Kapitel 38

VII

An demselben Tage, aber erst am Abend, zwischen sechs und sieben Uhr, ging Raskolnikow nach der Wohnung seiner Mutter und seiner Schwester, nach eben jener Wohnung im Bakalejewschen Hause, die ihnen Rasumichin besorgt hatte. Die Treppe hatte ihren Eingang von der Straße her. Noch als Raskolnikow sich bereits der Wohnung näherte, ging er nur zögernden Schrittes und schien zu schwanken, ob er hineingehen sollte oder nicht. Aber er wäre um keinen Preis umgekehrt; sein Entschluß war gefaßt.

›Zudem ist es ja auch ganz gleich‹, dachte er. ›Sie wissen noch nichts und sind es schon gewohnt, mich für einen wunderlichen Gesellen zu halten …‹

Seine Kleidung sah schrecklich aus: alles war schmutzig und zerdrückt, da er die ganze Nacht im Regen zugebracht hatte. Sein Gesicht war ganz entstellt infolge der Ermüdung, des Unwetters, der physischen Erschöpfung und eines fast vierundzwanzig Stunden währenden Seelenkampfes. Diese ganze Nacht über war er allein gewesen, Gott mochte wissen wo. Aber wenigstens war er zu einem Entschlusse gelangt.

Er klopfte an die Tür, die Mutter öffnete ihm. Dunja war nicht zu Hause. Auch das Dienstmädchen war gerade nicht da. Pulcheria Alexandrowna war zuerst ganz sprachlos vor freudigem Erstaunen; dann ergriff sie ihn an der Hand und zog ihn ins Zimmer hinein.

»Nun, da bist du ja!« begann sie, vor Freude stotternd. »Sei mir nicht böse, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße, mit Tränen: aber ich lache ja nur, ich weine nicht. Denkst du, ich weine? Nein, ich freue mich bloß; aber das ist so eine dumme Angewohnheit von mir, daß mir dann gleich die Tränen kommen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters so an mir: alles bringt mich zum Weinen. Setz dich, lieber Sohn, du bist gewiß müde, das sehe ich. Ach, was hast du dich schmutzig gemacht!«

»Ich bin gestern im Regen aus gewesen, Mama …«, begann Raskolnikow.

»Nicht doch! Nicht doch!« fiel ihm Pulcheria Alexandrowna lebhaft ins Wort. »Du denkst wohl, ich fange gleich an, dich auszufragen, wie ich das früher nach Weiberart zu tun pflegte; aber sei unbesorgt! Ich sehe ja ein, daß das nicht passend war; ich sehe das durchaus ein; jetzt habe ich schon die hiesigen Sitten gelernt, und wirklich, ich muß selbst gestehen, daß die verständiger sind. Ich habe mir ein für allemal gesagt: Wie kann ich deine Ideen fassen und von dir Rechenschaft verlangen? Du hast vielleicht Gott weiß was für Unternehmungen und Pläne im Kopfe, oder es keimen und wachsen da so allerlei Gedanken; wie darf ich dich da immer in die Seite stoßen mit der Frage: ›Woran denkst du?‹ Siehst du, ich … Ach, mein Gott! Was schwatze ich denn da kreuz und quer wie verdreht … Weißt du, Rodja, deinen Aufsatz in der Zeitschrift lese ich jetzt schon zum dritten Male; Dmitrij Prokofjitsch hat ihn mir gebracht. ›Ach so, ach so!‹ rief ich aus, als ich ihn las. ›Was bin ich für eine Närrin!‹ dachte ich bei mir. ›Also mit solchen Dingen beschäftigt er sich! Das ist die Lösung des Rätsels! Die Gelehrten sind alle so. Er hat vielleicht gerade neue Gedanken im Kopfe und überlegt sich die, und da komme ich ihm dazwischen und quäle und belästige ihn!‹ Ich lese deinen Aufsatz, lieber Sohn, aber verstehen tue ich natürlich nicht viel davon. Das ist ja auch ganz natürlich; wie sollte ich denn auch!«

»Zeigen Sie ihn mir doch einmal, Mama.«

Raskolnikow nahm die Zeitschrift und warf einen flüchtigen Blick auf seinen Aufsatz. So wenig das auch zu seiner Lage und zu seinem Zustande passen wollte, so empfand er doch jenes eigentümliche, wonnig kitzelnde Gefühl, welches ein Verfasser durchkostet, der sich zum ersten Male gedruckt sieht; auch wirkten dabei seine dreiundzwanzig Jahre mit. Indes dauerte das nur einen Augenblick. Nachdem er einige Zeilen gelesen hatte, verfinsterte sich sein Gesicht, und ein furchtbarer Gram preßte ihm das Herz zusammen. Der ganze seelische Kampf, den er in den letzten Monaten durchgemacht hatte, kam ihm auf einmal wieder ins Gedächtnis. Voll Widerwillen und Ärger warf er die Zeitschrift auf den Tisch.

»Aber wenn ich auch noch so dumm bin, Rodja, das kann ich doch beurteilen, daß du sehr bald in unserer Gelehrtenwelt einer der ersten Männer, wenn nicht der allererste, sein wirst. Und da haben die Leute gewagt zu meinen, du wärest geistesgestört! Ha-ha-ha! Du weißt das nicht; aber sie haben das gedacht! Ach, dieses niedrige Gewürm; die haben ja keine Ahnung davon, was Verstand ist. Und Dunja, Dunja hat es auch beinahe geglaubt – was sagst du dazu? Dein seliger Vater hat zweimal etwas an Zeitschriften eingesandt, das erstemal Gedichte (ich habe das Heft aufbewahrt und will es dir bei Gelegenheit einmal zeigen) und das zweitemal eine ganze Novelle (er hatte mir auf meine Bitte erlaubt, sie selbst ins reine zu schreiben). Und wie haben wir beide gebetet, daß die Einsendungen angenommen werden möchten; aber sie wurden nicht angenommen! Ach, Rodja, vor sechs, sieben Tagen war ich so tieftraurig, als ich deine Kleidung sah, und wie du wohnst und was du ißt. Aber jetzt sehe ich ein, daß auch das wieder einmal dumm von mir war; denn wenn du nur wolltest, so könntest du jetzt mit einem Schlage alles durch deinen Verstand und durch dein Talent erreichen. Aber du willst das vorläufig nur nicht und bist mit weit wichtigeren Dingen beschäftigt …«

»Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?«

»Nein, Rodja. Sie geht jetzt sehr oft fort und läßt mich allein. Dmitrij Prokofjitsch kommt häufig her und sitzt ein Weilchen bei mir; dafür bin ich ihm sehr dankbar. Er spricht immer von dir; der liebt und schätzt dich sehr, lieber Sohn. Was deine Schwester angeht, so kann ich von ihr nicht sagen, daß sie gerade respektlos gegen mich wäre. Ich beklage mich nicht über sie. Sie hat eben ihren eigenen Charakter und ich den meinigen. Sie hat jetzt irgendwelche Geheimnisse vor mir; na, ich meinerseits habe vor euch keine Geheimnisse. Ich bin ja natürlich der festen Überzeugung, daß Dunja ein sehr kluges Mädchen ist und außerdem mich und dich liebt, … aber ich weiß wirklich nicht, welchen Ausgang das alles noch nehmen wird. Zum Beispiel jetzt: du hast mich glücklich gemacht, Rodja, dadurch daß du hergekommen bist; aber sie ist durch ihre ewigen Spaziergänge dieser Freude verlustig gegangen. Wenn sie wiederkommt, will ich ihr aber sagen: ›Als du weg warst, ist dein Bruder hier gewesen; aber du, wo hast du wieder die Zeit verbracht?‹ Verwöhne mich nur auch nicht zu sehr, Rodja: wenn du kommen kannst, so komm; kannst du nicht, nun, dann ist eben nichts zu machen, dann muß ich warten. Ich weiß ja doch, daß du mich liebst, und das genügt mir. Siehst du, ich werde deine Abhandlungen lesen und von allen Leuten etwas über dich hören, und ab und zu kommst du auch selbst einmal, um mich zu besuchen; was will ich mehr? Du bist ja auch jetzt gekommen, um deiner Mutter eine Freude zu machen; das sehe ich ja …«

Hier brach Pulcheria Alexandrowna plötzlich in Tränen aus.

»Da weine ich schon wieder! Achte nicht auf mich Närrin! Ach Gott, was sitze ich denn hier!« schrie sie und sprang auf. »Es ist ja Kaffee da, und ich setze dir keinen vor! Ja, ja, da sieht man eben, daß alte Frauen immer nur an sich selbst denken. Sofort, sofort!«

»Lassen Sie, lassen Sie, liebe Mama, ich gehe gleich wieder. Darum bin ich nicht gekommen. Bitte, hören Sie mich an.«

Pulcheria Alexandrowna trat schüchtern ein paar Schritte näher zu ihm.

»Liebe Mama, was auch geschehen mag, was Sie auch über mich hören mögen, was man Ihnen auch über mich sagen mag – werden Sie mich trotzdem so lieb behalten wie jetzt?« fragte er so recht aus überquellendem Herzen, ohne seine Worte zu bedenken und abzuwägen.

»Aber Rodja, Rodja, was ist mit dir? Wie kannst du nur so fragen! Und wer wird mir denn auch etwas Ungünstiges über dich sagen? Ich würde es ja auch niemandem glauben; wer mit so etwas zu mir käme, dem würde ich einfach die Tür weisen.«

»Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich Sie immer geliebt habe, und ich bin jetzt froh, daß wir beide allein sind; ja, ich bin sogar froh, daß Dunjetschka nicht hier ist«, fuhr er in demselben herzlichen Tone fort. »Ich bin hergekommen, um Ihnen frei und offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich werden sollten, Sie doch überzeugt sein können, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr liebt als sich selbst und daß alles, was Sie von mir gedacht haben, als wäre ich hartherzig und hätte Sie nicht mehr lieb, daß das alles unrichtig ist. Ich werde nie aufhören, Sie zu lieben … Nun aber genug; ich glaubte, Ihnen dies sagen und damit beginnen zu müssen …«

Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn schweigend, drückte ihn an ihre Brust und weinte still.

»Ich weiß nicht, was mit dir ist, Rodja«, sagte sie endlich. »Ich habe die ganze Zeit her gedacht, wir wären dir einfach langweilig geworden; jetzt aber sehe ich aus allem, was du sagst, daß dir ein großes Leid bevorsteht und du deshalb so bekümmert bist. Ich habe das schon lange geahnt, Rodja. Verzeih mir, daß ich davon angefangen habe; aber ich denke immerzu daran und kann keine Nacht schlafen. Die letzte Nacht hat auch deine Schwester fortwährend phantasiert und immer von dir gesprochen. Ich habe einige Worte davon verstanden, konnte aber nicht daraus klug werden. Den ganzen Vormittag bin ich umhergegangen wie eine zum Tode Verurteilte; ich erwartete etwas, ahnte etwas, und nun ist es eingetreten! Rodja, Rodja, wo willst du hin? Willst du vielleicht irgendwohin reisen?«

»Ja, ich verreise.«

»Das habe ich mir doch gedacht! Aber da könnte ich doch mit dir reisen, wenn du mich brauchen kannst. Und Dunja auch; sie hat dich lieb, sehr lieb; auch Sofja Semjonowna kann ja in Gottes Namen mit uns fahren, wenn es nötig ist; siehst du, ich will sie gern an Tochter Statt aufnehmen. Dmitrij Prokofjitsch wird uns behilflich sein, daß wir alle zusammen rechtzeitig fertig werden … Aber … wohin willst du denn reisen?«

»Leben Sie wohl, liebe Mama.«

»Wie? Heute schon?« rief sie erschrocken, als sollte sie ihn für immer verlieren.

»Ich muß; ich habe keine Zeit mehr; es ist nicht aufzuschieben.«

»Kann ich dich denn nicht begleiten?«

»Nein; aber knien Sie nieder und beten Sie für mich. Vielleicht findet Ihr Gebet Erhörung.«

»Komm, ich will dich bekreuzigen und segnen! So! So! O Gott, was sollen wir nur tun!«

Ja, er war froh, sehr froh, daß niemand weiter da war, daß er mit der Mutter allein war. Es war, als ob im Rückschlage von dieser ganzen schrecklichen Zeit sein Herz nun auf einmal weich geworden wäre. Er fiel vor ihr nieder, er küßte ihre Füße; weinend hielten sie beide einander umschlungen. Und nun war sie nicht mehr erstaunt und fragte ihn nach nichts mehr. Es war ihr schon lange klar geworden, daß mit ihrem Sohne etwas Schreckliches vorging und nun ein furchtbarer Augenblick für ihn heranrückte.

»Rodja, mein lieber, mein Erstgeborener«, sagte sie schluchzend, »jetzt bist du wieder so, wie du als kleiner Knabe warst; da kamst du ebenso zu mir und umarmtest mich und küßtest mich. Damals, als noch dein Vater lebte und er und ich zusammen darbten, war schon allein das ein Trost für uns, daß wir dich um uns hatten; und als ich deinen Vater begraben hatte, wie oft habe ich da an seinem Grabe dich ebenso umschlungen gehalten und geweint! Und daß ich jetzt schon so lange weine, das kommt daher, daß mein Mutterherz dein Unglück geahnt hat. So wie ich dich damals zum ersten Male erblickt hatte (erinnerst du dich? am Abend, gleich nachdem wir hier angekommen waren), da erriet ich gleich alles schon aus deinem Blicke, und es gab mir gleich einen Stich ins Herz; und heute, als ich dir aufmachte, da sah ich – ›Jetzt‹, dachte ich, ›ist sicher die verhängnisvolle Stunde gekommen!‹ Rodja, Rodja, du wirst doch nicht jetzt gleich wegreisen?«

»Nein.«

»Du kommst noch einmal her?«

»Ja, … ich komme.«

»Rodja, sei mir nicht böse, ich darf dich ja nicht zu viel fragen. Ich weiß, daß ich es nicht darf; aber nur ein paar kleine Wörtchen sage mir: reisest du weit von hier fort?«

»Sehr weit.«

»Was hast du denn dort? Bekommst du da ein Amt? Beginnst du da deine Laufbahn?«

»Ich nehme hin, was Gott mir sendet … Beten Sie nur für mich …«

Raskolnikow ging zur Tür; aber sie hielt ihn fest und schaute ihm mit einem verzweiflungsvollen Blick in die Augen. Ihr Gesicht war ganz entstellt von Angst.

»Nun laß es genug sein, liebe Mama!« sagte Raskolnikow und bereute tief, daß er auf den Gedanken gekommen war, hierher zu gehen.

»Du gehst doch nicht für immer fort? Doch noch nicht für immer? Du wirst doch noch einmal herkommen? Kommst du morgen her?«

»Ja, ich komme, ich komme! Leben Sie wohl!«

Endlich riß er sich los.

Der Abend war frisch, warm und heiter; das Wetter hatte sich seit dem Vormittage aufgeklärt. Raskolnikow ging nach seiner Wohnung; er eilte. Vor Sonnenuntergang wollte er alles erledigt haben. Bis dahin wollte er mit niemand mehr Zusammensein. Als er zu seiner Wohnung hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja von dem Samowar, mit dem sie beschäftigt war, aufschaute, ihn aufmerksam anblickte und mit den Augen verfolgte. ›Es wird doch nicht etwa jemand bei mir sein?‹ dachte er. Der Gedanke an Porfirij Petrowitsch fuhr ihm durch den Kopf und erregte ihm heftigen Widerwillen. Aber als er zu seinem Zimmer gelangt war und die Tür öffnete, erblickte er Dunja. Sie saß ganz allein, tief in Gedanken versunken, da und mochte schon lange auf ihn gewartet haben. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erschrak, erhob sich langsam vom Sofa und blieb aufgerichtet vor ihm stehen. Ihr starr auf ihn gerichteter Blick drückte Angst und untröstlichen Kummer aus. Schon allein an diesem Blicke erkannte er sofort, daß sie alles wußte.

»Soll ich zu dir hereinkommen, oder soll ich wieder weggehen?« fragte er unsicher.

»Ich habe den ganzen Tag bei Sofja Semjonowna gesessen; wir haben dort beide auf dich gewartet. Wir dachten, du würdest sicher dorthin kommen.«

Raskolnikow trat ins Zimmer und setzte sich völlig erschöpft auf einen Stuhl.

»Ich bin etwas schwach, Dunja, sehr müde; und doch möchte ich gern, wenigstens für diese Minute, meiner Kraft vollständig mächtig sein.«

Er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu.

»Wo bist du denn die ganze Nacht gewesen?«

»Ich kann mich nicht mehr recht erinnern. Siehst du, Schwester, ich wollte zu einem definitiven Entschlusse gelangen und bin lange Zeit an der Newa auf und ab gegangen; daran erinnere ich mich. Ich wollte gleich dort ein Ende machen; aber … ich konnte mich nicht dazu entschließen …«, flüsterte er und sah dabei Dunja wieder mißtrauisch an.

»Gott sei Dank! Und wie wir beide, Sofja Semjonowna und ich, gerade das gefürchtet haben! Also hast du den Glauben an das Leben doch noch nicht verloren; Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Raskolnikow lächelte bitter.

»Diesen Glauben hatte ich freilich nicht; aber ich bin soeben bei unserer Mutter gewesen, und wir haben uns umarmt und zusammen geweint. Ich erhoffe vom Leben nichts mehr; aber doch habe ich sie gebeten, für mich zu beten. Gott weiß, wie das alles zusammenstimmt, Dunjetschka; ich begreife nichts davon.«

»Du bist bei der Mutter gewesen? Du hast es ihr gesagt?« rief Dunja erschrocken. »Hast du es wirklich übers Herz gebracht, es ihr zu sagen?«

»Nein, ich habe es ihr nicht gesagt, … nicht mit eindeutigen Worten; aber sie hat manches davon durchschaut. Sie hat in der Nacht gehört, wie du im Traum gesprochen hast. Ich bin überzeugt, daß sie bereits die Hälfte versteht. Ich habe vielleicht übel daran getan, daß ich zu ihr gegangen bin. Ich könnte eigentlich selbst nicht recht sagen, warum ich es getan habe. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja!«

»Du ein gemeiner Mensch und bist doch willens, hinzugehen und das Leid auf dich zu nehmen! Du willst doch hingehen?«

»Ja, ich will hingehen. Sogleich. Um dieser Schande zu entgehen, wollte ich mich schon ertränken, Dunja; aber als ich schon am Wasser stand, dachte ich: ›Hast du dich bis jetzt für stark gehalten, so darfst du dich jetzt auch nicht vor der Schande fürchten.‹ War das Stolz, Dunja?«

»Ja, das war Stolz, Rodja.«

Es war, als leuchtete ein Feuer in seinen matten Augen auf; er schien sich darüber zu freuen, daß er noch stolz sein konnte.

»Und du glaubst nicht, Schwester, daß ich einfach Angst vor dem Wasser hatte?« fragte er und blickte ihr mit einem entstellenden Lächeln ins Gesicht.

»Ach, Rodja, hör auf!« rief Dunja bitter.

Sie schwiegen etwa zwei Minuten lang. Er saß mit gesenktem Kopfe da und blickte auf den Fußboden; Dunja stand am anderen Ende des Tisches und betrachtete ihn mit tiefem Mitleide. Plötzlich stand er auf:

»Es ist schon spät, es wird Zeit! Ich gehe gleich hin und zeige mich an. Aber warum ich das tue, das weiß ich nicht.«

Große Tränen liefen über Dunjas Wangen.

»Du weinst, Schwester? Kannst du es über dich gewinnen, mir die Hand zu geben?«

»Hast du daran gezweifelt?«

Sie umarmte ihn innig.

»Machst du nicht dadurch, daß du hingehst und dich dem Leide darbietest, dein Verbrechen schon zur Hälfte wieder gut?« rief sie, indem sie ihn fest an sich drückte und küßte.

»Mein Verbrechen? Was für ein Verbrechen?« rief er auf einmal in einer Art von plötzlichem Wutanfall. »Daß ich eine garstige, gemeinschädliche Laus getötet habe, eine alte Wucherin, die niemandem etwas nütze war, für deren Ermordung einem eigentlich viele Sünden vergeben werden müßten, die armen Leuten das Lebensblut aussog, das soll ein Verbrechen sein? Ich halte es nicht dafür und habe gar nicht vor, es wiedergutzumachen. Warum schreit man mir denn von allen Seiten zu: ›Ein Verbrechen, ein Verbrechen!‹ Jetzt erst erkenne ich klar, wie grundtöricht mein Kleinmut war, jetzt, wo ich mich schon entschlossen habe, ganz unnötigerweise diese Schande auf mich zu nehmen! Lediglich weil ich ein minderwertiger, talentloser Mensch bin, habe ich mich dazu entschlossen, und vielleicht auch noch, weil ich dadurch auf einen Vorteil spekuliere, wie mir das dieser … Porfirij … nahegelegt hat! …«

»Bruder, Bruder! Was redest du da! Du hast doch Blut vergossen!« rief Dunja voller Verzweiflung.

»Blut vergießen sie alle«, fiel er ihr fast rasend ins Wort. »Blut wird in der Welt vergossen massenhaft wie ein Wasserfall und ist immer so vergossen worden; Blut wird vergossen wie Champagner, und für das Blutvergießen wird man auf dem Kapitol gekrönt und nachher ein Wohltäter der Menschheit genannt. Mach doch nur die Augen auf und sieh genauer hin! Ich selbst wollte den Menschen Gutes erweisen und hätte hundert, tausend gute Taten vollbracht zum Ausgleich für diese eine Dummheit, die nicht einmal eine Dummheit war, sondern lediglich eine Ungeschicklichkeit; denn der ganze Gedanke war gar nicht so dumm, wie er jetzt nach dem Mißlingen aussieht … (was mißlingt, sieht immer dumm aus!). Durch diese Dummheit wollte ich mir nur eine unabhängige Position schaffen, den ersten Schritt tun, die Mittel erlangen, und später wäre dann alles durch einen unverhältnismäßig viel größeren Nutzen aufgewogen worden … Aber meine Kraft hat nicht einmal für den ersten Schritt ausgereicht, weil ich eben nur so ein Lump bin. Das ist der Kernpunkt! Ich kann die Sache nicht von eurem Standpunkte aus ansehen; wäre es mir gelungen, so würde man mich bekränzen; aber jetzt muß ich in den Kerker!«

»Aber die Sache liegt doch anders, ganz anders! Bruder, was redest du da nur!«

»Aha, es war wohl nicht die richtige Form, keine ästhetisch schöne Form! Nun, ich kann schlechterdings nicht absehen, warum es eine anständigere Form sein soll, wenn man die Menschen mit Bomben oder mittelst einer regulären Belagerung ums Leben bringt. Die ängstliche Rücksicht auf die Ästhetik ist das erste Zeichen von Schwäche! … Niemals, niemals habe ich das klarer begriffen als jetzt, und weniger als je verstehe ich, worin denn mein Verbrechen bestehen soll! Niemals, niemals war ich fester in meiner Überzeugung als jetzt!«

Sein blasses, abgemagertes Gesicht hatte ordentlich Farbe gewonnen. Aber als er den letzten Satz sprach, begegnete sein Blick unversehens dem Blicke Dunjas, und er las darin so viel qualvolles Mitleid mit ihm, daß er unwillkürlich wieder zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er trotz seiner schönen Theorien diese beiden armen Frauen unglücklich gemacht hatte; er blieb immer doch die Ursache ihres Leides.

»Dunja, Liebe! Bin ich schuldig, so vergib mir (freilich, wenn ich wirklich schuldig bin, so kann ich eigentlich gar keine Vergebung finden). Leb wohl! Wir wollen nicht miteinander streiten! Es ist Zeit für mich, höchste Zeit. Folge mir nicht, ich bitte dich dringend; ich muß noch jemand aufsuchen … Geh jetzt und setze dich gleich zu unserer Mutter. Darum bitte ich dich inständig! Das ist meine letzte, größte Bitte an dich. Weiche diese ganze Zeit über nicht von ihr; ich habe sie in einer Unruhe verlassen, die sie kaum überstehen wird: sie wird entweder sterben oder den Verstand verlieren. Bleibe um sie. Rasumichin wird euch eine Stütze sein; ich habe ihn darum gebeten … Weine nicht um mich; ich werde mich bemühen, mannhaft und ehrenhaft zu sein mein ganzes Leben lang, obgleich ich ein Mörder bin. Vielleicht hörst du noch einmal meinen Namen. Ich werde euch keine Schande machen, das sollst du sehen; ich werde schon noch zeigen, daß ich … Jetzt vorläufig auf Wiedersehen!« schloß er hastig, da er bei seinen letzten Worten und Versprechungen wieder einen eigentümlichen Ausdruck in Dunjas Augen bemerkte. »Warum weinst du denn so? Weine nicht, weine nicht; wir trennen uns ja nicht für immer! … Ach ja, warte, das hatte ich vergessen!«

Er trat an den Tisch, ergriff ein dickes, verstaubtes Buch, schlug es auf und nahm ein kleines Porträt heraus, das zwischen den Blättern lag. Es war ein auf Elfenbein gemaltes Aquarell und stellte die Tochter seiner Wirtin dar, seine frühere Braut, die am Fieber gestorben war, eben jenes seltsame junge Mädchen, das in ein Kloster hatte gehen wollen.

Etwa eine Minute lang betrachtete er dieses ausdrucksvolle, kränkliche Gesichtchen; dann küßte er das Bild und reichte es Dunja hin.

»Mit diesem Mädchen habe ich viel auch über meine Ideen gesprochen, mit ihr allein«, sagte er, in Nachsinnen verloren. »Dieser treuen Seele habe ich viel von dem mitgeteilt, was später in so häßlicher Weise zur Wirklichkeit geworden ist. Beunruhige dich nicht«, wandte er sich an Dunja, »sie stimmte mir nicht bei, ebensowenig wie du, und ich freue mich, daß sie nicht mehr am Leben ist. Die Hauptsache ist, daß jetzt alles einen neuen Anfang nimmt, mein ganzes bisheriges Dasein zerbrochen und beseitigt wird«, rief er plötzlich, wieder in seine verzweifelte Stimmung zurücksinkend, »mein ganzes bisheriges Dasein! Aber bin ich auch dazu vorbereitet? Ist das auch mein eigener Wille? Es heißt, es sei notwendig zu meiner Prüfung! Aber wozu, wozu all diese sinnlosen Prüfungen? Wozu das? Werde ich denn nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit, niedergebeugt durch die Qualen und das stumpfsinnige Leben, ein vorzeitiger, kraftloser Greis, werde ich denn dann ein besseres Verständnis haben als jetzt? Und wozu soll ich dann noch leben? Warum willige ich denn jetzt ein, so zu leben? Oh, ich wußte, daß ich ein Lump bin, als ich heute im Morgengrauen an der Newa stand!«

Endlich gingen sie beide hinaus. So schwer es ihr der Bruder machte. Dunja liebte ihn dennoch! Sie ging weg; nachdem sie aber fünfzig Schritte gegangen war, wandte sie sich noch einmal um, um ihm nachzusehen. Sie konnte ihn noch erblicken. Und als er an die Straßenecke gelangt war, wandte er sich gleichfalls um, und ihre Blicke trafen sich zum letzten Male. Sowie er jedoch bemerkte, daß sie nach ihm sah, winkte er ihr ungeduldig, ja ärgerlich mit der Hand, sie möchte weitergehen, und bog selbst rasch um die Ecke.

›Ich habe einen schlechten Charakter, das sehe ich wohl‹, dachte er eine Minute darauf, indem er sich seiner Handbewegung gegen Dunja schämte. ›Aber weshalb lieben mich denn meine Mutter und meine Schwester so, wenn ich es nicht verdiene? Ach, hätte ich doch allein dagestanden, und hätte niemand mich geliebt, und hätte ich selbst nie jemand geliebt! Dann wäre das alles nicht geschehen! Ich möchte wohl wissen, ob diese bevorstehenden fünfzehn oder zwanzig Jahre meine Seele so niederbeugen werden, daß ich dann demütig vor den Leuten winsele und mich selbst fortwährend einen Räuber nenne. Jedenfalls! Darum eben schicken sie mich ja jetzt nach Sibirien; gerade das bezwecken sie … Da rennen nun alle die Menschen auf den Straßen hin und her, und jeder von ihnen ist schon seiner ganzen Charakteranlage nach ein Schurke und Räuber, ja noch Schlimmeres: ein Idiot! Aber das Gericht sollte einmal versuchen, mir die Verschickung nach Sibirien zu ersparen – da würden sie alle aus der Haut fahren vor edler Entrüstung! Oh, wie ich sie alle hasse!‹

Er versank in Nachdenken über die Frage, durch welchen Entwicklungsprozeß es wohl dahin kommen könne, daß er sich schließlich vor allen diesen Menschen widerspruchslos demütige, sich aus Überzeugung demütige. ›Nun ja‹, sagte er sich, ›warum sollte es denn auch nicht dahin kommen? Gewiß, das muß ja so sein. Als ob zwanzig Jahre ununterbrochenen Druckes einen Menschen nicht gründlich mürbe machen könnten! Steter Tropfen höhlt den Stein. Aber wozu, wozu soll ich denn dann nach alledem noch weiterleben? Warum gehe ich jetzt hin, wenn ich doch selbst weiß, daß alles genau so kommen wird, wie es im Buche steht, und nicht anders!‹

Er legte sich diese Frage seit dem vorhergehenden Abend vielleicht schon zum hundertsten Male vor; aber er ging dennoch hin.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 39

VIII

Als er zu Sonja ins Zimmer trat, begann es schon zu dämmern. Den ganzen Tag über hatte Sonja in schrecklicher Aufregung auf ihn gewartet, zusammen mit Dunja. Diese war schon am Morgen zu ihr gekommen, da sie sich der Angabe Swidrigailows erinnerte, daß Sonja über Raskolnikows Tat alles wisse. Wir beabsichtigen nicht, das Gespräch der beiden Mädchen in seinen Einzelheiten zu schildern, auch nicht, wie sie miteinander weinten und wie sie einander seelisch näherrückten. Dunja nahm von diesem Zusammensein wenigstens den einen Trost mit, daß ihr Bruder nicht allein sein werde: zu Sonja war er zuerst mit seiner Beichte gegangen; in ihr hatte er einen Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; und sie war auch entschlossen, ihm zu folgen, wohin auch immer das Schicksal ihn führen würde. Dunja fragte danach gar nicht erst; sie wußte, daß es so sein werde. Sie blickte auf Sonja sogar mit einer Art von Ehrfurcht und setzte diese am Anfang durch ihr respektvolles Benehmen stark in Verwirrung. Sonja war nahe daran, in Tränen auszubrechen; sie hielt sich ihrerseits für unwürdig, Dunja auch nur anzublicken. Das schöne Bild Dunjas, wie diese bei ihrer ersten Begegnung in Raskolnikows Zimmer sich so höflich und achtungsvoll von ihr verabschiedete, hatte sich seitdem ihrer Seele für das ganze Leben eingeprägt, als eine der schönsten, beglückendsten Erinnerungen.

Dunja hatte es schließlich nicht länger aushalten können und war von Sonja weggegangen, um ihren Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie meinte immer, dorthin würde er doch zuerst kommen. Als Sonja allein geblieben war, begann sie sich sogleich mit dem Gedanken zu ängstigen, er werde vielleicht wirklich Selbstmord begehen. Dieselbe Befürchtung hegte auch Dunja. Aber die beiden Mädchen hatten den ganzen Tag über mit allen möglichen Gründen wetteifernd einander zu überzeugen gesucht, daß dies ausgeschlossen sei, und hatten sich ruhiger gefühlt, solange sie beisammen waren. Jetzt aber, sowie sie sich getrennt hatten, hatte sowohl die eine wie die andere keinen anderen Gedanken. Sonja erinnerte sich, wie Swidrigailow am Vortage zu ihr gesagt hatte, Raskolnikow habe nur zwei Wege vor sich: Sibirien oder –. Zudem kannte sie seine Eitelkeit, seinen Hochmut, sein Ehrgefühl und seinen Unglauben.

›Sind denn wirklich Kleinmut und Furcht vor dem Tode die einzigen Beweggründe, die ihn veranlassen können weiterzuleben?‹ dachte sie schließlich verzweiflungsvoll.

Unterdes war die Sonne schon tief gesunken. Sonja stand traurig am Fenster und blickte unverwandt hinaus; aber da war nichts zu sehen als die ungetünchte, fensterlose Seitenmauer des vorspringenden Nachbarhauses. Endlich, als sie von dem Tode des Unglücklichen schon ganz fest überzeugt war, trat er zu ihr ins Zimmer.

Ein Freudenschrei entrang sich ihrer Brust. Aber als sie ihm forschend ins Gesicht blickte, wurde sie plötzlich blaß.

»Nun ja«, sagte Raskolnikow lächelnd, »ich komme, mir dein Kreuz zu holen, Sonja. Du hast mich ja selbst auf den Kreuzweg geschickt; ist dir etwa jetzt, wo es soweit ist, bange geworden?«

Sonja blickte ihn bestürzt an. Dieser Ton erschien ihr so seltsam; ein Frostzittern lief über ihren Körper hin; aber einen Augenblick darauf durchschaute sie es schon, daß dieser Ton und diese Worte erkünstelt waren. Auch sah er, während er zu ihr sprach, nach einer Ecke hin und vermied es anscheinend, ihr ins Gesicht zu blicken.

»Siehst du, Sonja, ich habe mir gesagt, daß es so für mich wohl auch am vorteilhaftesten sein wird. Es kommt nämlich in Betracht … Aber es dauert zu lange, das auseinanderzusetzen, und es hat auch keinen Zweck. Weißt du, mich ärgert bloß eines. Was mich ärgert, ist, daß alle diese dummen, viehischen Fratzen mich sofort umringen und mit ihren Glotzaugen anstarren werden, daß diese Bande mir ihre dummen Fragen vorlegen wird, auf die ich dann Antwort geben muß, und daß die Leute mit Fingern auf mich zeigen werden … Pfui Teufel! Weißt du, ich werde nicht zu Porfirij gehen; den habe ich satt bekommen. Ich will lieber zu meinem Freunde Schießpulver gehen; den werde ich in Erstaunen versetzen; da werde ich einen ganz eigenartigen Effekt erzielen. Ich müßte nur mehr Kaltblütigkeit dabei zeigen; aber ich bin in der letzten Zeit gar zu reizbar geworden. Kannst du das glauben: ich habe soeben meiner Schwester beinahe mit der Faust gedroht, bloß weil sie sich umwandte, um mir noch einen letzten Blick zuzuwerfen. Ein ganz abscheulicher Zustand! Ja, ja, so weit ist es mit mir gekommen! Nun also, wo hast du die Kreuze?«

Er hatte sich selbst gar nicht in der Gewalt. Nicht einen Augenblick konnte er ruhig auf einem Flecke stehen, konnte seine Aufmerksamkeit nicht auf einen einzelnen Gegenstand konzentrieren; seine Gedanken hüpften einer über den anderen weg; er verwirrte sich beim Reden; seine Hände zitterten leicht.

Sonja nahm schweigend aus einem Kasten zwei Kreuze heraus, eines aus Zypressenholz und ein kupfernes, bekreuzigte sich selbst, bekreuzigte ihn und hängte ihm das aus Zypressenholz auf die Brust.

»Das ist also nun das Symbol dafür, daß ich das Kreuz auf mich nehme, he-he! Als hätte ich bis jetzt wenig gelitten! Aus Zypressenholz, wie es gewöhnliche Leute tragen; das kupferne hat also Lisaweta gehört; das nimmst du nun für dich; zeig es doch mal her! Also das hat Lisaweta früher getragen … Ich besinne mich auch auf zwei ähnliche solche Kreuze und ein silbernes Heiligenbildchen. Ich warf sie damals dem alten Weibe auf die Brust. Die würden mir jetzt zupaß kommen, wahrhaftig, die sollte ich mir umhängen … Aber ich schwatze und schwatze und vergesse den Zweck meines Besuches; ich bin so zerstreut! … Siehst du, Sonja, ich bin eigentlich bloß hergekommen, um es dir vorher mitzuteilen, damit du es weißt … Also das war der ganze Zweck … Bloß deshalb bin ich hergekommen. (Hm! Ich dachte übrigens, ich würde dir noch mehr zu sagen haben.) Du hast ja doch selbst gewollt, daß ich hingehen solle; na, da werde ich nun also im Gefängnis sitzen, und dein Wunsch wird erfüllt werden. Aber warum weinst du denn? Du auch? Hör doch auf, laß es genug sein; ach, wie schwer ist das alles für mich!«

Indes ward doch bei ihm das Mitleid rege; sein Herz zog sich bei ihrem Anblicke schmerzlich zusammen. ›Auch die weint? Auch die? Warum?‹ dachte er bei sich. ›Was bin ich ihr? Warum weint sie? Warum ist sie um mich besorgt wie die Mutter und Dunja? Sie wird wohl meine Kinderfrau werden!‹

»Bekreuzige dich und bete doch nur ein einziges Mal!« bat Sonja mit zitternder, schüchterner Stimme.

»Oh, meinetwegen, soviel du nur wünschest! Und ich tue es von Herzen, Sonja, von Herzen …«

Indessen wollte er eigentlich etwas ganz anderes sagen.

Er bekreuzigte sich mehrere Male. Sonja ergriff ihr Tuch und legte es sich um den Kopf. Es war ein grünes Tuch von drap de dame, wahrscheinlich dasselbe, von dem Marmeladow damals gesprochen hatte, das Familientuch. Eine flüchtige Erinnerung daran kam Raskolnikow in den Sinn; aber er fragte weiter nicht. Er begann sich nun seiner schrecklichen Zerstreutheit und ungewöhnlichen Aufregung bewußt zu werden und bekam einen großen Schreck darüber. Auch überraschte es ihn, daß Sonja mit ihm gehen wollte.

»Was hast du denn? Wo willst du hin? Bleib nur hier, bleib hier! Ich gehe allein!« rief er ängstlich und ärgerlich und ging beinahe erbost zur Tür. »Was soll ich denn da mit einer ganzen Eskorte!« murmelte er beim Hinausgehen.

Sonja blieb mitten im Zimmer stehen. Er hatte nicht einmal Abschied von ihr genommen und dachte schon gar nicht mehr an sie; nur ein peinigender, rebellischer Zweifel versetzte seine Seele in arge Unruhe.

›Ist das auch wirklich das richtige?‹ dachte er wieder, während er die Treppe hinunterging. ›Kann ich nicht noch einhalten und alles wieder umändern … und diesen Gang unterlassen?‹

Aber er ging trotzdem. Es kam ihm auf einmal die bestimmte Empfindung, daß es zwecklos sei, sich weitere Fragen vorzulegen. Als er auf die Straße hinaustrat, fiel ihm ein, daß er von Sonja nicht Abschied genommen hatte und daß sie mitten im Zimmer in ihrem grünen Tuche stehengeblieben war und nicht gewagt hatte, sich zu rühren, nachdem er sie so angefahren hatte. Bei dieser Erinnerung stockte einen Augenblick sein Schritt. Aber gleichzeitig leuchtete in seinem Gehirn grell noch ein anderer Gedanke auf, der nur auf diesen Zeitpunkt gewartet zu haben schien, um ihn vollständig aus der Fassung zu bringen.

›Nun, warum, wozu bin ich jetzt eben bei ihr gewesen? Ich habe zu ihr gesagt, mein Besuch hätte einen Zweck; was hatte er denn für einen Zweck? Überhaupt gar keinen! Ihr mitzuteilen, daß ich nun hingehe, nicht wahr? Diese Mitteilung war auch höchst nötig! Liebe ich etwa dieses Mädchen? Doch wohl nicht! Ich habe sie ja soeben wie einen Hund von mir gewiesen. War es mir denn ein wirkliches Bedürfnis, von ihr das Kreuz zu bekommen? Oh, wie tief bin ich gesunken! Nein, ich hatte das Bedürfnis, ihre Tränen und ihre Angst zu sehen; ich wollte sehen, wie ihr das Herz weh tut und wie sie leidet! Ich hatte das Bedürfnis, mich an irgend etwas anzuklammern, die Ausführung meines Entschlusses noch hinzuzögern, noch einen Menschen zu sehen! Und ich, ich habe es gewagt, so gewaltige Hoffnungen auf mich zu setzen, mich so phantastischen Träumereien über meine Zukunft hinzugeben – und bin ein armseliges, wertloses Subjekt, ein Lump, ein Lump!‹

Er schritt die Kanalstraße entlang und hatte nicht mehr weit bis zu seinem Ziele. Als er aber bis zur Brücke gekommen war, blieb er stehen, bog zur Seite ab auf die Brücke und ging nach dem Heumarkte.

Begierig schaute er nach rechts und nach links und richtete mit Anstrengung seine Blicke auf einen jeden Gegenstand, konnte aber mit einer Aufmerksamkeit bei keinem ausharren; alles entglitt ihm sofort wieder. ›In einer Woche, in einem Monat werde ich im Gefängniswagen über diese Brücke fahren; mit welchen Gefühlen werde ich dann auf diesen Kanal blicken? Ich sollte mir sein Bild bis dahin einprägen!‹ fuhr es ihm durch den Kopf. ›Dieses Ladenschild da, mit welchen Gefühlen werde ich dann diese selben Buchstaben lesen? In der Aufschrift ist ein orthographischer Fehler, ein falsches a; ich möchte mir diesen Buchstaben a merken und ihn nach einem Monat wieder ansehen; mit welchen Gefühlen werde ich es dann wohl tun? Was werde ich dann empfinden und denken? … Mein Gott, wie unwürdig und gemein das alles ist, … daß ich mich um solche Dinge jetzt noch kümmere! Freilich, dies alles ist auch wieder sehr interessant … in seiner Art … (Ha-ha-ha! Was kommen mir bloß für Gedanken in den Kopf!) Ich werde geradezu zum Kinde und tue vor mir selber groß. Na, aber warum schelte ich mich deswegen? Oh, oh! Was ist hier für ein Gedränge! Da, der dicke Kerl, der mich gestoßen hat (gewiß ein Deutscher), ob der wohl weiß, wen er gestoßen hat? Hier bettelt eine Frau mit einem Kinde; es ist doch interessant, daß sie mich für glücklicher hält als sich. Der Kuriosität halber sollte ich ihr etwas geben. Sieh, da hat sich ja noch ein Fünfkopekenstück in meiner Tasche erhalten; wie geht das zu? Da, nimm, Mütterchen, da!‹

»Gott lohne es Ihnen!« sagte die Bettlerin in weinerlichem Tone.

Er betrat den Heumarkt. Es war ihm unangenehm, sehr unangenehm, sich zwischen dem Volk hindurchzudrängen; aber er ging geflissentlich dahin, wo das größte Gewühl war. Er hätte wer weiß was darum gegeben, allein zu sein; aber er fühlte selbst, daß er es nicht einen Augenblick allein würde aushalten können. Inmitten eines Volkshaufens vollführte ein Betrunkener seine Narrheiten: er versuchte fortwährend zu tanzen, fiel aber immer seitwärts auf die Erde. Ein dichter Kreis von Zuschauern umgab ihn. Raskolnikow drängte sich durch den Haufen hindurch, sah dem Betrunkenen ein Weilchen zu und lachte plötzlich kurz und schrill auf. Einen Augenblick darauf hatte er ihn bereits vergessen; ja, er sah ihn gar nicht mehr, wiewohl er die Augen auf ihn gerichtet hielt. Er trat schließlich zurück, ohne daß er sich bewußt gewesen wäre, wo er sich überhaupt befand; aber als er bis zur Mitte des Platzes gelangt war, ging plötzlich in seinem Innern eine Bewegung vor; eine bestimmte Empfindung ergriff ihn mit einem Male und nahm ihn mit Leib und Seele in ihren Bann.

Es waren ihm Sonjas Worte eingefallen: »Geh zu einem Kreuzwege, verbeuge dich vor allem Volke, küsse die Erde, weil du dich auch gegen sie versündigt hast, und sage laut zu der ganzen Welt: ›Ich bin ein Mörder!‹« Er zitterte am ganzen Körper bei dieser Erinnerung. Und bis zu einem solchen Grade hatte ihn die verzweifelte Angst und Unruhe dieser ganzen Zeit, und besonders der letzten Stunden, bereits mürbe gemacht, daß er sich mit einer wahren Begierde in diese reine, neue, kräftige Empfindung hineinstürzte. Wie ein Anfall war es plötzlich über ihn gekommen; es war, als hätte sich in seiner Seele ein Funke entzündet und dann mit gewaltiger Geschwindigkeit die Flamme ihn ganz und gar ergriffen. Sein ganzes Inneres wurde auf einmal weich, und die Tränen stürzten ihm hervor. An dem Flecke, wo er stand, fiel er auf den Boden.

Mitten auf dem Platze kniete er nieder, verbeugte sich bis zur Erde und küßte diese schmutzige Erde glückselig und voll Wonne. Dann stand er auf und verbeugte sich ein zweites Mal.

»Na, der hat sich gehörig beduselt!« bemerkte neben ihm ein junger Bursche.

Die Leute lachten.

»Der geht nach Jerusalem, Brüder, und nimmt vorher von seinen Kindern und von seiner Heimat Abschied, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt Petersburg und ihren Boden!« fügte ein etwas angetrunkener Kleinbürger hinzu.

»Es ist doch noch so ein junges Bürschchen!« meinte ein dritter.

»Einer aus den höheren Ständen!« bemerkte jemand mit ernster, ruhiger Stimme.

»Das kann man heutzutage nicht mehr unterscheiden, ob einer zu den höheren Ständen gehört oder nicht.«

Alle diese Ausrufe und Bemerkungen hielten Raskolnikow von Weiterem zurück, und die Worte: »Ich habe einen Mord begangen«, die ihm vielleicht schon auf den Lippen schwebten, erstickten ungesprochen. Er ertrug indessen alle diese Äußerungen des Publikums mit Ruhe und ging, ohne sich umzusehen, durch eine Seitengasse geradeswegs nach dem Polizeibureau. Unterwegs glaubte er einen Augenblick lang eine huschende Gestalt zu sehen; aber er wunderte sich darüber nicht; er hatte schon geahnt, daß es wohl so kommen werde. Während er sich auf dem Heumarkte zum zweiten Male bis zur Erde verneigte, hatte er bei einer zufälligen Wendung nach links in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten Sonja erblickt. Sie hatte sich dann vor ihm hinter einer der hölzernen Buden versteckt, die auf dem Platze standen. Also hatte sie ihn auf seinem ganzen Leidenswege begleitet! Raskolnikow fühlte und begriff in diesem Augenblicke für immer, daß Sonja jetzt lebenslänglich bei ihm bleiben und ihm bis ans Ende der Welt folgen werde, mochte ihn das Schicksal führen, wohin es wollte. Sein Herz erbebte …, aber da war er auch bereits an der verhängnisvollen Stelle angelangt …

Ziemlich gefaßten Mutes betrat er den Hof. Er mußte zum vierten Stockwerk hinaufsteigen.

›Vorläufig steige ich nur erst die Treppe hinauf‹, dachte er. Überhaupt hatte er die Vorstellung, als läge der Augenblick der Entscheidung noch in weiter Ferne, als bliebe ihm noch viel Zeit bis dahin und als könne er sich noch vieles überlegen.

Wieder derselbe Schmutz, dieselben Eierschalen auf der Wendeltreppe, wieder standen die Türen zu den Wohnungen weit offen, wieder dieselben Küchen, aus denen Qualm und übler Geruch herausdrang. Raskolnikow war seit jenem Tage nicht wieder hier gewesen. Die Beine waren ihm ganz taub geworden und knickten ein, gingen aber mechanisch weiter. Er blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen und sein Äußeres in Ordnung zu bringen, damit er »als Mensch« eintreten könne. ›Aber wozu? Was hat das für Zweck?‹ dachte er plötzlich, als er sich seines Tuns bewußt wurde. ›Wenn ich doch einmal diesen Kelch leeren muß, ist es dann nicht ganz gleich, wie ich aussehe? Je garstiger, um so besser!‹ Unwillkürlich kam ihm in diesem Augenblicke die Gestalt des Polizeileutnants Ilja Petrowitsch Schießpulver in den Sinn. ›Soll ich wirklich zu dem hingehen? Könnte ich nicht vielleicht zu einem anderen gehen? Nicht vielleicht zum Revieraufseher Nikodim Fomitsch selbst? Wie wär’s, wenn ich gleich umkehrte und zu dem in die Wohnung ginge? Wenigstens wickelt sich die Sache dann mehr in privater Form ab … Nein, nein! Zu Leutnant Schießpulver, zu Leutnant Schießpulver! Muß ich den Kelch trinken, dann auch mit einem Male ganz …‹

Von Frost geschüttelt und sich kaum seiner selbst bewußt, öffnete er die Tür zum Bureau. Diesmal waren nur sehr wenige Leute darin; nur ein Hausknecht stand da und noch so ein Mann aus dem niederen Volke. Der Wächter blickte nicht einmal aus seinem Verschlage heraus. Raskolnikow ging weiter in das folgende Zimmer. ›Vielleicht ist es noch möglich, daß ich nichts davon sage‹, fuhr es ihm durch den Kopf. Hier schickte sich ein Schreiber in Zivil gerade an, seine Schreibarbeit am Pulte zu beginnen. In einer Ecke setzte sich noch ein anderer Schreiber zurecht. Sametow war nicht da. Nikodim Fomitsch war natürlich gleichfalls nicht anwesend.

»Ist niemand hier?« fragte Raskolnikow, sich an den Schreiber am Pulte wendend.

»Wen wünschen Sie zu sprechen?«

»Ah, ah, ah! ›Er sah ihn nicht, er hörte ihn nicht, aber er witterte den russischen Duft‹, … wie heißt es doch da im Märchen, … ich weiß nicht mehr genau! Ergebenster Diener!« rief auf einmal eine bekannte Stimme.

Raskolnikow begann zu zittern. Vor ihm stand Leutnant Schießpulver, der soeben aus dem dritten Zimmer hereingekommen war. ›Das ist mein Verhängnis‹, dachte Raskolnikow, ›warum muß der hier sein?‹

»Wollten Sie zu uns? Was führt Sie her?« rief Ilja Petrowitsch. Er war anscheinend in vorzüglicher und sogar ein wenig angeheiterter Stimmung. »Wenn es etwas Amtliches ist, so sind Sie etwas zu früh hergekommen. Ich selbst bin nur zufällig hier … Aber was in meinen Kräften steht … Übrigens, ich muß Ihnen gestehen, … wie war doch … wie war doch? Entschuldigen Sie …«

»Raskolnikow.«

»Na natürlich, Raskolnikow! Wie können Sie nur glauben, daß ich Ihren Namen vergessen hätte! So etwas müssen Sie von mir nicht denken … Rodion Ro… Ro… Rodionowitsch, so war es ja doch wohl?«

»Rodion Romanowitsch.«

»Ja, ja, ja! Rodion Romanowitsch, Rodion Romanowitsch! So wollte ich ja auch sagen! Ich habe mich sogar mehrmals nach Ihnen erkundigt. Offen gestanden, es hat mir nachher aufrichtig leid getan, daß ich damals mit Ihnen so … Es ist mir später alles erklärt worden, und ich habe gehört, daß Sie ein junger Schriftsteller sind, sogar ein Gelehrter, … und daß Sie sozusagen am Anfange Ihrer Laufbahn … Du mein Gott, welcher Schriftsteller und Gelehrte hätte nicht am Anfange seiner Laufbahn seine Besonderheiten gehabt! Meine Frau und ich, wir schwärmen beide für Literatur, meine Frau sogar leidenschaftlich! … Für Literatur und Kunst! Aus anständiger Familie muß man natürlich sein; alles andere aber kann man durch Talent, Wissen, Verstand und Genie erreichen! Na, zum Beispiel ein Hut – was hat ein Hut für einen Wert? Ein Hut ist ein Topfdeckel; den kann ich mir im Laden von Zimmermann kaufen; aber was unter dem Hute steckt und vom Hute verborgen wird, das kann man nicht kaufen! … Offen gestanden, ich wollte sogar schon zu Ihnen gehen, um mich zu entschuldigen; aber ich dachte, Sie würden vielleicht … Aber ich vergesse ganz zu fragen: haben Sie wirklich ein Anliegen an uns? Ich höre, Ihre Angehörigen sind zu Ihnen hierher nach Petersburg gekommen?«

»Ja, meine Mutter und meine Schwester.«

»Ich habe sogar die Ehre und das Glück gehabt, Ihre Schwester kennenzulernen – eine sehr gebildete, reizende junge Dame. Offen gestanden, ich habe lebhaft bedauert, daß wir beide, Sie und ich, damals so hitzig wurden. Ein eigentümlicher Fall! Und daß ich Ihnen damals anläßlich Ihrer Ohnmacht so einen besonderen Blick zuwarf – nun, es hat sich ja nachher alles auf das glänzendste aufgeklärt! Es war von meiner Seite zu hitzig, Übereifer! Ihre Entrüstung ist mir durchaus verständlich. Ziehen Sie vielleicht infolge der Ankunft der Ihrigen in eine andere Wohnung?«

»N–nein, ich bin nur gekommen … Ich wollte nur fragen … Ich glaubte, ich würde Sametow hier finden.«

»Ach ja! Sie haben sich ja miteinander angefreundet; ich habe davon gehört. Na, Sametow ist nicht mehr bei uns; den finden Sie hier nicht mehr vor. Ja, diesen Alexander Grigorjewitsch Sametow haben wir verloren! Seit gestern ist er fort; er ist versetzt worden und hat sich bei der Gelegenheit mit allen gezankt, … in recht unhöflicher Weise. Ein windiges Kerlchen, weiter nichts; man hoffte ja, es würde etwas aus ihm werden; aber gehen Sie mir mit diesen Leuten, mit unserem brillanten jungen Nachwuchs! Er will da irgendein Examen ablegen; aber in unserem Fache ist das so: wenn man nur ein bißchen was hinschwatzt und mit ein paar großtönenden Phrasen um sich wirft, so hat man damit das ganze Examen bestanden. Dagegen Sie zum Beispiel oder Ihr Freund, Herr Rasumichin, Sie sind ja ganz andere Leute! Ihre Laufbahn liegt auf dem Gebiete der Wissenschaft, und kein Mißerfolg kann Sie beirren! Alle Genüsse des Lebens sind Ihnen sozusagen ein wesenloses Nichts; Sie sind ein Asket, ein Mönch, ein Einsiedler! … Ihr ein und alles sind die Bücher, die Feder hinter dem Ohr, gelehrte Untersuchungen – in solchen Regionen schwebt Ihr Geist! Teilweise bin ich selbst so … Haben Sie Livingstones Reiseberichte gelesen?«

»Nein.«

»Aber ich habe sie gelesen. Übrigens haben sich heutzutage die Nihilisten ganz gewaltig ausgebreitet; na, es ist ja auch begreiflich; was sind das jetzt für Zeiten? frage ich Sie. Übrigens, ich rede mit Ihnen so frei von der Leber weg, … Sie sind ja doch gewiß kein Nihilist! Antworten Sie aufrichtig, ganz aufrichtig!«

»N-nein …«

»Wissen Sie, reden Sie mit mir ganz offen; genieren Sie sich gar nicht; reden Sie, als ob Sie mit sich selbst sprächen! Das sind zwei Dinge, die ich sehr wohl zu sondern weiß: Dienst und … Sie haben gewiß gedacht, ich wollte sagen: Freundschaft; nein, da haben Sie doch falsch geraten! Nicht Freundschaft, sondern das Gefühl, daß man Bürger und Mensch ist, die Humanität und die Liebe zu Gott dem Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Persönlichkeit sein und ein Amt bekleiden, bin aber dabei doch verpflichtet, mich als Bürger und Mensch zu fühlen und mich danach zu benehmen … Sie erwähnten da vorhin Sametow. Sametow, der ist imstande, in einem unanständigen Lokal bei einem Glase Champagner oder Donwein eine Skandalszene so in französischem Genre zu veranstalten – ja, so einer ist Ihr Sametow! Ich dagegen glühe sozusagen von Freundestreue und hohen Gefühlen, und außerdem besitze ich ein gewisses Ansehen, habe einen Rang, bekleide ein Amt! Ich bin verheiratet und habe Kinder. Ich erfülle meine Pflicht als Bürger und Mensch; aber er, was ist er denn? möchte ich fragen. Ich wende mich an Sie als an einen Mann von hoher geistiger Bildung. Ja, und noch eins: auch diese Hebammen haben sich außerordentlich stark ausgebreitet.«

Raskolnikow zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Die Worte des Polizeileutnants, der offenbar eben erst vom Mittagstische gekommen war, vernahm er größtenteils nur als leere Töne, wie ein Geklapper und Gerassel. Aber einen Teil davon hatte er doch so einigermaßen verstanden; er blickte ihn fragend an und wußte nicht, worauf diese Bemerkung abzielte.

»Ich spreche von diesen jungen Mädchen mit dem kurzgeschnittenen Haar«, fuhr Ilja Petrowitsch redselig fort. »Ich habe ihnen aus eigener Erfindung den Namen Hebammen gegeben und finde, daß das eine sehr glückliche Bezeichnung ist. He-he! Sie drängen sich in die Hörsäle, sie studieren Anatomie; na, sagen Sie selbst, wenn ich krank werden sollte, würde ich dann nach einem jungen Mädchen schicken, um mich behandeln zu lassen? He-he!«

Ilja Petrowitsch lachte laut auf, höchst befriedigt von seinen eigenen Witzen.

»Es mag ja sein, daß da ein gewaltiger Bildungsdrang dahintersteckt; aber wenn sich einer nun die Bildung angeeignet hat, dann muß es auch damit sein Bewenden haben. Dann darf er doch seine Bildung nicht mißbrauchen. Dann darf er doch nicht anständige Personen beleidigen, wie es dieser Taugenichts, der Sametow, tut. Warum hat er mich beleidigt? frage ich Sie. Und noch eins: wie die Selbstmorde zugenommen haben, davon können Sie sich gar keinen Begriff machen. Diese ganze Sorte verbringt das letzte Geld und nimmt sich dann das Leben. Junge Mädchen, unreife Burschen, alte Männer … Heute früh ist wieder eine Anzeige eingegangen von dem Selbstmorde eines Herrn, der erst kürzlich nach Petersburg gekommen ist. Nil Pawlowitsch, he! Nil Pawlowitsch! Wie hieß doch der Gentleman, über den wir Anzeige bekamen, daß er sich in der Peterburgskaja erschossen hat?«

»Swidrigailow«, antwortete teilnahmslos eine heisere Stimme aus dem andern Zimmer.

Raskolnikow fuhr zusammen.

»Swidrigailow! Swidrigailow hat sich erschossen!« rief er.

»Wie? Kennen Sie diesen Swidrigailow?«

»Ja, … ich kenne ihn … Er ist erst kürzlich hier angekommen …«

»Na ja, er ist erst kürzlich angekommen, seine Frau war ihm gestorben, ein Mensch von ganz liederlichem Lebenswandel, und auf einmal erschießt er sich, und in einer so skandalösen Weise, daß man es sich gar nicht vorstellen kann, … hinterläßt in seinem Notizbuche ein paar Worte: er scheide aus dem Leben bei vollem Verstande und bitte, niemandem die Schuld an seinem Tode beizumessen. Der Mensch soll früher Geld gehabt haben. Woher kennen Sie ihn?«

»Ich … kannte ihn, … meine Schwester war Gouvernante in seiner Familie.«

»So, so, so … Da können Sie uns wohl über ihn etwas Näheres mitteilen. Sie haben vorher nichts davon geahnt?«

»Ich bin gestern noch mit ihm zusammengewesen, … er … trank Wein, … ich habe ihm nichts angemerkt.«

Raskolnikow hatte eine Empfindung, als sei eine schwere Last auf ihn niedergestürzt und drücke ihn zu Boden.

»Sie sind ja wieder ordentlich blaß geworden. Es ist hier bei uns aber auch so eine stickige Luft …«

»Ja, ich muß gehen, ich habe keine Zeit mehr« murmelte Raskolnikow. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie belästigt habe …«

»Oh, bitte sehr! Durchaus nicht der Fall! Ganz zu Ihren Diensten! Es ist mir ein Vergnügen gewesen; ich habe mich sehr gefreut.«

Ilja Petrowitsch reichte ihm sogar die Hand.

»Ich wollte eigentlich nur … nur zu Sametow …«

»Weiß wohl, weiß wohl; es ist mir ein Vergnügen gewesen.«

»Ich … habe mich sehr gefreut … Auf Wiedersehen!« sagte Raskolnikow lächelnd.

Er ging hinaus, taumelnd und schwindlig; er fühlte gar nicht, ob er noch auf den Beinen stand. Er stieg die Treppe hinunter, mit der rechten Hand sich gegen die Wand stützend. Es schien ihm, daß er von einem Hausknecht, der mit einem Buche in der Hand nach dem Bureau hinaufstieg und ihm auf der Treppe begegnete, gestoßen wurde und daß ein Hund in einem tieferen Stockwerk heftig bellte und eine Frau mit einem Mangelholz nach dem Tiere warf und schimpfte. Er kam unten an und trat auf den Hof hinaus. Hier auf dem Hofe, nicht weit vom Ausgange, stand starr und leichenblaß Sonja und blickte ihn scheu und verstört an. Er blieb vor ihr stehen. Schmerz, Qual und Verzweiflung malten sich auf ihrem Gesichte. Sie schlug die Hände zusammen. Ein häßliches, verlegenes Lächeln trat auf seine Lippen. So stand er eine kleine Weile lächelnd da; dann wandte er sich um und ging wieder hinauf nach dem Bureau.

Ilja Petrowitsch hatte sich hingesetzt und kramte in allerlei Akten. Vor ihm stand derselbe Hausknecht, der vorhin auf der Treppe Raskolnikow gestoßen hatte.

»Ah, ah, ah! Da sind Sie ja wieder! Haben Sie etwas hier liegenlassen? … Aber was ist Ihnen?«

Raskolnikow näherte sich ihm sachte mit blassen Lippen und starrem Blicke, trat dicht an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand darauf und wollte etwas sagen; aber er vermochte es nicht; es wurden nur einige unzusammenhängende Laute.

»Ihnen ist nicht wohl. Einen Stuhl her! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl, setzen Sie sich! Wasser!«

Raskolnikow ließ sich auf den Stuhl niedersinken, wandte aber die Augen von dem Gesichte des sehr unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch nicht ab. Beide blickten einander etwa eine Minute lang an und warteten. Es wurde Wasser gebracht.

»Ich habe …«, begann Raskolnikow.

»Trinken Sie einen Schluck Wasser!«

Raskolnikow wies mit der Hand das Wasser zurück und sagte leise, in Absätzen, aber klar und deutlich:

»Ich habe damals die alte Beamtenwitwe und ihre Schwester Lisaweta mit einem Beile erschlagen und beraubt.«

Ilja Petrowitsch riß den Mund auf. Von allen Seiten kamen Beamte herbeigelaufen.

Raskolnikow wiederholte seine Selbstanzeige.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 4

IV

Der Brief seiner Mutter bereitete ihm heftige Qual. Hinsichtlich des wichtigsten und wesentlichsten Punktes hatte bei ihm keinen Augenblick ein Zweifel bestanden, auch nicht, als er noch mit dem Lesen beschäftigt gewesen war. Die Kernfrage war für ihn entschieden, und zwar endgültig entschieden. »Diese Heirat findet, solange ich lebe, nicht statt; hole diesen Herrn Lushin der Teufel!«

»Die ganze Sache ist ja doch so durchsichtig«, murmelte er, spöttisch lächelnd, vor sich hin und gab sich schon im voraus einem Gefühle des Triumphes wegen der glücklichen Durchsetzung seines Entschlusses hin. »Nein, Mama, nein, Dunja«, dachte er, »ihr könnt mich nicht täuschen! … Und da entschuldigen sie sich auch noch, daß sie nicht meinen Rat erbeten, sondern die Sache ohne mich entschieden haben! Unsinn! Sie denken, jetzt lasse sich die Sache nicht mehr vereiteln; aber wir werden ja sehen, ob das geht oder nicht geht. Und was für eine famose Ausflucht: Pjotr Petrowitsch, heißt es, ist von seinen Geschäften so stark in Anspruch genommen, daß er sogar seine Heirat nur mit Extrapost oder Schnellzug bewerkstelligen kann. Nein, Dunjetschka, ich durchschaue alles und weiß, worüber du mit mir so viel zu sprechen vorhast. Ich weiß auch, worüber du die ganze Nacht nachgedacht hast, während du im Zimmer auf und ab gingst, und um was du vor dem Bilde der Muttergottes von Kasan, das in Mamas Schlafzimmer steht, gebetet hast. Es ist ein schwerer Gang, der Gang nach Golgatha. Hm! … Es ist also bereits unwiderruflich beschlossen: Sie möchten einen geschäftskundigen, praktisch gesinnten Mann heiraten, Awdotja Romanowna, einen Mann, der eigenes Vermögen besitzt (der »bereits« eigenes Vermögen besitzt, das klingt noch solider, eindrucksvoller), zwei amtliche Stellungen bekleidet und die Anschauungen unserer jüngeren Generation teilt, wie Mama schreibt, und »wie es scheint« ein guter Mensch ist, wie Dunjetschka selbst bemerkt. Dieses »wie es scheint« ist ganz besonders prachtvoll. Und diese gute Dunjetschka wird dieses »wie es scheint« heiraten! Prachtvoll! Prachtvoll!

Merkwürdig ist aber auch, warum mir Mama eigentlich etwas von der »jüngeren Generation« geschrieben hat. Wollte sie damit lediglich die Person charakterisieren, oder verfolgte sie damit eine weitergehende Absicht: mich für Herrn Lushin günstig zu stimmen? Oh, ihr Schlauen! Auch noch einen andern Umstand aufzuklären wäre interessant: bis zu welchem Grade waren sie beide an jenem Tage und in jener Nacht und in der ganzen folgenden Zeit offenherzig gegeneinander? Wurde wohl zwischen ihnen alles mit Worten ausgesprochen, oder wußten sie beide, daß die eine wie die andre ein und dasselbe im Herzen und im Sinne hatte, so daß es nicht erforderlich war, alles laut zu sagen, wobei man sich leicht hätte verplappern können? Wahrscheinlich hat sich die Sache zum Teil wirklich so verhalten; das läßt sich aus dem Briefe ersehen: der Mama kam er schroff vor, »ein wenig schroff«, und die naive Mama teilte diese Beobachtung ihrer Tochter mit. Aber die wurde natürlich böse darüber und »antwortete sogar ärgerlich«. Selbstverständlich! Wen sollte so etwas nicht wütend machen, wenn eine Sache auch ohne naive Fragen klar ist und wenn bereits entschieden ist, daß weitere Debatten sinnlos sind. Und warum schrieb sie mir da: »Lieber Rodja, liebe Deine Schwester Dunja; sie liebt Dich mehr als sich selbst«: quälen sie da im geheimen Gewissensbisse, weil sie zugestimmt hatte, daß die Tochter für den Sohn geopfert werde? »Du bist unsere Zuversicht, unser ein und alles!« O Mama!‹

Der Ingrimm kochte in ihm immer stärker, und wäre ihm jetzt Herr Lushin begegnet, so hätte er ihn wahrscheinlich totgeschlagen!

»Hm! … das ist richtig«, fuhr er fort, indem er die Gedanken weiter verfolgte, die in seinem Kopfe wild herumwirbelten. »Das ist ja richtig, daß man sich einem Menschen ganz allmählich und vorsichtig nähern muß, um ihn genau kennenzulernen; aber was Herrn Lushin selbst anlangt, so ist ja sein Charakter von vornherein klar und verständlich. Die Hauptsache ist: er ist sehr geschäftstüchtig und ›wie es scheint‹ ein guter Mensch: es ist ja keine Kleinigkeit, daß er den Transport der Frachtstücke übernommen hat und den großen Koffer auf seine Kosten herbefördern will! Und da sollte er kein guter Mensch sein? Die beiden Frauen aber, die Braut und die Mutter, dingen einen Bauern und fahren auf einem Bauernwagen, auf dem eine Bastmatte liegt (ich bin ja selbst dort so gereist!). Tut nichts; es sind ja nur neunzig Werst, ›und dann fahren wir wunderbar in der dritten Klasse‹, gegen tausend Werst. Es ist ja sehr verständig, wenn man sich nach seiner Decke streckt; aber Sie, Herr Lushin, was sagen Sie dazu? Es ist ja doch Ihre Braut … Und ist Ihnen das unbekannt geblieben, daß die Mutter sich auf ihre Pension das Reisegeld borgt? Gewiß, ihr habt zusammen mit Herrn Lushin gleichsam eine Art von gemeinsamem kaufmännischem Geschäft, ein Unternehmen zu beiderseitigem Nutzen und mit gleichen Anteilen; folglich müssen auch die Ausgaben in zwei gleiche Teile gehen; nach dem üblichen Grundsatze: Brot und Salz gemeinsam, aber Tabak jeder für sich. Aber auch hier hat der geschäftserfahrene Mann sie ein bißchen übers Ohr gehauen: das Gepäck kostet weniger als ihre Reise, und vielleicht wird es sogar ganz umsonst befördert. Sehen das nun die beiden Frauen nicht, oder wollen sie es absichtlich nicht bemerken? Sie sind ja zufrieden, so zufrieden! Und wenn man nun bedenkt, daß dies nur der Anfang, die Blüten sind und die wahren interessant, zu wissen, ob Herr Lushin Orden besitzt; ich möchte darauf wetten, er hat den Annenorden im Knopfloch und legt ihn zu Diners bei Industriellen und Kaufleuten an. Vielleicht trägt er ihn auch bei seiner Hochzeit! Aber der Teufel soll ihn holen!…

Nun, von Mama will ich weiter nichts sagen; das liegt nun einmal so in ihrem Wesen; aber wie steht es mit Dunja? Liebste Dunjetschka, ich kenne dich doch! Du warst schon zwanzig Jahre alt, als wir uns zum letzten Male sahen; über deinen Charakter war ich schon damals im klaren. Da schreibt Mama: »Dunja kann vieles ertragen.« Das wußte ich. Das habe ich schon vor zwei und einem halben Jahre gewußt, und seitdem habe ich zwei und ein halbes Jahr lang daran gedacht, gerade daran gedacht, daß »Dunja vieles ertragen kann«. Schon daß sie Herrn Swidrigailow mit allem Nachfolgenden zu ertragen vermochte, zeigt, daß sie vieles ertragen kann. Und jetzt ist sie mit Mama der Meinung, daß sie auch Herrn Lushin ertragen könne, der seine Theorie von den Vorzügen derjenigen Frauen auseinandersetzt, welche aus der größten Armut herstammen und nur von den Wohltaten ihrer Männer leben, und der dies noch dazu fast beim ersten Zusammensein auseinandersetzt. Nun, nehmen wir ruhig an, er habe das nur so »im Eifer des Gespräches« gesagt, wiewohl er doch ein kluger Mann ist (so daß er es vielleicht gar nicht im Eifer gesagt hat, sondern geradezu beabsichtigte, gleich von vornherein das gegenseitige Verhältnis klarzustellen); aber Dunja, Dunja? Sie durchschaut doch den Menschen, und trotzdem entschließt sie sich, mit ihm zu leben. Sie würde ja lieber nur Schwarzbrot essen und Wasser dazu trinken als ihre Seele verkaufen; sie würde ihre moralische Freiheit nicht für eine behagliche Existenz hingeben; für ganz Schleswig- Holstein würde sie sie nicht hingeben, geschweige denn für Herrn Lushin. Nein, so war Dunja, soweit ich sie kannte, ganz und gar nicht, und… sie wird sich gewiß auch jetzt nicht geändert haben! Das ist ja nicht zu bestreiten: es ist was wird dann aus der Mutter werden? Sie ist ja schon jetzt beunruhigt und quält sich; wie wird es erst dann sein, wenn sie alles klar durchschaut? Und wie wird es mit mir stehen? … Ja, was hast du dir denn eigentlich von mir gedacht? Ich will dein Opfer nicht, liebe Dunja; ich will es nicht, liebe Mama! Das soll und darf nicht geschehen, solange ich lebe; es soll und darf nicht geschehen! Ich nehme das Opfer nicht an!«

Plötzlich durchzuckte ihn ein andrer Gedanke, und er blieb stehen.

»Es soll nicht geschehen! Aber was willst du denn tun, um es zu verhindern? Willst du es verbieten? Was hast du dazu für ein Recht? Was kannst du ihnen deinerseits als Entgelt dafür versprechen, daß sie dir hierin willfahren? Willst du ihnen versprechen, ihnen deine ganze Zukunft, deine ganze Existenz zu weihen, wenn du die Studien absolviert und eine Stelle erhalten haben wirst? Schön gesagt; aber das ist ja noch in weiter Ferne; was soll aber jetzt gleich geschehen? Es muß doch jetzt sofort etwas getan werden, begreifst du das? Du aber, was tust du jetzt? Du plünderst sie aus. Geld verschaffen sie sich, indem sie die Pension von hundertzwanzig Rubeln verpfänden und sich von Swidrigailows Vorschuß geben lassen! Wie wirst du sie gegen die Swidrigailows und Afanassij Iwanowitsch Wachruschin schützen, du künftiger Millionär, du Jupiter, der du ihr Schicksal ordnest und lenkst? Wohl nach zehn Jahren? Aber in zehn Jahren ist deine Mutter schon blind vom Tüchersäumen, vielleicht auch vom Weinen, und krank und abgezehrt vom Fasten. Und deine Schwester? Nun, überlege einmal, wie es mit deiner Schwester nach zehn Jahren stehen mag, wie es ihr während dieser zehn Jahre vielleicht geht! Kannst du dir davon ein Bild machen?«

So quälte und höhnte er sich mit diesen Fragen; er empfand dabei sogar eine Art von Genuß. Übrigens waren alle diese Fragen ihm nicht neu und traten ihm nicht erst jetzt unerwartet entgegen; es waren alte Fragen, die ihn schon geraume Zeit gepeinigt hatten. Schon lange war es her, daß sie angefangen hatten, ihn zu martern, sein Herz zu zerfleischen. Schon vor langer, langer Zeit war dieser ganze jetzige schwere Gram in seinem Innern entstanden, war herangewachsen und angeschwollen, und nun war er in der letzten Zeit herangereift und hatte sich zu einer schrecklichen, wilden, gespenstischen Frage konzentriert, die ihm Herz und Geist folterte und unabweisbar nach einer Lösung verlangte. Jetzt nun traf ihn auf einmal der Brief seiner Mutter wie ein Donnerschlag. Es war klar: jetzt durfte er nicht mehr sich grämen, passiv leiden und über die Unlösbarkeit dieser Fragen reflektieren, sondern er mußte unbedingt etwas tun, und zwar sofort, so schnell wie möglich. Unter allen Umständen mußte er sich entscheiden, nach irgendeiner Seite hin, oder…

»Oder ich muß überhaupt auf ein lebenswertes Leben verzichten!« rief er in plötzlich hervorbrechender Wut. »Muß gehorsam das Schicksal hinnehmen, wie es eben ist, ein für allemal, und alle Wünsche in mir ersticken und auf jedes Recht zu handeln, zu leben und zu lieben verzichten!«

›Verstehen Sie, verstehen Sie, verehrter Herr, was das besagen will, wenn man nirgends mehr hingehen kann?‹ Diese Frage, die er gestern von Marmeladow gehört hatte, fiel ihm auf einmal ein. ›Es müßte doch jeder Mensch wenigstens irgendwohin gehen können.‹

Da fuhr er zusammen. Ein andrer Gedanke, auch einer vom gestrigen Tage, tauchte wieder in ihm auf. Er fuhr aber nicht deshalb zusammen, weil ihm dieser Gedanke wieder gekommen war; er hatte es geahnt, gewußt, daß er sicher wieder auftauchen werde, und hatte es bereits erwartet; auch stammte dieser Gedanke keineswegs erst von gestern her. Aber der Unterschied lag darin, daß dieser Gedanke vor einem Monate, ja selbst gestern noch, lediglich ein Phantasiegebilde gewesen war, jetzt aber… jetzt ihm auf einmal nicht als Phantasiegebilde, sondern in einer neuen, furchtbaren, ganz unbekannten Gestalt entgegentrat; und er selbst wurde sich dessen sofort bewußt. Es war wie ein Schlag vor den Kopf, und es wurde ihm dunkel vor den Augen.

Er sah sich hastig um; er suchte etwas. Er wollte sich hinsetzen und suchte eine Bank. Er befand sich augenblicklich auf dem K…-Boulevard. Eine Bank stand ein kleines Stückchen vor ihm, etwa hundert Schritte entfernt. Er ging, so schnell er konnte, nach ihr hin; unterwegs aber hatte er ein kleines Erlebnis, das ihn für kurze Zeit hinderte, an etwas andres zu denken.

Während er die Bank ins Auge faßte, bemerkte er eine Frauensperson, die etwa zwanzig Schritte vor ihm ging; indes beachtete er sie anfangs gar nicht, ebensowenig wie er alles andere beachtet hatte, was an seinem Auge vorübergeglitten war. Es war ihm schon oft begegnet, daß er nach Hause kam und sich schlechterdings nicht des Weges erinnern konnte, den er gegangen war; es war ihm schon zur Gewohnheit geworden, so achtlos zu gehen. Aber die Frauensperson, die da ging, hatte etwas so Sonderbares an sich, was einem beim ersten Blick ins Auge fiel, daß allmählich seine Aufmerksamkeit an ihr haftete, anfangs unwillkürlich und sogar zu seinem Verdrusse, dann aber mit immer wachsendem Interesse. Es kam ihm die Lust an, festzustellen, was denn eigentlich an dieser Frauensperson so sonderbar sei. Erstens war sie offenbar ein noch sehr junges Mädchen; sie ging trotz der Hitze in bloßem Kopfe, ohne Sonnenschirm und Handschuhe, und schlenkerte in lächerlicher Weise mit den Armen. Sie trug ein leichtes, seidenes Kleidchen; aber auch dieses saß ihr sehr wunderlich auf dem Leibe und war nur sehr mangelhaft zugeknöpft; hinten an der Taille, gerade am Rockansatz, war es zerrissen; ein ganzer Fetzen stand ab und hing, hin und her pendelnd, herunter. Ein kleines Tuch umgab locker den bloßen Hals, saß aber schief, ganz nach der einen Seite hin. Ferner hatte das Mädchen einen unsicheren Gang; sie stolperte und schwankte sogar nach allen Seiten hin. Diese Erscheinung nahm schließlich Raskolnikows ganzes Interesse in Anspruch. Er holte das Mädchen dicht bei der Bank ein; aber sowie sie die Bank erreicht hatte, fiel sie geradezu darauf nieder, in eine Ecke, ließ den Kopf gegen die Rücklehne sinken und schloß die Augen, anscheinend vor äußerster Müdigkeit. Als er sie näher ansah, wurde ihm sofort klar, daß sie völlig betrunken war; es war ein ganz seltsamer, sonderbarer Anblick. Es kam ihm sogar einen Augenblick der Gedanke, ob er sich nicht doch irre. Er sah ein noch ganz junges Gesichtchen vor sich, von sechzehn oder vielleicht sogar nur von fünfzehn Jahren, klein, blondhaarig und hübsch, aber über und über glühend und wie verschwollen. Das Mädchen hatte anscheinend für ihre ganze Umgebung sehr wenig Verständnis; sie hatte das eine Bein über das andere geschlagen, wobei sie es weit mehr als schicklich vorstreckte; nach allem zu urteilen, war sie sich gar nicht bewußt, daß sie sich auf der Straße befand.

Raskolnikow setzte sich nicht hin, mochte aber auch nicht weggehen, sondern blieb unentschlossen vor ihr stehen. Dieser Boulevard ist immer wenig belebt; jetzt aber, zwischen ein und zwei Uhr mittags und bei dieser Hitze, war fast niemand zu sehen. Nur seitwärts, etwa fünfzehn Schritte entfernt, war am Rande des Boulevards ein Herr stehengeblieben, der, wie aus seinem ganzen Benehmen ersichtlich war, die größte Lust hatte, gleichfalls zu dem Mädchen mit irgendwelchen Absichten hinzugehen. Wahrscheinlich hatte auch er sie von weitem gesehen und einzuholen gesucht, aber Raskolnikow war ihm dazwischengekommen. So warf er ihm denn wütende Blicke zu, die er aber vor ihm zu verbergen bemüht war, und wartete ungeduldig, bis der unangenehme Lumpenkerl fortginge, so daß er selbst sich heranmachen könnte. Die Sache war sehr durchsichtig. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, von kräftigem Körperbau, wohlgenährt, mit gesunder, blühender Gesichtsfarbe, roten Lippen und kleinem Schnurrbart; sein Anzug zeigte die größte Eleganz. Raskolnikow fühlte, wie eine grimmige Wut in ihm aufstieg; er verspürte Lust, diesen wohlgenährten Laffen irgendwie zu beleidigen. Darum verließ er das Mädchen einen Augenblick und ging auf den Herrn zu.

»He, Sie, Sie Swidrigailow, Sie! Was haben Sie hier zu suchen?« rief er ihm zu; er ballte die Fäuste und lachte mit vor Wut bebenden Lippen.

»Was soll das heißen?« fragte der Herr in scharfem Tone, zog die Augenbrauen zusammen und blickte ihn von oben herab erstaunt an.

»Scheren Sie sich von hier weg! Das soll es heißen!«

»Kanaille, wie kannst du dich unterstehen…«

Er holte mit seinem Spazierstocke aus. Raskolnikow stürzte mit erhobenen Fäusten auf ihn zu, ohne zu überlegen, daß der kräftige Herr wohl mit zwei solchen, wie er, fertig werden konnte. Aber in diesem Augenblicke packte ihn jemand von hinten mit festem Griffe, und ein Schutzmann stand zwischen ihnen.

»Hören Sie auf, meine Herren! Keine Schlägerei auf öffentlichen Plätzen! Was haben Sie denn? Was bist du denn für einer?« wandte er sich mit strenger Miene an Raskolnikow, da er dessen zerlumpten Anzug bemerkte.

Raskolnikow sah ihn aufmerksam an. Es war ein braves Beamtengesicht mit grauem Schnurrbart und Backenbart und mit verständig blickenden Augen.

»Sie kommen mir wie gerufen«, rief er und ergriff seine Hand. »Ich bin ein gewesener Student; mein Name ist Raskolnikow… Das mag auch gleich für Sie gesagt sein!« fügte er, zu dem Herrn gewendet, hinzu. »Bitte, kommen Sie einmal mit; ich will Ihnen etwas zeigen.«

Er nahm den Schutzmann bei der Hand und führte ihn zu der Bank hin.

»Da, sehen Sie, sie ist ganz betrunken; sie kam eben den Boulevard entlang. Wer weiß, was sie für eine sein mag; aber wie eine Gewerbsmäßige sieht sie nicht aus. Wahrscheinlich ist sie irgendwo betrunken gemacht und dann mißbraucht worden … zum ersten Male,… verstehen Sie? Und dann hat man sie auf die Straße gebracht. Sehen Sie nur, wie das Kleid zerrissen ist; sehen Sie, wie sie an- gezogen ist: andre Leute haben sie angezogen, nicht sie selber, und Hände, die sich nicht darauf verstanden, haben es getan, Männerhände. Das sieht man. Und nun sehen Sie einmal dahin: diesen Laffen, den ich eben durchprügeln wollte, kenne ich nicht; ich sehe ihn zum ersten Male in meinem Leben. Er hat sie auch hier auf der Straße bemerkt, jetzt eben, hat gesehen, daß sie betrunken ist und von sich nichts weiß, und nun brennt er darauf, heranzugehen, sich ihrer in diesem Zustande zu bemächtigen und sie irgendwohin zu verschleppen… Es ist ganz bestimmt so; Sie können mir glauben, daß ich mich nicht irre. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er sie beobachtete und ihr nachging; nur kam ich ihm in die Quere, und er wartet jetzt nur darauf, daß ich weggehe. Da, jetzt ist er ein bißchen weitergegangen und steht nun da, als wollte er sich eine Zigarette drehen. Wie können wir ihn hindern? Wie können wir sie nach Hause schaffen? Überlegen Sie mal!“

Der Schutzmann hatte die Sachlage sofort erfaßt. Was der kräftige Herr für einer war, darüber konnte kein Zweifel bestehen; aber was war nun mit dem Mädchen anzufangen? Der Schutzmann beugte sich über sie, um sie aus größerer Nähe zu betrachten, und aufrichtiges Mitleid spiegelte sich in seinen Zügen wider.

»Ach, wie schade!« sagte er und wiegte den Kopf hin und her. »Sie ist ja noch das reine Kind. Sie ist mißbraucht worden, das ist sicher. Hören Sie, Fräulein!« rief er sie an. »Wo wohnen Sie?«

Das Mädchen öffnete die müden, trüben Augen, blickte den Fragenden stumpfsinnig an und machte eine abwehrende Handbewegung.

»Hören Sie«, sagte Raskolnikow, »hier« (er wühlte in seiner Tasche und holte zwanzig Kopeken heraus), »hier, nehmen Sie eine Droschke und sagen Sie dem Kutscher, er solle sie nach Hause fahren. Wenn wir nur ihre Adresse erfahren könnten!«

Der Schutzmann nahm das Geld. »Fräulein, he. Fräulein!« begann er von neuem. »Ich will gleich eine Droschke für Sie nehmen und Sie selbst nach Hause begleiten. Wohin befehlen Sie, hm? Wo wohnen Sie?«

»Geht doch weg!… Laßt mich in Ruhe!« murmelte das Mädchen und wehrte wieder mit der Hand ab.

»Ach, wie häßlich, wie häßlich! Sie sollten sich schämen, Fräulein, ja, schämen sollten Sie sich!« Er schüttelte nochmals den Kopf, vorwurfsvoll, mitleidig und unwillig. »Das ist eine schwere Aufgabe«, wandte er sich an Raskolnikow und betrachtete ihn wieder vom Kopf bis zu den Füßen mit einem schnellen Blicke. Auch dieser Mensch kam ihm wohl sonderbar vor: hat solche Lumpen auf dem Leibe und gibt ohne weiteres Geld her!

»Haben Sie sie weit von hier gefunden?« fragte er ihn.

»Ich sagte es Ihnen schon: sie ging taumelnd vor mir her, hier auf dem Boulevard. Als sie zu der Bank kam, fiel sie geradezu darauf nieder.«

»Ach, wie schändlich es jetzt in der Welt zugeht, Herrgott! So ein junges Ding und schon betrunken! Sie ist mißbraucht worden, das ist sicher. Da, auch das Kleid ist zerrissen… Ist das eine Sittenlosigkeit heutzutage!… Vielleicht ist sie aus besserem Stande, aus einer verarmten Familie; das ist heutzutage nichts Seltenes. Aussehen tut sie ganz zart, ganz wie ein Fräulein.«

Er beugte sich wieder über sie.

Vielleicht hatte er bei sich zu Hause auch solche heranwachsenden Töchter, »ganz wie die Fräulein und ganz zart«, die den Vornehmeren ihre Manieren und allerlei Modetorheiten ablernten.

»Die Hauptsache«, sagte Raskolnikow eifrig, »ist, daß dieser Schurke nicht seinen Willen bekommt. Der würde sie noch mehr beschimpfen! Was er vorhat, ist ja ganz klar. Sehen Sie, der Schurke, er geht nicht weg!«

Raskolnikow sprach laut und wies offen mit dem Finger auf ihn. Dieser hörte es und wollte schon den Streit wieder aufnehmen; aber er besann sich eines andern und begnügte sich damit, ihm einen geringschätzigen Blick zuzuwerfen. Dann ging er langsam noch zehn Schritte weiter fort und blieb wieder stehen.

»Den wollen wir schon hindern«, antwortete der Schutzmann und überlegte. »Wenn sie bloß sagen wollte, wo man sie hinbringen soll; aber so … Fräulein, he, Fräulein!« rief er und beugte sich wieder über sie.

Sie machte plötzlich die Augen ganz auf, sah aufmerksam um sich, als hätte sie etwas von dem Vorgehenden begriffen, stand von der Bank auf und ging wieder nach der Seite zu, von der sie gekommen war.

»Pfui, ihr Unverschämten, laßt mich in Ruhe!“ sagte sie, wieder mit der abwehrenden Handbewegung.

Sie ging mit schnellen Schritten, aber ebenso stark taumelnd wie vorher. Der Lebemann ging ihr nach, aber in einer andern Allee, ohne die Augen von ihr abzuwenden.

»Seien Sie unbesorgt, ich werde es nicht zulassen«, sagte der schnurrbärtige Schutzmann in entschiedenem Tone und folgte den beiden.

»Ist das eine Sittenlosigkeit heutzutage!« bemerkte er seufzend noch einmal.

In diesem Augenblick hatte Raskolnikow ein Gefühl, als ob er einen Stich bekäme; im Nu war er wie umgewandelt.

»He! Hören Sie!« rief er dem Schutzmann nach.

Dieser wendete sich um.

»Lassen Sie die beiden nur laufen! Was geht es Sie an? Kümmern Sie sich um die Geschichte nicht weiter! Gönnen Sie ihm sein Vergnügen« (er zeigte auf den feinen Herrn). »Was geht es Sie an?«

Der Schutzmann konnte nicht klug daraus werden und blickte ihn starr an. Raskolnikow schlug ein Gelächter auf.

»Na, so was!« sagte der Schutzmann und schwenkte verwundert den einen Arm; dann ging er dem Stutzer und dem jungen Mädchen nach. Wahrscheinlich hielt er Raskolnikow entweder für gestört oder für etwas noch Schlimmeres.

›Und meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen‹, dachte Raskolnikow boshaft, als er allein zurückgeblieben war. ›Nun mag er von dem da auch noch etwas annehmen und das Mädchen mit ihm gehen lassen; und das wird auch wohl das Ende vom Liede sein. Und warum habe ich mich da als Helfer eingemischt? Ich als Helfer! Habe ich auch ein Recht zu helfen? Mögen die Menschen meinetwegen einander bei lebendigem Leibe auffressen, was geht es mich an? Und wie durfte ich diese zwanzig Kopeken weggeben? Gehörten sie denn mir?‹

Trotz dieser sonderbaren Spottreden wurde ihm sehr schwer ums Herz. Er setzte sich auf die nun unbesetzte Bank. Seine Gedanken waren verwirrt… Überhaupt machte es ihm Mühe, in diesem Augenblick an irgend etwas zu denken. Am liebsten hätte er sich selbst und alles andre vergessen, um dann später aufzuwachen und ganz von neuem anzufangen.

›Das arme Mädchen!‹ sagte er sich mit einem Blick auf die nun leere Ecke der Bank. ›Wenn sie wieder zu sich kommt, wird sie in Tränen ausbrechen, und dann erfährt ihre Mutter das Geschehene. … Sie schlägt die Tochter mit den Fäusten, mit dem Stocke; oh, der Schmerz und die Schande! Vielleicht jagt sie sie gar aus dem Hause … Und wenn sie sie auch nicht aus dem Hause jagt: solche Kupplerinnen, wie Darja Franzowna, wittern die Sache doch, und dann fängt das Mädchen an, hierhin und dahin seine heimlichen Gänge zu machen. Dann kommt gleich das Krankenhaus (denn so geht es immer denen, die bei anständigen Müttern wohnen und sich so im stillen außer dem Hause herumtreiben), nun, und darauf… darauf folgt wieder das Krankenhaus,… der Branntwein,… die Kneipen … und nochmals das Krankenhaus, … in zwei, drei Jahren ist sie körperlich völlig ruiniert, also mit neunzehn oder auch nur achtzehn Jahren. Solche Mädchen habe ich ja schon massenhaft gesehen. Und wie sind sie so geworden? Genau auf die Weise wie hier… Pfui! Aber meinetwegen! Es heißt, das muß eben so sein. Ein gewisser Prozentsatz, heißt es, muß jedes Jahr draufgehen, zum Teufel gehen, damit die übrigen frisch und gesund bleiben und sich ungestört entwickeln. Ein Prozentsatz! Wahrhaftig, prächtige Fachausdrücke haben die Leute jetzt; sie klingen so beruhigend, so wissenschaftlich. Man hat den schönen Ausdruck erfunden: »ein Prozentsatz«, und nun braucht sich niemand mehr aufzuregen. Ja, wenn man einen andern Ausdruck dafür gebrauchte, nun, dann… wäre die Sache vielleicht aufregender… Wie, wenn nun auch Dunja irgendwie in diesen Prozentsatz hineingerät? … Und wenn nicht in diesen, dann in einen andern?‹

›Aber wo wollte ich denn eigentlich hingehen?‹ überlegte er auf einmal. ›Sonderbar! Ich hatte doch einen Grund, weshalb ich ausging. Als ich den Brief gelesen hatte, da ging ich fort,… nach der Wassilij-Insel, zu Rasumichin wollte ich gehen; das war’s, jetzt fällt es mir ein. Aber weshalb denn? Wie ist mir denn gerade jetzt der Einfall gekommen, zu Rasumichin zu gehen? Das ist doch merkwürdig!‹

Er wunderte sich über sich selbst. Rasumichin war einer seiner früheren Kommilitonen auf der Universität. Es war auffällig gewesen, daß Raskolnikow, solange er auf der Universität war, fast keinen Freund hatte, sich von allen zurückzog, zu niemandem hinging und nur ungern jemand bei sich sah. Auch wandten sich bald alle von ihm ab. Weder an gemeinsamen Zusammenkünften noch an Gesprächen, noch an Vergnügungen, an nichts beteiligte er sich. Er arbeitete angestrengt, ohne sich zu schonen; man achtete ihn deswegen, aber niemand mochte ihn gern. Er war bei seiner Armut von einem anmaßenden Stolze und einer seltsamen Verschlossenheit, wie wenn er bezüglich seiner Person etwas zu verheimlichen hätte. Manche seiner Kommilitonen hatten von ihm den Eindruck, als blicke er auf sie alle von oben herab wie auf Kinder, in der Vorstellung, daß er sie alle in der geistigen Entwicklung, den Kenntnissen und Lebensanschauungen weit überholt habe und als sehe er ihre Anschauungen und Interessen für minderwertig an.

Rasumichin war der einzige, mit dem er befreundet war; befreundet ist eigentlich zuviel gesagt, aber er war ihm gegenüber mitteilsamer und offener. Übrigens war es gar nicht möglich, sich mit Rasumichin anders zu stellen. Dieser war ein ungemein heiterer, offenherziger Bursche und von einer Herzensgüte, die an Einfalt grenzte. Aber unter dieser Einfalt verbargen sich Tiefe und Gediegenheit. Die besseren unter seinen Kommilitonen hatten dafür Verständnis, und alle mochten ihn gerne leiden. Er besaß einen guten Verstand, obwohl er sich manchmal tatsächlich etwas naiv benahm. Sein Äußeres fiel auf: er war hochgewachsen, hager, stets schlecht rasiert, schwarzhaarig. Mitunter suchte er Händel, und er stand im Rufe gewaltiger Körperkraft, Einmal hatte er in der Nacht, als er in Gesellschaft die Straße entlang zog, mit einem einzigen Schlage einen baumlangen Wächter niedergeschmettert. Trinken konnte er in unbegrenztem Maße; aber er vermochte auch sich des Trinkens völlig zu enthalten. Manchmal verübte er ganz sträfliche Streiche; indes konnte er sich auch durchaus gesetzt benehmen. Eine beachtenswerte Eigenschaft an ihm war ferner, daß er sich niemals durch ein Mißgeschick aus der Fassung bringen ließ und, wie es schien, auch in der schlimmsten Lage nicht den Mut verlor. Er war imstande, nötigenfalls auf dem Dachboden zu kampieren, einen barbarischen Hunger und die fürchterlichste Kälte zu ertragen. Er war sehr arm, bestritt aber seinen Unterhalt ganz allein, indem er sich durch allerlei Arbeiten Geld verschaffte. Er kannte eine Unmenge Quellen, aus denen er schöpfen konnte, d. h. natürlich, wo er durch Arbeit sich etwas verdienen konnte. Einmal ließ er den ganzen Winter hindurch sein Zimmer gar nicht heizen und behauptete, dies sei sogar angenehmer, da man im Kalten besser schlafe. Zur Zeit hatte auch er sich genötigt gesehen, die Universität zu verlassen; jedoch sollte das nicht lange dauern, und er bemühte sich mit aller Kraft, seine Verhältnisse möglichst schnell zu bessern, um das Studium wieder fortsetzen zu können. Raskolnikow war schon vier Monate lang nicht bei ihm gewesen; Rasumichin aber wußte überhaupt nicht einmal, wo der andre wohnte. Vor zwei Monaten waren sie einmal auf der Straße einander entgegengekommen und schon ziemlich nahe gewesen; aber Raskolnikow hatte sich weggewendet und war sogar auf die andre Seite hinübergegangen, damit jener ihn nicht bemerken sollte. Und Rasumichin hatte ihn zwar doch bemerkt, war aber vorbeigegangen, um seinen »Freund« nicht zu belästigen.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 35

IV

»Sie wissen vielleicht (übrigens habe ich es Ihnen selbst erzählt)«, begann Swidrigailow, »daß ich hier wegen einer riesigen Summe im Schuldgefängnis saß, ohne die geringste Aussicht, daß ich jemals die Mittel zur Bezahlung besitzen würde. Es hat keinen Zweck, im einzelnen darzulegen, auf welche Weise mich Marfa Petrowna damals loskaufte; wissen Sie, bis zu welchem Grade von Tollheit sich ein Weib manchmal verlieben kann? Sie war eine ehrenhafte, recht kluge, obgleich völlig ungebildete Frau. Stellen Sie sich vor, daß diese sehr eifersüchtige, ehrenhafte Frau nach und sich bei allen fortwährend über mich zu beklagen; wie hätte sie das einer solchen neuen, schönen Freundin gegenüber unterlassen können? Ich kann mir denken, daß zwischen den beiden überhaupt von nichts anderem gesprochen wurde als von mir, und zweifellos wurde Awdotja Romanowna mit all den düsteren, geheimnisvollen Märchen bekannt gemacht, die über mich in Umlauf waren … Ich möchte wetten, daß Ihnen auch schon etwas davon zu Ohren gekommen ist?«

»Jawohl, Lushin beschuldigte Sie, Sie hätten sogar den Tod eines kleinen Mädchens verschuldet. Ist das wahr?«

»Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich mit all diesen Abgeschmacktheiten in Ruhe«, erwiderte Swidrigailow ärgerlich und mürrisch. »Wenn Sie so großes Verlangen tragen, über all diesen Unsinn die Wahrheit zu hören, so will ich es Ihnen ein andermal erzählen; aber jetzt …«

»Es wurde auch von einem Diener, den Sie auf dem Lande hatten, gesprochen; angeblich hätten Sie auch da eine Schuld auf sich geladen.«

»Tun Sie mir den Gefallen und hören Sie damit auf!« unterbrach ihn Swidrigailow wieder mit sichtlicher Ungeduld.

»War das nicht eben der Diener, der nach seinem Tode zu Ihnen ins Zimmer kam, um Ihnen die Pfeife zu stopfen? Sie haben mir ja selbst davon erzählt!« fragte Raskolnikow; sein Ton klang immer gereizter.

Swidrigailow blickte Raskolnikow forschend an, und dem letzteren schien es, als ob in diesem Blicke momentan, blitzartig ein boshaftes Lächeln aufzuckte; aber Swidrigailow beherrschte sich und antwortete sehr höflich:

»Ja, es war derselbe. Ich sehe, daß dies alles auch Sie außerordentlich interessiert, und halte es für meine Pflicht, bei der ersten passenden Gelegenheit Ihre Wißbegierde zu befriedigen. Hol’s der Teufel! Ich sehe, daß ich wirklich manchem als eine romantische Persönlichkeit erscheinen doch? Ich merke, daß Sie mir jetzt mit großer Aufmerksamkeit zuhören, … Sie interessanter junger Mann! …«

Swidrigailow schlug ingrimmig mit der Faust auf den Tisch. Sein Gesicht hatte sich stark gerötet. Raskolnikow sah deutlich, daß das eine Glas oder die anderthalb Gläser Champagner, die er so sachte in kleinen Schlückchen geschlürft hatte, auf ihn schon berauschend gewirkt hatten, und beschloß, aus diesem Umstande Nutzen zu ziehen. Swidrigailow erschien ihm sehr verdächtig.

»Nach allem, was ich da eben von Ihnen gehört habe, bin ich der festen Überzeugung, daß Sie auch bei der Reise hierher es auf meine Schwester abgesehen haben«, sagte er offen und unverhohlen zu Swidrigailow, um ihn noch mehr zu reizen.

»Ach, reden Sie doch nicht so etwas!« erwiderte Swidrigailow, der plötzlich die Herrschaft über sich zurückzugewinnen schien. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, … und außerdem kann mich Ihre Schwester nicht leiden.«

»Ja, das ist auch meine Überzeugung, daß sie Sie nicht leiden kann. Aber darum handelt es sich jetzt nicht.«

»Also davon sind Sie überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?« Swidrigailow zwinkerte mit den Augen und lächelte spöttisch. »Sie haben recht, sie liebt mich nicht; aber übernehmen Sie niemals eine Gewähr für die Bewertung von Vorgängen, die zwischen Mann und Frau oder zwischen einem Liebhaber und der Geliebten stattgefunden haben. Da ist immer so ein Winkelchen, das der ganzen Welt verborgen bleibt und nur den beiden bekannt ist. Können Sie garantieren, daß Awdotja Romanowna bei meinem Anblicke einen wirklichen Widerwillen empfunden hat?«

»Aus manchen Worten und Andeutungen in Ihrer Erzählung entnehme ich, daß Sie auch jetzt noch Ihre Absichten bezüglich meiner Schwester eifrig verfolgen, und selbstverständlich sind es ganz gemeine Absichten.«

»Wie? Mir sollten solche Worte und Andeutungen entschlüpft sein?« fragte Swidrigailow höchst naiv, ohne das Beiwort, das seinen Absichten beigelegt war, im geringsten zu beachten.

»Auch jetzt in diesem Augenblicke verraten Sie sich. Warum sind Sie denn zum Beispiel so ängstlich? Warum erschraken Sie jetzt eben auf einmal?«

»Ich bin ängstlich und erschrecke? Vor Ihnen erschrecke ich? Eher hätten Sie Anlaß, vor mir Angst zu haben, cher ami. Aber was rede ich nur für dummes Zeug zusammen … Ich sehe, ich bin betrunken; beinahe hätte ich wieder zuviel gesagt. Hol der Teufel den Wein! Heda, Wasser!«

Er ergriff die Flasche und schleuderte sie ohne Umstände zum Fenster hinaus. Filipp brachte Wasser.

»Das ist alles Unsinn«, sagte Swidrigailow, während er ein Handtuch anfeuchtete und es sich gegen den Kopf drückte. »Ich kann Sie mit einem einzigen Worte widerlegen und Ihren ganzen Verdacht als nichtig erweisen. Wissen Sie, daß ich mich wieder verheirate?«

»Sie haben es mir schon früher gesagt.«

»So? Nun, ich hab’s vergessen. Aber damals konnte ich es noch nicht mit voller Sicherheit sagen; denn ich hatte die Braut noch nicht einmal gesehen. Damals war es erst ein Plan. Na, aber jetzt habe ich bereits eine Braut, und die Sache ist abgemacht; und wenn ich jetzt nicht unaufschiebbare Geschäfte hätte, so würde ich Sie jedenfalls sofort zu den Leuten hinführen – denn ich möchte Sie dabei um Ihren Rat bitten. Ach, Donnerwetter! Ich habe ja nur noch zehn Minuten Zeit. Hier ist meine Uhr; sehen Sie selbst. Aber ich will es Ihnen doch noch erzählen; denn es ist ein hübscher kleiner Spaß, meine Heirat meine ich, so in ihrer Art, … aber wo wollen Sie denn hin? Wieder weg?«

»Nein, jetzt habe ich nicht mehr die Absicht, von Ihnen wegzugehen.«

»Überhaupt nicht? Na, wir wollen sehen! Ich werde Sie hinführen, ganz bestimmt, und Ihnen meine Braut zeigen; nur nicht jetzt gleich. Jetzt müssen wir bald gehen, Sie nach Gesicht, das Gesicht einer leidenden Schwärmerin; ist Ihnen das niemals aufgefallen? Na also, an die erinnert sie. Gleich am anderen Tage nach unserer Verlobung brachte ich ihr für anderthalbtausend Rubel Geschenke mit: einen Brillantschmuck, einen aus Perlen, einen silbernen Toilettenkasten – so groß! – mit allerlei Inhalt; das Gesichtchen der kleinen Madonna färbte sich ganz rosig. Ich setzte sie gestern auf meinen Schoß, aber wahrscheinlich doch gar zu ungeniert; denn sie wurde blutrot, und die Tränchen perlten ihr hervor. Aber sie wollte es nicht zeigen; sie glühte über das ganze Gesicht. Die andern waren alle für ein Weilchen aus dem Zimmer hinausgegangen, und ich war mit ihr ganz allein geblieben; da fiel sie mir auf einmal um den Hals (zum ersten Male ganz von selbst), umschlang mich mit ihren beiden Ärmchen, küßte mich und schwur, sie werde mir eine gehorsame, treue, gute Frau sein; sie wolle mich glücklich machen; dazu werde sie ihr ganzes Leben, jede Minute ihres Lebens verwenden; alles, alles wolle sie dafür zum Opfer bringen, und für all das wünsche sie nur meine Achtung zu besitzen; ›weiter‹, sagte sie, ›brauche ich nichts, nichts, gar nichts, keine Geschenke!‹ Das müssen Sie doch selbst sagen: ein solches Geständnis unter vier Augen anzuhören von einem sechzehnjährigen Engelchen im Tüllkleidchen, mit krausen Löckchen, mit der Röte mädchenhafter Verschämtheit auf dem Gesichte und mit Tränen holder Schwärmerei in den Augen – das müssen Sie doch selbst sagen, das hat einen großen Reiz! Nicht wahr, einen großen Reiz! Das ist doch schließlich etwas Wertvolles, nicht? Nicht wahr? Na, … na, hören Sie, … wir wollen einmal zu meiner Braut hinfahren, … nur nicht jetzt gleich!«

»Kurz gesagt, gerade dieser ungeheuerliche Abstand in den Jahren und in der geistigen Entwicklung erregt Ihre Sinnlichkeit! Haben Sie denn wirklich vor, das Mädchen zu heiraten?«

»Aber warum denn nicht? Ganz bestimmt! Jeder sorgt für sich, und am lustigsten lebt derjenige, der sich selbst am besten zu betrügen versteht. Ha-ha! Aber Sie sind ja wohl so ein ganz besonderer Tugendbold? Haben Sie Nachsicht mit mir, Väterchen! Ich bin ein sündiger Mensch. He-he-he!«

»Sie haben aber doch für Katerina Iwanownas Kinder gesorgt. Indessen, Sie werden wohl auch dafür Ihre Gründe gehabt haben; … ich verstehe jetzt alles.«

»Kinder habe ich überhaupt lieb; ich mag Kinder sehr gern«, erwiderte Swidrigailow lachend. »In dieser Hinsicht kann ich Ihnen sogar ein höchst interessantes kleines Erlebnis mitteilen, das auch jetzt noch nicht seinen Abschluß gefunden hat. Am ersten Tage nach meiner Ankunft besuchte ich verschiedene Sumpflokale; na, nach sieben Jahren Entbehrung stürzte ich mich mit Wonne da hinein. Sie haben wohl schon gemerkt, daß ich es nicht eilig habe, mit meiner früheren Sippschaft, meinen ehemaligen Freunden und Bekannten wieder in Verkehr zu treten. Na, ich will suchen, möglichst lange ohne sie auszukommen. Wissen Sie, als ich bei Marfa Petrowna auf dem Lande wohnte, bin ich oft ganz krank geworden vor sehnsüchtiger Erinnerung an all diese geheimnisvollen Lokale und Lokälchen, wo jemand, der darin Routine hat, gar manches zu finden vermag. Ein tolles Leben hier in Petersburg; das niedere Volk säuft; die gebildete Jugend überläßt sich einem untätigen Müßiggange, verpufft ihre Kraft in unerfüllbaren Träumereien und Schwärmereien und verkrüppelt geistig durch das ewige Theoretisieren; die Juden, die hier von überallher zusammenströmen, scharren heimlich Geld zusammen, und alles übrige sumpft. Gleich bei meiner Ankunft war es mir, als ob mir der wohlbekannte Geruch dieser Stadt entgegenschlüge. Ich besuchte zufällig eine sogenannte Tanzsoiree – es war ein schauderhaftes Sumpflokal (aber solche Lokale sind mir je unsauberer, um so lieber); na, natürlich wurde ein Cancan getanzt, wie man ihn sich nicht ärger denken kann und wie er zu meiner Zeit überhaupt noch gar nicht existierte. Ja, darin kann man wirklich einen großen Fortschritt konstatieren. Da sah ich auf einmal, wie ein etwa nahmen sie mit tausend Freuden an; sie halten es für eine Ehre, und ich verkehre noch immer bei ihnen … Wenn Sie wollen, können wir einmal hinfahren, nur nicht jetzt gleich.«

»Hören Sie auf mit Ihren gemeinen, schändlichen Geschichten, Sie liederlicher, schändlicher, sinnlicher Mensch!«

»Sie sind ein Schiller, ein russischer Schiller! Où va-t-elle la vertu se nicher? Wissen Sie was? Ich werde Ihnen absichtlich noch mehr solche Geschichten erzählen, bloß um Ihre Äußerungen der Entrüstung zu hören. Das ist mir ein wahrer Genuß!«

»Zweifellos! Ich komme mir ja selbst in diesem Augenblicke lächerlich vor«, murmelte Raskolnikow ärgerlich.

Swidrigailow lachte aus vollem Halse; schließlich rief er Filipp, zahlte und stand auf.

»Na, ich bin ja ziemlich betrunken! Assez causé!« sagte er. »Es ist mir ein wahrer Genuß gewesen!«

»Sehr begreiflich, daß es für Sie ein Genuß war!« rief Raskolnikow und erhob sich gleichfalls. »Wie sollte es denn auch für einen alten Wüstling nicht ein Genuß sein, von solchen Erlebnissen zu erzählen, während er sich dabei schon wieder mit einem andern unnatürlichen Vorhaben derselben Art beschäftigt, und noch dazu unter diesen Umständen und einem Menschen, wie ich, gegenüber. Das kitzelt!«

»Na, wenn dem so ist«, erwiderte Swidrigailow einigermaßen erstaunt und sah Raskolnikow forschend an, »wenn dem so ist, so sind Sie selbst ein arger Frechling. Wenigstens haben Sie im höchsten Grade das Zeug dazu. Sie sind ein starker Theoretiker, ein sehr starker, … na, und auch zum praktischen Handeln sind Sie ja sehr wohl befähigt. Aber nun genug davon. Ich bedaure aufrichtig, daß ich mich nur so kurze Zeit habe mit Ihnen unterhalten können; aber Sie laufen mir ja nicht davon … Warten Sie nur! …«

Swidrigailow verließ das Restaurant, und Raskolnikow folgte ihm. Swidrigailow war nicht erheblich betrunken; der Champagner war ihm nur für einen Augenblick zu Kopfe gestiegen, und der Rausch verflog mit jeder Minute mehr. Ein offenbar sehr wichtiges Vorhaben beschäftigte ihn stark, und er machte ein sehr ernstes Gesicht. Irgendeine Erwartung regte ihn augenscheinlich auf und versetzte ihn in Unruhe. Raskolnikow gegenüber hatte er in den letzten Minuten auf einmal sein Benehmen geändert und war von Minute zu Minute gröber und spöttischer geworden. Raskolnikow hatte das alles recht wohl bemerkt und war nun gleichfalls in unruhiger Erregung. Swidrigailow erschien ihm sehr verdächtig; er beschloß, ihm nachzugehen.

Sie traten auf das Trottoir.

»Sie gehen also nach rechts und ich nach links, oder meinetwegen auch umgekehrt. Jedenfalls adieu, bon plaisir, auf fröhliches Wiedersehen!«

Damit ging er nach rechts, in der Richtung auf den Heumarkt zu.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 30

IV

Raskolnikow war ein energischer und mutiger Fürsprecher Sonjas gegen Lushin gewesen, obgleich er doch soviel eigne Angst und eignes Leid in seiner Seele mit sich herumtrug. Aber nach alledem, was er am Vormittag durchgemacht hatte, war er ordentlich erfreut gewesen über die Gelegenheit, an die Stelle der ihm unerträglich gewordenen Empfindungen andere setzen zu können, ganz abgesehen von der persönlichen, herzlichen Teilnahme, die ihn zu seinem Eintreten für Sonja veranlaßt hatte. Dabei hatte er jedoch fortwährend an die bevorstehende Zusammenkunft mit Sonja denken müssen, und dieser Gedanke hatte ihn zeitweise schrecklich beunruhigt; er mußte, mußte ihr sagen, wer Lisaweta ermordet hatte, ahnte im voraus, welche schreckliche Qual ihm dies bereiten würde, und sträubte sich gegen diese Qual gleichsam mit vorgestreckten Händen. Als er Katerina Iwanownas Wohnung verließ und in Gedanken ausrief: »Nun, was werden Sie jetzt sagen, Sofja Semjonowna?« da befand er sich offenbar noch in einem Zustande äußerlicher Erregung; er fühlte sich mutig, kampflustig und stolz auf den Sieg, den er soeben über Lushin davongetragen hatte. Aber es ging ihm seltsam. Als er zu Kapernaumows Wohnung gelangt war, merkte er, daß ihn eine plötzliche Schwäche und Furcht überkam. Unschlüssig blieb er vor der Tür stehen und legte sich die sonderbare Frage vor: ›Ist es wirklich notwendig, daß ich sage, wer Lisaweta ermordet hat?‹ Sonderbar war die Frage allerdings, weil er gleichzeitig fühlte, daß nicht nur ein Verschweigen, sondern selbst ein Aufschub, auch nur auf kurze Zeit, geradezu unmöglich sei. Er wußte nicht, warum das unmöglich sei, er fühlte es nur, und dieses qualvolle Bewußtsein seiner Schwäche gegenüber der Notwendigkeit drückte ihn ganz nieder. Um dem Schwanken und der Qual ein Ende zu machen, öffnete er schnell die Tür und suchte von der Schwelle aus mit seinen Blicken Sonja. Sie saß an dem Tischchen, hatte die Ellbogen darauf gestützt und ihr Gesicht mit den Händen bedeckt; aber als sie Raskolnikow erblickte, stand sie schnell auf und kam ihm entgegen, als ob sie ihn erwartet hätte.

»Was wäre ohne Sie aus mir geworden!« sagte sie hastig, als sie sich in der Mitte des Zimmers gegenüberstanden.

Offenbar hatte sie lebhaft gewünscht, ihm dies so bald als möglich zu sagen, und eben deshalb auf ihn gewartet.

Raskolnikow trat an den Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem sie soeben aufgestanden war. Sie stellte sich zwei Schritte entfernt vor ihn hin, genau wie tags zuvor.

»Nicht wahr, Sonja?« sagte er und spürte auf einmal, daß ihm die Stimme bebte. »Diese ganze Anschuldigung war doch nur ›infolge Ihrer gesellschaftlichen Stellung und der damit verknüpften Gewohnheiten‹ möglich. Haben Sie das vorhin verstanden?«

Ein tief schmerzlicher Ausdruck überzog ihr Gesicht.

»Ach, sprechen Sie doch nicht zu mir so wie gestern!« unterbrach sie ihn. »Bitte, fangen Sie nicht von neuem davon an. Die Qual ist so schon groß genug …«

Sie lächelte, so schnell sie es vermochte, aus Furcht, daß dieser Vorwurf vielleicht sein Mißfallen erregen könnte,

»Es war dumm von mir«, fuhr sie fort, »daß ich von dort wegging. Wie mag es da jetzt zugehen? Ich wollte eben wieder hingehen; aber ich dachte immer, daß … daß Sie herkommen würden.«

Er erzählte ihr, daß Amalia Iwanowna die Familie aus der Wohnung hinauswerfe und daß Katerina Iwanowna weggelaufen sei, um »Gerechtigkeit zu suchen«.

»Ach, mein Gott!« rief Sonja erschrocken. »Wir wollen schnell hingehen …«

Sie griff nach ihrer Mantille.

»Immer dieselbe Geschichte!« rief Raskolnikow in gereiztem Tone. »Sie haben für niemand Gedanken als für Ihre Angehörigen! Bleiben Sie jetzt doch bei mir!«

»Aber … was wird aus Katerina Iwanowna?«

»Katerina Iwanowna wird Ihnen sicher nicht davonlaufen; die wird schon von selbst zu Ihnen kommen, da sie einmal weggerannt ist«, fügte er mürrisch hinzu. »Und wenn sie Sie dann hier nicht trifft, so sind Sie daran schuld …«

Sonja setzte sich in qualvoller Unschlüssigkeit auf einen Stuhl. Raskolnikow schwieg, blickte auf den Fußboden und sann über etwas nach.

»Allerdings hat es Lushin jetzt nicht gewollt«, begann er, ohne Sonja anzublicken. »Wenn er es aber gewollt hätte oder es irgendwie in seine Pläne hineingepaßt hätte, so würde er Sie ohne mein und Lebesjatnikows zufälliges Dazwischenkommen ins Gefängnis gebracht haben. Nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Ja!« wiederholte sie zerstreut und unruhig.

»Und es wäre doch sehr leicht möglich gewesen, daß ich nicht da war. Und was nun gar Lebesjatnikow betrifft, so kam der nur ganz zufällig dazu.«

Sonja schwieg.

»Nun, und wenn Sie ins Gefängnis gekommen wären, was dann? Erinnern Sie sich an das, was ich gestern zu Ihnen sagte?«

Sie antwortete wieder nicht. Er wartete ein Weilchen.

»Ich dachte schon, Sie würden wieder aufschreien: ›Ach, sagen Sie doch so etwas nicht, hören Sie auf!‹« spottete Raskolnikow, aber es klang gekünstelt. »Nun, Sie schweigen wieder?« fragte er nach einer kleinen Pause. »Wir müssen doch über irgend etwas miteinander reden. Da wäre es mir nun gerade interessant, zu sehen, wie Sie jetzt eine ›Frage‹ (um Lebesjatnikows Ausdruck zu gebrauchen) lösen würden.« Er schien in Verwirrung zu geraten. »Nein, wirklich, ich rede im Ernst. Stellen Sie sich einmal vor, Sonja, Sie wüßten alle Absichten Lushins vorher, Sie wüßten, wüßten sicher, daß Katerina Iwanowna und die Kinder durch die Verwirklichung dieser Absichten völlig zugrunde gerichtet würden (nebenbei auch Sie selbst; aber da Sie doch sich selbst für nichts achten, so erwähne ich Sie eben nur nebenbei), auch Polenjka, denn sie würde ja diesen selben Weg einschlagen müssen. Nun also: wenn Sie dann darüber zu entscheiden hätten, ob er am Leben bleiben solle oder jene, ich meine, ob Katerina Iwanowna sterben oder Lushin durch den Tod an der Verübung seiner Schändlichkeiten gehindert werden solle, wie würden Sie dann entscheiden? Wer von ihnen soll sterben? Das frage ich Sie!«

Sonja sah ihn beunruhigt an; sie glaubte, daß bei dieser unsicheren, weit ausholenden Rede irgend etwas Besonderes im Hintergrunde verborgen sei.

»Es ahnte mir schon, daß Sie nach so etwas fragen würden«, sagte sie und blickte ihn forschend an.

»Schön, meinetwegen; aber wie würden Sie entscheiden?«

»Warum fragen Sie nach etwas, was doch ganz unmöglich ist?« erwiderte Sonja mit sichtlichem Widerstreben.

»Also ist es besser, daß Lushin am Leben bleibt und seine Schändlichkeiten verübt? Wagen Sie auch darauf keine bestimmte Antwort zu geben?«

»Ich kenne doch Gottes Ratschlüsse nicht … Wozu fragen Sie Dinge, auf die es doch keine Antwort gibt? Wozu diese nutzlosen Fragen? Wie könnte der Fall eintreten, daß so etwas von meiner Entscheidung abhinge? Und wer hat mich hier zum Richter darüber gesetzt, wer leben bleiben soll und wer nicht leben bleiben soll?«

»Ja, wenn Sie Gottes Ratschluß da mit hineinmengen, dann ist freilich nichts zu machen«, murmelte Raskolnikow finster.

»Sagen Sie doch lieber offen, was Sie eigentlich wollen!« rief Sonja schmerzlich. »Sie zielen wieder auf etwas hin … Sind Sie denn nur darum hergekommen, um mich zu quälen?«

Sie konnte sich nicht mehr halten und brach in bittere Tränen aus. Düster und gramvoll blickte er sie an. So vergingen wohl fünf Minuten.

»Du hast recht, Sonja!« sagte er endlich leise.

Er war plötzlich ein ganz anderer geworden. Der gemachte, freche und trotz des Gefühls der Kraftlosigkeit herausfordernde Ton war verschwunden. Selbst seine Stimme war auf einmal schwächer geworden.

»Ich habe dir gestern selbst gesagt, ich würde nicht herkommen, um dich um Verzeihung zu bitten, und doch habe ich eigentlich gleich damit begonnen, um Verzeihung zu bitten … Denn was ich da eben von Lushin und Gottes Ratschluß sagte, das war im Grunde für mich, in meinem Interesse gesprochen … Darin lag eine Bitte um Verzeihung, Sonja …«

Er wollte lächeln; aber nur ein kraftloser, halber Ansatz zu einem Lächeln zeigte sich auf seinem blassen Gesichte. Er ließ den Kopf sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.

Und plötzlich erfüllte ein seltsames, unerwartetes Gefühl sein Herz, eine Art von grimmigem Hasse gegen Sonja. Selbst erstaunt und erschrocken über dieses Gefühl, hob er schnell den Kopf und blickte sie forschend an; aber er begegnete ihrem verstörten Blicke, der in qualvoller Sorge auf ihn gerichtet war; heiße Liebe sprach aus diesem Blicke, und sein scheinbarer Haß verschwand wie ein Gespenst. Es war nicht Haß gewesen; er hatte ein Gefühl für ein anderes gehalten. Die Ursache war nur gewesen, daß jetzt der verhängnisvolle Augenblick gekommen war.

Wieder bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und ließ den Kopf sinken. Plötzlich überzog Blässe sein Gesicht; er stand vom Stuhle auf, sah Sonja an und setzte sich, ohne ein Wort zu reden und ohne selbst zu wissen, was er tat, auf ihr Bett.

Dieser Augenblick hatte für seine Empfindung eine entsetzliche Ähnlichkeit mit jenem Augenblicke, als er hinter der Alten stand, bereits das Beil aus der Schlinge losgemacht hatte und sich sagte, daß nun keine Sekunde mehr zu verlieren sei.

»Was ist Ihnen?« fragte Sonja, der ganz bange geworden war.

Er konnte kein Wort hervorbringen. Den Hergang bei der Eröffnung, die er ihr machen wollte, hatte er sich ganz, ganz anders vorgestellt und begriff selbst nicht, was jetzt in ihm vorging. Sie ging leise zu ihm hin, setzte sich neben ihn auf das Bett und wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Ihr Herz schlug heftig und drohte zu zerspringen. Die Lage wurde unerträglich; er wandte sein totenblasses Gesicht ihr zu; seine Lippen verzogen sich kraftlos in dem Bemühen, ein Wort herauszubringen. Sonja wurde von Entsetzen gepackt.

»Was ist Ihnen?« fragte sie noch einmal und beugte sich dabei ein wenig von ihm weg.

»Nichts, Sonja! Ängstige dich nicht … Unsinn! Wirklich, wenn man vernünftig überlegt, ist es Unsinn!« murmelte er mit der Miene eines Fieberkranken, der von sich nichts weiß. »Warum bin ich eigentlich hergekommen, wenn ich dich doch nur quälen will?« fügte er plötzlich hinzu und blickte sie an. »Wirklich, warum? Das frage ich mich fortwährend, Sonja …«

Er hatte sich diese Frage vor einer Viertelstunde vielleicht tatsächlich vorgelegt; aber jetzt redete er das in völliger Kraftlosigkeit nur so hin; er wußte kaum von sich selbst und fühlte ein unaufhörliches Zittern und Frösteln im ganzen Körper.

»Ach, wie schwer Sie leiden!« sagte sie mit schmerzlicher Teilnahme, indem sie ihn betrachtete.

»Es ist ja alles Unsinn! … Also höre mal, Sonja«, er lächelte wieder (so ein blasses, mattes Lächeln von ganz kurzer Dauer), »erinnerst du dich, was ich dir gestern sagen wollte?«

Sonja wartete in großer Unruhe.

»Ich sagte zu dir beim Fortgehen, daß ich vielleicht für immer von dir Abschied nähme; wenn ich aber heute wiederkäme, so würde ich dir sagen, … wer Lisaweta ermordet hat.«

Sie begann am ganzen Leibe zu zittern.

»Nun also, ich bin hergekommen, um es dir zu sagen.«

»Haben Sie das wirklich gestern …«, flüsterte sie mit Anstrengung. »Woher wissen Sie es denn?« fragte sie hastig, als sammelte sie auf einmal wieder ihre Gedanken.

Ihr Atem ging schwer; ihr Gesicht wurde immer blasser.

»Ich weiß es.«

Sie schwieg etwa eine Minute lang.

»Hat man ihn gefunden?« fragte sie schüchtern.

»Nein, man hat ihn nicht gefunden.«

»Wie können Sie denn dann wissen, wer es gewesen ist?« fragte sie wieder kaum hörbar und wieder nach einem Schweigen, das fast eine Minute dauerte.

Er wandte sich zu ihr um und blickte sie scharf und unverwandt an.

»Rate!« antwortete er, wieder mit diesem verzerrten, matten Lächeln.

Krampfhafte Zuckungen liefen durch ihren ganzen Körper.

»Warum … warum … erschrecken Sie mich … denn so?« fragte sie und lächelte dabei wie ein Kind.

»Ich muß doch wohl sehr nahe befreundet mit ihm sein, … da ich es weiß«, fuhr Raskolnikow fort und sah ihr dabei unausgesetzt ins Gesicht, als könnte er seine Augen gar nicht von ihr abwenden. »Er wollte diese Lisaweta … nicht töten … Er hat sie … nur zufällig getötet … Er wollte bloß die alte Frau ermorden, … weil er wußte, daß sie allein war, … darum war er hingegangen … Und da kam Lisaweta dazu … Da ermordete er auch sie.«

Es verging noch eine entsetzliche Minute; beide sahen einander an.

»Du kannst es also nicht raten?« fragte er auf einmal mit einer Empfindung, als ob er sich von einem Turme herabstürzte.

»N–nein«, flüsterte Sonja kaum hörbar.

»Sieh mal ordentlich her!«

Sobald er das gesagt hatte, ließ eine Empfindung, die er schon von früher her kannte, ihm plötzlich wieder das Herz zu Eis erstarren; er blickte sie an, und es war ihm auf einmal, als sähe er in ihrem Gesichte das Gesicht Lisawetas. Er erinnerte sich deutlich an Lisawetas Gesichtsausdruck, als er damals mit dem Beile auf sie zutrat und sie vor ihm nach der Wand zurückwich, die Hand ein wenig vorstreckend, mit einem geradezu kindlichen Ausdruck von Angst im Gesicht, ganz genau wie kleine Kinder, die, auf einmal durch etwas in Furcht versetzt, den Gegenstand ihrer Furcht starr und ängstlich anblicken, zurückweichen und, die Händchen vorstreckend, zu weinen anfangen. Fast ebenso war es jetzt bei Sonja. Ebenso kraftlos, mit der gleichen Angst sah sie ihn eine Weile an; dann streckte sie auf einmal die linke Hand vor, berührte ganz leise, wie abwehrend, mit den Fingern seine Brust und begann ganz langsam sich vom Bette zu erheben, wobei sie immer mehr vor ihm zurückwich und ihr auf ihn gerichteter Blick immer starrer wurde. Ihr Entsetzen teilte sich auch ihm mit: ganz dieselbe Angst zeigte sich auch auf seinem Gesichte, und er schaute sie ganz ebenso an, beinahe sogar mit dem gleichen kindlichen Lächeln.

»Hast du es erraten?« flüsterte er endlich.

»O Gott!« Ein furchtbarer Klageschrei entrang sich ihrer Brust.

Kraftlos sank sie auf das Bett zurück, mit dem Gesicht in die Kissen. Aber im nächsten Augenblick richtete sie sich schnell wieder auf, rückte ihm eilig näher, ergriff seine beiden Hände, drückte sie mit ihren dünnen Fingerchen, so fest sie konnte, und sah ihm wieder starr, als könnte sie die Augen gar nicht von ihm losreißen, ins Gesicht. Mit diesem letzten, verzweiflungsvollen Blicke wollte sie die letzte Hoffnung, falls es eine solche noch für sie gäbe, erspähen und erhaschen. Aber es war nichts mehr zu hoffen; es blieb kein Zweifel; alles war so, wirklich so! Selbst nachher, in späteren Zeiten, wenn sie sich an diesen Augenblick erinnerte, erschien es ihr seltsam und wunderbar, woran sie eigentlich damals sofort mit solcher Sicherheit gesehen habe, daß es hier keine Zweifel mehr geben konnte. Sie konnte gewiß nicht sagen, daß sie etwas Derartiges geahnt hätte. Und doch hatte sie jetzt, nachdem er ihr eben erst diese Mitteilung gemacht hatte, das Gefühl, als hätte sie tatsächlich gerade dies geahnt.

»Laß es genug sein, Sonja, hör auf! Quäl mich nicht!« bat er in tiefstem Schmerze.

Er hatte ihr die Eröffnung in ganz, ganz anderer Weise machen wollen, und nun war es so gekommen.

Wie von Sinnen sprang sie auf und ging händeringend bis in die Mitte des Zimmers; aber dann wendete sie sich schnell um und setzte sich wieder neben ihn, so daß ihre Schulter fast die seine berührte. Plötzlich fuhr sie zusammen, wie wenn ihr jemand einen heftigen Stich versetzt hätte, schrie auf und warf sich, ohne selbst zu wissen, warum sie das tat, vor ihm auf die Knie.

»Wie haben Sie, Sie das übers Herz bringen können!« rief sie in Verzweiflung.

Sie sprang auf, fiel ihm um den Hals, umschlang ihn und drückte ihn mit ihren Armen fest an sich.

Raskolnikow machte sich von ihr los und blickte sie mit düsterem Lächeln an.

»Wie sonderbar du bist, Sonja! Du umarmst und küßt mich, nachdem ich dir das von mir gesagt habe. Du weißt wohl gar nicht, was du tust.«

»Nein, nein, auf der ganzen Welt gibt es jetzt keinen unglücklicheren Menschen als dich!« rief sie wie eine Rasende, ohne seine Bemerkung gehört zu haben, und brach dann in ein schluchzendes Weinen aus, das sie krampfhaft schüttelte.

Ein Gefühl, das er seit langer Zeit nicht mehr gekannt hatte, flutete wie eine mächtige Welle in sein Herz hinein und machte es weich und milde. Er widerstrebte diesem Gefühle nicht: zwei Tränen quollen aus seinen Augen und blieben an den Wimpern hängen.

»Du willst mich also nicht verlassen, Sonja?« sagte er und blickte sie mit einem Schimmer von Hoffnung an.

»Nein, nein, nie und nimmer!« rief Sonja. »Ich folge dir, ich folge dir überallhin! O Gott! … Ach, ich Unglückliche! … Und warum, warum habe ich dich nicht früher gekannt? Warum bist du nicht früher gekommen? O Gott!«

»Nun, jetzt bin ich doch gekommen.«

»Jetzt! Oh, was ist jetzt zu tun! … Wir bleiben zusammen, wir bleiben zusammen!« rief sie wie von Sinnen und umarmte ihn von neuem. »Ich gehe mit dir zusammen nach Sibirien!«

Es gab ihm einen plötzlichen Ruck; das verächtliche, hochmütige Lächeln trat wieder auf seine Lippen.

»Vielleicht will ich aber noch gar nicht in die Zwangsarbeit gehen, Sonja«, sagte er.

Sonja sah ihn schnell an.

Nach dem ersten Sturm leidenschaftlichen, qualvollen Mitgefühls mit dem Unglücklichen erschreckte sie nun wieder die furchtbare Vorstellung von dem Morde. In dem veränderten Tone, in dem er die letzten Worte gesprochen hatte, hörte sie den Mörder. Erstaunt blickte sie ihn an. Sie wußte von der Tat noch gar nichts weiter, weder warum noch wie, noch wozu er sie begangen hatte. Jetzt blitzten alle diese Fragen auf einmal in ihrem Bewußtsein auf. Und damit zugleich kam wieder der ungläubige Zweifel: ›Er ein Mörder? Er? War das denn möglich?‹

»Was ist denn nur? Wo bin ich denn?« sagte sie in tiefer Benommenheit, als ob sie noch gar nicht zu sich gekommen wäre. »Wie haben Sie, ein Mensch wie Sie, … wie haben Sie sich nur zu so etwas entschließen können? Wie ist das möglich?«

»Nun, um zu rauben! Hör auf, Sonja!« antwortete er müde und mit einem Beiklang von Ärger.

Sonja stand wie betäubt da; aber plötzlich rief sie:

»Du warst hungrig! Du … du wolltest deiner Mutter helfen? Ja?«

»Nein, Sonja, nein«, murmelte er und ließ den Kopf sinken, »ich war nicht so hungrig, … meiner Mutter wollte ich allerdings helfen, aber … auch das war nicht der eigentliche Grund …. Quäle mich nicht, Sonja.«

Sonja schlug die Hände zusammen.

»Ist denn das alles wirklich, wirklich wahr? O Gott, wie entsetzlich! Wer kann das glauben? … Und wie stimmt das zusammen: Sie geben selbst Ihr Letztes weg, und Sie haben gemordet, um zu rauben! Oh!« schrie sie plötzlich auf. »Das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben haben, … o Gott, … war das auch … war das auch …?«

»Nein, Sonja«, unterbrach er sie schnell, »dieses Geld stammte nicht daher; darüber magst du dich beruhigen! Dieses Geld hatte mir meine Mutter durch Vermittlung eines Kaufmanns geschickt, und ich hatte es erhalten, während ich krank war, an demselben Tage, an dem ich es dann weggegeben habe … Rasumichin hat es gesehen; er hat es sogar für mich in Empfang genommen. Dieses Geld war mein; es gehörte mir, war mein rechtmäßiges Eigentum.«

Sonja hörte ihm verständnislos zu und strengte ihren Kopf an, um die Sache zu begreifen.

»Jenes andere Geld … ich weiß übrigens gar nicht einmal, ob auch Geld dabei war«, fügte er leise und wie nachsinnend hinzu, »ich habe ihr damals einen Beutel, den sie am Halse trug, abgenommen, einen ledernen Beutel, er war ganz voll und prall, … aber ich habe nicht hineingesehen; ich hatte wohl keine Zeit dazu. Nun, und die Wertsachen, allerlei Knöpfchen und Ketten, … all diese Sachen und den Beutel habe ich auf einem fremden Hofe am Wosnessenskij-Prospekt unter einem Steine verborgen, gleich am andern Morgen … Da liegt auch jetzt noch alles …«

Sonja hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

»Aber warum sagten Sie denn … wie können Sie denn sagen, Sie hätten es getan, um zu rauben, und doch haben Sie gar nichts für sich behalten?« fragte sie schnell; sie griff gleichsam nach einem Strohhalm.

»Ich weiß noch nicht, … ich habe mich noch nicht entschieden, … ob ich dieses Geld nehmen soll oder nicht«, antwortete er, wieder wie nachsinnend; aber plötzlich kam er zu sich und lachte hastig und kurz auf. »Ach, was für eine Dummheit habe ich da eben hingeredet, nicht wahr?«

Durch Sonjas Kopf zuckte der Gedanke: ›Ist er nicht etwa gar irrsinnig?‹ Aber sie wies diesen Gedanken sofort wieder von sich: ›Nein, dies hier muß etwas anderes sein.‹ Aber was hier eigentlich vorlag, das verstand sie nicht, schlechterdings nicht!

»Weißt du, Sonja«, sagte er plötzlich wie infolge einer Eingebung, »ich will dir etwas sagen: Wenn ich nur deshalb gemordet hätte, weil ich hungrig war« (er betonte jedes einzelne Wort und sah sie mit einem rätselhaften, aber innigen Blicke an), »dann wäre ich jetzt glücklich! Das kannst du mir glauben! … Und was hättest du denn davon, was hättest du denn davon«, rief er einen Augenblick darauf wie verzweifelt, »wenn ich jetzt ohne weiteres zugäbe, schlecht gehandelt zu haben? Was hättest du von diesem törichten Triumphe über mich? Ach, Sonja, bin ich denn deshalb jetzt zu dir gekommen?«

Sonja wollte wieder etwas sagen; aber sie schwieg.

»Darum forderte ich dich auch gestern auf, mit mir zu gehen, weil du der einzige Mensch bist, der mir noch geblieben ist.«

»Wohin soll ich denn mitgehen?« fragte Sonja.

»Nicht zum Stehlen und Morden, sei unbesorgt, nicht zu solchen Dingen«, erwiderte er bitter lächelnd. »Wir sind zu verschiedene Naturen … Und weißt du, Sonja, ich habe erst jetzt, erst in diesem Augenblicke begriffen, wohin ich dich eigentlich gestern aufforderte mitzukommen! Gestern aber, als ich dich aufforderte, wußte ich selbst nicht, wohin. Nur eins hatte ich bei meiner Bitte gestern und bei meinem Kommen heute im Auge: verlaß mich nicht. Du wirst mich nicht verlassen, Sonja?«

Sie drückte ihm die Hand.

»Warum habe ich es ihr nur gesagt, warum habe ich es ihr nur entdeckt!« rief er einen Augenblick darauf ganz verzweifelt aus und sah sie mit grenzenloser Qual an. »Nun erwartest du Erklärungen von mir, Sonja; nun sitzest du da und wartest; das sehe ich; aber was soll ich dir sagen? Es wird dir ja doch nichts davon begreiflich sein; du wirst dich nur zu Tode grämen … um meinetwillen! Siehst du, nun weinst du und umarmst mich wieder – warum umarmst du mich denn? Weil ich selbst die Last nicht länger zu ertragen vermochte und herkam, um sie einem andern auf die Schultern zu bürden: ›Leide auch du, davon wird mir leichter werden!‹ Und kannst du einen solchen Schurken lieben?«

»Leidest du denn nicht auch Qualen?« rief Sonja.

Wieder flutete eben jenes Gefühl wie eine gewaltige Woge in sein Herz hinein und machte es wieder für einen Augenblick sanft und weich.

»Sonja, ich habe ein böses Herz; beachte das wohl, daraus erklärt sich vieles. Ich bin auch nur darum hergekommen, weil ich ein böser Mensch bin. Mancher wäre nicht hergekommen. Ich aber bin ein Feigling und … ein Schurke! Aber … lassen wir das. Um all das handelt es sich jetzt nicht … Ich muß jetzt reden und weiß nicht, wie ich anfangen soll …«

Er hielt inne und überlegte.

»Ja, wir beide sind zu verschiedene Naturen!« rief er wieder. »Wir passen nicht zueinander. Warum, ja warum bin ich nur hergekommen! Das kann ich mir nie verzeihen!«

»Nein, nein, es ist gut, daß du gekommen bist!« rief Sonja. »Es ist besser, daß ich es erfahren habe, viel besser!«

Er schaute sie voll Schmerz an.

»Und was war denn eigentlich der Grund?« fragte er, als ob er mit seiner Überlegung fertig geworden wäre. »Ja, der Grund war der! Höre: ich wollte ein Napoleon werden, darum habe ich einen Mord begangen … Nun, verstehst du es jetzt?«

»N–nein«, flüsterte Sonja naiv und schüchtern. »Aber sprich nur weiter, sprich nur weiter! Das Nötige werde ich schon davon verstehen!« bat sie ihn.

»Wirst du das? Nun gut, wir wollen sehen!«

Er schwieg und überlegte lange.

»Die Sache ist die: Ich legte mir einmal die Frage vor, wenn zum Beispiel Napoleon an meiner Stelle gewesen wäre und, um seine Laufbahn zu beginnen, weder Toulon noch Ägypten, noch den Übergang über den St. Bernhard gehabt hätte, sondern wenn statt all dieser schönen, großartigen Dinge einfach nur ein lächerliches altes Weib, eine Registratorswitwe, dagewesen wäre, die er überdies noch hätte ermorden müssen, um aus ihrem Kasten Geld zu entwenden (um der Laufbahn willen, verstehst du?), nun also, hätte er sich dann wohl dazu entschlossen, wenn er auf andre Weise nicht hätte seine Laufbahn beginnen können? Würde ihm dieses Mittel zuwider gewesen sein, weil es gar zu wenig großartig und … und weil es sündhaft wäre? Ich muß dir gestehen, daß ich mich mit dieser ›Frage‹ schrecklich lange herumgequält habe, so daß ich, als ich schließlich die Lösung fand (ich fand sie ganz plötzlich), mich meiner Schwerfälligkeit schämte. Die Lösung war aber die: das Mittel wäre ihm nicht nur nicht zuwider gewesen, sondern er wäre überhaupt nicht einmal auf den Gedanken gekommen, daß diese Tat nicht großartig sei, … er hätte gar nicht verstanden, was einem daran zuwider sein könnte. Und wenn er auf keine andre Weise seine Laufbahn hätte beginnen können, so hätte er die Alte abgewürgt, ehe sie auch nur einen Laut hätte von sich geben können, ohne alles Bedenken! Nun, und da … ließ auch ich meine Bedenken fallen, … ich tötete sie … nach dem Beispiele einer solchen Autorität. So war der Hergang, ganz genauso. Kommt dir das lächerlich vor? Ja, Sonja, das Lächerlichste ist dabei eben dies, daß sich die Sache wirklich so zugetragen hat.«

Dem Mädchen kam es ganz und gar nicht lächerlich vor.

»Sprechen Sie zu mir lieber unmittelbar, … ohne Beispiele«, bat sie ihn noch schüchterner und mit kaum hörbarer Stimme.

Er wandte sich zu ihr um, blickte sie traurig an und erfaßte ihre Hände.

»Du hast wieder recht, Sonja. Das ist ja alles Unsinn, nur leeres Geschwätz! Siehst du: du weißt ja, daß meine Mutter so gut wie nichts besitzt. Meine Schwester hat eine gute Bildung erhalten (eigentlich hat sich das zufällig so ergeben) und ist nun dazu verurteilt, sich als Gouvernante durchzubringen. All ihre Hoffnungen setzten die beiden auf mich. Ich studierte, konnte mich aber auf der Universität nicht erhalten und sah mich genötigt, vorläufig auszusetzen. Und wenn ich mich auch weiter hätte durchschleppen können, so hätte ich doch nur hoffen können, in zehn, zwölf Jahren, falls sich die Umstände günstig gestalteten, Lehrer oder Beamter mit tausend Rubel Gehalt zu werden …« (Er sprach, als sagte er eine auswendig gelernte Lektion auf.) »Aber bis dahin wäre meine Mutter vor Kummer und Sorgen zugrunde gegangen und es wäre mir doch nicht gelungen, ihr ein ruhiges Dasein zu verschaffen, und meine Schwester … mit der hätte es noch schlimmer gehen können! … Und was ist das für eine Existenz, wenn man sein ganzes Leben lang an allen Freuden vorbeigehen, sich von allen Genüssen abwenden muß, seiner Mutter nicht helfen kann und es sich demütig gefallen lassen muß, daß die Schwester beleidigt wird? Was hat ein solches Leben für einen Zweck? Etwa daß man, nachdem man seine Angehörigen begraben hat, sich neue anschafft, eine Frau und Kinder, und diese dann auch ohne einen Groschen Geld und ohne einen Bissen Brot zurückläßt? Also … also da beschloß ich, mich des Geldes der alten Frau zu bemächtigen, um für die nächsten Jahre meine Existenz zu ermöglichen, ohne daß meine Mutter sich für mich abquälen müßte – nämlich um die Fortsetzung meines Studiums sicherzustellen und mir die ersten Schritte nach Beendigung des Studiums zu erleichtern –, und ich wollte das alles großzügig und in durchgreifender Weise machen, um mir eine völlig neue Lebenslaufbahn zu schaffen und einen neuen Weg einzuschlagen, auf dem ich von niemand abhängig wäre … Also … also, das ist alles … Nun, daß ich die alte Frau ermordete, das war ja selbstverständlich schlecht von mir, … genug davon!«

Als er seine Erzählung zu Ende gebracht hatte, war er ganz erschöpft und ließ den Kopf sinken.

»Ach, das ist nicht richtig, das ist nicht richtig«, rief Sonja in tiefem Schmerze. »Kann man denn überhaupt so … Nein, es muß anders gewesen sein, ganz anders!«

»Und doch habe ich dir alles aufrichtig erzählt; ich habe die Wahrheit gesprochen!«

»Wie kann das die Wahrheit sein! O Gott!«

»Ich habe ja doch nur eine Laus getötet, Sonja, eine nutzlose, garstige, schädliche Laus.«

»Ein Mensch ist keine Laus!«

»Das weiß ich auch, daß er keine Laus ist«, antwortete er und schaute sie sonderbar an. »Übrigens schwatze ich sinnlos, Sonja«, fügte er hinzu, »ich rede schon seit langer Zeit so sinnlos … Es ist alles nicht richtig; du hast darin ganz recht. Ich hatte ganz andere Beweggründe, ganz andere, ganz andere! … Ich habe seit so langer Zeit mit niemand gesprochen, Sonja … Der Kopf tut mir jetzt sehr weh.«

Seine Augen brannten in fieberhaftem Feuer. Er begann fast irre zu reden; ein unruhiges Lächeln zuckte um seine Lippen. Neben der heftigen seelischen Erregung machte sich bereits eine furchtbare Erschöpfung bemerkbar. Sonja begriff, welche Qualen er litt. Auch ihr begann der Kopf wirr und schwindlig zu werden. Seine sonderbaren Reden, meinte sie, klangen, als ob man etwas davon verstehen könnte; aber doch … wie war es nur möglich, wie war es nur möglich! O Gott! In Verzweiflung rang sie die Hände.

»Nein, Sonja, es war nicht richtig!« begann er wieder und hob auf einmal den Kopf, als hätte eine unerwartete neue Richtung, die seine Gedanken genommen, ihm einen frischen Impuls gegeben. »Es war nicht richtig! Stelle dir lieber vor (es ist wirklich besser, wenn du das tust), daß ich ein egoistischer, neidischer, boshafter, schändlicher, rachsüchtiger Mensch sei, nun … meinetwegen auch, daß ich zum Irrsinn neige. (Wir wollen gleich alles zusammen nehmen; daß ich vielleicht verrückt wäre, davon haben andre schon früher gesprochen; ich habe es recht wohl bemerkt!) Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich mich auf der Universität nicht erhalten konnte. Aber weißt du, gekonnt hätte ich es vielleicht doch. Meine Mutter hätte mir das Geld für die Vorlesungen geschickt, und die Kosten für Schuhzeug, Kleidung und Essen hätte ich mir selbst durch Arbeit verdienen können, sicherlich! Ich konnte Unterricht erteilen; es wurde mir ein halber Rubel für die Stunde geboten. Rasumichin lebt ja auch von seiner Arbeit! Aber ich wurde verbissen und mochte nicht. Geradezu verbissen, das ist der richtige Ausdruck! Ich verkroch mich dann wie eine Spinne in meinen Winkel. Du bist ja in meinem Hundeloch hat auch das allergrößte Recht! So ist das bisher gewesen, und so wird das immer sein! Man muß blind sein, um das nicht einzusehen!«

Raskolnikow sah Sonja zwar an, während er das sagte, kümmerte sich aber nicht mehr darum, ob sie ihn verstand oder nicht. Das Fieber hatte völlig von ihm Besitz genommen. Er befand sich in einer Art von düsterer Ekstase. Er hatte wirklich allzu lange mit keinem Menschen geredet. Sonja sah ein, daß diese düsteren Dogmen sein Glaube und sein Gesetz geworden waren.

»Damals wurde es mir klar, Sonja«, fuhr er schwärmerisch fort, »daß die Macht nur dem zuteil wird, der es wagt, sich zu bücken und sie aufzuheben. Nur auf eines kommt es an, nur auf eines: wagen muß man! Damals kam mir ein Gedanke, zum erstenmal in meinem Leben, ein Gedanke, den noch niemand jemals vor mir gehabt hat! Niemand! Sonnenklar trat mir auf einmal der Gedanke vor die Seele: wie kommt es, daß bis auf den heutigen Tag noch keiner, der dieses verrückte Gebaren mit ansieht, es gewagt hat oder wagt, ganz einfach dieses Unding am Schwanz zu packen und in die Hölle zu schmettern! Ich … ich wollte es wagen, und so mordete ich, … ich wollte es nur einmal wagen, Sonja; das war mein ganzer Beweggrund!«

»Oh, schweigen Sie, schweigen Sie!« rief Sonja und schlug entsetzt die Hände zusammen. »Sie haben sich von Gott losgesagt, und Gott hat Sie gestraft; er hat Sie der Macht des Teufels überliefert! …«

»Nun ja, da haben wir’s, Sonja! Als ich da so im Dunkeln lag und all diese Gedanken in mir aufschossen, da hat mich gewiß der Teufel versucht, nicht wahr?«

»Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslästerer! Nichts, aber auch gar nichts verstehen Sie davon! O Gott! Nie, nie wird er etwas davon verstehen!«

»Still, Sonja, ich spotte gar nicht; ich weiß ja selbst, daß mich der Teufel versuchte. Still, Sonja, still!« wiederholte andre Wesen in meinem Netze fangen und ihnen den Lebenssaft aussaugen würde, das mußte mir in jenem Augenblicke ganz gleichgültig sein! Auch hatte ich es damals, als ich den Mord beging, Sonja, nicht hauptsächlich auf das Geld abgesehen; das Geld war mir nicht so wichtig wie etwas andres … Jetzt ist mir das alles deutlich … Verstehe mich wohl: wenn ich auf demselben Wege weitergegangen wäre, hätte ich dennoch vielleicht nie wieder einen Mord begangen. Was mich zu der Tat trieb, war etwas andres; ich wollte über einen bestimmten Punkt ins klare kommen, und so schnell wie möglich ins klare kommen: Bin ich eine Laus wie alle oder ein Mensch? Bin ich imstande, über Hindernisse hinwegzuschreiten, oder nicht? Habe ich den Mut, mich zu bücken und die Macht aufzuheben, oder nicht? Bin ich eine zitternde Kreatur, oder habe ich ein Recht …«

»Ein Recht, zu töten? Sie meinen, Sie haben ein Recht, zu töten?« rief Sonja und schlug wieder die Hände zusammen.

»Ach, Sonja!« begann er in gereiztem Tone; er wollte ihr noch etwas erwidern, unterdrückte es aber geringschätzig. »Unterbrich mich nicht, Sonja! Ich wollte dir nur das eine beweisen: daß der Teufel mich damals dorthin schleppte und mir nach der Tat klarmachte, daß ich kein Recht gehabt hätte, dorthin zu gehen, weil ich ganz ebenso eine Laus sei wie alle. Er hat seinen Spott mit mir getrieben; siehst du, jetzt bin ich nun zu dir gekommen! Nimm mich als Gast auf. Wenn ich nicht eine Laus wäre, würde ich dann etwa zu dir gekommen sein? Höre noch dies: als ich damals zu der Alten ging, kam es mir nur darauf an, einen Versuch zu machen … Nun weißt du es!«

»Und Sie haben sie ermordet, ermordet!«

»Wie kann man denn das ermorden nennen! Ermordet man denn jemand so? Geht etwa einer, der morden will, so hin, wie ich damals hinging? Ich will dir ein andermal erzählen, wie ich hingegangen bin. Habe ich etwa die alte Frau ermordet? Mich selbst habe ich ermordet, und nicht die alte Frau! Da habe ich mit einem Schlage mich selbst vernichtet, fürs ganze Leben! … Die alte Frau aber hat der Teufel getötet, nicht ich … Genug, genug, Sonja, genug! Laß mich!« rief er plötzlich in krampfhaftem Schmerze. »Laß mich!«

Er stützte die Ellbogen auf die Knie und preßte seinen Kopf mit den Handflächen wie mit einer Zange zusammen.

»Oh, dieses Leid!« stöhnte Sonja qualvoll auf.

»Und nun sage mir: was soll ich jetzt tun?« fragte er, hob plötzlich den Kopf und blickte sie mit einem von Verzweiflung gräßlich verzerrten Gesichte an.

»Was du tun sollst?« rief sie und sprang von ihrem Platze auf; ihre Augen, die bisher voll Tränen gestanden hatten, blitzten. »Steh auf!« Sie faßte ihn an der Schulter; er erhob sich und sah sie ganz erstaunt an. »Geh sofort, diesen Augenblick, hin und stelle dich auf einen Kreuzweg; beuge dich nieder und küsse zuerst die Erde, die du besudelt hast, und dann verbeuge dich demütig vor aller Welt, nach allen vier Himmelsrichtungen, und sage dabei jedesmal laut: ›Ich habe gemordet!‹ Dann wird dir Gott neues Leben gewähren. Wirst du hingehen? Wirst du hingehen?« fragte sie ihn, am ganzen Körper wie in einem Fieberanfall zitternd, ergriff seine beiden Hände, drückte sie fest in den ihrigen und sah ihn mit glühendem Blicke an.

Er war verwundert und geradezu bestürzt über ihre plötzliche Verzücktheit.

»Du sprichst von der Zwangsarbeit, Sonja, wie? Du meinst, ich soll mich selbst anzeigen?«

»Du sollst das Leid auf dich nehmen und dadurch deine Sünde abbüßen; das ist’s, was du tun mußt.«

»Nein, Sonja, ich gehe nicht zu den Behörden hin.«

»Aber wie willst du denn sonst weiterleben? Wie willst du denn weiterleben mit einer solchen Last?« rief Sonja. »So geht das doch nicht weiter! Wie willst du denn mit deiner Mutter reden? Ach, was wird jetzt aus denen werden! Aber was rede ich! Du hast dich ja schon von deiner Mutter und von deiner Schwester losgesagt, hast sie verlassen! O Gott!« rief sie. »Aber das weißt du ja alles selbst! Wie kann man, wie kann man nur so ohne einen Menschen leben! Was wird jetzt aus dir werden!«

»Sei kein Kind, Sonja«, erwiderte er leise. »Welche Schuld habe ich denn den Behörden gegenüber? Warum soll ich zu denen hingehen? Was soll ich ihnen sagen? Das ist ja alles nur ein leeres Hirngespinst! … Sie selbst richten Millionen von Menschen zugrunde und halten das obendrein noch für eine Tugend. Gauner und Schurken sind sie, Sonja! … Ich gehe nicht zu ihnen hin. Und was soll ich ihnen sagen? Daß ich einen Mord begangen, aber nicht gewagt habe, das Geld zu behalten, sondern es unter einem Steine versteckt habe?« fügte er bitter lächelnd hinzu. »Dann werden sie mich sogar noch auslachen und sagen: ›Du bist ein Dummkopf, daß du es nicht behalten hast; ein Feigling und ein Dummkopf!‹ Sie werden gar kein Verständnis für mein Tun haben, Sonja, und sie sind auch gar nicht wert, es zu verstehen. Warum soll ich zu denen hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Sonja …«

»Du wirst dich selbst zu Tode martern, ja, zu Tode martern!« rief sie und streckte in verzweifeltem Flehen die Hände nach ihm aus.

»Vielleicht habe ich mich doch vorhin verleumdet«, bemerkte er düster und in Gedanken versunken, »vielleicht bin ich doch ein Mensch, und keine Laus, und habe es vorhin zu eilig gehabt, mich selbst zu verurteilen. Noch will ich kämpfen.«

Ein hochmütiges Lächeln spielte um seine Lippen.

»Eine solche Qual zu erdulden! Und das ganze Leben lang, das ganze Leben lang!«

»Ich werde mich daran gewöhnen …«, sagte er düster und schwermütig. »Höre«, begann er nach einer Weile von neuem, »laß es nun der Tränen genug sein; es wird Zeit, daß wir etwas Praktisches besprechen: ich bin hergekommen, um dir zu sagen, daß man mir auf der Spur ist und mich fangen möchte.«

»Ach!« rief Sonja erschrocken.

»Nun, warum schreist du? Du möchtest ja selbst, daß ich in die Zwangsarbeit gehe, und nun erschrickst du? Aber das will ich dir sagen: ich ergebe mich ihnen nicht. Ich will noch mit ihnen kämpfen, und sie werden gegen mich nichts ausrichten. Wirkliche Beweise haben sie nicht. Gestern war ich in großer Gefahr und dachte schon, ich wäre verloren; aber heute hat die Sache eine günstige Wendung genommen. Alle ihre Beweise haben ihre zwei Seiten, das heißt, ich kann ihre Beschuldigungen zu meinem Vorteil wenden, verstehst du? Und das werde ich tun; denn das habe ich jetzt gelernt … Aber ins Gefängnis setzen werden sie mich bestimmt. Wäre nicht ein Zufall dazwischengekommen, so hätten sie es vielleicht heute schon getan, oder vielmehr sicher; und vielleicht tun sie es heute noch … Aber das ist weiter nicht schlimm, Sonja; ich werde eine Weile sitzen, und dann werden sie mich wieder freilassen müssen; denn sie haben keinen einzigen wirklichen Beweis und werden auch keinen in die Hand bekommen, mein Wort darauf. Und auf Grund des Materials, über das sie verfügen, können sie einen Menschen nicht verurteilen. Nun genug … Ich habe dir das bloß sagen wollen, damit du es weißt … Was meine Schwester und meine Mutter anlangt, so will ich es so einzurichten suchen, daß sie der Beschuldigung keinen Glauben schenken und sich nicht um mich ängstigen. Übrigens ist meine Schwester jetzt, wie es scheint, gut versorgt und damit zugleich auch meine Mutter … Nun, das ist alles. Übrigens, sei vorsichtig! Wirst du zu mir ins Gefängnis kommen, wenn ich dort sitze?«

»O gewiß, ich komme sicher!«

Sie saßen beide nebeneinander, traurig und niedergeschlagen, als wären sie allein nach einem Sturm von den Wogen an ein menschenleeres Gestade geworfen worden. Er blickte Sonja an und fühlte, wie innig sie ihn liebte, und seltsamerweise war es ihm auf einmal eine drückende, schmerzliche Empfindung, sich so geliebt zu wissen. Ja, es war eine seltsame, furchtbare Empfindung! Als er zu Sonja hingegangen war, da hatte er gefühlt, daß auf ihr seine ganze Hoffnung beruhte und daß er bei ihr einen Ausweg finden werde; er hatte gemeint, sich wenigstens einen Teil seiner Qualen von der Seele wälzen zu können, und jetzt, wo ihr ganzes Herz sich ihm zugewandt hatte, fühlte und erkannte er auf einmal, daß er unvergleichlich viel unglücklicher geworden war als vorher.

»Sonja«, sagte er, »komm lieber nicht zu mir, wenn ich im Gefängnis bin.«

Sonja antwortete nicht; sie weinte. So vergingen einige Minuten.

»Trägst du ein Kreuz?« fragte sie ihn unvermittelt, als wenn ihr das soeben eingefallen wäre.

Er verstand die Frage nicht sofort.

»Nein? Also nein? – Da, nimm dieses hier; es ist von Zypressenholz. Ich habe noch ein andres, ein kupfernes, das habe ich von Lisaweta bekommen. Lisaweta und ich, wir haben getauscht; sie hat mir ein Kreuz gegeben und ich ihr ein Heiligenbildchen. Ich werde nun Lisawetas Kreuz tragen, und dieses hier soll für dich sein. Nimm nur, … es ist ja meines!« bat sie ihn. »Wir werden ja den Leidensweg zusammen gehen; so wollen wir denn auch zusammen das Kreuz tragen!«

»Gib es!« sagte Raskolnikow.

Es wäre ihm schmerzlich gewesen, sie zu betrüben. Aber er zog die Hand, die er schon nach dem Kreuze ausgestreckt hatte, sogleich wieder zurück.

»Jetzt nicht, Sonja. Lieber später«, fügte er hinzu, um sie zu beruhigen.

»Ja, ja, später, das wird besser sein!« stimmte sie ihm mit Wärme und Lebhaftigkeit bei. »Wenn du das Leid auf dich nehmen wirst, dann lege das Kreuz an. Dann komm zu mir, ich werde es dir umhängen, und dann wollen wir beten und unsern Weg wandeln.«

In diesem Augenblicke wurde dreimal an die Tür geklopft.

»Sofja Semjonowna, darf ich eintreten?« fragte eine sehr bekannte, höfliche Stimme.

Sonja lief erschrocken zur Tür. Herrn Lebesjatnikows hellblonder Kopf blickte in das Zimmer herein.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 31

V

Lebesjatnikow sah sehr aufgeregt aus.

»Ich komme zu Ihnen, Sofja Semjonowna. Entschuldigen Sie! … Ich dachte mir schon, daß ich auch Sie hier treffen würde«, fuhr er, zu Raskolnikow gewendet, fort, »das heißt, ich dachte durchaus nichts … Derartiges, … sondern ich dachte nur … Bei uns ist … Katerina Iwanowna ist plötzlich irrsinnig geworden«, sagte er kurz und hastig, indem er sich von Raskolnikow an Sonja wendete.

Sonja schrie auf.

»Das heißt, wenigstens scheint es so. Indessen … Wir wissen gar nicht, was wir machen sollen, sehen Sie! Sie kam zurück – sie war, wie es schien, irgendwo aus dem Hause gejagt, vielleicht sogar geschlagen worden, … wenigstens scheint es so … Sie war zu dem Chef des verstorbenen Semjon Sacharowitsch gelaufen, hatte ihn aber nicht zu Hause getroffen, er war bei einer andern Exzellenz zum Diner … Und denken Sie sich, sie rannte dann ohne weiteres dorthin, wo das Diner stattfand, … zu der andern Exzellenz, und denken Sie sich nur, sie setzte es mit ihrer Hartnäckigkeit durch, daß man ihr Semjon Sacharowitschs früheren Chef herausrief, sogar vom Tische weg, wie es scheint. Sie können sich denken, was dann für eine Szene folgte. Sie wurde natürlich hinausgejagt; nach ihrer eigenen Darstellung hat sie den Chef beschimpft und mit etwas nach ihm geworfen. Zuzutrauen ist es ihr sehr wohl … Daß man sie nicht festgenommen hat, ist mir unbegreiflich! Jetzt erzählt sie die Geschichte allen Leuten, auch der Wirtin Amalia Iwanowna; aber es ist schwer, daraus klug zu werden, denn sie schreit und gebärdet sich wie rasend … Ach ja: sie schreit, da sie jetzt von allen verlassen sei, so werde sie die Kinder nehmen und mit ihnen auf die Straße gehen; sie werde einen Leierkasten drehen, und die Kinder sollten singen und tanzen, und sie werde das auch tun und Geld einsammeln, und jeden Tag würden sie vor die Fenster des Chefs ziehen. ›Sollen alle Menschen es sehen‹, sagt sie, ›wie die Kinder eines achtbaren Beamten auf der Straße betteln gehen.‹ Die Kinder schlägt sie, und die weinen jämmerlich. Sie lehrt die kleine Lida ›Das Dörfchen‹ singen, und den Knaben und Polenjka unterweist sie im Tanzen; alle Kleider zerreißt sie und macht den Kindern daraus Mützen, wie sie die Straßenkomödianten tragen. Sie selbst will eine Blechschüssel nehmen, um darauf zu schlagen, als Musik … Auf Zureden hört sie gar nicht … Denken Sie nur, was soll das werden? Das geht doch nicht so!«

Lebesjatnikow hätte seinen Bericht noch fortgesetzt; aber Sonja, die ihm mit stockendem Atem zugehört hatte, griff hastig nach ihrer Mantille und ihrem Hute und eilte aus dem Zimmer, sich im Laufen ankleidend. Nach ihr verließ Raskolnikow das Zimmer und hinter diesem auch Lebesjatnikow.

»Sie ist ganz bestimmt verrückt geworden«, sagte er zu Raskolnikow, als er mit ihm zusammen auf die Straße hinaustrat. »Ich wollte nur Sofja Semjonowna nicht zu sehr erschrecken und sagte darum: ›es scheint so‹; aber es ist zweifellos so. Man sagt, es bilden sich bei der Schwindsucht Tuberkeln im Gehirn; schade, daß ich von Medizin nichts verstehe. Übrigens habe ich versucht, die Frau zu einer klaren Auffassung zu bringen; aber sie hört auf nichts.«

»Sie haben ihr von den Tuberkeln gesprochen?«

»Das heißt, von den Tuberkeln eigentlich nicht. Sie würde doch nichts davon verstanden haben! Aber was ich meine, ist dies: wenn man einen Menschen auf logische Weise überzeugt, daß er in Wirklichkeit keinen Grund zum Weinen hat, so wird er aufhören zu weinen. Das ist klar. Oder sind Sie der Ansicht, daß er nicht aufhören wird?«

»Dadurch würde einem das Leben allerdings wesentlich erleichtert werden«, antwortete Raskolnikow.

»Erlauben Sie, erlauben Sie; gewiß, dieser Frau Katerina Iwanowna fällt das Verständnis recht schwer; aber haben Sie nicht davon gehört, daß man in Paris bereits ernsthafte Versuche hinsichtlich der Möglichkeit, Irrsinnige lediglich vermittelst logischer Überzeugung zu heilen, angestellt hat? Ein dortiger Professor, der vor kurzem gestorben ist, ein sehr achtenswerter Gelehrter, ist auf den Gedanken gekommen, daß auf diesem Wege eine Heilung möglich sei. Sein Grundgedanke ist der, daß eine besondere Zerrüttung des Organismus bei den Irrsinnigen nicht vorliege, sondern daß der Irrsinn sozusagen ein logischer Fehler, ein Fehler der Urteilskraft, eine inkorrekte Art, die Dinge anzuschauen, sei. Er widerlegte also einen Kranken Schritt für Schritt, und denken Sie sich, er erzielte dabei, wie es heißt, gute Resultate. Aber da er außerdem auch Duschen zur Anwendung brachte, so unterliegen die Resultate dieser Heilmethode allerdings noch einigem Zweifel … Wenigstens scheint es so …«

Raskolnikow hörte ihm schon längst nicht mehr zu. Als er bei seinem Hause angelangt war, nickte er seinem Begleiter zu und bog in den Torweg ein. Lebesjatnikow kehrte mit seinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück, blickte sich um und lief weiter.

Raskolnikow trat in sein Kämmerchen und blieb in der Mitte stehen. Er fragte sich, warum er hierher zurückgekehrt sei. Er betrachtete diese gelblichen, abgenutzten Tapeten, diesen Staub, sein Sofa … Vom Hofe her ertönte ein scharfes, ununterbrochenes Klopfen, als wenn irgendwo ein großer Nagel eingeschlagen würde … Er trat ans Fenster, stellte sich auf die Zehen und blickte lange, anscheinend mit großer Aufmerksamkeit, auf dem Hofe umher. Aber der Hof war leer und der Klopfende nicht zu sehen. Links, im Seitengebäude, sah er hier und da ein geöffnetes Fenster; auf den Fensterbrettern standen kleine Blumentöpfe mit kümmerlichen Geranien. An den Fenstern war Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Diese ganze Szenerie kannte er auswendig. Er wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa.

Noch niemals, noch niemals hatte er sich so entsetzlich einsam gefühlt!

Ja, er fühlte es noch einmal, daß er vielleicht wirklich dahin kommen werde, Sonja zu hassen, und gerade jetzt, wo er sie noch unglücklicher gemacht hatte.

Wie unverantwortlich, daß er zu ihr hingegangen war, um ihr Tränen des Mitleids zu erpressen! Warum mußte er ihr durchaus das Leben noch bitterer machen? Oh, welche Gemeinheit!

›Ich will allein bleiben!‹ sagte er sich plötzlich entschlossen. ›Sie soll nicht zu mir ins Gefängnis kommen!‹

Etwa fünf Minuten darauf hob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Es war ihm ein merkwürdiger Gedanke gekommen: ›Vielleicht ist es bei der Zwangsarbeit tatsächlich besser!‹

Er wußte nicht, wie lange er so in seiner Kammer gesessen und sich den unklaren Gedanken hingegeben hatte, die sich in seinem Kopfe drängten. Da öffnete sich plötzlich die Tür, und herein trat Awdotja Romanowna. Sie blieb zuerst stehen und betrachtete ihn von der Schwelle aus, gerade wie er es vor kurzem mit Sonja gemacht hatte; dann trat sie näher und setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl, auf ihren gestrigen Platz. Er sah sie schweigend und anscheinend gedankenlos an.

»Sei nicht böse, Bruder, ich bin nur auf einen Augenblick hergekommen«, sagte Dunja.

Der Ausdruck ihres Gesichtes war ernst, aber nicht finster, ihr Blick klar und ruhig. Raskolnikow sah, daß auch sie ihn liebte und aus Liebe hergekommen war.

»Bruder, ich weiß jetzt alles, alles. Dmitrij Prokofjitsch hat mir alles erzählt und erklärt. Man verfolgt und quält dich auf Grund eines dummen, schändlichen Verdachtes. Dmitrij Prokofjitsch hat mir gesagt, es sei gar keine Gefahr vorhanden, und du tätest unrecht, dich über die Sache so aufzuregen. Ich denke anders und begreife vollkommen, wie empört alles in dir ist, und daß diese heftige Gemütsbewegung für das ganze Leben Nachwirkungen bei dir zurücklassen kann. Das ist’s, was mir Sorge macht. Dafür, daß du uns verlassen hast, verdamme ich dich nicht und darf ich dich nicht verdammen; verzeih mir, daß ich dir gestern deswegen einen Vorwurf gemacht habe. Ich habe, was mich selbst angeht, das Gefühl, daß auch ich von allen weggehen würde, wenn ich einen so großen Kummer hätte. Der Mutter werde ich von diesem deinem Grunde nichts sagen; aber ich werde immer von dir sprechen und ihr in deinem Namen sagen, du würdest sehr bald wieder zu uns kommen. Mache dir also um sie keine Sorge; ich werde sie schon beruhigen. Aber bereite ihr auch nicht zu viel Qual; komm wenigstens noch einmal zu ihr; denke daran, daß sie deine Mutter ist! Jetzt bin ich nur hergekommen, um dir zu sagen« (hier stand Dunja auf), »wenn ich dir irgendwie nützen kann, … selbst mit meinem Leben, … mit allem, … so rufe mich; ich werde kommen. Leb wohl!«

Sie wendete sich eilig um und ging zur Tür. Aber Raskolnikow, der aufstand und zu ihr trat, hielt sie noch zurück.

»Dunja«, sagte er, »dieser Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.«

Dunja errötete ein wenig.

»Nun?« fragte sie, nachdem sie einen Augenblick gewartet hatte.

»Er ist ein praktischer, arbeitsfreudiger, ehrenhafter Mensch und fähig, jemand mit aller Kraft seines Herzens zu lieben … Leb wohl, Dunja.«

Dunja wurde blutrot; aber dann geriet sie auf einmal in große Unruhe.

»Aber, Bruder, was bedeutet denn das? Trennen wir uns etwa wirklich fürs ganze Leben, daß du solche … Vermächtnisworte zu mir sprichst?«

»Mag es kommen, wie es will … Leb wohl …«

Er wendete sich um und trat von ihr weg ans Fenster. Sie blieb noch einen Augenblick stehen, sah beunruhigt nach ihm hin und ging dann in tiefer Erregung hinaus.

Nicht aus Kälte benahm er sich so gegen sie. Es war ein Augenblick, der letzte, gewesen, wo es ihn heiß verlangt hatte, sie innig zu umarmen und von ihr Abschied zu nehmen und ihr sogar alles zu sagen; aber er hatte sich nicht einmal entschließen können, ihr die Hand zu geben.

›Später würde sie vielleicht gar zusammenschaudern, wenn sie sich erinnerte, daß ich sie jetzt umarmt hätte, und würde sagen, ich hätte einen Kuß von ihr erschlichen!‹

›Und wird ein Mädchen wie sie, wenn sie über mich die Wahrheit erfährt, es ertragen?‹ fügte er nach einigen Minuten in Gedanken hinzu. ›Nein, sie wird es nicht ertragen; solche Charaktere können so etwas nicht ertragen! Solche Charaktere ertragen so etwas niemals …‹

Er dachte an Sonja.

Vom Fenster her wehte es kühl herein. Draußen war es nicht mehr so blendend hell. Er nahm seine Mütze und ging hinaus.

Freilich konnte und wollte er sich um seinen krankhaften Zustand nicht kümmern; aber all diese unaufhörliche Beängstigung und diese ganze seelische Erregung konnten nicht ohne Folgen bleiben. Und wenn er noch nicht an einem richtigen Nervenfieber krank lag, so kam das vielleicht gerade daher, daß diese innere fortwährende Aufregung ihn, wenn auch nur in unnatürlicher Weise und nur vorläufig, auf den Füßen und bei Bewußtsein hielt.

Er irrte ziellos umher. Die Sonne ging unter. Es hatte sich bei ihm in der letzten Zeit eine eigentümliche Angst eingestellt. Diese Empfindung hatte nichts Stechendes, Brennendes; aber es lag in ihr so etwas Dauerndes, Lebenslängliches, ein Vorgefühl endloser Jahre voll kalten, starren Grames, ein Vorgefühl einer lebenslänglichen Existenz auf jener »schmalen Felsenplatte«. Um die Abendzeit pflegte ihn diese Empfindung noch heftiger zu peinigen als am Tage.

›Und mit solchen törichten, rein physischen Schwächezuständen, die vom Sonnenuntergang und ähnlichen Dingen abhängen, soll nun einer sich davor in acht nehmen, Dummheiten zu machen! In solchem Zustande brächte ich es fertig, nicht bloß zu Sonja, sondern sogar zu Dunja hinzugehen!‹ murmelte er ingrimmig.

Es rief ihn jemand mit seinem Namen an; er wendete sich um; Lebesjatnikow eilte auf ihn zu.

»Denken Sie nur, ich war eben in Ihrer Wohnung, ich suchte Sie. Denken Sie nur, sie hat ihre Absicht zur Ausführung gebracht und die Kinder mit sich fortgenommen. Sofja Semjonowna und ich haben sie nur mit größter Mühe gefunden. Sie selbst schlägt auf eine Pfanne, und die Kinder zwingt sie zu tanzen. Die Kinder weinen. An den Straßenecken und vor den Läden machen sie halt. Allerlei törichtes Volk läuft hinter ihnen her. Kommen Sie nur!«

»Und Sonja?« fragte Raskolnikow besorgt.

»Sie ist geradezu von Sinnen. Das heißt, nicht Sofja Semjonowna ist von Sinnen, sondern Katerina Iwanowna; übrigens ist auch Sofja Semjonowna wie von Sinnen. Aber Katerina Iwanowna ist ganz und gar von Sinnen. Ich sage Ihnen, sie ist vollständig verrückt. Man wird sie und die Kinder noch auf die Polizei bringen. Sie können sich denken, was das auf die Frau für eine Wirkung haben wird … Sie sind jetzt am Kanal bei der …schen Brücke, gar nicht weit von Sofja Semjonownas Wohnung. Es ist ganz nahe von hier.«

Am Kanal, nicht weit von der Brücke und nur zwei Häuser vor dem Hause, wo Sonja wohnte, stand ein dichter Haufen Volk. Namentlich waren Knaben und Mädchen zusammengeströmt. Schon von der Brücke aus konnte man Katerina Iwanownas heisere, kreischende Stimme hören. ihren Husten und brach sogar in Tränen aus. Am allermeisten regte sie sich aber über das Weinen und die Angst der beiden Kleinen, Kolja und Lida, auf. Sie hatte wirklich den Versuch gemacht, die Kinder mit einem Putz auszustaffieren, wie ihn die Straßensänger und Straßensängerinnen tragen. Der Knabe hatte einen Turban aus rotem und weißem Zeug auf dem Kopfe und sollte damit einen Türken vorstellen. Für Lida hatte es an einem derartigen Putze gemangelt; sie hatte nur ein rotes, aus Wolle gestricktes Käppchen des verstorbenen Semjon Sacharowitsch auf (genau gesagt: seine Nachtmütze), und an dieses Käppchen war ein Stück von einer weißen Straußenfeder gesteckt; diese hatte noch der Großmutter von Katerina Iwanowna gehört, und das davon übrige Stück war bisher als Familienkostbarkeit im Kasten aufbewahrt worden. Polenjka trug ihre gewöhnliche Kleidung. Sie blickte schüchtern und verstört ihre Mutter an, wich ihr nicht von der Seite, verbarg ihre Tränen, ahnte den Irrsinn ihrer Mutter und blickte unruhig um sich. Die Straße und die Menge von Menschen ängstigten sie sehr. Sonja ging immer dicht hinter Katerina Iwanowna her; sie weinte und beschwor sie fortwährend, doch nach Hause zurückzukehren. Aber Katerina Iwanowna blieb unerbittlich.

»Hör auf, Sonja!« rief sie in schnellem Redestrom, hastig, keuchend und hustend. »Du weißt selbst nicht, worum du mich bittest; du bist wie ein Kind! Ich habe dir schon gesagt, daß ich zu diesem trunksüchtigen deutschen Frauenzimmer nicht wieder zurückkehre. Mögen alle sehen, mag ganz Petersburg sehen, wie die Kinder eines vornehmen Mannes, der sein ganzes Leben lang treu und ehrlich gedient hat und, man kann sagen, bei seiner Amtstätigkeit gestorben ist, wie dessen Kinder betteln gehn müssen.« (Katerina Iwanowna hatte sich diese phantastische Geschichte ersonnen und glaubte bereits steif und fest an deren Wahrheit.) »Mag es dieser nichtswürdige hohe Chef sehen! Und du bist ja auch töricht, Sonja: was sollen wir denn jetzt essen, sag mal? Wir haben dich genug ausgesogen; ich will das nicht länger! Ach, Rodion Romanowitsch, Sie sind da!« rief sie, als sie Raskolnikow erblickte, und stürzte zu ihm hin. »Bitte, setzen Sie doch diesem Närrchen auseinander, daß dies das klügste war, was wir tun konnten. Sogar die Leierkastenmänner verdienen so viel, daß sie davon leben können; uns aber werden alle Leute sofort als etwas Besseres erkennen; sie werden merken, daß wir eine unglückliche vornehme Familie sind, die ihren Ernährer verloren hat und an den Bettelstab gebracht wurde. Diese Exzellenz, dieser Kerl, wird seine Stelle verlieren; das werden Sie sehen! Alle Tage werden wir zu ihm vors Fenster gehen, und wenn der Kaiser vorbeifährt, dann will ich mich auf die Knie werfen und ihm die Kinder alle hinstellen und auf sie hinweisen und sagen: ›Schütze sie, du Vater deines Volkes!‹ Er ist ein Vater der Waisen, er ist barmherzig, er wird sie schützen; das werden Sie sehen! Aber diese Exzellenz … Lida! Tenez-vous droite! Kolja, du sollst gleich wieder tanzen! Was plärrst du denn? Er plärrt schon wieder! Nun, warum fürchtest du dich denn, du kleiner Dummrian! O Gott, was soll ich nur mit diesen Kindern anfangen! Wenn Sie wüßten, Rodion Romanowitsch, wie unvernünftig sie sind! Ach, was soll man mit solchen Kindern machen! …«

Sie wies auf die schluchzenden Kinder, und auch ihr selbst war das Weinen nahe, was sie jedoch an ihrem ununterbrochenen, schnellen Reden nicht hinderte. Raskolnikow versuchte, sie zur Umkehr nach Hause zu bewegen, in der Hoffnung, dadurch auf ihr Ehrgefühl zu wirken, sagte er ihr sogar, es schicke sich nicht für sie, wie eine Drehorgelspielerin auf den Straßen herumzuziehen, da sie doch Vorsteherin eines vornehmen Mädchenpensionates zu werden beabsichtige.

»Ein Pensionat, ha-ha-ha! Das sind Luftschlösser!« rief Katerina Iwanowna, mußte aber sogleich nach dem Lachen heftig husten. »Nein, Rodion Romanowitsch, mit dieser … Aber wir können doch nicht in einem fort ›Das Dörfchen‹ und ›Das Dörfchen‹ singen, und das singen ja auch alle! Wir müssen etwas Vornehmeres singen … Nun, was hast du dir ausgedacht, Polenjka? Du solltest doch deiner Mutter behilflich sein! Ich habe gar kein Gedächtnis mehr, gar kein Gedächtnis; sonst würde mir schon etwas einfallen! Wir können doch nicht singen: ›Husaren, schwingt die Säbel!‹ Ach, wißt ihr was, wir wollen französisch singen: ›Cinq sous!‹ Das habe ich euch ja beigebracht. Und was die Hauptsache ist: da es französisch ist, so sehen alle Leute sogleich, daß ihr vornehme Kinder seid, und das hat eine viel rührendere Wirkung … Wir könnten auch ›Marlborough s’en va-t-en guerre!‹ singen; denn das ist geradezu ein Kinderlied, geradezu ein Kinderlied und wird in allen aristokratischen Häusern dazu benutzt, die Kinder in Schlaf zu singen:

›Marlborough s’en va-t-en guerre,
Ne sait quand reviendra …‹«

begann sie zu singen. »Nein, wir wollen doch lieber ›Cinq sous‹ singen. Nun, Kolja, leg die Hände auf die Hüften und dreh dich, recht flink, und du, Lida, dreh dich auch, in entgegengesetzter Richtung, und ich und Polenjka, wir werden dazu singen und den Takt klatschen!

›Cinq sous, cinq sous
Pour monter notre ménage.‹

Kche-kche-kche!« (Ein heftiger Husten schüttelte sie.) »Bring dein Kleid in Ordnung, Polenjka; es ist dir an den Schultern heruntergerutscht«, bemerkte sie mitten in dem Hustenanfalle, als sie einmal Atem schöpfte. »Jetzt ist es ganz besonders nötig, daß ihr euch recht anständig haltet und nach allen Regeln des guten Tones benehmt, damit alle Leute sehen, daß ihr vornehme Kinder seid. Ich hatte damals gleich gesagt, das Mieder sollte länger zugeschnitten und die Leinwand doppelt genommen werden; aber da kamst du, Sonja, mit deinen Ratschlägen dazwischen: ›Kürzer, kürzer!‹ Nun, was ist dabei herausgekommen? Daß das Kind ganz verunstaltet aussieht … Na, nun weint ihr ja wieder alle! Was habt ihr denn, ihr dummen Kinder? Nun, Kolja, fang an, recht flink, recht flink – ach, was ist das für eine Plage mit dem Kinde! …

›Cinq sous, cinq sous …‹

Schon wieder ein Schutzmann! Nun, was willst du denn von uns?«

Wirklich drängte sich ein Schutzmann durch den Menschenschwarm hindurch. Aber gleichzeitig näherte sich ihr ein Herr von etwa fünfzig Jahren, im Uniformmantel eines höheren Beamten, mit einem Orden am Halse (dieser letztere Umstand war Katerina Iwanowna besonders erwünscht und verfehlte auch auf den Schutzmann seine Wirkung nicht), und reichte ihr schweigend einen Dreirubelschein. Der Ausdruck seines Gesichtes bekundete aufrichtiges Mitleid.

Katerina Iwanowna nahm den Schein und verbeugte sich höflich, fast zeremoniell, vor dem Geber.

»Ich danke Ihnen, gnädiger Herr.«, begann sie in gewichtigem Tone. »Die Gründe, die uns bewegen haben … Hier, nimm das Geld, Polenjka. Siehst du, es gibt noch edle, großmütige Menschen, die sich sofort bereit finden, einer armen vornehmen Dame im Unglücke zu helfen. Gnädiger Herr, Sie sehen hier vaterlose Waisen vor sich, aus vornehmer Familie, man kann sogar sagen: mit hocharistokratischer Verwandtschaft … Aber dieser Schuft, der frühere Chef meines Mannes, saß da und speiste Haselhühner, … mit den Füßen hat er getrampelt, weil ich ihn störte … ›Euer Exzellenz‹, sagte ich, ›beschützen Sie uns hilflose Hinterbliebene; Sie haben ja den verstorbenen Semjon Sacharowitsch gut gekannt. Heute an seinem Begräbnistage ist seine leibliche Tochter von dem schuftigsten aller Schufte verleumdet worden …‹ Schon wieder dieser Schutzmann! Schützen Sie mich!« rief sie dem hohen Beamten zu. »Warum belästigt mich dieser Schutzmann? Wir haben uns eben erst vor einem aus der Meschtschanskaja-Straße hierhergeflüchtet … Was geht dich das an, was wir hier tun, du Dummkopf!«

»Das ist auf der Straße nicht erlaubt. Machen Sie keinen Unfug.«

»Du machst selbst Unfug! Ich tue ganz dasselbe wie die Leierkastenmänner; was geht es dich an?«

»Zum Herumziehen mit einem Leierkasten muß man eine Erlaubnis haben; Sie veranlassen aber sowieso schon durch Ihr Benehmen einen Volksauflauf. Wo wohnen Sie?«

»Was? Eine Erlaubnis?« schrie Katerina Iwanowna. »Ich habe heute meinen Mann begraben; was brauche ich da noch für eine Erlaubnis!«

»Beruhigen Sie sich, Madame, beruhigen Sie sich!« begann der hohe Beamte. »Kommen Sie, ich will Sie nach Hause begleiten … Hier vor allen Leuten, das schickt sich doch nicht … Sie sind krank …«

»Gnädiger Herr, gnädiger Herr, Sie wissen ja gar nicht, was wir vorhaben!« rief Katerina Iwanowna. »Wir wollen nach dem Newskij-Prospekt gehen … Sonja, Sonja! Aber wo ist sie denn? Sie weint auch! Was habt ihr denn nur alle? … Kolja, Lida, wo wollt ihr hin?« rief sie plötzlich erschrocken. »Ach, die dummen Kinder! Kolja, Lida! Wo laufen sie denn hin? …«

Kolja und Lida hatten sich schon vorher infolge des Menschenauflaufs auf der Straße und des sonderbaren Benehmens der irrsinnigen Mutter in größter Angst befunden, und als sie nun schließlich den Schutzmann sahen, der sie anfassen und wegführen wollte, ergriffen sie auf einmal wie auf Verabredung einander bei den Händen und rannten davon. Schreiend und weinend eilte die arme Katerina Iwanowna ihnen nach, um sie einzuholen. Es war ein trauriger, kläglicher Anblick, dieses hastig laufende, weinende und keuchende Weib. Sonja und Polenjka liefen hinter ihr her.

»Hol sie zurück, hol sie zurück, Sonja! Oh, diese dummen, undankbaren Kinder! … Polenjka! Greife sie … Und ich habe doch nur für euch …«

Sie strauchelte im eiligen Laufe und fiel hin.

»Sie hat sich blutig geschlagen! O Gott!« rief Sonja und beugte sich über sie.

Alle liefen hinzu und drängten sich um sie herum. Raskolnikow und Lebesjatnikow waren ziemlich die ersten bei ihr; auch der hohe Beamte lief hinzu und hinter ihm her der Schutzmann, der »Ach herrjeh!« brummte und mißmutig den Arm schwenkte, im Vorgefühl, daß er von dieser Geschichte noch viele Umstände haben werde.

»Macht, daß ihr wegkommt! Macht, daß ihr wegkommt!« rief er den Leuten zu, die sich herumdrängten, und jagte sie auseinander.

»Sie stirbt!« schrie jemand.

»Sie ist irrsinnig geworden!« meinte ein andrer.

»Gott helfe ihr!« sagte eine Frau und bekreuzigte sich. »Haben sie denn das kleine Mädchen und den Jungen wiedergekriegt? Aha, da bringen sie sie! Die ältere hat sie eingefangen … Nein, diese törichten kleinen Bälge!«

Aber als man Katerina Iwanowna genauer betrachtete, stellte sich heraus, daß sie sich nicht an einem Steine blutig geschlagen hatte, wie dies Sonjas Annahme gewesen war, sondern daß das Blut, von dem das Pflaster gerötet war, sich aus ihrer Brust durch die Kehle ergossen hatte.

»Ich kenne das, ich habe dergleichen schon einmal mit angesehen«, sagte der Beamte leise zu Raskolnikow und Lebesjatnikow. »So geht es bei der Schwindsucht zu: das Blut stürzt hervor und erstickt den Kranken. Einer Verwandten von mir ist es ganz kürzlich ebenso gegangen; ich war selbst dabei; etwa anderthalb Gläser voll Blut, … und plötzlich war es aus … Aber was läßt sich hier tun? Sie wird gleich sterben.«

»Lassen Sie sie dorthin bringen, dorthin, nach meiner Wohnung!« bat Sonja. »Ich wohne hier! … Da, in diesem Hause; das zweite von hier. Nach meiner Wohnung, so schnell wie möglich!« wandte sie sich rechts und links an die Umstehenden. »Holt einen Arzt … O Gott!«

Infolge der Bemühungen des Beamten wurde dies schnell ins Werk gesetzt; sogar der Schutzmann war behilflich, Katerina Iwanowna dorthin zu tragen. Man trug sie, die wie tot war, in Sonjas Zimmer und legte sie auf das Bett. Der Blutsturz dauerte noch fort, aber sie schien wieder zu sich zu kommen. In das Zimmer traten, außer Sonja, gleichzeitig noch Raskolnikow, Lebesjatnikow, der Beamte und der Schutzmann; der letztere hatte vorher noch den Menschenschwarm auseinandergejagt, von dem einige bis an die Tür mitgekommen waren. Polenjka führte Kolja und Lida herein; sie hatte an jeder Hand eines der beiden zitternden und weinenden Kinder. Auch ein großer Teil der Familie Kapernaumow fand sich ein: er selbst, ein lahmer, krummer Mann von sonderbarem Aussehen, mit borstenartigem Kopfhaar und ebensolchem Backenbarte; ferner seine Frau, deren Miene unabänderlich einen Ausdruck von Angst zeigte, und mehrere ihrer Kinder mit starren, beständig erstaunten Gesichtern und offenem Munde. Unter diesem Publikum tauchte plötzlich auch Swidrigailow auf. Raskolnikow blickte ihn erstaunt an, da er nicht begriff, woher er gekommen sein könnte, und sich nicht erinnerte, ihn unter dem Menschenschwarm gesehen zu haben.

Es wurde von einem Arzte und von einem Geistlichen gesprochen. Der Beamte sagte zwar leise zu Raskolnikow, ein Arzt sei jetzt wohl überflüssig, ordnete aber doch an, daß einer geholt werden sollte. Kapernaumow selbst lief hin.

Unterdessen war Katerina Iwanowna wieder zu sich gekommen, und der Blutsturz hatte einstweilen aufgehört. Sie sah mit schmerzlichem, starrem, durchdringendem Blicke die blasse, zitternde Sonja an, die ihr mit einem Tuche die Schweißtropfen von der Stirn abtrocknete; schließlich bat sie, man möchte sie aufrichten. Man setzte sie im Bette auf und hielt sie von beiden Seiten.

»Wo sind die Kinder?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Hast du sie hergebracht, Polenjka? Oh, ihr dummen Kinderchen! Warum seid ihr fortgelaufen? … Ach!«

Auf ihren vertrockneten Lippen klebte noch Blut. Sie ließ ihre Augen ringsherumwandern und sah sich um.

»Also hier wohnst du, Sonja! Kein einziges Mal bin ich bisher bei dir gewesen … Nun hat es sich so gefügt! …«

Sie blickte sie mit tiefem Grame an.

»Wir haben dich ausgesogen, Sonja! … Polenjka, Lida, Kolja kommt her. Da sind sie alle, Sonja, nimm sie; ich gebe sie in deine Hände, … mit mir ist es aus! … Der Ball ist beendet! …« (Ein mühsamer Atemzug.) »Legt mich hin, laßt mich wenigstens ruhig sterben …«

Man legte sie wieder auf das Kissen.

»Einen Geistlichen habt ihr geholt? … Das war unnötig … Das kostet einen Rubel, und den habt ihr doch gewiß nicht übrig … Sünden habe ich keine … Und Gott muß mir sowieso vergeben; er weiß selbst, wieviel ich gelitten habe! … Und vergibt er mir nicht, nun dann nicht! …«

Sie geriet immer mehr in ein unruhiges Phantasieren hinein. Mitunter fuhr sie zusammen, ließ ihre Augen ringsherumwandern und erkannte alle einen Moment; aber sofort wurde das Bewußtsein wieder von Fieberphantasien abgelöst. Sie atmete röchelnd und nur mühsam; es war, als ob ihr etwas in der Kehle brodelte.

»Ich sagte zu ihm: ›Euer Exzellenz! …‹« rief sie, mußte aber nach jedem Worte eine Pause machen, um Atem zu holen. »Diese Amalia Ludwigowna … Ach, Lida, Kolja! Die Hände auf die Hüften, schnell, schnell, glissez, glissez, pas de Basque! Stampf mit den Füßen auf! … Sei recht graziös!« Dann rezitierte sie aus einem deutschen Liede:

»›Du hast Diamanten und Perlen …‹

Wie geht es doch weiter? Das müßten wir singen …

›Du hast die schönsten Augen …
Mädchen, was willst du mehr? …‹

Na ja! Was willst du mehr? Das wird der Dummkopf auch gerade herausbekommen! … Ach, da ist noch ein andres Lied:

›In einem Tale Daghestans zu heißer Mittagszeit …‹

Ach, dieses Lied habe ich so geliebt; schwärmerisch geliebt habe ich es, Polenjka! Weißt du, dein Vater sang es oft, … als er noch Bräutigam war … Oh, diese schönen Tage! … Das, das sollten wir singen. Nun, wie geht es doch weiter, wie geht es doch weiter? … Ich habe es wahrhaftig vergessen … Könnt ihr mich nicht darauf bringen? Wie war es doch gleich?«

Sie war in gewaltiger Aufregung und versuchte mit aller Kraft, sich aufzurichten. Schließlich begann sie schreiend, mit entsetzlich heiserer, übermäßig angestrengter Stimme zu singen, aber nach jedem Worte fehlte ihr die Luft, und ihre Angst wuchs immer mehr:

»›In einem Tale! … Daghestans! … zu heißer Mittagszeit! … Das Todesblei! … in wunder Brust! …‹

Euer Exzellenz!« jammerte sie plötzlich in herzzerreißender Klage und brach in Tränen aus. »Beschützen Sie die vaterlosen Waisen! Gedenken Sie der Gastfreundschaft, die Sie bei dem verstorbenen Semjon Sacharowitsch genossen haben! … Man kann sogar sagen, aus einem aristokratischen Hause! …« Qualvoll Luft holend, fuhr sie zusammen, kam auf einmal zur Besinnung und sah alle wie entsetzt an, erkannte aber sogleich Sonja. »Sonja, Sonja!« sagte sie sanft und freundlich, als wundere sie sich, sie vor sich zu sehen. »Liebe Sonja, du bist auch hier?«

Man richtete sie wieder auf.

»Es geht zu Ende! … Meine Zeit ist da! … Leb wohl, du arme Unglückliche! … Nun haben sie die elende Mähre zu Tode gehetzt, … es ging über ihre Kraft!« rief sie voll Haß und Verzweiflung und sank mit dem Kopf auf das Kissen.

Sie verlor wieder die Besinnung; aber diese letzte Bewußtlosigkeit dauerte nicht lange: es trat der Tod ein. Ihr Kopf fiel hintenüber, der Mund in dem blaßgelben, ausgemergeltem Gesicht öffnete sich, die Beine streckten sich krampfhaft aus. Sie seufzte tief, tief auf und starb.

Sonja warf sich über die Leiche, schlang die Arme um sie und verharrte so halb ohnmächtig, den Kopf an die dürre Brust der Toten gelehnt. Polenjka fiel am Fußende des Bettes nieder und küßte die Füße der Mutter unter strömenden Tränen. Kolja und Lida, die noch kein Verständnis für das Geschehene hatten, aber ahnten, daß etwas sehr Schreckliches vorgefallen sein müsse, faßten einander mit beiden Händen an den Schultern, blickten sich wechselseitig starr an, öffneten auf einmal beide gleichzeitig den Mund und fingen an zu schreien. Sie hatten beide noch ihren Putz auf dem Kopfe: der Knabe den Turban, das Mädchen die Kappe mit der Straußenfeder.

Wie war nur jenes Belobigungszeugnis plötzlich auf das Bett neben die Leiche gekommen? Es lag dort neben dem Kopfkissen; Raskolnikow sah es.

Er trat ans Fenster; Lebesjatnikow gesellte sich eilig zu ihm.

»Sie ist tot!« sagte Lebesjatnikow.

In diesem Augenblicke trat auch Swidrigailow heran. »Rodion Romanowitsch«, sagte er, »ich habe dringend ein paar Worte mit Ihnen zu reden.«

Lebesjatnikow räumte ihm sofort den Platz und entfernte sich taktvoll. Swidrigailow führte den erstaunten Raskolnikow noch weiter weg nach der Ecke zu.

»All diese Äußerlichkeiten, ich meine das Begräbnis und das ganze Drum und Dran, nehme ich auf mich. Wissen Sie, es handelt sich dabei doch nur um Geld, und ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich Geld übrig habe. Die beiden kleinen Krabben und diese Polenjka will ich in möglichst guten Waisenanstalten unterbringen und für jedes Kind ein bei erreichter Volljährigkeit auszahlbares Kapital von tausendfünfhundert Rubel deponieren, so daß Sofja Semjonowna über sie ganz beruhigt sein kann. Und auch sie selbst will ich aus dem Pfuhl herausziehen; denn sie ist doch ein gutes Mädchen, nicht wahr? Na, dann teilen Sie also Ihrer Schwester mit, daß ich die ihr zugedachten zehntausend Rubel in dieser Weise verwendet habe.«

»Was für Absichten haben Sie denn bei diesen großartigen Wohltaten?«

»Ach, was sind Sie für ein mißtrauischer Mensch!« erwiderte Swidrigailow lachend. »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich diese Geldsumme übrig habe. Na, daß ich es einfach aus Menschenliebe tue, das halten Sie wohl für ausgeschlossen? Aber sie« (er wies mit dem Finger nach der Ecke, wo die Tote lag) »war doch keine Laus wie eine gewisse alte Wucherin. Wenn Sie nun zu entscheiden gehabt hätten, ob Katerina Iwanowna sterben oder Lushin durch den Tod an der Verübung seiner Schändlichkeiten gehindert werden solle, wofür hätten Sie sich entschieden? Und wenn ich hier nicht hülfe, so müßte ja Polenjka diesen selben Weg einschlagen …«

Er sagte das mit lustigem, schlauem Augenzwinkern und blickte unverwandt Raskolnikow an. Dieser wurde blaß und ein Frostgefühl ergriff ihn, als er seine eigenen Ausdrücke, die er Sonja gegenüber gebraucht hatte, wieder hörte. Er wankte zurück und blickte Swidrigailow bestürzt an.

»Wo-woher wissen Sie das?« flüsterte er; der Atem versagte ihm beinahe.

»Ich logiere ja hier, auf der andern Seite dieser Wand, bei Frau Rößlich. Hier wohnt Kapernaumow und nebenan Frau Rößlich, eine alte, treue Freundin von mir. Ich bin Sofja Semjonownas Nachbar.«

»Sie?«

»Allerdings«, fuhr Swidrigailow fort, der sich vor Lachen schüttelte, »und ich kann Ihnen auf Ehre versichern, lieber Rodion Romanowitsch, daß Sie mein lebhaftestes Interesse erweckt haben. Ich habe schon früher einmal gesagt, daß wir einander schon noch nähertreten würden; das habe ich Ihnen vorhergesagt; na, und nun hat sich das verwirklicht. Sie werden sehen, daß ich ein ganz angenehmer Mensch bin und daß es sich mit mir ganz gut auskommen läßt.«

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 32

I

Für Raskolnikow begann nun eine eigenartige Zeit: es war, als hätte sich ein Nebel rings um ihn gebildet und hielte ihn in unentrinnbarer, drückender Vereinsamung gefangen. Wenn er sich später, lange nachher, an diese Zeit erinnerte, so war er der Überzeugung, daß sein Bewußtsein damals manchmal verdunkelt gewesen sei und daß dieser Zustand – mit einigen helleren Zwischenzeiten – fast bis zu der abschließenden Katastrophe gedauert habe. Er war fest überzeugt, daß er sich damals in vieler Hinsicht geirrt habe, zum Beispiel über den Zeitpunkt und die Dauer mancher Ereignisse. Wenigstens erfuhr er in der Folgezeit, wenn er sich zu erinnern suchte und sich bemühte, in diese Erinnerungen Klarheit hineinzubringen, vieles über seine eigene Person nur aus Mitteilungen, die er von andern empfing. Er verwechselte zum Beispiel ein Ereignis mit einem andern; oder er hielt auch eines für die Folge eines Vorfalles, der überhaupt nur in seiner Phantasie existierte. Manchmal bemächtigte sich seiner eine krankhafte, quälende Unruhe, die sogar in einen panischen Schrecken überging. Er entsann sich auch, daß, ganz im Gegensatz zu der sonstigen Angst, Minuten, Stunden, vielleicht sogar ganze Tage von einer Apathie, die ihn befallen hatte, ausgefüllt gewesen waren – von einer Apathie, ähnlich dem krankhaft-teilnahmslosen Zustande mancher Sterbenden. Überhaupt war er in diesen letzten Tagen anscheinend selbst bemüht, eine vollständige, deutliche Erkenntnis seiner Lage zu vermeiden. Einige Ereignisse der allerletzten Zeit, die einer sofortigen Klarstellung bedurften, bedrückten ihn schwer; wie froh wäre er gewesen, sich von derartigen Sorgen befreien und losmachen zu können, mit denen er sich doch in seiner Lage beschäftigen mußte, wenn er sich nicht dem völligen, unvermeidlichen Untergange preisgeben wollte.

Ganz besonders beunruhigte ihn der Gedanke an Swidrigailow; man konnte fast sagen, daß er nur an Swidrigailow dachte. Seit er von ihm in Sonjas Wohnung bei Katerina Iwanownas Tode jene unzweideutigen Äußerungen gehört hatte, die eine so große Gefahr für ihn in sich bargen, schien der gewöhnliche Gang und Fluß seiner Gedanken gestört zu sein. Obgleich ihn diese neue Tatsache aufs äußerste beunruhigte, beeilte sich Raskolnikow nicht, die Sache aufzuklären. Manchmal, wenn er sich auf einmal irgendwo in einem entfernten, stillen Stadtteil in einem elenden Restaurant einsam an einem Tische in Gedanken versunken fand und sich kaum besinnen konnte, wie er dahin geraten war, mußte er plötzlich an Swidrigailow denken; zu seiner Beängstigung wurde er sich deutlich bewußt, daß er sich so bald wie möglich mit diesem Menschen aussprechen und einen endgültigen Beschluß, soweit ein solcher möglich sei, fassen müsse. Einmal, als er aus der Stadt hinausgegangen war, bildete er sich sogar ein, er erwarte dort Swidrigailow und sie hätten dort eine Zusammenkunft verabredet. Ein andermal erwachte er vor Tagesanbruch irgendwo auf der Erde im Gebüsch und hatte kaum eine Erinnerung daran, wie er dahin gekommen war. Übrigens hatte er in den ersten zwei, drei Tagen nach Katerina Iwanownas Tode Swidrigailow schon ein paarmal getroffen, fast immer in Sonjas Wohnung, wohin er selbst eigentlich ohne bestimmte Absicht und immer nur auf einen Augenblick gekommen war. Sie wechselten miteinander immer nur ein paar kurze Worte und sprachen nie über den Hauptpunkt, als bestände zwischen ihnen eine stillschweigende Verabredung, hierüber vorläufig zu schweigen. Katerina Iwanownas Leiche lag noch in der Wohnung im Sarge. Swidrigailow ordnete alles für das Begräbnis an und scheute dabei keine Mühe. Auch Sonja war sehr in Anspruch genommen. Bei dem letzten Zusammentreffen hatte Swidrigailow Raskolnikow mitgeteilt, daß er die Angelegenheit der Kinder Katerina Iwanownas erledigt habe, und zwar glücklich erledigt; er habe, dank seinen Verbindungen, Persönlichkeiten ausfindig gemacht, mit deren Hilfe es möglich gewesen sei, die Waisen alle drei sofort in sehr anständigen Anstalten unterzubringen; auch das für sie deponierte Geld habe zu diesem Resultate wesentlich beigetragen, weil Waisen, die ein Kapital besäßen, weit leichter unterkämen als mittellose. Er erwähnte auch Sonja, versprach, nächster Tage selbst zu Raskolnikow zu kommen, und bemerkte, er wünsche sich mit ihm zu beraten; eine Besprechung sei durchaus erforderlich, es wären da einzelne Punkte … Dieses Gespräch fand auf dem Flur an der Treppe statt. Swidrigailow blickte Raskolnikow forschend in die Augen und fragte plötzlich nach kurzem Schweigen leise:

»Warum sind Sie denn so verstört, Rodion Romanowitsch? Wirklich, Sie hören zwar zu und sehen einen an; aber es macht den Eindruck, als ob Sie gar nicht verstehen, was man sagt. Immer Courage! Ich möchte gern einmal ausführlicher mit Ihnen sprechen; schade nur, daß ich so viel zu tun habe, mit fremden und eigenen Angelegenheiten … Ach, Rodion Romanowitsch«, fügte er auf einmal hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft! … Das ist die Hauptsache!«

Er trat zur Seite, um den Geistlichen und den Küster, die die Treppe heraufstiegen, vorbeizulassen. Sie kamen, um das Totenamt zu halten. Auf Swidrigailows Anordnung wurde pünktlich zweimal am Tage Totenamt gehalten. Swidrigailow ging weg, seinen Geschäften nach; Raskolnikow blieb einen Augenblick stehen, überlegte und folgte dann dem Geistlichen in Sonjas Wohnung.

was ihn nicht eigentlich in Angst versetzte, aber ihn doch störte, so daß er möglichst schnell wieder in die Stadt zurückkehrte, sich unter die Menge mischte, Restaurants und Schenken besuchte und auf den Trödelmarkt und den Heumarkt ging. Hier wurde es ihm etwas leichter ums Herz, und hier kam es ihm sogar eher einsam vor. In einer Speisewirtschaft wurden gegen Abend Lieder gesungen; da saß er eine ganze Stunde dabei, hörte zu und hatte nachher die Empfindung, daß ihm das recht angenehm gewesen sei. Aber zum Schluß wurde er wieder unruhig, als ob ihn Gewissensbisse quälten: ›Ich sitze hier und höre Lieder mit an und habe doch wahrhaftig Dringenderes zu tun!‹ dachte er. Übrigens wurde er sich gleich dort darüber klar, daß dies nicht das einzige war, was ihn beunruhigte, sondern daß da noch etwas andres war, was eine unverzügliche Entscheidung verlangte, was er aber weder in Gedanken sich deutlich vorstellen noch mit Worten ausdrücken konnte. Alles schlang sich zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammen. ›Nein, lieber doch irgendein Kampf, … sei es wieder mit Porfirij oder mit Swidrigailow! … Wenn mich nur recht bald jemand herausforderte und anfiele! … Ja, ja!‹ dachte er. Er verließ die Speisewirtschaft und fing auf der Straße beinahe an zu laufen. Der Gedanke an Dunja und an die Mutter jagte ihm auf einmal einen jähen Schreck ein. Dies war die Nacht, wo er vor Tagesanbruch auf der Krestowskij-Insel im Gebüsch erwachte, an allen Gliedern vor Fieberfrost zitternd. Er ging nach Hause, wo er am frühen Morgen anlangte. Nach einigen Stunden Schlafs war das Fieber vorüber; aber er erwachte erst sehr spät: es war zwei Uhr nachmittags.

Es fiel ihm ein, daß auf diesen Tag Katerina Iwanownas Beerdigung angesetzt gewesen war, und er war froh darüber, daß er nicht dabeigewesen war. Nastasja brachte ihm etwas zu essen; er aß und trank mit großem Appetit, ordentlich gierig. Sein Kopf war frischer und er selbst ruhiger als an den drei letzten Tagen. Er wunderte sich sogar einen Augenblick über die früheren Anfälle panischer Furcht. Da öffnete sich die Tür, und Rasumichin trat ein.

»Ah! Du ißt ja, also bist du nicht krank!« sagte Rasumichin, nahm einen Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikow gegenüber.

Er war aufgeregt und gab sich keine Mühe, dies zu verbergen. Er redete mit sichtlichem Ärger, aber nicht hastig, und ohne die Stimme besonders zu erheben. Es war unschwer zu erkennen, daß ihn eine besondere Absicht, und zwar ausschließlich eine solche, zu diesem Besuche veranlaßt hatte.

»Höre mal!« begann er entschlossen. »Ich schere mich den Teufel um euch alle; aber nach allem, was ich jetzt sehe, ist mir klar, daß ich von euren Geschichten nichts verstehe. Bitte, glaube ja nicht, daß ich gekommen bin, um dich auszufragen; eure Geheimnisse sind mir ganz gleichgültig! Ich will gar nichts davon wissen! Und wenn du mir jetzt von selbst alles enthüllen wolltest, so würde ich es vielleicht gar nicht einmal anhören, sondern mich einfach umdrehen und weggehen. Ich bin nur hergekommen, um persönlich und zuverlässig festzustellen, ob es wahr ist, daß du verrückt geworden seist. Siehst du, manche Leute sind nämlich überzeugt, daß du entweder wirklich verrückt bist oder wenigstens starke Anlage dazu hast. Ich muß dir gestehen, daß ich selbst sehr geneigt war, dieser Meinung beizupflichten, erstens im Hinblick auf deine törichte und zum Teil schändliche Handlungsweise, die sich auf andre Art nicht erklären läßt, und zweitens wegen deines Benehmens neulich deiner Mutter und deiner Schwester gegenüber. Nur ein Unmensch und Schurke konnte sie so behandeln, wenn es kein Verrückter war; und folglich mußtest du verrückt sein …«

»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Ich bin soeben bei ihnen gewesen. Aber du selbst hast sie seit damals gar nicht gesehen? Sag mal, wo treibst du dich eigentlich herum? Ich bin schon dreimal bei dir Geheimnisse den Kopf zu zerbrechen. Ich bin nur hergekommen, um mich mal ordentlich satt zu schimpfen«, schloß er und stand auf, »und um mir eine Herzenserleichterung zu verschaffen; aber ich weiß schon, was ich jetzt zu tun habe!«

»Was willst du denn jetzt tun?«

»Was geht dich das an, was ich jetzt tun will?«

»Paß mal auf, du wirst dich dem Trunke ergeben!«

»Woher … woher weißt du das?«

»Das zu erraten ist gerade kein Kunststück!«

Rasumichin schwieg ein Weilchen.

»Du warst von jeher ein sehr scharfblickender Mensch und bist niemals, niemals verrückt gewesen«, bemerkte er dann plötzlich sehr eifrig. »Du hast ganz recht: ich werde mich dem Trunke ergeben! Leb wohl!«

Er machte eine Bewegung nach der Tür zu.

»Ich habe über dich, es war ja wohl vorgestern, mit meiner Schwester gesprochen, Rasumichin.«

»Über mich! Ja …, wo kannst du sie denn vorgestern zu sehen bekommen haben?« fragte Rasumichin und blieb stehen; er war sogar ein wenig blaß geworden, und man konnte merken, daß sein Herz langsamer und mit Anstrengung klopfte.

»Sie war hierhergekommen, sie allein; sie saß hier und sprach mit mir.«

»Das hat sie getan?«

»Allerdings!«

»Was hast du denn zu ihr gesagt, … ich meine, über mich?«

»Ich habe zu ihr gesagt, daß du ein sehr guter, ehrenhafter, arbeitsamer Mensch seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, weil sie das selbst weiß.«

»Das weiß sie selbst?«

»Natürlich! Wo auch immer ich sein mag, was auch immer mir zustoßen mag, bleibe du bei meiner Mutter und bei meiner Schwester als ihr Beschützer. Ich lege sie sozusagen beide in deine Hände. Ich sage das, weil ich genau weiß, wie sehr du meine Schwester liebst, und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt bin. Ich weiß ferner, daß auch sie dich liebgewinnen kann und sogar vielleicht schon liebt. Nun wähle selbst, was du für das beste hältst, ob du dich dem Trunke ergeben willst oder nicht.«

»Rodja … Ja, siehst du … Nun … Ach, zum Teufel! Aber wohin willst du denn eigentlich gehen? Siehst du: wenn das ein Geheimnis ist, dann sag mir nichts davon! Aber ich … ich werde das Geheimnis schon noch erfahren … Ich bin überzeugt, daß es sich dabei sicher nur um irgendeinen Unsinn, um reine Lappalien handelt und daß du allein die ganze Geschichte eingerührt hast. Im übrigen aber bist du ein vortrefflicher Mensch! Ein ganz vortrefflicher Mensch!«

»Ich wollte eigentlich noch hinzufügen, aber du unterbrachst mich, daß das vorhin eine sehr vernünftige Äußerung von dir war: du hättest gar nicht die Absicht, in diese Geheimnisse einzudringen. Laß das alles vorläufig auf sich beruhen und beunruhige dich nicht darüber. Du wirst alles zu gegebener Zeit erfahren, nämlich so bald, wie es nötig ist. Gestern hat jemand zu mir gesagt, der Mensch brauche Luft, Luft, Luft! Ich will gleich zu ihm gehen und ihn fragen, was er darunter versteht.«

Rasumichin stand aufgeregt und mit seinen Gedanken beschäftigt da; er suchte sich etwas zurechtzulegen.

›Er ist ein politischer Verschwörer! Ganz bestimmt! Und er steht unmittelbar vor einem entscheidenden Schritte, das ist sicher! Es kann nicht anders sein, und … und Dunja weiß davon …‹, dache er bei sich.

»Also zu dir kommt Awdotja Romanowna«, sagte er langsam und nachdrücklich, »und du selbst beabsichtigst, mit jemand zusammenzukommen, der da meint, man brauche mehr Luft, mehr Luft, und … und folglich steht auch dieser Brief damit in irgendwelcher Beziehung«, schloß er, als spräche er mit sich selbst.

»Was für ein Brief?«

»Sie hat heute durch einen Boten einen Brief erhalten, der sie sehr aufgeregt hat. Sehr, gar zu sehr. Ich fing an, von dir zu sprechen; aber sie bat mich zu schweigen. Darauf … darauf sagte sie, wir würden uns vielleicht sehr bald trennen müssen; darauf begann sie, ich weiß nicht wofür, mir in warmen Worten zu danken; dann ging sie in ihr Zimmer und schloß sich ein.«

»Sie hat einen Brief erhalten?« fragte Raskolnikow nachdenklich.

»Jawohl; hast du nichts davon gewußt? Hm! …«

Sie schwiegen beide einen Augenblick.

»Leb wohl, Rodja! Weißt du, Bruder, ich … Eine Zeitlang habe ich … Nun aber, leb wohl; sieh mal, eine Zeitlang … Nun, adieu! Ich muß gehen. Dem Trunke werde ich mich nicht ergeben. Jetzt ist das nicht nötig … Wenn du das denkst, irrst du dich!«

Eilig ging er hinaus; aber als er schon draußen war und beinahe schon die Tür hinter sich zugemacht hatte, öffnete er sie plötzlich noch einmal und sagte, indem er dabei zur Seite blickte:

»Da fällt mir noch ein: du erinnerst dich gewiß an diesen Mord, an das Gespräch mit Porfirij, an die alte Frau? Na also, da wollte ich dir nur sagen, daß der Mörder gefunden ist; er hat die Tat selbst eingestanden und der Behörde alle Beweise gegen sich in die Hand gegeben. Denke dir nur, es ist einer von jenen Malergesellen, du besinnst dich, ich habe sie hier bei dir noch so warm verteidigt. Kannst du es wohl glauben, daß er diese ganze Szene, die Prügelei mit seinem Kameraden und das Gelächter auf der Treppe, als der Hausknecht und die zwei Zeugen hinaufstiegen, absichtlich veranstaltet hat, um den Verdacht von sich abzulenken? Welche Schlauheit, welche Geistesgegenwart bei so einem jungen Bürschchen! Es fällt einem schwer, daran zu glauben; aber er hat selbst alles so dargelegt und selbst alles gestanden! Und wie habe ich mich blamiert! Nun, meiner Ansicht nach ist er eben einfach ein Genie in der Verstellungskunst und Findigkeit, ein Genie in der Kunst, die Behörden hinters Licht zu führen, und somit ist kein Grund vorhanden, besonders erstaunt zu sein! Warum sollen nicht auch solche Genies vorkommen können? Und wenn er nicht imstande gewesen ist, seine Rolle bis zu Ende durchzuhalten, sondern ein Geständnis abgelegt hat, so wird mir seine Aussage dadurch nur noch glaubhafter. Sie erweckt so noch mehr Zutrauen! … Aber wie habe ich mich damals blamiert! Und ich hatte mich so gewaltig für diese Menschen ins Zeug gelegt!«

»Sag doch mal, woher hast du denn das erfahren, und warum interessiert es dich so?« fragte Raskolnikow in sichtlicher Aufregung.

»Na, so was! Warum mich das interessiert, fragt der Mensch! … Erfahren habe ich es von Porfirij, auch von andern. Übrigens fast alles von ihm …«

»Von Porfirij?«

»Gewiß.«

»Was … was hat er denn darüber gesagt?« fragte Raskolnikow ängstlich.

»Er hat mir den Hergang ganz vortrefflich erklärt, … psychologisch, so auf seine Art.«

»Er hat es dir erklärt? Er selbst?«

»Jawohl, er selbst; aber nun adieu! Ein andermal will ich dir mehr davon erzählen; aber jetzt habe ich zu tun. Ja, … eine Zeitlang habe ich gedacht … Na, lassen wir es jetzt; ein andermal! … Warum sollte ich mich jetzt betrinken? Du hast mich auch ohne Schnaps betrunken gemacht. Ganz betrunken bin ich, Rodja! Ohne Schnaps bin ich jetzt betrunken; na, nun adieu; ich komme schon mal wieder her; sehr bald!«

Er ging hinaus.

›Er ist ein politischer Verschwörer, ganz sicher!‹ dachte Rasumichin mit größter Bestimmtheit, während er langsam die Treppe hinabstieg. ›Auch seine Schwester hat er mit hineingezogen; bei Awdotja Romanownas Charakter ist das verständlich, sehr verständlich. Sie haben Zusammenkünfte! … Auch sie selbst hat mir ja Andeutungen darüber gemacht … Aus vielen ihrer Äußerungen, … aus manchem kurz hingeworfenen Worte, … aus ihren Andeutungen läßt sich alles mit Sicherheit entnehmen! Und wie wäre denn auch dieser ganze Wirrwarr anders zu erklären? Hm! Und ich dachte schon … O Gott, wie habe ich nur so etwas denken können! Ja, das war eine Verirrung von mir, und ich habe ihm schweres Unrecht getan! Damals bei der Lampe auf dem Korridor hat er mich zu dieser Verirrung gebracht! Pfui, was war das für ein abscheulicher, roher, gemeiner Gedanke von mir! Sehr brav von diesem Nikolai, daß er es eingestanden hat … Und wie einfach sich jetzt alles Vorhergegangene erklärt! Seine Krankheit von damals, sein ganzes sonderbares Benehmen; und auch früher, als er noch auf der Universität war, wie finster und mürrisch war er da immer! … Aber was hat es jetzt mit diesem Briefe für eine Bewandtnis? Da steckt vielleicht auch so etwas dahinter. Von wem ist dieser Brief? Ich vermute … Hm! Nein, das will ich schon alles herausbekommen.‹

Er dachte an Dunja und kombinierte allerlei über sie; es wurde ihm ganz bang ums Herz. Aber er riß sich von der Stelle, wo er in Gedanken stehengeblieben war, los und stürmte davon.

Sobald Rasumichin fortgegangen war, stand Raskolnikow auf, wandte sich zum Fenster, rannte dann bald gegen die eine, bald gegen die andre Wand an, als hätte er die Enge seines Kämmerchens vergessen, … und setzte sich wieder auf das Sofa. Es war, als sei er ein ganz neuer Mensch geworden; er hatte wieder einen Kampf vor sich, und darin lag die Möglichkeit der Rettung, ein Ausweg!

Ja, da zeigte sich ein Ausweg! Die Ereignisse der letzten Zeit hatten aber auch gar zu schwer auf ihm gelastet, einen qualvollen Druck auf ihn ausgeübt und ihn zu ersticken gedroht; eine Art von Betäubung hatte ihn befallen. Seit der Szene mit Nikolai in Porfirijs Bureau war es ihm gewesen, als ob er nicht mehr Atem holen könne vor Beklemmung. Nach dieser Szene mit Nikolai hatte an demselben Tage die Unterredung mit Sonja stattgefunden; seine Aufgabe hatte er dabei ganz und gar nicht in der Weise durchgeführt und zu Ende gebracht, wie er sich das vorher vorgenommen hatte, … er war dabei eben schwach geworden, plötzlich und vollständig! Mit einem Male! Und er hatte damals Sonja zugestimmt, von ganzem Herzen zugestimmt, daß er mit einer solchen Last auf der Seele so ganz allein nicht weiterleben könne! Und Swidrigailow? Swidrigailow war ein Rätsel … Swidrigailow beunruhigte ihn allerdings, aber doch nach einer andern Richtung hin. Auch mit Swidrigailow stand ihm vielleicht ein Kampf bevor. Mit Swidrigailow konnte er vielleicht zurechtkommen, aber Porfirij, das war eine andre Sache.

Also Porfirij hatte diesem Rasumichin selbst den Hergang erklärt, psychologisch erklärt! Er hatte wieder seine verfluchte Psychologie ins Treffen geführt! Porfirij hatte das getan? Sollte denn Porfirij auch nur einen Augenblick lang an Nikolais Schuld geglaubt haben, nach dem Gespräche, das sie miteinander geführt hatten, nach jener Szene, die sich vor Nikolais Eintritt zwischen ihnen beiden abgespielt hatte und für die es keine andre ausreichende Erklärung gab außer einer einzigen? (Raskolnikow hatte sich in diesen Tagen mitunter einzelne Bruchstücke der Szene mit Porfirij flüchtig durch den Kopf gehen lassen; die vollständige Erinnerung an den gesamten Vorgang hätte er nicht ertragen können.) Es waren bei diesem Gespräche von ihnen beiden solche Ausdrücke gebraucht worden, es waren solche Bewegungen und Gesten vorgekommen, sie hatten solche Blicke miteinander gewechselt, manches in einem solchen Tone gesprochen, die Sache hatte sich derartig zugespitzt, daß nach alledem dieser Nikolai, welchen Porfirij gleich beim ersten Worte und bei der ersten theatralischen Bewegung richtig beurteilt hatte, das eigentliche Fundament seiner Überzeugung nicht hatte erschüttern können.

Beachtenswert war doch auch, daß sogar Rasumichin bereits Verdacht geschöpft hatte! Die Szene auf dem Korridor bei der Lampe mußte doch stark auf ihn gewirkt haben. Er war inzwischen zu Porfirij hingelaufen … Aber zu welchem Zwecke hatte ihn dieser hinters Licht geführt? In welcher Absicht hatte er Rasumichin dazu veranlaßt, Nikolai für den Täter zu halten? Ganz sicher hatte er dabei etwas vor; er verfolgte einen bestimmten Plan; aber welchen? Seit jenem Vormittag war allerdings schon geraume Zeit vergangen, sehr viel Zeit, und von Porfirij war nichts zu hören und zu sehen gewesen. Das war natürlich ein besonders schlimmes Zeichen … Raskolnikow griff nach seiner Mütze und ging, mit seinen Gedanken beschäftigt, zur Tür. Es war während dieser ganzen Zeit der erste Tag, wo er sich wenigstens bei klarem Bewußtsein fühlte. ›Ich muß die Angelegenheit mit Swidrigailow ins reine bringen‹, dachte er, ›und zwar so schnell wie möglich, um jeden Preis; auch der scheint darauf zu warten, daß ich selbst zu ihm komme.‹ In diesem Augenblick flammte in seinem müden Herzen plötzlich ein solcher Haß auf, daß er wohl fähig gewesen wäre, einen von diesen beiden, Swidrigailow oder Porfirij, ohne weiteres zu ermorden. Er hatte wenigstens die Empfindung, daß er, wenn nicht jetzt, so doch später imstande sein werde, dies zu tun. »Wir wollen sehen, wir wollen sehen!« sagte er vor sich hin.

Aber in dem Moment, als er die Tür nach dem Flur öffnete, stieß er mit Porfirij selbst zusammen. Dieser trat zu ihm ins Zimmer. Raskolnikow war einen Augenblick ganz starr, aber eben auch nur einen Augenblick. Merkwürdig: er war über Porfirijs Erscheinen nicht sonderlich erstaunt und fast gar nicht erschrocken. Er war nur zusammengezuckt, hatte sich aber schnell, augenblicklich wieder gefaßt. ›Vielleicht kommt nun die Lösung! Aber wie hat er es nur angestellt, daß er so leise hergekommen ist wie eine Katze und ich gar nichts davon gehört habe? Ob er am Ende gar an der Tür gehorcht hat?‹

»Sie haben meinen Besuch gewiß nicht erwartet, Rodion Romanowitsch!« rief Porfirij Petrowitsch lachend. »Ich hatte schon lange vor, einmal bei Ihnen vorzusprechen; nun kam ich jetzt gerade vorbei und dachte: warum soll ich nicht auf ein paar Minuten hinaufgehen und sehen, was er macht? Wollten Sie ausgehen? Ich will Sie nicht lange aufhalten. Nur auf eine Zigarette, wenn Sie gestatten.«

»Bitte, nehmen Sie Platz, Porfirij Petrowitsch, bitte, nehmen Sie Platz!« lud ihn Raskolnikow ein, und sein Gesicht zeigte dabei einen so erfreuten, freundschaftlichen Ausdruck, daß er sich selbst gewundert haben würde, wenn er sich hätte sehen können.

Er hatte den letzten Rest seiner seelischen Kraft zusammengesucht. So steht ein Mensch manchmal eine halbe Stunde lang Todesangst vor einem Räuber aus; wenn ihm aber dann wirklich das Messer an die Kehle gesetzt wird, ist die Angst verschwunden. Er setzte sich seinem Besucher gerade gegenüber und blickte ihn an, ohne mit den Wimpern zu zucken. Porfirij kniff die Augen zusammen und steckte sich eine Zigarette an.

›Nun sprich, sprich!‹ rief es in Raskolnikows Innerem. ›Vorwärts, vorwärts! Warum sprichst du nicht?‹

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 33

II

»Ja, ja, diese Zigaretten!« begann Porfirij Petrowitsch endlich, als die Zigarette brannte und er wieder Atem geschöpft hatte. »Es ist für mich verderblich, geradezu verderblich, aber ich kann’s nicht lassen! Ich muß danach husten und bekomme Kratzen im Halse und Atembeschwerden. Wissen Sie, ich bin ängstlich, ich ging neulich zu Doktor B…n; der untersucht jeden Patienten mindestens eine halbe Stunde lang. Als er mich ansah, lachte er; dann beklopfte und behorchte er mich und sagte unter anderm: ›Das Tabakrauchen ist Ihnen nicht zuträglich; Ihre Lungen sind erweitert.‹ Aber wie soll ich das Rauchen unterlassen? Wie soll ich einen Ersatz dafür finden? Ich trinke nicht, das ist das ganze Malheur, he-he-he; ja, es ist ein Malheur, daß ich nicht trinke! So hat alles sein Gutes und sein Schlimmes, Rodion Romanowitsch, sein Gutes und sein Schlimmes!«

›Warum greift er denn wieder zu einem ähnlichen Gesprächsstoff wie neulich?‹ dachte Raskolnikow mit Widerwillen. Der ganze Hergang bei ihrem letzten Zusammensein kam ihm auf einmal ins Gedächtnis, und dasselbe Gefühl, das er damals gehabt hatte, flutete wie eine Welle durch sein Herz.

»Ich bin schon vorgestern abend einmal hier bei Ihnen gewesen; Sie wissen wohl nichts davon?« fuhr Porfirij Petrowitsch fort und blickte sich im Zimmer um. »In diesem Zimmer hier war ich. Ich kam, ebenso wie heute, am Hause vorbei und dachte: will ihm doch einen Gegenbesuch machen. Ich ging hinauf, das Zimmer stand weit offen; ich sah mich um, wartete ein Weilchen und ging wieder weg; ich habe mich nicht einmal bei Ihrem Dienstmädchen gemeldet. Sie schließen Ihr Zimmer nicht zu?«

Raskolnikows Gesicht wurde immer finsterer. Porfirij schien seine Gedanken zu erraten.

»Ich bin gekommen, um mich mit Ihnen auszusprechen, bester Rodion Romanowitsch, um mich mit Ihnen auszusprechen! Das empfinde ich als meine Pflicht und Schuldigkeit Ihnen gegenüber«, fuhr er lächelnd fort und klopfte sogar Raskolnikow mit der Hand leicht auf das Knie.

Aber fast in demselben Augenblicke nahm sein Gesicht plötzlich eine ernste, sorgenvolle Miene an; ja, zu Raskolnikows Verwunderung breitete sich sogar ein Ausdruck von Traurigkeit darüber aus. Er hatte ein solches Gesicht noch nie bei ihm gesehen und ihn dessen auch gar nicht für fähig gehalten.

»Es hat sich das letzte Mal eine eigentümliche Szene zwischen uns beiden abgespielt, Rodion Romanowitsch. Eigentlich auch wohl schon bei unserer ersten Begegnung: aber damals … Na, wir wollen es jetzt zusammenfassen! Nun also: ich habe mich Ihnen gegenüber vielleicht sehr ungehörig benommen; das fühle ich. Erinnern Sie sich wohl noch: als wir uns trennten, da waren Ihre Nerven heftig erregt, und Ihre Knie zitterten, und meine Nerven waren auch heftig erregt, und meine Knie zitterten. Und wissen Sie, wir benahmen uns damals gegeneinander eigentlich nicht mehr in geziemender Form, nicht gentlemanlike. Wir sind ja aber doch gentlemen, das heißt, unter allen Umständen und in erster Linie gentlemen; das müssen wir immer festhalten; Sie erinnern sich wohl, wie weit es damals zwischen uns kam, … es war schon geradezu unziemlich.«

›Was will er denn eigentlich, und wofür hält er mich?‹ fragte sich Raskolnikow erstaunt; er hob den Kopf und blickte seinem Besucher voll ins Gesicht.

»Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es für uns jetzt das beste ist, wenn wir ganz offenherzig miteinander verhandeln«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort; er drehte dabei den Kopf ein wenig zur Seite und schlug die Augen nieder, als wünsche er nicht mehr, sein ehemaliges Opfer durch seinen Blick in Verwirrung zu versetzen, und als verschmähe er seine früheren Kunstgriffe und Listen. »Ja, solche Verdächtigungen und solche Szenen darf man nicht zu lange dauern lassen. Damals hat uns Nikolai noch auseinandergebracht; sonst weiß ich nicht, wie weit die Sache zwischen uns noch gegangen wäre. Dieser verdammte Kleinbürger saß damals bei mir während unseres ganzen Gesprächs hinter der Zwischenwand – können Sie sich das vorstellen? Das ist Ihnen gewiß bereits bekannt; auch weiß ich selbst, daß er nachher bei Ihnen gewesen ist. Aber was Sie damals vermuteten, traf nicht zu: ich hatte nach niemandem geschickt und damals noch keinerlei Anordnungen getroffen. Sie werden mich fragen, warum ich das unterlassen hatte. Ja, was soll ich Ihnen darauf antworten? Mir selbst war die ganze Geschichte damals gar zu plötzlich gekommen. Ich hatte eben erst hingeschickt und die Hausknechte holen lassen. Sie haben die Hausknechte gewiß im Vorbeigehen bemerkt. Damals fuhr mir blitzschnell ein Gedanke durch den Kopf; sehen Sie wohl, Rodion Romanowitsch, ich war damals ganz fest überzeugt. Na, dachte ich, wenn ich auch andre Maßnahmen vorläufig unterlasse, so will ich doch ein Mittel zur Anwendung bringen; dann habe ich wenigstens das Meinige getan. Sie sind außerordentlich reizbar, Rodion Romanowitsch, offenbar von Natur, sogar übermäßig reizbar, neben allen andern Grundzügen Ihres Charakters und Herzens, die ich mir, wenigstens teilweise, richtig erkannt zu haben schmeichle. Na, natürlich sagte ich mir, sogar in jenem Augenblicke: immer glückt das nicht, daß ein Mensch so einfach aufsteht und einem sein ganzes Geheimnis ausplaudert. Vorkommen tut das ja freilich, namentlich, wenn man einen völlig aus der Fassung bringt; aber es ist doch immerhin ein seltner Fall. Das konnte ich mir selbst sagen. Aber ich dachte: wenn ich nur eine kleine Handhabe dabei gewinne! Und wenn es auch nur eine ganz kleinwinzige ist, nur eine einzige, aber so eine, daß man wirklich zufassen kann, etwas Konkretes, und nicht diese bloßen psychologischen Gründe. Denn, dachte ich, wenn jemand schuldig ist, so kann man doch gewiß erwarten, jedenfalls etwas Tatsächliches von ihm herauszubekommen; man darf sogar auf ein ganz unerwartetes Resultat spekulieren. Ich gründete damals meine Spekulation auf Ihren Charakter, Rodion Romanowitsch, ganz besonders auf Ihren Charakter! Darauf setzte ich damals meine größte Hoffnung.«

»Ja, wozu … wozu sagen Sie mir denn das alles jetzt?« murmelte Raskolnikow endlich, ohne sich von seiner eigenen Frage ordentlich Rechenschaft zu geben.

›Was will er nur mit diesen Reden?‹ fragte er sich ratlos. ›Hält er mich wirklich für unschuldig?‹

»Wozu ich Ihnen das sage? Ich bin ja hergekommen, um mich mit Ihnen auszusprechen; das halte ich sozusagen für meine heilige Pflicht. Ich will Ihnen alles ganz genau erzählen, wie alles gewesen ist, den ganzen Hergang meiner damaligen Verblendung, um mich so auszudrücken. Ich habe Sie schwer leiden lassen, Rodion Romanowitsch; aber ich bin kein Unmensch. Ich begreife völlig, wie entsetzlich es einem vom Schicksal niedergedrückten, aber stolzen, selbstbewußten, ungeduldigen Menschen, ja, ganz besonders einem ungeduldigen Menschen, sein muß, das alles über sich ergehen zu lassen! Ich halte Sie jedenfalls für einen durchaus vornehm denkenden Menschen, sogar mit Anlage zur Hochherzigkeit, obgleich ich nicht mit allen Ihren Anschauungen übereinstimme, was ich mich für verpflichtet halte, Ihnen von vornherein geradezu und mit vollständiger Aufrichtigkeit zu erklären; denn es liegt mir völlig fern, Sie täuschen zu wollen. Sobald ich Sie kennengelernt hatte, fühlte ich mich zu Ihnen hingezogen. Sie lachen vielleicht über das, was ich da sage? Dazu sind Sie berechtigt. Ich weiß, daß ich Ihnen gleich vom ersten Blicke an zuwider war; denn ich bin ja auch wirklich nicht dazu angetan, daß mich jemand gern haben sollte. Aber urteilen Sie über mich, wie Sie wollen; jetzt jedenfalls wünsche ich meinerseits, mit allen Mitteln den übeln Eindruck, den ich hervorgebracht habe, wiedergutzumachen und zu beweisen, daß auch ich ein Mensch bin, der ein Herz und ein Gewissen hat. Ich rede ganz aufrichtig.«

Porfirij Petrowitsch machte würdevoll eine Pause. Raskolnikow fühlte, wie eine neue Schreckempfindung ihn überkam. Der Gedanke, daß Porfirij ihn für unschuldig halte, hatte auf einmal für ihn etwas Beängstigendes.

»Alles der Reihe nach zu erzählen, wie die Geschichte damals plötzlich anfing«, fuhr Porfirij Petrowitsch fort, »ist wohl kaum nötig, ich meine sogar, völlig überflüssig. Ich Frage an ihn zu richten wagten! … Nun, und dieses Frostgefühl im Rückenmark? Und das Ziehen an der Türklingel im Zustande der Krankheit, des halben Fieberwahns? Also wie können Sie sich nach alledem darüber wundern, Rodion Romanowitsch, daß ich mit Ihnen damals solche Späßchen machte? Und warum mußten Sie auch gerade in jenem Augenblicke zu mir kommen? Wahrhaftig, ganz als ob Sie jemand zu mir hingetrieben hätte; und wenn uns nicht Nikolai noch auseinandergebracht hätte, so … Erinnern Sie sich noch an die Geschichte mit Nikolai damals? Haben Sie das noch gut im Gedächtnis? Das war ja ein Blitzstrahl, ein Donnerschlag, der auf uns niederprasselte! Na, und wie stellte ich mich dazu? Ich habe diesem Blitz und Donner nicht im geringsten Glauben geschenkt; das haben Sie ja selbst gesehen! Ja, noch mehr! Nachher, als Sie weggegangen waren und er mir über manche Punkte auf meine Fragen durchaus passende Auskunft gab, so daß ich selbst erstaunt war, auch da habe ich ihm absolut nichts geglaubt! Sehen Sie, so fest war meine Überzeugung, wie Stahl und Eisen. ›Nein‹, dachte ich, ›daraus wird nichts! Dagegen kann dieser Nikolai nichts ausrichten!‹«

»Aber Rasumichin hat mir doch eben erst mitgeteilt, Sie hielten auch jetzt noch Nikolai für schuldig, und Sie selbst hätten auch ihn, Rasumichin, davon überzeugt, daß …«

Der Atem versagte ihm, so daß er den Satz nicht zu Ende sprechen konnte. Er hörte in unbeschreiblicher Erregung zu, wie ein Mensch, der ihn völlig durchschaut hatte, seine eigene Erkenntnis verleugnete. Er fürchtete sich, dies zu glauben, und glaubte es nicht. In den immer noch zweideutigen Worten Porfirijs suchte und haschte er mit ängstlichem Eifer nach etwas Deutlicherem. Bestimmterem.

»Herr Rasumichin!« rief Porfirij Petrowitsch in einem Tone, als wäre er höchst erfreut über Raskolnikows Frage, nachdem dieser die ganze Zeit geschwiegen hatte. »He-he-he! Ja, Herrn Rasumichin mußte ich von uns fernhalten, nach dem Sprichwort: was zu zweien Vergnügen macht, da genug an der Qual, die er ausgestanden hatte, als er hinter der Tür versteckt stand und an der Tür gerüttelt und an der Klingel gerissen wurde – nein, er geht nachher im halben Fieberwahn in die nun leere Wohnung, um sich dieses Läuten der Klingel ins Gedächtnis zurückzurufen; er hat ein Verlangen danach, das Kältegefühl im Rücken noch einmal zu verspüren … Nun ja, er hat das allerdings in einem krankhaften Zustande getan; aber noch eines ist besonders merkwürdig: er hat einen Mord begangen, hält sich aber trotzdem für einen ehrenhaften Menschen, verachtet andre Leute, wandelt wie ein Engel der Unschuld einher … nein, Nikolai kann als Täter gar nicht in Betracht kommen, liebster Rodion Romanowitsch, Nikolai unter keinen Umständen!«

Nach allem, was Porfirij im ersten Teile des Gesprächs gesagt hatte und was wie eine Abbitte des Verdachtes geklungen hatte, kamen diese letzten Worte Raskolnikow gar zu überraschend. Er zitterte am ganzen Körper, als ob er einen Dolchstich erhalten hätte.

»Wer … hat denn also … den Mord begangen?« fragte er mit fast versagender Stimme. Aber es war ihm unmöglich, die Frage zurückzuhalten.

Porfirij Petrowitsch warf sich an die Stuhllehne zurück, als ob diese Frage ihm ganz unerwartet gekommen wäre und ihn in das äußerste Erstaunen versetzt hätte.

»Und Sie fragen noch, wer den Mord begangen hat?« erwiderte er, als traue er seinen Ohren nicht. »Sie selbst haben den Mord begangen, Rodion Romanowitsch!« fügte er fast flüsternd, aber im Tone festester Überzeugung hinzu.

Raskolnikow sprang vom Sofa auf, blieb einige Sekunden stehen und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder hin. Leise krampfhafte Zuckungen liefen über sein ganzes Gesicht.

»Die Lippe bebt Ihnen wieder wie damals«, murmelte Porfirij Petrowitsch, und es klang sogar teilnahmsvoll. »Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden, Rodion Romanowitsch«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, »daher sind Sie auch so betroffen. Ich bin ja gerade in der Absicht hergekommen, alles frei heraus zu sagen und das Spiel mit aufgedeckten Karten fortzusetzen.«

»Ich habe den Mord nicht begangen«, flüsterte Raskolnikow, ganz wie es erschrockene kleine Kinder zu machen pflegen, wenn sie auf frischer Tat ertappt werden.

»Doch, doch, Sie sind es gewesen, Rodion Romanowitsch, Sie und kein andrer«, flüsterte Porfirij streng und überzeugt. Dann schwiegen beide, und dieses Schweigen dauerte sonderbar lange, wohl zehn Minuten. Raskolnikow hatte sich mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt und wühlte schweigend mit den Fingern in seinen Haaren. Porfirij saß still da und wartete. Plötzlich blickte Raskolnikow ihn verächtlich an.

»Sie verfahren wieder nach Ihrer alten Methode, Porfirij Petrowitsch! Immer dieselben Kniffe! Wunderlich, daß Sie dessen nicht selbst überdrüssig werden!«

»Ach, reden Sie doch nicht! Was könnten mir denn jetzt meine Kniffe helfen? Ein ander Ding wäre es, wenn Zeugen bei unserem Gespräche zugegen wären; aber wir reden ja doch unter vier Augen. Sie sehen selbst: ich bin nicht in der Absicht zu Ihnen hergekommen, Sie zu hetzen und zu fangen wie einen Hasen. Ob Sie bekennen oder nicht, ist mir in diesem Augenblicke ganz gleich. Ich für meine Person bin auch ohne Ihr Geständnis überzeugt.«

»Wenn dem so ist, warum sind Sie dann hergekommen?« fragte Raskolnikow gereizt. »Ich richte an Sie dieselbe Frage wie schon früher: Wenn Sie mich für schuldig halten, warum setzen Sie mich nicht ins Gefängnis?«

»Na, das ist eine Frage, die sich hören läßt! Und so will ich sie Ihnen beantworten, indem ich Punkt für Punkt meine Gründe angebe. Erstens: Sie so geradezu ins Gefängnis zu setzen, ist für mich nicht vorteilhaft.«

»Was meinen Sie damit: nicht vorteilhaft? Wenn Sie von meiner Schuld überzeugt sind, dann sind Sie doch verpflichtet …«

»Ach, was hat denn meine Überzeugung zu besagen? Das sind ja doch vorläufig alles nur so Phantasien von mir. Ja, und warum soll ich Sie denn an einen Ort bringen, wo Sie Ruhe haben würden? Wie vorteilhaft das für Sie wäre, wissen Sie offenbar selbst, da Sie ja selbst darum ersuchen. Ich bringe zum Beispiel, um Sie zu überführen, den Kleinbürger hin; aber Sie werden zu ihm sagen: ›Bist du ein Trinker oder nicht? Wer hat mich mit dir zusammen gesehen? Ich hielt dich einfach für betrunken, und du warst auch wirklich betrunken‹ – nun, was könnte ich daraufhin zu Ihnen sagen, namentlich auch, da Ihre Behauptung wahrscheinlicher klingt als die seinige; denn die seinige beruht nur auf einer psychologischen Kombination (und wie paßt so etwas zu seiner dummen Visage), Sie aber treffen ins Schwarze, da der Halunke notorisch ein wüster Säufer ist. Und ich selbst habe Ihnen schon mehrmals offenherzig gestanden, daß diese psychologischen Erwägungen ihre zwei Seiten haben und daß die zweite Seite prävaliert und weit glaublicher erscheint und daß ich im übrigen gegen Sie vorläufig noch gar keine Beweise vorbringen kann. Ich werde Sie nun zwar trotzdem ins Gefängnis setzen, und ich bin (was allerdings ein ungewöhnliches Verfahren ist) sogar selbst zu dem Zwecke hergekommen, Ihnen das alles im voraus anzukündigen; aber ich sage Ihnen geradezu (was wiederum ungewöhnlich ist), daß das für mich nicht vorteilhaft sein wird. Nun weiter, zweitens bin ich zu Ihnen gekommen, weil …«

»Nun also, zweitens?« Raskolnikow atmete noch immer nur mühsam und keuchend.

»Weil, wie ich Ihnen schon vorhin erklärte, ich mich für verpflichtet halte, mich Ihnen gegenüber offen auszusprechen. Ich möchte nicht, daß Sie mich für einen Unmenschen halten, und ich möchte das um so weniger, da ich Ihnen aufrichtig zugetan bin, mögen Sie es mir nun glauben oder nicht. Infolgedessen bin ich drittens zu Ihnen gekommen mit einem offenen, ehrlichen Vorschlage: sich selbst anzuzeigen. Das wird für Sie bei weitem das vorteilhafteste sein, und es ist auch zugleich das vorteilhafteste für mich; denn dann bin ich diese Geschichte los. Nun, was meinen Sie, ist das von mir nicht offenherzig?«

Raskolnikow überlegte eine kurze Weile.

»Hören Sie, Porfirij Petrowitsch, Sie sagten doch selbst, es sei alles nur Psychologie, und nun tun Sie, als wüßten Sie alles mit mathematischer Sicherheit. Wie aber, wenn Sie sich jetzt doch irren?«

»Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe so eine kleine Handhabe. Diese kleine Handhabe habe ich damals gefunden; die hat mir Gott gesandt!«

»Was für eine Handhabe?«

»Das sage ich nicht, Rodion Romanowitsch. Aber jedenfalls bin ich jetzt nicht mehr berechtigt, Ihre Verhaftung länger hinauszuschieben; ich werde Sie ins Gefängnis setzen. Also überlegen Sie sich das, ob Sie ein Geständnis ablegen wollen. Mir ist es jetzt, für den Augenblick, ganz gleich; Sie sehen somit, daß ich es einzig und allein um Ihretwillen wünsche. Weiß Gott, es ist das beste, Rodion Romanowitsch!«

Raskolnikow lächelte höhnisch.

»Ihre Zumutung ist nicht nur lächerlich, sondern geradezu unverschämt. Nun, gesetzt, ich wäre schuldig (was ich in keiner Weise zugebe), was hätte ich denn dann für Veranlassung, mit einem Geständnisse zu Ihnen zu kommen, da Sie doch selbst erklären, Sie würden mich ohnehin bald an einen Ort bringen, wo ich Ruhe haben würde?«

»Ach, Rodion Romanowitsch, verlassen Sie sich auf das, was ich darüber gesagt habe, nicht allzusehr; einer vollständigen Ruhe werden Sie sich da wohl nicht erfreuen! Das ist ja alles nur Theorie, und noch dazu bloß meine Theorie, und ich kann doch für einen Mann wie Sie keine Autorität sein! Vielleicht verheimliche ich Ihnen auch selbst jetzt noch dies und das. Ich kann Ihnen doch auch nicht gleich alles so ohne weiteres aufdecken, he-he! Und zweitens: wie können Sie erst noch fragen, was Sie von einem Geständnis für Vorteil haben würden? Sie wissen ja doch, welche Strafermäßigung Ihnen dafür zuteil werden wird? Denn wann, zu welchem Zeitpunkte kommen Sie mit Ihrer Selbstanzeige? Überlegen Sie sich das nur! In einem Augenblicke, wo bereits ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze Sache heillos verwirrt hat. Und ich werde (das schwöre ich Ihnen!) es vor Gericht so darstellen und einrichten, daß Ihr Geständnis als ein vollständig unerwartetes, freiwilliges erscheint. Alles, was ich an psychologischen Erwägungen vorgebracht habe, soll so gut wie ungesagt sein; allen aus solchem Grunde gegen Sie geäußerten Verdacht annulliere ich, so daß sich Ihr Verbrechen als eine Art Geistesverwirrung darstellen wird; denn, die Wahrheit zu sagen, eine Geistesverwirrung ist es auch wirklich gewesen. Ich bin ein Ehrenmann, Rodion Romanowitsch, und halte, was ich verspreche.«

Raskolnikow schwieg düster und ließ den Kopf sinken; lange überlegte er, und endlich lächelte er wieder; aber es war jetzt ein sanftes, trauriges Lächeln.

»Ach was, es liegt mir nichts daran!« sagte er, als hätte er Porfirij gegenüber auf alle Verstellung verzichtet. »Es ist nicht der Mühe wert; es liegt mir gar nichts an Ihrer Strafermäßigung!«

»Na ja, das war’s ja gerade, was ich fürchtete!« rief Porfirij erregt; der Ausruf entschlüpfte ihm, wie es schien, ganz unwillkürlich. »Gerade das habe ich gefürchtet, daß Ihnen an unserer Strafermäßigung nichts liegen würde.«

Raskolnikow sah ihn mit traurigem, fragendem Blicke an.

»Ei, ei, mißachten Sie das Leben nicht!« fuhr Porfirij fort. »Sie haben noch ein gutes Stück davon vor sich. Wie können Sie nur sagen, daß Ihnen an einer Strafermäßigung nichts liege! Sie sind ein ungeduldiger Mensch!«

»Was kann mir die Zukunft noch bringen?«

»Ein gutes Stück Leben! Sie sind doch kein Prophet; was wissen Sie denn von der Zukunft? Suchet, so werdet ihr finden! Vielleicht hat Gott gerade an dieser Stelle Ihres Lebensweges auf Sie gewartet. Und Sie würden doch auch die Fesseln nicht lebenslänglich tragen …«

»Ach so, wegen der Strafermäßigung …«, warf Raskolnikow lachend dazwischen.

»Fürchten Sie sich etwa vor der Schande in den Augen der bürgerlichen Gesellschaft? Kann leicht sein, daß Sie sich davor fürchten, ohne es eigentlich selbst zu wissen; denn Sie sind eben noch jung! Aber dennoch sollte ein Mann wie Sie sich nicht davor fürchten und sich einer Selbstanzeige nicht schämen.«

»Ekelhaft!« flüsterte Raskolnikow verächtlich und widerwillig, als möchte er am liebsten das Gespräch abbrechen.

Er stand wieder auf, als wollte er fortgehen, setzte sich aber in sichtlicher Verzweiflung wieder hin.

»Das ist es eben, ›ekelhaft‹! Sie haben allen Glauben und alles Zutrauen verloren und meinen wohl gar, daß ich Ihnen in plumper Weise schmeichle. Aber wie lange haben Sie denn schon gelebt, und wieviel verstehen Sie vom Leben? Da haben Sie sich nun eine Theorie ersonnen und schämen sich jetzt, daß die Sache schiefgegangen ist und ganz und gar keinen originellen, großartigen Ausgang gehabt hat! Der Ausgang war vielmehr ein recht gemeiner, das ist wahr; aber Sie sind trotzdem nicht ein Schurke, an dem man verzweifeln müßte! Durchaus nicht! Wenigstens haben Sie zu Ihrem Selbstbetruge nicht lange Zeit gebraucht, sondern sind schnell bis zum äußersten gegangen. Wofür ich Sie halte? Ich halte Sie für einen von jenen Menschen, die, selbst wenn man ihnen die Eingeweide aus dem Leibe reißt, ruhig dastehen und lächelnd ihre Peiniger anblicken – wenn sie nur so Gott finden. Nun, finden Sie Gott, und Sie werden leben. Sie haben zunächst schon lange eine Luftveränderung nötig. Seien Sie versichert, auch das Leid ist ein gut Ding. Leiden Sie! Nikolai hat vielleicht ganz recht, daß er nach dem Leide trachtet. Ich weiß, daß es nicht jedermanns Sache ist, das zu glauben; aber lassen Sie sich nicht auf allzu schlaue philosophische Grübeleien ein; überlassen Sie sich einfach ohne viel Kopfzerbrechen dem Leben; seien Sie ohne Sorge: das Leben wird Sie schon ans Ufer tragen und wieder auf die Beine stellen. An was für ein Ufer? Das kann ich nicht wissen. Ich bin nur der festen Überzeugung, daß Sie noch viel zu leben haben. Ich weiß, daß Sie meine Worte jetzt als eine auswendig gelernte Predigt auffassen; aber vielleicht werden Sie sich meiner Worte in späterer Zeit erinnern, und sie werden Ihnen noch einmal von Nutzen sein; eben darum spreche ich zu Ihnen. Es ist nur gut, daß Sie bloß ein armseliges altes Weib ermordet haben. Hätten Sie sich eine andere Theorie ausgedacht, so hätten Sie am Ende gar eine unendlich viel greulichere Tat begangen! Dafür müssen Sie vielleicht Gott noch dankbar sein; Sie können es ja nicht wissen: vielleicht spart Sie Gott noch zu einem guten Zwecke auf. Beweisen Sie eine hohe Gesinnung; bekämpfen Sie alle Furcht. Ist Ihnen bange vor der Größe der Ihnen bevorstehenden Strafe? Nein, dieser Bangigkeit muß man sich schämen. Da Sie einmal einen solchen Schritt getan haben, so nehmen Sie nun auch Ihre Kraft zusammen! Darin besteht die Gerechtigkeit. Erfüllen Sie, was die Gerechtigkeit verlangt! Ich weiß, daß Sie mir das jetzt nicht glauben; aber das Leben wird Sie einst wieder ans Ufer tragen. Und Sie selbst werden sich später wieder des Lebens freuen. Sie haben jetzt nur Luft nötig, Luft, Luft!«

Raskolnikow schrak ordentlich zusammen.

»Ja, wer sind Sie denn eigentlich?« rief er. »Sind Sie vielleicht ein Prophet, daß Sie mir von der Höhe Ihrer majestätischen Ruhe herab solche weisen Prophezeiungen erteilen?«

»Wer ich bin? Ich bin ein Mensch, der bereits über seinen Höhepunkt hinaus ist, weiter nichts. Ein Mensch, der vielleicht Gefühl und Mitgefühl besitzt, der vielleicht auch dies und das weiß, bei dem aber von einer weiteren Entwicklung nicht mehr die Rede sein kann. Aber mit Ihnen ist das etwas ganz anderes; Ihnen hat Gott noch die Möglichkeit eines ersprießlichen Lebens vorbehalten (freilich, wer weiß, vielleicht vergeht auch Ihr Leben wie ein bloßer Rauch, von dem nichts übrigbleibt). Nun, was ist denn dabei, daß Sie in die andre Menschenklasse übergehen? Sie werden sich doch nicht um den Komfort grämen, Sie mit Ihrem Herzen? Was ist denn dabei, daß vielleicht lange Zeit niemand Sie sehen wird? Nicht um die Zeit handelt es sich, sondern um Sie selbst. Werden Sie eine Sonne, und alle werden Sie sehen. Eine Sonne muß sich vor allen Dingen als Sonne erweisen, muß leuchten und wärmen. Warum lächeln Sie wieder? Weil ich so poetisch werde, so in der Art Schillers? Und ich möchte wetten, Sie glauben, daß ich mich jetzt bei Ihnen einzuschmeicheln versuche! Na, vielleicht versuche ich das wirklich, he-he-he! Ich habe nichts dagegen, wenn Sie meinen Worten nicht glauben, Rodion Romanowitsch; glauben Sie mir meinetwegen überhaupt niemals völlig; ich habe nun schon einmal so eine verdächtige Art zu reden an mir, das gebe ich zu. Nur eines möchte ich noch hinzufügen: inwieweit ich ein gemeiner oder ein ehrenhafter Mensch bin, das werden Sie ja wohl selbst beurteilen können.«

»Wann beabsichtigen Sie, mich festnehmen zu lassen?«

»Na, so anderthalb oder zwei Tage kann ich Sie noch spazierengehen lassen. Überlegen Sie sich die Sache, mein Bester, und wenden Sie sich im Gebete an Gott. Es ist wirklich vorteilhafter, weiß Gott, wirklich vorteilhafter.«

»Aber wenn ich nun davonlaufe?« fragte Raskolnikow mit einem eigentümlichen Lächeln.

»Nein, Sie laufen nicht davon. Ein Bäuerlein läuft davon, ein moderner Sektierer läuft davon, überhaupt Leute, die fremde Gedanken nachbeten und lebenslänglich glauben, was ihnen einmal vorgesprochen wurde. Sie aber glauben ja nicht mehr an Ihre Theorie; warum sollten Sie also davonlaufen? Und was hätten Sie denn auch von dem Dasein als Flüchtiger? Das Dasein eines Flüchtlings ist häßlich und mühevoll; Sie aber brauchen vor allen Dingen wirkliches Leben und eine fest bestimmte Stellung und geeignete Luft; na, und was würden Sie denn als Flüchtling für eine Luft atmen! Wenn Sie davonlaufen, so werden Sie von selbst wieder zurückkommen. Sie können uns nicht entbehren, Sie brauchen uns notwendig. Aber wenn ich Sie hinter Schloß und Riegel setze – na, dann werden Sie einen Monat oder, sagen wir, auch zwei Monate, drei Monate sitzen, und dann auf einmal (denken Sie an mein Wort!) werden Sie ganz von selbst zu mir kommen; vielleicht wird der Entschluß dazu sogar Ihnen selbst überraschend sein. Noch eine Stunde vorher werden Sie es selbst nicht wissen, daß Sie zu mir gehen und ein Geständnis ablegen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie schließlich selbst wünschen werden, ›das Leid auf sich zu nehmen‹. Jetzt glauben Sie meinen Worten nicht; aber Sie werden schon selbst zu dieser Ansicht gelangen. Denn das Leid, Rodion Romanowitsch, ist etwas Großes und Heiliges. Stoßen Sie sich nicht daran, daß ich so korpulent geworden bin; das hat damit nichts zu tun; darum kann ich doch damit Bescheid wissen. Lachen Sie nicht darüber: im Leide liegt ein erhabenes Lebensprinzip. Nikolai hat ganz recht. Nein, Sie werden nicht davonlaufen, Rodion Romanowitsch.«

Raskolnikow stand auf und griff nach seiner Mütze. Porfirij Petrowitsch erhob sich gleichfalls.

»Sie wollen einen Spaziergang machen? Es wird ein schöner Abend werden, wenn nur nicht ein Gewitter kommt. Übrigens wäre das sogar ganz gut; die Luft würde dann frischer werden.«

Er nahm gleichfalls seine Mütze.

»Bitte, bilden Sie sich nur ja nicht ein, Porfirij Petrowitsch«, sagte Raskolnikow finster, in bestimmtem, festem Tone, »daß ich Ihnen jetzt ein Geständnis abgelegt hätte. Sie sind ein merkwürdiger Mensch, und ich habe Ihnen nur aus Neugier zugehört. Gestanden habe ich Ihnen aber nichts … Wollen Sie das nicht vergessen.«

»Schön, schön, weiß schon, ich werde es nicht vergessen – aber Sie zittern ja so! Seien Sie unbesorgt, mein Bester; alles ganz nach Ihrem Wunsche! Machen Sie einen kleinen Spaziergang; allzuviel werden Sie ja nicht mehr gehen können. Für alle Fälle habe ich an Sie noch eine kleine Bitte«, fügte er leiser hinzu. »Die Sache ist ein bißchen peinlich, aber von großer Wichtigkeit: Wenn Sie, das heißt, ich sage das nur für alle Fälle (ich glaube übrigens nicht, daß der Fall eintreten wird, und halte Sie dessen schlechterdings nicht für fähig), wenn Sie möglicherweise … na, also für alle Fälle gesagt … wenn Sie im Laufe dieser vierzig, fünfzig Stunden Lust bekommen sollten, diese Angelegenheit in einer anderen Weise zum Abschluß zu bringen, so in einer mehr phantastischen Art, … will sagen, Hand an sich selbst zu legen (es ist ja eine abgeschmackte Annahme; aber, bitte, nehmen Sie es mir nicht übel); dann hinterlassen Sie doch bitte eine kurze, aber klare Notiz. Ganz einfach, zwei Zeilen, bloß zwei kurze Zeilen, und erwähnen Sie darin doch auch den Stein, das wird sich recht anständig ausnehmen. Nun, also auf Wiedersehen, … ich wünsche Ihnen gute Gedanken und heilsame Entschlüsse!«

Porfirij ging in eigentümlich gebückter Haltung hinaus, wobei er es vermied, Raskolnikow noch einmal anzublicken. Raskolnikow trat ans Fenster und wartete in nervöser Ungeduld so lange, bis seiner Berechnung nach jener auf die Straße gelangt und eine Strecke weit fortgegangen sein konnte. Hierauf verließ auch er schnell das Zimmer.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 34

III

Er eilte zu Swidrigailow. Was er eigentlich von diesem Menschen zu erreichen hoffte, wußte er selbst nicht. Aber dieser Mensch besaß eine verborgene Macht über ihn. Nachdem Raskolnikow sich dessen einmal bewußt geworden war, beunruhigte er sich fortwährend; überdies war auch gerade jetzt die richtige Zeit dafür gekommen.

Unterwegs quälte er sich besonders mit der Frage ab: war Swidrigailow bei Porfirij gewesen?

Soweit er darüber urteilen konnte (und er hätte darauf schwören mögen): nein, er war nicht da gewesen! Er überdachte die Sache immer wieder, ließ den ganzen Besuch Porfirijs noch einmal in der Erinnerung an sich vorüberziehen, hielt alles zusammen: nein, er war nicht da gewesen, er war bestimmt nicht da gewesen!

Aber wenn er noch nicht da gewesen war: würde er zu Porfirij hingehen oder nicht?

Vorläufig neigte Raskolnikow zu der Ansicht, daß jener nicht hingehen werde. Warum? Darüber konnte er sich selbst nicht klarwerden; aber wenn er es auch gekonnt hätte, so würde er sich jetzt darüber nicht besonders den Kopf zerbrochen haben. Dies alles quälte ihn; aber gleichzeitig war er nicht dazu aufgelegt, sich damit zu beschäftigen. Es war merkwürdig, und niemand würde es vielleicht geglaubt haben: aber bei dem Schicksal, das ihm nun in kurzem bevorstand, verweilten seine Gedanken nur flüchtig und obenhin. Ihn quälte etwas anderes, weit Wichtigeres, Außerordentliches, was ihn selbst und dazu noch jemand betraf. Zudem fühlte er eine grenzenlose seelische Müdigkeit, obgleich sein Verstand an diesem Morgen besser arbeitete als an all den Tagen vorher.

War es jetzt, nach allem, was geschehen war, noch der Mühe wert, sich mit der Überwindung all dieser neuen widerwärtigen Schwierigkeiten abzuquälen? War es zum Beispiel der Mühe wert, zu intrigieren, damit Swidrigailow nicht zu Porfirij ginge? Darum einen Menschen wie diesen Swidrigailow zu studieren, zu ergründen und mit ihm Zeit zu verlieren?

Oh, wie ihn dies alles anekelte!

Indessen eilte er trotzdem zu Swidrigailow; ob er doch noch von ihm irgend etwas Neues erwartete, einen Fingerzeig, einen Weg zur Rettung? Greift ja der Ertrinkende nach einem Strohhalm! Führte sie vielleicht das Schicksal oder ein gewisser Instinkt zusammen? Vielleicht war es bei ihm nur Müdigkeit und Verzweiflung; vielleicht war der, den er nötig hatte, gar nicht Swidrigailow, sondern sonst jemand, und Swidrigailow war ihm nur so zufällig in den Wurf gekommen. Er dachte an Sonja. Aber warum sollte er jetzt zu Sonja gehen? Um wieder Mitleidstränen von ihr zu erbetteln? Er fürchtete sich jetzt geradezu vor ihr. Sonja war die Verkörperung eines unerbittlichen Verdikts, eines unabänderlichen Entschlusses. Hier handelte es sich darum, welcher Weg eingeschlagen werden sollte, der ihrige oder der seinige. Gerade in diesem Augenblicke fühlte er sich außerstande, sie zu sehen. Nein, da war es schon besser, Swidrigailow auszuforschen: was da eigentlich dahintersteckte. Und er konnte es sich nicht verhehlen, daß dieser Mensch ihm tatsächlich schon längst in gewisser Hinsicht unentbehrlich sei.

Und doch, was konnten sie beide miteinander gemein haben? Nicht einmal eine Freveltat wäre bei ihnen von gleichem Charakter gewesen. Überdies war dieser Mensch sehr widerwärtig, offenbar ein arger Wüstling, sicher ein schlauer Betrüger, vielleicht auch sehr boshaft. Sein Leumund war ein recht übler. Allerdings, für Katerina Iwanownas Kinder hatte er sich eifrig bemüht; aber wer konnte wissen, welchen Zweck er damit verfolgte und was das bedeutete? Dieser Mensch hatte stets so seine besonderen Absichten und Pläne.

All diese Tage her war ein bestimmter Gedanke Raskolnikow beständig durch den Kopf gegangen und hatte ihn heftig beunruhigt, obwohl er bemüht gewesen war, ihn zu verscheuchen, so sehr fühlte er sich durch ihn bedrückt! Seine Überlegungen waren nämlich folgende: Swidrigailow habe sich in dieser Zeit auffällig an ihn herangemacht; Swidrigailow kenne sein Geheimnis; Swidrigailow habe schon früher schlechte Absichten auf Dunja gehabt. Wenn er solche Absichten nun auch jetzt noch habe? Man könne fast mit Sicherheit sagen, daß dies der Fall sei. Wie, wenn er nun jetzt, wo er sein Geheimnis erfahren und auf diese Weise eine gewisse Macht über ihn erlangt habe, diese Macht als Waffe gegen Dunja zu benutzen beabsichtigte?

Dieser Gedanke hatte ihn oftmals, sogar im Traume, gepeinigt; aber noch nie war er ihm mit solcher Klarheit zum Bewußtsein gekommen wie jetzt, wo er zu Swidrigailow ging. Und schon dieser bloße Gedanke versetzte ihn in eine ingrimmige Wut. Er sagte sich, dann werde sich alles ändern, auch seine eigene Lage; er müsse dann sein Geheimnis sofort seiner Schwester mitteilen. Er müsse sich vielleicht selbst anzeigen, um Dunja vor unbedachten Schritten zu bewahren. Und was habe es mit dem Briefe für eine Bewandtnis? Heute früh habe Dunja durch einen Boten einen Brief erhalten! Wer in Petersburg könne denn an sie Briefe schreiben? Etwa Lushin? Freilich halte Rasumichin dort Wache; aber Rasumichin wisse von nichts. Vielleicht müsse er sich auch dem entdecken. Mit heftigem Widerwillen dachte Raskolnikow daran, daß das vielleicht notwendig werden könne.

Er sagte sich, daß er unter allen Umständen Swidrigailow so bald wie möglich sprechen müsse, und faßte den bestimmten Entschluß, dies zu tun. Gott sei Dank, hier brauchte er sich nicht mit Einzelheiten abzumühen; hier handelte es sich nur um einen einzigen Hauptpunkt. Aber wenn Swidrigailow wirklich etwas gegen Dunja plante, dann würde er diesen Menschen, wenn er nur irgend könnte …

Raskolnikow hatte sich diese ganze Zeit her so erschöpft gefühlt, daß er jetzt zur Lösung solcher Fragen nur ein einziges Mittel wußte. ›Dann töte ich ihn!‹ dachte er in kalter Verzweiflung. Er empfand einen schweren Druck auf dem Herzen; mitten auf der Straße blieb er stehen und sah sich um, was für einen Weg er eigentlich eingeschlagen habe und wie weit er schon gekommen sei. Er befand sich auf dem …skij-Prospekt, dreißig oder vierzig Schritte vom Heumarkt entfernt, den er passiert hatte. Das ganze erste Stockwerk eines Hauses linker Hand war von einem Restaurant eingenommen. Alle Fenster standen weit offen; nach den vielen Gestalten zu urteilen, die sich an den Fenstern bewegten, mußte das Restaurant gedrängt voll von Gästen sein. In dem Hauptsaale ließen sich Liedersänger vernehmen; eine Klarinette und eine Violine ertönten, eine türkische Trommel dröhnte. Man hörte das Gekreisch von Frauenstimmen. Er war schon im Begriff, wieder umzukehren, da er gar nicht begriff, warum er eigentlich in den …skij-Prospekt eingebogen war, als er auf einmal an einem der letzten offenstehenden Fenster des Restaurants Swidrigailow erblickte, der dort mit der Pfeife im Munde dicht beim Fenster an einem Teetische saß. Raskolnikow war überrascht, ja gewaltig erschrocken. Swidrigailow betrachtete und beobachtete ihn schweigend und wollte (worüber Raskolnikow gleichfalls überrascht war) anscheinend aufstehen, um sachte vom Fenster zurückzutreten, ehe er bemerkt würde. Raskolnikow tat sofort, als hätte er ihn nicht bemerkt und sähe ganz in Gedanken zur Seite, beobachtete ihn aber doch mit verstohlenen schrägen Blicken weiter. Das Herz klopfte ihm unruhig. Er hatte sich nicht getäuscht: Swidrigailow wünschte augenscheinlich, nicht gesehen zu werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und wollte sich verbergen; aber während er sich erhob und den Stuhl zurückschob, merkte er wahrscheinlich, daß Raskolnikow ihn sah und beobachtete. Der ganze Vorgang hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Szene, die sich zwischen ihnen bei ihrer ersten Begegnung in Raskolnikows Zimmer, als dieser schlief, abgespielt hatte. Ein schlaues Lächeln wurde um Swidrigailows Mund sichtbar und breitete sich allmählich über sein ganzes Gesicht aus. Beide wußten, daß sie einander sahen und beobachteten. Schließlich lachte Swidrigailow laut auf.

»Na also! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie mögen; ich bin hier!« rief er aus dem Fenster.

Raskolnikow ging zum Restaurant hinauf.

Er fand ihn in einer sehr kleinen, einfenstrigen Seitenstube, die an den großen Saal grenzte, in dem an zwanzig kleinen Tischen bei dem unschönen Gesange eines schauderhaften Chors Kaufleute, Beamte und eine Menge anderer Leute Tee tranken. Aus einem andern Zimmer tönte das Klappern von Billardbällen herüber. Auf einem Tischchen hatte Swidrigailow eine angebrochene Flasche Champagner und ein halbvolles Glas vor sich stehen. In dem Zimmer befanden sich auch ein Junge mit einer kleinen Drehorgel und ein derbes, rotbäckiges Mädchen in einem gestreiften, stark aufgeschürzten Rock, einen Tirolerhut mit Bändern auf dem Kopfe, eine etwa achtzehnjährige Sängerin, die, unbekümmert um den Chorgesang im angrenzenden Saale, mit recht heiserer Altstimme zur Drehorgel einen Gassenhauer sang.

»Na, nun ist’s genug!« unterbrach Swidrigailow den Gesang bei Raskolnikows Eintritt.

Das Mädchen brach sofort ab und blieb respektvoll wartend stehen. Auch ihre vulgäre Reimerei hatte sie mit ernster, respektvoller Miene heruntergesungen.

»He, Filipp, ein Glas!« rief Swidrigailow.

»Ich möchte keinen Wein trinken«, sagte Raskolnikow.

»Wie Sie belieben; aber ich meinte Sie auch nicht. Trink, Katja! Heute brauche ich dich nicht mehr; du kannst gehen!«

Er goß ihr ein ganzes Glas Wein ein und legte ihr einen Rubelschein hin. Katja trank das Glas auf einmal aus, in der Weise, wie Frauen Wein trinken, das heißt ohne abzusetzen, in zwanzig Schlucken, nahm den Schein, küßte Swidrigailow die Hand, die dieser ihr mit sehr ernster Miene zum Kusse überließ, und verließ das Zimmer; hinter ihr her trottete auch der Junge mit der Drehorgel. Sie waren beide von der Straße heraufgeholt worden. Swidrigailow wohnte kaum eine Woche in Petersburg und stand doch schon mit seiner ganzen Umgebung in einer Art von patriarchalischem Verhältnis. Auch der Kellner Filipp gehörte bereits zu seinen »Bekannten« und benahm sich gegen ihn äußerst devot. Die Tür nach dem Saale wurde meist geschlossen; Swidrigailow fühlte sich dann in diesem Zimmer wie zu Hause und brachte hier manchmal ganze Tage zu. Das Restaurant war schmutzig und schlecht und nicht einmal mittleren Ranges.

»Ich wollte Sie in Ihrer Wohnung aufsuchen«, begann Raskolnikow, »bog aber in Gedanken vom Heumarkt in den …skij-Prospekt ein. Ich tue das sonst nie und gehe hier niemals entlang. Ich pflege vom Heumarkt aus immer rechts zu gehen. Auch ist dies gar nicht der Weg nach Ihrer Wohnung. Aber kaum war ich hier eingebogen, da sah ich Sie auch! Ganz seltsam!«

»Warum sagen Sie nicht geradezu: es ist ein Wunder?«

»Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.«

»Was haben doch diese Leute alle für eine schnurrige Art, zu denken!« rief Swidrigailow lachend. »Trotzdem sie in ihrem Herzen an Wunder glauben, mögen sie es doch nicht eingestehen! Eben haben Sie ja selbst gesagt, daß es ›vielleicht‹ nur ein Zufall ist. Und mit welcher Feigheit sich hier alle Leute davor fürchten, eine eigene Meinung zu haben, davon können Sie sich gar keine Vorstellung machen, Rodion Romanowitsch! Von Ihnen rede ich nicht; Sie haben eine eigene Meinung und haben sich nicht gescheut, sie zu haben. Dadurch haben Sie auch mein Interesse erregt.«

»Durch weiter nichts?«

»Na, dieser Grund ist doch schon ausreichend.«

Swidrigailow war offenbar in angeregter Stimmung, indessen nur in geringem Grade; von dem Weine hatte er nur ein halbes Glas getrunken.

»Ich möchte meinen, Sie kamen zu mir, noch ehe Sie wußten, daß ich fähig sei, das zu haben, was Sie eine eigene Meinung nennen«, bemerkte Raskolnikow.

»Na ja, damals hatte es einen anderen Grund. Jeder hat so seine eigenen Wege. Aber was das Wunder anlangt, so muß ich Ihnen sagen, daß Sie diese letzten zwei, drei Tage geschlafen zu haben scheinen. Ich selbst habe Ihnen dieses Restaurant bezeichnet, und daß Sie geradeswegs hierher kamen, war ganz und gar kein Wunder; ich selbst habe Ihnen den ganzen Weg beschrieben und habe Ihnen die Stelle, wo es liegt, und die Stunden, wann ich hier zu treffen bin, angegeben. Besinnen Sie sich?«

»Nein, ich habe es vergessen«, antwortete Raskolnikow verwundert.

»Das muß ich annehmen. Zweimal habe ich es Ihnen sogar gesagt. Die Adresse hat sich Ihrem Gedächtnisse mechanisch eingeprägt. Und so bogen Sie auch mechanisch in diese Straße ein, genau gemäß der angegebenen Adresse, aber ohne es selbst zu wissen. Schon damals, als ich es Ihnen sagte, hatte ich von Ihnen den Eindruck, daß Sie mich nicht verstanden hätten. Sie verraten sich gar zu sehr, Rodion Romanowitsch. Und noch eines: ich glaube, es gibt in Petersburg viele Leute, die im Gehen Selbstgespräche halten. Es ist eben eine Stadt von Halbverrückten. Gäbe es bei uns einen ernstlichen Betrieb der Wissenschaften, so könnten die Ärzte, die Juristen und die Philosophen die wertvollsten Untersuchungen über die Petersburger Bevölkerung anstellen, jeder in seinem Fache. Es gibt wenige Orte, wo sich so viele düstere, starke, seltsame Momente, die auf die menschliche Seele wirken, vereinigt finden wie in Petersburg. Wie mächtig sind allein schon die Einwirkungen des Klimas! Und dabei ist nun Petersburg der administrative Mittelpunkt von ganz Rußland, so daß der Charakter dieser Hauptstadt auf das ganze Reich zurückwirken muß. Aber davon wollte ich jetzt nicht reden, sondern davon, daß ich Sie schon einige Male heimlich von der Seite her beobachtet habe. Wenn Sie aus dem Hause treten, halten Sie den Kopf noch gerade. Nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn schon sinken und legen die Hände auf den Rücken. Sie haben die Augen offen, nehmen aber zweifellos weder vor sich noch rechts oder links etwas wahr. Darauf fangen Sie an, die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie manchmal die eine Hand frei machen und damit gestikulieren; schließlich bleiben Sie längere Zeit mitten auf dem Wege stehen. Das ist recht bedenklich. Vielleicht beobachtet Sie außer mir sonst noch jemand, und das könnte Ihnen doch zum Schaden gereichen. Mir kann es im Grunde ganz egal sein, und Sie davon zu kurieren wird mir doch nicht gelingen; aber Sie verstehen mich gewiß.«

»Sie wissen also, daß man mich beobachtet?« fragte Raskolnikow und blickte ihn forschend an.

»Nein, davon weiß ich nichts«, erwiderte Swidrigailow anscheinend verwundert.

»Nun, dann wollen wir von mir nicht weiter reden«, murmelte Raskolnikow mit finsterem Gesichte.

»Schön, reden wir nicht von Ihnen.«

»Sagen Sie mir lieber, wenn Sie hierhergehen, um zu trinken, und mich selbst zweimal aufgefordert haben, zu Ihnen hierherzukommen, warum wollten Sie denn dann vorhin, als ich Sie von der Straße aus am Fenster sah, zurücktreten und sich verstecken? Ich habe das recht wohl gemerkt.«

»He-he! Aber warum lagen Sie denn damals, als ich bei Ihnen zu Hause auf der Schwelle stand, mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und taten, als ob Sie schliefen, wiewohl Sie doch wach waren? Ich habe das recht wohl gemerkt.«

»Ich konnte dazu … meine Gründe haben, … das wissen Sie selbst.«

»Meine Gründe konnte auch ich haben, wenn Sie sie auch nicht kennen.«

Raskolnikow setzte den rechten Ellbogen auf den Tisch, stützte mit den Fingern der rechten Hand sein Kinn von unten und heftete seinen Blick unverwandt auf Swidrigailow. Er betrachtete etwa eine Minute lang sein Gesicht, das ihm auch früher schon immer seltsam erschienen war. Es war ein ganz merkwürdiges Gesicht, das große Ähnlichkeit mit einer Maske hatte: weiß, rotwangig, mit purpurnen Lippen, hellblondem Barte und noch ziemlich dichtem, blondem Haupthaar. Die Augen waren, man hätte sagen können, allzu blau und ihr Blick allzu starr und unbeweglich. Es lag etwas überaus Unangenehmes in diesem hübschen Gesichte, das im Verhältnis zu Swidrigailows Alter außerordentlich jugendlich aussah. Swidrigailow trug einen eleganten, leichten Sommeranzug; eine besondere Eleganz legte er auch mit seiner Wäsche an den Tag. An einem Finger prangte ein massiver Ring mit einem wertvollen Steine.

»Muß ich mich nun wirklich auch noch mit Ihnen herumbalgen?« sagte Raskolnikow plötzlich, indem er mit krampfhafter Ungeduld geradeswegs auf sein Ziel losging. »Sie sind ja zwar vielleicht ein höchst gefährlicher Mensch, wenn Sie mir schaden wollen; aber ich habe keine Lust mehr, Komödie zu spielen. Ich werde Ihnen sofort zeigen, daß mir an meinem persönlichen Wohle nicht so viel gelegen ist, wie Sie wahrscheinlich meinen. Mögen Sie also wissen: ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen offen zu sagen, wenn Sie an Ihren früheren Absichten in bezug auf meine Schwester noch festhalten sollten und wenn Sie vorhaben sollten, zu diesem Zwecke etwas von dem, was Sie in letzter Zeit erfahren haben, auszunutzen, so schlage ich Sie tot, ehe es Ihnen gelingt, mich ins Gefängnis zu bringen. Auf mein Wort ist Verlaß; Sie wissen, daß ich imstande sein würde, es wahr zu machen. Und zweitens: wenn Sie mir etwas mitzuteilen wünschen (denn ich hatte diese ganze Zeit her den Eindruck, als wollten Sie mir etwas sagen), so tun Sie das unverzüglich; denn die Zeit ist kostbar, und es wird vielleicht sehr bald schon zu spät sein.«

»Warum haben Sie es denn so eilig?« fragte Swidrigailow, ihn neugierig anblickend.

»Jeder hat seine eigenen Wege«, entgegnete Raskolnikow finster und ungeduldig.

»Eben erst haben Sie mich aufgefordert, ganz offen zu sein, und Sie selbst verweigern auf die erste Frage, die ich an Sie richte, die Antwort«, bemerkte Swidrigailow lächelnd. »Sie haben immer die Vorstellung, als verfolgte ich bestimmte Zwecke, und daher betrachten Sie mich mit solchem Argwohn. Allerdings, in Ihrer Lage ist das sehr begreiflich. Aber obgleich ich lebhaft wünsche, Ihnen näherzutreten, werde ich mir dennoch keine Mühe geben, Sie vom Gegenteil zu überzeugen. Wahrhaftig, le jeu ne vaut pas la chandelle, und es lag auch nicht im geringsten in meiner Absicht, mit Ihnen über etwas so ganz Besonderes zu sprechen.«

»Nun, was wollten Sie denn dann eigentlich von mir? Sie haben sich doch an mich herangemacht?«

»Sie sind mir einfach ein interessantes Beobachtungsobjekt. Sie erregten meine Aufmerksamkeit durch das Romantische Ihrer Situation, das war’s! Außerdem sind Sie der Bruder einer Dame, für die ich mich sehr interessierte. Und endlich habe ich seinerzeit von ebendieser Dame außerordentlich oft und viel über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie auf die Dame großen Einfluß haben. Sind das nicht genug Gründe? He-he-he! Übrigens, offen gestanden, Ihre Frage ist für mich recht knifflich, und es fällt mir schwer, sie Ihnen zu beantworten. Nun, sehen Sie mal, Sie sind doch jetzt nicht bloß wegen dieser einen Angelegenheit zu mir gekommen, sondern auch, um etwas Neues von mir zu hören? Nicht wahr? Ist’s nicht so?« fragte Swidrigailow eindringlich mit schlauem Lächeln. »Und nun stellen Sie sich einmal vor, daß ich selbst, schon auf der Reise hierher, im Eisenbahncoupé, auf Sie rechnete, daß Sie mir auch etwas Neues sagen würden und daß es mir gelingen würde, bei Ihnen eine Anleihe zu machen! Ja, sehen Sie, so steht es mit meinem Reichtum!«

»Was denn für eine Anleihe?«

»Ja, was soll ich Ihnen darauf antworten? Darüber bin ich selbst im unklaren. Sehen Sie nur, in was für einem elenden Restaurant ich die ganze Zeit über herumhocke, und das ist mein Element; das heißt, mein Element ist es eigentlich nicht; na, aber man muß doch irgendwo die Zeit hinbringen. Und hier habe ich wenigstens diese arme Katja – haben Sie sie gesehen? … Ja, und wenn ich noch ein Vielfraß wäre oder ein Gourmet; aber da können Sie sehen, was für Zeug ich essen kann« (er zeigte mit dem Finger nach einer Ecke, wo auf einem kleinen Tischchen in einem Blechschüsselchen die Überreste eines schauderhaften Beefsteaks mit Kartoffeln standen). »Apropos, haben Sie schon zu Mittag gegessen? Ich habe nur ein paar Bissen gegessen und mag nicht mehr. Wein zum Beispiel trinke ich überhaupt nicht. Außer Champagner trinke ich gar keinen Wein, und auch Champagner trinke ich den ganzen Abend über nur ein einziges Glas, und auch davon bekomme ich schon Kopfschmerzen. Die Flasche hier habe ich mir bloß geben lassen, um mich ein bißchen aufzukratzen; denn ich habe einen Weg vor, und Sie finden mich in einer besonderen Gemütsstimmung. Das war auch der Grund, weshalb ich mich vorhin wie ein Schuljunge versteckte; denn ich dachte, Sie könnten mir dabei hinderlich werden; aber ich glaube« (er zog die Uhr heraus), »ich kann noch eine Stunde mit Ihnen zusammen sein; es ist erst halb fünf. Glauben Sie mir, ich würde viel darum geben, wenn ich nur irgendeine Tätigkeit hätte, na, sagen wir mal, wenn ich Gutsbesitzer wäre oder Vater oder Ulan, Photograph, Journalist, … aber ich habe rein gar nichts, so gar keine eigene Tätigkeit! Manchmal langweile ich mich furchtbar. Wirklich, ich dachte, Sie würden mir etwas Neues sagen.«

»Ja, was sind Sie denn eigentlich für ein Mensch, und warum sind Sie nach Petersburg gekommen?«

»Was ich für ein Mensch bin? Nun, das wissen Sie ja: ich bin ein Adliger, habe zwei Jahre bei der Kavallerie gedient; dann habe ich hier in Petersburg herumgebummelt; dann habe ich Marfa Petrowna geheiratet und auf dem Lande gelebt. Das ist mein Lebenslauf!«

»Sie waren ja wohl auch Spieler?«

»Nein, Spieler eigentlich nicht. Ein Falschspieler ist kein Spieler.«

»Also Sie waren Falschspieler?«

»Ja, das bin ich auch gewesen.«

»Da haben Sie wohl auch manchmal Prügel bekommen?«

»Das ist auch vorgekommen. Nun, und …?«

»Nun, da konnten Sie doch den Betreffenden zum Duell fordern. Das ist doch eine erfrischende Abwechselung.«

»Ich will Ihnen nicht widersprechen und habe überhaupt in philosophischen Debatten keine Übung. Ich muß gestehen, ich bin hauptsächlich der Weiber wegen mit solcher Beschleunigung hierher gereist.«

»Nachdem Sie Marfa Petrowna eben erst beerdigt haben?«

»Nun ja«, erwiderte Swidrigailow mit ganz ungeniertem, offenherzigem Lächeln. »Was ist denn dabei? Sie scheinen etwas Schlimmes darin zu finden, daß ich so von den Weibern rede?«

»Sie meinen, ob ich die Unsittlichkeit für etwas Schlimmes halte?«

»Die Unsittlichkeit! Nun, das ist doch etwas zuviel gesagt! Aber ich möchte Ihnen zunächst einmal meine Ansicht über die Weiber im allgemeinen sagen; wissen Sie, ich bin gerade dazu aufgelegt, ein bißchen zu plaudern. Sagen Sie bloß, warum sollte ich mir denn Enthaltsamkeit auferlegen? Warum sollte ich mir die Weiber versagen, wenn das nun einmal meine Passion ist? Wenigstens habe ich doch eine Beschäftigung dadurch.«

»Sie suchen hier also weiter nichts als Unsittlichkeit?«

»Na, wenn Sie es so nennen wollen, meinetwegen! Sie immer mit Ihrer Unsittlichkeit! Indessen habe ich es ganz gern, daß Sie so offen und geradezu fragen. Diese Unsittlichkeit hat wenigstens das Gute, daß sie etwas Dauerndes ist, sogar etwas in der Natur Begründetes, von aller Theorie Unabhängiges, etwas, was einem wie eine Art von stets glühender Kohle im Geblüte wohnt und sich nicht so bald auslöschen läßt, so besonders schnell vielleicht nicht einmal bei höherem Lebensalter. Sagen Sie selbst, ist das etwa nicht in seiner Art auch eine Beschäftigung?«

»Wie können Sie daran Ihre Freude haben? Es ist eine Krankheit, eine gefährliche Krankheit.«

»Nun, das ist doch etwas zuviel gesagt! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, wie alles, was über das richtige Maß hinausgeht (und auf diesem Gebiete wird es unfehlbar oft vorkommen, daß das richtige Maß überschritten wird); aber erstens ist das doch bei verschiedenen Menschen verschieden; und zweitens möge man sich eben, wie bei allen Dingen, so selbstverständlich auch hierbei, des Maßhaltens befleißigen; Ökonomie, wenn auch in einer gemeinen Sphäre. Aber was soll man tun? Wenn es dieses Vergnügen nicht gäbe, könnte man sich ja gleich erschießen! Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch die Pflicht hat, die Langeweile zu ertragen, aber trotzdem …«

»Würden Sie es fertigbringen, sich zu erschießen?«

»Hören Sie mal!« erwiderte Swidrigailow, indem er mit einer Gebärde des Widerwillens die Frage von sich wies. »Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie davon nicht«, fügte er hastig hinzu und sogar ganz ohne den prahlerischen Beiklang, den alle seine vorhergehenden Worte gehabt hatten. Selbst sein Gesicht schien sich verändert zu haben. »Ich bekenne mich da einer unverzeihlichen Schwäche schuldig; aber ich kann nichts dagegen machen: ich fürchte mich vor dem Tode und mag nicht von ihm reden hören. Wissen Sie wohl, daß ich so ein Stück Mystiker bin?«

»Ach ja! Marfa Petrownas Geist ist Ihnen ja erschienen! Nun, dauern diese Erscheinungen noch fort?«

»Ach, erinnern Sie mich nicht daran; in Petersburg ist es noch nicht vorgekommen; hol der Teufel die Geistererscheinungen!« rief er ärgerlich. »Nein, lassen Sie uns lieber über diese … ja, aber … Hm! Schade, ich habe nicht mehr viel Zeit; ich kann nicht mehr lange mit Ihnen zusammenbleiben; es tut mir sehr leid! Ich hätte Ihnen noch etwas mitzuteilen.«

»Wo wollen Sie denn hin, zu einem Frauenzimmer?«

»Allerdings; ein ganz unverhoffter Zufall … Aber das war es nicht, wovon ich jetzt mit Ihnen reden wollte.«

»Und die Ekelhaftigkeit dieses ganzen Treibens wirkt gar nicht mehr auf Sie? Haben Sie schon die Kraft verloren, sich selbst ein ›Halt!‹ zuzurufen?«

»Und Sie, Sie erheben für Ihre eigene Person Anspruch darauf, Kraft zu besitzen? He-he-he! Sie haben mich soeben in Verwunderung versetzt, Rodion Romanowitsch, obgleich ich dergleichen voraussah. Sie, Sie reden mir von Unsittlichkeit und Ästhetik! Sie spielen sich als eine Art von Schiller auf, als Idealisten! Alles das hat natürlich seinen notwendigen inneren Zusammenhang, und man müßte sich wundern, wenn es anders wäre; aber trotzdem kommt es einem in der Wirklichkeit sonderbar vor … Schade nur, daß ich so wenig Zeit habe; denn Sie sind eine überaus interessante Persönlichkeit! Apropos, lieben Sie Schiller? Ich habe ihn außerordentlich gern.«

»Aber was sind Sie für ein Prahler!« erwiderte Raskolnikow mit merklichem Widerwillen.

»Das bin ich nicht, wahrhaftig nicht!« antwortete Swidrigailow lachend. »Übrigens will ich darüber nicht streiten; mag ich ein Prahler sein! Aber warum soll man auch nicht ein bißchen prahlen, wenn man niemandem etwas damit zuleide tut? Ich habe sieben Jahre lang bei Marfa Petrowna auf dem Lande gelebt; darum bin ich jetzt geradezu froh, ein bißchen plaudern zu können, wo ich einen klugen Menschen wie Sie getroffen habe, einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen. Außerdem habe ich auch ein halbes Glas Wein getrunken, und das ist mir schon ein klein wenig in den Kopf gestiegen. Die Hauptsache aber ist: ich habe da so eine Geschichte, die mich sehr aufregt, über die ich aber schweigen möchte. Aber wo wollen Sie denn hin?« fragte Swidrigailow plötzlich sehr erstaunt.

Raskolnikow hatte sich zum Aufstehen angeschickt. Er fühlte sich bedrückt, beklommen, unbehaglich und bedauerte, hergekommen zu sein. Über Swidrigailow hatte er sich die Überzeugung gebildet, daß dies der fadeste, wertloseste Bösewicht sei, den es auf der Welt gebe.

»Ach was! Bleiben Sie doch noch ein Weilchen sitzen«, bat Swidrigailow, »und lassen Sie sich etwas geben, etwa ein Glas Tee. Na, bleiben Sie noch ein Weilchen; ich werde Ihnen auch keinen Unsinn mehr vorreden, ich meine über mich. Ich werde Ihnen etwas erzählen. Na, wenn’s Ihnen recht ist, so will ich Ihnen erzählen, wie mich eine Dame, um in Ihrer Sprache zu reden, ›rettete‹. Das wird sogar eine Antwort auf Ihre erste Frage sein, weil diese Dame Ihre Schwester war. Soll ich es Ihnen erzählen? Wir füllen damit auch die Zeit aus.«

»Erzählen Sie; aber ich hoffe, Sie …«

»Oh, seien Sie unbesorgt! Übrigens kann Awdotja Romanowna sogar einem so schändlichen und hohlen Menschen wie mir nur die allergrößte Hochachtung einflößen.«

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads

Kapitel 24

IV

Raskolnikow aber ging geradeswegs nach dem Hause am Kanal, wo Sonja wohnte. Es war ein altes zweistöckiges, grün angestrichenes Haus. Er suchte den Hausknecht auf, der ihm so ungefähr beschrieb, wo der Schneider Kapernaumow wohne. Auf dem Hofe fand er in einer Ecke den Eingang zu einer engen, dunklen Treppe, gelangte auf ihr, langsam hinaufsteigend, endlich zum ersten Stockwerk und trat auf eine Galerie hinaus, die an diesem Stockwerk auf der Hofseite hinlief. Während er in der Dunkelheit umhertappte, ohne den Eingang zu Kapernaumows Wohnung finden zu können, wurde plötzlich drei Schritte von ihm entfernt eine Tür geöffnet; ganz mechanisch trat er hinzu und faßte nach ihr.

»Wer ist da?« fragte ängstlich eine weibliche Stimme.

»Ich bin es, … ich wollte zu Ihnen«, antwortete Raskolnikow und trat in ein winziges Vorzimmer ein. Hier brannte auf einem durchgesessenen Stuhle ein Licht in einem verbogenen Messingleuchter.

»Sie sind es! O Gott!« rief Sonja mit schwacher Stimme und blieb wie erstarrt stehen.

»Wo geht es in Ihr Zimmer? Hier?«

Raskolnikow vermied es, sie anzusehen, und trat schnell in das Zimmer.

Einen Augenblick darauf kam auch Sonja mit dem Lichte herein, stellte das Licht hin und blieb selbst ganz fassungslos vor ihm stehen; sie befand sich in unbeschreiblicher Aufregung und war über seinen unerwarteten Besuch augenscheinlich im höchsten Grade erschrocken. Plötzlich übergoß tiefe Röte ihr bleiches Gesicht, und die Tränen traten ihr in die Augen … Sie fühlte sich sehr bedrückt und schämte sich und empfand dabei doch eine Art von wonniger Freude … Raskolnikow wendete sich schnell von ihr ab und setzte sich auf einen Stuhl am Tische. Mit einem schnellen Blicke musterte er das Zimmer.

Das Zimmer war groß, aber außerordentlich niedrig; es war das einzige, welches Kapernaumows vermieteten; die zu ihnen führende Tür befand sich in der Wand links und war geschlossen. Gegenüber, in der Wand rechts, befand sich noch eine andre Tür, die fest zugenagelt war. Dort lag schon eine andre Wohnung, die Nachbarwohnung, die eine andre Nummer hatte. Sonjas Zimmer glich einer Scheune; es bildete ein ganz unregelmäßiges Viereck, wodurch es sehr mißgestaltet aussah. Die nach dem Kanal zu gelegene Wand, welche drei Fenster hatte, verlief schräg; infolgedessen verlor sich die eine sehr spitze Ecke des Zimmers ganz im Hintergrunde, so daß man sie bei der schwachen Beleuchtung gar nicht einmal ordentlich erkennen konnte; die andre Ecke dagegen war in häßlichem Grade stumpf. In diesem ganzen großen Zimmer standen fast gar keine Möbel. In der Ecke rechts stand ein Bett; daneben, mehr nach der Tür zu, ein Stuhl. An derselben Wand, wo das Bett war, stand dicht an der nach der fremden Wohnung führenden Tür ein einfacher Brettertisch; darüber lag eine blaue Decke; neben dem Tische standen zwei Rohrstühle. Ferner stand an der gegenüberliegenden Wand in der Nähe der spitzen Ecke eine kleine Kommode aus einfachem Holze, die in dem leeren Raume wie verloren aussah. Das war alles, was sich im Zimmer befand. Die gelbliche, abgenutzte und zerrissene Tapete war überall in den Zimmerecken schwarz geworden, was darauf schließen ließ, daß es hier im Winter feucht und muffig war. Die Ärmlichkeit war überall sichtbar: es fehlte sogar am Bette der Vorhang.

Sonja blickte den Besucher schweigend an, der ihr Zimmer so aufmerksam und ungeniert betrachtete, und fing schließlich vor Furcht an zu zittern, als stände sie vor einem Richter, der über ihr Geschick entscheiden sollte.

»Ich komme zu so später Stunde … Es ist wohl schon elf?« fragte er, immer noch, ohne sie anzusehen.

»Ja«, murmelte Sonja. »Ach ja, es ist elf«, fuhr sie eilig fort, als käme darauf für sie viel an. »Eben hat bei den Wirtsleuten die Uhr geschlagen, … ich habe es selbst gehört … Es ist elf.«

»Es ist das letztemal, daß ich zu Ihnen komme«, fuhr Raskolnikow düster fort, obwohl es überhaupt erst das erstemal war. »Ich werde Sie vielleicht nie wiedersehen.«

»Sie wollen … wegreisen?«

»Ich weiß es nicht … Das wird sich alles morgen zeigen …«

»Also werden Sie morgen nicht zu Katerina Iwanowna kommen?« fragte Sonja mit bebender Stimme.

»Ich weiß es nicht. Morgen früh wird sich alles zeigen … Aber darum handelt es sich nicht: ich bin hergekommen, um Ihnen nur wenige Worte zu sagen …«

Er hob seinen schwermütigen Blick zu ihr auf und bemerkte erst jetzt, daß er saß und sie immer noch vor ihm stand.

»Warum stehen Sie denn? Setzen Sie sich doch hin!« sagte er mit veränderter, leiser, milder Stimme. Er blickte sie einen Augenblick lang freundlich und beinahe mitleidig an.

»Wie mager Sie sind! Was haben Sie für eine Hand! Ganz durchsichtig! Finger wie bei einer Toten!«

Er ergriff ihre Hand. Sonja lächelte schwach.

»Ich bin immer so gewesen«, erwiderte sie.

»Auch als Sie noch zu Hause wohnten?«

»Ja.«

»Nun ja, natürlich!« stieß er kurz hervor, und sein Gesichtsausdruck und der Klang seiner Stimme veränderten sich plötzlich wieder.

Er blickte noch einmal um sich.

»Sie haben das Zimmer dem Schneider Kapernaumow abgemietet?«

»Ja.«

»Ihre Wirtsleute wohnen dort, hinter dieser Tür?«

»Ja … Sie haben ein ebensolches Zimmer.«

»Wohnen die alle in einem Zimmer?«

»Ja.«

»Ich würde mich nachts in Ihrem Zimmer fürchten«, sagte er düster.

»Die Wirtsleute sind sehr gut und freundlich«, antwortete Sonja, die immer noch nicht die Fassung wiedergewonnen und ihre Gedanken gesammelt hatte. »Auch alle Möbel und alles hier … alles gehört ihnen. Es sind sehr brave Leute, und auch die Kinder kommen oft zu mir …«

»Stottert die Familie nicht?«

»Ja, er stottert und ist außerdem lahm. Und die Frau stottert auch … Das heißt, eigentlich stottern tut sie nicht, aber sie spricht nicht alle Buchstaben aus. Es ist eine gute Frau, eine sehr gute Frau. Er ist früher Knecht auf einem Gute gewesen. Sie haben sieben Kinder, … bloß der älteste stottert, die andern sind nur immer krank, … aber stottern tun sie nicht … Aber woher wissen Sie das?« fügte sie einigermaßen erstaunt hinzu.

»Ihr Vater hat mir damals alles erzählt. Auch von Ihnen hat er mir alles erzählt … Auch wie Sie um sechs Uhr weggingen und um neun wiederkamen, und wie Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien gelegen hat.«

Sonja wurde befangen.

»Ich habe ihn heute gesehen«, flüsterte sie zaghaft.

»Wen?«

»Den Vater. Ich ging auf der Straße, da nebenan, an der Ecke, zwischen neun und zehn, und da war mir, als ginge er vor mir. Ganz genau wie er. Ich wollte schon zu Katerina Iwanowna gehen …«

»Gingen Sie spazieren?«

»Ja«, flüsterte Sonja kurz; sie wurde wieder befangen und schlug die Augen nieder.

»Als Sie noch bei dem Vater wohnten, hat wohl manchmal nicht viel daran gefehlt, daß Katerina Iwanowna Sie geschlagen hätte?«

»Ach nein! Was sagen Sie da! Nein, nein!« erwiderte Sonja und blickte ihn beinahe erschrocken an.

»Also haben Sie Ihre Stiefmutter lieb?«

»Aber ja-a, ja-a, gewiß!« antwortete Sonja in gedehntem klagendem Tone und faltete mit schmerzlichem Ausdruck die Hände. »Ach, Sie sollten sie kennen … Wenn Sie nur alles wüßten! Sie ist ja ganz wie ein Kind … Es ist, als ob ihr Verstand gelitten hätte … von all dem Kummer. Und wie klug sie früher war, … wie hochherzig, … wie gut! Davon wissen Sie nichts, … ach!«

Sonja sagte das im Tone der Verzweiflung und rang in schmerzlicher Erregung die Hände. Eine heiße Röte trat wieder in ihre blassen Wangen, und ihre Augen spiegelten die Qual wider, die sie empfand. Es war deutlich, daß eine kräftige Saite ihres Herzens angeschlagen war, daß es ihr ein Bedürfnis war, etwas über ihre Stiefmutter zu sagen, sie zu verteidigen. Eine Art von unersättlichem Mitleid, wenn man sich so ausdrücken kann, malte sich auf ihren Zügen.

»Geschlagen! Was sagen Sie nur! O Gott, geschlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre dabei gewesen? Nun, was wäre dabei gewesen? Sie kennen sie nicht, kennen sie gar nicht … Sie ist so unglücklich, ach, so unglücklich! Und krank! … Sie verlangt nach Gerechtigkeit … Sie ist ehrenhaft. Sie ist fest davon überzeugt, daß in der Welt Gerechtigkeit herrschen müsse, und fordert sie auch für sich … Und wenn man sie martern wollte, sie würde nichts Ungerechtes tun. Sie sieht nicht, daß es eben bei den Menschen nicht gerecht zugehen kann, und regt sich darüber auf … Wie ein Kind ist sie, wie ein Kind! Sie ist eine Gerechte, eine Gerechte!«

»Und was wird nun mit Ihnen werden?«

Sonja sah ihn fragend an.

»Die Hinterbliebenen sind nun doch auf Sie angewiesen. Das war freilich auch früher mit der ganzen Familie so, und auch der Verstorbene kam zu Ihnen, um Sie um Geld zum Trinken zu bitten. Aber was wird jetzt werden?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Sonja traurig.

»Werden die dort wohnen bleiben?«

»Ich weiß es nicht; sie sind die Miete schuldig; die Wirtin hat, wie ich gehört habe, heute gesagt, sie wollte sie heraussetzen; aber Katerina Iwanowna sagt, sie würde auch von selbst nicht einen Augenblick länger dableiben.«

»Woher ist sie denn so couragiert? Sie hofft wohl auf Hilfe von Ihrer Seite?«

»Ach, sprechen Sie nicht so! … Wir gehören zueinander, wir bilden eine einzige Familie!« antwortete Sonja, wieder in Erregung und sogar etwas gereizt, ganz wie wenn ein Kanarienvogel oder ein andres kleines Vögelchen böse wird. »Was soll sie denn anfangen? Nun, was soll sie anfangen?« fragte sie eifrig und hitzig. »Und wieviel, wieviel hat sie heute geweint! Der Verstand ist bei ihr gestört; haben Sie das nicht bemerkt? Er ist wirklich gestört; bald regt sie sich wie ein kleines Kind darüber auf, ob auch morgen bei dem Gedächtnismahl alles anständig sein wird, daß nur ja ein Imbiß da sei und das andre alles, … bald wieder ringt sie die Hände, spuckt Blut, weint und fängt auf einmal verzweifelt an, mit dem Kopfe gegen die Wand zu schlagen. Dann beruhigt sie sich wieder; sie setzt ihre ganze Hoffnung auf Sie: sie sagt, Sie seien jetzt ihr Helfer, und sie werde sich irgendwo ein bißchen Geld leihen und nach ihrer Heimatstadt reisen, und mich werde sie auch mitnehmen; und dort wolle sie ein vornehmes Mädchenpensionat errichten und mir dabei eine Stelle als Inspektorin geben, und dann werde für uns ein ganz neues, schönes Leben beginnen; und sie küßt mich, umarmt mich und tröstet mich und glaubt an diese Hirngespinste, glaubt fest daran! Nun, kann man ihr da wohl widersprechen? Und dabei hat sie heute den ganzen Tag gescheuert, gewaschen und geflickt; das Waschfaß hat sie selbst mit ihren schwachen Kräften ins Zimmer geschleppt; dabei ging ihr der Atem aus, und sie ist auf das Bett hingefallen. Und heute vormittag bin ich mit ihr zusammen in einen Laden, gegangen, um für Polenjka und Lida Schuhe zu kaufen, weil ihre alten vollständig zerrissen sind; aber als wir nun bezahlen sollten, hatten wir nicht genug Geld; es fehlte eine ziemliche Menge. Und sie hatte so hübsche kleine Stiefelchen ausgesucht; denn sie besitzt einen guten Geschmack; Sie kennen sie nur nicht … Und da fing sie im Laden so an zu schluchzen, in Gegenwart des Kaufmanns und seiner Leute, darüber, daß das Geld nicht reichte … Ach, es tat mir so leid, das mit anzusehen!«

»Unter solchen Umständen ist es schon zu verstehen, daß Sie … so leben«, sagte Raskolnikow mit bitterem Lächeln.

»Und tut sie Ihnen denn nicht auch leid?« ereiferte sich Sonja wieder. »Ich weiß doch, daß Sie selbst ihr das letzte Geld, das Sie hatten, hingegeben haben, und Sie hatten eigentlich noch nichts von dem Elend gesehen. Und wenn Sie erst alles sähen, o Gott! Und wie oft, wie oft bin ich daran schuld gewesen, daß sie weinte! Noch in der vorigen Woche! Ach, ich Schändliche! Nur eine Woche vor seinem Tode! Ich habe hartherzig gehandelt. Und wie oft, wie oft habe ich das getan! Ach, ich habe heute den ganzen Tag daran gedacht, und es ist mir so schmerzlich gewesen!«

Bei diesen Worten rang Sonja, durch die Erinnerung schmerzlich ergriffen, die Hände.

»Sie behaupten, Sie seien hartherzig gewesen?«

»Ja, das bin ich gewesen! Ich war damals zu ihnen hingekommen«, fuhr sie weinend fort, »und da sagte der Verstorbene zu mir: ›Lies mir etwas vor, Sonja, ich habe Kopfschmerzen; lies mir etwas vor, … da ist ein Buch‹; er hatte da irgendein Buch, das hatte er von Andrej Semjonowitsch Lebesjatnikow bekommen; der wohnt auch dort; von dem bekam er immer solche seltsamen Bücher. Und ich sagte: ›Ich habe keine Zeit, ich muß weggehen‹, und wollte ihm nicht vorlesen. Und ich war auch hauptsächlich nur deshalb zu ihnen gegangen, um Katerina Iwanowna meine Kragen zu zeigen; nämlich eine Althändlerin, Lisaweta, hatte mir Kragen und Manschetten besorgt, die waren recht billig, sehr hübsch, ganz neu, mit einem netten Muster. Und sie gefielen Katerina Iwanowna sehr; sie knöpfte sich einen Kragen um und legte ein Paar Manschetten an und besah sich im Spiegel; sie gefielen ihr sehr; ganz außerordentlich gefielen sie ihr. ›Schenk sie mir, Sonja‹, sagte sie, ›bitte, sei so gut!‹ Sie sagte ›bitte!‹ und hätte sie so sehr gern gehabt. Aber sie hat ja jetzt gar keine Verwendung für solche Wäsche; es schwebte ihr wohl nur die frühere, glückliche Zeit vor. Sie betrachtete sich im Spiegel und fand sich so schön damit, und sie hat doch nichts, was dazugehört, nichts, einfach gar nichts an Kleidern und sonstigen Sachen; und schon seit vielen Jahren nicht! Aber sie bittet nie jemand um etwas; sie ist stolz und gibt lieber selbst das Letzte weg. Und nun hatte sie mich doch gebeten – so hatten ihr die Kragen und die Manschetten gefallen! Aber mir tat es leid, sie wegzugeben, und ich sagte: ›Wozu können Sie sie denn gebrauchen, Katerina Iwanowna?‹ So habe ich gesagt: ›Wozu können Sie sie gebrauchen?‹ Das hätte ich nicht zu ihr sagen sollen! Sie sah mich so traurig an, und es war ihr so schmerzlich, daß ich es ihr abgeschlagen hatte, und es tat mir so leid, das zu sehen … Und nicht wegen der Kragen und Manschetten war sie traurig, sondern darüber, daß ich ihr etwas abgeschlagen hatte; das sah ich recht wohl. Ach, wie gern möchte ich jetzt das alles ungeschehen machen und alle meine früheren Worte zurücknehmen! … Wie schändlich bin ich gewesen! … Aber wozu sage ich Ihnen das? Das hat ja für Sie kein Interesse!«

»Also diese Althändlerin Lisaweta haben Sie gekannt?«

»Ja … Haben Sie sie etwa auch gekannt?« fragte Sonja etwas verwundert.

»Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht, im letzten Stadium; sie wird bald sterben«, sagte Raskolnikow nach kurzem Schweigen, ohne auf Sonjas Frage zu antworten.

»Ach nein, nein, nein!«

Und Sonja ergriff unwillkürlich und unbewußt seine beiden Hände, als wollte sie ihn anflehen, dies abzuwenden.

»Aber es ist ja sogar das beste, wenn sie stirbt.«

»Nein, das ist nicht das beste, nicht das beste, durchaus nicht das beste!« rief sie angstvoll und heftig.

»Und was wird dann aus den Kindern? Wo werden Sie die unterbringen? Sie werden sie doch wohl zu sich nehmen?«

»Ach, ich weiß es nicht!« rief Sonja verzweifelt und griff nach ihrem Kopfe.

Es war augenscheinlich, daß sie selbst sich schon oft, schon sehr oft diesen Gedanken hatte durch den Kopf gehen lassen und Raskolnikow ihn nur von neuem wachgerufen hatte.

»Nun, und wenn Sie jetzt, noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten, krank werden und man Sie ins Krankenhaus bringt, was wird dann aus den andern?« fragte er mit erbarmungsloser Hartnäckigkeit weiter.

»Ach, sagen Sie doch so etwas nicht! Sagen Sie doch so etwas nicht! Das kann doch nicht geschehen!« Sonjas Gesicht verzerrte sich in furchtbarer Angst.

»Warum soll das nicht geschehen können?« fuhr Raskolnikow mit grausamem Lächeln fort. »Sind Sie dagegen irgendwie versichert? Also, was wird dann aus den andern werden? Sie werden alle zusammen auf die Straße gehen; die Mutter wird husten und betteln und mit dem Kopfe gegen eine Wand schlagen, wie heute, und die Kinder werden weinen … Und dann wird sie hinfallen und nach der Polizeiwache gebracht werden und von da ins Krankenhaus, und dann wird sie sterben, und die Kinder …«

»Ach nein! Das wird Gott nicht zulassen!« rang es sich wie ein Angstschrei aus Sonjas gequälter Brust. Während sie seine Worte anhörte, hatte sie ihn flehend angeblickt und in stummer Bitte die Hände gefaltet, als ob alles von ihm abhinge.

Raskolnikow stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Sonja stand in tiefem Gram da, mit gesenktem Kopfe und schlaff herabhängenden Armen.

»Können Sie nicht etwas sparen? Etwas zurücklegen für die Zeit der Not?« fragte er, indem er plötzlich vor ihr stehenblieb.

»Nein«, flüsterte Sonja.

»Selbstverständlich sagen Sie nein! Aber haben Sie es auch versucht?« fügte er beinahe spöttisch hinzu.

»Ja, ich habe es versucht.«

»Aber es ging nicht! Nun ja, natürlich! Wozu frage ich da erst!«

Er setzte seine Wanderung im Zimmer fort. Es verging wieder etwa eine Minute.

»Sie nehmen nicht täglich etwas ein?«

Sonja wurde noch befangener als vorher, und die Röte stieg ihr wieder ins Gesicht.

»Nein«, flüsterte sie mit qualvoller Anstrengung.

»Mit Polenjka wird es gewiß ebenso werden«, sagte er plötzlich.

»Nein! Nein! Das kann nicht sein, nein!« schrie Sonja in Verzweiflung laut auf, als hätte jemand sie mit einem Messer verwundet. »Gott wird so etwas Fürchterliches nicht zulassen!«

»Er läßt es ja doch bei so vielen andern zu!«

»Nein, nein! Gott wird sie davor bewahren!« wiederholte sie ganz außer sich.

»Aber vielleicht gibt es überhaupt keinen Gott«, antwortete Raskolnikow mit einer Art von Schadenfreude, lachte auf und sah sie an.

Auf Sonjas Gesichte ging plötzlich eine schreckliche Veränderung vor; krampfhafte Zuckungen liefen darüber hin. Ein unbeschreiblicher Vorwurf lag in dem Blicke, mit dem sie ihn ansah; sie wollte etwas sagen, konnte aber nichts herausbringen; sie brach nur in ein bitterliches Schluchzen aus und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Sie sagen, bei Katerina Iwanowna sei der Verstand gestört; aber auch Ihr eigener Verstand ist gestört«, sagte er nach einem kurzen Schweigen.

Es vergingen fünf Minuten. Er ging die ganze Zeit über schweigend auf und ab, ohne sie anzublicken. Endlich trat er an sie heran; seine Augen funkelten. Er faßte sie mit beiden Händen an den Schultern und sah ihr gerade in das von Tränen überströmte Gesicht. Seine trockenen, heißen Augen blickten scharf und durchdringend; seine Lippen zuckten heftig … Plötzlich beugte er sich mit dem ganzen Leibe nieder, warf sich auf den Boden und küßte ihren Fuß. Sonja wankte erschrocken von ihm wie von einem Wahnsinnigen zurück. Und er sah auch wirklich völlig wie ein Wahnsinniger aus.

»Was ist Ihnen? Was tun Sie da? Vor mir!« murmelte sie erbleichend, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Er erhob sich sofort wieder.

»Nicht vor dir habe ich meine Knie gebeugt, sondern vor dem ganzen unendlichen Leide der Menschheit«, sagte er wie in wildem Ingrimm und trat ans Fenster. »Höre«, fügte er hinzu, als er einen Augenblick darauf zu ihr zurückkam, »ich habe vorhin zu einem Verleumder gesagt, daß er nicht soviel wert ist wie dein kleiner Finger … und daß ich heute meiner Schwester eine Ehre angetan habe, indem ich sie neben dir sitzen ließ.«

»Ach, wie haben Sie nur so etwas sagen können! Und etwa gar in Gegenwart Ihrer Schwester?« rief Sonja erschrocken. »Neben mir sitzen! Eine Ehre! Aber ich bin ja eine … Ehrlose … Ach, wie haben Sie nur so etwas sagen können!«

»Nicht wegen deiner Ehrlosigkeit und Sünde habe ich das von dir gesagt, sondern wegen deines großen Leides. Daß du eine große Sünderin bist, das ist die Wahrheit«, fügte er in schwärmerischem Tone hinzu. »Und ganz besonders bist du deshalb eine Sünderin, weil du dich nutzlos getötet und zum Opfer gebracht hast. Ist das nicht gräßlich? Ist das nicht gräßlich, daß du in diesem Schmutze lebst, den du so hassest, und gleichzeitig selbst weißt (du brauchst ja nur die Augen zu öffnen), daß du niemandem dadurch hilfst, niemand aus seinem Elend errettest! Ja, ich bitte dich um alles in der Welt«, rief er beinahe wütend, »sage mir doch nur: wie kann solche Schande und Gemeinheit in deiner Seele neben andern, ganz entgegengesetzten, heiligen Empfindungen Raum finden? Da wäre es doch richtiger, tausendmal richtiger und vernünftiger, kopfüber ins Wasser zu springen und mit einem Schlage alledem ein Ende zu machen!«

»Aber was soll dann aus den andern werden?« fragte Sonja leise und blickte ihn mit schmerzlichem Ausdrucke an; verwundert schien sie aber über seinen Vorschlag ganz und gar nicht zu sein. Raskolnikow sah sie in seltsamer Weise prüfend an.

Schon allein in ihrem Blicke hatte er alles gelesen. Also sie hatte tatsächlich diesen Gedanken bereits selbst gehabt. Vielleicht hatte sie in der Verzweiflung schon oftmals und ernstlich überlegt, wie sie ihrem Elende mit einem Schlage ein Ende machen könne, so ernstlich, daß sie sich jetzt über seinen Vorschlag weiter nicht wunderte. Selbst die Grausamkeit seiner Worte war ihr nicht zum Bewußtsein gekommen; auch der Sinn seiner Vorwürfe und seine besondre Auffassung von ihrer Schande war ihr offenbar unklar geblieben; auch das durchschaute er. Er seinerseits aber begriff vollständig, welche Folterqualen, und zwar schon seit langer Zeit, ihr der Gedanke an ihre ehrlose, schmähliche Lage bereitete. ›Was in aller Welt‹, dachte er, ›was hat sie bisher zurückhalten können, alledem mit einem Schlage ein Ende zu machen?‹ Er hatte erst jetzt völlig verstanden, welch eine Bedeutung für dieses Mädchen diese armen, kleinen, vaterlosen Kinderchen hatten und diese bedauernswerte, halb irrsinnige, schwindsüchtige Katerina Iwanowna, die mit dem Kopfe gegen die Wand schlug. Aber nicht minder klar war es ihm, daß Sonjas Charakter und die freilich nur mäßige Bildung, die sie genossen hatte, ihr hatten ein Antrieb sein müssen, sich aus dieser Lage zu befreien. So war für ihn immer noch nicht die Frage beantwortet: wenn sie nicht die Kraft hatte, sich ins Wasser zu stürzen, wie hatte sie so lange schon in dieser Lage verbleiben können, ohne den Verstand zu verlieren? Gewiß, er sah ein, daß Sonjas Lage eine Erscheinung war, wie sie nur gelegentlich in unsern gesellschaftlichen Verhältnissen vorkommt, wiewohl leider keineswegs nur ganz vereinzelt und ausnahmsweise. Aber gerade diese Besonderheit der Lage, diese wenn auch nur geringe Bildung und ihr ganzes Vorleben hätten sie doch, meinte er, gleich beim ersten Schritte auf diesem abscheulichen Wege zum Selbstmorde führen müssen. Was hielt sie denn im Leben zurück? Doch wahrlich nicht die Unzucht? Mit dieser ganzen Gemeinheit hatte sie offenbar nur physisch zu schaffen gehabt; in ihr Herz hatte noch kein Atom der wirklichen Unzucht Eingang gefunden. Das sah er; sie stand ja vor ihm wie aus Glas …

›Drei Wege hat sie vor sich‹, dachte er, ›sich in den Kanal zu stürzen, ins Irrenhaus zu kommen oder … oder der wirklichen Unzucht zu verfallen, die den Verstand betäubt und das Herz gefühllos macht.‹

Die letzte von diesen drei Möglichkeiten war ihm am widerwärtigsten; aber er war bereits Skeptiker, er war jung, ein abstrakter Denker und somit Pessimist, und daher konnte er nicht umhin zu glauben, daß dieser letzte Ausgang, das heißt die Unzucht, am meisten Wahrscheinlichkeit habe.

›Aber soll denn wirklich‹, rief er in Gedanken aus, ›soll denn wirklich dieses Wesen, das sich die Reinheit der Seele noch bewahrt hat, sich mit sehenden Augen schließlich in diesen greulichen, stinkenden Pfuhl hineinziehen lassen? Hat dieser Prozeß vielleicht schon begonnen, und hat sie wirklich ihren Zustand nur deswegen bisher ertragen können, weil ihr das Laster nicht mehr so widerwärtig erscheint? Nein, nein, das kann nicht sein!‹ rief er ähnlich wie vorhin Sonja. ›Nein, was sie von dem Sprunge in den Kanal bisher zurückhielt, das war der Gedanke an die Sündhaftigkeit des Selbstmordes und der Gedanke an jene andern. Und wenn sie bisher noch nicht den Verstand verloren hat … Aber wer sagt denn das, daß sie den Verstand bisher noch nicht verloren hat? Hat sie denn noch ihren gesunden Verstand? Kann man etwa bei gesundem Verstande so urteilen, wie sie es tut? Wie kann sie denn so am Rande des Verderbens, dicht am Rande dieses stinkenden Pfuhles sitzen, in den eine geheime Gewalt sie schon hineinzieht, und abwinken und sich die Ohren zustopfen, wenn sie jemand auf die Gefahr aufmerksam macht? Was will sie denn? Erwartet sie ein Wunder? Das scheint sie wirklich zu tun. Sind das nicht lauter Anzeichen geistiger Störung?‹

Hartnäckig verblieb er bei diesem Gedanken. Dieser Ausgang gefiel ihm sogar besser als jeder andre. Er betrachtete sie schärfer.

»Du betest wohl viel zu Gott, Sonja?« fragte er sie.

Sonja schwieg; er stand neben ihr und wartete auf ihre Antwort.

»Was wäre ich ohne Gott?« flüsterte sie schnell mit sicherer Stimme, blickte ihn einen Augenblick mit aufleuchtenden Augen an und drückte ihm fest die Hand,

›So ist es also!‹ dachte er.

»Und was empfängst du denn von Gott dafür?« examinierte er sie weiter.

Sonja schwieg lange, als wäre sie nicht imstande zu antworten. Ihre schwächliche Brust hob und senkte sich stark vor Aufregung.

»Seien Sie still! Fragen Sie nicht so! Sie sind ein Unwürdiger …«, rief sie endlich und blickte ihn streng und zornig an.

›So ist es also! So ist es also!‹ wiederholte er hartnäckig in Gedanken.

»Alles gibt er mir!« flüsterte sie hastig und schlug wieder die Augen nieder.

›Das ist der Weg, den sie einschlägt; das ist die Lösung der Frage‹, sagte er sich mit voller Bestimmtheit im stillen und musterte sie mit brennendem Interesse.

Mit einem neuen, eigentümlichen, beinahe physisch schmerzhaften Gefühle schaute er auf dieses blasse, magere, unregelmäßige, eckige Gesichtchen, auf diese sanften blauen Augen, in denen ein solches Feuer, ein so starker, energischer Affekt aufleuchten konnte, auf diesen schmächtigen Körper, der noch vor Entrüstung und Zorn bebte, und dies alles kam ihm immer seltsamer vor, beinahe unmöglich. ›Eine Gottesnärrin!‹ sagte er sich überzeugt und bestimmt.

Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal bei seinem Hin- und Hergehen hatte er es bemerkt; jetzt nahm er es in die Hand und besah es. Es war das Neue Testament in russischer Übersetzung. Das Buch war in Leder gebunden, aber schon alt und abgenutzt.

»Wo hast du das her?« rief er ihr von der entfernten Ecke des Zimmers aus zu.

Sie stand noch immer an derselben Stelle, drei Schritte vom Tische entfernt.

»Es hat es mir jemand gebracht«, antwortete sie, anscheinend nur ungern und ohne ihn anzusehen.

»Wer hat es dir gebracht?«

»Lisaweta. Ich hatte sie darum gebeten.«

›Lisaweta! Seltsam!‹ dachte er.

Hier bei Sonja kam ihm alles mit jedem Augenblicke seltsamer und wunderbarer vor. Er trug das Buch zu der Kerze hin und fing an, darin zu blättern.

»Wo steht hier die Geschichte von Lazarus?« fragte er.

Sonja blickte hartnäckig auf den Fußboden und antwortete nicht. Sie stand von dem Tische halb abgewendet.

»Die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus, wo ist die? Suche sie mir, Sonja.«

Sie sah mit schrägem Blicke nach ihm hin.

»Sie suchen an der falschen Stelle … Im Evangelium des Johannes …«, flüsterte sie in strengem Tone, ohne zu ihm zu treten.

»Such es und lies es mir vor«, sagte er und setzte sich hin; einen Ellbogen auf den Tisch aufsetzend, den Kopf in die Hand stützend und finster zur Seite starrend, machte er sich fertig, zuzuhören.

›In drei Wochen ist sie im Irrenhause! Ich werde wohl auch da sein, wenn mir nicht noch Schlimmeres widerfährt‹, murmelte er vor sich hin.

Sonja nahm Raskolnikows sonderbares Verlangen mißtrauisch auf und trat zögernd zum Tische. Indes faßte sie nach dem Buche.

»Haben Sie es denn nicht auch schon gelesen?« fragte sie und blickte ihn über den Tisch herüber mit gesenktem Kopfe von unten her an. Der Ton, in dem sie sprach, wurde immer strenger.

»Das ist schon lange her … Als ich in die Schule ging. Lies doch!«

»Haben Sie es denn aber nicht in der Kirche gehört?«

»Nein, da bin ich nie hingegangen. Aber du gehst wohl oft hin?«

»N–nein«, flüsterte Sonja.

Raskolnikow lächelte.

»Ich verstehe … Da gehst du auch wohl morgen zu dem Totenamt für deinen Vater nicht mit hinein?«

»Doch; ich werde hineingehen. Ich bin auch vorige Woche in der Kirche gewesen, … ich habe eine Totenmesse lesen lassen.«

»Für wen denn?«

»Für Lisaweta. Die ist mit einem Beile erschlagen worden.«

Der gereizte Zustand seiner Nerven wurde immer schlimmer; der Kopf begann ihm zu schwindeln.

»Warst du mit Lisaweta befreundet?«

»Ja, … sie war fromm und rechtschaffen, … sie kam manchmal zu mir, … aber nur selten, … sie konnte nicht oft … Wir lasen zusammen und … sprachen darüber miteinander. Sie wird Gott schauen.«

Einen seltsamen Klang hatten für sein Ohr diese biblischen Worte, und schon wieder hatte er etwas Neues gehört: Sonja und Lisaweta hatten religiöse Zusammenkünfte gehabt, und beide waren Gottesnärrinnen.

›Hier kann man noch selbst so ein verrückter Heiliger werden! So etwas ist ansteckend!‹ dachte er.

»Lies!« rief er plötzlich eigensinnig und gereizt.

Sonja zögerte immer noch. Das Herz klopfte ihr heftig. Sie fand nicht den Mut dazu, ihm vorzulesen. Der Anblick der »unglücklichen Geisteskranken« schnitt ihm ins Herz.

»Was haben Sie denn davon? Sie glauben ja doch nicht daran?« flüsterte sie leise; sie konnte kaum atmen.

»Lies! Ich will es so!« wiederholte er hartnäckig. »Du hast doch deiner Freundin Lisaweta auch vorgelesen.«

Sonja schlug das Buch auf und suchte die Stelle. Die Hände zitterten ihr; es versagte ihr die Stimme. Zweimal fing sie an und konnte das erste Wort nicht aus der Kehle bekommen.

»Es lag aber einer krank, mit Namen Lazarus, von Bethanien«, brachte sie endlich mit Anstrengung hervor; aber hier brach ihre Stimme plötzlich mit einem unartikulierten Laute ab wie eine zu stark gespannte, zerreißende Saite. Sie bekam keine Luft, die Brust war ihr wie zusammengeschnürt.

Raskolnikow hatte bis zu einem gewissen Grade Verständnis dafür, warum es Sonja widerstrebte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so schärfer und gereizter bestand er auf seinem Verlangen. Er verstand recht wohl, wie schwer es ihr jetzt werden mußte, ihr ganzes seelisches Empfinden ans Licht zu bringen und zu enthüllen. Er verstand, daß diese Gefühle in der Tat bei ihr ein wirkliches und vielleicht schon seit langer Zeit gehütetes Geheimnis bildeten, vielleicht schon im Kindesalter, schon in der Zeit, da sie noch in der Familie lebte, neben dem unglücklichen Vater und der vor Kummer irrsinnig gewordenen Stiefmutter, mitten unter den hungrigen Kindern, bei sinnlosem Geschrei und ewigen Vorwürfen. Aber gleichzeitig erkannte er jetzt, und zwar mit Sicherheit, daß sie trotz der Beklemmung und der Beängstigung, die jetzt beim Beginn des Lesens an ihr sichtbar waren, doch gleichzeitig selbst von dem heißen Wunsche, vorzulesen, erfüllt war, und zwar gerade ihm vorzulesen, damit er, er es höre, und gerade jetzt – mochte nachher kommen, was da wollte! … Er hatte das in ihren Augen gelesen und aus ihrer schwärmerischen Erregung geschlossen! … Sie bezwang sich, unterdrückte den Krampf in der Kehle, der ihr beim ersten Verse die Stimme geraubt hatte, und las das elfte Kapitel aus dem Evangelium des Johannes weiter vor. So gelangte sie bis zum neunzehnten Verse:

»Und viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörte, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: ›Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber ich weiß auch noch, daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.‹«

Hier hielt sie wieder inne; sie merkte, daß ihr die Stimme wieder zittern und versagen werde, und schämte sich dessen …

»Jesus spricht zu ihr: ›Dein Bruder soll auferstehen.‹ Martha spricht zu ihm: ›Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage.‹ Jesus spricht zu ihr: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubest du das?‹ Sie spricht zu ihm:« (und anscheinend nur unter Schmerzen Atem holend, las Sonja mit deutlicher, kräftiger Stimme, als ob sie selbst vor aller Ohren ein Bekenntnis ihres Glaubens ablegte) »›Herr, ja; ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.‹«

Sie hielt einen Augenblick inne, hob schnell die Augen zu Raskolnikow, beherrschte sich aber sofort wieder und las weiter. Raskolnikow saß da und hörte, ohne sich zu regen, zu. Er wendete sich nicht zu der Vorleserin hin, sondern hatte den Ellbogen auf den Tisch gestützt und sah zur Seite. Nun waren sie bis zum zweiunddreißigsten Verse gelangt:

»Als nun Maria kam, da Jesus war, und sähe ihn, fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: ›Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben!‹ Als Jesus sie sahe weinen und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst und sprach: ›Wo habt ihr ihn hingelegt?‹ Sie sprachen zu ihm: ›Herr, komm und siehe es.‹ Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: ›Siehe, wie hat er ihn so liebgehabt!‹ Etliche aber unter ihnen sprachen: ›Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe?‹«

Raskolnikow wandte sich zu ihr um und blickte sie aufgeregt an. Ja, richtig! Sie zitterte am ganzen Leibe in wirklichem, wahrem Fieber. Er hatte das erwartet. Sie näherte sich jetzt der Stelle, die von dem größten, unerhörten Wunder handelt, und das Gefühl eines gewaltigen Triumphes ergriff sie. Ihre Stimme wurde klangvoll wie Metall; Triumph und Freude klangen aus ihr heraus und verliehen ihr Kraft. Die Zeilen verwirrten sich vor ihrem Blicke, weil es ihr dunkel vor den Augen wurde; aber sie konnte das, was sie las, auswendig. Bei dem letzten Verse: »Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat«, hatte sie, die Stimme senkend, in heißer Erregung den Zweifel, den Vorwurf und den Tadel der ungläubigen, blinden Juden zum Ausdruck gebracht, die nun gleich, einen Augenblick darauf, wie vom Donner gerührt niederfallen, schluchzen und glauben würden … ›Auch er, auch er, der auch ein Verblendeter und Ungläubiger ist, auch er wird es jetzt gleich hören, auch er wird glauben, ja, ja! Jetzt gleich, jetzt gleich!‹ Dieser Gedanke zuckte ihr durch den Kopf, und sie zitterte vor freudiger Erwartung.

»Jesus aber ergrimmte abermal in sich selbst und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft, und ein Stein darauf gelegt. Jesus sprach: ›Hebt den Stein ab.‹ Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: ›Herr, er stinkt schon; denn er ist vier Tage gelegen.‹«

Sie legte einen starken Ton auf das Wort »vier«.

»Jesus spricht zu ihr: ›Hab ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen?‹ Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: ›Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast. Doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest; aber um des Volks willen, das umherstehet, sage ich es, daß sie glauben, du habest mich gesandt.‹ Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: ›Lazare, komm heraus!‹ Und der Verstorbene kam heraus« (sie las dies mit lauter, verzückter Stimme, bebend und fröstelnd, als sähe sie alles mit eigenen Augen vor sich), »gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Gesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: ›Löset ihn auf und lasset ihn gehen.‹ Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.«

Weiter las sie nicht, und sie war auch nicht imstande dazu; sie machte das Buch zu und stand schnell vom Stuhle auf.

»Da ist die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus zu Ende«, sagte sie stockend und mit finsterem Gesichte und stand nun regungslos da, zur Seite abgewandt; sie wagte vor Scham nicht die Augen zu ihm zu erheben. Ihr fieberhaftes Zittern dauerte noch fort. Das Licht in dem verbogenen Leuchter war schon ganz tief herabgebrannt und beleuchtete trübe in diesem ärmlichen Zimmer den Mörder und die Dirne, die sich so sonderbar zum Lesen des ewigen Buches zusammengefunden hatten. Es vergingen fünf Minuten oder noch mehr.

»Ich bin hergekommen, um mit dir über eine ernste Angelegenheit zu reden«, sagte Raskolnikow endlich laut mit düsterer Miene, erhob sich und trat zu ihr hin. Sie schaute auf und sah ihn schweigend an. Sein Blick war überaus finster; eine wilde Entschlossenheit sprach aus ihm.

»Ich habe mich heute von meinen Angehörigen getrennt«, sagte er, »von meiner Mutter und von meiner Schwester. Ich gehe nun nicht wieder zu ihnen; alle Bande, die mich mit ihnen verknüpften, habe ich zerrissen.«

»Warum?« fragte Sonja; sie war wie betäubt.

Ihre heutige Begegnung mit seiner Mutter und seiner Schwester hatte auf sie einen außerordentlichen Eindruck gemacht, der allerdings ihr selbst nicht recht klar war. Die Mitteilung, daß er mit ihnen völlig gebrochen habe, erfüllte sie mit Schrecken.

»Ich habe jetzt niemand auf der Welt als dich«, fügte er hinzu. »Laß uns unsern Weg zusammen gehen … Darum bin ich zu dir gekommen. Wir sind beide verflucht; so laß uns denn auch zusammen gehen.«

Seine Augen funkelten. ›Wie halb irrsinnig!‹ dachte nun Sonja ihrerseits.

»Wohin sollen wir denn gehen?« fragte sie angstvoll und wich unwillkürlich vor ihm zurück.

»Wie kann ich das wissen? Ich weiß nur, daß derselbe Weg vor uns liegt; das weiß ich sicher – weiter nichts. Wir haben das gleiche Ziel.«

Verständnislos sah sie ihn an. Sie verstand nur das eine, daß er tief unglücklich, grenzenlos unglücklich war.

»Wenn du zu andern Menschen so sprichst, wie du zu mir gesprochen hast, so wird dich niemand verstehen«, fuhr er fort, »aber ich habe dich verstanden. Du bist mir unentbehrlich; darum bin ich zu dir gekommen.«

»Ich verstehe Sie nicht«, flüsterte Sonja.

»Du wirst mich später verstehen. Hast du denn nicht das gleiche getan wie ich? Auch du bist über eine Grenze hinübergeschritten, … hast die Kraft besessen, hinüberzuschreiten. Du hast Hand an dich gelegt; du hast ein Leben vernichtet, … dein eigenes Leben; aber das macht keinen Unterschied. Du wärest befähigt, ein verständiges, sittlich gutes Leben zu führen, und wirst auf dem Heumarkt enden … Aber du kannst diesen Zustand nicht ertragen, und wenn du allein bleibst, so wirst du den Verstand verlieren, gerade wie ich. Du bist schon jetzt wie irrsinnig; also müssen wir beide zusammen gehen, denselben Weg! So laß es uns denn tun!«

»Aber warum, warum sagen Sie denn das alles?« rief Sonja, durch seine Worte in eine seltsame, stürmische Aufregung versetzt.

»Warum ich das sage? Weil es so nicht bleiben kann; darum! Wir müssen unsre Lage doch endlich ernsthaft und ohne Selbsttäuschung erwägen und nicht wie kleine Kinder weinen und schreien: ›Gott wird es nicht zulassen!‹ Nun also, was soll dann werden, wenn du wirklich morgen ins Krankenhaus gebracht wirst? Deine Stiefmutter ist irrsinnig und schwindsüchtig; die stirbt bald; und was wird dann aus den Kindern? Hältst du für möglich, daß Polenjka vor dem sittlichen Untergange bewahrt bleibt? Hast du denn nicht schon hier an den Straßenecken Kinder gesehen, die von ihren Müttern auf den Bettel ausgeschickt werden? Ich habe festgestellt, wo und in welcher Umgebung diese Mütter wohnen. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Da ist ein Knabe von sieben Jahren schon unsittlich und ein Dieb. Und doch sind die Kinder ein Ebenbild Christi: ›Ihrer ist das Himmelreich.‹ Er hat geboten, sie zu achten und zu lieben; sie sind die Menschheit der Zukunft …«

»Was soll ich denn tun? Was soll ich tun?« rief Sonja schluchzend und händeringend.

»Was du tun sollst? Niederreißen, was niedergerissen werden muß, ein für allemal, und das Leid auf dich nehmen! Du verstehst mich nicht? Später wirst du mich verstehen … Freiheit und Macht müssen wir erlangen, besonders Macht! Macht über die ganze zitternde Kreatur und über dieses ganze Ameisenvolk! … Das ist das Ziel! Vergiß das nicht! Das ist die Mahnung, die ich dir auf den Weg mitgebe. Vielleicht spreche ich mit dir jetzt zum letztenmal. Wenn ich morgen nicht zu dir kommen sollte, so wirst du anderweitig alles erfahren, und dann erinnere dich an meine jetzigen Worte. Und irgendeinmal, später, nach Jahren, im Laufe der Zeit, wirst du vielleicht auch verstehen, was sie bedeuteten. Sollte ich aber morgen zu dir kommen, so will ich dir sagen, wer Lisaweta getötet hat. Leb wohl!«

Sonja fuhr in jähem Schreck zusammen.

»Wissen Sie denn, wer sie getötet hat?« fragte sie ihn; sie war ganz starr vor Entsetzen und sah ihn verstört an.

»Ja, ich weiß es und werde es dir sagen … Dir, nur dir. Ich habe dich dazu erwählt. Ich werde nicht kommen, um dich um Verzeihung zu bitten, sondern ich werde es dir einfach sagen. Ich habe dich schon lange dazu erwählt, dir dies zu sagen; schon damals, als dein Vater mir von dir erzählte und als Lisaweta noch lebte, nahm ich es mir vor. Lebe wohl! Gib mir nicht die Hand! Auf morgen!«

Er ging hinaus. Sonja starrte den Hinausgehenden an wie einen Irrsinnigen; aber auch sie selbst war wie wahnsinnig und war sich dessen bewußt. Der Kopf schwindelte ihr. ›O Gott! Wie kann er wissen, wer Lisaweta getötet hat? Was haben diese Worte zu bedeuten? Es ist entsetzlich!‹

Aber auf den wahren Sinn kam sie nicht, mit keinem Gedanken. Oh, er mußte furchtbar unglücklich sein! … Von seiner Mutter und von seiner Schwester hatte er sich losgesagt. Warum? Was war vorgefallen? Und was hatte er nur vor? Was hatte er ihr doch noch gesagt? Er hatte ihr den Fuß geküßt und gesagt … gesagt … ja, ganz deutlich hatte er gesagt, er könne ohne sie nicht mehr leben … O Gott!

In Fieber und wirren Gedanken brachte Sonja die ganze Nacht zu. Von Zeit zu Zeit sprang sie auf, weinte und rang die Hände; dann versank sie wieder in fieberhaften Schlaf; sie träumte von Polenjka, von Katerina Iwanowna, von Lisaweta, vom Vorlesen aus dem Evangelium und von ihm, … von ihm mit dem bleichen Gesicht, mit den glühenden Augen, … und wie er ihr die Füße küßt und weint … O Gott!

Auf der andern Seite der Tür in der Wand rechts, eben der Tür, welche Sonjas Zimmer von der Wohnung der Frau Gertruda Karlowna Rößlich trennte, befand sich ein schon geraume Zeit leerstehendes Zimmer, das zu Frau Rößlichs Wohnung gehörte und zu vermieten war, wie das ein Papptäfelchen am Haustor und ein Zettel an einer Scheibe des nach dem Kanal hinausgehenden Fensters besagte. Sonja hatte sich schon seit langer Zeit daran gewöhnt, dieses Zimmer für unbewohnt zu halten. Indessen hatte während dieses ganzen Gespräches Herr Swidrigailow in dem leeren Zimmer an der Tür gestanden und heimlich zugehört. Als Raskolnikow sich entfernt hatte, blieb Herr Swidrigailow noch einen Augenblick überlegend stehen, dann ging er auf den Zehen in sein Zimmer, das neben dem leeren lag, holte von dort einen Stuhl und stellte ihn leise dicht an die Tür, die zu Sonjas Zimmer führte. Das Gespräch war ihm merkwürdig und interessant erschienen und hatte ihm ganz außerordentlich gefallen, so sehr, daß er sich sogar einen Stuhl hinstellte, um künftig, möglicherweise schon morgen, nicht wieder die Unbequemlichkeit zu haben, eine ganze Stunde lang stehen zu müssen; er wollte sich die Sache bequemer einrichten, um das Vergnügen ungestört auskosten zu können.

EPUB

Download als ePub

 

Downloaden sie das eBook als EPUB. Geeignet für alle SmartPhones, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit EPUB zurechtkommen.

PDF

Download als PDF

 

Downloaden sie das eBook als PDF.
Geeignet für alle PC, Tablets und sonst. Lesegeräte, die mit PDF zurechtkommen.

Gratis + Sicher

  • Viren- und Trojanergeprüft
  • ohne eMailadresse
  • ohne Anmeldung
  • ohne Wartezeit
  • Werbefreie Downloads