas zu wissen, da es doch noch keinem Menschen eingefallen ist, Sie irgendwie zu belästigen? Sie sind ja ganz wie ein Kind, das durchaus verlangt, man solle ihm das Feuer in die Hand geben! Und warum beunruhigen Sie sich so? Warum drängen Sie sich uns denn selbst in dieser Weise auf? Was haben Sie dazu für Gründe? He-he-he!«

»Ich wiederhole Ihnen«, schrie Raskolnikow wütend, »daß ich das nicht länger ertragen kann! …«

»Was können Sie nicht ertragen? Die Ungewißheit?« unterbrach ihn Porfirij.

»Verhöhnen Sie mich nicht! Ich will das nicht länger ertragen! … Ich sage Ihnen, daß ich das nicht länger ertragen will! … Ich kann und will es nicht! … Hören Sie! Hören Sie!« schrie er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch.

»Aber leiser, leiser! Das hören ja andre Leute! Ich warne Sie in allem Ernst: schonen Sie Ihre Gesundheit! Ich scherze nicht!« erwiderte Porfirij flüsternd; aber diesmal war auf seinem Gesichte von dem weibisch-gutmütigen, ängstlichen Ausdruck nichts mehr zu bemerken; im Gegenteil, jetzt befahl er geradezu, in strengem Tone, mit zusammengezogenen Brauen; es war, als würfe er mit einem Male alles Versteckspiel und alle Zweideutigkeit beiseite.

Indes dauerte das nur einen Augenblick. Raskolnikow war aufs höchste überrascht und geriet in vollständige Raserei; aber sonderbarerweise fügte er sich wieder dem Befehle, leiser zu sprechen, obwohl er sich in einem wahren Paroxysmus von Wut befand.

»Ich lasse mich nicht so quälen!« flüsterte er gerade wie vorhin; voll Schmerz und Ingrimm wurde er sich in demselben Augenblicke bewußt, daß er nicht die Kraft besaß, dem Befehle zu widerstreben, und dieser Gedanke machte ihn nur noch wütender. »Verhaften Sie mich, halten Sie bei mir Haussuchung; aber verfahren Sie in der gesetzlich vorgeschriebenen Form und spielen Sie nicht mit mir! Unterstehen Sie sich nicht, das zu tun!«

»Beunruhigen Sie sich doch nicht wegen der gesetzlichen Form!« unterbrach ihn Porfirij, nun wieder mit seinem schlauen Lächeln, und betrachtete Raskolnikow, wie es schien, sogar mit einer besonderen Art von Genuß. »Ich hatte Sie jetzt doch nur als guten Bekannten zu einem Besuche aufgefordert, Väterchen, nur so ganz freundschaftlich!«

»Ich will Ihre Freundschaft nicht, ich pfeife darauf! Hören Sie? Sehen Sie her: ich nehme meine Mütze und gehe weg. Nun, was werden Sie jetzt dazu sagen, wenn Sie wirklich die Absicht haben, mich zu verhaften?«

Er ergriff seine Mütze und ging zur Tür.

»Ich habe eine kleine Überraschung für Sie; wollen Sie die nicht noch sehen?« kicherte Porfirij, faßte ihn wieder etwas oberhalb des Ellbogens an und hielt ihn an der Tür zurück.

Er wurde augenscheinlich immer heiterer und lustiger, worüber Raskolnikow ganz außer sich kam.

»Was für eine kleine Überraschung? Was wollen Sie damit sagen?« fragte er, blieb plötzlich stehen und blickte Porfirij erschreckt an.

»Die Überraschung ist hier zur Stelle; ich habe sie da hinter der Tür sitzen, he-he-he!« Er wies mit dem Finger auf die geschlossene Tür in dem Bretterverschlag, die nach seiner Dienstwohnung führte. »Ich habe sie sogar eingeschlossen, damit sie nicht davonläuft.«

»Was ist es denn? Wo? Was?«

Raskolnikow trat zu der Tür hin und wollte sie öffnen; aber sie war verschlossen.

»Sie ist zugeschlossen; da ist der Schlüssel!«

Er zog wirklich einen Schlüssel aus der Tasche und zeigte ihn ihm.

»Du lügst fortwährend!« schrie Raskolnikow, der sich nicht mehr beherrschen konnte. »Du lügst, du verdammter Hanswurst!« und er stürzte auf Porfirij los, der sich nach der Eingangstür zurückzog, ohne jedoch irgendwie Furcht zu zeigen.

»Ich durchschaue alles, alles durchschaue ich!« rief Raskolnikow, indem er auf ihn zusprang. »Du lügst und hänselst mich, damit ich mich verraten soll.«

»Ein deutlicherer Selbstverrat ist ja gar nicht denkbar, Väterchen Rodion Romanowitsch. Sie sind ja ganz rasend geworden. Schreien Sie nur nicht so; sonst muß ich Leute herbeirufen.«

»Du lügst, es kann mir nichts geschehen! Rufe deine Leute her! Du hast gewußt, daß ich krank bin, und hast mich so lange reizen wollen, bis ich wütend würde, damit ich mich verriete; das war deine Absicht! Aber bringe Tatsachen vor! Ich habe alles durchschaut! Tatsachen hast du keine; du hast nur klägliche, wertlose Mutmaßungen à la Sametow! … Du kanntest meinen Charakter und wolltest mich in Raserei versetzen, um mich dann plötzlich mit Popen und Zeugen zu überrumpeln … Wartest du auf die? Ja? Worauf wartest du? Wo sind sie? Laß sie herkommen!«

»Aber, Väterchen, was sollen hier Popen und Zeugen! Was manche Leute für Vorstellungen haben! So, wie Sie sagen, zu verfahren, das würde ja der gesetzlichen Form gar nicht entsprechen; Sie verstehen den Geschäftsgang gar nicht, mein Bester … Die gesetzliche Form läuft uns nicht davon; das werden Sie schon noch selbst sehen!« murmelte Porfirij und horchte nach der Eingangstür hin.

Wirklich war in diesem Augenblicke dicht an dieser Tür im Nebenzimmer ein Geräusch zu vernehmen.

»Aha, sie kommen!« rief Raskolnikow. »Du hast sie holen lassen! … Du hast auf sie gewartet! Darauf hast du gerechnet! Nun, laß sie alle herkommen, deine Zeugen und wen du sonst noch willst! Her damit! Ich bin bereit! Ich bin bereit!«

Aber in diesem Augenblicke begab sich etwas Seltsames, etwas, was so außerhalb des gewöhnlichen Ganges der Dinge lag, daß weder Raskolnikow noch Porfirij Petrowitsch mit einer derartigen Entwicklung hatten rechnen können.

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Kapitel 26

VI

Wenn in späteren Zeiten Raskolnikow sich dieser Szene erinnerte, so stellte sie sich ihm folgendermaßen dar:

Das Geräusch, das hinter der Tür vernehmbar geworden war, wurde schnell stärker, und die Tür wurde ein wenig geöffnet.

»Was gibt es?« rief Porfirij Petrowitsch ärgerlich. »Ich habe doch befohlen …«

Es erfolgte zunächst keine Antwort; aber es war deutlich, daß sich hinter der Tür mehrere Menschen befanden und bemüht waren, jemand von der Tür wegzustoßen.

»Was gibt es denn da?« fragte Porfirij Petrowitsch noch einmal in erregtem Tone.

»Sie haben den Arrestanten Nikolai hergebracht«, antwortete eine Stimme.

»Den brauche ich nicht! Weg mit ihm! Wartet noch! Was hat er jetzt hier zu suchen! Was ist das für eine Unordnung!« rief Porfirij und stürzte zur Tür.

»Ja, er …«, setzte dieselbe Stimme wieder an, brach aber plötzlich ab.

Ein richtiges Ringen entstand, das nicht länger als zwei Sekunden dauerte; dann schien jemand einen andern mit aller Kraft beiseitezustoßen, und unmittelbar darauf trat ein sehr blaß aussehender Mensch in Porfirijs Arbeitszimmer.

Die äußere Erscheinung dieses Menschen war auf den ersten Blick sehr überraschend. Er schaute gerade vor sich hin, schien aber niemanden zu sehen. In seinen Augen blitzte eine wilde Entschlossenheit; aber dabei bedeckte Totenblässe sein Gesicht, als ob er zum Richtplatz geführt würde. Seine ganz blassen Lippen zuckten leise.

Er war noch sehr jung, gekleidet wie ein Mensch aus dem einfachen Volke, von mittlerem Wuchse und mager; sein Haar war rund geschnitten; die feinen Gesichtszüge hatten etwas Trockenes, Ausdrucksloses. Der Mann, der von ihm unerwarteterweise beiseitegestoßen worden war, ein Polizist, stürzte hinter ihm her ins Zimmer und ergriff ihn an der Schulter; aber Nikolai machte einen heftigen Ruck mit dem Arm und riß sich noch einmal von ihm los.

In der Tür drängten sich mehrere Neugierige, und einige von ihnen hatten die größte Lust hereinzukommen. Dieser ganze Vorgang hatte sich fast in einem Augenblicke abgespielt.

»Fort mit dir! Es ist noch zu früh! Warte, bis du gerufen wirst! … Warum die ihn nur so früh hergebracht haben?« murmelte Porfirij Petrowitsch höchst ärgerlich, als wenn ihm jemand sein Konzept verdorben hätte.

Plötzlich warf sich Nikolai auf die Knie nieder.

»Was willst du?« rief Porfirij verwundert.

»Ich habe es getan! Ich habe das Verbrechen begangen! Ich bin der Mörder!« sagte Nikolai; er atmete nur mühsam, sprach aber mit ziemlich lauter Stimme.

Etwa zehn Sekunden lang schwiegen alle wie versteinert; sogar der Polizist war zurückgewichen und rührte Nikolai nicht mehr an; er zog sich mechanisch zur Tür zurück und blieb dort stehen, ohne sich zu regen.

»Was soll das heißen?« rief Porfirij Petrowitsch, sobald er sich von der momentanen Erstarrung wieder freigemacht hatte.

»Ich … bin der Mörder«, sagte Nikolai noch einmal nach einer kurzen Pause.

»Wie? … Du? … Wie? … Wen hast du ermordet?«

Porfirij Petrowitsch war augenscheinlich fassungslos. Nikolai schwieg wieder ein kleines Weilchen.

»Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna habe ich … mit einem Beile … ermordet. Eine Verblendung war über mich gekommen …«, fügte er hinzu und verstummte wieder. Er lag noch immer auf den Knien.

Porfirij Petrowitsch stand einige Augenblicke in Gedanken versunken da; aber dann raffte er sich zusammen und gab mit der Hand den ungebetenen Zeugen einen Wink, daß sie sich entfernen möchten. Diese verschwanden sofort und machten die Tür wieder zu. Dann richtete er seinen Blick auf Raskolnikow, der in einer Ecke stand und verstört Nikolai ansah, ging ein paar Schritte auf ihn zu, blieb aber auf einmal wieder stehen, ließ seinen Blick zu Nikolai, dann wieder zu Raskolnikow, dann wieder zu Nikolai herüberwandern; endlich stürzte er, wie von einer Eingebung erfüllt, auf Nikolai los.

»Warum kommst du mir denn gleich von vornherein mit deiner Verblendung?« schrie er ihn grimmig an. »Ich habe dich ja noch gar nicht gefragt, ob eine Verblendung über dich gekommen ist oder nicht … Antworte: hast du den Mord begangen?«

»Ich bin der Mörder … Ich gestehe es«, erwiderte Nikolai.

»Ach was! Womit hast du den Mord begangen?«

»Mit einem Beile. Das hatte ich mir vorher beschafft.«

»Ach was! Nur nicht so eilig! Allein?«

Nikolai verstand die Frage nicht.

»Hast du den Mord allein begangen?«

»Ja, ganz allein. Mitjka ist unschuldig; er war gar nicht daran beteiligt.«

»Rede nicht vorschnell von Mitjka! … Na so was! … Wie bist du denn damals die Treppe hinuntergekommen? Die Hausknechte haben euch doch beide zusammen gesehen?«

»Ich bin damals absichtlich mit Mitjka zusammen hinuntergelaufen, … um den Verdacht von mir abzulenken« erwiderte Nikolai prompt, als hätte er sich vorher auf die Antwort vorbereitet.

»Na ja, es ist so!« rief Porfirij wütend. »Er sagt eine Lektion auf!« murmelte er wie für sich und sah auf einmal wieder Raskolnikow an.

Seine Gedanken waren offenbar so stark von Nikolai in Anspruch genommen gewesen, daß er für einen Augenblick an Raskolnikow gar nicht mehr gedacht hatte. Jetzt kam ihm das auf einmal zum Bewußtsein, und er wurde ordentlich verlegen.

»Entschuldigen Sie, Väterchen Rodion Romanowitsch«, wandte er sich zu ihm, »das geht wohl nicht so in Gegenwart eines Dritten; haben Sie die Güte … Sie haben ja hier nichts mehr zu tun … Ich bin selbst … Sie sehen, was man für Überraschungen erlebt! … Darf ich Sie bitten! …«

Er faßte ihn an der Hand und zeigte nach der Tür.

»Das scheinen Sie nicht erwartet zu haben«, sagte Raskolnikow, der die Sache natürlich noch nicht klar begriff, aber doch bereits erheblich an Mut gewonnen hatte.

»Auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Ei, wie Ihre Hand zittert! He-he!«

»Auch Sie zittern, Porfirij Petrowitsch.«

»Jawohl, jawohl; das hatte ich nicht erwartet.«

Sie standen schon in der Tür. Porfirij wartete ungeduldig darauf, daß Raskolnikow hinausginge.

»Und die Überraschung, von der Sie sprachen, die wollen Sie mir nun nicht zeigen?« fragte Raskolnikow spöttisch.

»So reden Sie nun, und dabei schlagen Ihnen doch noch die Zähne im Munde aufeinander, he-he! Was sind Sie für ein spottlustiger Mensch! Na, auf Wiedersehen!«

»Meiner Ansicht nach können wir einander einfach Adieu sagen!«

»Wie es Gott lenken wird, wie es Gott lenken wird!« murmelte Porfirij und verzog den Mund zu einem eigentümlichen Lächeln.

Beim Durchschreiten der Kanzlei bemerkte Raskolnikow, daß viele ihn aufmerksam betrachteten. Im Vorzimmer erkannte er unter der Menge die beiden Hausknechte aus »jenem« Hause, die er damals in der Nacht aufgefordert hatte, mit zum Polizeibureau zu kommen. Sie standen da und warteten auf etwas. Kaum war er jedoch auf die Treppe gelangt, als er hinter sich Porfirijs Stimme hörte. Er drehte sich um und sah, daß ihm dieser ganz außer Atem nachgelaufen kam.

»Nur noch ein Wort, Rodion Romanowitsch! Wie sich diese ganze Geschichte lösen wird, das wollen wir Gott anheimgeben; aber ich werde Sie über einige Punkte doch noch in der gesetzlichen Form befragen müssen … Also sehen wir uns noch, nicht wahr?«

Porfirij blieb lächelnd vor ihm stehen.

»Nicht wahr?« fügte er noch einmal hinzu.

Es machte den Eindruck, als wollte er noch weiterreden; aber es kam nichts mehr.

»Ich möchte Sie noch um Entschuldigung bitten, Porfirij Petrowitsch, wegen meines Verhaltens von vorhin, … ich bin etwas zu hitzig geworden«, begann Raskolnikow; er war schon wieder ganz dreist geworden und verspürte ein unwiderstehliches Verlangen, ein bißchen zu schauspielern.

»Oh, das tut ja nichts, tut ja gar nichts!« fiel Porfirij in freudigem Tone ein. »Ich bin ja auch meinerseits … Ich habe nun einmal so einen bissigen Charakter; ich gestehe es, ich gestehe es! Nun aber, wir sehen uns ja noch. So Gott will, sehen wir uns noch recht oft wieder! …«

»Und dann werden wir einander recht genau kennenlernen?« erwiderte Raskolnikow.

»Jawohl, recht genau werden wir einander dann kennenlernen«, stimmte ihm Porfirij Petrowitsch bei und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen sehr ernst an. »Sie gehen jetzt zur Feier eines Namenstages?«

»Nein, zu einer Beerdigung.«

»Ja, richtig, zu einer Beerdigung! Achten Sie nur auf Ihre Gesundheit; auf die müssen Sie recht sehr achten …«

»Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich Ihnen nun meinerseits wünschen soll!« antwortete Raskolnikow, der schon anfing, die Treppe hinabzusteigen, sich aber wieder zu Porfirij umwandte. »Ich möchte Ihnen guten Erfolg in Ihrer amtlichen Tätigkeit wünschen; aber Sie sehen ja selbst, wie komisch Ihr Amt ist.«

»Wieso komisch?« fragte Porfirij Petrowitsch, der sich gleichfalls bereits umgedreht hatte, um fortzugehen, nun aber sofort die Ohren spitzte.

»Aber gewiß! Da ist dieser arme Nikolai; den haben Sie wahrscheinlich in Ihrer psychologischen Manier gequält und gemartert, solange er noch nicht gestand! Tag und Nacht haben Sie ihm wahrscheinlich bewiesen: ›Du bist der Mörder, du bist der Mörder! …‹ Na, und nun, wo er es bereits gestanden hat, fangen Sie von neuem an, ihn durchzukneten: ›Du lügst‹, heißt es jetzt, ›du bist nicht der Mörder! Du kannst es nicht sein! Du sagst eine Lektion auf!‹ Nun, ist da Ihr Amt nicht komisch?«

»He-he-he! Das haben Sie also gehört, daß ich vorhin eben zu Nikolai sagte, er sage eine Lektion auf?«

»Natürlich habe ich es gehört!«

»He-he! Ein scharfsinniger Mann sind Sie, ein scharfsinniger Mann. Alles bemerken Sie! Ein überaus reger Verstand! Und Sie gewinnen einer Sache immer die komischste Seite ab … he-he! … Von den Schriftstellern besaß ja wohl Gogol diese Fähigkeit im höchsten Grade?«

»Gewiß.«

»Ja, ja, Gogol … Auf angenehmes Wiedersehen!«

»Auf angenehmes Wiedersehen!«

Raskolnikow ging geradeswegs nach Hause. Er war so wirr und benommen, daß er, als er nach Hause gekommen war, sich auf das Sofa warf und eine Viertelstunde still dasaß, lediglich damit beschäftigt, sich zu erholen und seine Gedanken einigermaßen zu sammeln. Über die Geschichte mit Nikolai ins klare zu kommen, das versuchte er gar nicht; er fühlte sich tief erschüttert; er fühlte, daß in Nikolais Geständnis etwas Unerklärliches, Wunderbares enthalten war, was er jetzt schlechterdings nicht begreifen könne. Aber Nikolais Geständnis war eine Tatsache. Die Folgen dieser Tatsache standen ihm sofort klar vor Augen: die Unwahrheit dieser Selbstbezichtigung konnte nicht verborgen bleiben, und dann hielt man sich wieder an ihn. Aber bis dahin wenigstens war er frei und mußte unbedingt etwas für sich tun; denn die Gefahr drohte ihm mit Sicherheit.

Aber wie groß war diese Gefahr? Die Lage begann sich zu klären. Während er sich in großen, allgemeinen Umrissen die ganze Szene ins Gedächtnis zurückrief, die er soeben mit Porfirij gehabt hatte, fuhr er unwillkürlich noch einmal vor Schreck zusammen. Allerdings, er kannte noch nicht alle Absichten Porfirijs, konnte noch nicht alle seine Berechnungen durchschauen. Aber ein Teil des Spieles war bereits aufgedeckt, und natürlich konnte niemand besser als er verstehen, wie schrecklich für ihn diese von Porfirij ausgespielte Karte war. Nur wenig hatte gefehlt, und er wäre imstande gewesen, sich vollständig und unzweideutig zu verraten. Porfirij, der die Krankhaftigkeit seines Charakters wahrgenommen und gleich beim ersten Blick richtig erfaßt und durchschaut hatte, hatte daraufhin ein zwar etwas zu keckes, aber doch fast sicheres Spiel gespielt. Es war nicht zu bestreiten, daß er, Raskolnikow, sich vorhin schon arg kompromittiert hatte; aber bis zu Tatsachen war es doch noch nicht gekommen; alles, was vorlag, war immer noch verschiedener Deutungen fähig. Aber faßte er auch alles Vorgefallene richtig auf? Irrte er sich auch nicht? Zu welchem Resultate hatte Porfirij heute eigentlich gelangen wollen? Hatte er wirklich heute etwas, was zu seiner Überführung dienen konnte, vorbereitet gehabt und im Hintergrunde gehalten? Und was konnte das gewesen sein? Hatte er wirklich auf etwas gewartet oder nicht? Wie hätte sich wohl heute ihr Auseinandergehen gestaltet, wenn die unerwartete Katastrophe mit Nikolai nicht eingetreten wäre?

Porfirij hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt; das war ja von ihm sehr riskant; aber er hatte es trotzdem getan, und Raskolnikow hatte die bestimmte Vorstellung: hätte Porfirij wirklich noch mehr Beweismaterial gehabt, so hätte er auch das noch enthüllt. Was hatte es nun mit dieser »Überraschung« für eine Bewandtnis? Hatte er ihn damit nur hinters Licht führen wollen? War etwas Ernsthaftes daran oder nicht? Konnte etwas, was einer Tatsache, einem positiven, belastenden Momente ähnlich sah, dahinterstecken? Der Mann von gestern vielleicht? Wo war der geblieben? Wo war er heute? Wenn Porfirij überhaupt positives Beweismaterial hatte, so stand das sicherlich in Beziehung zu dem Manne von gestern.

Er saß auf dem Sofa mit tief herabgesunkenem Kopfe, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht mit den Händen verdeckt. Ein nervöses Zittern lief ihm immer noch durch den ganzen Körper. Schließlich stand er auf, ergriff seine Mütze, stand einen Augenblick in Gedanken und ging zur Tür.

Er hatte die Vorstellung, daß er wenigstens für den heutigen Tag sich mit einiger Sicherheit für ungefährdet halten könne. Auf einmal empfand er in seinem Herzen beinahe ein Gefühl der Freude: er wollte so schnell wie möglich zu Katerina Iwanowna gehen. Zur Beerdigung kam er natürlich zu spät; aber an dem Gedächtnismahle konnte er noch teilnehmen, und dabei würde er in wenigen Minuten Sonja sehen.

Er blieb stehen und überlegte ein Weilchen; ein schmerzliches Lächeln spielte um seine Lippen.

›Heute noch, heute noch!‹ sagte er vor sich hin. ›Ja, heute noch; es muß sein!‹

In dem Augenblicke, wo er die Tür öffnen wollte, ging sie plötzlich von selbst auf. Zitternd sprang er zurück. Die Tür öffnete sich langsam und leise, und vor ihm stand die Gestalt des Mannes, der ihm gestern »wie aus der Erde gewachsen« erschienen war.

Der Mann blieb auf der Schwelle stehen, blickte Raskolnikow schweigend an und machte einen Schritt in das Zimmer hinein. Seine äußere Erscheinung war die gleiche wie gestern, dieselbe Gestalt, dieselbe Kleidung; aber in seinem Gesicht und in seinem Blick war eine starke Veränderung vorgegangen: er sah jetzt ganz niedergeschlagen aus, und nachdem er einen Augenblick so dagestanden hatte, seufzte er tief. Es fehlte nur, daß er dabei die Hand an die Backe gelegt und den Kopf zur Seite gebeugt hätte; dann hätte er vollständig wie ein altes Weib ausgesehen.

»Was wünschen Sie?« fragte Raskolnikow, der leichenblaß geworden war.

Der Mann schwieg noch eine kleine Weile und verneigte sich dann auf einmal tief vor ihm, fast bis zur Erde; wenigstens berührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand.

»Was wollen Sie?« rief Raskolnikow.

»Verzeihen Sie mir!« erwiderte der Mann leise.

»Was soll ich Ihnen verzeihen?«

»Meine bösen Gedanken.«

Beide blickten einander an.

»Ich hatte mich geärgert. Als Sie damals kamen, vielleicht wirklich in betrunkenem Zustande, und die Hausknechte aufforderten, mit nach dem Polizeibureau zu kommen, und nach dem Blute gefragt hatten, da ärgerte ich mich, daß man Sie so einfach für betrunken hielt und unbehelligt gehen ließ. Und ich ärgerte mich so, daß ich in der Nacht nicht schlafen konnte. Und da ich Ihre Adresse im Kopfe behalten hatte, so kam ich gestern hierher und erkundigte mich nach Ihnen … Ich habe Sie beleidigt.«

»Sie sind also aus jenem Hause?«

»Ja, ich wohne da. Ich stand damals mit den Hausknechten im Torweg; erinnern Sie sich vielleicht? Ich habe da auch meine Werkstatt, seit vielen Jahren. Ich bin Kürschner, Kleinbürger; ich arbeite im Hause. Und ich ärgerte mich so …«

Nun erinnerte sich Raskolnikow auf einmal deutlich an die ganze Szene von vorgestern im Torweg; er hatte noch im Gedächtnis, daß damals außer den Hausknechten dort noch ein paar Leute gestanden hatten, auch eine Frau. Er entsann sich einer Stimme, die den Vorschlag gemacht hatte, ihn ohne weiteres auf die Polizei zu bringen. Auf das Gesicht dessen, der das gesagt hatte, konnte er sich nicht besinnen und erkannte ihn auch jetzt in seinem Besucher nicht wieder; aber es war ihm erinnerlich, daß er ihm damals eine Antwort gegeben und sich auch nach ihm umgewandt hatte.

Also das war nun die Erklärung des ganzen schrecklichen Erlebnisses von gestern. Am furchtbarsten war es ihm, sich sagen zu müssen, daß er infolge eines so nichtigen Umstandes beinahe zugrunde gegangen wäre, sich beinahe zugrunde gerichtet hätte. Also hatte dieser Mensch von nichts erzählen können als von dem Wohnungmieten und dem Gespräche über das Blut. Folglich hatte auch Porfirij kein Beweismaterial außer diesem »Fieberwahn«, keine Tatsachen, nur »psychologische Beweise«, die »ihre zwei Seiten … hier fehlt eine ganze Zeile im Buch … Beweismaterial außer diesem »Fieberwahn«, keine Tatsachen ans Licht kamen (und solche durften nicht mehr ans Licht kommen, unter keinen Umständen!) – was konnte man ihm dann anhaben? Wodurch konnte man ihn dann überführen, selbst wenn man ihn festnahm? Und folglich hatte Porfirij erst jetzt, erst eben jetzt von dem Besuch in der Wohnung erfahren und vorher nichts davon gewußt.

»Da haben Sie also heute wohl Porfirij davon erzählt, … daß ich nach Ihrem Hause gekommen war?« rief er, von einem Gedanken, der ihm plötzlich gekommen war, überrascht.

»Was für einem Porfirij?«

»Dem Untersuchungskommissar.«

»Ja, dem habe ich es gesagt. Die Hausknechte wollten damals nicht hingehen, und da bin ich hingegangen.«

»Heute?«

»Ich war unmittelbar vor Ihnen da. Und ich habe alles gehört, wie er Sie gefoltert hat.«

»Wo? Was? Wann?«

»Nun dort, bei ihm hinter der Bretterwand; da habe ich die ganze Zeit über gesessen.«

»Wie? Also Sie waren die Überraschung? Aber ich bitte Sie, wie ist denn das zugegangen?«

»Als ich sah«, erwiderte der Kleinbürger, »daß die Hausknechte trotz meines Zuredens nicht hingehen wollten (sie sagten, nun wäre es schon zu spät, und er würde womöglich noch böse werden, weil sie nicht sogleich mit Ihnen hingekommen wären), da ärgerte ich mich und konnte nicht schlafen und wollte mich nach Ihnen erkundigen. Und nachdem ich mich gestern nach Ihnen erkundigt hatte, ging ich heute zu dem Untersuchungskommissar hin. Als ich zum ersten Male hinkam, war er nicht da; als ich eine Stunde später wieder hinkam, empfing er mich nicht; als ich zum dritten Male kam, wurde ich vorgelassen. Ich berichtete ihm alles, wie es sich zugetragen hatte, und da fing er an, im Zimmer hin und her zu rennen und sich mit der Faust gegen die Brust zu schlagen. ›Ihr nichtswürdige Bande‹, sagte er, ›warum habt ihr mir das nicht gleich gemeldet? Hätte ich das gewußt, so hätte ich ihn mir durch die Polizei herholen lassen!‹ Dann lief er hinaus, rief jemanden herein und redete mit ihm in einer Ecke; dann wendete er sich wieder zu mir, fragte mich allerlei und schimpfte. Er machte mir viele Vorwürfe, und ich hatte ihm doch alles berichtet und ihm auch gesagt, daß Sie gestern nicht gewagt hätten, mir auf meine Worte etwas zu antworten, und daß Sie mich nicht wiedererkannt hätten. Da fing er wieder an herumzulaufen und schlug sich immer gegen die Brust und war ärgerlich und lief umher; und als Sie angemeldet wurden, da sagte er zu mir: ›Na, geh mal hinter die Zwischenwand, sitze da einstweilen und rühre dich nicht, was du auch hören magst!‹ und er brachte mir selbst einen Stuhl dorthin und schloß mich ein. ›Vielleicht werde ich dich noch befragen‹, sagte er. Als aber Nikolai hereingekommen war, da ließ er mich, nachdem Sie weg waren, hinaus. ›Ich werde dich noch einmal vorladen und noch weiter befragen‹, sagte er.«

»Hat er Nikolai in Ihrer Gegenwart verhört?«

»Nachdem er Sie hinausbegleitet hatte, entließ er mich auch gleich und fing an, Nikolai zu verhören.«

Der Kleinbürger hielt inne, verbeugte sich nochmals und berührte dabei wieder mit dem Finger den Boden.

»Verzeihen Sie mir, daß ich Sie verleumdet und so schlecht von Ihnen gedacht habe.«

»Gott wird es Ihnen verzeihen«, antwortete Raskolnikow.

Sowie er dies gesagt hatte, verbeugte sich der Kleinbürger wieder vor ihm, aber nun nicht bis zur Erde, sondern nur bis zur Höhe des Gürtels, drehte sich langsam um und ging aus dem Zimmer.

›Jetzt hat alles seine zwei Seiten!‹ sagte sich Raskolnikow und verließ mutiger als je das Zimmer.

›Jetzt wollen wir noch unsere Kräfte miteinander messen‹, dachte er mit einem ingrimmigen Lächeln, während er die Treppe hinabstieg. Der Ingrimm richtete sich gegen ihn selbst; nur mit Geringschätzung und Beschämung erinnerte er sich jetzt seines »Kleinmutes«, wie er sich in Gedanken ausdrückte.

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Kapitel 27

I

Der Morgen, welcher auf die für Pjotr Petrowitsch so verhängnisvolle Aussprache mit Dunja und Pulcheria Alexandrowna folgte, übte auch auf Pjotr Petrowitsch seine ernüchternde Wirkung aus. Das Ereignis, das ihm noch gestern als etwas Phantastisches und, obgleich es sich zugetragen hatte, dennoch sozusagen als ein Ding der Unmöglichkeit erschienen war, dieses Ereignis mußte er zu seinem größten Mißvergnügen allmählich als eine vollendete und nicht mehr rückgängig zu machende Tatsache anerkennen. Die schwarze Schlange der verletzten Eigenliebe hatte die ganze Nacht über an seinem Herzen genagt. Sobald er sich vom Bette erhoben hatte, besah er sich sogleich im Spiegel. Er fürchtete, es könnte ihm die Galle ins Blut getreten sein. In dieser Hinsicht jedoch war vorläufig alles noch in guter Ordnung, und als er sein vornehmes, weißes und in letzter Zeit etwas voller gewordenes Gesicht betrachtete, fühlte er sich sogar für einen Augenblick getröstet, in der festen Überzeugung, daß er wohl auch noch anderwärts eine Braut für sich finden werde, vielleicht sogar eine noch bessere; aber sofort trat auch wieder der Gedanke an die ihm widerfahrene Kränkung in den Vordergrund, und er spuckte energisch seitwärts aus, wodurch er ein stillschweigendes, aber spöttisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Stubengenossen Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow hervorrief. Pjotr Petrowitsch bemerkte dieses Lächeln und notierte es sich in Gedanken, um es seinem jungen Freunde bei Gelegenheit heimzuzahlen. So hatte er ihm in der letzten Zeit schon gar manches zu diesem Zwecke aufs Kerbholz gesetzt. Sein Ärger wuchs noch mehr, als er auf einmal zu der Einsicht kam, daß es gestern töricht von ihm gewesen war, von dem Ausgange seines Gesprächs mit der Familie Raskolnikow diesem Andrej Semjonowitsch Mitteilung zu machen. Das war der zweite Fehler, der ihm gestern passiert war; er hatte ihn in der Erregung, in einem überflüssigen Drange, sich auszusprechen, und infolge seiner gereizten Stimmung begangen … Weiter folgte nun an diesem Vormittag, gerade als ob das Schicksal es darauf angelegt hätte, eine Unannehmlichkeit auf die andre. Sogar beim Senat hatte er einen Mißerfolg in der Angelegenheit, die er betrieb. In besondere Entrüstung aber geriet er über den Hauswirt, von dem er im Hinblick auf seine baldige Verheiratung eine Wohnung gemietet hatte, die er bereits auf eigene Kosten hatte instand setzen lassen. Dieser Wirt, ein reich gewordener deutscher Handwerker, ließ sich absolut nicht darauf ein, den eben erst abgeschlossenen Kontrakt einfach wieder aufzuheben, sondern forderte die volle im Kontrakt vorgesehene Abstandssumme, obwohl ihm doch Pjotr Petrowitsch die Wohnung in fast vollständig renoviertem Zustande zurückgab. Ebenso wollten die Leute in der Möbelhandlung auch nicht einen Rubel von der Anzahlung für die dort gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückgeben.

›Ich kann mich doch nicht extra um der Möbel willen verheiraten!‹ dachte Pjotr Petrowitsch zähneknirschend, und gleichzeitig zuckte in seinem Gehirn noch einmal ein Hoffnungsschimmer auf: ›Ist denn dort wirklich alles unwiederbringlich verloren und zu Ende? Ob ich es nicht doch noch einmal versuchen kann?‹ Der Gedanke an Dunja zog ihm noch einmal verlockend durch den Sinn. Es waren qualvolle Augenblicke, die er jetzt durchlebte, und hätte Pjotr Petrowitsch jetzt auf dem Fleck durch den bloßen Wunsch Raskolnikow ermorden können, so hätte er, ohne zu zögern, diesen Wunsch ausgesprochen.

›Ein Fehler war es auch von mir, daß ich ihnen gar kein Geld gegeben habe‹, dachte er, als er trüben Mutes in Lebesjatnikows Stube zurückkehrte. ›Hol´s der Kuckuck, warum bin ich eigentlich so ein Geizkragen geworden? Das war eine ganz falsche Sparsamkeit! Ich beabsichtigte, sie recht kurz zu halten und sie dahin zu bringen, daß sie mich als ihren Schutzgott ansähen, und nun kommen sie mir so! … Scheußlich! … Ja, wenn ich diese ganze Zeit her so anderthalbtausend Rubel auf sie verwandt hätte, zur Beschaffung der Aussteuer und in Form von Geschenken, von allerlei Schächtelchen, Necessaires, Bijouterien, Kleiderstoffen und anderm Firlefanz, dann wäre die Sache besser gewesen, … und ich hätte mehr Sicherheit gehabt! Dann hätten sie mir jetzt nicht so leicht aufgekündigt! Solche Leute halten es unbedingt für ihre Pflicht, bei der Lösung einer Verlobung die Geschenke und das Geld zurückzugeben; und die Rückerstattung hätte ihnen doch Schwierigkeiten gemacht, hätte ihnen auch bei den Geschenken wohl leid getan! Auch das Gewissen würde sie beunruhigt haben: »wir können doch nicht«, hätten sie sich gesagt, »einem Menschen so ohne weiteres den Laufpaß geben, nachdem er sich bisher so freigebig und zartfühlend gezeigt hat.« … Hm! Da habe ich einen Bock geschossen!‹

Wieder knirschte Pjotr Petrowitsch mit den Zähnen und nannte sich einen Dummkopf, natürlich nur ganz im stillen.

So befand er sich nicht gerade in rosigster Stimmung. Die Vorbereitungen zu dem Gedächtnismahle in Katerina Iwanownas Zimmer nahmen dann ein wenig sein Interesse in Anspruch. Er hatte schon gestern etwas von diesem Gedächtnismahle gehört; er hatte sogar eine undeutliche Erinnerung, als ob auch er dazu eingeladen worden wäre; aber bei seinen eigenen Sorgen und Geschäften hatte er für nichts andres Aufmerksamkeit übrig gehabt. Schnell erkundigte er sich jetzt bei Frau Lippewechsel, die in Katerina Iwanownas Abwesenheit (denn diese war auf dem Kirchhofe) damit beschäftigt war, den Tisch zurechtzumachen, und erfuhr von ihr, das Gedächtnismahl würde sehr großartig sein; fast alle Mitmieter, darunter auch solche, die mit dem Verstorbenen gar nicht bekannt gewesen wären, seien eingeladen; sogar Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow sei eingeladen, trotz des Streites, den er unlängst mit Katerina Iwanowna gehabt hätte; endlich sei auch er selbst, Pjotr Petrowitsch, nicht nur eingeladen, sondern er würde sogar als der vornehmste Gast unter allen Mietern mit besonderer Sehnsucht erwartet. Amalia Iwanowna selbst hatte gleichfalls eine höchst respektvolle Einladung erhalten, trotz aller vorhergegangenen unangenehmen Zwistigkeiten, und arrangierte daher jetzt mit großer Geschäftigkeit und nicht ohne Genuß alles für die Mahlzeit Erforderliche. Sie war bereits höchst geputzt, obwohl es natürlich ein Trauerkleid war; aber es war ganz neu und aus Seide, und sie war sehr stolz darauf. Alle diese Tatsachen und Mitteilungen brachten Pjotr Petrowitsch auf einen ganz besonderen Gedanken, und in seine Überlegungen vertieft, begab er sich in sein, das heißt in Herrn Lebesjatnikows Zimmer. Die Hauptsache war: er hatte unter anderm erfahren, daß zu den Eingeladenen auch Raskolnikow gehörte.

Andrej Semjonowitsch war aus irgendeinem Grunde an diesem Tage den ganzen Vormittag über zu Hause. Zwischen ihm und Pjotr Petrowitsch bestand ein eigentümliches Verhältnis, das jedoch zum Teil sehr erklärlich war. Pjotr Petrowitsch verachtete und haßte ihn über alle Maßen, fast gleich von dem Tage an, wo er sich bei ihm einlogiert hatte; gleichzeitig aber empfand er vor ihm eine gewisse Furcht. Er hatte nach seiner Ankunft in Petersburg nicht lediglich aus schäbiger Sparsamkeit bei ihm Quartier genommen, wiewohl dies allerdings der Hauptgrund war, sondern er hatte dazu noch einen andern Grund gehabt. Schon als er noch in der Provinz wohnte, hatte er über Andrej Semjonowitsch, seinen früheren Mündel, gehört, er sei einer der hervorragendsten jungen Reformer und spiele sogar in manchen interessanten, geheimnisvollen Klubs eine bedeutende Rolle. Das hatte ihm imponiert. Diese mächtigen, allwissenden Klubs, die niemanden fürchteten und jeden geheimen Übeltäter entlarvten, hatten ihm schon längst eine gewaltige, jedoch ganz vage Furcht eingeflößt. Er selbst hatte sich natürlich, noch dazu in der Provinz, von derartigen Vereinen keinen auch nur annähernd genauen Begriff machen können. Er hatte, wie alle Leute, gehört, es gebe namentlich in Petersburg sogenannte Reformer, Nihilisten, Entlarver usw.; aber gleich vielen andern Leuten hatte er mit diesen Bezeichnungen ganz übertriebene und ins Absurde entstellte Vorstellungen verbunden. Am allermeisten fürchtete er, und zwar schon seit einigen Jahren, die »Entlarvungen«, und dies war die hauptsächlichste Ursache seiner fortwährenden übermäßigen Unruhe gewesen, besonders wenn er an die Verlegung seiner Tätigkeit nach Petersburg gedacht hatte. In dieser Hinsicht war er, wie man sich auszudrücken pflegt, verängstigt, wie einem manchmal verängstigte kleine Kinder vorkommen. Einige Jahre vorher hatte er in der Provinz (er stand damals noch am Beginn seiner Laufbahn) zwei solche Fälle von grausamer Entlarvung mit angesehen; die beiden Betroffenen waren recht hochgestellte Beamte in der Verwaltung des Gouvernements, und er hatte sich in ihre Gefolgschaft begeben und sich ihrer Gönnerschaft erfreut. Der eine Fall endete für die entlarvte Persönlichkeit mit einem großen Skandal, und der zweite hätte beinahe ein ganz, ganz übles Ende genommen. Aus diesem Grunde hatte sich Pjotr Petrowitsch vorgenommen, sich gleich nach seiner Ankunft in Petersburg zu erkundigen, was es mit diesen Klubs für eine Bewandtnis habe, und, wenn es erforderlich schiene, der Gefahr vorzubeugen und sich bei »unsrer jungen Generation« einzuschmeicheln. Für diesen Fall hoffte er auf Lebesjatnikows Unterstützung, und er hatte, wie er das bei dem Besuche bei Raskolnikow bewies, bereits gelernt, ein paar entlehnte Phrasen klangvoll vorzubringen.

Allerdings hatte er Andrej Semjonowitsch recht bald als einen sehr gewöhnlichen, einfältigen Menschen durchschaut. Dadurch war aber sein Glaube an die Macht der Klubs in keiner Weise erschüttert und sein Mut nicht gehoben worden. Selbst wenn er sich überzeugt hätte, daß alle Reformer ebensolche Dummköpfe seien, auch dann hätte sich seine Unruhe nicht gelegt. Im Grunde interessierten all diese Lehren, Ideen und Systeme, mit denen Andrej Semjonowitsch ihn aufs freigebigste regalierte, ihn nicht im geringsten. Er hatte sein eigenes Ziel. Er wollte nur so schnell wie irgend möglich in Erfahrung bringen, was in diesen Klubs vorginge und wie dabei verfahren würde. Besaßen diese Leute Macht oder nicht? Hatte er für seine eigene Person etwas von ihnen zu befürchten oder nicht? Würden sie ihn »entlarven«, wenn er dies oder das unternähme, oder nicht? Und wenn sie sich mit Entlarvungen abgaben, auf welche Handlungsweisen hatten sie es dabei besonders abgesehen? Welche Handlungsweisen machten sie gerade jetzt zum Objekte ihrer entlarvenden Tätigkeit? Und dann: konnte man sich nicht auf irgendeine Weise mit ihnen freundlich stellen und sie dabei düpieren, wenn sie wirklich Macht besitzen sollten? War das erforderlich oder nicht? Konnte er nicht vielleicht gerade durch ihre Vermittlung in seiner Karriere etwas erreichen? Kurz, es drängten sich ihm Hunderte von Fragen auf.

Dieser Andrej Semjonowitsch war ein Mann von ungesunder Konstitution, skrofulös, von kleiner Statur; er bekleidete irgendeine Beamtenstelle; sein Haar war von auffallend hellblonder Farbe; er trug einen Backenbart in Kotelettform, auf den er sehr stolz war. Fast beständig litt er an den Augen. Er hatte ein sehr weiches Herz; aber sein Redeton klang sehr selbstbewußt und manchmal geradezu hochmütig, was sich bei seiner kleinen Figur meist recht lächerlich ausnahm. Amalia Iwanowna betrachtete ihn als einen hochanständigen Mieter; denn er trank nicht und bezahlte pünktlich seine Miete. Aber trotz mancher guten Eigenschaften war Andrej Semjonowitsch tatsächlich ein bißchen dumm. Er hatte sich mit leidenschaftlichem Eifer den Reformern und »unsrer jüngeren Generation« angeschlossen. Er gehörte zu der zahllosen, buntscheckigen Menge mittelmäßiger Menschen, kläglicher Frühgeburten und dünkelhafter Halbwisser, die sich eiligst zu Anhängern der modernsten, landläufigsten Idee machen und sie sofort verhunzen und alle Bestrebungen, denen sie (manchmal mit der besten Absicht) dienen, in eine Karikatur verwandeln.

Übrigens war Herrn Lebesjatnikow trotz all seiner Gutmütigkeit sein Stubengenosse und ehemaliger Vormund Pjotr Petrowitsch gleichfalls recht zuwider geworden. Das hatte sich von beiden Seiten ganz von selbst so ergeben. Wie einfältig er auch war, durchschaute Andrej Semjonowitsch doch allmählich, daß Pjotr Petrowitsch gegen ihn nicht aufrichtig war und ihn im stillen verachtete und daß überhaupt nichts Rechtes an ihm dran war. Er versuchte, ihm Fouriers System und die Darwinsche Theorie auseinanderzusetzen; aber Pjotr Petrowitsch hörte, namentlich in der letzten Zeit, mit gar zu spöttischer Miene zu und fing in der allerletzten Zeit sogar an, ihn auszuschelten. Pjotr Petrowitsch hatte nämlich instinktmäßig herausgefühlt, daß Lebesjatnikow nicht nur ein recht gewöhnlicher, ziemlich dummer Mensch, sondern wohl noch dazu ein arger Aufschneider war und überhaupt keine einflußreichen Beziehungen, nicht einmal in seinem Klub, besaß, sondern nur von weitem etwas läuten hören, ja, daß er nicht einmal sein eigentliches Geschäft, die Propaganda, ordentlich verstand, weil er gar zu wirr und unverständlich redete; wie konnte der ein »Entlarver« sein! Nebenbei sei noch bemerkt, daß Pjotr Petrowitsch in diesen anderthalb Wochen (namentlich am Anfange dieser Zeit) von Andrej Semjonowitsch ganz sonderbare Lobsprüche für Bestrebungen, die dieser bei ihm voraussetzte, entgegengenommen hatte; er hatte nämlich nicht widersprochen, sondern stillgeschwiegen, wenn Andrej Semjonowitsch ihm zum Beispiel die Absicht zugeschrieben hatte, die künftige, baldige Errichtung einer neuen »Kommune« nicht weit vom Kanal in der Meschtschanskaja-Straße zu fördern oder auch seiner Gattin Awdotja Romanowna nicht hinderlich zu sein, wenn diese gleich im ersten Monat der Ehe auf den Gedanken käme, sich einen Liebhaber anzuschaffen, oder auch seine künftigen Kinder nicht taufen zu lassen usw. Pjotr Petrowitsch widersprach grundsätzlich nicht, wenn ihm solche Absichten zugeschrieben wurden, und ließ es sich gefallen, dafür gelobt zu werden; so willkommen war ihm jedes Lob.

Pjotr Petrowitsch, der an diesem Morgen einige fünfprozentige Staatsschuldscheine verkauft hatte, saß am Tische und zählte die Banknotenpäckchen durch. Andrej Semjonowitsch, der fast nie Geld hatte, ging im Zimmer auf und ab und tat, als ob ihn der Anblick des vielen Geldes völlig kalt ließe und sogar mit Verachtung erfülle. Pjotr Petrowitsch glaubte ganz und gar nicht, daß der Anblick einer solchen Geldsumme Andrej Semjonowitsch wirklich kalt ließe; und Andrej Semjonowitsch seinerseits dachte bei sich voll Erbitterung, daß Pjotr Petrowitsch vielleicht tatsächlich eine niedrige, materielle Gesinnung bei ihm voraussetze und sich nun ein Vergnügen daraus mache, ihn, seinen jungen Freund, durch die nebeneinanderliegenden Banknotenpäckchen zu reizen und zu verhöhnen, indem er dadurch seine Unbedeutendheit und den großen zwischen ihnen vorhandenen Abstand demonstrieren wolle.

Er fand Pjotr Petrowitsch augenblicklich außerordentlich reizbar und unaufmerksam, obwohl er, Andrej Semjonowitsch, angesetzt hatte, ihm sein Lieblingsthema, die Gründung einer neuen, eigenartigen Kommune, zu erläutern. Die kurzen Entgegnungen und Bemerkungen, welche Pjotr Petrowitsch dazwischenwarf, wenn er einen Augenblick aufhörte, die Kügelchen am Rechenbrett klappern zu lassen, waren von einem ganz unverhohlenen und geflissentlich unhöflichen Spott durchtränkt. Aber Andrej Semjonowitsch, der einer humanen Auffassung zuneigte, führte diese Gemütsstimmung seines Stubengenossen auf das gestrige Zerwürfnis mit Dunja zurück und brannte vor Verlangen, schnell zu eingehenderer Behandlung seines Themas zu gelangen; er habe da, so bemerkte er, in Sachen der Reform und Propaganda seinem verehrten Freunde etwas mitzuteilen, was diesen interessieren und »zweifellos« in seiner weiteren Entwicklung fördern werde.

»Was ist denn das für ein Gedächtnismahl, zu dem da bei dieser … bei dieser Witwe Anstalten getroffen werden?« fragte Pjotr Petrowitsch auf einmal und unterbrach so seinen Freund bei der interessantesten Stelle der Auseinandersetzung.

»Das müssen Sie ja doch wissen! Ich habe doch erst gestern mit Ihnen darüber gesprochen und Ihnen meine Anschauungen über all solche religiösen Gebräuche entwickelt … Und die Frau hat Sie ja auch eingeladen; ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Sie haben ja selbst mit ihr gestern gesprochen …«

»Ich hätte nicht gedacht, daß diese bettelarme Närrin das ganze Geld, das sie von diesem andern Narren, diesem Raskolnikow, bekommen hat, für ein Gedächtnismahl vergeuden würde. Ich war ja ganz erstaunt, als ich vorhin durch das Zimmer hindurchging: großartige Vorbereitungen; mehrere Weine auf dem Tische! … Eine ganze Menge Menschen sind eingeladen; weiß der Kuckuck, was das heißen soll!« fuhr Pjotr Petrowitsch fort, der mit bestimmter Absicht bei diesem Gegenstande zu verweilen schien. »Wie? Sie sagen, ich wäre auch eingeladen?« fügte er hinzu und hob den Kopf. »Wann sollte denn das gewesen sein? Ich kann mich gar nicht erinnern. Übrigens werde ich nicht hingehen. Was soll ich da? Ich habe gestern nur so im Vorbeigehen mit ihr darüber gesprochen, daß sie als bedürftige Beamtenwitwe vielleicht eine einmalige Unterstützung in Höhe des Jahresgehaltes ihres Mannes bekommen könne. Sollte sie mich etwa deshalb gleich einladen? He-he-he!«

»Ich habe auch nicht vor, hinzugehen«, sagte Lebesjatnikow.

»Das wäre ja auch noch schöner! Wo Sie sie doch eigenhändig durchgeprügelt haben! Sehr begreiflich, daß es Ihnen peinlich ist, hinzugehen, he-he!«

»Wer hat wen durchgeprügelt?« fuhr Lebesjatnikow auf; er hatte einen ganz roten Kopf bekommen.

»Na, Sie haben doch Katerina Iwanowna vor einem Monat durchgeprügelt! Es wurde mir erzählt, noch gestern … Ja, ja, so ist’s mit den theoretischen Grundsätzen! Die Frauenfrage scheint also auch noch sehr im argen zu liegen. He-he-he!«

Anscheinend höchstlich amüsiert, begann Pjotr Petrowitsch wieder an dem Rechenbrett zu klappern.

»Das ist alles Unsinn und Verleumdung!« brauste Lebesjatnikow auf, dem jede Erwähnung dieses Vorfalls stets sehr unangenehm war. »So ist das gar nicht gewesen! Die Sache war ganz anders … Sie sind falsch unterrichtet; das ist lauter Klatscherei! Ich habe mich damals lediglich verteidigt. Sie ging zuerst mit den Nägeln auf mich los … Den ganzen Backenbart riß sie mir aus. Das ist denn doch jedem Menschen erlaubt, hoffe ich, seine Person zu verteidigen. Außerdem lasse ich mir von niemand Gewalttätigkeit gefallen … Grundsätzlich nicht. Denn das wäre ja eine Art Despotismus. Was hätte ich denn tun sollen? Etwa ruhig vor ihr stehenbleiben? Ich habe sie nur zurückgestoßen.«

»He-he-he!« lachte Lushin von neuem boshaft.

»Daß Sie gegen mich so sticheln, das tun Sie nur deshalb, weil Sie selbst Ärger gehabt haben und nun wütend sind … Aber die Geschichte mit Katerina Iwanowna ist doch eine törichte Lappalie und hat mit der Frauenfrage nicht das geringste zu tun. Sie fassen die Sache eben ganz falsch auf. Ich habe früher sogar folgendermaßen gedacht: wenn man die These akzeptiert, daß die Frau dem Manne in allen Stücken gleichsteht, sogar hinsichtlich der Körperkraft (was manche bereits behaupten), so muß auch, wo es sich um Schlägerei zwischen Männern und Frauen handelt, mit gleichem Maße gemessen werden. Natürlich aber habe ich mir nachher überlegt, daß eine solche Frage gar keine Existenzberechtigung hat, weil Schlägereien überhaupt keine Existenzberechtigung haben und das Vorkommen von Schlägereien in der künftigen Gesellschaft undenkbar ist … und weil es doch sonderbar wäre, auf eine Gleichberechtigung bei Schlägereien hinzustreben. So dumm bin ich nicht, … obwohl Schlägereien doch vorkommen, … das heißt, später werden keine mehr vorkommen, aber jetzt kommen noch welche vor, … Donnerwetter, wenn man mit Ihnen redet, wird man ja ganz konfus. Dieser frühere unangenehme Vorfall bildet also nicht den Grund für mein Fernbleiben von dem Gedächtnismahle. Sondern ich gehe einfach aus Prinzip nicht hin, um nicht an einem so törichten, auf sinnlosen Voraussetzungen beruhenden Brauche, wie es diese Gedächtnismahle sind, teilzunehmen; das ist der Grund! Übrigens könnte man ja auch bloß so aus Unsinn hingehen, um sich darüber lustig zu machen … Schade, daß keine Popen dabei sein werden. Sonst würde ich jedenfalls hingehen.«

»Also Sie möchten die gastliche Bewirtung annehmen und dann über diese Bewirtung und über die Leute, von denen Sie eingeladen sind, Ihren Hohn ausschütten. So meinen Sie es ja wohl?«

»Von Hohn ist nicht die Rede, sondern von einem Proteste gegen diesen Brauch. Ich habe dabei ein nützliches Ziel im Auge. Ich kann dadurch indirekt die Entwicklung der Menschheit und die Propaganda fördern. Jeder Mensch hat die Pflicht, die geistige Entwicklung seiner Mitmenschen zu fördern und Propaganda zu treiben, und je energischer er es tut, um so besser ist es. Ich kann eine Idee wie ein Samenkorn hinstreuen … Aus dieser gesäten Idee erwächst dann etwas Tatsächliches. Inwiefern kränke ich da die Leute? Und wenn sie sich auch zunächst gekränkt fühlen, so werden sie nachher doch einsehen, daß ich ihnen Nutzen gebracht habe. So wollten manche seinerzeit der Terebjewa (sie ist jetzt Mitglied einer Kommune) einen Vorwurf machen; als diese nämlich von ihrer Familie fortging und … sich einem Manne hingab, da schrieb sie ihrer Mutter und ihrem Vater, sie wolle nicht mehr in veralteten, sinnlosen Anschauungen weiterleben und gehe eine freie, zivile Ehe ein. Da meinten nun die Tadler, das sei doch gar zu grob den Eltern gegenüber, und sie hätte mit ihnen etwas rücksichtsvoller verfahren und in milderem Tone schreiben können. Meiner Ansicht nach ist das alles Unsinn; Milde ist dabei gar nicht angebracht, sondern vielmehr energischer Protest. Da sehen Sie einmal, wie es Frau Warenz machte! Sieben Jahre lang hatte sie mit ihrem Manne zusammen gelebt; da verließ sie ihn und ihre zwei Kinder und schrieb ihrem Manne in einem Briefe eine energische Absage: ›Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß ich mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde es Ihnen nie verzeihen, daß Sie mich betrogen haben, indem Sie mir verheimlicht haben, daß es dank den Kommunen noch eine andre Gesellschaftsordnung gibt. Ich habe das alles vor kurzem von einem hochgesinnten Manne erfahren, dem ich mich auch zu eigen gegeben habe, und mit ihm zusammen will ich eine Kommune gründen. Ich rede ganz offen, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu betrügen. Meinerseits haben Sie völlige Freiheit, zu tun, was Sie mögen; aber hoffen Sie nicht, mich zur Rückkehr zu bewegen; damit ist es für Sie zu spät. Leben Sie glücklich!‹ In diesem Stil müssen derartige Briefe geschrieben werden.«

»Diese Terebjewa ist doch dieselbe, von der Sie neulich erzählten, daß sie schon in der dritten freien Ehe lebe?«

»Streng genommen erst in der zweiten! Aber wenn sie selbst in der vierten oder in der fünfzehnten Ehe lebte! Das ist ja alles Nebensache! Und wenn ich es jemals bedauert habe, daß mein Vater und meine Mutter gestorben sind, so bedauere ich es jedenfalls jetzt ganz besonders. Ich habe mir das schon manchmal so im stillen ausgemalt, wie ich sie, wenn sie noch am Leben wären, mit meinem Proteste verblüffen wollte! Ich hätte absichtlich einen Anlaß gesucht. Ich würde ihnen die Sache schon klargemacht haben! Ich hätte sie in Erstaunen versetzt! Es ist wirklich jammerschade, daß ich niemand mehr habe!«

»Um ihn in Erstaunen zu versetzen? He-he! Na, darüber wollen wir nicht streiten«, unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch. »Sagen Sie mir lieber: Sie kennen ja die Tochter des Verstorbenen, so ein kümmerliches, dürftiges Ding; ist das alles richtig, was über sie erzählt wird, ja?«

»Nun, was ist denn dabei? Nach meiner Ansicht, das heißt nach meiner persönlichen Überzeugung, ist das für eine Frau der eigentlich normale Zustand. Warum auch nicht? Das heißt: distinguons! In der jetzigen Gesellschaftsordnung ist dieser Zustand selbstverständlich nicht normal, weil er durch eine Notlage herbeigeführt wird; aber in der künftigen Gesellschaftsordnung wird er völlig normal sein, weil er da ein freiwilliger ist. Und auch unter jetzigen Verhältnissen hatte dieses Mädchen ein Recht, so zu handeln, wie sie gehandelt hat: sie litt Not, und ihr Körper war ihr Fonds, sozusagen ihr Anlagekapital, über das sie vollständig berechtigt war zu verfügen. Natürlich, in der künftigen Gesellschaftsordnung werden keine Fonds nötig sein; sondern die Stellung der Frau wird anderweitig festgesetzt und in harmonischer, vernunftgemäßer Weise geregelt sein. Was Sofja Semjonowna persönlich anlangt, so betrachte ich unter den gegenwärtigen Umständen ihre Handlungsweise als einen energischen, zur Tat gewordenen Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung und empfinde vor ihr große Hochachtung deswegen; ich freue mich sogar jedesmal, wenn ich sie sehe!«

»Mir ist aber doch erzählt worden, gerade Sie hätten sie gezwungen, aus dieser Wohnung fortzuziehen!«

Lebesjatnikow wurde ganz wütend.

»Das ist wieder nur so eine Klatscherei!« schrie er. »Die Sache war ganz anders, ganz anders! Das hat alles Katerina Iwanowna damals nur so hingeschwatzt, weil sie für meine Bestrebungen kein Verständnis hatte! Ich bin ganz und gar nicht zudringlich gegen Sofja Semjonowna geworden; ich habe lediglich ihre geistige Entwicklung zu fördern gesucht, in ganz uneigennütziger Weise, und habe mich bemüht, in ihr den Protest zu erwecken. Ich zielte nur auf den Protest ab; übrigens konnte Sofja Semjonowna sowieso in dieser Wohnung nicht länger bleiben!«

»Haben Sie sie zum Eintritt in die Kommune aufgefordert?«

»Sie spotten fortwährend; gestatten Sie mir aber die Bemerkung, daß Ihr Spott bei mir durchaus seine Wirkung verfehlt. Sie verstehen eben nichts davon! Derartige Berufe für Frauen gibt es in der Kommune nicht. Eben deshalb werden die Kommunen gegründet, damit es solche Berufe nicht mehr gibt. In der Kommune wird dieser Beruf seinen gesamten jetzigen Charakter verändern, und was hier dumm ist, wird dort vernünftig sein; was hier unter den jetzigen Verhältnissen unnatürlich ist, das wird dort durchaus natürlich sein. Es hängt alles davon ab, in welcher Umgebung und in welchem Milieu ein Mensch lebt. Alles hängt von dem Milieu ab; an sich ist der Mensch nichts, weder gut noch schlecht. Mit Sofja Semjonowna stehe ich mich auch jetzt noch ganz freundschaftlich, was Ihnen als Beweis dafür dienen kann, daß sie mich nicht als ihren Feind und Beleidiger betrachtet hat. Ich suche sie jetzt für eine Kommune zu gewinnen, die aber nach ganz, ganz anderen Prinzipien eingerichtet werden soll! Was ist Ihnen denn daran lächerlich? Wir wollen eine eigene, besondere Kommune gründen, aber auf breiteren Grundlagen als die früheren. Wir sind in unsern Anschauungen weiter vorgeschritten. Wir negieren mehr! Wenn Dobroljubow aus dem Grabe auferstände, würde ich gern einmal mit ihm disputieren. Und nun gar Belinskij, na, den würde ich mir schön vornehmen! Vorläufig aber fahre ich fort, an Sofja Semjonownas geistiger Entwicklung zu arbeiten. Sie ist ein herrliches, herrliches Wesen!«

»Na, und Sie machen sich dieses herrliche Wesen auch zunutze, wie? He-he!«

»Nein, nein! O nein! Im Gegenteil!«

»Na, na, also sogar im Gegenteil! He-he-he! Sehr schön gesagt!«

»Sie können es mir glauben! Weshalb sollte ich denn vor Ihnen heimlichtun, sagen Sie selbst! Wirklich im Gegenteil; es kommt mir sogar selbst sonderbar vor: mir gegenüber ist sie von einer unnatürlichen, ängstlichen Schamhaftigkeit und Keuschheit!«

»Und Sie fördern selbstverständlich ihre geistige Entwicklung, he-he, und beweisen ihr, daß diese ganze Schamhaftigkeit Unsinn ist?«

»Durchaus nicht, durchaus nicht! Oh, in wie plumper, törichter Weise – verzeihen Sie den Ausdruck! – Sie das Wort Entwicklung auffassen! Sie haben aber auch gar kein, rein gar kein Verständnis! O Gott, wie sind Sie noch unreif! Wir erstreben für das Weib die Freiheit, und Sie denken immer nur an das eine … Ich will mich auf die Streitfrage über Keuschheit und weibliche Schamhaftigkeit nicht weiter einlassen (diese Dinge haben an und für sich keinen Wert und beruhen auf vorgefaßten Meinungen); aber ich habe gegen Sofja Semjonownas Keuschheit mir gegenüber absolut nichts einzuwenden; das ist Sache ihres freien Willens, sie ist da vollständig in ihrem Rechte. Natürlich, wenn sie selbst zu mir sagte: ›Ich will dich haben‹, so würde ich meinen, daß mir ein großes Glück zuteil geworden sei, weil das Mädchen mir wirklich sehr gefällt; aber sicherlich hat niemals jemand sie höflicher und korrekter und mit mehr Achtung vor ihrer weiblichen Würde behandelt, als ich es jetzt tue … Ich warte und hoffe nur; weiter gehe ich nicht!«

»Sie sollten ihr lieber etwas schenken. Ich möchte wetten, daß Sie daran noch nicht gedacht haben.«

»Sie haben aber auch gar kein Verständnis; das kann ich Ihnen nur wiederholen. Gewiß, ihre Lage ist ja derart, daß sie Geschenke gebrauchen könnte; aber hier handelt es sich um etwas andres, um etwas ganz andres. Sie verachten das Mädchen einfach. Weil Sie eine Tatsache sehen, die Sie irrtümlicherweise für verachtenswert halten, versagen Sie ohne weiteres einem menschlichen Wesen eine humane Würdigung. Sie wissen noch gar nicht, was für einen trefflichen Charakter sie hat! Sehr leid tut mir nur, daß sie in der letzten Zeit so gut wie ganz aufgehört hat zu lesen und sich von mir keine Bücher mehr geben läßt, was sie doch früher tat. Schade ist auch, daß sie bei all ihrer Energie und bei ihrer bereits einmal bewiesenen Entschlossenheit, gegen die bestehende Gesellschaftsordnung zu protestieren, doch immer noch nicht genug Selbständigkeit, sozusagen nicht genug Unabhängigkeit, nicht genug Drang zum Negieren besitzt, um sich von gewissen vorgefaßten Anschauungen und Dummheiten völlig loszureißen. Wiewohl sie für manche Fragen ein vorzügliches Verständnis bekundet. Ganz vorzüglich hat sie zum Beispiel die Frage des Handkusses begriffen, das heißt, daß der Mann eine Frau, wenn er ihr die Hand küßt, beleidigt, weil er sie dadurch als ihm nicht gleichstehend bezeichnet. Über diese Frage wurde bei uns debattiert, und ich habe ihr sofort davon Mitteilung gemacht. Auch als ich ihr etwas über die Arbeiterassoziationen in Frankreich vortrug, hörte sie aufmerksam zu. Jetzt behandle ich mit ihr die Frage des freien Eintritts in die Zimmer unter der künftigen Gesellschaftsordnung.«

»Was soll das heißen?«

»Es wurde in letzter Zeit über die Frage debattiert: ist ein Kommunemitglied berechtigt, jederzeit in das Zimmer eines andern – männlichen oder weiblichen – Kommunemitgliedes einzutreten? Und wir kamen zu der Entscheidung, daß jedes Mitglied dazu berechtigt sei.«

»Na, aber wenn nun da betreffende männliche oder weibliche Mitglied gerade in dem Augenblicke mit der Erledigung eines notwendigen Bedürfnisses beschäftigt ist? He-he!«

Andrej Semjonowitsch wurde ganz ärgerlich.

»Ja, das bringen Sie jedesmal vor! Immer kommen Sie mir mit ein und demselben, mit diesen verdammten ›Bedürfnissen‹!« rief er ingrimmig. »Ich ärgere mich und bereue es, daß ich damals, als ich Ihnen das System auseinandersetzte, verfrüht diese verdammten Bedürfnisse erwähnte! Das ist immer für Leute von Ihrem Schlage der Stein des Anstoßes, und das schlimmste ist: sie machen ihre Witze darüber, ehe sie den Kern der Sache begriffen haben! Und dann tun sie noch, als wenn sie recht hätten und stolz sein könnten! Ich habe schon wiederholt die Ansicht vertreten, daß man Neulingen diese Frage erst ganz zuletzt auseinandersetzen kann, wenn sie bereits von der Richtigkeit des Systems überzeugt sind und eine gewisse geistige Entwicklung erreicht haben und sich auf dem rechten Wege befinden. Ja, sagen Sie mir doch, bitte, was finden Sie denn zum Beispiel an einer Müllgrube Ekelhaftes oder Gemeines? Ich erkläre mich als erster bereit, alle Müllgruben, so viele Sie nur wollen, auszuräumen! Da ist auch nicht einmal irgendwelche Selbstaufopferung dabei! Das ist einfach eine Arbeit, eine anständige, der Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder andern an Wert gleichkommt und zum Beispiel weit höher steht als die Tätigkeit eines Raffael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.«

»Auch anständiger, auch anständiger, he-he-he!«

»Was heißt ›anständiger‹? Ich verstehe solche Ausdrücke nicht, wenn es sich, um die Definition menschlicher Tätigkeiten handelt. ›Anständiger‹, ›edler‹, das ist lauter Unsinn. Abgeschmacktheit, veraltete, törichte Wörter, die ich negiere! Alles, was der Menschheit nützlich ist, ist auch anständig. Ich lasse nur das eine Wort ›nützlich‹ gelten! Kichern Sie, so viel Sie wollen; es ist doch so!«

Pjotr Petrowitsch lachte laut. Er war mit seinen Berechnungen bereits fertig und hatte das Geld verwahrt; jedoch hatte er einen Teil noch auf dem Tische liegenlassen. Die Frage der Müllgruben hatte trotz ihrer Absurdität schon mehrmals Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten und Streit zwischen Pjotr Petrowitsch und seinem jungen Freunde gegeben. Sehr dumm war es von Andrej Semjonowitsch, daß er sich tatsächlich ärgerte. Daran hatte nun Lushin seine wahre Freude, und gerade jetzt legte er es besonders darauf an, Lebesjatnikow wütend zu machen.

»Die Sache ist die: Sie sind wegen Ihres gestrigen Malheurs erbost und suchen nun Händel«, brach Lebesjatnikow endlich los, der im allgemeinen trotz all seiner »Unabhängigkeit« und all seiner »Proteste« es nicht recht wagte, Pjotr Petrowitsch Opposition zu machen, und noch immer von früheren Jahren her ihm gegenüber einen gewohnheitsmäßigen Respekt beobachtete.

»Sagen Sie mir lieber«, unterbrach ihn Pjotr Petrowitsch hochmütig und ärgerlich, »können Sie … oder, besser ausgedrückt, sind Sie wirklich mit der vorhin erwähnten jungen Person so gut bekannt, daß Sie sie bitten können, jetzt gleich auf einen Augenblick in dieses Zimmer zu kommen? Ich glaube, sie sind schon alle vom Kirchhofe zurück … Ich höre so viele gehen … Ich möchte gern einmal mit ihr sprechen, mit dieser Person.«

»Was wollen Sie denn von ihr?« fragte Lebesjatnikow verwundert.

»Weiter nichts Besonderes. Heute oder morgen ziehe ich von hier weg, und da möchte ich ihr noch etwas mitteilen. Übrigens können Sie ruhig während dieses Gesprächs hier im Zimmer bleiben. Es ist sogar besser. Sonst denken Sie sich womöglich noch Gott weiß was.«

»Ich denke mir einfach gar nichts. Es war von mir nur eine ganz harmlose Frage. Wenn Sie ihr etwas zu sagen haben, so ist nichts leichter, als sie herzurufen. Ich will sofort zu ihr gehen. Ich selbst werde Sie bei dem Gespräche nicht stören; davon wollen Sie überzeugt sein.«

Wirklich kehrte Lebesjatnikow nach fünf Minuten mit Sonja zurück. Diese trat äußerst erstaunt und, wie das in ihrer Gewohnheit lag, sehr schüchtern ein. Sie war bei solchen Gelegenheiten stets schüchtern und fürchtete sich in hohem Grade vor neuen Gesichtern und neuen Bekanntschaften; diese Furcht war ihr schon früher, schon in ihrer Kindheit, eigen gewesen, hatte aber jetzt noch zugenommen … Pjotr Petrowitsch empfing sie »freundlich und höflich« und mit einem Anfluge von jovialer Vertraulichkeit, die nach seiner Ansicht einem so achtungswerten, gesetzten Manne, wie er, wohl anstand gegenüber einem so jungen und in gewisser Hinsicht »interessanten« Wesen, wie sie. Vor allen Dingen bemühte er sich, sie zu »ermutigen«, und lud sie ein, an dem Tische ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sonja setzte sich, ließ ihre Blicke nach allen Seiten schweifen, zu Lebesjatnikow, zu dem Gelde, das auf dem Tische lag, dann wieder zu Pjotr Petrowitsch und wandte nun die Augen nicht mehr von ihm ab, als ob sie an ihn gefesselt wäre. Lebesjatnikow ging zur Tür; aber Pjotr Petrowitsch stand auf, bedeutete Sonja durch eine Geste, sitzenzubleiben, und hielt Lebesjatnikow zurück.

»Ist dieser Raskolnikow dort? Ist er gekommen?« fragte er ihn flüsternd.

»Raskolnikow? Ja, der ist da. Wieso? Ja, er ist da. Er ist eben erst gekommen; ich habe ihn gesehen. Wieso?«

»Nun, dann möchte ich Sie dringend bitten, hierzubleiben, hier bei uns, und mich nicht mit dieser … jungen Dame allein zu lassen. Was ich mit ihr zu reden habe, ist nur eine harmlose Kleinigkeit; aber sonst machen die Leute womöglich Gott weiß was daraus. Ich möchte nicht, daß Raskolnikow seinen Angehörigen etwas erzählen könnte … Verstehen Sie, was ich meine?«

»Gewiß, gewiß!« erwiderte Lebesjatnikow verständnisvoll. »Ja, Sie haben ganz recht. Allerdings gehen Sie, nach meiner persönlichen Überzeugung, in Ihren Befürchtungen zu weit; aber … Sie haben trotzdem recht. Also, wenn Sie es wünschen, so bleibe ich. Ich stelle mich dort ans Fenster und werde Sie nicht stören … Meiner Ansicht nach haben Sie recht …«

Pjotr Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, setzte sich Sonja gegenüber, richtete einen forschenden Blick auf sie und nahm auf einmal eine ganz besonders ehrbare, sogar etwas strenge Miene an, die ungefähr bedeutete: ›Machen Sie sich nur nicht etwa ganz falsche Gedanken, mein Fräulein!‹ Sonja wurde höchst verlegen.

»Zunächst möchte ich Sie bitten, Sofja Semjonowna, mich bei Ihrer hochverehrten Frau Mutter zu entschuldigen … Ich bin doch wohl recht unterrichtet? Katerina Iwanowna vertritt bei Ihnen Mutterstelle?« begann Pjotr Petrowitsch in sehr würdigem, aber dabei doch ganz freundlichem Tone.

Augenscheinlich hegte er die freundschaftlichsten Absichten.

»Ja gewiß, gewiß; sie vertritt bei mir Mutterstelle«, antwortete Sonja hastig und furchtsam.

»Nun also, dann entschuldigen Sie mich bei ihr, daß ich durch zwingende Umstände verhindert bin, an dem Gedächtnismahle teilzunehmen, zu welchem Ihre Frau Mutter mich so liebenswürdig eingeladen hat.«

»Jawohl, … ich werde es ausrichten, … ich werde es gleich ausrichten.« Sonja sprang eilig auf.

»Ich bin noch nicht am Ende«, hielt Pjotr Petrowitsch sie zurück und lächelte über ihre Naivität und über ihre Unkenntnis der Umgangsformen. »Sie kennen mich schlecht, liebste Sofja Semjonowna, wenn Sie glauben, daß ich aus diesem unbedeutenden, nur mich betreffenden Grunde jemand wie Sie persönlich bemüht und hergebeten hätte. Mein Zweck war ein anderer.«

Sonja nahm rasch wieder Platz. Wieder fiel ihr Blick einen Augenblick auf die grauen und regenbogenfarbigen Banknoten, die noch auf dem Tische lagen; aber schnell wandte sie das Gesicht von ihnen weg und sah wieder Pjotr Petrowitsch an; es kam ihr auf einmal der Gedanke, daß es sich, namentlich für ein Mädchen wie sie, ganz und gar nicht schicke, fremdes Geld anzublicken. Sie richtete ihren Blick zunächst auf die goldne Lorgnette, die Pjotr Petrowitsch in der linken Hand hielt, und zugleich auf den großen, massiv goldenen, sehr schönen Ring mit gelbem Stein, den er am Mittelfinger dieser Hand trug; aber hastig wendete sie ihre Augen auch davon ab, und da sie nicht wußte, wo sie mit ihren Blicken bleiben sollte, schaute sie schließlich ihrem Gegenüber wieder gerade ins Gesicht. Nach einer kurzen Pause fuhr Pjotr Petrowitsch in noch würdevollerem Tone als vorher fort:

»Es traf sich gestern zufällig, daß ich im Vorbeigehen mit der unglücklichen Katerina Iwanowna ein paar Worte wechselte. Diese wenigen Worte genügten, um mich erkennen zu lassen, daß sie sich in einem, wenn man sich so ausdrücken kann, unnatürlichen Geisteszustande befindet …«

»Jawohl, in einem unnatürlichen Geisteszustande«, stimmte ihm Sonja eilig zu.

»Oder, um es einfacher und verständlicher auszudrücken, in einem krankhaften Geisteszustande.«

»Jawohl, einfacher und verständ… Jawohl, sie ist krank.«

»Ganz richtig. Nun also, aus Menschenfreundlichkeit und … und … und sozusagen aus Teilnahme möchte ich mich gern meinerseits irgendwie behilflich zeigen, im Hinblick auf das traurige Schicksal, das ihr unvermeidlich bevorsteht. Ich möchte glauben, daß diese ganze arme Familie sich jetzt einzig und allein auf Ihre Unterstützung angewiesen sieht.«

»Gestatten Sie die Frage«, sagte Sonja und stand dabei plötzlich auf, »was haben Sie ihr gestern über die Möglichkeit, eine Pension zu bekommen, gesagt? Sie hat gestern zu mir gesagt, Sie hätten es auf sich genommen, ihr eine Pension zu erwirken. Ist das richtig?«

»Durchaus nicht; das ist sogar in gewisser Hinsicht sinnlos«, erwiderte Pjotr Petrowitsch und bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. »Ich habe nur darauf hingedeutet, daß die Witwe eines im Dienst gestorbenen Beamten eine zeitweilige Unterstützung erhalten könne, wenn sie irgendwelche Protektion habe; es scheint jedoch, daß ihr verstorbener Vater nicht das erforderliche Dienstalter hatte, ja sogar in der letzten Zeit sich überhaupt nicht im Dienste befand. Kurz, es mag wohl einige Aussicht da sein, aber jedenfalls ist sie äußerst problematisch; denn ein Recht auf Unterstützung ist im vorliegenden Falle ganz und gar nicht vorhanden; im Gegenteil … Und da hat sie gleich auf eine Pension spekuliert? He-he-he! Die Dame muß ja eine rege Phantasie haben!«

»Ja, sie hat sich Hoffnung auf eine Pension gemacht. Sie ist nämlich leichtgläubig und gutherzig, und aus Gutherzigkeit glaubt sie alles, und … und … und ihr Verstand ist so … Ja, dann entschuldigen Sie«, sagte Sonja und stand wieder auf, um fortzugehen.

»Erlauben Sie, Sie haben noch nicht alles gehört, was ich sagen wollte.«

»Ja, ich habe noch nicht alles gehört«, murmelte Sonja.

»Also nehmen Sie doch Platz!«

Sonja wurde entsetzlich verlegen und setzte sich von neuem hin.

»Da ich sehe, in welcher Lage sie sich mit den unglücklichen kleinen Kindern befindet, so möchte ich, wie bereits gesagt, mich nach dem Maße meiner Kräfte irgendwie behilflich zeigen, das heißt, eben nur, was man so nennt, nach dem Maße meiner Kräfte, nicht in weiterem Umfange. Man könnte zum Beispiel zu ihren Gunsten eine Kollekte veranstalten oder sozusagen eine Lotterie … oder so etwas Ähnliches, wie dergleichen immer in solchen Fällen von Nahestehenden oder auch von Fernerstehenden, überhaupt von Hilfsbereiten unternommen wird. Das ist es, worüber ich gern mit Ihnen reden wollte. So etwas wäre möglich.«

»Ach ja, das wäre schön … Gott wird Sie dafür …«, stammelte Sonja und blickte Pjotr Petrowitsch unverwandt an.

»Das wäre möglich; aber … darüber können wir später einmal … das heißt, wir könnten auch gleich heute schon anfangen. Wir wollen heute abend noch einmal zusammenkommen, uns besprechen und sozusagen den Grund legen. Kommen Sie also so gegen sieben Uhr wieder zu mir hierher. Ich hoffe, Andrej Semjonowitsch wird gleichfalls an unsrer Beratung teilnehmen … Aber … da ist ein Punkt, der schon vorher genau erwogen werden muß; und eben deshalb habe ich Sie auch hierher bemüht, Sofja Semjonowna. Nämlich meine Ansicht ist die: der unglücklichen Katerina Iwanowna selbst kann man kein Geld in die Hände geben; das ist sogar geradezu gefährlich; als Beweis dafür dient gleich das heutige Gedächtnismahl. Es ist für morgen sozusagen keine trockene Brotrinde da, kein Schuhzeug, nichts; aber trotzdem kauft sie heute Jamaikarum ein und Madeira und … und … und Kaffee. Ich habe es gesehen, als ich durch das Zimmer ging. Morgen aber fällt wieder die ganze Last des Unterhaltes der Familie auf Ihre Schultern, und ohne Sie hätten sie keinen Bissen Brot. Ein solches Verfahren ist ja geradezu sinnlos. Daher muß auch eine etwaige Kollekte nach meiner persönlichen Ansicht in der Weise veranstaltet werden, daß von dem Gelde die unglückliche Witwe gar nichts erfährt, sondern etwa nur Sie. Habe ich nicht recht?«

»Ich weiß nicht. Es ist ja nur heute, daß sie so ist, … nur einmal im Leben; … es lag ihr so viel daran, ein Gedächtnismahl zu veranstalten, dem Toten eine Ehre zu erweisen, sein Andenken zu feiern; … sie ist sonst sehr vernünftig. Aber machen Sie es ganz, wie es Ihnen gut scheint, und ich werde Ihnen sehr, sehr, … sie alle werden Ihnen … und Gott wird Sie… und die vaterlosen Kinderchen …«

Sonja konnte nicht zu Ende sprechen; sie brach in Tränen aus.

»Nun ja. Also dann überlegen Sie sich das; jetzt aber wollen Sie für Ihre Mutter zunächst von mir persönlich eine meinen Kräften entsprechende Summe entgegennehmen. Ich spreche die dringende Bitte aus, daß mein Name dabei nicht erwähnt werden möge. Hier, bitte … Da ich sozusagen selbst meine Sorgen habe, bin ich nicht imstande, eine größere Summe …«

Und Pjotr Petrowitsch reichte Sonja einen Zehnrubelschein hin, den er sorgsam auseinandergefaltet hatte. Sonja nahm ihn, wurde rot, murmelte etwas und verabschiedete sich hastig. Pjotr Petrowitsch begleitete sie würdevoll bis an die Tür. Endlich schlüpfte sie ganz aufgeregt und erschöpft aus dem Zimmer und kehrte in größter Verwirrung zu Katerina Iwanowna zurück.

Während dieses ganzen Vorganges hatte Andrej Semjonowitsch bald am Fenster gestanden, bald war er im Zimmer auf und ab gegangen, ohne sich in das Gespräch einzumischen; als Sonja hinausgegangen war, trat er auf Pjotr Petrowitsch zu und reichte ihm feierlich die Hand.

»Ich habe alles gehört und alles gesehen«, sagte er, wobei er auf das letzte Wort einen besonderen Nachdruck legte. »Das war edel und vornehm von Ihnen gehandelt, das heißt, ich wollte sagen, human! Sie wollten die Danksagungen vermeiden; ich habe es wohl gesehen! Und wiewohl ich, offen gestanden, grundsätzlich kein Freund der privaten Wohltätigkeit bin, weil sie, statt das Übel auszurotten, es sogar noch steigert, so muß ich trotzdem bekennen, daß ich Ihre Handlungsweise mit Vergnügen mit angesehen habe; ja, wirklich, das hat mir sehr gefallen.«

»Ach, dummes Zeug!« murmelte Pjotr Petrowitsch etwas aufgeregt und blickte den andern forschend an.

»Nein, das ist kein dummes Zeug! Ein Mann, der wie Sie durch den gestrigen Vorfall gekränkt und aufgebracht ist und doch gleichzeitig imstande ist, an das Unglück andrer zu denken, ein solcher Mann – mag er auch durch sein Tun in sozialer Hinsicht einen Fehler begehen – verdient dennoch Hochachtung! Ich hatte das von Ihnen, Pjotr Petrowitsch, gar nicht erwartet, um so weniger, da nach Ihren Anschauungen … Ach, wie sehr hindern diese Ihre Anschauungen Sie noch an richtiger Lebensgestaltung! Wie arg regen Sie sich zum Beispiel über dieses gestrige Malheur auf«, rief der gutmütige Andrej Semjonowitsch, der wieder eine verstärkte Zuneigung zu Pjotr Petrowitsch empfand. »Aber wozu haben Sie eigentlich diese Ehe, diese gesetzliche Ehe, so unbedingt nötig, liebster, bester Pjotr Petrowitsch? Wozu haben Sie so unbedingt diese Gesetzlichkeit der Ehe nötig? Na, wenn Sie Lust haben, können Sie mich ja dafür prügeln; aber ich muß doch sagen: ich freue mich, freue mich geradezu, daß aus dieser Ehe nichts geworden ist, daß Sie frei sind, daß Sie noch nicht ganz für die Sache der Menschheit verloren sind; ich freue mich … Sehen Sie, nun habe ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet!«

»Wozu ich die gesetzliche Ehe nötig habe? Weil ich keine Lust habe, mir in Ihrer freien Ehe Hörner aufsetzen zu lassen und fremde Kinder aufzuziehen. Darum brauche ich die gesetzliche Ehe«, erwiderte Lushin, um überhaupt eine Antwort zu geben; es ging ihm offenbar etwas anderes sehr im Kopfe herum und beschäftigte seine Gedanken.

»Kinder? Sie sprachen von Kindern?« fuhr Andrej Semjonowitsch auf, wie ein Schlachtroß, das die Kriegstrompete hört. »Die Kinder, ja, das ist eine soziale Frage von höchster Wichtigkeit; ganz meine Ansicht; aber die Kinderfrage wird sich in andrer Weise erledigen. Manche gehen so weit, die Kinder vollständig zu negieren, wie überhaupt alles, was irgendwie mit Familie zu tun hat. Wir können ja über die Kinder später einmal reden; beschäftigen wir uns jetzt lieber zunächst mit den Hörnern! Ich muß gestehen, einen anzuschaffen. ›Liebe Frau‹, würde ich sagen, ›ich liebe dich; aber ich wünsche auch, daß du mich hochachtest; hier … nimm ihn!‹ Habe ich nicht recht? Habe ich nicht recht?«

Pjotr Petrowitsch kicherte über diese Darlegungen, aber ohne lebhaftere Teilnahme. Er hatte kaum zugehört. In Wirklichkeit hatte er ganz andre Gedanken im Kopfe, was selbst Lebesjatnikow schließlich bemerkte. Pjotr Petrowitsch war in Aufregung, rieb sich die Hände und überlegte. Erst später erinnerte sich Andrej Semjonowitsch an alles dies und verstand den Zusammenhang.

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Kapitel 28

II

Es würde schwer sein, genau die Ursachen anzugeben, die in Katerina Iwanownas verwirrtem Kopfe den Plan zu diesem sinnlosen Gedächtnismahle hatten entstehen lassen. In der Tat waren darauf fast zehn Rubel von den mehr als zwanzig verwendet worden, die sie von Raskolnikow, eigentlich zu Marmeladows Beerdigung, erhalten hatte. Vielleicht hielt es Katerina Iwanowna für ihre Pflicht dem Verstorbenen gegenüber, sein Andenken »in angemessener Form« zu ehren, damit alle Mitbewohner und ganz besonders Amalia Iwanowna zu der Erkenntnis kämen, daß er »nicht nur nicht geringer als sie, sondern sogar vielleicht etwas weit Besseres« gewesen sei und daß niemand von ihnen ein Recht habe, über ihn die Nase zu rümpfen. Möglicherweise hatte am allermeisten dazu jener besondere Stolz armer Leute beigetragen, welcher bei gewissen herkömmlichen Feierlichkeiten, die nach unsrer ganzen Lebensordnung nun einmal für alle und jeden obligatorisch sind, gar manchen armen Tropf veranlaßt, mit Aufbietung der letzten Kräfte großzutun und die letzten gesparten Groschen dranzuwenden, um nur »nicht schlechter als andre« zu sein und um nur nicht von jenen andren »ins Gerede gebracht« zu werden. Auch wünschte Katerina Iwanowna wahrscheinlich gerade bei diesem Anlasse und gerade in diesem Augenblicke, wo sie anscheinend von aller Welt verlassen war, allen diesen »niedrigstehenden, abscheulichen Mitbewohnern« zu zeigen, daß sie sich nicht nur auf gute Lebensart verstehe und Gäste zu bewirten wisse, sondern ihrer Herkunft nach überhaupt nicht für ein solches Los bestimmt sei, daß sie vielmehr »in dem vornehmen, man könnte sogar sagen: aristokratischen Hause eines Beamten im Range eines Obersten« ihre Jugend verlebt habe und ganz und gar nicht dazu erzogen sei, selbst den Fußboden zu fegen und in der Nacht zerlumptes Kinderzeug zu waschen. Von solchen Anfällen eines törichten Stolzes und einer sinnlosen Prunksucht werden manchmal gerade ganz arme, tiefgebeugte Leute heimgesucht, und es wird dadurch mitunter bei ihnen ein geradezu krankhaftes, unwiderstehliches Verlangen erregt. Übrigens gehörte Katerina Iwanowna gar nicht zu diesen Tiefgebeugten: die äußeren Umstände konnten ihr wohl den Tod bringen, nicht aber sie seelisch beugen, das heißt sie einschüchtern und zur Unterordnung unter einen fremden Willen zwingen. Außerdem sagte Sonja von ihr nicht ohne Grund, daß ihr Geist gestört sei. Ein bestimmtes, abschließendes Urteil war ja zwar darüber noch nicht möglich; aber immerhin hatte in letzter Zeit, im ganzen letzten Jahre, ihr armes Hirn zu viel Qualen auszustehen gehabt, als daß es nicht dadurch einigen Schaden hätte erleiden müssen. Auch trägt, wie die Ärzte sagen, eine stark vorgeschrittene Schwindsucht zur Störung der geistigen Fähigkeiten bei.

Mehrere Weine, verschiedene Sorten Wein waren nicht vorhanden, auch kein Madeira; das war von Lushin eine Übertreibung gewesen; aber Wein war da. Auf dem Tische stand Branntwein, Rum und Lissabonner Wein, alles von schlechtester Qualität, aber in ausreichender Menge. An Speisen waren außer Kutja drei oder vier Gerichte vor*handen, besonders streng und ersuchte sie dann sehr von oben herab, am Tische Platz zu nehmen. Da sie aber, Gott weiß warum, meinte, an dem Ausbleiben der Nichterschienenen trage Amalia Iwanowna die Schuld, so fing sie auf einmal an, diese äußerst geringschätzig zu behandeln; die letztere bemerkte das sofort und fühlte sich darüber im höchsten Grade pikiert. Ein solcher Anfang ließ kein gutes Ende erwarten. Endlich saß alles am Tische.

Raskolnikow war fast in demselben Augenblicke eingetreten, als sie vom Kirchhofe zurückkehrten. Katerina Iwanowna hatte sich über seine Ankunft ganz außerordentlich gefreut, erstens weil er der einzige »Gebildete« unter allen Gästen war und »bekanntlich in zwei Jahren an der hiesigen Universität eine Professorenstelle erhalten werde«, und zweitens weil er sich sofort in respektvoller Weise bei ihr entschuldigte, daß er trotz seines aufrichtigen Wunsches nicht habe an der Beerdigung teilnehmen können. Sie hatte ihn ordentlich mit Beschlag belegt, ihm am Tische den Platz zu ihrer Linken angewiesen (rechts von ihr saß Amalia Iwanowna), und trotz der steten Unruhe und Sorge, daß die Gerichte nur auch ja richtig herumgingen und alle Gäste hinreichend damit versehen würden, trotz des quälenden Hustens, der sie alle Augenblicke unterbrach und sie zu ersticken drohte und gerade in den letzten zwei Tagen besonders zugenommen zu haben schien, wandte sie sich nun fortwährend an Raskolnikow und schüttete alles, was sich an unangenehmen Empfindungen bei ihr angesammelt hatte, und all ihre gerechte Entrüstung über dieses mißglückte Gedächtnismahl vor ihm aus, wobei die Entrüstung oft von einem sehr heiteren, sehr ungenierten Lachen über die versammelten Gäste, namentlich aber über die Wirtin selbst, abgelöst wurde.

»An allem ist diese Eule schuld. Sie verstehen wohl, wen ich meine: die da, die da!« Dabei wies Katerina Iwanowna durch eine Kopfbewegung nach der Wirtin hin. »Sehen Sie sie nur mal an: sie reißt die Augen auf; sie merkt, daß wir von ihr reden, kann aber nicht verstehen und sperrt nun die Augen weit auf. Pfui, so eine Eule, ha-ha-ha! … Kche-kche-kche! Und was bezweckt sie denn eigentlich mit ihrer Haube? Kche-kche-kche! Haben Sie wohl bemerkt, sie möchte gern alle glauben machen, daß sie hier die hohe Gönnerin sei und mir durch ihre Anwesenheit eine Ehre erweise. Ich hatte sie, in der Meinung, es mit einer anständigen Dame zu tun zu haben, gebeten, mir zu dieser Feier Leute besseren Standes und namentlich die Bekannten des Verstorbenen einzuladen; und nun sehen Sie nur, wen sie mir hergebracht hat: wahre Hansnarren! Mistfinken! Sehen Sie nur den da mit dem unreinen Teint; so ein Rotzkerl! Und diese Polacken … ha-ha-ha! Kche-kche-kche! Kein Mensch hat sie je vorher hier zu sehen bekommen; auch ich habe sie noch nie gesehen; nun frage ich Sie: warum sind die hergekommen? Sie sitzen so hübsch brav in einer Reihe nebeneinander! Pan, Sie da!« rief sie auf einmal einem von ihnen zu. »Haben Sie sich auch Pfannkuchen genommen? Langen Sie doch noch zu! Trinken Sie Bier! Mögen Sie keinen Schnaps? Sehen Sie: er ist aufgesprungen und verbeugt sich; sehen Sie nur, sehen Sie nur; die armen Kerle sind gewiß ganz ausgehungert. Na immerzu, mögen sie essen! Wenigstens machen sie keinen Lärm; aber … aber … allerdings … ich bin in Sorge um die silbernen Löffel der Wirtin! … Amalia Iwanowna«, wandte sie sich auf einmal ziemlich laut an diese, »wenn Ihnen etwa Ihre Löffel gestohlen werden sollten, so übernehme ich keine Haftung, das sage ich Ihnen im voraus. – Ha-ha-ha!« lachte sie, sich wieder an Raskolnikow wendend, auf, machte ihm wieder mit dem Kopfe ein Zeichen nach der Wirtin hin und freute sich über ihre witzige Bemerkung. »Sie hat nicht verstanden, sie hat wieder nicht verstanden! Sie sitzt mit aufgesperrtem Munde da; sehen Sie nur: eine Eule, eine richtige Eule, ein Uhu mit neuen Haubenbändern, ha-ha-ha!«

Hier ging das Lachen wieder in einen unerträglichen Husten über, der fünf Minuten lang anhielt. Auf dem Taschentuche zeigten sich Blutflecke, Schweißtropfen erschienen auf ihrer Stirn, die roten Flecke auf den Wangen traten schärfer hervor. Schweigend wies sie Raskolnikow das Blut; aber kaum hatte sie sich wieder erholt, so begann sie von neuem, ihm mit außerordentlicher Lebhaftigkeit zuzuflüstern:

»Sehen Sie, ich hatte ihr den, man kann wohl sagen, sehr delikaten Auftrag gegeben, diese Dame und ihre Tochter einzuladen; Sie wissen doch, von wem ich spreche? Dabei war ein sehr taktvolles Benehmen, eine besondere Geschicklichkeit erforderlich; aber sie hat es so töricht angegriffen, daß dieses eben von auswärts angekommene dumme Frauenzimmer, diese hochmütige Kreatur, diese unbedeutende Provinzialin, nur weil sie eine Majorswitwe ist – sie ist nämlich hergekommen, um sich eine Pension auszuwirken und die Behörden mit ihren Besuchen zu belästigen; bei ihren fünfundfünfzig Jahren färbt sie sich noch die Augenbrauen und schminkt sich, das ist Tatsache, … und eine solche Kreatur hat nicht die Gewogenheit gehabt, zu erscheinen; ja, sie hat sich nicht einmal wegen ihres Ausbleibens entschuldigen lassen, wie das doch in solchen Fällen die gewöhnlichste Höflichkeit erfordert! Ich kann nicht begreifen, warum auch Pjotr Petrowitsch nicht gekommen ist. Aber wo ist Sonja? Wo mag sie hingegangen sein? Ah, da ist sie ja, endlich! Nun, Sonja, wo bist du denn gewesen? Wunderlich, daß du sogar bei der Beerdigungsfeier für deinen Vater so unpünktlich bist. Rodion Romanowitsch, gestatten Sie, daß sie neben Ihnen Platz nimmt. Da ist dein Platz, Sonja, … lang zu, nimm, was du magst. Nimm von dem Fisch in Gelee; der ist recht gut. Du sollst auch gleich Pfannkuchen haben. Haben die Kinder auch etwas bekommen? Polenjka, habt ihr auch alles? Kche-kche-kche! Nun, schön! Sei recht artig, Lida, und du, Kolja, schlenkere nicht mit den Beinen; sitze, wie es sich für ein anständiges Kind schickt. Was sagst du, Sonja?«

Sonja richtete ihr schnell Pjotr Petrowitschs Entschuldigung aus, wobei sie sich Mühe gab, recht laut zu sprechen, damit es alle hören könnten, und recht gewählte, respektvolle Ausdrücke zu gebrauchen, die sie sich von Pjotr Petrowitsch gemerkt hatte und noch weiter ausschmückte. Sie fügte hinzu, Pjotr Petrowitsch habe ihr besonders aufgetragen, zu bestellen, daß er, sobald es ihm irgend möglich sei, schleunigst herkommen werde, zum Zwecke ungestörter Besprechung geschäftlicher Angelegenheiten und zum Zwecke von Verabredungen darüber, was sich nun weiter tun und unternehmen lasse usw. usw.

Sonja wußte, daß dies dazu beitragen werde, Katerina Iwanowna zu beruhigen und friedlicher zu stimmen, da es ihr schmeichelte und namentlich ihren Stolz befriedigte. Sie setzte sich neben Raskolnikow, den sie kurz begrüßte und mit einem forschenden Blick eine Sekunde lang betrachtete. Die ganze übrige Zeit vermied sie es aber, ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen. Sie schien zerstreut, wiewohl sie fortwährend die Augen auf Katerina Iwanownas Gesicht gerichtet hielt, um ihr Dienste zu erweisen. Weder sie noch Katerina Iwanowna waren in Trauerkleidung, da sie keine derartigen Sachen besaßen; Sonja trug ein ziemlich dunkles braunes Kleid und Katerina Iwanowna das einzige, das sie hatte, ein dunkles, gestreiftes Kattunkleid. Die Nachricht über Pjotr Petrowitsch machte sich vorzüglich. Nachdem Katerina Iwanowna sehr würdevoll Sonjas Bericht angehört hatte, erkundigte sie sich ebenso würdevoll nach Pjotr Petrowitschs Befinden. Darauf flüsterte sie sofort sehr vernehmlich dem neben ihr sitzenden Raskolnikow zu, daß es einem so angesehenen, wohlsituierten Manne wie Pjotr Petrowitsch allerdings habe peinlich sein müssen, sich in eine so eigenartige Gesellschaft zu begeben, trotz seiner treuen Anhänglichkeit an ihre Familie und seiner alten Freundschaft für ihren Papa.

»Eben deswegen bin ich Ihnen besonders dankbar, Rodion Romanowitsch, daß Sie es nicht verschmäht haben, an meinem Tische einen Bissen zu genießen, trotz dieser Umgebung«, fügte sie ziemlich laut hinzu. »Ich bin aber überzeugt, daß nur die innige Freundschaft, die Sie mit meinem armen verstorbenen Gatten verband, Sie bewogen hat, Ihr Wort zu halten.«

Sie ließ noch einmal einen würdevollen, stolzen Blick um ihre Tafelrunde herumwandern und erkundigte sich plötzlich mit besonderer Sorglichkeit laut über den Tisch hinüber bei dem tauben alten Manne, ob er nicht noch ein Stückchen Braten möge und ob er auch Lissabonner bekommen habe. Der Alte antwortete nicht und konnte lange Zeit nicht begreifen, wonach er eigentlich gefragt wurde, obwohl seine Nachbarn ihn des Spaßes wegen anstießen, er möchte doch antworten. Er blickte nur mit offenem Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch steigerte.

»Nein, so ein Tölpel! Sehen Sie nur, sehen Sie nur! Wozu man mir den bloß hergebracht hat! Was aber Pjotr Petrowitsch anlangt, so war ich stets von seiner freundlichen Gesinnung überzeugt«, fuhr Katerina Iwanowna, zu Raskolnikow gewendet, fort. »Der steht natürlich auf einer ganz andern Stufe«, hier wandte sie sich mit lauter Stimme, in scharfem Tone und mit sehr strenger Miene an Amalia Iwanowna, die darüber ganz ängstlich wurde, »auf einer ganz andern Stufe als Ihre beiden neuen Mieterinnen, diese aufgedonnerten Weibsbilder mit ihren langen Schleppen! Solche Frauenzimmer hätten in dem Hause meines Papas nicht einmal als Köchinnen dienen dürfen, und mein verstorbener Gatte hätte ihnen eine Ehre damit erwiesen, wenn er ihren Besuch entgegengenommen hätte, was eben nur ein Ausfluß seiner unerschöpflichen Herzensgüte gewesen wäre.«

»Trinken, das tat er gern; das liebte er sehr; ganz gehörig hat er getrunken!« rief auf einmal der verabschiedete Proviantbeamte und goß sein zwölftes Glas Schnaps hinunter.

»Das war allerdings eine Schwäche meines verstorbenen Gatten, und sie war allgemein bekannt«, antwortete Katerina Iwanowna sofort auf diese Bemerkung, »aber er war ein guter, edler Mensch, der seine Familie liebte und schätzte; das Unglück war nur, daß er in seiner Gutherzigkeit allerlei verkommenen Subjekten zuviel Vertrauen schenkte und Gott weiß mit wem zusammen trank, mit Leuten zusammen, die nicht wert waren, ihm die Schuhriemen zu lösen. Denken Sie sich, Rodion Romanowitsch, wir haben in seiner Tasche einen Hahn von Pfefferkuchen gefunden. Trotz seiner Betrunkenheit hatte er doch noch an die Kinder gedacht.«

»Einen Hahn? Sagten Sie nicht: einen Hahn?« rief der Proviantbeamte.

Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie war nachdenklich geworden und seufzte.

»Sie meinen gewiß auch wie alle, daß ich zu streng gegen ihn gewesen sei«, fuhr sie, zu Raskolnikow gewendet, fort. »Aber das ist nicht richtig! Er hat mich hochgeschätzt; außerordentlich hoch hat er mich geschätzt! Er war eine gute Seele! Und wie leid hat er mir manchmal getan! Er saß oft so in einer Ecke da und schaute mich an; so leid tat er mir; ich wäre am liebsten freundlich zu ihm gewesen; aber ich sagte mir: ›Wenn du jetzt freundlich zu ihm bist, betrinkt er sich wieder.‹ Nur durch Strenge war es möglich, ihn einigermaßen davon zurückzuhalten.«

»Ja, ja, manchmal wurde er auch an den Haaren gerissen; das war nichts Seltenes!« schrie der Proviantbeamte wieder und goß noch ein Glas hinunter.

»Manchen Dummköpfen wäre es heilsam, wenn sie nicht nur an den Haaren gerissen, sondern sogar mit dem Besenstiel geprügelt würden. Ich meine damit nicht den Verstorbenen!« erwiderte Katerina Iwanowna scharf.

Die roten Flecke auf ihren Wangen zeichneten sich immer greller ab; ihre Brust atmete schwer. Sie war offenbar nahe daran, eine Skandalszene zu beginnen. Viele kicherten; denen hätte so etwas augenscheinlich das größte Vergnügen gemacht. Sie fingen an, den Proviantbeamten anzustoßen und ihm etwas zuzuflüstern. Zweifellos wollten sie die beiden aneinanderhetzen.

»Gestatten Sie mir die Frage: was haben Sie damit gemeint?« begann der Proviantbeamte. »Das heißt, auf wen … sollte das gehen, … was Sie soeben bemerkten? … Na, übrigens, ich will doch lieber nicht … Dummes Zeug! Eine Witwe! So ein armes Tierchen! Ich verzeihe es ihr … Ich geb’s auf!« Und er griff wieder zum Schnaps.

Raskolnikow saß da und hörte schweigend und voll Widerwillen zu. Die guten Bissen, die ihm Katerina Iwanowna alle Augenblicke auf den Teller legte, rührte er nur aus Höflichkeit an, nur um sie nicht zu kränken. Er blickte unverwandt Sonja an. Sonja aber wurde immer unruhiger und ängstlicher; sie ahnte, daß dieses Gedächtnismahl kein friedliches Ende nehmen werde, und beobachtete voll Furcht, wie die Gereiztheit ihrer Stiefmutter immer schlimmer wurde. Sonja wußte unter anderm, daß sie, Sonja, selbst die Hauptursache war, weswegen die beiden kürzlich angekommenen Damen Katerina Iwanownas Einladung in so verächtlicher Weise abgelehnt hatten. Sie hatte von Amalia Iwanowna selbst gehört, daß die Mutter sich durch die Einladung geradezu beleidigt gefühlt und gefragt habe, wie man ihr denn zumuten könne, ihre Tochter neben »dieses Mädchen« zu setzen. Sonja vermutete, daß Katerina Iwanowna dies bereits auf irgendwelchem Wege erfahren habe, und wußte, daß eine beleidigende Äußerung über sie, Sonja, auf Katerina Iwanowna heftiger wirkte als eine über sie selbst oder über ihre Kinder oder über ihren vornehmen Papa, mit einem Worte: ihr als tödliche Beleidigung galt. So sah denn Sonja voraus, daß Katerina Iwanowna jetzt keine Ruhe haben werde, »ehe sie nicht diesen hoffärtigen Frauenzimmern würde bewiesen haben, daß sie alle beide usw. usw.« Unglücklicherweise schickte in diesem Augenblicke jemand vom andern Ende des Tisches her an Sonja einen Teller, auf welchem zwei aus Schwarzbrot geknetete Herzen, von einem Pfeil durchbohrt, lagen. Katerina Iwanowna geriet sofort in Wut und bemerkte laut über den Tisch hinüber, der Übersender müsse wohl ein betrunkener Esel sein. Amalia Iwanowna, die gleichfalls ahnte, daß Unheil im Anzuge sei, und sich gleichzeitig durch Katerina Iwanownas Hochmut in tiefster Seele gekränkt fühlte, beabsichtigte dem Gespräche eine andre Richtung zu geben und so die unangenehme Stimmung der Gesellschaft zu bessern. Deshalb, und auch um bei dieser Gelegenheit ihre eigene Person in der allgemeinen Achtung steigen zu lassen, begann sie auf einmal ohne äußere Veranlassung zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr, »Karl aus der Apotheke«, eines Nachts in einer Droschke gefahren sei; der Kutscher habe ihn ermorden wollen, und Karl habe ihn »serr, serr« gebeten, ihn doch nicht zu ermorden, und habe geweint und die Hände gefaltet, und »erschreckt« und vor Furcht »sei ihm das Herz gebeben«. Katerina Iwanowna bemerkte dazu, wenn auch lächelnd, Amalia Iwanowna täte besser, keine Geschichten auf Russisch zu erzählen. Diese fühlte sich noch mehr gekränkt und erwiderte, ihr Vater, ein geborener Berliner, sei eine sehr hochgestellte Persönlichkeit gewesen und habe immer »beim Gehen seine Hände in Taschen gesteckt«. Die spottlustige Katerina Iwanowna konnte sich nicht mehr halten und brach in ein lautes Gelächter aus, so daß Amalia Iwanowna den letzten Rest von Geduld verlor und sich kaum noch beherrschen konnte.

»Nein, diese Eule!« flüsterte Katerina Iwanowna wieder Raskolnikow zu; sie war ordentlich lustig geworden. »Sie wollte sagen, er habe immer die Hände in den Taschen gehabt; es klang aber so, als habe er fremde Taschen ausgeräumt, kche-kche! Haben Sie wohl auch schon bemerkt, Rodion Romanowitsch, daß alle diese Ausländer in Petersburg, und ganz besonders die Deutschen, die hier bei uns zusammenströmen, ohne Ausnahme dümmer sind als wir? Nun, sagen Sie selbst, kann ein vernünftiger Mensch so erzählen, daß ›diesem Karl aus der Apotheke das Herz gebeben sei‹ und daß er (so eine Rotznase!), statt dem Droschkenkutscher die Hände zu binden, die Hände gefaltet und geweint und sehr gebeten habe? Ach, dieses dumme Frauenzimmer! Sie bildet sich ein, was sie da erzählt, sei furchtbar rührend, und ahnt gar nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist der betrunkene Proviantbeamte da weit klüger als diese Person. Bei ihm sieht man wenigstens ohne weiteres, daß er ein Liedrian ist und den letzten Rest seines Verstandes durch Trinken ruiniert hat; aber diese Deutschen haben alle so etwas Affektiertes, Ernsthaftes … Sehen Sie nur, wie sie dasitzt und die Augen aufreißt. Sie ärgert sich! Sie ärgert sich! Ha-ha-ha! Kche-kche-kche!«

Katerina Iwanowna, die nun sehr vergnügt geworden war, kam auf alles mögliche zu reden und begann unter anderm zu erzählen, wie sie mit Hilfe der erwirkten Witwenpension in ihrer Heimatstadt T… ganz bestimmt ein vornehmes Mädchenpensionat eröffnen werde. Hiervon hatte Raskolnikow aus Katerina Iwanownas eigenem Munde bisher noch nichts erfahren, und so erging sie sich denn alsbald in der Ausmalung der verlockendsten Einzelheiten. Auf einmal befand sich in ihren Händen (man wußte gar nicht, woher es so plötzlich gekommen war) eben jenes Belobigungszeugnis, das noch der verstorbene Marmeladow in der Schenke Raskolnikow gegenüber erwähnt hatte, als er ihm erzählte, daß seine Gattin Katerina Iwanowna bei der Entlassungsfeier aus dem Institut »in Gegenwart des Gouverneurs und andrer hoher Persönlichkeiten« den Schleiertanz getanzt habe. Dieses Belobigungszeugnis wollte Katerina Iwanowna augenblicklich offenbar dazu benutzen, ihre Berechtigung zur Gründung eines Pensionates nachzuweisen; hauptsächlich aber hatte sie es in der Absicht bereitgehalten, »den beiden aufgedonnerten Weibsbildern mit den langen Schleppen« gehörig das Maul zu stopfen, wenn sie zum Gedächtnismahle kämen, und Iwanowna stand vom Stuhle auf und bemerkte ihr in strengem Tone mit anscheinend ruhiger Stimme, wiewohl sie ganz blaß war und ihre Brust sich heftig hob und senkte: wenn sie sich noch ein einziges Mal erdreiste, ihren Lumpenkerl von Vater mit ihrem Papa auf eine Stufe zu stellen, so würde sie, Katerina Iwanowna, ihr die Haube abreißen und mit Füßen treten. Als Amalia Iwanowna das hörte, fing sie an im Zimmer hin und her zu rennen und schrie aus vollem Halse, sie sei die Wirtin und Katerina Iwanowna solle augenblicklich aus der Wohnung ausziehen. Dann stürzte sie zum Tische und raffte die silbernen Löffel zusammen. Ein gräßlicher Lärm und Skandal entstand; die Kinder fingen an zu weinen. Sonja bemühte sich, Katerina Iwanowna zurückzuhalten, aber als in Amalia Iwanownas Gekreische auch etwas von dem gelben Scheine vorkam, stieß Katerina Iwanowna Sonja von sich und stürzte auf Amalia Iwanowna los, um ihre Drohung betreffs der Haube unverzüglich zur Ausführung zu bringen. In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle des Zimmers erschien Pjotr Petrowitsch Lushin. Er stand einen Moment still und musterte mit scharfem, prüfendem Blicke die ganze Gesellschaft. Katerina Iwanowna stürzte zu ihm hin.

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Kapitel 29

III

»Pjotr Petrowitsch!« schrie sie. »Schützen Sie mich! Machen Sie dieser dummen Kreatur klar, daß sie sich nicht unterstehen darf, sich gegen eine vornehme Dame, die ins Unglück geraten ist, so zu benehmen; sagen Sie ihr, daß es ein Gericht gibt … An den Generalgouverneur selbst werde ich mich wenden … Sie wird sich zu verantworten haben … Gedenken Sie der Gastfreundschaft, die Sie bei meinem Vater genossen haben, und schützen Sie uns in unserer Verlassenheit!«

»Erlauben Sie, Madame … Erlauben Sie, erlauben Sie, Madame«, wehrte Pjotr Petrowitsch sie von sich ab. »Ihren Herrn Vater habe ich, wie Sie wissen, gar nicht die Ehre gehabt zu kennen … Erlauben Sie, Madame!« (Hier lachte jemand laut auf.) »Und mich in Ihre ewigen Zänkereien mit Amalia Iwanowna einzumengen liegt durchaus nicht in meiner Absicht … Mich führt eine eigne Angelegenheit her, und ich möchte sofort mit Ihrer Stieftochter Sofja … Iwanowna sprechen, so ist ja wohl der Name. Erlauben Sie mir, näherzutreten.«

Nach diesen Worten ging Pjotr Petrowitsch seitwärts um Katerina Iwanowna herum und begab sich in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Sonja befand.

Katerina Iwanowna blieb, wie vom Donner gerührt, starr auf demselben Fleck stehen. Es war ihr unbegreiflich, wie Pjotr Petrowitsch in Abrede stellen konnte, bei ihrem Papa Gastfreundschaft genossen zu haben. Nachdem sie sich die Geschichte von dieser Gastfreundschaft einmal ausgedacht hatte, glaubte sie selbst steif und fest daran. Und Pjotr Petrowitschs geschäftsmäßiger, trockner Ton, in dem sogar etwas Verächtliches, Drohendes lag, versetzte sie in Bestürzung. Auch die anderen Anwesenden waren bei seinem Erscheinen alle allmählich still geworden. Ganz abgesehen davon, daß dieser »ernste Geschäftsmann« einen schneidenden Kontrast gegen die ganze übrige Gesellschaft bildete, war auch klar, daß er aus irgendeinem wichtigen Anlasse gekommen war, daß nur eine außerordentliche Ursache ihn in diese Gesellschaft hatte führen können und daß somit gleich etwas passieren mußte. Raskolnikow, der neben Sonja stand, trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen; Pjotr Petrowitsch bemerkte ihn anscheinend gar nicht. Einen Augenblick darauf erschien auch Lebesjatnikow auf der Schwelle; ins Zimmer hinein kam er nicht, sondern blieb, lebhaft interessiert, beinahe verwundert, dort stehen; er hörte zu, schien aber lange Zeit aus dem, was da vorging, nicht klug zu werden.

»Entschuldigen Sie, wenn ich vielleicht störe; aber es ist eine ziemlich wichtige Angelegenheit«, bemerkte Pjotr Petrowitsch für alle Anwesenden, ohne sich an jemand im besonderen zu wenden. »Es ist mir sogar recht erwünscht, eine größere Zuhörerschaft zu haben. Amalia Iwanowna, ich bitte Sie in Ihrer Eigenschaft als Wirtin der Wohnung ganz ergebenst, dem Gespräche, das ich jetzt mit Sofja Iwanowna führen werde, Ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sofja Iwanowna«, fuhr er fort, indem er sich nunmehr direkt an die höchst erstaunte und schon im voraus erschrockene Sonja wandte, »von meinem Tische im Zimmer meines Freundes Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow ist, wie sich unmittelbar nach Ihrem Besuche herausgestellt hat, eine mir gehörige Banknote im Werte von hundert Rubel verschwunden. Wenn Sie auf irgendwelche Weise wissen und uns zeigen, wo sie sich jetzt befindet, so versichere ich Ihnen mit meinem Ehrenworte und nehme alle Anwesenden dafür als Zeugen, daß die Sache damit abgetan sein wird. Im entgegengesetzten Falle werde ich mich genötigt sehen, zu sehr ernsten Maßregeln zu greifen, und dann … würden Sie sich den Schaden selbst zuzuschreiben haben.«

Im Zimmer herrschte absolutes Schweigen. Sogar die weinenden Kinder waren still geworden. Sonja stand leichenblaß da, blickte Lushin an und war unfähig, etwas zu antworten. Sie schien ihn noch gar nicht verstanden zu haben. So vergingen einige Sekunden.

»Nun also, wie ist’s?« fragte Lushin und blickte sie fest an.

»Ich weiß nicht … ich weiß von nichts …«, erwiderte Sonja endlich mit schwacher Stimme.

»Nicht? Sie wissen es nicht?« fragte Lushin noch einmal und schwieg wieder ein paar Sekunden. »Besinnen Sie sich, Mademoiselle«, fuhr er dann in strengem Tone fort, aber immer noch so, als ob er ihr ins Gewissen redete, »denken Sie nach; ich bin gern bereit, Ihnen noch etwas Zeit zur Überlegung zu lassen. Bitte, erwägen Sie dies: wenn ich Interesse Ihrer armen Stiefmutter zu einer Besprechung ein; ich überreiche Ihnen eine meinen Verhältnissen entsprechende Gabe von zehn Rubel, und Sie danken mir gleich auf demselben Fleck, gleich in demselben Augenblick für all dies durch eine derartige Handlungsweise! Nein, das ist denn doch gar zu häßlich! Dafür müssen Sie eine Lektion erhalten. Nun überlegen Sie; ja, als Ihr aufrichtiger Freund (denn einen bessern Freund können Sie in diesem Augenblicke nicht haben) bitte ich Sie: kommen Sie zur Besinnung! Sonst werde ich unerbittlich sein! Nun, wie ist’s?«

»Ich habe Ihnen nichts weggenommen«, flüsterte Sonja in höchstem Entsetzen. »Sie haben mir zehn Rubel gegeben; hier, bitte, nehmen Sie sie zurück.«

Sie zog ihr Taschentuch aus der Tasche, suchte den Knoten, knüpfte ihn auf, nahm den Zehnrubelschein heraus und hielt ihn Lushin hin.

»Und wegen der übrigen hundert Rubel wollen Sie kein Geständnis ablegen?« sagte er im Tone des Vorwurfs und der eindringlichen Mahnung, ohne die Banknote zu nehmen.

Sonja blickte um sich. Alle schauten mit so furchtbaren, strengen, spöttischen, feindseligen Gesichtern nach ihr hin. Sie richtete ihre Augen auf Raskolnikow, … dieser stand an der Wand, die Arme über der Brust verschränkt, und sah sie mit flammendem Blicke an.

»O Gott!« stöhnte sie unwillkürlich auf.

»Amalia Iwanowna, es wird erforderlich sein, die Polizei zu benachrichtigen, und deshalb bitte ich Sie ergebenst, zunächst den Hausknecht rufen zu lassen«, sagte Lushin leise und sogar in freundlichem Tone.

»Gott der Barmherzige! Das habe ich mir doch gedacht, daß sie stiehlt!« rief Amalia Iwanowna und schlug die Hände zusammen.

»So? Das haben Sie sich gedacht?« fragte Lushin schnell. »Also hatten Sie auch früher schon irgendwelche Gründe zu solcher Annahme. Ich bitte Sie, verehrteste Amalia Iwanowna, sich Ihrer Worte zu erinnern, die Sie ja übrigens auch in Gegenwart von Zeugen gesprochen haben.«

Auf allen Seiten erhob sich nun plötzlich lautes Reden. Alle kamen in lebhafte Bewegung.

»Wie? Wie?« schrie auf einmal Katerina Iwanowna, die von ihrer ersten Bestürzung wieder zu sich gekommen war, und stürzte wie ein Hund, der sich von der Kette losgerissen hat, auf Lushin zu. »Wie? Sie beschuldigen sie des Diebstahls? Meine Sonja? Oh, Sie Schurke, Sie Schurke!«

Sie eilte zu Sonja hin und umschlang sie fest, ganz fest mit ihren abgemagerten Armen.

»Sonja, wie hast du die zehn Rubel von ihm annehmen können! Oh, du Einfältige! Gib sie her! Gib gleich diese zehn Rubel her! Da! Nehmen Sie!«

Katerina Iwanowna riß Sonja die Banknote aus der Hand, knüllte sie zu einem Knäuel zusammen und schleuderte ihn, weit ausholend, Lushin gerade ins Gesicht. Der Knäuel traf ihn ins Auge und fiel zurückprallend auf den Fußboden. Amalia Iwanowna sprang hinzu und hob das Geld auf. Pjotr Petrowitsch wurde zornig.

»Haltet die Verrückte fest!« rief er.

In der Tür erschienen in diesem Augenblicke neben Lebesjatnikow noch einige Personen, zwischen denen auch die beiden neulich angekommenen Damen hervorschauten.

»Wie? Verrückt? Ich soll verrückt sein? Du Esel!« kreischte Katerina Iwanowna. »Du bist selbst ein Esel, ein Rechtsverdreher, ein grundgemeiner Mensch! Sonja, Sonja wird ihm Geld wegnehmen! Sonja eine Diebin! Eher könnte sie dir etwas geben, du Esel!« Katerina Iwanowna brach in ein hysterisches Lachen aus. »Habt ihr schon je einen solchen Esel gesehen?« wandte sie sich ringsum an alle und zeigte auf Lushin. »Wie? Du auch?« Es fiel ihr gerade die Wirtin in die Augen. »Du altes Hökerweib, auch du willst das bestätigen, daß sie gestohlen hat? Du greulicher preußischer Affe in der großen Krinoline! Oh, ihr Lumpenbande! Sie ist ja seitdem gar nicht aus dem Zimmer hinausgegangen; gleich als sie von dir, du Schurke, zurückkam, hat sie sich ganz in meiner Nähe an den Tisch gesetzt; das haben alle gesehen. Da neben Rodion Romanowitsch hat sie gesessen! Also visitiert sie doch! Da sie nirgends hingegangen ist, müßte sie ja das Geld noch bei sich haben! Visitiere sie nur, visitiere sie nur! Aber wenn du nichts findest, Freundchen, dann sollst du zur Verantwortung gezogen werden! Zum Zaren, zum Zaren selbst laufe ich hin; er ist barmherzig; ich werfe mich ihm zu Füßen, gleich, heute noch! Ich bin ein schutzloses Weib! Man wird mich vorlassen! Denkst du etwa, ich werde nicht vorgelassen werden? Da irrst du dich, ich werde schon zu ihm gelangen! Du hast wohl darauf gerechnet, daß sie so schüchtern ist? Darauf hast du wohl deine Hoffnung gesetzt? Aber dafür bin ich um so kühner, Brüderchen! Du wirst den kürzeren ziehen! So visitiere sie doch! Immer zu! Nur zu!«

Und Katerina Iwanowna packte in ihrer Wut Lushin an und zerrte ihn zu Sonja hin.

»Ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen, und will die Verantwortung auf mich nehmen, … aber benehmen Sie sich ruhiger, Madame, benehmen Sie sich ruhiger. Daß Sie kühn sind, sehe ich nur zu gut … Indessen, eine Visitierung, … das … das … geht doch nicht so«, murmelte Lushin, »das muß in Gegenwart der Polizei geschehen, … es sind ja freilich auch jetzt Zeugen genug vorhanden … Ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen … Aber in jedem Falle ist das für einen Mann eine mißliche Sache, … wegen des Geschlechts … Wenn es unter Amalia Iwanownas Beihilfe geschehen könnte, … allerdings ist das kein ordnungsmäßiges Verfahren … Sicherlich nicht!«

»Bestimmen Sie selbst, wer sie visitieren soll! Mag es tun, wer da will!« schrie Katerina Iwanowna. »Sonja, wende ihnen deine Taschen um! Da, da! Sieh, du Scheusal, da, sie ist leer, hier steckte das Taschentuch drin, die Tasche ist leer, siehst du! Da ist die andre Tasche, da, da! Siehst du, siehst du!«

Dabei wandte Katerina Iwanowna die beiden Taschen nacheinander um oder riß sie vielmehr nach außen. Aber aus der zweiten, der rechten Tasche, flog plötzlich eine Banknote heraus, beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel dann vor Lushins Füßen auf den Boden. Alle hatten es gesehen; viele schrien auf. Pjotr Petrowitsch bückte sich, nahm die Banknote mit zwei Fingern vom Fußboden auf, hob sie in die Höhe, so daß es alle sahen, und faltete sie auseinander. Es war ein auf den achten Teil seiner Größe zusammengelegter Hundertrubelschein. Pjotr Petrowitsch bewegte seinen Arm im Kreise herum und zeigte die Banknote allen.

»Eine Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!« heulte Amalia Iwanowna. »Nach Sibirien müssen sie geschickt werden! Hinaus!«

Von allen Seiten erschollen Ausrufe des Staunens und der Entrüstung. Raskolnikow schwieg und wendete die Augen nicht von Sonja ab; nur selten warf er Lushin einen schnellen Blick zu. Sonja stand wie besinnungslos immer noch auf demselben Fleck; sie schien kaum erstaunt zu sein. Plötzlich übergoß eine glühende Röte ihr ganzes Gesicht; sie schrie auf und verbarg das Gesicht in den Händen.

»Nein, ich bin es nicht gewesen! Ich habe nichts genommen! Ich weiß von nichts!« rief sie mit einem herzzerreißenden Aufschrei und stürzte zu Katerina Iwanowna hin.

Diese schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich, als wollte sie sie mit ihrer Brust gegen alle verteidigen.

»Sonja, Sonja, ich glaube es nicht! Siehst du wohl, ich glaube es nicht!« rief sie, allem Augenschein zum Trotz, preßte sie immer wieder an sich wie ein Kind, küßte sie unzählige Male, ergriff ihre Hände und bedeckte auch diese mit heißen Küssen. »Du solltest das genommen haben? Ach, was sind das für dumme Menschen! O Gott! Dumm seid ihr, dumm!« rief sie, zu allen gewendet. »Ihr wißt noch gar nicht, ihr habt keine Ahnung davon, was für ein Herz sie hat, ein wie gutes Mädchen sie ist! Sie sollte jemandem etwas wegnehmen, sie! Eher zieht sie sich das letzte Kleid vom Leibe und verkauft es und geht barfuß und gibt euch alles hin, wenn ihr in Not seid; so ist sie! Auch den gelben Schein hat sie nur deshalb genommen, weil meine Kinder vor Hunger umkamen; um unsertwillen hat sie sich verkauft! … Ach, du Dahingeschiedener! Ach, du Dahingeschiedener! Siehst du wohl? Siehst du wohl? Das ist nun dein Gedächtnismahl! O Gott! So verteidigt sie doch; was steht ihr alle da? Rodion Romanowitsch! Warum treten denn Sie, Sie nicht für sie ein? Glauben Sie es etwa auch? Ihr alle seid nicht so viel wert wie ihr kleiner Finger, ihr alle, ihr alle! O Gott! Schütze du sie doch endlich!«

Das Weinen der armen schwindsüchtigen, hilflosen Katerina Iwanowna schien doch auf die Anwesenden starken Eindruck zu machen. Es lag ein solcher Jammer, ein solches Leid in diesem schmerzverzerrten, abgemagerten, schwindsüchtigen Gesichte, in diesen eingeschrumpften, noch blutigen Lippen, in dieser heiser kreischenden Stimme, in diesem aufschluchzenden Weinen, das wie Kinderweinen klang, in diesem vertrauensvollen, kindlichen und dabei doch verzweifelten Flehen um Schutz, daß, wie es schien, alle mit der Unglücklichen Mitleid empfanden. Pjotr Petrowitsch wenigstens beeilte sich, »sein Bedauern auszusprechen«.

»Madame, Madame!« rief er mit erhobener Stimme. »Sie selbst werden ja durch das Geschehene gar nicht berührt! Niemand beschuldigt Sie der Anstiftung oder der Teilnehmerschaft, um so weniger, als Sie ja durch das Umwenden der Taschen die Überführung bewerkstelligt haben; daraus geht ja klar hervor, daß Sie nichts Übles vermuteten. Ich bin bereit, mein außerordentliches Bedauern auszusprechen, wenn, um mich so auszudrücken, es die bittre Armut gewesen ist, wodurch sich Sofja Semjonowna hat verleiten lassen; aber warum, Mademoiselle, wollten Sie denn kein Geständnis ablegen? Fürchteten Sie die Schande? Es war wohl Ihr erster Schritt gewesen? Sie waren vielleicht zu fassungslos? Alles begreiflich, sehr begreiflich! … Aber andrerseits, warum haben Sie sich auch auf solche Dinge eingelassen? Meine Herrschaften!« wandte er sich an alle Anwesenden, »meine Herrschaften! Aus Mitleid und sozusagen aus Teilnahme an diesem Schmerze bin ich bereit zu verzeihen, selbst jetzt noch, trotz der persönlichen Beleidigungen, die mir widerfahren sind. Möge Ihnen, Mademoiselle, die jetzige Beschämung als Lehre für die Zukunft dienen«, wandte er sich an Sonja; »ich meinerseits werde von weiteren Maßregeln absehen; meinetwegen mag die Sache hiermit abgetan sein. Also genug davon!«

Pjotr Petrowitsch schielte verstohlen zu Raskolnikow hin; ihre Blicke begegneten einander. Raskolnikows flammender Blick drohte den andern zu Asche zu verbrennen. Katerina Iwanowna schien überhaupt nichts mehr gehört zu haben; sie umarmte und küßte Sonja wie eine Wahnsinnige. Auch die Kinder umschlangen von allen Seiten Sonja mit ihren Ärmchen, und Polenjka, die übrigens nicht recht verstand, worum es sich handelte, war ganz in Tränen aufgelöst, verging fast vor Schluchzen und verbarg ihr vom Weinen geschwollenes hübsches Gesichtchen an Sonjas Schulter.

»Ist das eine Gemeinheit!« rief plötzlich eine laute Stimme in der Tür.

Pjotr Petrowitsch blickte sich hastig um.

»Ist das eine Gemeinheit!« sagte Lebesjatnikow noch einmal und blickte ihm unverwandt in die Augen.

Pjotr Petrowitsch zuckte ordentlich zusammen. Alle bemerkten es und erinnerten sich dessen später. Lebesjatnikow trat ins Zimmer herein.

»Und Sie haben sich erdreistet, mich als Zeugen anzurufen?« sagte er, indem er auf Pjotr Petrowitsch zutrat.

»Was soll das bedeuten, Andrej Semjonowitsch? Wovon reden Sie?« murmelte dieser.

»Das bedeutet, daß Sie ein Verleumder sind! Das habe ich gemeint!« sagte Lebesjatnikow erregt und blickte ihn zornig mit seinen schwachsichtigen Augen an.

Er war furchtbar ergrimmt. Raskolnikow ließ keinen Blick von ihm, als ob er jedes Wort auffinge und auf die Waagschale legte. Wieder herrschte Schweigen. Pjotr Petrowitsch hatte fast ganz seine Fassung verloren, namentlich im ersten Augenblick.

»Wenn Sie mir damit …«, begann er stotternd. »Aber was haben Sie denn? Sind Sie bei Sinnen?«

»Ich bin schon bei Sinnen; aber Sie sind ein Schurke! Ach, was ist das für eine Gemeinheit! Ich habe hier jetzt den ganzen Vorgang mit angehört; ich habe absichtlich immer noch gewartet, um über die Sache völlig klarzuwerden; denn ich muß gestehen, selbst jetzt durchschaue ich den logischen Zusammenhang noch nicht ganz … Warum haben Sie denn eigentlich das alles getan? Das ist mir unbegreiflich!«

»Aber was soll ich denn getan haben? So hören Sie doch auf, in sinnlosen Rätseln zu sprechen! Oder sind Sie vielleicht betrunken?«

»Sie mögen vielleicht trinken, Sie gemeiner Mensch, ich nicht. Ich trinke überhaupt nie Schnaps, weil das meinen ganzen Anschauungen widerstreitet! Denken Sie sich«, hier wandte Lebesjatnikow sich an alle Anwesenden, »er selbst hat eigenhändig diesen Hundertrubelschein Sofja Semjonowna gegeben. Ich habe es gesehen, ich bin Zeuge, ich kann es beschwören! Er selbst, er selbst!«

»Sie sind wohl übergeschnappt, Sie Milchbart?« kreischte Lushin. »Da steht sie Ihnen ja selbst persönlich gegenüber, und sie selbst hat hier soeben in Gegenwart aller ausgesagt, daß sie außer den zehn Rubeln nichts von mir bekommen hat. Wie können Sie denn da behaupten, daß ich ihr den Schein gegeben hätte?«

»Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!« rief Lebesjatnikow nachdrücklich. »Und obwohl das Schwören meinen Anschauungen widerstreitet, so bin ich doch bereit, sofort vor Gericht jeden beliebigen Eid darauf abzulegen; denn ich habe gesehen, wie Sie ihr die Banknote heimlich zusteckten! Nur dachte ich Dummkopf, Sie wollten ihr damit eine Wohltat erweisen! Als Sie sich in der Tür von ihr verabschiedeten und sie sich umwandte und Sie ihr mit der einen Hand die Hand drückten, da haben Sie mit der andern Hand, mit der linken, ihr heimlich die Banknote in die Tasche gesteckt. Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!«

Lushin wurde blaß.

»Was schwatzen Sie da zusammen!« schrie er dreist. »Wie hätten Sie überhaupt, da Sie doch am Fenster standen, die Banknote erkennen können! Das war wohl eine Augentäuschung; Sie mit Ihrer Kurzsichtigkeit! Sie faseln!«

»Nein, es war keine Augentäuschung! Und obwohl ich weit weg stand, so habe ich doch alles gesehen, ja, alles; und obwohl es vom Fenster aus allerdings schwer war, die Banknote zu erkennen (darin haben Sie recht), so wußte ich doch infolge eines besonderen Zufalls genau, daß es gerade ein Hundertrubelschein war; denn als Sie Sofja Semjonowna den Zehnrubelschein gaben, da nahmen Sie (das habe ich selbst gesehen) gleichzeitig einen Hundertrubelschein vom Tische. Das habe ich gesehen, weil ich damals gerade in der Nähe stand; und da mir dabei sofort ein bestimmter Gedanke kam, so vergaß ich es nicht, daß Sie die Banknote in der Hand hatten. Sie hatten sie zusammengefaltet und hielten sie die ganze Zeit über in der geschlossenen Hand. Später hatte ich es schon beinahe wieder vergessen; aber als Sie aufstanden, nahmen Sie die Banknote aus der rechten Hand in die linke und hätten sie dabei beinahe fallenlassen; da erinnerte ich mich wieder, weil mir wieder derselbe Gedanke kam, daß Sie ihr nämlich, ohne daß ich es merken sollte, eine Wohltat erweisen wollten. Sie können sich vorstellen, wie ich nun aufpaßte – na, und da sah ich, wie es Ihnen gelang, ihr die Banknote in die Tasche zu schieben. Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen, und ich will es beschwören.«

Lebesjatnikow war fast außer Atem gekommen. Von allen Seiten erschollen Ausrufe verschiedener Art, meistens des Staunens; jedoch waren auch solche darunter, die einen drohenden Ton annahmen. Alle drängten sich zu Pjotr Petrowitsch hin. Katerina Iwanowna stürzte auf Lebesjatnikow zu.

»Andrej Semjonowitsch! Ich habe Sie verkannt! Beschützen Sie sie! Sie sind der einzige, der für sie eintritt! Sie ist eine Waise; Gott hat Sie ihr gesandt! Andrej Semjonowitsch, bester Freund, Väterchen!«

Bei diesen Worten warf sich Katerina Iwanowna, die kaum noch wußte, was sie tat, vor ihm auf die Knie.

»So ein Blödsinn!« schrie Lushin, rasend vor Wut. »Sie schwatzen Blödsinn, mein Herr! … ›Ich vergaß, ich erinnerte mich, ich erinnerte mich, ich vergaß‹, was hat das für Wert! Also ich hätte ihr die Banknote absichtlich zugesteckt? Wozu? Welchen Zweck sollte ich dabei gehabt haben? Was habe ich zu schaffen mit dieser …«

»Wozu? Das ist es ja eben, was ich selbst nicht verstehe; aber daß ich eine wahre Tatsache erzähle, das ist sicher! Ich irre mich ganz und gar nicht, Sie abscheulicher Mensch, Sie Verbrecher; ganz im Gegenteil erinnere ich mich genau, wie mir aus diesem Anlaß gleich damals eine bestimmte Frage in den Kopf kam, nämlich als ich Ihnen dankte und Ihnen die Hand drückte. Ich fragte mich nämlich, warum Sie es ihr eigentlich heimlich in die Tasche gesteckt hätten. Das heißt, warum gerade heimlich? Sollten Sie das wirklich nur deswegen getan haben, weil Sie es vor mir verheimlichen wollten, da Sie wußten, daß ich der entgegengesetzten Meinung bin und die private Wohltätigkeit verwerfe, die ja doch nie eine radikale Heilung herbeiführt? Na, ich kam schließlich zu der Meinung, Sie möchten sich wohl tatsächlich vor mir darüber schämen, daß Sie einen solchen Batzen Geld weggäben, und außerdem dachte ich, Sie wollten ihr vielleicht eine Überraschung bereiten und sie in Staunen versetzen, wenn sie in ihrer Tasche volle hundert Rubel fände; denn manche Wohltäter lieben es sehr, ihren Wohltaten in solcher Weise noch einen besonderen Anstrich zu geben; das weiß ich recht wohl. Dann kam mir auch der Gedanke, daß Sie sie vielleicht auf die Probe stellen wollten, ob sie wohl, wenn sie das Geld fände, kommen würde, um sich zu bedanken. Dann, daß Sie vielleicht dem Danke aus dem Wege gehen wollten, … na, wie man so sagt, daß die rechte Hand nicht wissen soll, … kurz, etwas in dieser Art. Nun also, es kamen mir damals eine ganze Menge verschiedener Gedanken in den Sinn, so daß ich beschloß, über alles dies später nachzudenken; ich hielt es aber für taktlos, Ihnen gegenüber zu äußern, daß ich um Ihr Geheimnis wisse. Gleich darauf jedoch fiel mir ein, Sofja Semjonowna könnte am Ende gar das Geld verlieren, ehe sie von seinem Vorhandensein etwas gemerkt hätte; darum beschloß ich, hierherzugehen, sie herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß ihr ein Hundertrubelschein in die Tasche gesteckt worden sei. Da ich aber dabei an dem Zimmer der Kobyljatnikowschen Damen vorbeikam, so ging ich vorher noch zu ihnen hinein, um ihnen die ›Allgemeine Kritik der positiven Methode‹ zu überbringen und ihnen besonders einen Artikel von Piderit (übrigens auch einen von Wagner) zu empfehlen; dann kam ich hierher und wurde hier Zeuge dieser abscheulichen Szene! Hätte ich denn nun alle diese Gedanken haben, alle diese Überlegungen anstellen können, wenn ich nicht tatsächlich gesehen hätte, daß Sie ihr die hundert Rubel in die Tasche steckten?«

Als Andrej Semjonowitsch seine wortreichen Erläuterungen mit einer so logischen Folgerung abgeschlossen hatte, war er ganz matt geworden, und der Schweiß rann ihm vom Gesichte. Denn leider besaß er nicht die Fähigkeit, seine Gedanken auf russisch klar und deutlich darzulegen (übrigens beherrschte er auch keine andere Sprache), so daß er jetzt nach seiner sachwalterischen Großtat auf einmal ganz erschöpft war; ja, es sah sogar so aus, als ob er davon magerer geworden wäre. Trotzdem hatte sein Rede ganz außerordentlich gewirkt. Er hatte mit so lebhaftem Affekt und in so echtem Tone eigener Überzeugung gesprochen, daß ihm offenbar alle glaubten. Pjotr Petrowitsch fühlte, daß seine Sache schlecht stand.

»Was kümmert es mich, was Ihnen da für dumme ›Fragen‹ in den Kopf gekommen sind«, rief er. »Das ist kein Beweis! Das können Sie alles geträumt haben; weiter nichts! Und ich sage Ihnen, mein Herr, daß Sie lügen! Sie lügen und verleumden mich, weil Sie auf mich wütend sind, namentlich aus Ärger darüber, daß ich von Ihren freidenkerischen, gottlosen sozialen Plänen nichts wissen wollte. Das ist der ganze Grund!«

Aber diese Ausrede brachte ihm keinen Nutzen; im Gegenteil, auf allen Seiten wurde ein unwilliges Murren laut.

»Aha, so willst du dich herausreden!« rief Lebesjatnikow. »Aber da irrst du dich! Rufe nur die Polizei, dann will ich einen Eid schwören! Nur das eine kann ich nicht begreifen: warum er eine so gemeine Handlung riskiert hat! So ein abscheulicher, niederträchtiger Mensch!«

»Ich kann es erklären, warum er eine solche Handlung gewagt hat, und werde nötigenfalls auch meinerseits einen Eid ablegen«, sagte nun endlich Raskolnikow mit fester Stimme und trat vor.

Er war anscheinend ruhig und festen Sinnes. Schon bei seinem bloßen Anblicke wurde es allen klar, daß er wirklich wußte, wie die Sache zusammenhing, und daß die Lösung des Rätsels jetzt erfolgen werde.

»Jetzt ist mir alles völlig verständlich geworden«, fuhr Raskolnikow fort und wandte sich dabei direkt an Lebesjatnikow. »Gleich vom Beginne dieser Szene an argwöhnte ich, daß irgendein schändlicher Betrug dahinterstecke; dieser Argwohn gründete sich auf gewisse besondere Umstände, der kleine Finger von Sofja Semjonowna, über die er so abfällig gesprochen habe. Auf seine Frage, ob ich wohl Sofja Semjonowna auffordern würde, neben meiner Schwester Platz zu nehmen, antwortete ich, daß ich es bereits an eben dem Tage getan hätte. Erbittert darüber, daß meine Mutter und meine Schwester nicht auf seine Verleumdungen hin sich mit mir verfeinden wollten, sagte er ihnen im weiteren Wortwechsel unverzeihliche Frechheiten. Es kam zu einem vollständigen Bruche, und er wurde aus dem Hause gewiesen. Alles dies begab sich gestern abend. Jetzt bitte ich Sie, ganz besonders aufzumerken: Stellen Sie sich vor, es wäre ihm jetzt gelungen, zu beweisen, daß Sofja Semjonowna eine Diebin sei, so hätte er doch damit zugleich meiner Mutter und meiner Schwester bewiesen, daß er mit seiner üblen Beurteilung nahezu recht gehabt habe und daß er mit Fug und Recht über die von mir vorgenommene Gleichstellung meiner Schwester mit Sofja Semjonowna empört gewesen sei und daß er somit durch einen Angriff auf mich die Ehre meiner Schwester, seiner Braut, verteidigt und geschützt habe. Kurz, durch alles dies hätte er mich mit meinen Angehörigen entzweien können, und er hoffte bestimmt, auf diese Art wieder mit ihnen in ein freundliches Verhältnis zu gelangen. Davon will ich schon gar nicht einmal reden, daß er sich dabei auch an mir persönlich rächen wollte, weil er Grund zu der Annahme hatte, daß Sofja Semjonownas Ehre und Glück mir sehr teuer seien. Das also war sein ganzer wohlüberlegter Plan! So fasse ich die Sache auf. Das war der ganze Grund für sein Handeln; ein anderer kann nicht existieren.«

So oder ungefähr so schloß Raskolnikow seine Rede, die oftmals durch Ausrufe seiner aufmerksamen Zuhörer unterbrochen worden war. Aber trotz aller Unterbrechungen hatte er energisch, ruhig, bestimmt, klar und fest gesprochen. Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein ernster Gesichtsausdruck machten auf alle einen gewaltigen Eindruck.

»Ja, ja, so muß es gewesen sein!« pflichtete ihm Lebesjatnikow, ganz hingerissen, bei. »So muß es gewesen sein; denn gleich nachdem Sofja Semjonowna zu uns ins Zimmer getreten war, fragte er mich ausdrücklich, ob Sie hier wären, ob ich Sie unter Katerina Iwanownas Gästen gesehen hätte. Er rief mich dazu beiseite, ans Fenster, und fragte mich dort leise. Folglich war ihm für die Ausführung seines Vorhabens Ihre Anwesenheit notwendig. Das ist richtig, das ist alles ganz richtig!«

Lushin schwieg und lächelte verächtlich. Indes sah er sehr blaß aus. Er schien zu überlegen, wie er sich wohl aus der Affäre ziehen könnte. Vielleicht hätte er mit Vergnügen alles auf sich beruhen lassen und wäre davongegangen; aber das war im gegenwärtigen Augenblicke so gut wie unmöglich; damit hätte er geradezu die Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen zugegeben, auch in dem Punkte, daß er Sofja Semjonowna verleumdet habe. Außerdem war das Publikum, das sowieso schon angetrunken war, allzu aufgeregt. Der Proviantbeamte, der übrigens nicht alles verstanden hatte, schrie am allermeisten und brachte einige Maßnahmen in Vorschlag, die für Lushin sehr unangenehm gewesen wären. Es standen aber auch Leute da, die nicht betrunken waren; denn aus allen Zimmern waren die Mieter zusammengeströmt. Die drei Polen zeigten sich besonders ergrimmt und schrien ihm fortwährend zu: »Pan łajdak!« (Sie Lump!), wobei sie noch allerlei Drohungen auf polnisch murmelten. Sonja hatte gespannt zugehört, schien aber gleichfalls nicht alles verstanden zu haben; sie machte den Eindruck, als sei sie soeben aus einer Ohnmacht erwacht. Sie wandte ihre Augen von Raskolnikow nicht ab, in dem Gefühle, daß er ihr einziger Schutz sei. Katerina Iwanowna atmete mühsam und pfeifend und befand sich allem Anscheine nach in einem Zustande furchtbarer Erschöpfung. Am dümmsten stand Amalia Iwanowna da; sie hielt den Mund geöffnet und konnte offenbar aus der Sache absolut nicht schlau werden. Das einzige, was sie begriff, war, daß Pjotr Petrowitsch irgendwie in die Klemme geraten sein müsse. Raskolnikow bat, noch etwas hinzufügen zu dürfen; aber man ließ ihn nicht weiterreden; alle schrien und drängten sich unter Schimpfworten und Drohungen um Lushin herum. Dieser aber zeigte sich nicht feige. Da er sah, daß er bezüglich der gegen Sonja erhobenen Beschuldigung sein Spiel verloren hatte, so nahm er seine Zuflucht ohne weiteres zur Unverschämtheit.

»Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie; drängen Sie nicht so; lassen Sie mich hindurch!« sagte er, indem er sich durch den Haufen hindurcharbeitete. »Und tun Sie mir den Gefallen, Ihre Drohungen zu unterlassen; ich versichere Ihnen, das ist ganz zwecklos, Sie erreichen dadurch nichts; ängstlich bin ich nicht; im Gegenteil werden Sie, meine Herren, dafür zur Verantwortung gezogen werden, daß Sie ein Kriminalvergehen in Schutz genommen haben. Die Diebin ist völlig überführt, und ich werde die Sache weiter verfolgen. Die Herren vom Gericht sind nicht so blind und … nicht betrunken und werden nicht zwei solchen notorischen Gottesleugnern, Revolutionären und Freidenkern Glauben schenken, die mich aus persönlicher Rachsucht beschuldigen, was sie ja in ihrer Dummheit selbst eingestehen … Also erlauben Sie!«

»Ziehen Sie sofort aus meinem Zimmer aus und lassen Sie sich nie wieder bei mir blicken; zwischen uns beiden ist alles zu Ende! Und wenn ich bedenke, wie ich mich abgequält habe, ihm unser ganzes System auseinanderzusetzen, … volle zwei Wochen lang! …«

»Ich habe Ihnen doch vorhin, als Sie mich noch zurückhalten wollten, selbst gesagt, Andrej Semjonowitsch, daß ich auszuziehen beabsichtigte; jetzt füge ich nur noch hinzu, daß Sie ein Dummkopf sind. Ich wünsche Ihnen guten Erfolg für eine Kur Ihrer physischen und geistigen Sehkraft. Erlauben Sie, meine Herren!«

Er drängte sich durch; aber ihn so leichten Kaufs, lediglich unter Schimpfwörtern, wegzulassen, das war nicht im Geschmacke des Proviantbeamten; er nahm ein Glas vom Tische, holte aus und warf damit nach Pjotr Petrowitsch. Indessen flog das Glas Amalia Iwanowna gerade an den Kopf. Sie kreischte auf; der Proviantbeamte aber, der bei dem Schwunge das Gleichgewicht verloren hatte, sank schwerfällig unter den Tisch. Pjotr Petrowitsch begab sich in sein Zimmer und hatte bereits eine halbe Stunde darauf das Haus verlassen. Die von Natur ängstliche Sonja hatte schon von jeher gewußt, daß niemand leichter ins Verderben zu bringen war als sie und daß jeder sie fast straflos beleidigen konnte; trotzdem aber hatte sie es bis auf diese Stunde für möglich gehalten, dem Unglück durch Vorsicht, durch Sanftmut und durch Demut allen und jedem gegenüber zu entgehen. Die jetzige Enttäuschung war ihr gar zu schmerzlich. Sie war allerdings imstande, geduldig und ohne Murren alles, auch dies, zu ertragen; aber im ersten Augenblicke fiel es ihr doch gar zu schwer. Als der erste Schreck und die erste Betäubung vorüber waren und sie alles begriff und sich vergegenwärtigte, da preßte ihr, trotz ihres Triumphes und des völligen Beweises ihrer Schuldlosigkeit, das Gefühl der Hilflosigkeit und der erlittenen Kränkung doch das Herz qualvoll zusammen. Ein Weinkrampf befiel sie. Schließlich konnte sie es nicht länger aushalten; sie stürzte aus dem Zimmer und lief nach Hause. Das geschah, gleich nachdem Lushin weggegangen war. Amalia Iwanowna mochte, als ihr unter lautem Gelächter der Anwesenden das Glas gegen den Kopf flog, es auch nicht ruhig hinnehmen, daß sie so für fremde Sünden büßen sollte. Kreischend stürzte sie wie eine Rasende auf Katerina Iwanowna los, der sie die Schuld an allem beimaß.

»Hinaus aus der Wohnung! Augenblicklich! Marsch, hinaus!«

Mit diesen Worten fing sie an, alles, was ihr von Katerina Iwanownas Sachen unter die Hände kam, auf dem Fußboden auf einen Haufen zusammenzuwerfen. Katerina Iwanowna, ohnehin schon völlig erschöpft, halb ohnmächtig, atemlos und blaß, sprang von dem Bette, auf das sie kraftlos niedergesunken war, in die Höhe und warf sich auf Amalia Iwanowna. Aber der Kampf war zu ungleich; Amalia Iwanowna stieß sie wie eine Feder von sich.

»Wie? Nicht genug daran, daß man uns auf das gottloseste verleumdet hat, will auch diese Kreatur ihr Mütchen an mir kühlen? Wie? Am Begräbnistage meines Mannes, nachdem sie eben an meinem gastlichen Tische gesessen hat, jagt sie mich aus der Wohnung, auf die Straße, mit den vaterlosen Waisen? Ja, wo soll ich denn bleiben?« stöhnte das arme Weib schluchzend und keuchend. »O Gott!« rief sie auf einmal, und ihre Augen funkelten, »gibt es denn keine Gerechtigkeit? Wenn du uns arme Verlassene nicht schützest, wen willst du denn dann schützen? Aber wir wollen einmal sehen! Es gibt noch Recht und Gerechtigkeit auf der Welt, und ich werde sie zu finden wissen! Und sofort! Warte nur, du gottloses Geschöpf! Polenjka, bleibe bei den Kindern; ich komme bald wieder. Wartet auf mich, wenn’s nicht anders ist, auf der Straße! Wir wollen doch einmal sehen, ob es noch Gerechtigkeit auf der Welt gibt!«

Katerina Iwanowna warf dasselbe grüne Tuch von drap de dame um den Kopf, das der verstorbene Marmeladow in seiner Erzählung Raskolnikow gegenüber erwähnt hatte, drängte sich durch den wüsten, betrunkenen Schwarm der Gäste hindurch, die noch immer das Zimmer füllten, und lief weinend und wehklagend auf die Straße hinaus, in der festen Absicht, irgendwo sofort unter allen Umständen und um jeden Preis Gerechtigkeit zu finden. Polenjka verkroch sich in ihrer Angst mit den Kindern in die Ecke auf den Kasten, umschlang, am ganzen Leibe zitternd, die beiden Kleinen und wartete so auf die Rückkehr der Mutter. Amalia Iwanowna tobte im Zimmer umher, kreischte, jammerte, schleuderte alles, was ihr in die Hände kam, auf den Fußboden und vollführte einen greulichen Spektakel. Die Mieter schrien durcheinander: manche redeten über das Vorgefallene, soweit sie es verstanden hatten; andere zankten sich und beschimpften sich; einige fingen an zu singen.

»Jetzt wird es auch für mich Zeit«, dachte Raskolnikow. »Nun wollen wir einmal sehen, Sofja Semjonowna, was Sie jetzt sagen werden!«

Er ging nach Sonjas Wohnung.

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Kapitel 16

II

Als Rasumichin am andern Tage zwischen sieben und acht Uhr erwachte, war er in recht ernster, sorgenvoller Stimmung. Eine Menge neuer, unvorhergesehener Bedenken drängte sich ihm jetzt am Morgen plötzlich auf. Er hätte früher nie gedacht, daß er jemals so aufwachen würde. Er erinnerte sich aller seiner gestrigen Erlebnisse bis auf die kleinsten Einzelheiten und war sich bewußt, daß mit ihm etwas Ungewöhnliches vorgegangen war, daß er einen ihm bisher völlig unbekannten Eindruck empfangen hatte, mit dem sich keiner der früheren vergleichen ließ. Gleichzeitig erkannte er mit voller Klarheit, daß an eine Verwirklichung des Zukunftstraumes, der in seinem Kopfe aufgezuckt war, nicht im entferntesten zu denken sei, so wenig zu denken sei, daß er sich dieses Traumes sogar schämte und möglichst schnell zu den andern, mehr der Wirklichkeit angehörenden Sorgen und Aufgaben überging, die »der verfluchte gestrige Tag« ihm hinterlassen hatte.

Die schauderhafteste Erinnerung war für ihn, wie »niedrig und gemein« er sich gestern gezeigt habe, nicht allein deswegen weil er betrunken gewesen war, sondern auch weil er, die schwierige Lage der jungen Dame ausnutzend, in ihrer Gegenwart aus Eifersucht und törichter Übereilung auf ihren Bräutigam geschimpft hatte, ohne daß er die gegenseitigen Beziehungen und Verpflichtungen der beiden, ja, ohne daß er diesen Menschen selbst ordentlich kannte. Und welches Recht hatte er überhaupt, so übereilt und vorschnell über ihn zu urteilen? Wer hatte ihn zum Richter berufen? Und war es denn denkbar, daß ein Wesen wie Awdotja Romanowna sich einem Unwürdigen um des Geldes willen hingab? Also mußte er doch auch einen sittlichen Wert besitzen. Das Hotel garni? Woher hätte er denn eigentlich in Erfahrung bringen können, was das für ein Hotel war? Er war doch dabei, eine ordentliche Wohnung einzurichten … Pfui, wie gemein er sich da in jeder Hinsicht benommen hatte! Und konnte etwa seine Betrunkenheit als Rechtfertigung gelten? Eine dumme Entschuldigung, durch die er sich nur noch mehr erniedrigte! Durch die Trunkenheit kommt nach dem Sprichwort die Wahrheit an den Tag, und nun war ja auch die ganze Wahrheit an den Tag gekommen, nämlich die ganze Gemeinheit seines neidischen, rohen Charakters! Durfte er, Rasumichin, sich eine solche Zukunftsträumerei denn überhaupt erlauben? Was war er im Vergleich mit einem solchen Mädchen – er, der betrunkene Krakeeler und Prahlhans von gestern? War denn eine so absurde, lächerliche Zusammenstellung überhaupt möglich? Rasumichin wurde bei diesem Gedanken vor Ärger und Verzweiflung ganz rot, und nun mußte ihm auch gerade jetzt noch einfallen, wie er ihnen gestern, als sie auf der Treppe standen, erzählt hatte, die Wirtin habe eine Zuneigung zu ihm und werde auf Awdotja Romanowna eifersüchtig werden, … das war ja nun vollends unerträglich. Wütend schlug er aus voller Kraft mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich dabei die Hand und schlug einen Mauerstein heraus.

›Natürlich‹, murmelte er nach einer kleinen Weile in dem Gefühle, daß er sich selbst entehrt habe, vor sich hin, ›natürlich lassen sich alle diese Gemeinheiten jetzt nie mehr wieder beschönigen und gutmachen, … folglich hat es keinen Zweck, daran auch nur noch zu denken; sondern ich habe eine stumme Rolle zu spielen und … meine Pflicht zu erfüllen, schweigend, und … und ich darf nicht um Verzeihung bitten und darf überhaupt nicht davon reden, und … und natürlich ist nun alles für mich verloren!‹

Dessenungeachtet musterte er beim Ankleiden seinen Anzug sorgsamer als sonst. Einen andern Anzug besaß er nicht, und hätte er einen andern gehabt, so hätte er ihn vielleicht doch nicht angezogen, absichtlich nicht. Andrerseits mochte er auch nicht wie ein Strolch und Schmutzfink auftreten; er durfte die Gefühle andrer nicht verletzen, um so weniger, da diese andern ihn nötig hatten und ihn selbst zu sich beriefen. Daher reinigte er seine Kleider auf das sorgfältigste mit einer Bürste. Seine Wäsche war immer leidlich; in dieser Hinsicht war er besonders auf Sauberkeit bedacht.

Auch wusch er sich an diesem Morgen gründlicher – er hatte sich von Nastasja Seife geben lassen –; er wusch sich das Haar, den Hals und namentlich die Hände. Als aber die Frage an ihn herantrat, ob er seine Stoppeln wegrasieren sollte oder nicht (Praskowja Pawlowna besaß vorzügliches Rasierzeug, das noch von ihrem seligen Gatten, Herrn Sarnizyn, herrührte), so entschied er diese Frage sogar mit einem gewissen Ingrimm in verneinendem Sinne: ›Mag es bleiben, wie es ist! Wenn die etwa denken, ich hätte mich rasiert, um … und bestimmt würden sie das denken! Nein, um keinen Preis! – Das schlimmste ist, daß ich so ein ungeschliffener, schmutziger Patron bin und solche Kneipenmanieren an mir habe, … ich weiß ja freilich, daß ich wenigstens ein leidlich anständiger Mensch bin; na, aber damit kann man doch nicht prahlen, daß man ein anständiger Mensch ist. Ein anständiger Mensch muß eben jeder sein, und noch ein bißchen mehr, und … und ich habe doch auch schon dies und das angestellt, … nicht eigentlich etwas Ehrloses, aber doch … Und was habe ich manchmal für Gedanken im Kopfe gehabt! Hm! All das mit Awdotja Romanowna in Parallele zu stellen, das ist ja Verrücktheit! Na, hol´s der Teufel! Mir ganz egal! Nun will ich mich gerade als recht schmutziger, schmieriger Kneipenbruder zeigen und mich um nichts scheren! Nun gerade!‹

Bei solchen Selbstgesprächen traf ihn Sossimow an, der in Praskowja Pawlownas Wohnstube die Nacht zugebracht hatte.

Er wollte nun nach Hause gehen, vorher aber noch einmal nach dem Kranken sehen. Rasumichin berichtete ihm, daß dieser wie ein Murmeltier schlafe. Sossimow ordnete an, daß er nicht geweckt werden sollte, ehe er nicht von selbst aufwache; er versprach, selbst nach zehn Uhr wieder mit heranzukommen.

»Wenn ich ihn dann nur zu Hause treffe«, fügte er hinzu. »Eine tolle Geschichte: so ein Kranker läßt sich von seinem Arzte nichts sagen, und da soll man ihn behandeln! Weißt du vielleicht, ob er zu denen geht oder die hierherkommen?«

»Ich glaube, die kommen hierher«, erwiderte Rasumichin, der den Zweck der Frage verstand, »und natürlich werden sie über ihre Familienangelegenheiten sprechen. Ich mache mich dann davon. Du, als Arzt, hast selbstverständlich weitergehende Rechte als ich.«

»Ein Beichtvater bin ich auch nicht; ich werde kommen, aber baldigst wieder gehen; ich habe mit meiner sonstigen Praxis genug zu tun.«

»Eines beunruhigt mich«, unterbrach ihn Rasumichin mit finsterem Gesichte, »ich habe ihm gestern in meiner Trunkenheit unterwegs allerlei Dummheiten vorgeschwatzt, … unter anderm habe ich ihm von deiner Befürchtung gesagt, … von deiner Befürchtung, daß sich bei ihm eine Geisteskrankheit entwickeln könnte.«

»Auch zu den Damen hast du gestern davon geplaudert.«

»Ich weiß, daß das dumm von mir war! Meinetwegen prügle mich dafür! Aber sage mal, glaubtest du das im Ernst?«

»Ach, Unsinn! Wie werde ich das denn im Ernst glauben! Du selbst hast ja, als du mich zu ihm holtest, es so dargestellt, als sei er von einer fixen Idee besessen … Na, und gestern haben wir die Sache noch verschlimmert, das heißt du, durch deine Erzählungen von dem Malergesellen; ein sehr geeignetes Gespräch, wenn möglicherweise sein Fieber und Irrereden von diesem Anlaß herrührt! Hätte ich genau gewußt, was damals im Polizeibureau passiert war, und daß ihn da so eine Kanaille mit diesem Verdachte beleidigt hatte, hm, dann hätte ich gestern ein solches Gespräch nicht geduldet. Leute mit einer derartigen fixen Idee machen ja aus einer Mücke einen Elefanten und sehen in wachem Zustande die unglaublichsten Dinge leibhaftig vor sich … Gestern ist mir aus Sametows Erzählung die Sache schon so halb und halb verständlich geworden. Es kommen noch seltsamere Dinge vor! Ich kenne einen Fall, wo ein Hypochonder, ein Mann von vierzig Jahren, nicht imstande war, es zu ertragen, daß ein achtjähriger Knabe sich täglich bei Tische über ihn lustig machte; er ermordete ihn deswegen! Und nun in vorliegendem Falle: er in Lumpen, ein frecher Polizeibeamter, eine sich entwickelnde Krankheit, und nun dazu so eine Verdächtigung! Bei einem so krassen Hypochonder! Mit einem rasenden, grenzenlosen Ehrgefühl! Da steckt vielleicht der eigentliche Ausgangspunkt der Krankheit. Na, hol die ganze Geschichte der Kuckuck! … Apropos, dieser Sametow ist ja wirklich ein ganz netter junger Mensch; aber … hm! … er hätte das gestern nicht alles zu erzählen brauchen. Ein rechter Schwatzmichel!«

»Wem hat er es denn erzählt? Doch nur dir und mir!«

»Und Porfirij.«

»Na, und wenn er es auch dem erzählt hat, was schadet das?«

»Was ich noch sagen wollte: hast du irgendwelchen Einfluß auf die beiden, ich meine auf die Mutter und die Schwester? Sie sollten ihn heute recht vorsichtig behandeln …«

»Sie werden sich schon vertragen!« antwortete Rasumichin mißmutig.

»Und warum ist er nur so ergrimmt auf diesen Lushin? Er ist doch ein wohlhabender Mann, und ihr scheint er nicht unangenehm zu sein, … und sie stecken ja in arger Geldklemme? Nicht wahr?«

»Wozu fragst du mich aus?« rief Rasumichin gereizt.

»Woher soll ich wissen, ob sie sich in Geldklemme befinden oder nicht? Frage sie doch selbst; vielleicht erfährst du es dann …«

»Hör mal, wie bist du doch manchmal verdreht! Wohl noch die Nachwirkung der gestrigen Betrunkenheit! … Auf Wiedersehen! Übermittle deiner Praskowja Pawlowna meinen Dank für das Nachtlager. Sie hatte sich eingeschlossen; ich rief ihr durch die Tür ›Guten Morgen!‹ zu; aber sie antwortete nicht. Sie war schon um sieben Uhr aufgestanden und ließ sich den Samowar aus der Küche durch den Korridor bringen. Ich bin ihres persönlichen Anblicks nicht für würdig befunden worden.«

Punkt neun Uhr stellte sich Rasumichin in dem Bakalejewschen Hotel garni ein. Die beiden Damen warteten auf ihn schon lange mit schmerzlicher Ungeduld. Aufgestanden waren sie schon um sieben Uhr oder noch früher. Er trat mit einem Gesichte, finster wie die Nacht, ein und machte eine unbeholfene Verbeugung, worüber er sofort auf sich selbst wütend wurde. Aber von ganz anderer Art waren die Empfindungen der Damen: Pulcheria Alexandrowna eilte auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und hätte sie beinahe geküßt. Er warf einen schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna; aber auch dieses stolze Gesicht zeigte in diesem Augenblicke einen solchen Ausdruck von Dankbarkeit und Freundlichkeit und einer von ihm ganz unerwarteten vollkommenen Achtung (statt spöttischer Blicke und unwillkürlicher, schlecht verhehlter Geringschätzung), daß ihm tatsächlich leichter ums Herz gewesen wäre, wenn man ihn mit Scheltworten empfangen hätte; denn so wurde er gar zu verlegen. Zum Glück lag ein Gesprächsthema sehr nahe, und er ergriff dasselbe unverzüglich.

Als Pulcheria Alexandrowna hörte, daß Rodja noch nicht aufgewacht sei und alles ausgezeichnet stände, erklärte sie, daß ihr dies sehr erwünscht sei, da sie vorher noch dringend, ganz dringend mit ihm zu reden habe. Es folgte zunächst die Frage, ob er schon Tee getrunken habe, und die Einladung, mit ihnen zusammen zu trinken; denn in der Erwartung, daß Rasumichin bald kommen würde, hatten sie selbst noch nicht getrunken. Awdotja Romanowna klingelte, worauf ein schmutziges Subjekt in schäbiger Kleidung erschien. Bei diesem wurde Tee bestellt, der denn auch schließlich kam, aber in so unsauberer und unfeiner Ausstattung, daß die Damen sich schämten. Rasumichin setzte schon dazu an, sehr kräftig über dieses Hotel garni zu schimpfen; aber bei dem Gedanken an Lushin verstummte er, wurde verlegen und war heilfroh, als nun endlich Pulcheria Alexandrownas Fragen wie ein Hagelwetter auf ihn losprasselten.

Ihre Beantwortung nahm drei viertel Stunden in Anspruch, da er fortwährend durch neue Fragen unterbrochen wurde. Er teilte den Damen alles mit, was er an wichtigen und wissenswerten Tatsachen aus Rodjas letztem Lebensjahre nur irgend wußte, und schloß mit einer ausführlichen Erzählung von seiner Krankheit. Er überging jedoch vieles, dessen Übergehung ihm zweckmäßig schien, unter anderm den Auftritt auf dem Polizeibureau nebst allem, was sich daran angeschlossen hatte. Die Damen hörten gespannt zu; aber als er nun glaubte, er sei fertig und seine Zuhörerinnen seien zufriedengestellt, da zeigte es sich, daß er für ihre Wißbegierde kaum angefangen hatte.

»Bitte, sagen Sie mir doch, was glauben Sie, … ach, entschuldigen Sie, ich kenne noch nicht Ihren Vor- und Vatersnamen!« sagte Pulcheria Alexandrowna eifrig.

»Dmitrij Prokofjitsch.«

»Also, Dmitrij Prokofjitsch, ich möchte sehr, sehr gern wissen, … wie er überhaupt … wie er jetzt das Leben anschaut, ich meine, verstehen Sie mich recht, wie soll ich mich ausdrücken? ich meine: wohin gehen seine Neigungen und Abneigungen? Ist er immer so reizbar? Was hat er für Wünsche und, um mich so auszudrücken, für Zukunftspläne? Was übt jetzt auf ihn besonderen Einfluß aus? Kurz, ich möchte gern wissen …«

»Aber, Mama, diese Fragen lassen sich doch nicht alle so mit einem Male beantworten!« bemerkte Awdotja Romanowna.

»Ach, mein Gott, ich hatte ihn ja ganz anders zu finden erwartet, Dmitrij Prokofjitsch.«

»Nun, das ist ja ganz natürlich«, erwiderte Dmitrij Prokofjitsch. »Eine Mutter habe ich zwar nicht mehr; aber ein Onkel von mir, der alle Jahre einmal herkommt, findet mich immer so verändert, selbst im Äußern, daß er mich gar nicht wiedererkennt, und dabei ist er ein ganz kluger Mann. Na, und die drei Jahre, wo Sie Rodja nicht gesehen haben, das ist doch eine lange, lange Zeit. Ja, was soll ich Ihnen nun über ihn sagen? Ich kenne ihn seit anderthalb Jahren: er ist mürrisch, finster, hochmütig und stolz; in der letzten Zeit (vielleicht aber auch schon erheblich früher) ist er argwöhnisch und hypochondrisch geworden. Er ist hochherzig und brav. Seine Gefühle zu zeigen liebt er nicht und begeht eher eine Grausamkeit, als daß er mit Worten seine Herzensempfindung zum Ausdruck brächte. Manchmal indessen ist er ganz und gar nicht hypochondrisch, sondern einfach kalt und gefühllos bis zur Unmenschlichkeit, geradezu als ob bei ihm zwei entgegengesetzte Charaktere einander ablösten. Mitunter ist er furchtbar schweigsam. Nie hat er Zeit; immer stört man ihn; aber dabei liegt er nur da, ohne irgend etwas zu tun. Er ist nicht spottlustig, und zwar nicht daß es ihm an Witz mangelte, sondern als ob er für solche Possen keine Zeit hätte. Wenn man ihm etwas sagt, so hört er gar nicht bis zu Ende zu. Niemals interessiert er sich für das, wofür sich gerade alle andern interessieren. Er hat von sich selbst eine gewaltig hohe Meinung, und wohl nicht ganz ohne Grund. Nun, was wünschen Sie noch weiter zu wissen? … Ich denke, Ihre Ankunft wird auf ihn eine recht wohltätige Wirkung ausüben.«

»Ach, das gebe Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna; sie fühlte sich sehr bedrückt durch die Schilderung, die Rasumichin von ihrem Rodja gemacht hatte.

Endlich getraute sich Rasumichin, auch Awdotja Romanowna etwas mutiger anzusehen. Er hatte ihr während des vorhergehenden Gespräches häufig einen Blick zugeworfen, aber nur flüchtig, nur für eine Sekunde, und hatte dann immer sogleich wieder die Augen weggewendet. Awdotja Romanowna hatte sich bald an den Tisch gesetzt und aufmerksam zugehört, bald wieder war sie aufgestanden und hatte angefangen, nach ihrer Gewohnheit mit verschränkten Armen und zusammengepreßten Lippen von einer Ecke des Zimmers nach der andern zu gehen; ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, stellte sie ab und zu ihrerseits eine Frage und versank dann wieder in ihre Gedanken. Auch sie hatte die Gewohnheit, das, was der andre sagte, nicht ganz bis zu Ende zu hören. Sie trug ein leichtes dunkles Kleid und hatte ein weißes, durchscheinendes Tüchelchen um den Hals geknüpft. Aus vielen Anzeichen hatte Rasumichin sehr schnell erkannt, daß die Verhältnisse der beiden Frauen äußerst dürftige sein mußten. Wäre Awdotja Romanowna wie eine Königin gekleidet gewesen, so hätte er sich wahrscheinlich gar nicht vor ihr gefürchtet; so aber hatte vielleicht gerade deshalb, weil sie so ärmlich gekleidet war und er die ganze trübe Lage durchschaute, sich seiner eine merkwürdige Scheu bemächtigt, und er war bei jedem seiner Worte, bei jeder seiner Bewegungen in Angst, er könnte einen Verstoß begehen; dies machte natürlich einen Menschen, der ohnehin kein großes Selbstvertrauen besaß, außerordentlich verlegen.

»Sie haben uns viel Interessantes über den Charakter meines Bruders mitgeteilt, … und Sie haben dabei unparteiisch geurteilt. Das ist recht; ich hatte gedacht, Sie wären ein blinder Verehrer von ihm«, bemerkte Awdotja Romanowna lächelnd. »Ich glaube, auch das ist richtig, daß er ein weibliches Wesen um sich haben muß«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Davon habe ich nichts gesagt; indessen haben Sie vielleicht auch darin recht, nur …«

»Nun?«

»Er liebt ja niemand und wird auch vielleicht nie jemand lieben«, erwiderte Rasumichin rasch.

»Sie meinen, er ist unfähig, jemand zu lieben?«

»Wissen Sie, Awdotja Romanowna, Sie selbst haben mit Ihrem Bruder eine ganz außerordentliche Ähnlichkeit, aber auch in allen Stücken!« platzte er plötzlich unwillkürlich heraus; sofort aber fiel ihm ein, was er ihr soeben über ihren Bruder gesagt hatte, und er wurde rot wie ein Krebs und schrecklich verlegen.

Awdotja Romanowna mußte laut auflachen, als sie ihn ansah.

»Was Rodja anlangt, so könntet ihr euch doch beide leicht irren«, mischte sich Pulcheria Alexandrowna etwas empfindlich ein. »Ich rede nicht von der Gegenwart, Dunjetschka. Was uns Pjotr Petrowitsch da in diesem Briefe schreibt, und was wir beide, du und ich, vorläufig als wahr angenommen haben, das ist vielleicht gar nicht wahr; aber Sie können sich gar keine Vorstellung davon machen, Dmitrij Prokofjitsch, wie phantastisch und, ich möchte sagen, launenhaft er ist. Verlaß war auf seinen Charakter niemals, selbst nicht, als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin überzeugt, er ist auch jetzt imstande, auf einmal irgend etwas zu unternehmen, was einem andern Menschen nie in den Sinn kommen würde zu tun … Wir haben ja dafür ein ganz naheliegendes Beispiel: ist es Ihnen bekannt, was für einen Todesschreck er mir vor anderthalb Jahren einjagte, als er auf den Einfall kam, dieses Fräulein – wie hieß sie doch? – die Tochter der Frau Sarnizyna, seiner Wirtin, zu heiraten?«

»Wissen Sie etwas Genaueres über diese Geschichte?« fragte Awdotja Romanowna.

»Meinen Sie etwa«, fuhr Pulcheria Alexandrowna erregt fort, »daß er sich damals durch meine Tränen, durch meine Bitten, durch den Gedanken an unsere Armut hätte zurückhalten lassen? Und wenn ich vor Gram krank geworden und vielleicht gar gestorben wäre, so hätte er sich dadurch nicht davon abbringen lassen. Seelenruhig wäre er über all diese Hindernisse hinweggeschritten. Aber sollte er uns denn wirklich, wirklich nicht lieben?«

»Er selbst hat mir nie etwas von dieser Geschichte erzählt«, antwortete Rasumichin vorsichtig, »aber ich habe einiges wenige von Frau Sarnizyna gehört, die sich gleichfalls nicht durch Mitteilsamkeit auszeichnet, und was ich gehört habe, ist vielleicht ein bißchen eigentümlich.«

»Was haben Sie denn gehört?« fragten die beiden Frauen gleichzeitig.

»Nun, etwas besonders Schlimmes, ganz Abnormes war es ja eigentlich nicht. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die schon eine völlig abgemachte Sache war und nur wegen des Todes der Braut nicht zustande kam, der Frau Sarnizyna selbst durchaus nicht recht war … Außerdem soll die Braut nicht einmal hübsch gewesen sein, vielmehr sogar geradezu häßlich … und kränklich … und sonderbar, … aber sie wird ja wohl auch ihre guten Eigenschaften gehabt haben. Irgendwelche guten Eigenschaften muß sie jedenfalls besessen haben, sonst könnte man ja die ganze Sache schlechterdings nicht begreifen … Mitgift hatte sie auch gar keine; und auf Mitgift hätte er auch nicht gesehen … Es ist überhaupt schwer, sich in einer solchen Sache ein Urteil zu bilden.«

»Ich bin überzeugt, daß sie seiner Liebe würdig war«, bemerkte Awdotja Romanowna kurz.

»Gott wird es mir verzeihen, aber ich habe mich damals ordentlich über ihren Tod gefreut, obwohl ich nicht weiß, wer von ihnen beiden den andern zugrunde gerichtet hätte, er sie oder sie ihn«, sagte Pulcheria Alexandrowna und schloß damit diesen Gegenstand ab. Dann begann sie, vorsichtig und stockend, sich wieder nach dem gestrigen Auftritt zwischen Rodja und Lushin zu erkundigen; sie warf dabei fortwährend ihrer Tochter Blicke zu, was dieser offenbar unangenehm war.

Es war ihr anzumerken, daß dieser Vorfall sie ganz besonders beunruhigte; sie zitterte geradezu vor Besorgnis. Rasumichin erzählte alles noch einmal mit allen Einzelheiten, fügte aber diesmal die Meinung, die er sich gebildet hatte, hinzu: er beschuldigte nämlich Raskolnikow, daß er Pjotr Petrowitsch mit vollem Vorbedacht beleidigt habe, und wollte diesmal seine Krankheit als Entschuldigung nicht recht gelten lassen.

»Er hatte sich das schon vor seiner Krankheit vorgenommen«, fügte er hinzu.

»Das glaube ich auch«, sagte Pulcheria Alexandrowna sehr niedergeschlagen.

Sie war aber sehr verwundert, daß Rasumichin diesmal von Pjotr Petrowitsch so vorsichtig und sogar mit einer gewissen Achtung sprach. Auch Awdotja Romanowna wunderte sich darüber.

»Das ist also Ihre Meinung über Pjotr Petrowitsch?« konnte sich Pulcheria Alexandrowna nicht enthalten zu fragen.

»Über den künftigen Gatten Ihrer Tochter kann ich keiner anderen Meinung sein«, erwiderte Rasumichin fest und mit besonderer Wärme, »und ich sage das nicht aus bloßer trivialer Höflichkeit, sondern weil … weil … nun, schon allein deswegen, weil Awdotja Romanowna selbst nach eigenem Willen diesen Mann für wert erachtet hat, ihr Gatte zu werden. Wenn ich ihn gestern verunglimpft habe, so erklärt sich das daher, weil ich gestern schmählich betrunken war und außerdem auch noch von Sinnen; jawohl, von Sinnen war ich, ganz ohne Verstand; verrückt war ich geworden, vollständig, … und heute schäme ich mich darüber!«

Er hatte einen ganz roten Kopf bekommen und verstummte. Auch Awdotja Romanowna war dunkelrot geworden, schwieg aber weiter. Von dem Augenblicke an, wo die Rede auf Lushin gekommen war, hatte sie kein Wort gesagt.

Unterdessen fühlte sich Pulcheria Alexandrowna ohne ihre Unterstützung offenbar unsicher. Schließlich sagte sie stockend, und indem sie fortwährend ihre Tochter fragend anblickte, daß ein Umstand ihr jetzt große Sorge mache.

»Sehen Sie, Dmitrij Prokofjitsch«, fing sie an. »Nicht wahr, Dunja, ich kann doch gegen Dmitrij Prokofjitsch ganz offenherzig sein?«

»Aber natürlich, Mama!« erwiderte Awdotja Romanowna mit nachdrücklicher Betonung.

»Die Sache ist nämlich die«, begann sie nun eilig ihre Auseinandersetzung, als ob ihr durch die Erlaubnis, ihren Kummer mitzuteilen, eine schwere Last von der Seele genommen wäre. »Heute in aller Frühe erhielten wir von Pjotr Petrowitsch einen Brief als Antwort auf unsere gestrige Anzeige von unserer Ankunft. Sehen Sie, er hätte uns eigentlich gestern, wie er uns das auch versprochen hatte, gleich auf dem Bahnhof empfangen sollen. Statt dessen schickte er zu unserm Empfange nach dem Bahnhofe einen Kellner, der uns die Adresse dieses Hotels geben und uns den Weg zeigen sollte, und ließ uns sagen, er würde uns heute früh hier persönlich aufsuchen. Aber statt seiner kam heute früh von ihm dieser Brief hier … Das beste ist, wenn Sie ihn selbst lesen; es ist eine Sache darin, die mich sehr beunruhigt … Sie werden sofort selbst sehen, welche Sache ich meine, und … ich bitte Sie, Dmitrij Prokofjitsch, mir ganz offenherzig Ihre Meinung zu sagen! Sie kennen Rodjas Charakter besser als jeder andere und können uns daher am besten Rat geben. Ich will nur noch vorher bemerken, daß Dunjetschka sich sofort eine bestimmte Meinung darüber gebildet hat, was wir nun zu tun haben, daß ich für meine Person aber noch nicht weiß, wie wir uns verhalten sollen; ich habe auf Sie gewartet.«

Rasumichin entfaltete den Brief, der vom vorhergehenden Tage datiert war, und las folgendes:

»Gnädige Frau, Pulcheria Alexandrowna! Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß es mir wegen eingetretener plötzlicher Abhaltungen nicht möglich war, Sie auf dem Bahnsteige zu empfangen, und ich Ihnen daher zu diesem Zwecke einen sehr gewandten Menschen hinsandte. Desgleichen werde ich auch morgen früh nicht die Ehre haben können, Sie wiederzusehen, sowohl wegen unaufschiebbarer Geschäfte beim Senat, als auch um nicht bei dem Wiedersehen der Mutter mit dem Sohne und der Schwester mit dem Bruder zu stören. Ich werde also die Ehre, Sie in Ihrer Wohnung zu besuchen und zu begrüßen, erst etwas später haben, und zwar pünktlich morgen um acht Uhr abends, wobei ich mir die Freiheit nehme, die inständige und – wie ich hinzufügen möchte – dringende Bitte anzuschließen, daß bei unserem gemeinsamen Wiedersehen Rodion Romanowitsch nicht zugegen sein möge, weil er, als ich ihm heute einen Krankenbesuch abstattete, mich in einer unerhört unhöflichen Weise beleidigt hat und weil ich außerdem mit Ihnen eine notwendige, eingehende persönliche Aussprache über einen bestimmten Punkt haben möchte, hinsichtlich dessen ich Ihre eigene Auffassung zu erfahren wünsche. Dabei beehre ich mich, im voraus mitzuteilen, daß, wenn ich meiner Bitte zuwider Rodion Romanowitsch bei Ihnen antreffen sollte, ich mich genötigt sehen würde, mich sofort zu entfernen; Sie würden sich dann die Schuld selbst zuzuschreiben haben. Ich schreibe dies in der Voraussetzung, daß sein Gesundheitszustand Ihren Sohn nicht hindern würde, zu Ihnen zu kommen; denn obwohl er bei meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, wurde er zwei Stunden darauf plötzlich gesund und ging aus. Davon habe ich mich mit eigenen Augen überzeugen können, und zwar in der Wohnung eines von einem Wagen überfahrenen Trunkenboldes, der an den Folgen dieses Unfalls gestorben ist. Der Tochter dieses Menschen, einem Mädchen von notorisch schlechtem Lebenswandel, hat er heute etwa fünfundzwanzig Rubel geschenkt, unter dem Vorwande, daß sie zur Bestreitung der Begräbniskosten dienen sollten. Ich habe mich darüber sehr gewundert, da ich weiß, wieviel Mühe und Not es Ihnen gemacht hat, diese Summe aufzubringen. Indem ich auch der verehrten Awdotja Romanowna meine besondere Hochachtung ausspreche, bitte ich Sie, den Ausdruck meiner ehrerbietigen Ergebenheit entgegennehmen zu wollen.

Ihr gehorsamster Diener
P. Lushin.«

»Was soll ich nun tun, Dmitrij Prokofjitsch?« fragte Pulcheria Alexandrowna beinahe weinend. »Wie kann ich an Rodja das Ansinnen stellen, nicht zu uns zu kommen? Er verlangte gestern so hartnäckig, wir sollten an Pjotr Petrowitsch einen Absagebrief schreiben, und nun soll ich seinen eigenen Besuch nicht annehmen! Wenn er es erfährt, wird er gerade erst recht kommen, und … was wird dann daraus werden?«

»Handeln Sie so, wie Awdotja Romanowna es für richtig erachtet hat«, erwiderte Rasumichin sofort mit ruhiger Bestimmtheit.

»Ach, mein Gott! Sie sagt … sie sagt etwas ganz Wunderliches und erklärt mir nicht, was das für einen Zweck haben soll! Sie sagt, das beste würde sein, das heißt, nicht eigentlich das beste, sondern es sei, ich weiß nicht zu welchem Zwecke, unbedingt erforderlich, daß auch Rodja heute um acht Uhr herkäme und die beiden sich hier träfen … Und ich wollte ihm gar nicht einmal den Brief zeigen, sondern es durch Ihre Vermittlung, ohne daß er etwas merkte, so einrichten, daß er nicht herkäme, … er ist ja so reizbar … Und ich verstehe auch gar nicht, was da für ein Trunkenbold gestorben ist, und was das für eine Tochter ist, und wie er dieser Tochter sein ganzes letztes Geld hingeben konnte, … dieses Geld, das …«

»Das für Sie ein so schweres Opfer bedeutet, Mama«, fügte Awdotja Romanowna hinzu.

»Er war gestern nicht im vollen Besitze seiner geistigen Kräfte«, sagte Rasumichin nachdenklich. »Wenn Sie erst wüßten, was er da gestern in einem Restaurant für eine Geschichte gemacht hat; es war ja allerdings ganz klug … Hm! Von einem Gestorbenen und von einem Mädchen hat er mir gestern tatsächlich etwas gesagt, als wir nach seiner Wohnung gingen; aber ich habe kein Wort davon verstanden … Übrigens war ich auch selbst gestern …«

»Liebe Mama, das beste ist wohl, wir gehen selbst zu ihm hin; ich glaube bestimmt, wir werden uns dort ohne weiteres darüber klarwerden, was zu tun ist. Und es wird auch wohl schon Zeit sein. Herr Gott! Schon zehn durch!« rief sie nach einem Blicke auf ihre prachtvolle goldene, emaillierte Uhr, die sie an einer feinen venezianischen Kette um den Hals trug und die mit ihrem Anzuge gar nicht harmonierte.

›Ein Geschenk des Bräutigams‹, dachte Rasumichin.

»Ach ja, es ist Zeit, … höchste Zeit, Dunja!« stimmte ihr Pulcheria Alexandrowna bei und geriet in unruhige Hast. »Er wird am Ende denken, wir sind ihm noch von gestern her böse, wenn wir so lange ausbleiben. Ach, mein Gott!«

Bei diesen Worten legte sie eilfertig ihre Mantille um und setzte den Hut auf; Awdotja Romanowna machte sich gleichfalls zurecht. Ihre Handschuhe waren nicht nur stark abgenutzt, sondern sogar zerrissen, was Rasumichin bemerkte; indessen verlieh diese augenfällige Ärmlichkeit der Kleidung den beiden Damen sogar ein besonders achtungswertes Aussehen, wie das stets bei Leuten der Fall ist, die es verstehen, ärmliche Kleidung zu tragen. Rasumichin blickte das junge Mädchen in stiller Verehrung an und war stolz darauf, sie begleiten zu dürfen. ›Jene Königin‹, dachte er bei sich, ›die im Gefängnis ihre Strümpfe ausbesserte, sah gewiß in jenem Augenblicke wie eine echte Königin aus, ja, wohl noch in höherem Grade als bei den prachtvollsten Hoffesten und Galaempfängen.‹

»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna, »hätte ich wohl je gedacht, daß ich mich vor einem Wiedersehen mit meinem Sohne, mit meinem lieben, lieben Rodja fürchten würde, wie ich es jetzt wirklich tue! … Ich fürchte mich davor, Dmitrij Prokofjitsch«, fügte sie hinzu und blickte ihn schüchtern an.

»Fürchten Sie sich nicht, liebe Mama«, sagte Awdotja Romanowna und küßte sie. »Haben Sie lieber Vertrauen zu ihm wie ich.«

»Ach, mein Gott! Vertrauen habe ich ja auch; aber ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen!« rief die arme Frau. Sie traten auf die Straße hinaus.

»Weißt du, Dunjetschka, als ich heute morgen ein bißchen eingeschlafen war, träumte mir von der verstorbenen Marfa Petrowna, … sie war ganz in Weiß, … sie trat auf mich zu, ergriff meine Hand und schüttelte den Kopf mit so ernster, strenger Miene, als wollte sie mir einen schweren Vorwurf machen …. Ob das auch etwas Gutes zu bedeuten hat? Ach, mein Gott, Sie wissen wohl noch gar nicht, Dmitrij Prokofjitsch: Marfa Petrowna ist gestorben!«

»Nein, ich wußte es nicht; wer ist das, Marfa Petrowna?«

»Ganz urplötzlich! Und denken Sie sich nur …«

»Erzählen Sie es ein andermal, Mama!« unterbrach sie Awdotja Romanowna. »Dmitrij Prokofjitsch weiß ja auch noch gar nicht, wer Marfa Petrowna ist.«

»Ach, Sie wissen nicht von ihr? Und ich glaubte, es wäre Ihnen bereits alles bekannt. Verzeihen Sie mir, Dmitrij Prokofjitsch; ich weiß in diesen Tagen gar nicht, wo mir der Kopf steht. Ich sehe Sie wirklich geradezu für unsern Schutzengel an, und darum war ich auch so sicher, daß Ihnen alles schon bekannt wäre. Ich betrachte Sie wie einen lieben Verwandten … Seien Sie nicht böse, daß ich so offen rede. Ach du mein Gott, was ist denn mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie sich verletzt?«

»Ja, ich habe mich verletzt«, murmelte Rasumichin ganz glückselig.

»Ich rede manchmal gar zu offenherzig, so daß Dunja mich schilt … Aber, mein Gott, in was für einem elenden Kämmerchen wohnt er! Ob er jetzt wohl schon aufgewacht ist? Und diese Frau, seine Wirtin, rechnet ihm das als Zimmer an! Noch eins: Sie sagten, er liebe es nicht, sein Herz zu zeigen; da werde ich ihm vielleicht mit dieser meiner Schwäche mißfallen? … Möchten Sie mich nicht belehren, Dmitrij Prokofjitsch, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll? Wissen Sie, ich bin ganz rat- und hilflos!«

»Hören Sie auf, nach etwas zu fragen, wenn Sie sehen, daß er ein finsteres Gesicht macht; fragen Sie ihn namentlich nicht zuviel nach seiner Gesundheit; das mag er nicht.«

»Ach, Dmitrij Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein! Aber da sind wir ja schon an der Treppe! … Was für eine gräßliche Treppe das ist!«

»Sie sind so blaß, liebe Mama, beruhigen Sie sich doch!« sagte Awdotja Romanowna und streichelte sie liebkosend. »Er muß doch glücklich darüber sein, Sie zu sehen, und Sie martern sich mit solchen Sorgen!« fügte sie mit blitzenden Augen hinzu.

»Warten Sie einen Augenblick; ich möchte erst einmal nachsehen, ob er schon aufgewacht ist.«

Die Damen gingen langsam hinter Rasumichin her, der ihnen voran die Treppe hinaufstieg, und als sie im dritten Stock an der Wohnung der Wirtin vorbeikamen, bemerkten sie, daß die Tür einen kleinen Spalt weit geöffnet war und daß zwei sich lebhaft bewegende schwarze Augen aus dem dunklen Raume sie beide beobachteten. Als ihre Blicke sich trafen, wurde die Tür plötzlich zugeschlagen, und zwar mit einem solchen Knall, daß Pulcheria Alexandrowna beinahe vor Schrecken aufgeschrien hätte.

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Kapitel 17

III

»Er ist gesund! Er ist gesund!« rief Sossimow den Eintretenden fröhlich entgegen.

Er war schon vor etwa zehn Minuten gekommen und saß in derselben Sofaecke wie gestern. Raskolnikow saß ihm gegenüber in der andern Ecke, vollständig angekleidet und sogar sauber gewaschen und sorgfältig gekämmt, was bei ihm schon recht lange nicht mehr dagewesen war. Das Zimmer hatte sich auf einmal gefüllt; aber Nastasja hatte es doch fertiggebracht, hinter den Besuchern mit hereinzuschlüpfen, um zuzuhören.

Raskolnikow war wirklich fast gesund, namentlich im Vergleich mit gestern; nur war er sehr blaß, zerstreut und finster. Äußerlich sah er aus wie ein Verwundeter oder wie jemand, der einen starken, physischen Schmerz erduldet: die Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen aufeinandergepreßt, der Blick hatte etwas Flackerndes. Er sprach nur wenig und widerwillig, als wenn es ihn übermäßige Anstrengung kostete, oder als wenn er lediglich eine Pflicht erfüllte, und in seinen Bewegungen machte sich mitunter eine gewisse Unruhe bemerkbar.

Es fehlte nur ein Verband an der Hand oder ein taftener Überzug am Finger, um die Ähnlichkeit mit einem Patienten vollständig zu machen, der etwa ein böses Geschwür am Finger oder eine Verletzung an der Hand oder sonst dergleichen hat.

Aber über dieses blasse, finstere Gesicht flog es für einen Augenblick wie ein heller Strahl, als die Mutter und die Schwester eintraten; zugleich jedoch ging die bisherige melancholische Zerstreutheit in den Ausdruck qualvollen Leidens über. Der helle Strahl verschwand schnell wieder; aber der Ausdruck des Leidens blieb, und Sossimow, der seinen Patienten mit dem ganzen jugendlichen Eifer eines erst kürzlich in die Praxis eingetretenen Arztes beobachtete und studierte, bemerkte zu seinem Staunen, daß sich auf dessen Gesichte nach der Ankunft seiner Angehörigen nicht etwa Freude spiegelte, sondern der heimliche, schwere Entschluß, nun ein bis zwei Stunden lang eine Folter auszuhalten, der eben nicht mehr zu entgehen sei. Später sah er dann, wie fast jedes Wort des nun folgenden Gespräches gleichsam an eine Wunde seines Patienten rührte und sie wieder schmerzhaft machte; gleichzeitig war er aber manchmal erstaunt, wie der Mensch, der gestern noch an seiner fixen Idee gelitten hatte und sich durch das harmloseste Wort hatte in Raserei versetzen lassen, es heute verstand, sich zu beherrschen und seine Gefühle zu verbergen.

»Ja, ich sehe jetzt selbst, daß ich beinahe gesund bin«, sagte Raskolnikow und küßte die Mutter und die Schwester freundlich, worüber Pulcheria Alexandrownas Gesicht vor Freude strahlte, »und das ist nicht so eine leere Behauptung von mir wie gestern«, fügte er, zu Rasumichin gewendet, hinzu und drückte ihm freundschaftlich die Hand.

»Ich bin heute ordentlich erstaunt über ihn gewesen«, begann Sossimow, der sich über das Kommen der Gäste außerordentlich freute, weil ihm in den zehn Minuten das Gespräch mit seinem Patienten schon völlig ins Stocken geraten war. »Wenn es so weiter geht, so wird er in drei bis vier Tagen ganz wie früher sein, das heißt, wie er vor einem Monat oder vor zweien … oder vielleicht auch vor dreien war. Denn diese Geschichte datiert in ihren Anfängen weit zurück und hat sich so ganz allmählich herausgebildet. Sie müssen wohl zugeben, daß Sie vielleicht selbst mit daran schuld sind«, fügte er mit vorsichtigem Lächeln hinzu, als ob er noch immer fürchtete, ihn durch etwas zu reizen.

»Sehr leicht möglich«, antwortete Raskolnikow kühl.

»Ich sage das deswegen«, fuhr Sossimow, der nun ins Reden hineinkam, fort, »weil Ihre vollständige Wiederherstellung, wenigstens in der Hauptsache, jetzt von Ihnen allein abhängen wird. Jetzt, wo man wieder mit Ihnen ein vernünftiges Wort reden kann, möchte ich Ihnen dringend ans Herz legen, daß es notwendig ist, die Grundursachen zu beseitigen, die auf die Entstehung Ihres krankhaften Zustandes von Einfluß gewesen sind, sozusagen die Wurzeln des Übels; dann werden Sie auch wieder vollständig gesund werden; andernfalls kann es sich leicht sogar noch schlimmer gestalten. Diese Grundursachen kenne ich nicht; aber Ihnen müssen sie ja bekannt sein. Sie sind ein verständiger Mensch und haben sich gewiß selbst beobachtet. Mir scheint, der Beginn Ihres Leidens fällt so ziemlich mit dem Verlassen der Universität zusammen. Sie dürfen nicht ohne Beschäftigung bleiben, und daher könnten Ihnen Arbeit und ein fest vorgestecktes Ziel meiner Ansicht nach sehr nützlich sein.«

»Ja, ja, Sie haben ganz recht, … ich trage mich auch mit der Absicht, sobald wie möglich wieder an der Universität zu beginnen, und dann wird alles wieder wunderschön gehen …«

Sossimow, der bei seinen klugen Ratschlägen zum Teil auch den Zweck verfolgt hatte, auf die Damen Eindruck zu machen, war natürlich einigermaßen betroffen, als er nun nach Beendigung seiner Rede seinen Zuhörer anblickte und auf dessen Gesichte einen entschieden spöttischen Ausdruck wahrnahm. Indessen dauerte das nur einen Augenblick. Pulcheria Alexandrowna begann sogleich, sich bei Sossimow zu bedanken, besonders auch für seinen nächtlichen Besuch im Hotel.

»Wie? Ist er auch noch in der Nacht bei euch gewesen?« fragte Raskolnikow anscheinend aufgeregt. »Da habt ihr wohl nach der Reise gar nicht geschlafen?«

»Ach, Rodja, das war ja alles noch vor zwei Uhr. Dunja und ich haben uns auch zu Hause nie vor zwei hingelegt.«

»Ich weiß auch nicht, wie ich ihm danken soll«, fuhr Raskolnikow mit finsterer Miene und gesenktem Kopfe fort. »Da ein Honorar nicht in Frage kommt – Sie entschuldigen, daß ich das überhaupt erwähne«, sagte er, sich zu Sossimow wendend –, »so weiß ich gar nicht, wodurch ich eine so besondere Aufmerksamkeit von Ihrer Seite verdient habe. Ich verstehe es schlechterdings nicht … und … und sie bedrückt mich sogar, weil sie mir eben so ganz unbegreiflich ist; ich rede zu Ihnen ganz offen.«

»Regen Sie sich nur darüber nicht auf!« erwiderte Sossimow mit gekünsteltem Lachen. »Nehmen Sie an, Sie wären mein erster Patient; na, und wenn unsereiner eben erst seine Praxis beginnt, dann liebt er seine ersten Patienten wie seine eigenen Kinder, und mancher ist in sie tatsächlich verliebt. Und ich bin ja gerade nicht reich an Patienten.«

»Von dem da will ich erst gar nicht reden«, fügte Raskolnikow hinzu, indem er auf Rasumichin wies, »der hat auch von mir nichts gehabt als Kränkungen und Mühe.«

»Dummes Zeug! Du bist wohl heute in rührseliger Stimmung?« rief Rasumichin.

Wäre er scharfblickender gewesen, so hätte er bemerkt, daß eine rührselige Stimmung absolut nicht vorlag, sondern eher das gerade Gegenteil. Aber Awdotja Romanowna hatte dies erkannt; aufmerksam und voll Unruhe beobachtete sie ihren Bruder.

»Von Ihnen, Mama, wage ich gar nicht zu sprechen«, fuhr er fort, wie wenn er eine am Morgen auswendig gelernte Lektion aufsagte. »Erst heute ist es mir einigermaßen zum Bewußtsein gekommen, wie Sie sich gestern hier geängstigt haben müssen, als Sie auf meine Heimkehr warteten.«

Nach diesen Worten streckte er auf einmal schweigend und lächelnd seiner Schwester die Hand hin. Aber aus diesem Lächeln leuchtete dieses Mal eine wahre, unverstellte Empfindung hervor. Dunja ergriff sofort, erfreut und dankbar, die ihr hingestreckte Hand und drückte sie warm und herzlich. Zum ersten Male hatte er sich nach dem gestrigen Zerwürfnis an sie gewandt. Das Gesicht der Mutter strahlte vor Entzücken und Glückseligkeit beim Anblick dieser völligen, wortlosen Aussöhnung zwischen Bruder und Schwester.

»Deswegen habe ich ihn auch so gern!« flüsterte der leicht zu enthusiasmierende Rasumichin und rückte kräftig auf seinem Stuhle hin und her. »Ich kenne diese schönen Regungen an ihm.«

›Und wie prächtig das alles bei ihm herauskommt!‹ dachte die Mutter bei sich. ›Was hat er für ein edles Herz, und wie schlicht und zartfühlend hat er dieses ganze gestrige Mißverständnis mit der Schwester erledigt, einfach dadurch, daß er ihr im rechten Augenblicke die Hand reichte und sie freundlich anblickte … Und was er für schöne Augen hat, und wie schön sein ganzes Gesicht ist! … Er ist sogar schöner als Dunja … Aber, mein Gott, was hat er für einen Anzug an, wie jämmerlich ist er gekleidet! … Der Austräger Wasja in Afanassij Iwanowitschs Geschäft ist besser angezogen! … Und ich möchte am liebsten zu ihm hinstürzen und ihn umarmen … und weinen; aber ich fürchte mich, … er ist ja so seltsam, o Gott! Jetzt redet er ja so freundlich, und doch fürchte ich mich. Warum denn eigentlich?«

»Ach, Rodja«, antwortete sie nun eilig auf das, was er zu ihr gesagt hatte, »du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglücklich wir gestern waren, ich und Dunja. Jetzt, wo alles vorbei und erledigt ist und wir alle wieder glücklich sind, darf ich ja davon reden. Denke dir nur, wir kommen in größter Eile hierher, fast direkt von der Bahn, um dich zu umarmen, und da sagt uns auf einmal das Dienstmädchen – ach, da ist sie ja! Guten Tag, Nastasja! –, da sagt sie uns, du hättest das Delirium und seiest soeben ohne Wissen des Arztes im Fieber auf die Straße gelaufen und würdest nun überall gesucht. Du glaubst gar nicht, wie uns zumute war! Ich mußte gleich an das tragische Ende des Leutnants Postantschikow denken; er war ein Bekannter von uns, ein Freund deines Vaters, du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja; der hatte auch das Delirium und war ebenso weggelaufen und auf dem Hofe in einen Brunnen gestürzt; erst am andern Tage konnte er herausgezogen werden. Wir stellten uns natürlich alles mit dir noch schlimmer vor, als es war. Wir dachten schon daran, Pjotr Petrowitsch aufzusuchen, um wenigstens mit seiner Hilfe … denn wir waren ja allein, ganz allein«, jammerte sie kläglich, verstummte aber plötzlich ganz, weil ihr einfiel, daß es noch recht gefährlich sei, über Pjotr Petrowitsch zu sprechen, obwohl sie »alle wieder vollkommen glücklich« waren.

»Ja, ja, das war alles gewiß sehr verdrießlich …«, murmelte Raskolnikow als Antwort, aber mit so zerstreuter und unaufmerksamer Miene, daß Dunja ihn ganz verwundert ansah.

»Was wollte ich denn noch sagen«, fuhr er, mühsam seine Gedanken sammelnd, fort. »Ja: seid versichert, Mama und Dunja, daß ich vorhatte, euch heute meinerseits zuerst zu besuchen und euch nicht etwa hier erwarten wollte.«

»Aber was redest du nur, Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna, gleichfalls höchst erstaunt.

›Was hat er denn?‹ dachte Dunja. ›Er spricht ja mit uns so förmlich und so pflichtgemäß! Er versöhnt sich und bittet um Verzeihung, ungefähr in der Art, wie ein Beamter eine amtliche Verrichtung vornimmt oder ein Schüler seine Lektion aufsagt.‹

»Ich wollte gleich, sowie ich aufgewacht war, zu euch hingehen; aber ich konnte nicht wegen meiner Kleider; ich hatte gestern vergessen, ihr … Nastasja … zu sagen, sie möchte das Blut aus den Kleidern auswaschen … Ich bin eben erst mit dem Anziehen fertig geworden.«

»Blut? Was für Blut?« fragte Pulcheria Alexandrowna erschrocken.

»Es ist nichts Schlimmes, … beunruhigen Sie sich nicht. Das Blut war daher gekommen: als ich gestern im Fieber umherirrte, kam ich dazu, wie ein Mensch überfahren wurde, ein Beamter …«

»Im Fieber? Aber du erinnerst dich doch an alles?« unterbrach ihn Rasumichin.

»Das ist richtig«, antwortete Raskolnikow überlegend, »ich erinnere mich an alles, sogar bis auf die geringsten Kleinigkeiten; aber merkwürdig: warum ich dies oder das getan habe und hierhin oder dahin gegangen bin und dies oder das gesprochen habe, davon kann ich mir keine Rechenschaft ablegen.«

»Das ist eine sehr bekannte Erscheinung«, fiel Sossimow ein. »Die Ausführung einer Handlung ist manchmal meisterhaft, außerordentlich schlau; aber das treibende Motiv, der Beweggrund zu dem ganzen Vorgehen, bleibt unklar und hängt mit allerlei krankhaften Empfindungen zusammen. Das Ganze hat mit einem Traum Ähnlichkeit.«

›Das ist am Ende ganz gut, daß er mich beinahe für irrsinnig hält‹, dachte Raskolnikow.

»Aber das kommt doch wohl manchmal auch bei Gesunden vor?« bemerkte Dunja und sah Sossimow beunruhigt an.

»Eine sehr richtige Bemerkung«, antwortete dieser. »In dieser Hinsicht sind wir tatsächlich alle, und zwar sehr häufig, fast wie Verrückte, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß die ›Kranken‹ ein bißchen verrückter sind als wir; man muß da eben auf die Grenzlinie achten. Vollständig normale Menschen aber gibt es so gut wie gar nicht, das ist richtig; unter Zehntausenden, vielleicht sogar erst unter vielen Hundertausenden, mag man einen antreffen …«

Bei dem Worte »verrückt«, das Sossimow sich unvorsichtigerweise hatte entschlüpfen lassen, da er bei seinem Lieblingsthema in Redeeifer geraten war, machten alle Anwesenden finstere Gesichter. Raskolnikow saß in Gedanken versunken und mit einem eigentümlichen Lächeln auf den blassen Lippen da, als ob er auf nichts achtete. Er verharrte in seinen Überlegungen.

»Nun, wie war das also mit dem Überfahrenen? Ich habe dich unterbrochen!« rief Rasumichin schnell.

»Was?« fragte der, als ob er aus dem Schlafe erwachte. »Ja, … nun, da habe ich mich blutig gemacht, als ich dabei behilflich war, ihn in seine Wohnung zu tragen. Und dabei fällt mir ein, Mama: ich habe gestern einen unverzeihlichen Streich begangen; ich hatte wirklich nicht meinen Verstand. Das ganze Geld, das Sie mir geschickt hatten, habe ich gestern weggegeben … an seine Frau … zur Beerdigung. Sie ist jetzt Witwe, schwindsüchtig, ein bedauernswertes Weib, … drei kleine, hungrige Waisen sind da, … im Hause kein Geld, keine Sachen, … eine Tochter ist noch da … Vielleicht hätten Sie selbst das Geld hingegeben, wenn Sie das alles gesehen hätten … Ich gestehe übrigens ein, daß ich ganz und gar kein Recht dazu hatte, so zu handeln, besonders da ich wußte, auf welche Weise Sie dieses Geld beschafft hatten. Um zu helfen, muß man zuallererst ein Recht dazu haben; sonst mag man sagen: Crevez, chiens, si vous n’êtes pas contents!« Er lachte auf. »Hab ich recht, Dunja?«

»Nein, du hast nicht recht«, antwortete Dunja fest und bestimmt.

»Pah! Du hast eben auch gerade jetzt solche Absichten, jemandem behilflich zu sein!« murmelte er, blickte sie dabei fast mit einem Gefühl des Hasses an und lächelte spöttisch. »Das hätte ich in Betracht ziehen sollen! Na, nur zu! Es ist ja auch ganz löblich; und für dich eine Verbesserung, … und wenn du an eine bestimmte Grenze gelangst und sie nicht überschreitest, so wirst du unglücklich sein, und wenn du sie überschreitest, vielleicht noch unglücklicher … Aber das ist ja alles Unsinn!« fügte er gereizt hinzu; er ärgerte sich darüber, daß er sich zu solchen Äußerungen hatte hinreißen lassen. »Ich wollte nur sagen, daß ich Sie, liebe Mama, um Verzeihung bitte«, schloß er scharf und kurz.

»Laß doch gut sein, Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« sagte die Mutter erfreut.

»Davon sollten Sie nicht so überzeugt sein«, antwortete er und verzog den Mund zu einem Lächeln.

Es folgte allgemeines Schweigen. Es lag etwas Gezwungenes in diesem ganzen Gespräche und in dem Schweigen und in der Versöhnung und in der Verzeihung, und alle empfanden das.

›Gerade als ob sie sich vor mir fürchteten‹, dachte Raskolnikow bei sich und warf der Mutter und der Schwester einen mißtrauischen Blick zu. Pulcheria Alexandrowna wurde in der Tat, je länger sie schwieg, um so ängstlicher.

›Und ich liebte sie beide doch so sehr, als sie fern von mir waren‹, mußte er plötzlich denken.

»Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« brach Pulcheria Alexandrowna das Schweigen.

»Was für eine Marfa Petrowna?«

»Ach, mein Gott, Marfa Petrowna Swidrigailowa! Ich habe dir doch noch so viel über sie geschrieben.«

»Ah, ja, ich erinnere mich … Also die ist gestorben? Wirklich?« fuhr er plötzlich auf, wie wenn er eben aufwachte. »Ist sie wirklich gestorben? Woran denn?«

»Denk nur mal, ganz urplötzlich!« begann Pulcheria Alexandrowna eilfertig, ermutigt durch das Interesse, das er bekundete. »Und gerade zu der Zeit, als ich dir damals den Brief schickte, an demselben Tage! Denk nur, dieser schreckliche Mensch scheint sogar an ihrem Tode schuld zu sein. Er soll sie so furchtbar geschlagen haben!«

»Standen sie denn so miteinander?« fragte er, sich an die Schwester wendend.

»Nein, ganz im Gegenteil. Er benahm sich ihr gegenüber immer sehr rücksichtsvoll, sogar höflich. Bei vielen Gelegenheiten bewies er sogar allzu große Nachsicht mit ihrem Charakter, ganze sieben Jahre lang … Nun mochte er auf einmal die Geduld verloren haben.«

»Dann ist er also gar nicht so schrecklich, wenn er es sieben Jahre lang ertragen hat? Du scheinst ihn in Schutz zu nehmen, Dunja?«

»Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Ich kann mir überhaupt gar nichts Schrecklicheres vorstellen«, antwortete Dunja beinahe mit einem Schauder, zog die Augenbrauen zusammen und gab sich ihren Gedanken hin.

»Das war bei ihnen am Vormittag vorgefallen«, fuhr Pulcheria Alexandrowna eifrig fort. »Darauf gab sie sofort Befehl, die Pferde anzuspannen, um gleich nach dem Mittagessen nach der Stadt zu fahren; denn sie fuhr, wenn sie irgendeine Aufregung hatte, immer nach der Stadt. Sie soll noch mit gutem Appetite Mittagbrot gegessen haben …«

»Trotz der Schläge, die sie bekommen hatte?«

»Ja, sie war immer gewohnt, stark zu essen, und gleich nachdem sie gegessen hatte, ging sie, um ihre Fahrt nicht zu lange hinauszuschieben, ins Badehäuschen … Weißt du, sie machte so eine Art Badekur durch; sie haben nämlich da eine sehr kalte Quelle, und sie badete regelmäßig alle Tage darin. Und sowie sie nur ins Wasser gegangen war, rührte sie sogleich der Schlag!«

»Ganz natürlich!« sagte Sossimow.

»Hatte er sie denn sehr geschlagen?«

»Darauf kommt es doch nicht an«, entgegnete Dunja.

»Hm! Übrigens, Mama, was kann Ihnen das nur für Spaß machen, solches Zeug zu erzählen«, sagte Raskolnikow auf einmal in gereiztem Tone; es schien ihm unwillkürlich zu entfahren.

»Ach, lieber Sohn, ich wußte gar nicht mehr, wovon ich noch sprechen sollte«, erwiderte Pulcheria Alexandrowna, ohne zu überlegen.

»Ja, was ist denn? Sie fürchten sich wohl gar vor mir?« fragte er mit einem verzerrten Lächeln.

»Das ist wirklich der Fall«, sagte Dunja und sah ihrem Bruder mit ernstem, strengem Blicke gerade ins Gesicht. »Als Mama die Treppe heraufstieg, hat sie sich sogar vor Angst bekreuzigt.«

Sein Gesicht verzog sich krampfhaft.

»Ach, Dunja, was du nur redest! Bitte, sei nur nicht böse, Rodja! Warum sagst du denn das, Dunja!« fiel Pulcheria Alexandrowna in größter Verlegenheit ein. »Ich habe ja doch, als wir hierherfuhren, während der ganzen Reise es mir ausgemalt, wie wir uns wiedersehen würden, wie wir einander alles erzählen würden, … und ich war so glücklich, daß mir die Reise gar nicht lang vorkam! Aber was rede ich! Ich bin ja auch jetzt glücklich! … Torheit, was du da redest, Dunja! … Schon daß ich dich sehe, macht mich glücklich, Rodja!«

»Laß gut sein, Mama«, murmelte er verlegen, ohne sie anzublicken, und drückte ihr die Hand. »Wir können uns ja noch genug aussprechen.«

Nach diesen Worten wurde er plötzlich wieder ganz verstört und blaß; wieder durchzog, wie schon unlängst einmal, ein schreckliches Gefühl wie Todeskälte seine Seele; wieder wurde es ihm auf einmal völlig klar und deutlich, daß er soeben eine furchtbare Lüge gesagt hatte, daß er nie mehr dazu kommen werde, sich frei auszusprechen, ja, daß er über nichts, niemals und mit niemand überhaupt nur werde unbefangen reden können. Der Eindruck dieses qualvollen Gedankens war so stark, daß er für einen Augenblick beinahe sich und alles um sich ganz vergaß, von seinem Platze aufstand und, ohne jemand anzusehen, nach der Tür ging, um das Zimmer zu verlassen.

»Was ist mit dir?« rief Rasumichin und ergriff ihn bei der Hand.

Er setzte sich wieder hin und blickte schweigend um sich her; alle sahen ihn bestürzt an.

»Ja, warum seid ihr denn alle so langweilig?« rief er plötzlich zur Verwunderung aller. »So redet doch etwas! Wozu sitzen wir denn eigentlich so stumm da? Na, so sprecht doch! Wir wollen uns unterhalten! … Nun sind wir hier zusammengekommen und schweigen! … Na, sagt doch irgend etwas!«

»Gott sei Dank! Ich dachte schon, es stieße ihm etwas Ähnliches zu wie gestern!« sagte Pulcheria Alexandrowna und bekreuzigte sich.

»Was hast du nur, Rodja?« fragte Dunja unsicher.

»Ich? Gar nichts, es fiel mir nur eine komische Geschichte ein«, erwiderte er und lachte auf.

»Nun, wenn’s das ist, dann ist’s ja gut! Sonst dachte ich selbst schon …«, murmelte Sossimow und erhob sich vom Sofa. »Ich muß aber nun gehen; ich komme vielleicht noch einmal mit heran, … wenn ich Sie zu Hause treffe …«

Er verabschiedete sich und ging hinaus.

»Was für ein prächtiger Mensch!« bemerkte Pulcheria Alexandrowna.

»Ja, er ist ein prächtiger, ausgezeichneter, gebildeter, kluger Mensch«, begann Raskolnikow; er redete auf einmal ungewöhnlich schnell und mit einer Lebhaftigkeit, die er bisher nicht gezeigt hatte. »Ich kann mich gar nicht besinnen, wo ich ihn vor meiner Krankheit getroffen haben sollte … Mir ist so, als hatte ich ihn irgendwo getroffen … Der da ist auch ein guter Mensch!« fuhr er, mit einer Kopfbewegung nach Rasumichin hin, fort. »Gefällt er dir, Dunja?« fragte er und brach in ein unmotiviertes Lachen aus.

»Gewiß, sehr!» antwortete Dunja.

»Was du für dumme Späße machst!« rief Rasumichin, der ganz rot geworden war, in furchtbarer Verlegenheit und stand von seinem Stuhle auf.

Pulcheria Alexandrowna lächelte leise; Raskolnikow aber lachte laut los.

»Wo willst du denn hin?«

»Ich will auch … ich muß fort.«

»Du mußt ganz und gar nicht, bleib nur hier! Du denkst, Sossimow ist fortgegangen, also mußt du es auch tun. Geh noch nicht! … Was ist denn die Uhr? Schon zwölf? Was du für eine hübsche Uhr hast, Dunja! Aber warum seid ihr denn wieder so stumm geworden? Ich bin immer nur der einzige, der redet!«

»Es ist ein Geschenk von Marfa Petrowna«, antwortete Dunja.

»Und es ist eine sehr wertvolle Uhr«, setzte Pulcheria Alexandrowna hinzu.

»Ei! Sie ist ja so groß; man kann sie kaum noch als Damenuhr betrachten.«

»Ich habe gern eine so große«, entgegnete Dunja.

›Also kein Geschenk von ihrem Bräutigam‹, dachte Rasumichin und freute sich unwillkürlich.

»Ich glaubte, es wäre ein Geschenk von Lushin«, bemerkte Raskolnikow.

»Nein, er hat Dunja noch nichts geschenkt.«

»So, so! Erinnern Sie sich noch, Mama, ich war einmal verliebt und wollte heiraten«, sagte er unvermittelt und blickte die Mutter an, die durch diese unerwartete Wendung des Gespräches und den Ton, in dem er von diesem Gegenstande sprach, sehr überrascht war.

»Ach ja, lieber Sohn, ich erinnere mich!«

Pulcheria Alexandrowna wechselte Blicke mit Dunja und Rasumichin.

»Hm! … Ja! Aber was soll ich euch davon erzählen? Ich kann mich gar nicht mehr recht auf alles besinnen. Sie war immer so krank«, fuhr er fort, indem er den Kopf senkte, als ob er sich wieder ganz in seine Gedanken vertiefte, »ganz hinfällig war sie; ihre größte Freude war, den Bettlern Almosen zu geben, und immer sehnte sie sich nach dem Kloster und zerfloß einmal ganz in Tränen, als sie mit mir davon sprach; ja, ja, … ich erinnere mich, … ganz genau erinnere ich mich. Sie war unschön … in ihrer äußeren Erscheinung. Ich weiß wirklich nicht, warum ich damals so an ihr hing, vielleicht weil sie immer krank war … Wenn sie dazu noch lahm oder buckelig gewesen wäre, ich glaube, ich hätte sie nur noch lieber gehabt …« (Er lächelte melancholisch.) »Es war so eine Jugendeselei …«

»Nein, die war es nicht«, sagte Dunja lebhaft und mit Wärme.

Er blickte seine Schwester starr und anscheinend aufmerksam an, hatte aber ihre Worte nicht verstanden und wohl gar nicht gehört. Dann stand er tief in Gedanken auf, trat zu seiner Mutter, küßte sie, kehrte zu seinem Platze zurück und setzte sich wieder hin.

»Du liebst sie wohl auch jetzt noch?« fragte Pulcheria Alexandrowna gerührt.

»Sie? Jetzt? Ach so … Sie meinen die Verstorbene! Nein. Das ist, wie wenn’s in einer andern Welt geschehen wäre, … es liegt so unendlich weit zurück. Ja, auch alles um mich herum, … mir ist, als ob es gar nicht hier geschähe …«

Er sah die beiden aufmerksam an.

»Und auch euch selbst … wenn ich euch ansehe, so kommt mir’s vor, als wäret ihr tausend Werst weit von mir entfernt … Weiß der Kuckuck, warum wir über solche Dinge hier reden! Und wozu fragt ihr mich so aus?« fügte er ärgerlich hinzu; dann schwieg er, biß sich auf die Nägel und versank wieder in seine Gedanken.

»Was du für ein schlechtes Zimmer hast, Rodja; es sieht wie ein Sarg aus«, sagte Pulcheria Alexandrowna, um das bedrückende Schweigen zu unterbrechen. »Ich bin überzeugt, daß diese Wohnung zu einem großen Teil mit daran schuld ist, daß du so melancholisch geworden bist.«

»Die Wohnung?« antwortete er zerstreut. »Ja, die Wohnung hat sehr dazu beigetragen, … das habe ich mir auch schon gesagt … Wenn Sie aber wüßten, was für einen interessanten Gedanken Sie da eben ausgesprochen haben, Mama«, fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu.

Es war ganz nahe daran, daß diese Gesellschaft, diese seine nächsten Angehörigen, die er nach dreijähriger Trennung wiedersah, dieser vertrauliche Gesprächston neben der vollständigen Unmöglichkeit, über irgendeinen Gegenstand zu sprechen – daß dies alles ihm schließlich geradezu unerträglich wurde. Indes, da war noch eine unaufschiebbare Angelegenheit, die auf die eine oder andre Weise, aber unbedingt heute noch entschieden werden mußte – darüber war er sich schon vorhin, gleich nachdem er aufgewacht war, schlüssig geworden. Jetzt freute er sich über diese Angelegenheit wie über einen Ausweg aus der peinlichen Lage.

»Was ich noch sagen wollte, Dunja,« begann er in ernstem, trockenem Tone, »ich bitte dich natürlich wegen meines gestrigen Benehmens um Verzeihung; aber ich halte es für meine Pflicht, dich nochmals daran zu erinnern, daß ich von dem, was mir der Hauptpunkt war, nicht abgehe. Entweder ich oder Lushin. Mag ich immerhin ein Schuft sein, aber du darfst es nicht werden. Es ist genug an einem von uns. Wenn du Lushin heiratest, betrachte ich dich sofort nicht mehr als meine Schwester.«

»Rodja, Rodja! Das ist ja aber ganz dasselbe wie gestern!« rief Pulcheria Alexandrowna bekümmert. »Und warum nennst du dich denn immer einen Schuft? Ich kann das nicht ertragen! Das hast du auch gestern getan!«

»Bruder«, antwortete Dunja fest und in ebenso trockenem Tone, »in alledem liegt ein Irrtum deinerseits vor. Ich habe heute nacht darüber nachgedacht und den Irrtum herausgefunden. Er besteht darin, daß du anscheinend annimmst, ich brächte mich jemandem und für jemand zum Opfer. So steht es keineswegs. Ich heirate einfach um meiner selbst willen, weil mir mein jetziges Leben gar zu drückend ist; natürlich werde ich mich aber auch freuen, wenn es mir möglich werden sollte, meinen Angehörigen nützlich zu sein; aber das Hauptmotiv zu meinem Entschlusse ist das nicht …«

›Sie lügt!‹ dachte er bei sich und biß sich ingrimmig auf die Nägel. ›Sie ist stolz und möchte nicht eingestehen, daß sie einem eine Wohltat erweisen will! Welch ein Hochmut! O diese kleinlich denkenden Menschen! Sie maskieren ihre Liebe als Gleichgültigkeit … Oh, wie ich sie alle hasse!‹

»Mit einem Worte, ich werde Pjotr Petrowitsch heiraten«, fuhr Dunja fort, »weil ich von zwei Übeln das kleinere wählen möchte. Ich habe den Vorsatz, ehrlich alles zu erfüllen, was er von mir erwartet; also täusche ich ihn nicht … Warum hast du jetzt eben so gelächelt?«

Sie wurde rot, und in ihren Augen funkelte der Zorn.

»Du wirst alles erfüllen?« fragte er, boshaft lächelnd.

»Bis zu einer bestimmten Grenze. Pjotr Petrowitschs ganzes Verhalten und die Art seiner Werbung haben mich sofort erkennen lassen, was er nötig hat. Er ist ja gewiß von seinem eigenen Werte überzeugt, vielleicht zu sehr; aber ich hoffe, daß er auch mich zu schätzen weiß … Warum lachst du wieder?«

»Und du, warum wirst du wieder rot? Du lügst, Schwester, du lügst absichtlich, nur aus weiblichem Eigensinn, lediglich um mir gegenüber deine Behauptung aufrechtzuerhalten … Du kannst Lushin nicht achten: ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Folglich verkaufst du dich für Geld, und folglich handelst du unter allen Umständen unwürdig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch darüber erröten kannst!«

»Das ist nicht wahr, ich lüge nicht!« rief Dunja, die nun ihre Kaltblütigkeit völlig verlor. »Ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß er mich achtet und schätzt; ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht fest davon überzeugt wäre, daß auch ich ihn achten kann. Zum Glück kann ich mich zuverlässig davon überzeugen, und sogar heute noch. Und eine solche Heirat ist nicht, wie du dich ausdrückst, eine Schuftigkeit! Und selbst wenn du recht hättest, wenn ich mich wirklich zu einer Schuftigkeit entschlossen hätte – ist es dann nicht eine Unbarmherzigkeit von dir, so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir einen Heroismus, der vielleicht in dir selbst nicht steckt? Das ist Despotismus, das ist Vergewaltigung! Wenn ich jemand zugrunde richte, so doch nur mich allein … Ich habe noch keinen Menschen gemordet! … Was siehst du mich denn so an? Warum bist du so blaß geworden? Rodja, was fehlt dir? Liebster Rodja!«

»Herrgott! Sie hat ihn bis zur Ohnmacht gebracht!« schrie Pulcheria Alexandrowna auf.

»Nein, nein … Dummes Zeug … Es ist nichts … Mir wurde nur ein bißchen schwindlig. Von Ohnmacht ist nicht die Rede! … Ihr immer mit euren Ohnmachten! … Hm! ja, … was wollte ich doch noch sagen? Ja: wie willst du dich denn heute noch davon überzeugen, daß du ihn achten kannst und daß er dich schätzt, wie du sagtest? Du sagtest ja wohl: heute? Oder habe ich mich verhört?«

»Mama, zeigen Sie ihm doch Pjotr Petrowitschs Brief«, sagte Dunja.

Pulcheria Alexandrowna reichte mit zitternden Händen den Brief hin. Er ergriff ihn höchst gespannt. Aber ehe er ihn entfaltete, blickte er auf einmal seine Schwester wie verwundert an.

»Sonderbar«, sagte er langsam, wie von einem neuen Gedanken überrascht, »warum ereifre ich mich eigentlich so? Wozu dieser ganze Lärm? Mag sie doch heiraten, wen sie will!«

Er sagte das scheinbar nur für sich, sprach aber dabei ganz laut und blickte eine Weile seine Schwester an, als ob er ganz erstaunt wäre.

Endlich faltete er den Brief auseinander, immer noch mit derselben Miene einer eigentümlichen Verwunderung; dann begann er ihn langsam und aufmerksam zu lesen und las ihn zweimal durch. Pulcheria Alexandrowna befand sich in heftiger Unruhe; alle erwarteten sie etwas Besonderes.

»Eines setzt mich in Verwunderung«, begann er, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, und reichte den Brief der Mutter wieder hin, wandte sich aber mit seinen Worten nicht direkt an einen der Anwesenden, »er führt doch Prozesse, ist Rechtsanwalt, und auch seine Art zu reden zeigte so eine geschäftliche Routine – aber was schreibt er für einen ungebildeten Stil!«

Alle gerieten in Bewegung; sie hatten etwas ganz anderes erwartet.

»So schreiben doch diese Leute alle!« warf Rasumichin kurz hin.

»Hast du den Brief gelesen?«

»Ja.«

»Wir haben ihn ihm gezeigt, Rodja; wir haben ihn vorhin um Rat gefragt«, fügte Pulcheria Alexandrowna verlegen zur Erklärung hinzu.

»Es ist im Grunde der übliche Gerichtsstil«, unterbrach sie Rasumichin. »Gerichtliche Schriftstücke werden noch heutzutage so abgefaßt.«

»Gerichtsstil? Ja, ganz richtig, Gerichtsstil, Geschäftsstil, das ist’s. Nicht gerade sehr ungebildet, aber auch nicht gerade sehr geschmackvoll; Geschäftsstil!«

»Pjotr Petrowitsch macht auch gar kein Geheimnis daraus, daß er für seine Bildung nicht viel Geld ausgeben konnte, und er ist sogar stolz darauf, daß er sich seinen Weg selbst gebahnt hat«, bemerkte Dunja, die sich durch den neuen Ton, in dem ihr Bruder sprach, einigermaßen gekränkt fühlte.

»Nun, wenn er stolz ist, so wird er auch seinen Anlaß dazu haben – ich widerspreche nicht. Du fühlst dich wohl dadurch verletzt, liebe Schwester, daß ich über den ganzen Brief nur diese spöttische Bemerkung gemacht habe, und glaubst, ich spräche absichtlich über solche Kleinigkeiten, weil ich ärgerlich wäre und mich über dich lustig machen wollte. Aber dem ist nicht so; sondern gerade anläßlich des Stils hat sich mir eine für den vorliegenden Fall ganz und gar nicht nebensächliche Beobachtung aufgedrängt. Da findet sich in dem Briefe eine Wendung: ›Sie würden sich dann die Schuld selbst zuzuschreiben haben‹; das ist recht bedeutsam und verständlich gesagt. Und außerdem kommt die Drohung vor, er werde sofort weggehen, wenn ich zu euch hinkäme; diese Drohung, fortzugehen, bedeutet einfach, daß er sich von euch beiden lossagen will, falls ihr euch ungehorsam zeigt, und daß er sich von euch jetzt lossagen will, wo er euch schon hat nach Petersburg kommen lassen. Nun, was meinst du, kann man einem solchen Manne wie Lushin einen solchen Ausdruck in gleichem Grade übelnehmen, wie wenn ihn der hier« (er zeigte auf Rasumichin) »oder Sossimow oder sonst jemand aus unserm Kreise gebraucht hätte?«

»N-nein«, erwiderte Dunja eifrig, »ich habe recht wohl gefühlt, daß der Ausdruck etwas zu plump gewählt war und daß Lushin wohl die Feder nicht ganz in seiner Gewalt hat … Dein Urteil ist durchaus zutreffend, lieber Bruder. Ich bin geradezu überrascht…«

»Das ist im Gerichtsstil ausgedrückt, und im Gerichtsstil kann man eben nicht anders schreiben, und es ist gröber herausgekommen, als es vielleicht in seiner eigenen Absicht gelegen hat. Übrigens muß ich dich noch über einen Punkt aufklären; in diesem Briefe ist noch so ein Ausdruck enthalten, eine gegen mich gerichtete Verleumdung, und zwar eine recht nichtswürdige. Ich habe das Geld gestern der Witwe gegeben, einer schwindsüchtigen, tiefgebeugten Frau, und nicht ›unter dem Vorwande, daß es zur Bestreitung der Begräbniskosten dienen solle‹, sondern tatsächlich zur Bestreitung der Begräbniskosten, auch nicht der Tochter, die er als ›ein Mädchen von notorisch schlechtem Lebenswandel‹ bezeichnet (ich habe sie gestern zum ersten Male in meinem Leben gesehen), sondern wirklich der Witwe. In alledem erkenne ich das übereifrige Bestreben, mich mit Kot zu bewerfen und mit euch zu entzweien. Es ist wieder im Gerichtsstil ausgedrückt, das heißt mit gar zu deutlicher Klarlegung der Absicht und mit sehr naiver Eilfertigkeit. Er ist ein kluger Mann; aber um nun auch klug zu handeln, dazu ist der bloße Verstand nicht ausreichend. Dies alles ist für den Menschen charakteristisch, und … ich glaube nicht, daß er dich sehr schätzt. Ich teile dir das nur zur Erwägung mit, weil ich aufrichtig dein Bestes wünsche …«

Dunja antwortete nicht; sie hatte ihren Entschluß schon vorhin gefaßt und erwartete nur noch den Abend.

»Wofür entscheidest du dich denn also, Rodja?« fragte Pulcheria Alexandrowna, die sich durch den neuen, geschäftsmäßigen Ton, den er jetzt angeschlagen hatte, noch mehr beunruhigt fühlte als vorher.

»Was meinst du damit?«

»Nun, Pjotr Petrowitsch schreibt doch, du solltest heute abend nicht bei uns sein, und er würde fortgehen, … wenn du hinkämest. Also was hast du vor? … Wirst du kommen?«

»Das habe natürlich nicht ich zu entscheiden, sondern in erster Linie Sie, wenn Sie sich durch eine solche Forderung Pjotr Petrowitschs nicht beleidigt fühlen, und in zweiter Linie Dunja, wenn sie sich gleichfalls nicht beleidigt fühlt. Ich werde tun, was euch am besten scheint«, fügte er trocken hinzu.

»Dunja ist sich bereits darüber schlüssig geworden, und ich bin vollständig mit ihr einverstanden«, beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu erklären.

»Ich habe mich dafür entschieden, dich zu bitten, Rodja, dich dringend zu bitten, daß du an dieser Zusammenkunft bei uns unter allen Umständen teilnehmen möchtest«, sagte Dunja. »Wirst du kommen?«

»Ja.«

»Ich bitte auch Sie, um acht Uhr bei uns zu sein«, wandte sie sich an Rasumichin. »Mama, ich möchte den Herrn gleichfalls auffordern.«

»Vortrefflich, Dunjetschka. Nun, mag es geschehen, wie ihr bestimmt habt«, fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. »Auch mir ist dabei leichter ums Herz; Verstellung und Lüge liegen nicht in meiner Art; wir wollen lieber die volle Wahrheit sagen … Dann mag sich Pjotr Petrowitsch ärgern oder nicht.«

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Kapitel 18

IV

In diesem Augenblicke öffnete sich leise die Tür, und ein Mädchen trat, sich schüchtern umschauend, ins Zimmer. Alle wandten sich erstaunt und neugierig nach ihr hin. Raskolnikow erkannte sie nicht gleich auf den ersten Blick. Es war Sofja Semjonowna Marmeladowa. Gestern hatte er sie zum ersten Male gesehen, aber in einem solchen Augenblicke, in einer solchen Umgebung und in einer solchen Aufmachung, daß sein Gedächtnis das Bild ihrer Persönlichkeit in ganz anderer Form aufgenommen hatte. Jetzt war sie ein bescheiden, ja ärmlich gekleidetes Mädchen, noch sehr jung, beinahe kindlich, mit bescheidenem, anständigem Benehmen, mit offenem, aber anscheinend recht ängstlichem Gesichtsausdruck. Sie trug ein sehr schlichtes Hauskleid und auf dem Kopfe einen alten, unmodernen Hut; nur hatte sie, wie gestern, einen Sonnenschirm in der Hand. Als sie unerwartet das Zimmer voll Menschen fand, wurde sie nicht etwa nur verlegen, sondern sie verlor vollständig die Fassung, bekam Furcht wie ein kleines Kind und machte sogar eine Bewegung, als ob sie wieder zurücktreten wollte.

»Ach … Sie sind es!« sagte Raskolnikow äußerst erstaunt und wurde auf einmal selbst verlegen.

Es fiel ihm sofort ein, daß seine Mutter und seine Schwester bereits so nebenbei aus Lushins Briefe etwas über ein »Mädchen von notorisch schlechtem Lebenswandel« erfahren hatten. Eben erst hatte er gegen Lushins Verleumdung protestiert und dabei erwähnt, daß er dieses Mädchen zum ersten Male gesehen habe, und nun trat sie auf einmal selbst herein. Er erinnerte sich auch, daß er gar nicht gegen den Ausdruck »von notorisch schlechtem Lebenswandel« protestiert hatte. Diese Gedanken huschten ihm unklar und blitzschnell durch den Kopf. Aber als er Sonja aufmerksamer ansah, bemerkte er, wie demütig dieses erniedrigte Geschöpf war, und fühlte Mitleid mit ihr. Und als sie eine Bewegung machte, als wollte sie vor Furcht wieder fortlaufen, tat ihm geradezu das Herz weh.

»Ich habe gar nicht erwartet, daß Sie herkommen würden«, sagte er hastig und hielt sie durch seinen Blick zurück. »Bitte, nehmen Sie Platz. Sie kommen gewiß von Katerina Iwanowna. Wenn es Ihnen gefällig ist, nicht dorthin; bitte, setzen Sie sich hierher …«

Bei Sonjas Eintritt war Rasumichin, der auf einem von Raskolnikows drei Stühlen dicht neben der Tür gesessen hatte, aufgestanden, um ihr beim Hereinkommen Platz zu machen. Zuerst war Raskolnikow schon im Begriff, ihr den Platz in der Sofaecke anzuweisen, auf dem Sossimow gesessen hatte; aber er sagte sich doch, daß dieses Sofa, das ihm als Bett diente, ein gar zu familiärer Platz sei, und wies ihr daher schnell Rasumichins Stuhl an.

»Und du, setz dich hierher«, sagte er zu Rasumichin und schob ihn in die Ecke, wo Sossimow gesessen hatte.

Sonja setzte sich fast zitternd vor Angst hin und blickte schüchtern nach den beiden Damen. Man sah ihr an, daß sie selbst nicht begriff, wie sie es fertiggebracht hatte, sich neben sie hinzusetzen. Als ihr die Lage zum Bewußtsein gekommen war, erschrak sie so, daß sie schnell wieder aufstand und sich in größter Verwirrung an Raskolnikow wandte.

»Ich … ich … bin nur für einen Augenblick hergekommen; verzeihen Sie, daß ich Sie gestört habe«, sagte sie stockend. »Ich komme von Katerina Iwanowna; sie hatte sonst niemand zum Schicken. Katerina Iwanowna läßt Sie sehr bitten, doch morgen zum Totenamt zu kommen, … bei der Mittagsmesse … auf dem Mitrofan-Friedhof, … und dann bei uns … bei ihr … am Gedächtnismahl teilzunehmen. Sie möchten ihr doch die Ehre erweisen … Sie läßt sehr bitten.«

Sie stockte und schwieg.

»Wenn es irgend möglich ist, werde ich bestimmt, … ganz bestimmt …«, antwortete Raskolnikow, indem er gleichfalls aufstand und gleichfalls stockte und nicht zu Ende redete. »Tun Sie mir den Gefallen und setzen Sie sich«, sagte er dann. »Ich möchte noch mit Ihnen reden. Wenn Sie es nicht zu eilig haben, so tun Sie mir bitte den Gefallen und schenken Sie mir zwei Minuten …«

Er rückte ihr den Stuhl hin. Sonja setzte sich wieder, blickte dann wieder schüchtern und ängstlich nach den beiden Damen und schlug die Augen nieder.

Raskolnikows blasses Gesicht rötete sich; sein ganzes Wesen schien gleichsam einen Ruck zu bekommen; seine Augen flammten auf.

»Mama«, sagte er fest und nachdrücklich, »dies ist Sofja Semjonowna Marmeladowa, die Tochter eben jenes unglücklichen Herrn Marmeladow, der gestern vor meinen Augen überfahren wurde und von dem ich Ihnen schon erzählt habe …«

Pulcheria Alexandrowna blickte Sonja an und kniff dabei die Augen ein wenig zusammen. Obwohl Rodjas energischer, herausfordernder Blick sie einschüchterte, konnte sie sich dieses Vergnügen doch nicht versagen. Dunja sah ernst und forschend dem armen Mädchen gerade ins Gesicht und betrachtete sie mit Erstaunen. Als Sonja hörte, daß sie vorgestellt wurde, versuchte sie wieder aufzublicken, wurde aber noch verlegener als vorher.

»Ich wollte Sie fragen«, wandte sich Raskolnikow schnell zu ihr, »wie hat sich heute alles bei Ihnen gestaltet? Sind Ihnen keine Ungelegenheiten gemacht worden? … Zum Beispiel von Seiten der Polizei?«

»Nein, es ist alles ohne Störung gegangen … Die Todesursache war ja doch ganz klar; man hat uns keine Ungelegenheiten gemacht; nur die andern Mieter sind aufgebracht.«

»Warum?«

»Weil die Leiche so lange dasteht … Es ist doch jetzt heiß, da riecht es … Darum soll sie auch heute abend nach dem Friedhof gebracht werden und bis morgen in der Kapelle bleiben. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht; aber jetzt sieht sie schließlich selbst ein, daß es nicht anders geht …«

»Also heute?«

»Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen, morgen dem Totenamte in der Kirche beizuwohnen und dann nach ihrer Wohnung zu kommen, zum Gedächtnismahl.«

»Also ein Gedächtnismahl veranstaltet sie?«

»Ja, nur einen kleinen Imbiß; sie läßt Ihnen sehr danken, daß Sie uns gestern unterstützt haben, … ohne Ihre Beihilfe hätten uns die Mittel zur Beerdigung gefehlt.«

Lippen und Kinn begannen ihr krampfhaft zu zucken; aber sie nahm sich zusammen und beherrschte sich; sogleich schlug sie wieder die Augen nieder.

Während des Gesprächs betrachtete Raskolnikow sie aufmerksam. Sie hatte ein außerordentlich mageres, blasses, etwas spitzes Gesichtchen, mit kleinem, spitzem Näschen und Kinn und ziemlich unregelmäßigen Zügen. Hübsch konnte man sie eigentlich nicht nennen; aber dafür waren ihre blauen Augen so klar und verliehen, wenn sie sich belebten, dem Gesichte einen so guten, treuherzigen Ausdruck, daß man sich unwillkürlich zu ihr hingezogen fühlte. Außerdem lag in ihrem Gesichte und in ihrer ganzen Gestalt noch eine besonders charakteristische Eigenheit: trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie weit jünger aus, als sie wirklich war, beinahe wie ein Kind, und das trat manchmal bei bestimmten Bewegungen in einer geradezu komisch wirkenden Weise hervor.

»Hat denn Katerina Iwanowna mit einer so kleinen Summe alles bestreiten können, wenn sie sogar noch einen Imbiß zu geben beabsichtigt?« fragte Raskolnikow, eifrig bemüht, das Gespräch im Gange zu halten.

»Der Sarg ist ganz einfach, … und auch alles andere ist ganz einfach, so daß es nicht allzuviel kostet … Ich habe vorhin mit Katerina Iwanowna alles berechnet; es bleibt noch so viel übrig, um ein Gedächtnismahl zu veranstalten, … und Katerina Iwanowna wünscht so sehr, daß eines stattfinden möchte … Da müssen wir wohl … Ihr ist es ein Trost, … das liegt nun einmal so in ihrem Wesen, Sie wissen wohl …«

»Ich verstehe, ich verstehe … Gewiß … Warum mustern Sie denn mein Zimmer so? Meine Mama hier sagt auch, es sehe aus wie ein Sarg.«

»Sie haben uns gestern Ihr ganzes Geld gegeben!« sagte plötzlich, statt auf die Frage zu antworten, Sonja hastig in einem eigenartigen, lauten Flüstertone und senkte dann wieder den Kopf.

Lippen und Kinn zuckten ihr wieder. Raskolnikows ärmliche Behausung war ihr schon längst aufgefallen, und nun waren ihr diese Worte ganz unwillkürlich entschlüpft. Eine Weile schwiegen alle. Dunjas Augen hatten einen merkwürdigen Glanz bekommen, und Pulcheria Alexandrowna blickte Sonja ganz freundlich an.

»Rodja«, sagte sie aufstehend, »wir essen selbstverständlich zusammen zu Mittag. Komm, Dunja … Und du, Rodja, solltest ausgehen, einen kleinen Spaziergang machen und dich dann hinlegen und ein bißchen ausruhen; und dann komm recht früh … Ich fürchte, das Gespräch mit uns hat dich doch angegriffen …«

»Ja, ja, ich werde kommen«, antwortete er eilig und stand auf. »Aber ich habe allerdings noch etwas Notwendiges vorher zu besorgen …«

»Na, ihr werdet doch nicht der eine hier, der andre da Mittag essen?« rief Rasumichin und sah Raskolnikow verwundert an. »Was hast du denn?«

»Ich sage ja, ich werde kommen, gewiß, gewiß … Aber bleib du noch einen Augenblick hier. Sie brauchen ihn ja doch wohl im Augenblick nicht, Mama? Oder entziehe ich ihn euch vielleicht?«

»O nicht doch, nicht doch! Kommen Sie doch auch mit zum Mittagessen, Dmitrij Prokofjitsch, wollen Sie so gut sein?«

»Bitte, kommen Sie!« bat auch Dunja.

Rasumichin verbeugte sich zusagend und strahlte über das ganze Gesicht. Eine wunderliche Verlegenheit überkam alle für einen Augenblick.

»Adieu, Rodja, oder lieber: Auf Wiedersehen! Ich sage nicht gern ›Adieu‹. Adieu, Nastasja … Ach, da habe ich ja doch wieder ›Adieu‹ gesagt!« sagte Pulcheria Alexandrowna.

Sie war nahe daran, auch Sonja eine Verbeugung zu machen; aber sie brachte es doch nicht fertig und ging eilig aus dem Zimmer.

Aber Dunja wartete, bis die Reihe, herauszugehen, an sie kam, und als sie hinter der Mutter an Sonja vorbeiging, machte sie ihr eine freundliche, höfliche und ordnungsmäßige Verbeugung. Die arme Sonja wurde verlegen und verbeugte sich hastig und erschrocken; auf ihrem Gesichte spiegelte sich sogar eine Art von schmerzlicher Empfindung wieder, als ob Dunjas Höflichkeit und Freundlichkeit ihr drückend und peinlich wären.

»Adieu, Dunjetschka!« rief Raskolnikow, als diese schon auf dem Flur war. »Gib mir doch die Hand!«

»Ich habe sie dir doch gegeben; hast du das schon vergessen?« antwortete Dunja freundlich und drehte sich mit dem Oberkörper noch einmal nach ihm um.

»Nun, das schadet ja nichts; so reich sie mir noch einmal!«

Er drückte kräftig ihre feinen Fingerchen. Dunja lächelte ihm zu, errötete, entriß ihm schnell ihre Hand und lief der Mutter nach; auch sie fühlte sich auf einmal ganz glücklich.

»Nun schön!« sagte er zu Sonja, als er in sein Zimmer zurücktrat, und blickte sie mit klaren Augen an. »Gott gebe den Toten eine sanfte Ruhe; aber die Lebenden mögen leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Das ist doch das Richtige!«

Mit Erstaunen sah Sonja, wie sein Gesicht plötzlich hell geworden war; er schaute sie einige Augenblicke schweigend und unverwandt an; alles, was ihr verstorbener Vater über sie erzählt hatte, kam ihm wieder ins Gedächtnis.

»Herrgott, Dunja!« begann Pulcheria Alexandrowna, sowie sie auf die Straße hinaustraten. »Ich bin ordentlich froh, daß wir weggegangen sind; es ist mir gleich leichter ums Herz. Hätte ich wohl gestern auf der Eisenbahn gedacht, daß ich mich darüber freuen würde!«

»Ich kann Ihnen nur wiederholen, liebe Mama: er ist noch sehr krank. Sehen Sie das denn nicht? Vielleicht haben gerade die Sorgen, die er sich um uns gemacht hat, seine Gesundheit zerrüttet. Man muß mit ihm Nachsicht haben und kann ihm vieles, vieles verzeihen.«

»Aber du hast keine Nachsicht mit ihm gehabt!« unterbrach Pulcheria Alexandrowna sie hitzig und mit einer Art von Eifersucht. »Weißt du, Dunja, ich habe euch beide vorhin angesehen: du bist sein vollständiges Ebenbild, und noch nicht einmal so sehr im Gesicht als in der Seele; beide habt ihr so etwas Melancholisches, Finsteres und Aufbrausendes; beide seid ihr hochmütig und beide hochherzig … Das ist doch gar nicht denkbar, daß er ein Egoist sein sollte, Dunja, nicht wahr? … Aber wenn ich daran denke, was uns heute abend noch bevorsteht, dann wird mir himmelangst!«

»Beunruhigen Sie sich nicht, Mama; es wird geschehen, was eben geschehen muß.«

»Aber bedenke nur, Dunja, in welcher Lage wir jetzt sind! Was sollen wir anfangen, wenn Pjotr Petrowitsch sich von uns lossagt?« rief die arme Pulcheria Alexandrowna mit unüberlegter Offenheit.

»Wenn er das wirklich tut, dann haben wir an ihm nichts verloren!« antwortete Dunja schroff und geringschätzig.

»Wir haben ganz gut daran getan, daß wir jetzt weggegangen sind«, fuhr Pulcheria Alexandrowna, sie unterbrechend, hastig fort, um abzulenken. »Er hat einen eiligen Gang vor, um etwas zu besorgen; da mag er sich ein bißchen Bewegung machen und wenigstens ein bißchen Luft schöpfen, … bei ihm ist es ja schrecklich dumpf, … aber wo kann man wohl hier in Petersburg frische Luft atmen? Hier ist es auch auf den Straßen gerade wie in einem Zimmer, das nie gelüftet wird. Herrgott, was ist das nur für eine Stadt! … Halt, halt! Tritt auf die Seite, du wirst dich noch totquetschen lassen; da wird etwas getragen! Ein Klavier tragen sie, wahrhaftig, … wie sie sich durchdrängen … Vor diesem jungen Mädchen habe ich auch große Bange.«

»Vor was für einem jungen Mädchen, Mama?«

»Nun, ich meine diese Sofja Semjonowna, die eben zu Rodja kam …«

»Warum haben Sie denn Bange vor der?«

»Es ahnt mir so etwas, Dunja. Magst du es mir nun glauben oder nicht, gleich wie sie hereinkam, in demselben Augenblick dachte ich: ›Aha, da sitzt der Hauptknoten …‹«

»Gar nichts sitzt da!« rief Dunja ärgerlich. »Was Sie auch immer für Ahnungen haben, Mama! Er ist erst seit gestern mit ihr bekannt, und als sie jetzt hereinkam, erkannte er sie nicht einmal sogleich.«

»Na, du wirst ja sehen! … Sie beunruhigt mich; du wirst ja sehen, du wirst ja sehen! Und ich habe einen ordentlichen Schreck vor ihr bekommen: sie sah mich an und sah mich an; was hat sie für Augen; ich konnte kaum auf meinem Stuhle stillsitzen; erinnerst du dich, als er sie vorstellte? Und das kommt mir doch auch ganz merkwürdig vor: Pjotr Petrowitsch schreibt solche Dinge von ihr, und er stellt sie uns vor, und noch dazu dir! Also muß er sie doch wohl sehr gern haben!«

»Was der nicht alles schreibt! Über uns ist doch auch allerlei geredet und geschrieben worden; haben Sie das vergessen? Und ich bin überzeugt, daß sie ein prächtiges Mädchen ist und daß das alles dummes Gerede ist.«

»Gott gebe es!«

»Und Pjotr Petrowitsch ist ein häßlicher Zwischenträger!« schloß Dunja kurz und bestimmt.

Pulcheria Alexandrowna duckte sich unwillkürlich. Das Gespräch brach ab.


»Hör mal, ich wollte dich da etwas fragen …«, begann Raskolnikow und führte Rasumichin zum Fenster.

»Ich darf also an Katerina Iwanowna bestellen, daß Sie kommen werden …«, sagte Sonja schnell und wollte sich verabschieden.

»Sogleich, Sofja Semjonowna! Wir haben keine Geheimnisse; Sie stören uns nicht. Ich möchte Ihnen gern noch ein paar Worte … Hör mal«, wandte er sich, ohne zu Ende zu sprechen, wieder an Rasumichin. »Du kennst doch diesen … na, wie heißt er gleich! … Porfirij Petrowitsch?«

»Na und ob! Er ist ja ein Verwandter von mir. Weshalb fragst du denn?« fügte er neugierig hinzu.

»Er hat doch jetzt diese Sache in Händen, … na, diese Mordsache, von der ihr gestern spracht?«

»Ja, … nun?« Rasumichin riß die Augen weit auf.

»Er hat die Verpfänder befragt; nun, es liegen von mir auch ein paar Pfänder da, nur so Kleinigkeiten; aber das eine ist ein Ring von meiner Schwester, den sie mir zum Andenken schenkte, als ich hierherzog, und dann die silberne Uhr meines Vaters. Es hat zusammen nur einen Wert von fünf bis sechs Rubel; aber für mich sind diese Gegenstände kostbar, als Andenken. Also, was soll ich jetzt tun? Ich möchte nicht, daß mir die Sachen verlorengehen, namentlich nicht die Uhr. Ich schwebte vorhin in der größten Angst, meine Mutter könnte die Uhr zu sehen wünschen, als von Dunjas Uhr die Rede war. Es ist das einzige Stück, das noch von meinem Vater übrig ist. Sie würde krank werden, wenn wir diese Uhr verlören. Wie die Weiber nun einmal sind! Also nun gib mir einen Rat, wie ich mich zu verhalten habe. Ich weiß, daß ich eigentlich auf dem Polizeibureau Anzeige machen müßte. Aber wäre es nicht besser, wenn ich mich an Porfirij persönlich wendete? Wie denkst du darüber? Ich möchte die Sache möglichst schnell erledigen. Du wirst sehen, daß meine Mutter mich noch vor dem Mittagessen danach fragt!«

»Wende dich nicht an das Polizeibureau, sondern auf jeden Fall an Porfirij!« rief Rasumichin in lebhaftem Eifer. »Das freut mich aber! Da ist nichts weiter zu überlegen; wir können sofort hingehen; es sind nur ein paar Schritte; wir treffen ihn gewiß zu Hause!«

»Mir recht! Gehen wir!«

»Er wird sich sehr freuen, ganz außerordentlich wird er sich freuen, dich kennenzulernen! Ich habe ihm viel von dir erzählt, bei verschiedenen Gelegenheiten … Auch gestern habe ich von dir gesprochen. Gehen wir hin! Also du hast die alte Frau gekannt? So, so! … Das hat ja alles eine ganz ausgezeichnete Wendung genommen! … Ach ja … Sofja Iwanowna …«

»Sofja Semjonowna«, verbesserte Raskolnikow. »Sofja Semjonowna, das ist mein Freund Rasumichin, ein sehr guter Mensch …«

»Wenn Sie jetzt gehen müssen …«, begann Sonja; sie hatte Rasumichin gar nicht angesehen und war durch die Vorstellung noch schüchterner geworden.

»Nun, dann wollen wir gehen!« sagte Raskolnikow entschlossen.

»Ich komme heute noch einmal kurz zu Ihnen, Sofja Semjonowna; sagen Sie mir nur, wo Sie wohnen.«

Er war nicht eigentlich verlegen, aber er tat eilig und vermied ihren Blick. Sonja gab ihm ihre Adresse und errötete dabei. Sie gingen alle drei gleichzeitig hinaus.

»Schließt du denn nicht zu?« fragte Rasumichin, der hinter den beiden andern die Treppe hinabstieg.

»Das tue ich nie! … Schon seit zwei Jahren will ich immer ein Schloß kaufen«, fügte er nachlässig hinzu. »Glücklich, wer nichts zu verschließen hat, nicht wahr?« wandte er sich lachend an Sonja.

Auf der Straße blieben sie am Tor stehen.

»Sie gehen nach rechts, Sofja Semjonowna? Dabei fällt mir ein: wie haben Sie es denn möglich gemacht, mich zu finden?« fragte er; aber es klang, als möchte er ihr etwas ganz anderes sagen. Er hätte gar zu gern noch einmal in ihre stillen, klaren Augen geblickt; aber es wollte ihm nicht so recht glücken …

»Sie haben doch gestern unsrer Polenjka Ihre Adresse angegeben?«

»Polenjka? Ach ja … Polenjka! Das war die Kleine … Das ist Ihre Schwester? Also der habe ich meine Adresse gegeben?«

»Wissen Sie das denn nicht mehr?«

»Doch … doch, … ich erinnere mich.«

»Und von Ihnen hat mir der Verstorbene noch zu seinen Lebzeiten erzählt … Ich kannte nur damals Ihren Namen nicht, und er selbst kannte ihn auch nicht … Aber gestern erfuhr ich nun Ihren Namen und Ihre Adresse, und als ich heute herkam, da fragte ich: wo wohnt hier Herr Raskolnikow? … Ich wußte gar nicht, daß Sie auch in einem möblierten Zimmer wohnen … Adieu! Ich werde alles an Katerina Iwanowna bestellen …«

Sie war sehr froh, endlich loszukommen; sie ging mit gesenktem Kopfe eilig dahin, um ihnen nur recht schnell aus dem Gesichtskreis zu kommen, um nur recht schnell diese zwanzig Schritte bis zu der Straßenecke, wo sie nach rechts einbiegen mußte, zurückzulegen und endlich allein zu sein und dann im eiligen Dahinschreiten, achtlos und unbekümmert um die Begegnenden und alles ringsumher, nachzudenken, sich zu erinnern und sich jedes gesprochene Wort, jeden Umstand noch einmal zu vergegenwärtigen. Noch niemals hatte sie etwas Ähnliches empfunden. Ihre Seele hatte in eine große, neue Welt, die ihr noch ganz unbekannt gewesen war, einen – freilich flüchtigen – Blick geworfen. Da fiel ihr auf einmal ein, daß Raskolnikow selbst noch heute zu ihr kommen wollte, vielleicht noch am Vormittag, vielleicht sogar jetzt gleich!

›Nur nicht heute schon, bitte, nicht heute!‹ murmelte sie mit heftiger Herzbeklemmung, als ob sie jemanden anflehte, wie ein geängstigtes Kind. ›O Gott! Zu mir … in dieses Zimmer, … er wird alles sehen … o Gott!‹

Sie war in diesem Augenblicke natürlich nicht imstande, einen ihr unbekannten Herrn zu beachten, der sie angelegentlich beobachtete und ihr auf dem Fuße folgte. Er begleitete sie schon, seit sie aus dem Torwege herausgetreten war. In dem Augenblicke, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikow und sie, auf dem Trottoir standen und noch ein paar Worte miteinander redeten, war dieser Passant plötzlich zusammengezuckt, als er, um die Gruppe herumgehend, zufällig Sonjas Worte auffing: »Da fragte ich: wo wohnt hier Herr Raskolnikow?« Er hatte schnell, aber aufmerksam alle drei gemustert und besonders Raskolnikow, zu dem Sonja sprach; darauf hatte er sich das Haus angesehen und gemerkt. Alles dies hatte sich in einem Augenblicke, während er vorbeiging, abgespielt, und der Fremde war, ohne sich etwas merken zu lassen, weitergegangen, jedoch in etwas langsamerem Schritte, wie wenn er auf jemand wartete. Er hatte auf Sonja gewartet; denn er hatte gesehen, daß sie sich verabschiedete, und vermutet, daß sie nun wohl irgendwohin gehen würde, wo sie ihre Wohnung hätte.

›Wo mag sie wohnen? Ich habe dieses Gesicht doch schon irgendwo gesehen‹, hatte er gedacht und sich zu erinnern gesucht. ›Das muß ich herausbekommen.‹

Als er die Straßenecke erreicht hatte, ging er auf die andere Seite der Straße hinüber, drehte sich um und sah, daß Sonja, ohne auf irgend etwas zu achten, … bereits hinter ihm ging, denselben Weg; denn als sie an die Straßenecke gekommen war, war auch sie in die Seitenstraße eingebogen. Er hatte sie nun auf dem gegenüberliegenden Trottoir begleitet, allmählich zurückbleibend, ohne sie aus den Augen zu lassen; nach etwa fünfzig Schritten war er wieder nach dem Trottoir hinübergegangen, auf welchem Sonja ging, hatte sie eingeholt und ging nun in einem Abstande von ungefähr fünf Schritten hinter ihr her.

Es war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, etwas über Mittelgröße, wohlbeleibt, mit breiten, dicken Schultern, was seine Haltung etwas gebückt erscheinen ließ. Er war elegant und bequem gekleidet und machte einen recht stattlichen Eindruck. In der Hand hatte er einen hübschen Spazierstock, den er bei jedem Schritte auf das Trottoir aufschlagen ließ; seine Hände steckten in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit den starken Backenknochen wirkte ganz angenehm, und die Gesichtsfarbe war frisch und gesund, wie es bei einheimischen Petersburgern nicht der Fall zu sein pflegt. Das noch sehr dichte Haar war ganz hellblond und nur äußerst wenig mit Grau meliert, und der breite, dichte Bart, der schaufelförmig herabhing, war noch heller als das Kopfhaar. Seine Augen waren blau; ihr Blick hatte etwas Kaltes, Starres, Überlegendes; die Lippen zeigten eine frische Röte. Überhaupt hatte er sich vorzüglich erhalten und sah viel jünger aus, als er wirklich war.

Als Sonja die Kanalstraße erreichte, waren sie die beiden einzigen Passanten auf dem Trottoir. Bei seinen Beobachtungen hatte er bereits ihre Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Als Sonja ihr Haus erreicht hatte, bog sie in den Torweg ein; er folgte ihr und schien einigermaßen erstaunt zu sein. Auf dem Hofe wandte sie sich nach rechts, nach derjenigen Ecke, wo sich die zu ihrer Wohnung hinaufführende Treppe befand. »Na, so was!« murmelte der unbekannte Herr und begann hinter ihr her die Stufen hinaufzusteigen. Erst jetzt bemerkte ihn Sonja. Sie ging bis zum zweiten Stockwerk in die Höhe, bog in eine Außengalerie ein, die sich auf der Hofseite entlangzog, und klingelte an der Wohnung Nr. 9, an deren Tür mit Kreide angeschrieben stand: »Kapernaumow, Schneider«. »Na, so was!« sagte der Unbekannte noch einmal, verwundert über dieses eigentümliche Zusammentreffen, und klingelte daneben, bei Nr. 8. Die beiden Türen waren nur etwa sechs Schritte voneinander entfernt.

»Sie wohnen bei Kapernaumow«, sagte er und sah Sonja lachend an. »Er hat mir gestern eine Weste umgeändert. Und ich wohne hier neben Ihnen, bei Madam Gertruda Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!«

Sonja blickte ihn aufmerksam an.

»Wir sind also Nachbarn«, fuhr er in sehr heiterem Tone fort. »Ich bin erst seit vorgestern in der Stadt. Nun, vorläufig adieu, auf Wiedersehen!«

Sonja antwortete nicht; die Tür wurde geöffnet, sie schlüpfte hinein und ging in ihre Stube. Sie schämte sich, und ein seltsames Angstgefühl überkam sie.


Rasumichin befand sich, während sie zu Porfirij gingen, in einem Zustande besonderer Aufregung.

»Das ist prächtig, Bruder!« wiederholte er einmal über das andre. »Und ich freue mich, ich freue mich!«

›Worüber freust du dich denn nur?‹ fragte sich Raskolnikow im stillen.

»Das habe ich ja gar nicht gewußt, daß du auch etwas bei der alten Frau versetzt hattest. Und … und … ist das schon lange her? Ich meine: wann bist du zuletzt dagewesen?«

›Ist das ein naiver Tropf!‹ dachte Raskolnikow.

»Wann ich zuletzt da war?« antwortete er, indem er stehenblieb und nachdachte. »Zwei Tage vor ihrem Tode mag es gewesen sein, daß ich da war. Übrigens, die Sachen auszulösen ist jetzt bei diesem Gange nicht meine Absicht«, fügte er hastig und mit einer geflissentlich herausgekehrten Besorgtheit um die Sachen hinzu. »Ich habe ja wieder nur einen einzigen Rubel in meinem Besitze … infolge des Streiches, den ich gestern im Fieber begangen habe.«

Das Wort »Fieber« sprach er mit besonderem Nachdruck.

»Nun ja, ja, ja!« stimmte ihm Rasumichin eilig zu, wobei aber unklar blieb, worauf sich seine Zustimmung eigentlich bezog. »Also das ist der Grund, weshalb damals … das Gespräch von dem Morde so auf dich wirkte, … und weißt du, auch im Fieber hast du immer von Ringen und Ketten phantasiert! … Na ja, ja … Das ist ja klar, nun ist alles klar.«

›Holla!‹ dachte Raskolnikow. ›Dieser Gedanke hat sich bei ihnen also doch festgesetzt! Der gute Mensch hier würde sich für meine Unschuld ans Kreuz schlagen lassen, und doch ist er froh, daß es sich, wie er meint, aufgeklärt hat, warum ich im Fieber von Ringen geredet habe! Wie fest sich dieser Gedanke bei ihnen allen eingenistet hat!‹

»Werden wir ihn auch zu Hause antreffen?« fragte er laut.

»Ganz bestimmt, ganz bestimmt«, erwiderte Rasumichin. »Du wirst sehen, Bruder, er ist ein prächtiger Mensch. Ein bißchen plump; das heißt, er hat gewandte Formen, aber ich meine plump in anderer Hinsicht. Ein gescheiter Kerl, sogar sehr klug und gescheit, nur hat seine ganze Art zu denken etwas Eigentümliches. Mißtrauisch, skeptisch, prosaisch ist er, … er betrügt einen gern, das heißt, er betrügt einen nicht eigentlich, sondern führt einen an. Na, und in seinem Amte verwendet er die alte Methode der Beweisführung aus materiellen Gründen … Aber er versteht seine Sache, gründlich versteht er sie. Er hat im vorigen Jahre in eine Mordsache Licht gebracht, wo fast alle Spuren schon verloren waren. Er wünscht sehr, aber sehr, dich kennenzulernen!«

»Ja, weshalb wünscht er denn das so sehr?«

»Das heißt, nicht etwa daß … Siehst du, in der letzten Zeit, als du krank warst, hat es sich so gemacht, daß ich oft und viel mit ihm über dich sprach … Na, er hörte zu, … und als er erfuhr, daß du Jura studiertest und äußerer Umstände halber das Studium nicht zu Ende führen könntest, da sagte er: ›Wie schade!‹ Daraus schloß ich, … das heißt aus allem zusammen, nicht daraus allein; und gestern hat Sametow … Siehst du, Rodja, ich habe dir gestern in meiner Betrunkenheit, als wir zusammen nach deiner Wohnung gingen, allerlei hingeschwatzt, … und da fürchte ich, Bruder, daß du dem zuviel Bedeutung beimißt, siehst du wohl …«

»Was meinst du denn? Daß sie mich für verrückt halten? Da haben sie vielleicht recht.«

Er lächelte gezwungen.

»Ja, ja … oder vielmehr: nein, wollte ich sagen … Na, alles, was ich gesagt habe … (auch über etwas andres), das war alles dummes Zeug, wie es einem so die Trunkenheit eingibt.«

»Warum entschuldigst du dich denn noch? Die ganze Geschichte ist mir zum Ekel geworden!« rief Raskolnikow mit übermäßiger Gereiztheit, die zum Teil erkünstelt war.

»Ich weiß, ich weiß, ich kann dir das nachfühlen. Sei überzeugt, daß ich dir das nachfühlen kann. Ich schäme mich, darüber auch nur ein Wort zu verlieren …«

»Wenn du dich schämst, dann sprich nicht davon!«

Beide schwiegen. Rasumichin war höchst vergnügt, und Raskolnikow fühlte das mit Widerwillen. Auch beunruhigte ihn das, was Rasumichin soeben über Porfirij erzählt hatte.

›Vor dem muß ich auch den kranken Bettler spielen‹, dachte er erblassend und mit starkem Herzklopfen, ›und zwar recht natürlich. Das natürlichste wäre allerdings, wenn ich gar keine solche Rolle spielte, mir fest vornähme, es nicht zu tun! Nein, fest vornehmen … das würde wieder nicht natürlich herauskommen … Nun, wir wollen sehen, wie der Hase läuft, … wir werden es ja bald sehen … Ob es wohl gut oder schlecht ist, daß ich hingehe? Die Motte fliegt von selbst in die Kerze hinein. Das Herz klopft mir so stark; das ist nicht gut!‹

»Hier in diesem grauen Hause wohnt er«, sagte Rasumichin.

›Das wichtigste ist‹, überlegte Raskolnikow weiter, ›ob Porfirij es weiß oder nicht weiß, daß ich gestern in der Wohnung dieser Hexe war … und nach dem Blute gefragt habe. Darüber muß ich sofort ins klare kommen; gleich beim ersten Schritte, wenn ich hereinkomme muß ich das aus seiner Miene entnehmen; sonst … Erfahren will ich das, und wenn ich darüber ins Unglück stürze!‹

»Weißt du was?« wandte er sich auf einmal mit schlauem Lächeln an Rasumichin. »Ich habe heute die Beobachtung gemacht, daß du dich schon vom Morgen an in einer außerordentlichen Aufregung befindest. Habe ich recht?«

»Wieso in Aufregung? Ich bin in gar keiner Aufregung!« rief Rasumichin mit einer Grimasse.

»Nein, Bruder, es ist dir wirklich anzumerken. Auf deinem Stuhle saßest du vorhin in einer Weise, wie du es sonst nie tust, nur so auf einer Ecke, und dann zucktest du immer so wunderlich. Fortwährend sprangst du ohne jeden Anlaß auf. Bald sahst du ärgerlich aus, und dann machtest du auf einmal wieder ein Gesicht so süß wie der süßeste Bonbon. Sogar rot wurdest du; namentlich als du zum Mittagessen eingeladen wurdest, da wurdest du furchtbar rot.«

»Ach, bewahre! Was redest du für Unsinn! Was willst du denn damit sagen?«

»Und warum wendest und drehst du dich denn so verlegen hin und her wie ein Schuljunge? Ei, ei, er ist schon wieder rot geworden!«

»Ach, du Dummkopf du!«

»Aber warum wirst du denn so verlegen? Du Romeo! Warte nur, das erzähle ich heute noch anderswo weiter, ha-ha-ha! Da wird meine Mama drüber lachen … und noch jemand anders …«

»Hör mal, hör mal, aber im Ernst, das ist ja … Was soll denn das heißen?« rief Rasumichin; er war völlig verwirrt geworden, und es überlief ihn vor Schreck ganz kalt. »Was willst du ihnen erzählen, Bruder? Ich habe … Ach, was bist du für ein Dummkopf!«

»Wie eine Pfingstrose siehst du aus! Und wenn du wüßtest, wie gut dir das steht; ein baumlanger Romeo! Und wie du dich heute gewaschen hast, und die Nägel gereinigt, was? Wann ist das sonst je dagewesen? Und wahrhaftig, pomadisiert hast du dich auch! Bück dich mal!«

»Dummkopf!«

Raskolnikow lachte so, daß er sich anscheinend gar nicht mehr beherrschen konnte; so betraten sie denn noch lachend Porfirijs Wohnung. Gerade das hatte Raskolnikow beabsichtigt: von den Zimmern aus mußte man es hören können, daß sie lachend eintraten und auch im Vorzimmer immer noch weiterlachten.

»Kein Wort hier davon, oder ich zermalme dich!« flüsterte Rasumichin wütend und packte Raskolnikow an der Schulter.

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Kapitel 19

V

Dieser trat bereits in das Zimmer und machte dabei ein Gesicht, als müßte er mit aller Gewalt an sich halten, um nicht vor Lachen loszuplatzen. Ihm folgte mit verdrießlicher, grimmiger Miene der lange, ungelenke Rasumichin, vor Verlegenheit rot wie eine Päonie. Sein Gesicht und seine ganze Figur waren wirklich in diesem Augenblicke lächerlich und rechtfertigten Raskolnikows Heiterkeit. Ohne noch vorgestellt zu sein, verbeugte sich Raskolnikow vor dem Hausherrn, der mitten im Zimmer stand und sie fragend anblickte, und wechselte mit ihm einen Händedruck, wobei er immer noch durchblicken ließ, welche Anstrengung es ihm mache, seine Lustigkeit zu unterdrücken und auch nur die wenigen zur Vorstellung erforderlichen Worte zu sprechen. Aber kaum war es ihm gelungen, eine ernste Miene anzunehmen und etwas Unverständliches zu murmeln, da blickte er auf einmal wieder, wie unwillkürlich, Rasumichin an und konnte sich nun nicht mehr beherrschen: das unterdrückte Lachen brach um so unaufhaltsamer heraus, je stärker es bis dahin zurückgedrängt war. Der gewaltige Ingrimm, mit welchem Rasumichin dieses anscheinend von Herzen kommende Lachen aufnahm, verlieh dieser ganzen Szene den Anschein einer durchaus echten Lustigkeit und, was das wichtigste war, der Natürlichkeit. Rasumichin erhöhte, als ob er es darauf angelegt gehabt hätte, diesen Eindruck noch durch sein Benehmen; er schrie: »Hol’s der Teufel!« schwenkte dabei mit dem Arm und traf ein kleines rundes Tischchen, auf dem ein leergetrunkenes Teeglas stand. Alles fiel zu Boden; das Glas ging klirrend in Scherben.

»Recht so, meine Herren! Immer heiter und vergnügt!« rief Porfirij Petrowitsch fröhlich.

Es bot sich jetzt folgender Anblick dar: Raskolnikow lachte und lachte und vergaß darüber ganz, daß seine Hand noch in der des Hausherrn lag; aber er verstand, das richtige Maß innezuhalten, und wartete nur auf den passenden Augenblick, um möglichst bald und möglichst natürlich damit aufzuhören. Rasumichin, der durch das Umfallen des Tischchens und das Zerbrechen des Glases ganz und gar aus der Fassung gekommen war, blickte finster auf die Scherben, spuckte aus, drehte sich kurz um und trat ans Fenster, wo er den andern den Rücken zukehrte, ein furchtbar ärgerliches Gesicht schnitt und durchs Fenster schaute, ohne etwas zu sehen. Porfirij Petrowitsch lachte und war gern bereit, weiter mitzulachen, bedurfte aber offenbar der Aufklärung. In einer Ecke hatte auf einem Stuhle Sametow gesessen; beim Eintritt der Besucher hatte er sich erhoben und stand nun erwartungsvoll da. Den Mund hatte er zu einem Lächeln auseinandergezogen; aber er betrachtete den ganzen Auftritt mit Erstaunen und einer Art von Mißtrauen; Raskolnikow gegenüber zeigte er sogar eine gewisse Verlegenheit. Durch Sametows unerwartete Anwesenheit fühlte sich Raskolnikow unangenehm überrascht.

›Das muß ich auch noch mit in Betracht ziehen!‹ dachte er.

»Ich muß um Entschuldigung bitten«, begann er mit gekünstelter Verlegenheit, »mein Name ist Raskolnikow.«

»O bitte, bitte, sehr angenehm, und Sie kamen in so angenehmer Weise herein … Aber will denn der da nicht einmal guten Tag sagen?« erwiderte Porfirij Petrowitsch und wies mit einer Kopfbewegung auf Rasumichin hin.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, warum er auf mich so wütend ist. Ich habe ihm nur unterwegs gesagt, er sehe aus wie ein Romeo, und habe ihm die Beweisgründe dafür angeführt; weiter ist meines Wissens nichts gewesen.«

»Dummkopf!« rief Rasumichin, ohne sich umzudrehen.

»Es müssen also doch wohl sehr ernste Gründe vorgelegen haben, wenn er wegen dieses einen Wörtchens so böse wurde!« meinte Porfirij lachend.

»Na ja, nun fängst du auch noch an, du Untersuchungskommissar du! Hol euch alle der Kuckuck!« rief Rasumichin ärgerlich, fing dann aber auf einmal selbst an zu lachen und trat mit wieder ganz vergnügtem Gesichte, als sei gar nichts vorgefallen, auf Porfirij Petrowitsch zu.

»Nun, abgetan! Ihr seid allesamt Narren. Also zur Sache: das hier ist mein Freund Rodion Romanowitsch Raskolnikow; erstens wünscht er deine Bekanntschaft zu machen, da er schon viel von dir gehört hat, und zweitens führt ihn eine kleine geschäftliche Angelegenheit zu dir. Ah, Sametow! Wie kommst du denn hierher? Seid ihr denn miteinander bekannt? Verkehrt ihr schon lange?«

›Was hat denn das nun wieder zu bedeuten?‹ fragte sich Raskolnikow beunruhigt.

Sametow wurde anscheinend verlegen, jedoch nur ein klein wenig.

»Wir haben uns ja doch gestern bei dir kennengelernt«, antwortete er in ungezwungenem Tone.

»Na, da bleibt mir ja eine Mühe erspart: in der vorigen Woche hat er mir fortwährend zugesetzt, ich möchte ihn irgendwie mit dir, Porfirij, bekannt machen; und nun habt ihr einander auch ohne meine Beihilfe gründlich berochen … Wo ist denn dein Tabak?«

Porfirij Petrowitsch war im Hausanzuge: er trug einen Schlafrock, sehr saubere Wäsche und ausgetretene Pantoffeln. Er war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, etwas unter Mittelgröße, wohlgenährt und sogar mit einem kleinen Embonpoint ausgestattet, vollständig glattrasiert, mit kurzgeschorenem Haar auf dem großen, runden Kopfe, der hinten eine besonders hervortretende Wölbung zeigte. Sein dickes, rundes, etwas stumpfnasiges Gesicht hatte eine kränkliche, dunkelgelbe Farbe, dabei aber doch etwas Energisches und sogar Spöttisches. Dieses Gesicht wäre selbst gutmütig zu nennen gewesen, wenn dem nicht der Ausdruck der Augen widersprochen hätte; diese hatten einen feuchten, wässerigen Glanz und waren von fast weißen Wimpern bedeckt, die fortwährend zuckten, als ob sie jemandem zuzwinkerten. Der Blick dieser Augen stand in einem eigentümlichen Gegensatze zu der ganzen Figur, die etwas Weibisches an sich hatte; sie erhielt dadurch einen weit ernsteren Charakter, als ihn der erste Anblick hatte annehmen lassen.

Sobald Porfirij Petrowitsch hörte, daß der Besucher ein kleines geschäftliches Anliegen an ihn habe, bat er ihn sogleich, auf dem Sofa Platz zu nehmen, setzte sich selbst in die andre Ecke und wendete sich dem Besucher zu, mit dem Ausdrucke der Erwartung, daß nun unverzüglich die Darlegung des Anliegens erfolgen werde. Er bekundete dabei jene Art von forcierter und übermäßig ernster Aufmerksamkeit, die den andern zu bedrücken und zu verwirren geeignet ist, namentlich wenn er diese Eigenheit noch nicht kennt, und namentlich wenn das, was er auseinandersetzen will, nach seinem eigenen Urteile in gar keinem Verhältnisse zu der außerordentlich gespannten Aufmerksamkeit steht, mit der er beehrt wird. Aber Raskolnikow trug in kurzer, bündiger Darlegung klar und bestimmt sein Anliegen vor und war mit sich selbst so zufrieden, daß er die Zeit auch noch dazu benutzte, Porfirij recht genau zu betrachten. Auch Porfirij Petrowitsch wandte die ganze Zeit über kein Auge von ihm. Rasumichin hatte an demselben Tische ihnen gegenüber Platz genommen und folgte mit eifrigem Interesse und starker Ungeduld der Auseinandersetzung der Angelegenheit, wobei er fortwährend seine Augen von dem einen zum andern wandern ließ, was sich etwas wunderlich ausnahm.

›Du Esel!‹ schimpfte Raskolnikow ihn im stillen.

»Sie müssen eine Eingabe an die Polizei machen«, antwortete Porfirij in rein geschäftlichem Tone, »dieses Inhalts: Sie hätten von dem und dem Vorfall gehört, also von diesem Morde, und bäten nun Ihrerseits, man möge den Untersuchungskommissar, in dessen Händen die Sache liege, davon benachrichtigen, daß die und die Gegenstände Ihr Eigentum seien und Sie den Wunsch hätten, sie einzulösen, … oder so ähnlich … Man wird Ihnen das übrigens aufsetzen.«

»Das ist ja eben die Sache«, erwiderte Raskolnikow, möglichst bemüht, verlegen zu scheinen, »daß ich augenblicklich gar keine Geldmittel besitze … und nicht einmal imstande bin eine solche Kleinigkeit … Sehen Sie, ich möchte jetzt nur die Erklärung abgeben, daß diese Gegenstände mir gehören und daß ich, sowie ich wieder Geld habe …«

»Nun, das macht ja keinen Unterschied«, antwortete Porfirij Petrowitsch, der Raskolnikows Eröffnung über seine pekuniäre Lage sehr kühl aufnahm. »Übrigens können Sie, wenn Sie wollen, in demselben Sinne auch direkt an mich schreiben, so: ›Nachdem ich das und das erfahren habe, bezeichne ich die und die Sachen als mein Eigentum und bitte …‹«

»Doch auf gewöhnlichem Papier? Nicht etwa auf Stempelpapier?« unterbrach ihn Raskolnikow hastig, um wieder sein Interesse für die pekuniäre Seite der Angelegenheit hervorzukehren.

»Oh, auf ganz gewöhnlichem!«

Plötzlich, so schien ihm, sah ihn Porfirij Petrowitsch mit unverhohlenem Spotte an; denn er kniff die Augen zusammen, und es machte den Eindruck, als ob er ihm zuzwinkerte. Indessen war es Raskolnikow doch vielleicht nur so vorgekommen, da es nur einen Augenblick dauerte. Jedenfalls: etwas Derartiges war geschehen. Raskolnikow hätte darauf schwören mögen, daß er ihm – mochte der Teufel wissen, warum – zugezwinkert habe.

›Er weiß es!‹ Dieser Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz.

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Lappalien belästigt habe«, fuhr er, etwas aus der Fassung gebracht, fort. »Meine Sachen sind höchstens fünf Rubel wert; aber sie sind mir besonders teuer als Andenken an die Personen, von denen ich sie bekommen habe, und ich muß gestehen, als ich davon hörte, bekam ich einen großen Schreck …«

»Darum fuhrst du also auch gestern so auf, als ich zu Sossimow sagte, Porfirij nähme die Verpfänder ins Verhör?« warf Rasumichin mit unverkennbarer Absicht dazwischen.

Das war nicht mehr zu ertragen. Raskolnikow konnte sich nicht beherrschen und blitzte ihn mit seinen zornfunkelnden schwarzen Augen böse an. Aber sogleich kam er wieder zur Besinnung.

»Du machst dich wohl über mich lustig, Bruder?« wandte er sich an ihn mit geschickt gespielter Empfindlichkeit. »Ich gebe zu, daß ich in meiner Besorgnis um diese Sachen, die in deinen Augen nur Schund sind, vielleicht zu weit gehe; aber darum braucht man mich noch nicht für egoistisch oder habgierig zu halten; in meinen Augen sind diese beiden geringwertigen Gegenstände eben durchaus kein Schund. Ich habe dir schon vorhin gesagt, daß diese silberne Uhr, die allerdings nur einen sehr geringen materiellen Wert hat, das einzige Stück ist, das aus der Hinterlassenschaft meines Vaters übrig ist. Über mich kannst du meinetwegen lachen; aber meine Mutter ist jetzt hier angekommen«, hier wandte er sich auf einmal an Porfirij, »und wenn sie erführe«, er drehte sich schnell wieder zu Rasumichin und gab sich besondere Mühe, seiner Stimme einen zitternden Klang zu geben, »daß diese Uhr verlorengegangen wäre, so würde sie rein in Verzweiflung sein, kann ich dir sagen! Das ist bei Frauen nun einmal so!«

»Aber nein, nein! So habe ich es ja gar nicht gemeint! Ganz im Gegenteil!« rief Rasumichin tief gekränkt.

›Habe ich das auch gut gemacht?‹ überlegte Raskolnikow ängstlich im stillen. ›Kam es auch natürlich heraus? Habe ich auch nicht zu stark aufgetragen? Warum habe ich das von den Frauen gesagt?‹

»Ah, Ihre Frau Mutter ist hergekommen?« erkundigte sich Porfirij Petrowitsch.

»Ja.«

»Wann denn?«

»Gestern abend.«

Porfirij schwieg und schien etwas zu überlegen.

»Verlorengehen konnten Ihre Pfandstücke in keinem Falle«, fuhr er kühl und ruhig fort. »Ich habe schon lange erwartet, daß Sie zu mir kommen würden.«

Und als hätte er nichts Besonderes gesagt, stellte er bedächtig den Aschbecher vor Rasumichin hin, der die Asche von seiner Zigarette achtlos hatte auf den Teppich fallen lassen. Raskolnikow fuhr zusammen; aber Porfirij schien es nicht zu bemerken, sondern immer noch mit Rasumichins Zigarette seine Sorge zu haben.

»Was? Was? Erwartet hast du ihn? Hast du denn gewußt, daß auch er da etwas versetzt hatte?«

Porfirij Petrowitsch wandte sich direkt an Raskolnikow:

»Ihre beiden Sachen, der Ring und die Uhr, waren bei ihr in ein und dasselbe Stück Papier eingewickelt, und auf dem Papier stand, deutlich mit Bleistift geschrieben, Ihr Name sowie auch das Datum, wann sie die Sachen von Ihnen erhalten hatte …«

»Das haben Sie sich ja aber außerordentlich scharf eingeprägt!« erwiderte Raskolnikow mit ungeschicktem Lächeln, wobei er sich große Mühe gab, ihm gerade in die Augen zu sehen; ohne genau zu überlegen, fuhr er fort: »Ich meine, weil es sich doch gewiß um sehr viele Verpfänder handelte, so daß es Ihnen schwer werden mußte, alle einzelnen im Gedächtnis zu behalten … Aber trotzdem erinnern Sie sich so genau an alle, und … und …«

›Das war dumm von mir! Sehr schwach! Warum habe ich das nur noch hinzugefügt?‹ dachte er.

»Beinahe alle Verpfänder haben sich jetzt schon gemeldet; nur Sie waren noch nicht gekommen«, antwortete Porfirij mit einem kaum bemerkbaren Anflug von Spott.

»Ich war nicht recht gesund.«

»Auch davon habe ich gehört. Ich habe auch gehört, daß Sie aus irgendwelchem Anlaß mit Ihren Nerven in Unordnung gekommen seien. Sehen Sie nicht auch heute etwas blaß aus?«

»Ich bin gar nicht blaß, … im Gegenteil, ich bin vollkommen gesund!« entgegnete mit plötzlich verändertem Tone Raskolnikow, unhöflich und ärgerlich.

Die Wut kochte in ihm, und er konnte ihrer nicht mehr Herr werden.

›In der Wut werde ich unbedacht reden!‹ fuhr es ihm wieder durch den Kopf. ›Warum martern sie mich denn eigentlich?‹

»Nicht recht gesund, sagt er, wäre er gewesen!« mischte sich Rasumichin ein. »Na, das ist denn aber doch eine Verdrehung! Bis gestern war er ohne Besinnung und phantasierte … Denk dir mal, Porfirij, er konnte sich kaum auf den Füßen halten; aber sowie wir, ich und Sossimow, gestern den Rücken gewandt hatten, zog er sich an, lief heimlich fort und trieb sich fast bis Mitternacht umher, und zwar in vollständigem Fieberzustande, sage ich dir; kannst du dir so etwas vorstellen? Ein ganz merkwürdiger Fall!«

»Wirklich in vollständigem Fieberzustande? Sagen Sie mal, ist das möglich?« rief Porfirij und schüttelte in einer Art, wie man das sonst bei Weibern sieht, den Kopf.

»Ach, dummes Zeug! Glauben Sie doch so etwas nicht! Übrigens glauben Sie es ja sowieso nicht!« Die letzten Worte ließ sich Raskolnikow in seiner Wut entschlüpfen.

Jedoch Porfirij Petrowitsch schien diese sonderbare Bemerkung gar nicht gehört zu haben.

»Aber dein Weggehen läßt sich doch überhaupt nur aus deinem Fieberzustande erklären!« ereiferte sich Rasumichin. »Warum bist du ausgegangen? Zu welchem Zwecke? Und warum gerade heimlich? Hattest du etwa damals deinen gesunden Verstand? Jetzt, wo alle Gefahr geschwunden ist, kann ich ja offen mit dir darüber reden!«

»Ich konnte die beiden gestern schlechterdings nicht mehr ausstehen«, wandte sich Raskolnikow an Porfirij und lächelte dabei dreist und herausfordernd, »darum lief ich ihnen davon, um mir eine andre Wohnung zu mieten, damit sie mich nicht auffinden könnten, und nahm eine beträchtliche Geldsumme mit. Herr Sametow hier hat das Geld gesehen. Nun, Herr Sametow, war ich gestern bei Verstande, oder hatte ich Fieber? Entscheiden Sie den Streit!«

Er hätte in diesem Augenblicke Sametow am liebsten erwürgt. Die Art, wie dieser ihn bisher schweigend angesehen hatte, brachte ihn auf.

»Meiner Ansicht nach redeten Sie sehr verständig und sogar schlau; nur waren Sie von einer übermäßigen Reizbarkeit«, erwiderte Sametow trocken.

»Und heute erzählte mir Nikodim Fomitsch«, sagte Porfirij Petrowitsch, »er habe Sie gestern zu sehr später Stunde in der Wohnung eines überfahrenen Beamten getroffen …«

»Na ja! Also die Geschichte mit diesem Beamten!« fiel Rasumichin ein. »Hast du dich dabei etwa nicht verrückt benommen? Sein letztes Geld hat er der Witwe zum Begräbnis geschenkt. Wenn du ihr beispringen wolltest, so hättest du ihr fünfzehn, meinetwegen zwanzig Rubel geben sollen; na, und wenn du nur drei Rubel für dich behalten hättest; aber nein, alle fünfundzwanzig hast du ihr hingegeben.«

»Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, von dem du nichts weißt, und das war dann der Grund für meine Freigebigkeit gestern … Herr Sametow hier weiß, daß ich einen Schatz gefunden habe! … Verzeihen Sie nur«, wandte er sich mit zitternden Lippen an Porfirij, »daß wir Sie mit solchem gleichgültigen Gerede eine halbe Stunde lang belästigen. Sie möchten uns gewiß gern loswerden, nicht wahr?«

»Aber ich bitte Sie, ganz im Gegenteil, ganz – im – Gegenteil! Wenn Sie wüßten, wie lebhaft ich mich für Sie interessiere! Sie zu sehen und reden zu hören, hat für mich einen ganz besonderen Reiz, … und ich gestehe, es ist mir eine Freude, daß Sie endlich einmal die Güte hatten, zu mir zu kommen …«

»Na, dann setze uns doch wenigstens Tee vor; die Kehle ist einem ja ganz trocken geworden!« rief Rasumichin.

»Ein sehr guter Gedanke! Ich hoffe, daß die Herren alle teilnehmen. Willst du aber nicht etwas Substantielleres vor dem Tee haben?«

»Damit bleib mir vom Leibe!«

Porfirij Petrowitsch ging hinaus, um Tee zu bestellen.

In Raskolnikows Kopfe wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Er war im höchsten Grade gereizt.

›Das großartigste ist, daß sie nicht einmal heimlich tun und nicht einmal die äußere Form wahren mögen! Was dazu den Anlaß gegeben! Sie haben zweifellos, ehe wir kamen, von mir gesprochen! … Ob sie wohl von meinem gestrigen Besuche in der Wohnung wissen? Wenn sich nur alles recht schnell abspielte! … Als ich sagte, ich wäre gestern weggelaufen, um mir eine Wohnung zu mieten, ließ er diese Bemerkung vorbeigehen und knüpfte nicht daran an … Was ich da vom Wohnungssuchen gesagt habe, das war ganz geschickt gemacht: das kann mir später noch zustatten kommen! … Im Fieberzustande, wird es dann heißen! … Ha-ha-ha! Er weiß über den ganzen gestrigen Abend Bescheid! Nur von der Ankunft meiner Mutter wußte er nichts! … Und auch das Datum hat die alte Hexe mit Bleistift daraufgeschrieben! … Aber ihr irrt euch, ich ergebe mich nicht! Das sind ja noch keine Tatsachen; das sind nur leere Vermutungen! Nein, liefert mal erst Tatsachen! Auch mein Besuch in der Wohnung ist keine beweiskräftige Tatsache; der erklärt sich aus dem Fieberzustande; ich weiß schon, was ich ihnen zu sagen habe … Wissen sie das von der Wohnung? Ich gehe nicht fort, ehe ich das nicht erfahren habe! Weshalb bin ich nur hergekommen? Daß ich mich jetzt so ärgere, das könnte möglicherweise als ein tatsächlicher Schuldbeweis dienen! Scheußlich, daß ich so reizbar bin! Vielleicht ist es aber auch gerade gut; ich spiele ja die Rolle eines Kranken … Er tastet an mir herum. Er wird mich noch aus der Fassung bringen. Weshalb bin ich nur hergekommen?‹

Alles das fuhr ihm wie ein Blitz durch den Kopf.

Porfirij Petrowitsch kam in einem Augenblick wieder zurück. Er schien auf einmal ganz vergnügt geworden zu sein.

»Den gestrigen Abend bei dir spüre ich noch im Kopfe, Bruder, … das hat mich völlig kaputt gemacht!« sagte er in ganz anderm Tone als vorher zu Rasumichin.

»Nun, war es interessant? Ich verließ euch ja gestern gerade bei dem interessantesten Punkte. Wer hat denn gesiegt?« fragte dieser.

»Selbstverständlich niemand. Wir gerieten auf die uralten Streitfragen und schwebten in den Wolken.«

»Stelle dir mal vor, Rodja, auf was für ein Thema die gestern zu sprechen kamen: gibt es Verbrechen oder nicht? Ich sagte ihnen, sie wären verrückt geworden mit ihrem Debattieren!«

»Was ist dabei Verwunderliches? Das ist ja eine ganz gewöhnliche soziale Streitfrage«, antwortete Raskolnikow zerstreut.

»Die Frage war nicht in dieser Weise formuliert«, bemerkte Porfirij.

»Nicht ganz so, das ist richtig«, bestätigte ihm Rasumichin schnell, der nach seiner Gewohnheit in Eifer und Hitze geriet. »Höre mal zu, Rodja, und sage mir deine Meinung; du tust mir einen Gefallen damit. Ich wollte gestern bei dem Gerede der Kerle aus der Haut fahren und wartete ungeduldig auf dich; ich hatte ihnen gesagt, daß du kommen würdest … Zuerst wurde die Ansicht der Sozialisten vorgebracht. Diese Ansicht ist ja bekannt: das Verbrechen ist ein Protest gegen die Abnormität der sozialen Einrichtungen – basta, weiter nichts; andre Ursachen werden nicht anerkannt, basta! …«

»Das stellst du doch ganz falsch dar!« rief Porfirij Petrowitsch. Er wurde sichtlich lebhafter und lachte fortwährend bei Rasumichins Anblicke, wodurch dieser immer noch mehr in Rage geriet.

»Andre Ursachen werden von ihnen nicht anerkannt!« unterbrach ihn Rasumichin erregt. »Ich stelle es nicht falsch dar! Ich will dir Bücher zeigen, die sie darüber geschrieben haben; immer heißt es bei ihnen: ›die Gesellschaft ist daran schuld‹, weiter nichts. Das ist ihr beliebtes Schlagwort! Daraus folgt dann ohne weiteres, daß, wenn es gelingt, die Gesellschaft normal einzurichten, mit dem Wegfall jedes Anlasses zu einem Proteste sofort auch alle Verbrechen verschwinden und alle Menschen im Nu gerecht werden. Aber die Natur wird von ihnen nicht in Betracht Denken spart man dabei ganz. Und das ist die Hauptsache: man spart dabei das Denken! Das ganze geheimnisvolle Problem des Lebens läßt sich dann auf zwei Druckseiten abtun!«

»Na, nun ist er aber in Zug gekommen; jetzt schlägt er gehörig die Trommel! Wenn er nun aufhören soll, muß man ihm die Hände festhalten!« rief Porfirij lachend. »Stellen Sie sich das nur vor«, wandte er sich an Raskolnikow, »ebenso ging es gestern abend zu, und immer sechs Stimmen zugleich, und überdies hatte er die Streitenden vorher mit Punsch bewirtet – können Sie sich davon eine Vorstellung machen? – Nein, Bruder, du irrst dich: ›die Gesellschaft‹ ist bei den Verbrechen allerdings ein sehr wesentlicher Faktor; das kannst du mir glauben.«

»Das weiß ich selbst, daß sie ein wesentlicher Faktor ist; aber beantworte mir mal diese Frage: wenn ein Mann von vierzig Jahren ein zehnjähriges Mädchen mißbraucht, hat ihn dann ›die Gesellschaft‹ dazu genötigt?«

»Nun, wenn man es genau nimmt, trägt vielleicht auch daran ›die Gesellschaft‹ mit die Schuld«, bemerkte Porfirij mit auffälligem Ernste. »Ein Verbrechen an einem kleinen Mädchen läßt sich sehr wohl auf ›die Gesellschaft‹ als Ursache zurückführen.«

Rasumichin wurde ordentlich wütend.

»Na«, schrie er, »wenn du willst, so werde ich dir sofort beweisen, daß die weiße Farbe deiner Wimpern einzig und allein daher kommt, daß der Moskauer Glockenturm Iwan Welikij zweihundertfünfzig Fuß hoch ist, und ich will dir das klar, genau, progressiv und sogar mit liberaler Nuance beweisen. Dazu mache ich mich anheischig. Nun, willst du wetten?«

»Ich nehme die Wette an! Wir wollen doch mal hören, wie er das beweisen wird!«

»Ach, er tut ja immer nur so, der Kerl!« rief Rasumichin, vom Stuhle aufspringend, mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Es lohnt sich gar nicht, mit dir über etwas zu reden! Das ist alles bei ihm Verstellung; du kennst ihn bloß noch nicht, Rodja! Auch gestern nahm er für die Verfechter dieser Ansicht Partei, nur um sie alle zum Narren zu halten. Und was er gestern für Zeug zusammengeredet hat, o Gott, o Gott! Und die hatten ihre helle Freude an ihm! … Solche Verstellung ist er imstande vierzehn Tage lang durchzuführen. Im vorigen Jahre – ich weiß nicht, wie er dazu kam – redete er uns ein, er wolle Mönch werden; zwei Monate lang blieb er bei dieser Behauptung! Vor kurzem wollte er uns weismachen, er würde sich verheiraten; es wäre alles schon zur Hochzeit bereit. Sogar einen neuen Anzug ließ er sich machen. Wir gratulierten ihm schon. Keine Braut, nichts war da; alles Flunkerei!«

»Das ist wieder eine Verdrehung von dir! Den Anzug hatte ich mir schon vorher machen lassen. Eben dieser neue Anzug brachte mich erst auf den Gedanken, euch alle hinters Licht zu führen.«

»Sind Sie wirklich ein solcher Meister in der Kunst, sich zu verstellen?« fragte Raskolnikow lässig.

»Sie glauben es wohl nicht? Warten Sie nur, ich werde Sie auch noch einmal anführen – ha-ha-ha! Nein, wissen Sie, ich wollte Ihnen noch etwas im Ernste sagen. Wir reden hier über Streitfragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleine Mädchen usw.: dabei ist mir jetzt ein Aufsatz von Ihnen eingefallen, der mich übrigens schon immer interessiert hat. ›Über das Verbrechen‹ oder wie Sie ihn betitelt haben; ich habe die Überschrift vergessen, ich besinne mich nicht darauf. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst zu lesen.«

»Meinen Aufsatz? In der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst?« fragte Raskolnikow erstaunt. »Ich habe allerdings vor einem halben Jahre, als ich die Universität verließ, durch die Lektüre eines Buches angeregt, einen solchen Aufsatz geschrieben; aber ich habe ihn damals der Wissenschaftlichen Wochenschrift und nicht der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst eingereicht.«

»Aber erschienen ist er in der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst.«

»Die Wissenschaftliche Wochenschrift ging ein; darum wurde er nicht gedruckt …«

»Ganz richtig; aber die Wissenschaftliche Wochenschrift wurde bei ihrem Eingehen mit der Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst verschmolzen, und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten in der letzteren. Haben Sie das nicht gewußt?«

Raskolnikow wußte wirklich nichts davon.

»Aber ich bitte Sie! Sie können doch von der Zeitschrift ein Honorar für Ihren Aufsatz verlangen! Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie leben so zurückgezogen, daß Ihnen nicht einmal Dinge, die Sie direkt angehen, bekannt sind. Was ich Ihnen gesagt habe, ist eine Tatsache!«

»Hurra, Rodja! Ich habe auch nichts davon gewußt!« rief Rasumichin. »Ich gehe noch heute in den Lesesaal und lasse mir die Nummer geben! Vor zwei Monaten ist es gewesen? Weißt du das Datum, Porfirij? Nun, das tut nichts; ich werde den Aufsatz schon finden. Das ist ja famos! Und davon sagt er einem nichts!«

»Woher haben Sie denn erfahren, daß der Aufsatz von mir war? Er war doch nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.«

»Das habe ich nur zufällig erfahren, und erst in diesen Tagen. Vom Redakteur; ich bin mit ihm bekannt … Der Aufsatz hat mich außerordentlich interessiert.«

»Soweit ich mich erinnere, erörterte ich den Seelenzustand des Verbrechers während seiner ganzen Beschäftigung mit dem Verbrechen.«

»Jawohl, und Sie behaupten, daß die eigentliche Ausführung des Verbrechens immer von einem Krankheitszustande begleitet sei. Sehr originell, in der Tat; aber … was mich interessierte, war eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein Gedanke, den Sie am Ende Ihres Aufsatzes äußern, aber leider nur andeuten, ohne ihn klar auszuführen … Kurz, wenn Sie sich erinnern, es wird dort darauf hingedeutet, daß es auf der Welt Individuen gibt, die allerlei Exzesse und Verbrechen begehen können, … das heißt, nicht bloß können, sondern ein Recht dazu haben, und daß für sie die Gesetze nicht geschrieben sind.«

Raskolnikow lächelte über diese gewaltsame, absichtliche Entstellung seines Gedankens.

»Wie? Was ist das? Ein Recht, Verbrechen zu begehen? Aber doch nicht, weil ›die Gesellschaft‹ daran schuld wäre?« erkundigte sich Rasumichin ganz erschrocken.

»Nein, nein, nicht eigentlich deswegen«, antwortete Porfirij. »Der Kern der Sache ist, daß in Herrn Raskolnikows Aufsatze alle Menschen in gewöhnliche und außerordentliche eingeteilt werden. Die gewöhnlichen sind zum Gehorsam verpflichtet und haben kein Recht, das Gesetz zu überschreiten, eben deswegen, weil sie nur gewöhnliche Menschen sind. Aber die außerordentlichen haben das Recht oder gar die Pflicht, allerlei Verbrechen zu begehen und in jeder Weise das Gesetz zu übertreten, eben darum, weil sie außerordentliche Menschen sind. So steht es ja wohl in Ihrem Aufsatze, wenn ich nicht irre?«

»Aber wie denn? So kann es doch unmöglich dastehen?« murmelte Rasumichin verblüfft.

Raskolnikow lächelte wieder. Er hatte gleich von vornherein durchschaut, wie die Sache lag und wohin er gebracht werden sollte; seinen Aufsatz hatte er ganz gut im Gedächtnis. Er beschloß, die Herausforderung anzunehmen.

»Ganz so steht es allerdings nicht in meinem Aufsatze«, begann er schlicht und bescheiden. »Indessen gebe ich zu, daß Sie den Gedanken annähernd richtig wiedergegeben haben, und wenn Sie das gern hören, sogar vollständig richtig …« (Er tat so, als mache es ihm Vergnügen, zuzugeben, die Welt und führen sie zum Ziele. Die einen und die andern haben eine völlig gleiche Existenzberechtigung. Kurz, nach meiner Ansicht haben alle ein gleich wohlbegründetes Recht; und: vive la guerre éternelle! Natürlich, bis das neue Jerusalem kommt!«

»Also glauben Sie doch, daß das neue Jerusalem einmal kommen wird?«

»Das glaube ich«, antwortete Raskolnikow fest. Er blickte bei diesen Worten, wie schon während seiner ganzen langen Darlegung, zu Boden, wo er sich einen Punkt auf dem Teppich ausgesucht hatte.

»Und … und … und glauben Sie an Gott? Verzeihen Sie meine dreiste Frage!«

»Ich glaube an ihn«, erwiderte Raskolnikow; dabei blickte er auf und sah Porfirij an.

»Und … und glauben Sie an die Auferstehung des Lazarus?«

»J–ja. Wozu diese Fragen?«

»Glauben Sie daran im buchstäblichen Sinne?«

»Allerdings.«

»So, wirklich! … Nun, ich fragte nur so aus neugierigem Interesse; entschuldigen Sie. Aber wenn ich auf unser voriges Thema zurückkommen darf, gestatten Sie einen Einwand: die außerordentlichen Menschen werden doch nicht immer hingerichtet; manche haben doch auch ein ganz entgegengesetztes Los.«

»Sie meinen: sie triumphieren noch bei Lebzeiten? O ja, manche erreichen das noch bei Lebzeiten, und dann …«

»Dann fangen sie selbst an, hinzurichten?«

»Wenn es nötig ist, ja; und, wissen Sie, das ist eigentlich meist der Fall. Ihre Bemerkung war sehr scharfsinnig.«

»Danke. Aber nun, bitte, sagen Sie mir noch eins: wodurch soll man diese außerordentlichen Menschen von den gewöhnlichen unterscheiden? Gibt es vielleicht schon bei der Geburt derartige Merkmale? Ich werfe diese Frage deshalb auf, weil hier doch möglichst große Klarheit, sozusagen eine mehr äußerliche Bestimmbarkeit erforderlich wäre; entschuldigen Sie die Besorgnis, die mir als einem im praktischen Leben stehenden, ordnungsliebenden Manne naheliegt; aber könnte man da nicht zum Beispiel eine besondere Kleidung einführen, oder daß sie irgendein Abzeichen trügen, etwa einen Stempel oder so etwas? Denn Sie werden selbst zugeben müssen, wenn es da zur Konfusion kommen sollte und einer aus der einen Klasse sich einbildete zur andern Klasse zu gehören und nun anfinge, ›alle Hindernisse zu beseitigen‹, wie Sie sich sehr treffend ausdrückten, dann würde doch …«

»Oh, das kommt sehr häufig vor. Diese Ihre Bemerkung ist sogar noch scharfsinniger als die vorige.«

»Danke.«

»Keine Ursache! Aber bedenken Sie, daß ein derartiger Irrtum nur von seiten der ersten Klasse möglich ist, das heißt, von Seiten der gewöhnlichen Menschen, wie ich sie mit einem vielleicht sehr wenig glücklich gewählten Ausdrucke genannt habe. Trotz der ihnen angeborenen Neigung zum Gehorsam, lieben (vermöge einer lebhaften Phantasie, wie sie selbst den Kühen nicht versagt ist) es dennoch sehr viele von ihnen, sich für Bahnbrecher und Zerstörer zu halten und sich auf neue Ideen zu kaprizieren, und zwar durchaus in gutem Glauben. Und diejenigen, die wirklich neue Werte schaffen, werden von ihnen dabei oft gar nicht beachtet und sogar als rückständig und niedrigdenkend geringgeschätzt. Aber eine erhebliche Gefahr kann meines Erachtens dadurch nicht hervorgerufen werden, und Sie haben wirklich keinen Anlaß zur Besorgnis; denn besonders weit geht diese Sorte von Menschen in ihren Exzessen niemals. Für ihr verblendetes Handeln könnte man ihnen ja manchmal die Rute geben, damit sie nicht vergessen, an welchen Platz sie gehören; aber auch nicht mehr. Auch bedarf es dabei gar nicht einmal eines Vollstreckers der Strafe; sie werden sich schon selbst die Rute applizieren, weil sie sehr moralisch sind: manche erweisen einander wechselseitig diesen Dienst, andere besorgen es bei sich eigenhändig … Sie legen sich dabei allerlei öffentliche Bußen auf – das macht sich sehr hübsch und erbaulich; kurz, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen … Dafür ist das Gesetz da.«

»Nun, wenigstens in dieser Hinsicht haben Sie mich einigermaßen beruhigt; aber da ist noch ein anderer heikler Punkt: bitte, sagen Sie doch, gibt es viele solche Leute, die das Recht haben, andere zu morden, also solche ›Außerordentlichen‹? Ich bin natürlich durchaus bereit, mich denen zu beugen; aber Sie müssen selbst zugeben, es wäre doch eine ängstliche Geschichte, wenn ihrer gar zu viele wären; nicht wahr?«

»Oh, auch darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, fuhr Raskolnikow in demselben Tone fort. »Menschen mit neuen Ideen, ja selbst Menschen, die auch nur einigermaßen fähig sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt in außerordentlich geringer Anzahl geboren; es ist sogar geradezu merkwürdig, wie spärlich sie sind. Nur das eine ist klar: die Ordnung, in welcher die Menschen aller dieser Klassen und Unterabteilungen geboren werden, ist gewiß in bestimmter, genauer Weise durch ein Naturgesetz geregelt. Dieses Gesetz ist uns selbstverständlich zur Zeit unbekannt; aber ich glaube, daß es existiert und in der Folgezeit auch zu unserer Kenntnis gelangen kann. Das gewaltige Gros der Menschen, das Material, existiert in der Welt nur zu dem Zwecke, um schließlich durch eine Art von Anstrengung, durch einen bis jetzt noch geheimnisvollen Vorgang, vermittels irgendwelcher Kreuzung der Familien und Arten ein bestimmtes Resultat zu erzielen, nämlich einen einzigen, auch nur leidlich selbständig denkenden Menschen – sagen wir auf tausend einen – hervorzubringen. Mit größerer Selbständigkeit wird vielleicht einer auf zehntausend geboren (die Zahlen gebe ich nur beispielsweise, zur Veranschaulichung). Mit noch größerer einer auf hunderttausend. Von genialen Menschen kommt einer auf Millionen, und von den ganz großen Genies, die zur Vervollkommnung des Menschengeschlechtes beitragen, vielleicht eines auf viele tausend Millionen Menschen. Kurz, in die Retorte, in der sich dieser ganze Prozeß vollzieht, habe ich nicht hineingeschaut. Aber ein bestimmtes Gesetz existiert sicher und muß existieren; bloßer Zufall kann da nicht vorliegen.«

»Sagt mal, macht ihr beide nur Spaß?« rief Rasumichin endlich. »Wollt ihr euch wechselseitig zum besten haben, oder wie ist das? Sitzen die beiden Menschen da und machen sich einer über den andern lustig! Oder hast du im Ernst geredet, Rodja?«

Raskolnikow hob sein bleiches, beinahe trauriges Gesicht und sah ihn an, ohne zu antworten. Und einen merkwürdigen Eindruck machte auf Rasumichin im Gegensatze zu diesem stillen, traurigen Gesichte der unverhohlene, dreiste, verletzende Spott auf dem Gesichte Porfirijs.

»Nun, Bruder, wenn du wirklich im Ernste geredet hast, so … Du hast natürlich ganz recht, wenn du sagst, daß das nicht neu sei und daß wir es ähnlich schon tausendmal gelesen und gehört hätten; aber was tatsächlich an alledem originell und, zu meinem Schrecken, dein ausschließliches geistiges Eigentum ist, das ist die Erlaubnis, die du den Menschen erteilst, nach ihrem Gewissen Blut zu vergießen; und das tust du sogar mit einem wahren Fanatismus, nimm’s nicht übel! … Das ist also wohl auch der Hauptgedanke deines Aufsatzes. Diese, diese Erlaubnis, nach eigenem Gewissen Blut zu vergießen, die … die ist nach meiner Meinung schrecklicher, als es eine offizielle, gesetzliche Erlaubnis, Blut zu vergießen, sein würde …«

»Durchaus richtig, diese ist schrecklicher«, stimmte ihm Porfirij bei.

»Nein, da hast du dich von deinem Eifer hinreißen lassen! Da liegt ein Irrtum vor. Ich will deinen Aufsatz durchlesen … Du hast dich hinreißen lassen! So kannst du ja gar nicht denken … Ich werde es lesen.«

»In meinem Aufsatze steht das alles nicht; da sind nur Andeutungen gegeben«, erwiderte Raskolnikow.

»Jawohl, jawohl«, sagte Porfirij und rückte erregt auf seinem Stuhle hin und her, »jetzt ist es mir ziemlich klar geworden, wie Sie das Verbrechen ansehen; aber … entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit (ich belästige Sie gar zu sehr; ich schäme mich selbst) – sehen Sie mal: Sie haben mich vorhin recht beruhigt in bezug auf Fälle irrtümlicher Vermengung der beiden Klassen; aber … es beunruhigen mich dabei immer noch allerlei in der Praxis mögliche Fälle! Wenn nun ein Mann oder ein Jüngling sich einbildet, er sei ein Lykurg oder ein Mohammed – in spe natürlich – und nun munter beginnt, alle Hindernisse zu beseitigen … Er sagt sich, der Weg zum Ziele sei lang, und zur Zurücklegung dieses Weges brauche er Geld, … und nun fängt er an, sich das Geld zu diesem Wege zu beschaffen, … Sie verstehen?«

Sametow prustete in seiner Ecke plötzlich vor Lachen los. Raskolnikow wandte die Augen gar nicht zu ihm.

»Ich muß zugeben«, antwortete er ruhig, »daß solche Fälle nicht ausbleiben können. Dumme, eitle Menschen sind dieser Versuchung besonders ausgesetzt, namentlich die Jugend.«

»Sehen Sie wohl! Nun, und was dann?«

»Dann hat es auch noch nicht viel zu sagen«, antwortete Raskolnikow lächelnd, »ich bin doch jedenfalls nicht daran schuld. Es ist nun einmal so und wird nie anders werden. Der hier« (er wies auf Rasumichin) »sagte eben, ich gäbe die Erlaubnis zum Blutvergießen. Nun, was macht das? Die Gesellschaft hat sich doch durch Verschickung nach Sibirien, durch Gefängnisse, Untersuchungskommissare und Zuchthäuser genug und übergenug gesichert: wozu sich da also beunruhigen? Mag man den Verbrecher suchen!«

»Und wenn wir ihn finden?«

»Dann mag er bestraft werden.«

»Sie denken außerordentlich logisch. Und wie steht es mit seinem Gewissen?«

»Was kümmert Sie sein Gewissen?«

»Nun, ich frage nur so – aus Humanität.«

»Wer ein Gewissen hat, der mag leiden, wenn er zur Erkenntnis seines Irrtums kommt. Auch das ist eine Strafe für ihn, die noch zur Zuchthausstrafe hinzukommt.«

»Nun, und die wirklich Genialen«, fragte Rasumichin mit finsterer Miene, »also die, denen das Recht zu morden gegeben ist, die sollen gar nicht leiden, auch nicht für vergossenes Blut?«

»Was soll hier der Ausdruck ›sollen‹? Es handelt sich hier weder um eine Erlaubnis noch um ein Verbot. Mag ein solcher leiden, wenn ihm sein Opfer leid tut. Wo eine umfassende Erkenntnis und ein tief empfindendes Herz vorhanden sind, da bleiben auch Leid und Schmerz nicht aus. Die wahrhaft großen Menschen müssen, wie ich glaube, auf der Welt eine große Traurigkeit empfinden«, fügte er in düsterem Nachdenken hinzu, gar nicht im Gesprächstone.

Er blickte auf, sah alle nachdenklich an, lächelte und griff nach seiner Mütze. Er war gar zu ernst geworden im Vergleich mit der Lustigkeit bei seinem Eintritte, und er fühlte das. Alle standen auf.

»Na, mögen Sie nun auf mich schimpfen oder nicht, auf mich wütend werden oder nicht, ich kann nicht umhin, noch ein Wort hinzuzufügen«, sagte Porfirij Petrowitsch zum Schluß. »Gestatten Sie mir nur noch eine kleine Frage (ich mache mir Vorwürfe, Sie so zu belästigen); nur einen einzigen kleinen Einfall möchte ich aussprechen, nur um ihn nicht zu vergessen …«

»Schön, sagen Sie Ihren kleinen Einfall!« erwiderte Raskolnikow, der ernst und blaß vor ihm stand und wartete.

»Ich meine so: … Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich mich am passendsten ausdrücken soll … Der Einfall ist zu komisch, … aus dem Gebiete der Psychologie … Ich meine so: als Sie Ihren Aufsatz schrieben, da haben Sie selbst sich doch notwendigerweise, he-he-he, wenigstens ein ganz klein bißchen auch für einen außerordentlichen Menschen gehalten, der ›etwas Neues sprechen‹ könne, in dem Sinne, wie Sie diesen Ausdruck gebrauchen … Ist’s nicht so?«

»Sehr möglich!« erwiderte Raskolnikow geringschätzig. Rasumichin machte eine Bewegung.

»Wenn nun dem so ist, hätten Sie sich wirklich selbst entschlossen, na, in einer bestimmten Lage, angesichts irgendwelcher Schicksalsschläge und Bedrängnisse oder auch zur Förderung des Wohles der ganzen Menschheit – hätten Sie sich entschlossen, über ein Hindernis hinwegzuschreiten? … Nun, zum Beispiel, zu morden und zu rauben?«

Wieder machte es den Eindruck, als zwinkere er ihm mit dem linken Auge zu und lache lautlos – genau wie eine Weile vorher.

»Wenn ich wirklich über ein Hindernis hinwegschritte, so würde ich es Ihnen natürlich nicht sagen«, antwortete Raskolnikow mit herausfordernder, hochmütiger Verachtung.

»Nicht doch, ich frage ja doch nur aus ganz harmlosem Interesse, eigentlich nur, um Ihren Aufsatz besser verstehen zu können, vom rein literarischen Gesichtspunkte aus.«

›Pfui, wie unverhohlen und unverschämt er redet!‹ dachte Raskolnikow mit Ekel.

»Gestatten Sie mir, Ihnen zu erklären«, entgegnete er trocken, »daß ich mich nicht für einen Mohammed oder Napoleon halte und überhaupt für keinen Menschen von solcher Art; da ich also ein derartiger Mensch nicht bin, so kann ich Ihnen auch keine befriedigende Auskunft darüber geben, wie ich handeln würde.«

»Nun, lassen Sie’s gut sein; wer hält sich jetzt bei uns in Rußland nicht für einen Napoleon?« erwiderte Porfirij auf einmal in außerordentlich familiärer Redeweise. Sogar in seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches.

»Wenn nur nicht auch so ein künftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna in der vorigen Woche mit dem Beile totgeschlagen hat!« platzte der im Winkel sitzende Sametow heraus.

Raskolnikow schwieg und blickte Porfirij unverwandt und fest an. Rasumichin machte ein ingrimmiges, finsteres Gesicht; schon vorher war ihm manches seltsam vorgekommen; er blickte zornig um sich. Eine Minute verging in düsterem Schweigen. Raskolnikow wandte sich um, um fortzugehen.

»Wollen Sie schon gehen?« fragte Porfirij freundlich und streckte ihm überaus liebenswürdig die Hand hin. »Es ist mir sehr, sehr angenehm gewesen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Und was Ihr Gesuch anlangt, so seien Sie ganz unbesorgt. Schreiben Sie es nur so, wie ich Ihnen sagte. Das beste wäre, wenn Sie selbst einmal zu mir in mein Bureau kämen, … wenn es sich so macht, in diesen Tagen, … meinetwegen morgen. Ich bin so um elf Uhr bestimmt da. Dann wollen wir alles in Ordnung bringen … und uns ein bißchen unterhalten … Sie, als einer der letzten, die am Tatort gewesen sind, könnten uns auch vielleicht irgendwelche Mitteilung machen …«, fügte er mit der gutmütigsten Miene hinzu.

»Sie wollen mich amtlich, mit allen Formalitäten, vernehmen?« fragte Raskolnikow scharf.

»Wozu? Vorläufig ist das durchaus nicht erforderlich. Sie haben mich mißverstanden Sehen Sie, ich möchte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, … und ich habe schon mit allen andern Verpfändern gesprochen, … mit einigen habe ich auch ein Zeugenverhör angestellt, … und Sie, als der letzte … Ja, halt einmal!« rief er, als freue er sich über einen Gedanken, der ihm gekommen sei. »Da fällt mir ein, … wie hatte ich es nur vergessen können! …« wandte er sich an Rasumichin. »Du hast mir doch damals von diesem Nikolai die Ohren vollgeredet, … na, ich weiß ja selbst, weiß ja selbst«, wandte er sich zu Raskolnikow, »daß der Bursche unschuldig ist; aber was sollte ich tun? Und auch den Dmitrij habe ich belästigen müssen … Also die Sache ist die, um mich kurz zu fassen: als Sie damals auf der Treppe vorbeikamen, … erlauben Sie, Sie waren doch zwischen sieben und acht Uhr dort?«

»Jawohl!« antwortete Raskolnikow und sagte sich in demselben Augenblicke mit einem unbehaglichen Gefühle, daß er diese Antwort nicht hätte zu geben brauchen.

»Also, als Sie zwischen sieben und acht Uhr auf der Treppe vorbeikamen, haben Sie da nicht im ersten Stockwerk, in einer offenstehenden Wohnung – erinnern Sie sich? – zwei Gesellen oder wenigstens einen von ihnen gesehen? Sie waren da mit Anstreichen beschäftigt; haben Sie sie nicht bemerkt? Das ist für die beiden Leute sehr, sehr wichtig! …«

»Anstreicher? Nein, ich habe keine gesehen …«, antwortete Raskolnikow langsam, als ob er in seinen Erinnerungen herumsuche; gleichzeitig spannte er, fast erliegend unter der Qual, seine ganze Geisteskraft an, um möglichst schnell zu erkennen, worin eigentlich die Falle bestand, und um ja nichts zu übersehen. »Nein, ich habe keine Gesellen gesehen, und eine solche offenstehende Wohnung habe ich auch nicht bemerkt … Aber ich erinnere mich, daß im dritten Stockwerk« (er hatte die Falle jetzt vollständig erkannt und triumphierte) »ein Beamter aus seiner Wohnung auszog … gegenüber von Aljona Iwanownas Wohnung, … daran erinnere ich mich, … daran erinnere ich mich ganz deutlich; … Soldaten trugen ein Sofa hinaus und drückten mich dabei gegen die Wand; … aber Anstreicher, nein, ich kann mich nicht erinnern, daß Anstreicher dagewesen wären, … und eine offenstehende Wohnung habe ich auch nirgends gesehen. Nein, nirgends …«

»Aber was redest du denn eigentlich, Porfirij!« rief Rasumichin, der sich nun auch besonnen und die Sache überlegt hatte. »Die Anstreicher haben ja doch am Tage des Mordes dort gearbeitet, und er war zwei Tage vorher da! Wie kannst du nur so fragen?«

»Donner ja! Das habe ich verwechselt!« rief Porfirij und schlug sich vor die Stirn. »Hol’s der Teufel, diese Geschichte macht mich noch ganz kopfverdreht!« mit diesen Worten wandte er sich, wie um Entschuldigung bittend, an Raskolnikow. »Es ist für uns von größter Wichtigkeit, zu erfahren, ob jemand die beiden Leute zwischen sieben und acht in der Wohnung gesehen hat, und da bildete ich mir jetzt eben ein, Sie könnten uns vielleicht Auskunft geben … Ich habe es rein verwechselt!«

»Man muß eben seine Gedanken mehr zusammennehmen«, bemerkte Rasumichin ingrimmig.

Diese letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesprochen. Porfirij Petrowitsch begleitete sie außerordentlich liebenswürdig bis an die Tür. Beide traten finster und mürrisch auf die Straße hinaus und sagten während der ersten Schritte kein Wort. Raskolnikow holte aus tiefster Brust Atem.

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