9. Kapitel

9. Kapitel

Alles, sogar die Natur selbst, schien sich gegen Herrn Goljadkin verschworen zu haben; aber er stand noch auf seinen Füßen und war noch nicht besiegt; er fühlte, daß er nicht besiegt war. Er war bereit, weiter zu kämpfen. Als er nach der ersten Betäubung wieder zur Besinnung kam, rieb er sich mit einem solchen Gefühl der Energie die Hände, daß man schon bei seinem bloßen Anblick zu dem Schlusse kommen konnte, er werde nicht nachgeben. nahm er, um keine Zeit zu verlieren, eine Droschke und fuhr schnell nach Hause. »Nun? Wie fühlst du dich jetzt?« dachte er bei sich; »wie ist dir jetzt zumute, Jakow Petrowitsch? Was wirst du machen? Was wirst du jetzt anfangen, du Schuft, du Halunke? Da hast du dich nun in die ärgste Lage gebracht, und jetzt weinst du, jetzt winselst du!« So verhöhnte Herr Goljadkin sich selbst, während er auf dem Sitze der rüttelnden und stoßenden Equipage seines Rosselenkers auf- und niederhüpfte. Sich zu verhöhnen und in dieser Weise seine Wunden aufzureißen war in diesem Augenblicke für Herrn Goljadkin eine Art von hohem Genusse, ja beinah eine Wonne. »Na, wenn jetzt«, dachte er, »irgendein Zauberer käme oder es sich auf amtlichem Wege so gestaltete, daß man mir sagte: ›Goljadkin, gib einen Finger von deiner rechten Hand her, dann sollst du quitt sein; es soll dann keinen andern Goljadkin geben, und du wirst glücklich sein; nur den Finger wirst du nicht mehr haben,‹ – dann würdest du den Finger hingeben; du würdest ihn unbedingt hingeben, würdest ihn hingeben, ohne die Stirn zu runzeln. Hol der Teufel diese ganze Geschichte!« rief der verzweifelte Titularrat schließlich. »Wozu ist denn das alles passiert? Daß das alles auch passieren mußte, gerade das, ausgerechnet das, als ob nicht irgend etwas anderes hätte passieren können! Und alles war vorher gut; alle waren zufrieden und glücklich; aber nein, es mußte dies passieren! Übrigens ist mit Worten dabei nicht zu helfen. Da muß gehandelt werden!«

So hatte Herr Goljadkin, als er seine Wohnung betrat, sich schon beinah zu irgend etwas entschlossen; ohne jämmerlich, ekelhaft, d. h. beinah ekelhaft… so wie dies alles, dieser ganze Vorfall…« Plötzlich zog Herr Goljadkin an dem Klingelzuge; die Klingel ertönte; von innen wurden Schritte vernehmbar … Nun verwünschte Herr Goljadkin sich geradezu wegen seiner Übereilung und Dreistigkeit. Die Unannehmlichkeiten, die er vor kurzem gehabt, aber über den amtlichen Dingen beinahe vergessen hatte, und sein Rencontre mit Andrei Filippowitsch kamen ihm jetzt sofort wieder ins Gedächtnis. Aber zum Davonlaufen war es bereits zu spät: die Tür wurde geöffnet. Zu Herrn Goljadkins Glücke wurde ihm geantwortet, daß Andrei Filippowitsch nicht vom Dienst nach Hause gekommen sei und nicht zu Hause zu Mittag gegessen habe. »Ich weiß, wo er zu Mittag gegessen hat; er pflegt bei der Ismailowski-Brücke zu Mittag zu essen,« dachte unser Held und freute sich gewaltig. Auf die Frage des Dieners, wen er seinem Herrn als dagewesen melden solle, erwiderte er: »Schon gut; ich werde später noch einmal wiederkommen, mein Freund!« und lief sogar mit einer gewissen Munterkeit die Treppe hinab. Als er auf die Straße hinaustrat, entschied er sich dafür, den Wagen zu entlassen und den Kutscher abzulehnen. Als der Kutscher um ein Trinkgeld bat, mit der Begründung: »Ich habe lange warten müssen, mein Herr, und habe meinen Traber für Euer Gnaden nicht geschont,« da gab er ihm auch fünf Kopeken Trinkgeld, und sogar recht gern; er selbst ging zu Fuß.

»Die Sache ist allerdings von der Art,« dachte Herr Goljadkin, »daß man sie nicht so weitergehen lassen darf; indessen, wenn man es überlegt, so recht überlegt, warum Übrigens wieso denn? Es ist ja doch gar nicht nötig! Na, wenn er ein Schuft ist, dann mag er in Gottes Namen ein Schuft sein; aber dafür ist der andere ein ehrenwerter Mensch. Na, wenn er nun ein Schuft sein wird, ich aber ehrenwert, dann werden sie sagen: ›Dieser Goljadkin hier ist ein Schuft; um den muß man sich nicht kümmern und darf ihn nicht mit dem andern verwechseln; der andere aber ist ehrenwert, tugendhaft, sanft, gutmütig, durchaus zuverlässig im Dienst und eines Avancements würdig. So ist das!‹ Na, gut … aber wie, hm … Aber wie werden sie, hm … und sie werden uns doch verwechseln! Es sieht ihm ganz ähnlich, daß er es darauf anlegt! Ach du mein Herrgott! … Und er gibt sich für einen andern Menschen aus, gibt sich für einen andern Menschen aus, dieser Schuft; als ob der andere ein alter Lappen wäre, gibt er sich für ihn aus und bedenkt nicht, daß ein Mensch kein alter Lappen ist. Ach du mein Herrgott! Ist das ein Unglück! …«

Unter solchen Überlegungen und Wehklagen lief Herr Goljadkin dahin, ohne auf den Weg zu achten, und beinah ohne selbst zu wissen, wohin. Erst auf dem Newski-Prospekte kam er zu sich, und zwar nur infolge des zufälligen Umstandes, daß er mit einem Passanten so geschickt und kräftig zusammenstieß, daß beiden die Funken aus den Augen sprühten. Herr Goljadkin murmelte, ohne den Kopf in die Höhe zu heben, eine Entschuldigung, und erst als der andere, der etwas nicht sehr Schmeichelhaftes zurückgemurmelt hatte, sich bereits in beträchtlicher Entfernung befand, richtete er den Kopf auf und sah sich um, wo er denn sei. Als er dabei bemerkte, daß er sich gerade vor dem Restaurant befand, in dem er sich zur Vorbereitung auf das Diner bei Olsufi Iwanowitsch erholt hatte, fühlte unser Held auf einmal ein Kneifen und Zwicken im Magen und erinnerte sich, daß er noch nicht zu Mittag gegessen hatte und nirgends zum Diner eingeladen war; ohne daher seine kostbare Zeit zu verlieren, lief er die Treppe zum Restaurant hinauf, um in aller Geschwindigkeit einen Bissen zu genießen und möglichst bald wieder fortzugehen. Und obgleich in dem Restaurant alles ein bißchen teuer war, so ließ sich Herr Goljadkin doch durch diesen unbedeutenden Umstand diesmal nicht zurückschrecken; er hatte keine Zeit, sich mit so unwichtigen Dingen aufzuhalten. In einem hellerleuchteten Zimmer stand eine ziemlich dichte Schar von Gästen um das Büfett herum, auf welchem eine Menge all solcher Speisen stand, wie sie von gutsituierten Leuten als Vorgericht genossen werden. Der Büfettkellner hatte alle Hände voll zu tun mit Einschenken, Hinreichen, Geldnehmen und -herausgeben. Herr Goljadkin wartete ein Weilchen, bis er herankonnte, und streckte dann bescheiden seine Hand nach einer kleinen Fischpastete aus. Darauf ging er in eine Ecke, wendete den Anwesenden den Rücken zu, aß mit gutem Appetite, kehrte dann wieder zu dem Büfettkellner zurück, stellte das Tellerchen auf den Tisch, zog, da er den Preis kannte, ein Zehnkopekenstück heraus und legte es auf den Schenktisch, wobei er den Blick des Kellners auffing, um ihn zu bedeuten: »Hier liegt das Geld; eine Pastete.«

»Sie haben einen Rubel zehn Kopeken zu zahlen,« sagte der Kellner mürrisch.

Herr Goljadkin war höchst erstaunt.

»Meinen Sie mich? … Ich … ich habe ja wohl nur eine Pastete genommen.«

»Sie haben elf genommen,« erwiderte der Kellner im Tone sicherer Überzeugung.

»Sie irren sich wohl … meines Erachtens irren Sie sich … Ich habe ja wohl wirklich nur eine Pastete genommen.«

»Ich habe gezählt; Sie haben elf Stück genommen. Da Sie sie genommen haben, müssen Sie sie auch bezahlen; umsonst wird bei uns nichts verabfolgt.«

Herr Goljadkin war wie betäubt. »Was widerfährt mir da für eine Zauberei?« dachte er. Unterdessen wartete der Kellner auf Herrn Goljadkins Entschluß; man umdrängte neugierig Herrn Goljadkin; dieser griff schon in die Tasche, um einen Rubel herauszuholen und unverzüglich zu bezahlen und nur ja keine Sünde auf sein Gewissen zu laden. »Na, wenn es elf Stück gewesen sind, meinetwegen!« dachte er und wurde rot wie ein Krebs. »Na, was ist denn dabei, daß jemand elf Pasteten gegessen hat? Der Mensch ist eben hungrig gewesen, und da hat er elf Pasteten gegessen; möge es ihm wohl bekommen; zu wundern ist dabei nichts und auch nichts zu lachen …« Auf einmal war es Herrn Goljadkin, als ob er einen Stich bekäme; er blickte auf und verstand mit einem Male das Rätsel, begriff die ganze Zauberei; mit einem Male waren alle Zweifel gelöst … In der nach dem anstoßenden Zimmer führenden Tür, fast gerade und dank dem Geschick ist alles noch gut abgelaufen. Nur der Kellner war ein bißchen grob. Aber das durfte er; er war ja in seinem Rechte! Er hatte einen Rubel zehn zu bekommen; also war er in seinem Rechte. Er sagte: ›Umsonst wird bei uns nichts verabfolgt.‹ Er hätte nur etwas höflicher sein sollen, der Schlingel! …«

All dies sagte sich Herr Goljadkin, während er die Treppe hinunterstieg und auf die Stufen vor der Haustüre trat. Auf der letzten Stufe indes blieb er wie angenagelt stehen und errötete auf einmal so stark, daß ihm in einem Anfalle von gekränktem Ehrgefühl sogar die Tränen in die Augen traten. Nachdem er etwa eine halbe Minute wie ein Pfahl dort gestanden hatte, stampfte er auf einmal entschlossen mit dem Fuße auf, sprang mit einem Satze auf die Straße hinunter und rannte, ohne sich umzusehen, atemlos, ohne Müdigkeit zu verspüren, zu sich nach Hause nach der Schestilawotschnaja-Straße. Zu Hause ließ er sich nicht einmal Zeit, seinen Uniformrock auszuziehen (ganz gegen seine Gewohnheit, es sich zu Hause bequem zu machen), ja er nahm nicht einmal zur Vorbereitung die Pfeife zur Hand, sondern setzte sich sofort aufs Sofa, zog sich das Tintenfaß heran, ergriff eine Feder, suchte sich einen Bogen Briefpapier heraus und machte sich daran, mit einer Hand, die vor innerer Aufregung zitterte, das nachstehende Schreiben aufs Papier zu werfen:

»Mein geehrter Herr,

Jakow Petrowitsch!

»Ich würde nicht die Feder ergreifen, wenn mich nicht meine Lage und Sie selbst, mein Herr, dazu zwängen. Glauben Sie mir, daß nur die Notwendigkeit mich dazu gebracht hat, mit Ihnen in derartige Erörterungen einzutreten, und daher bitte ich Sie vor allen Dingen, dieses mein Verfahren nicht als wohlüberlegte Absicht, Sie, mein Herr, zu beleidigen, sondern vielmehr als die notwendige Folge der jetzt zwischen uns bestehenden Beziehungen aufzufassen.«

»Es scheint, so ist es gut, anständig und höflich, wiewohl nicht ohne Kraft und Festigkeit? … Ich möchte meinen, er hat keinen Anlaß, sich dadurch beleidigt zu fühlen. Zudem bin ich in meinem Rechte,« dachte Herr Goljadkin, indem er das Geschriebene durchlas.

»Ihr unerwartetes, seltsames Erscheinen, mein Herr, in jener stürmischen Nacht, nachdem meine Feinde, deren Namen ich aus Verachtung gegen sie verschweige, sich so roh und unanständig gegen mich benommen hatten, war der Keim aller der Mißverständnisse, die gegenwärtig zwischen uns bestehen. Ihr hartnäckiges Verlangen, mein Herr, Ihren Willen durchzusetzen und gewaltsam in den Kreis meines Daseins und aller meiner Lebensverhältnisse einzudringen, überschreitet alle Grenzen, die schon durch die Höflichkeit und die einfachste gesellschaftliche Rücksichtnahme gezogen sind. Ich glaube, ich brauche hier nicht daran zu erinnern, mein Herr, wie Sie mir mein Aktenstück und meinen eigenen ehrlichen Namen entwendet haben, um von der vorgesetzten Behörde ein Lob einzuernten, das Sie nicht verdienten. Ich brauche hier auch nicht daran zu erinnern, daß Sie absichtlich in beleidigender Form es ablehnten, sich auf die bei diesem Falle nötig gewordenen Auseinandersetzungen einzulassen. Um schließlich alles zu sagen, erwähne ich auch Ihr letztes seltsames, ja, man kann sagen, unbegreifliches Verhalten mir gegenüber im Kaffeehause nicht. Weit entfernt, mich darüber zu beklagen, daß ich einen Rubel unnütz ausgegeben habe, kann ich doch nicht umhin, meine ganze Entrüstung zum Ausdruck zu bringen bei der Erinnerung an Ihr offenkundiges Attentat auf meine Ehre, mein Herr, und noch dazu in Gegenwart mehrerer Personen, die mir zwar unbekannt sind, aber viel gute Lebensart besitzen …«

»Gehe ich auch nicht zu weit?« überlegte Herr Goljadkin. »Wird das auch nicht zu stark sein? Ist das auch nicht zu beleidigend, diese Hindeutung auf die gute Lebensart zum Beispiel? … Na, es schadet nichts! Man muß ihm Charakterfestigkeit zeigen. Übrigens kann man ihm zur Besänftigung ein bißchen schmeicheln und ihm zum Schluß etwas Honig um den Mund streichen. Nun, wir wollen sehen!«

»Aber ich würde Sie, mein Herr, mit meinem Briefe nicht belästigen, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß der Edelmut Ihrer Herzensempfindungen und Ihr offener, gerader Charakter Ihnen selbst die Mittel zeigen werden, alle begangenen Versehen wieder gutzumachen und alles in den früheren Stand zurückzuversetzen.

»Ich bin der festen Hoffnung und Überzeugung, daß Sie meinem Briefe nicht eine für Sie beleidigende Deutung geben werden, und gleichzeitig, daß Sie sich nicht weigern werden, über diesen Fall eine eingehende briefliche Erklärung abzugeben. Mein Diener hat Auftrag, diese zurückzubringen.

»In dieser Erwartung, mein Herr, habe ich die Ehre, zu sein

Ihr ergebenster Diener

J. Goljadkin.«

»Na, so ist alles schön! Die Sache ist besorgt; es ist also schon zu brieflichen Auseinandersetzungen gekommen. Aber wer ist daran schuld? Er ist selbst daran schuld; er selbst versetzt einen Mitmenschen in die Notwendigkeit, briefliche Erklärungen zu verlangen. Und ich bin in meinem Rechte …«

Nachdem Herr Goljadkin den Brief zum letzten Male durchgelesen hatte, faltete er ihn zusammen, siegelte ihn zu und rief Petruschka. Petruschka erschien, nach seiner Gewohnheit mit verschlafenen Augen und sehr ärgerlicher Miene.

»Nimm diesen Brief hier, mein Lieber … verstehst du?«

Petruschka schwieg.

»Nimm ihn und trage ihn nach der Kanzlei; da suche den dejourierenden Beamten, den Gouvernementssekretär Wachramejew. Wachramejew hat heute Dejour. Verstehst du auch?«

»Ja.«

»›Ja‹! Kannst du nicht sagen: ›Jawohl, Herr‹? Frage nach dem Sekretär Wachramejew und sage ihm: ›So und so, mein Herr läßt sich Ihnen empfehlen und bittet Sie ganz ergebenst, in dem Adressenverzeichnis unserer Behörde nachzusehen, wo der Titularrat Goljadkin wohnt.‹«

Petruschka schwieg, und es kam Herrn Goljadkin so vor, als ob er lächelte.

»Na, also erkundige dich bei ihm nach der Adresse und bringe in Erfahrung, wo der neueingetretene Beamte Goljadkin wohnt!«

»Sehr wohl.«

»Frage nach der Adresse und bestelle dann diesen Brief an die Adresse; verstehst du?«

»Ja.»

»Wenn du da bist … nämlich da, wo du den Brief hinträgst, dann wird der Herr, dem du diesen Brief abgibst, also Herr Goljadkin … Was lachst du denn, du Tölpel?«

»Worüber sollte ich lachen? Was geht’s mich an? Ich kümmere mich um nichts. Unsereiner hat nichts zu lachen …«

»Na also, wenn der Herr dich fragen sollte, wie es deinem Herrn geht, wie er sich befindet, und so weiter … na, irgend so etwas wird er dich wohl fragen, – dann schweige du und antworte: ›Meinem Herrn geht es ganz gut, und er läßt Sie um eine eigenhändige Antwort bitten.‹ Verstehst du?«

»Jawohl, Herr!«

»Na also, sage: ›Meinem Herrn geht es ganz gut, und er ist gesund, und er wird gleich einer Einladung Folge leisten; aber Sie läßt er um eine briefliche Antwort bitten.‹ Verstehst du?«

»Ja.«

»Na, dann geh!«

»Nein, was hat man mit diesem Dummkopf für Mühe! Er lacht sich was; weiter kann er nichts. Worüber lacht er denn? Was habe ich mit ihm schon für Ärger erlebt! Übrigens wird es sich vielleicht noch gut gestalten … Dieser Schurke wird sich jetzt gewiß ein paar Stunden lang herumtreiben und irgendwohin verschwinden … Man kann ihn nirgends hinschicken. Ist das ein Elend! … Dieses Elend ist doch gar zu arg geworden!«

So von dem Gefühle seines Unglücks ganz erfüllt, entschloß sich unser Held, sich in Erwartung der Rückkehr Petruschkas zwei Stunden lang passiv zu verhalten. Etwa eine Stunde lang ging er im Zimmer auf und ab und rauchte; dann warf er die Pfeife beiseite und setzte sich mit einem Buche hin; dann legte er sich auf das Sofa; dann griff er wieder zur Pfeife; dann fing er wieder an im Zimmer hin und her zu laufen. Er wollte nachdenken; aber über irgend etwas nachzudenken war er schlechterdings außerstande. Schließlich stieg die Pein dieses seines passiven Zustandes bis zum äußersten Grade, und Herr Goljadkin entschloß sich, lieber etwas Bestimmtes zu tun. »Petruschka wird erst nach einer Stunde zurückkommen,« dachte er; »ich kann den Schlüssel dem Hausknecht geben und selbst unterdessen, hm, hm … ich will die Sache untersuchen, will meinerseits die Sache untersuchen.« Ohne Zeit zu verlieren, ergriff Herr Goljadkin, der es eilig hatte, die Sache zu untersuchen, seinen Hut, verließ das Zimmer, schloß die Wohnung zu, ging zum Hausknecht heran, händigte ihm den Schlüssel nebst einem Zehnkopekenstück ein (Herr Goljadkin war außerordentlich freigebig geworden) und machte sich auf den Weg dahin, wohin er sich zu begeben vorhatte. Herr werde ich in Erfahrung bringen, wo er wohnt; aber unterdessen ist Petruschka gewiß schon zurückgekommen und hat mir eine Antwort gebracht. Ich verliere nur unnütz meine kostbare Zeit; ich habe so schon viel Zeit verloren. Na, es tut nichts; das läßt sich alles noch wieder gutmachen. Aber soll ich wirklich nicht zu Wachramejew herangehen? Na, ich will es nicht tun. Ich kann es ja auch später noch tun … Ach! Ich hätte überhaupt nicht auszugehen brauchen. Aber das liegt nun einmal in meinem Charakter! Das ist so ein Drang bei mir: ob es nun nötig ist oder nicht, immer strebe ich danach, schnell vorzugehen … Hm!… Was mag die Uhr sein? Es ist gewiß schon neun. Petruschka kommt vielleicht zurück und findet mich dann nicht zu Hause. Ich habe eine arge Dummheit damit begangen, daß ich ausgegangen bin… Ach wahrhaftig, das ist eine schwere Aufgabe!«

Nachdem er sich auf diese Art aufrichtig gestanden hatte, daß er eine arge Dummheit begangen habe, lief unser Held wieder zurück nach seiner Wohnung in der Schestilawotschnaja-Straße. Er langte dort müde und matt an. Schon von dem Hausknechte erfuhr er, daß von Petruschka noch nichts zu sehen gewesen sei. »Na ja! Das habe ich mir doch gedacht!« sagte sich unser Held; »und dabei ist es schon neun Uhr. Nein, was ist er für ein Taugenichts! Immer muß er sich irgendwo betrinken! Herr du mein Gott! Ist das ein Unglückstag für mich!« Unter solchen Gedanken und Wehklagen schloß Herr Goljadkin seine Wohnung auf, machte Licht, zog sich ganz aus, zündete sich eine Pfeife an, legte sich erschöpft, müde, wie zerschlagen und hungrig auf das Sofa und wartete auf Petruschka. Die Kerze brannte trübe; der Lichtschein zitterte an den Wänden … Herr Goljadkin schaute und schaute, dachte und dachte und versank endlich in einen totenähnlichen Schlaf.

Als er erwachte, war es schon spät. Die Kerze war fast ganz heruntergebrannt, qualmte und war nahe daran, zu erlöschen. Herr Goljadkin sprang auf, schüttelte sich und erinnerte sich an alles, was vorgegangen war, schlechthin an alles. Hinter der Scheidewand war Petruschkas kräftiges Schnarchen zu vernehmen. Herr Goljadkin stürzte zum Fenster: nirgend war Licht zu sehen. Er öffnete die Luftklappe: es war still; die Stadt war wie ausgestorben; sie schlief. Also mußte es etwa zwei oder drei Uhr sein; und so war es auch: die Uhr hinter der Scheidewand holte mit Anstrengung aus und schlug zwei. Herr Goljadkin lief hinter die Scheidewand.

Nach langen Bemühungen gelang es ihm durch Püffe und Stöße, Petruschka einigermaßen munter zu bekommen und ihn dahin zu bringen, daß er sich im Bette aufrichtete. In diesem Augenblicke erlosch die Kerze vollständig. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis Herr Goljadkin eine andere Kerze gefunden und angezündet hatte. Unterdessen hatte es Petruschka fertig gebracht, von neuem einzuschlafen. »So ein Schurke, so ein Taugenichts!« rief Herr Goljadkin, während er ihm von neuem Püffe versetzte. »Wirst du wohl aufstehen? Wirst du wohl aufwachen?« Nach einer halbstündigen Anstrengung glückte es Herrn Goljadkin aber doch, seinen Diener vollständig in Bewegung zu bringen und ihn hinter seiner Scheidewand hervorzuziehen. Erst hier erkannte unser Held, daß Petruschka, was man nennt, sternhagelvoll war und sich kaum auf den Beinen hielt.

»Du Faulpelz!« schrie Herr Goljadkin; »du Nichtswürdiger! Du hast mir ja den schwersten Schaden zugefügt! Herr Gott, wo hast du nur den Brief gelassen? Ach, du mein Schöpfer, wie soll der Brief nun … Und warum habe ich ihn überhaupt geschrieben? Brauchte ich ihn denn zu schreiben? Ich habe mich von meinem übermäßigen Ehrgefühl hinreißen lassen, ich Dummkopf! Dahin hat mich meine Empfindlichkeit gebracht! Das hast du nun von deinem Ehrgefühl, du Schuft; das hast du von deinem Ehrgefühl!… Na, du da! Wo hast du den Brief gelassen, du Halunke? An wen hast du ihn abgegeben?…«

»An niemanden habe ich einen Brief abgegeben; ich habe überhaupt keinen Brief gehabt … so ist die Sache!«

Herr Goljadkin rang vor Verzweiflung die Hände.

»Hör mal, Petruschka; hör mal zu; hör mal, was ich dir sagen will …«

»Na ja, ich höre.«

»Wo bist du hingegangen? Antworte!…«

»Wo ich hingegangen bin? Zu guten Leuten bin ich hingegangen! Weiter geht mich nichts an!«

»Ach du mein Herrgott! Wo bist du zuerst hingegangen? Bist du in der Kanzlei gewesen?… Hör mal, Petruschka: du bist wohl betrunken?«

»Ich betrunken? Da will ich doch gleich auf dem Fleck krepieren, da will ich …«

»Nein, nein, das macht ja nichts, daß du betrunken bist… Ich habe nur gefragt; es ist ganz gut, daß du betrunken bist; ich schelte ja nicht, Petruschka, ich schelte ja nicht… Du hast es vielleicht für einen Augenblick vergessen und wirst dich an alles wieder erinnern. Nun also, besinne dich mal: bist du bei dem Sekretär Wachramejew gewesen? Bist du da gewesen oder nicht?«

»Ich bin nicht bei ihm gewesen; so einen Sekretär gab es gar nicht. Da will ich gleich auf dem Fleck …«

»Nein, nein, Petruschka! Nein, Petruschka, ich schelte ja nicht; du siehst ja, daß ich nicht schelte… Na, was ist denn dabei? Draußen ist es kalt und naß; da trinkt der Mensch ein Schlückchen; das schadet ja nichts. Ich bin darüber nicht böse. Ich habe heute selbst ein bißchen getrunken, lieber Freund… Nun sage mal, besinne dich mal, lieber Freund: bist du bei dem Sekretär Wachramejew gewesen?«

»Na, wenn es so steht, dann will ich wahrheitsgemäß sagen: ich bin da gewesen. Da will ich gleich auf dem Fleck …«

»Na, das ist ja schön, Petruschka, das ist ja schön, daß du da gewesen bist. Du siehst, ich bin nicht ärgerlich… Nun, nun,« fuhr unser Held fort, der seinen Diener noch weiter zu begütigen suchte, ihm auf die Schulter klopfte und ihm zulächelte, »nun, also du hast ein bißchen getrunken, du Racker… hast für zehn Kopeken ein bißchen getrunken? Ja, ja, du Spitzbube! Na, das schadet nichts; na, du siehst, daß ich nicht böse darüber bin… ich bin nicht böse darüber, lieber Freund, ich bin nicht böse darüber…«

»Nein, ich bin kein Spitzbube, da können Sie sagen, was Sie wollen … Ich bin nur zu guten Leuten herangegangen; aber ich bin kein Spitzbube und bin nie ein Spitzbube gewesen …«

»Aber nein, nein, Petruschka! So höre doch, Petruschka! Ich schimpfe dich ja nicht, wenn ich dich einen Spitzbuben nenne. Ich sage das ja, um dir eine Freude zu machen; ich sage das in gutem Sinne. Damit schmeichelt man ja manchem Menschen, Petruschka, wenn man zu ihm sagt, er sei ein solcher Schlaukopf, ein so geriebener Bursche, daß er sich von niemandem betrügen und hinters Licht führen lasse. So etwas hört mancher gern … Nun, nun, es macht nichts! Nun, sage mir jetzt nur ohne Umschweife, Petruschka, offenherzig, wie einem Freunde … na, bist du bei dem Sekretär Wachramejew gewesen, und hat er dir die Adresse gegeben?«

»Ja, er hat mir auch die Adresse gegeben, auch die Adresse hat er mir gegeben. Er ist ein netter, freundlicher Beamter! ›Dein Herr‹, sagte er, ›ist ein guter Mensch, ein sehr guter Mensch; bestelle deinem Herrn nur eine Empfehlung von mir und meinen Dank und sage ihm, daß ich ihn sehr gern habe; ich schätze deinen Herrn sehr hoch! Weil dein Herr‹, sagte er, ›ein guter Mensch ist, Petruschka; und du, Petruschka‹, sagte er, ›bist auch ein guter Mensch.‹ Und da will ich gleich …«

»Ach du mein Herrgott! Aber die Adresse, die Adresse! O du unzuverlässiges Subjekt!« Die letzten Worte sagte Herr Goljadkin fast flüsternd.

»Die Adresse … er hat mir auch die Adresse gegeben.«

»Er hat sie dir gegeben? Na, wo wohnt er denn, dieser Goljadkin, dieser Titularrat Goljadkin?«

»Er sagte: ›Goljadkin findest du in der Schestilawotschnaja-Straße. Wenn du hinkommst,‹ sagte er, ›in die Schestilawotschnaja-Straße, dann rechts, die Treppe hinauf, im vierten Stock. Da wirst du Goljadkin finden,‹ sagte er.«

»Du Schurke!« schrie unser Held, der endlich die Geduld verlor. »Du Kanaille! Das bin ich ja! Da redest du ja von mir! Aber es gibt noch einen andern Goljadkin; ich rede von dem andern, du Schurke!«

»Na, meinetwegen! Was kümmert es mich! Meinetwegen! …«

»Aber der Brief, der Brief…«

»Was für ein Brief? Es ist gar kein Brief dagewesen; ich habe keinen Brief gesehen.«

»Wo hast du ihn denn gelassen, du Schlingel?«

»Ich habe ihn abgegeben; ich habe den Brief abgegeben. ›Bestelle eine Empfehlung,‹ sagte er, ›und ich ließe danken; dein Herr ist ein guter Mensch. Bestelle deinem Herrn eine Empfehlung!‹ sagte er.«

»Aber wer hat das denn gesagt? Hat das Goljadkin gesagt?«

Petruschka schwieg ein Weilchen, sah seinem Herrn gerade in die Augen und grinste über das ganze Gesicht.

»Hör mal, du Racker,« begann Herr Goljadkin keuchend und vor Wut ganz außer sich, »was hast du mir da angetan! Nun sag mir nur, was du mir da angetan hast! Du hast mich zugrunde gerichtet, du Bösewicht! Völlig zugrunde gerichtet hast du mich, du unzuverlässiger Patron!«

»Na meinetwegen! Was kümmert es mich!« sagte Petruschka in entschiedenem Tone und zog sich hinter die Scheidewand zurück.

»Komm her, komm her, du Nichtswürdiger!«

»Ich komme jetzt nicht zu Ihnen; fällt mir nicht ein. Was kümmert es mich! Ich gehe zu guten Leuten … Gute Leute leben ehrenhaft; gute Leute leben ohne Falschheit und sind niemals doppelt …« Herrn Goljadkin wurden Arme und Beine starr und kalt wie Eis, und der Atem stockte ihm …

»Ja,« fuhr Petruschka fort, »die sind niemals doppelt; die versündigen sich nicht gegen Gott und gegen ehrenhafte Leute …«

»Du Taugenichts, du Trunkenbold! Schlaf dich jetzt aus, du Halunke! Aber morgen werde ich dir deinen Standpunkt klarmachen!« sagte Herr Goljadkin mit kaum vernehmbarer Stimme. Was Petruschka anlangt, so murmelte er noch etwas; darauf war zu hören, wie er sich auf sein Bett legte, so daß das Bett krachte, wie er langgezogen gähnte, sich ausstreckte und endlich schnarchend in den sogenannten Schlaf der Unschuld versank. Herr Goljadkin war nicht tot, nicht lebendig. Petruschkas Benehmen, seine sehr sonderbaren, obwohl nur entfernten Anspielungen, über die man sich somit nicht zu ärgern brauchte, um so weniger, da sie aus dem Munde eines Betrunkenen kamen, und endlich die gesamte üble Wendung, die die Sache genommen hatte: all dies hatte Herrn Goljadkin im tiefsten Grunde erschüttert. »Und da mußte ich auf den Einfall kommen, ihm mitten in der Nacht Vorwürfe zu machen!« sagte unser Held, der infolge einer krankhaften Empfindung am ganzen Leibe zitterte. »Und da plagte mich der Teufel, mich mit einem Betrunkenen abzugeben! Was für vernünftige Antworten kann man wohl von einem Betrunkenen erwarten! Da ist doch jedes Wort eine Lüge. Worauf spielte er übrigens an, der Halunke? Herr du mein Gott! Und wozu habe ich alle diese Briefe geschrieben, ich Mörder, ich Selbstmörder! Ich kann doch nie schweigen! Nein, ich mußte mich verplappern! Nun hast du’s! Du gehst zugrunde; du bist wie ein alter Lappen; aber dabei willst du noch von Ehrgefühl reden und sagst: Meine Ehre leidet; ich muß meine Ehre retten! O ich Selbstmörder!«

So sprach Herr Goljadkin, während er auf seinem Sofa saß und sich vor Angst nicht zu rühren wagte. Auf einmal blieben seine Augen auf einem Gegenstande haften, der im höchsten Grade seine Aufmerksamkeit erregte. Fürchtend, der Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit erregte, könne eine Illusion, eine Täuschung seiner Einbildungskraft sein, streckte er die Hand nach ihm aus, hoffnungsvoll, schüchtern und in unbeschreiblicher Neugier … Nein, es war keine Täuschung! Es war keine Illusion! Ein Brief war es, ein richtiger Brief, zweifellos ein Brief und an ihn adressiert. Herr Goljadkin nahm den Brief vom Tische. Das Herz in der Brust pochte ihm heftig. »Gewiß hat ihn dieser Schurke gebracht, da hingelegt und dann vergessen; gewiß ist es alles so zugegangen; gewiß wird es genau so zugegangen sein…«

Der Brief war von dem Sekretär Wachramejew, einem jüngeren Kollegen und ehemaligen Freunde des Herrn Goljadkin. »Übrigens habe ich mir das alles vorhergedacht,« sagte sich unser Held, »und alles, was jetzt in dem Briefe stehen wird, habe ich mir ebenfalls vorhergedacht …« Der Brief lautete folgendermaßen:

»Geehrter Herr,

Jakow Petrowitsch!

»Ihr Diener ist betrunken, und es ist nichts Gescheites von ihm zu erwarten; aus diesem Grunde ziehe ich es vor, Ihnen brieflich zu antworten. Ich beeile mich. Ihnen mitzuteilen, daß ich den mir von Ihnen erteilten Auftrag, bestehend in der Weitergabe eines Briefes an eine Ihnen bekannte Person, mit aller Zuverlässigkeit und Genauigkeit ausführen werde. Diese Ihnen sehr bekannte Person, die mir jetzt einen früheren Freund ersetzt, und deren Namen ich hier verschweige (weil ich den Ruf eines ganz unschuldigen Menschen nicht grundlos beflecken möchte), wohnt mit mir zusammen in Karolina Iwanownas Wohnung, in demselben Zimmer, in welchem früher, zu der Zeit als Sie noch bei uns wohnten, ein aus Tambow zugereister Infanterieoffizier logierte. Übrigens können Sie diese Person überall im Verkehr mit ehrenhaften, offenherzigen Leuten finden, was man von manchen anderen nicht sagen kann. Meine Beziehungen zu Ihnen beabsichtige ich mit dem heutigen Tage abzubrechen; wir können unseren bisherigen freundschaftlichen Ton und unser einmütiges kollegialisches Verhältnis nicht beibehalten, und daher bitte ich Sie, geehrter Herr, unverzüglich nach Empfang dieses meines freimütigen Briefes mir die zwei Rubel zuzustellen, die Sie mir noch für ein Rasiermesser ausländischen Fabrikates schulden, das ich Ihnen, wenn Sie sich erinnern, vor sieben Monaten treu bleibt und nicht hinter dem Rücken diejenigen beleidigt, mit denen sie öffentlich in freundschaftlichen Beziehungen steht.

»In jedem Falle verbleibe ich

Ihr gehorsamer Diener

N. Wachramejew.«

»P.S. Jagen Sie Ihren Diener fort: er ist ein Trunkenbold und macht Ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach viel Mühe und Umstände; nehmen Sie doch an seiner Statt Jewstasi, der früher bei uns diente und augenblicklich ohne Stelle ist. Ihr jetziger Diener ist nicht nur ein Trunkenbold, sondern außerdem auch ein Dieb; denn er hat noch in der vorigen Woche ein Pfund Stückenzucker an Karolina Iwanowna für sehr billigen Preis verkauft, was er meines Erachtens nur tun konnte, wenn er Sie im kleinen und zu verschiedenen Zeitpunkten listig bestohlen hat. Ich schreibe Ihnen dies, weil ich Ihnen Gutes wünsche, obgleich gewisse Personen weiter nichts verstehen als alle Leute zu beleidigen und zu betrügen, namentlich einen jeden, der ehrenhaft ist und einen guten Charakter besitzt, und überdies über andere Leute hinter deren Rücken Verleumdungen verbreiten und die Handlungsweise derselben in ungünstigem Lichte darstellen, einzig und allein aus Neid, und weil sie für sich selbst solche ehrenhaften Beziehungen nicht in Anspruch nehmen können.

W.«

Nachdem unser Held Wachramejews Brief durchgelesen hatte, verharrte er noch lange in regungsloser Haltung auf seinem Sofa. Eine Art von neuem Lichte drang durch den ganzen trüben, rätselhaften Nebel, der ihn schon seit zwei Tagen umgab. Unser Held begann zum Teil zu verstehen… Er wollte sich vom Sofa erheben und ein paarmal im Zimmer auf und ab gehen, um sich zu erholen, seine in Verwirrung geratenen Gedanken einigermaßen zu sammeln, sie auf einen bestimmten Gegenstand zu richten und dann, wenn er ein wenig in Ordnung gekommen wäre, seine Lage reiflich zu überlegen. Aber kaum machte er einen Versuch aufzustehen, als er sofort matt und kraftlos auf seinen bisherigen Platz zurücksank. »Ja gewiß, ich habe mir das alles vorhergedacht; aber in welcher Manier schreibt er nur, und was ist der gerade Sinn dieser Worte? Den Sinn verstehe ich allerdings; aber wohin wird dies alles führen? Wenn er geradeheraus sagte: ›So und so; das und das verlange ich;‹ dann würde ich seine Forderung erfüllen. Aber auf diese Art nimmt die Sache eine recht unangenehme Wendung! Ach, wenn es nur recht bald Tag würde und ich mich recht bald ans Werk machen könnte! Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe. Ich werde sagen: ›So und so; auf Erörterungen bin ich bereit einzugehen; meine Ehre werde ich nicht verkaufen‹ usw. Übrigens wie hat er, diese gewisse Person, dieser unangenehme Mensch, es angefangen, sich hier einzumischen? Und wozu hat er sich eigentlich hier eingemischt? Ach, wenn es doch recht schnell Tag würde! Bis dahin bringen sie mich in üblen Ruf, intrigieren gegen mich und arbeiten auf meinen Schaden hin! Die Hauptsache ist: ich darf keine Zeit verlieren, sondern muß z. B. jetzt wenigstens einen Brief schreiben, in dem ich diese und jene Punkte mit Stillschweigen übergehe und mich mit diesen und jenen einverstanden erkläre. Und morgen, sowie es hell wird, muß ich ihn absenden, und ich selbst muß so früh wie möglich … hm… und ihnen von der andern Seite entgegenarbeiten und diesen allerliebsten Leuten zuvorkommen … Sie bringen mich in schlechten Ruf; das steht fest!«

Herr Goljadkin legte sich einen Bogen Papier zurecht, ergriff die Feder und schrieb folgenden Brief als Antwort auf den Brief des Gouvernementssekretärs Wachramejew:

»Geehrter Herr,

Nestor Ignatjewitsch!

»Mit Erstaunen und betrübtem Herzen habe ich Ihren für mich so beleidigenden Brief gelesen; denn ich erkenne deutlich, daß Sie mich meinen, wenn Sie von einigen unwürdigen Personen reden und von manchen, die eine wohlwollende Gesinnung erheucheln. Mit aufrichtigem Schmerze sehe ich, wie schnell, wie erfolgreich und wie tief die Verleumdung Wurzel geschlagen hat, zum Schaden meiner Wohlfahrt, meiner Ehre und meines guten Namens. Und besonders kränkend und verletzend ist es für mich, daß sogar ehrenhafte Leute, Leute mit einer wahrhaft anständigen Denkweise und, was die Hauptsache ist, mit geradem, offenem Charakter, sich von der Partei der wohlanständigen Leute lossagen und mit den besten Eigenschaften ihres Herzens sich jener verderblichen Fäulnis hingeben, die leider in unserer argen, sittenlosen Zeit so stark wuchert und sich so heimtückisch ausbreitet. Zum Schlusse erkläre ich, daß ich es für meine heilige Pflicht erachte, meine von Ihnen bezeichnete Schuld, nämlich zwei Rubel, Ihnen in ihrem vollen Betrage zurückzuerstatten.

»Was Ihre Andeutungen in betreff einer gewissen Person weiblichen Geschlechtes und in betreff der Absichten, Spekulationen und mannigfaltigen Pläne dieser Person anbelangt, geehrter Herr, so sage ich Ihnen, daß ich all diese Andeutungen nur unvollkommen und mangelhaft verstanden habe. Gestatten Sie mir, geehrter Herr, meine anständige Denkweise und meinen ehrlichen Namen unbefleckt zu erhalten. In jedem Falle bin ich bereit, auf persönliche Erörterungen einzugehen, da ich das mündliche Verfahren dem brieflichen als zuverlässiger vorziehe, und überdies bin ich zu einer friedlichen, selbstverständlich gegenseitigen Einigung bereit. Zu diesem Ende ersuche ich Sie, geehrter Herr, dieser Person von meiner Bereitwilligkeit zu einer persönlichen Verständigung Mitteilung zu machen und sie außerdem um Bestimmung von Zeit und Ort für eine Zusammenkunft zu bitten. Es war mir schmerzlich, geehrter Herr, Ihre Anspielungen darauf zu lesen, daß ich Sie gekränkt, unsere ursprüngliche Freundschaft verraten und mich in schlechtem Sinne über Sie ausgesprochen hätte. Ich schreibe all dies einem Mißverständnisse zu, abscheulicher Verleumdung, dem Neide und Übelwollen derjenigen, die ich mit Recht meine erbittertsten Feinde nennen kann. Aber sie wissen wahrscheinlich nicht, daß die Unschuld schon durch ihre Unschuld stark ist, daß die Schamlosigkeit, die Frechheit und die empörende Familiarität mancher Personen früher oder später sich das Brandmal allgemeiner Verachtung zuziehen werden, und daß diese Personen an der Nichtswürdigkeit und Verderbtheit ihres eigenen Herzens zugrunde gehen müssen. Zum Schlusse bitte ich Sie noch, geehrter Herr, diesen Personen mitzuteilen, daß ihre seltsame Anmaßung und ihr unedles, phantastisches Verlangen, andere aus den Stellungen zu verdrängen, die diese andern durch ihr Dasein in dieser Welt einnehmen, und sich deren Platz anzueignen, nur geeignet sind, Erstaunen, Verachtung und Bedauern zu erwecken und sie selbst ins Irrenhaus zu bringen, und daß überdies solche Machenschaften durch die Gesetze streng verboten sind, was meiner Meinung nach durchaus gerecht ist; denn ein jeder muß mit seinem eigenen Platze zufrieden sein. Alles hat seine Grenzen, und wenn dies ein Scherz ist, so ist es ein unziemlicher Scherz, ja ich will noch mehr sagen: ein ganz unmoralischer Scherz; denn ich erlaube mir, Ihnen zu versichern, geehrter Herr, daß meine oben dargelegten Anschauungen über den eigenen Platz eines jeden rein moralisch sind.

»In jedem Falle habe ich die Ehre, zu verbleiben

Ihr gehorsamster Diener

J. Goljadkin.«

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13. Kapitel

13. Kapitel

… Das Wetter schien sich bessern zu wollen. In der Tat begann der nasse Schnee, der bisher in dichten Massen gefallen war, allmählich spärlicher zu werden und hörte zuletzt fast ganz auf. Der Himmel wurde sichtbar, und hier und da glänzten an ihm die Sterne auf. Aber es war immer noch naß, schmutzig, feucht und drückend, namentlich für Herrn Goljadkin, der ohnehin schon nur mit Mühe Atem holen konnte. Sein durchnäßter, schwer gewordener Mantel teilte allen seinen Gliedern eine unangenehm-warme Feuchtigkeit mit und lähmte durch sein Gewicht seine sowieso schon recht schwach gewordenen Beine. Ein fieberhaftes Zittern lief ihm wie ein Gekribbel bissiger Ameisen über den ganzen Körper; die Ermattung ließ einen kalten, krankhaften Schweiß aus allen Poren heraustreten, so daß Herr Goljadkin sogar vergaß, bei dieser passenden Gelegenheit mit der ihm eigenen Festigkeit und Entschlossenheit seine Lieblingsredensart zu wiederholen, daß er dennoch vielleicht, möglicherweise, irgendwie, wahrscheinlich, unbedingt obsiegen und alles sich ja allerdings alles ganz gut; aber warum rede ich gar nicht über das, worauf es ankommt?« Hier erhellte der Gedanke an die gegenwärtige Lage wieder Herrn Goljadkins Gedächtnis. Er blickte um sich. »Ach, Herr du mein Gott! Herr du mein Gott! Wovon rede ich denn da jetzt?« dachte er ganz verstört und griff sich an den glühenden Kopf …

»Wollen Sie nicht bald fahren, Herr?« sagte eine Stimme über dem Kopfe des dasitzenden Herrn Goljadkin. Herr Goljadkin fuhr zusammen; vor ihm stand sein Kutscher, ebenfalls völlig durchnäßt und durchfroren; vor Ungeduld und Langerweile war er auf den Gedanken gekommen, sich einmal nach Herrn Goljadkin hinter dem Holzhaufen umzusehen.

»Ich weiß nicht, mein Freund … ich werde bald fahren, mein Freund, sehr bald, sehr bald; warte noch ein bißchen! …«

Der Kutscher ging, etwas vor sich hin brummend, wieder weg. »Was mag er da brummen?« dachte Herr Goljadkin, und die Tränen kamen ihm in die Augen. »Ich habe ihn doch für den ganzen Abend genommen; also kann ich … hm … ich bin jetzt in meinem Rechte … so ist das! Ich habe ihn für den ganzen Abend genommen; also ist die Sache in Ordnung. Wenn er auch so dasteht, das ist ganz gleich. Das hängt alles von meinem Belieben ab. Wenn ich fahren will, kann ich fahren, und wenn ich nicht fahren will, kann ich es unterlassen. Und wenn ich hier hinter dem Holze stehe, so ist auch dagegen nichts einzuwenden … und er darf sich nicht erdreisten, etwas darüber zu sagen; wenn der Herr Lust hat, hinter dem Holze zu stehen, nun, dann steht er eben hinter dem Holze … und damit befleckt er niemandes Ehre; so ist das! Ja, so ist das, mein Fräulein, wenn Sie es wissen wollen. Und in einer Hütte, mein Fräulein, hm, in einer Hütte lebt in unserem Zeitalter niemand. So ist das! Und ohne Moralität kann man in unserem Zeitalter der Industrie nichts erreichen, mein Fräulein; dafür dienen Sie selbst jetzt als trauriges Beispiel … Also Ihrer Meinung nach soll ich das Amt eines Tischvorstehers bekleiden und in einer Hütte am Gestade des Meeres leben. Erstens, mein Fräulein, gibt es am Gestade des Meeres keine Tischvorsteher, und zweitens können wir beide mir keine Stelle als Tischvorsteher verschaffen. Denn gesetzt z. B. ich reiche eine Bittschrift ein und sage darin: ›So und so, ich bitte, mich zum Tischvorsteher zu machen und mich vor meinem Feinde zu schützen …‹, dann werden Sie merken, mein Fräulein, daß es viele Tischvorsteher gibt, und daß Sie hier nicht bei der Emigrantin Falbala sind, wo Sie Moralität gelernt haben, wofür Sie selbst als trauriges Beispiel dienen. Moralität, mein Fräulein, das bedeutet: zu Hause sitzen, seinen Vater ehren und nicht vorzeitig an Freier denken. Die Freier, mein Fräulein, werden sich zur rechten Zeit schon finden; so ist das! Gewiß, man muß unstreitig auch allerlei Fertigkeiten und Kenntnisse besitzen, als da sind: ein bißchen Klavierspielen, Französisch sprechen, Geschichte, Geographie, Religion und Rechnen, – so ist das! Aber mehr ist nicht vonnöten. Dazu kommt noch die Küche; zu dem Wissensgebiete eines jeden wohlgesitteten Mädchens gehört unbedingt auch die Küche! Aber was wird mit Ihnen werden? Erstens, mein schönes gnädiges Fräulein, Wesen nicht ausstehen kann und auch, offen gestanden, kein schönes Äußeres besitze. Lügenhafte Prahlerei und Ziererei werden Sie bei mir nicht finden; das gestehe ich Ihnen jetzt mit aller Offenherzigkeit. So ist das; ich besitze nur einen geraden, offenen Charakter und einen gesunden Verstand; mit Intrigen gebe ich mich nicht ab. Ich bin kein Intrigant und bin stolz darauf; so ist das! … Ich bewege mich unter guten Menschen ohne Maske, und um Ihnen alles zu sagen …«

Auf einmal fuhr Herr Goljadkin zusammen. Der rötliche, völlig durchnäßte Bart seines Kutschers blickte wieder zu ihm hinter das Holz.

»Ich komme gleich, mein Freund; weißt du, mein Freund, sogleich; sofort komme ich, mein Freund!« antwortete Herr Goljadkin mit zitternder, gramvoller Stimme.

Der Kutscher kratzte sich im Nacken, strich sich dann den Bart glatt und trat einen Schritt vor. Hierauf blieb er stehen und blickte Herrn Goljadkin mißtrauisch an.

»Ich komme sofort, mein Freund; ich will nur … siehst du, mein Freund … ich will nur noch ein wenig … siehst du, mein Freund, ich will nur noch eine Sekunde hier … siehst du, mein Freund …«

»Wollen Sie vielleicht überhaupt nicht mehr fahren?« sagte endlich der Kutscher, indem er entschlossen an Herrn Goljadkin herantrat.

»Doch, mein Freund; ich komme gleich. Siehst du, mein Freund, ich warte nur noch …«

»Na, gut …«

»Siehst du, mein Freund, ich … Aus welchem Dorfe bist du denn, mein Lieber?«

»Wir sind Leibeigene …«

»Hast du eine gute Herrschaft? …«

»Es geht …«

»Ja, mein Freund, bleib nur noch ein bißchen bei mir, mein Freund! Siehst du, mein Freund, bist du schon lange in Petersburg?«

»Ich fahre schon ein Jahr …«

»Und geht es dir gut, mein Freund?«

»So ziemlich.«

»Ja, mein Freund, ja. Danke der Vorsehung, mein Freund! Einen guten Menschen kannst du jetzt lange suchen, mein Freund. Heutzutage sind gute Menschen selten geworden, mein Lieber; ein guter Mensch hält dich sauber, mein Lieber, und gibt dir zu essen und zu trinken. Aber siehst du, manchmal fließen Tränen auch auf das Gold, mein Freund … siehst du, hier hast du ein bedauernswertes Beispiel vor dir; so ist das, mein Lieber …«

Dem Kutscher schien Herr Goljadkin leid zu tun. »Na, wenn Sie wollen, werde ich noch warten. Wollen Sie denn noch lange hierbleiben?«

»Nein, mein Freund, nein; ich werde jetzt, weißt du, hm … ich werde jetzt nicht mehr warten, mein Lieber … Wie denkst du darüber, mein Freund? Ich schenke dir Vertrauen. Ich werde hier nicht mehr warten …«

»Werden Sie vielleicht überhaupt nicht mehr fahren?«

»Nein, ich fahre nicht mehr, mein Freund, nein; aber ich danke dir, mein Lieber … so ist das. Wieviel bekommst du denn, mein Lieber?«

»Was wir abgemacht haben, Herr, das müssen Sie mir auch geben. Ich habe lange gewartet, Herr; Sie werden ja einen armen Menschen nicht zu Schaden bringen wollen, Herr.«

»Nun, da hast du dein Geld, mein Lieber, da hast du es!« Damit gab Herr Goljadkin dem Kutscher die ganzen sechs Rubel. Er entschloß sich nun im Ernst, keine Zeit weiter zu verlieren, sondern sich davonzumachen, um so mehr da die Sache bereits endgültig entschieden und der Kutscher entlassen war und es folglich keinen Zweck mehr hatte, länger zu warten; so verließ er denn den Hof, ging durch den Torweg, wandte sich links und begann, ohne sich umzusehen, keuchend und froh davonzulaufen. »Vielleicht gestaltet sich noch alles gut,« dachte er, »und ich bin auf diese Art dem Unheil entronnen.« Wirklich war es Herrn Goljadkin auf einmal sehr leicht ums Herz geworden. »Ach, wenn sich doch alles gut gestalten wollte!« dachte unser Held, obwohl er selbst wenig daran glaubte. »Nun will ich, hm …« dachte er. »Nein, ich will es lieber so machen; ich will die Sache von einer andern Seite angreifen … Oder soll ich lieber so verfahren? …« Während sich unser Held so mit seinen Zweifeln abmühte und zur Klarheit zu gelangen suchte, war er bis zur Semjonowski-Brücke gelaufen und faßte nun den verständigen, endgültigen Beschluß, wieder umzukehren. »Das wird das beste sein,« sagte er sich. »Ich will die Sache lieber von einer anderen Seite angreifen, d. h. folgendermaßen: ich werde ganz einfach unbeteiligter Beobachter sein, weiter nichts; ich bin nur ein Beobachter, eine unbeteiligte Person; dann mag sich dort begeben, was da will, ich trage keine Schuld daran. So ist das! So soll es jetzt sein!«

Nachdem unser Held beschlossen hatte umzukehren, führte er diesen Beschluß auch aus, um so mehr, da er seiner glücklichen Idee zufolge jetzt die Rolle einer ganz unbeteiligten Person übernommen hatte. »Das ist besser; einerseits bin ich für nichts verantwortlich, und andrerseits sehe ich alles Nötige mit an … so ist das!« Also die Rechnung war durchaus richtig und die Sache damit erledigt. Beruhigt schlich er wieder in den friedlichen Schatten des ihn schützenden Holzstoßes und begann, aufmerksam nach den Fenstern hinzuschauen. Diesmal brauchte er nicht lange zu schauen und zu warten. Auf einmal machte sich an allen Fenstern gleichzeitig eine sonderbare Bewegung bemerklich, Gestalten wurden sichtbar, die Vorhänge zurückgeschlagen, ganze Gruppen von Menschen drängten sich an Olsufi Iwanowitschs Fenstern; alle blickten sie auf den Hof hinaus und suchten dort etwas. Durch seinen Holzstoß geschützt, begann unser Held seinerseits ebenfalls neugierig die allgemeine Bewegung zu verfolgen und streckte, lebhaft interessiert, seinen Kopf nach rechts und links vor, wenigstens soweit es ihm der kurze Schatten des ihn verbergenden Holzstoßes erlaubte. Auf einmal bekam er einen großen Schreck, fuhr zusammen und hätte sich vor Bestürzung beinahe auf dem Fleck, wo er stand, hingesetzt. Es schien ihm oder richtiger er erriet auf das bestimmteste, daß sie da nicht irgendetwas und irgendwen suchten, sondern ganz einfach ihn, Herrn Goljadkin. Alle blickten sie nach seiner Seite hin. Davonzulaufen war unmöglich; man hätte ihn gesehen … Ängstlich drückte sich Herr Goljadkin so dicht wie möglich an das Holz und bemerkte jetzt erst, daß der verräterische Schatten ihm treulos geworden war und ihn nicht mehr ganz verbarg. Mit dem größten Vergnügen wäre unser Held jetzt in ein Mauseloch zwischen dem Holze gekrochen und hätte dort friedlich gesessen, wenn es nur möglich gewesen wäre. Aber es war entschieden unmöglich. In seiner Pein begann er schließlich, mit Entschlossenheit geradezu nach allen Fenstern hinzusehen, weil ihm das noch als das beste erschien. Und plötzlich wurde er glühend heiß vor Scham. Man hatte ihn deutlich bemerkt; alle zusammen hatten ihn bemerkt; alle winkten ihm mit den Händen; alle nickten ihm zu; alle riefen ihn; da klappten ein paar Luftscheiben und wurden geöffnet; einige Stimmen schrien ihm zugleich etwas zu … »Ich wundere mich, warum man diesem dummen Mädchen nicht von klein auf die Rute gegeben hat,« murmelte unser Held ganz fassungslos vor sich hin. Auf einmal kam er (man weiß schon, wer) die Stufen vor der Haustür herabgelaufen, im bloßen Uniformrock, ohne Hut, atemlos, hastig, trippelnd und hüpfend, wahrscheinlich um seine gewaltige Freude darüber an den Tag zu legen, daß er Herrn Goljadkin endlich erblickt hatte.

»Jakow Petrowitsch,« schnatterte der durch seine Niederträchtigkeit bekannte Mensch. »Jakow Petrowitsch, Sie hier? Sie werden sich erkälten. Es ist hier kalt, Jakow Petrowitsch. Bitte, kommen Sie doch in die Wohnung!«

»Nein, Jakow Petrowitsch, nein, das tut mir nichts, Jakow Petrowitsch,« murmelte unser Held in demütigem Tone.

»Nein, das geht nicht, Jakow Petrowitsch; alle lassen Sie bitten, lassen Sie ganz ergebenst bitten; sie erwarten uns. ›Machen Sie uns die Freude,‹ haben sie zu mir gesagt, ›und bringen Sie Jakow Petrowitsch her!‹ So ist das!«

»Nein, Jakow Petrowitsch; sehen Sie, ich … ich würde am besten tun, wenn ich … Ich würde am besten nach Hause gehen, Jakow Petrowitsch,« sagte unser Held, der ein Gefühl hatte, als ob er auf gelindem Feuer geröstet würde, und ganz starr war vor Scham und Angst.

»Nein, nein, nein, nein!« schnatterte der widerwärtige Mensch. »Nein, nein, nein, unter keinen Umständen! Kommen Sie!« sagte er energisch und zog Herrn Goljadkin den älteren zur Haustür hin. Herr Goljadkin der ältere wollte ganz und gar nicht mitgehen; aber da alle nach ihm hinsahen und es dumm herausgekommen wäre, wenn er sich widersetzt und sich gesträubt hätte, so ging unser Held doch mit; übrigens kann man eigentlich nicht sagen, daß er ging, da er schlechterdings selbst nicht wußte, was mit ihm geschah. Aber es war ja nun doch schon alles egal!

Ehe unser Held noch einigermaßen zur Besinnung kommen und sich zurechtmachen konnte, befand er sich schon im Saale. Er war blaß, zerzaust, sein Anzug in Unordnung; seine trüben Augen irrten über die ganze Menge hin, – o weh: der Saal und alle Zimmer, alles, alles, war dicht gedrängt voll! Es war eine Unmasse von Menschen da, ein ganzer Flor von Damen. Alle Anwesenden strebten zu Herrn Goljadkin hin; alle umdrängten ihn; alle schoben Herrn Goljadkin vorwärts, Herrn Goljadkin dem jüngeren hin; dann, dann streckte er auch den Kopf zum Kusse vor. Dasselbe tat auch der andere Herr Goljadkin … In diesem Momente schien es Herrn Goljadkin dem älteren, daß sein treuloser Freund lächelte und der ganzen umstehenden Menge schnell und listig zublinkte, daß ein boshafter Zug auf dem Gesichte des unedlen Herrn Goljadkin des jüngeren zum Ausdruck kam, und daß er sogar im Augenblicke seines Judaskusses eine Grimasse schnitt … In Herrn Goljadkins Kopfe dröhnte es; vor den Augen wurde es ihm dunkel; es kam ihm vor, als ob eine Unmenge, eine ganze Reihe ganz ähnlicher Goljadkins lärmend durch alle Türen des Saales hereindränge; aber es war zu spät … Der Verräter hatte ihm schon einen schallenden Kuß gegeben, und …

Da begab sich etwas ganz Unerwartetes … Die Saaltür wurde geräuschvoll geöffnet, und auf der Schwelle erschien ein Mensch, dessen bloßer Anblick Herrn Goljadkin zu Eis erstarren ließ. Seine Füße wuchsen am Boden fest. Ein Schrei erstarb in seiner beengten Brust. Übrigens hatte Herr Goljadkin alles vorher gewußt und schon längst etwas Ähnliches geahnt. Der Unbekannte näherte sich Herrn Goljadkin würdevoll und feierlich. Herr Goljadkin kannte diese Gestalt sehr gut. Er hatte sie schon gesehen, sehr oft gesehen, noch an diesem selben Tage gesehen … Der Unbekannte war ein hochgewachsener, kräftig gebauter Mann, in schwarzem Frack, mit einem hohen Orden am Halse, mit dichtem, sehr schwarzem Backenbart; es fehlte nur die Zigarre im Munde, um die Ähnlichkeit vollständig zu machen. Der Blick des Unbekannten bewirkte, daß, wie schon oben gesagt, Herr Goljadkin vor Angst zu Eis erstarrte. Mit würdevoller, feierlicher Miene trat der furchtbare Mensch auf den bedauernswerten Helden unserer Erzählung zu … Unser Held streckte ihm die Hand entgegen; der Unbekannte ergriff sie und zog ihn hinter sich her … Verstört und niedergedrückt blickte unser Held rings um sich.

»Das ist Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz, Doktor der Medizin und Chirurgie, Ihr alter Bekannter, Jakow Petrowitsch!« schnatterte eine widerwärtige Stimme dicht an Herrn Goljadkins Ohr. Er sah sich um: es war der wegen seiner Nichtswürdigkeit hassenswerte Zwillingsbruder des Herrn Goljadkin. Eine unedle, boshafte Freude glänzte auf seinem Gesichte: entzückt rieb er sich die Hände; entzückt drehte er seinen Kopf nach allen Seiten; entzückt trippelte er um all und jeden herum; er schien Lust zu haben, gleich auf dem Flecke vor Entzücken loszutanzen; zuletzt sprang er vor, nahm einem der Diener eine Kerze aus der Hand und ging voran, um Herrn Goljadkin und Krestjan Iwanowitsch zu leuchten. Herr Goljadkin hörte deutlich, wie alle, die im Saale waren, hinter ihm herströmten, wie alle sich stießen und drängten und ihm einhellig immer dasselbe wiederholten: »Das hat nichts zu bedeuten; fürchten Sie sich nicht, Jakow Petrowitsch! Das ist ja Ihr alter Freund und Bekannter Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz …« Endlich traten sie auf die hellerleuchtete Treppe hinaus; auch auf der Treppe standen eine Menge Leute. Geräuschvoll wurde die Haustür geöffnet, und nun stand Herr Goljadkin mit Krestjan Iwanowitsch auf den davor befindlichen Stufen. Vor der Tür stand eine Kutsche, mit vier Pferden bespannt, die vor Ungeduld schnaubten. Der schadenfrohe Herr Goljadkin der jüngere kam in großen Sätzen die Treppe herabgesprungen und öffnete selbst die Kutsche. Krestjan Iwanowitsch ersuchte durch eine einladende Handbewegung Herrn Goljadkin, einzusteigen. Übrigens bedurfte es einer solchen einladenden Handbewegung gar nicht; es waren genug Leute da, um ihm hineinzuhelfen … Halbtot vor Angst blickte Herr Goljadkin zurück: die ganze hellerleuchtete Treppe war mit Menschen besetzt; von allen Seiten blickten neugierige Augen nach ihm hin; selbst Olsufi Iwanowitsch saß in seinem bequemen Lehnstuhl auf dem oberen Treppenflur und verfolgte aufmerksam mit lebhaftem Interesse den ganzen Vorgang. Alle warteten. Ein Gemurmel der Ungeduld lief durch die Menge, als Herr Goljadkin sich umwandte und zurückblickte.

»Ich hoffe, daß darin nichts … nichts Anstößiges liegt … nichts, was der Behörde zu strengem Verfahren gegen mich Anlaß geben … oder die allgemeine Aufmerksamkeit mit Bezug auf meine amtliche Stellung erregen könnte?« sagte unser Held ganz fassungslos. Ringsum wurde lärmend darauf geantwortet; alle schüttelten verneinend die Köpfe. Die Tränen stürzten Herrn Goljadkin aus den Augen.

»In diesem Falle bin ich bereit … ich vertraue mich ganz Krestjan Iwanowitsch an … ich lege mein Schicksal in seine Hände …«

Kaum hatte Herr Goljadkin gesagt, daß er sein Schicksal ganz in Krestjan Iwanowitschs Hände lege, als schließlich vollständig. Herr Goljadkin fühlte einen dumpfen Schmerz im Herzen; das Blut pochte ihm wie eine heiße Quelle im Kopfe; es war ihm drückend heiß; er wollte sich gern die Kleider aufknöpfen, seine Brust entblößen, sie mit Schnee beschütten und mit kaltem Wasser begießen. Endlich versank er in Bewußtlosigkeit … Als er wieder zu sich kam, sah er, daß der Wagen auf einem ihm unbekannten Wege dahinfuhr. Rechts und links lag schwarzer Wald; alles war öde und menschenleer. Auf einmal wurde er starr vor Schreck: zwei feurige Augen blickten ihn in der Dunkelheit an und funkelten in boshafter, teuflischer Freude. »Das ist nicht Krestjan Iwanowitsch!« dachte Herr Goljadkin. »Wer ist das? Oder ist er es doch? Er ist es! Es ist Krestjan Iwanowitsch; aber nicht der frühere, sondern ein anderer Krestjan Iwanowitsch! Das ist ein entsetzlicher Krestjan Iwanowitsch!…«

»Krestjan Iwanowitsch, ich… ich… ich glaube, es fehlt mir nichts, Krestjan Iwanowitsch,« begann unser Held zaghaft und zitternd, in dem Wunsche, durch Unterwürfigkeit und Demut den furchtbaren Krestjan Iwanowitsch ein wenig milder zu stimmen.

»Sie bekommen vom Staate freie Wohnung, Heizung, Beleuchtung und Bedienung; das ist mehr, als Sie verdienen,« antwortete Krestjan Iwanowitsch; die Antwort klang streng und furchtbar wie ein Urteilsspruch.

Unser Held schrie auf und griff sich nach dem Kopfe. O weh! Das hatte er schon längst geahnt.

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2. Kapitel

2. Kapitel

Der Doktor der Medizin und Chirurgie Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz, ein sehr gesunder, wiewohl schon bejahrter Mann, mit dichten, bereits ergrauenden Augenbrauen und starkem, schwarzem Backenbarte, mit ausdrucksvollem, funkelndem Blick, durch den allein schon er alle Krankheiten vertreiben zu können schien, und endlich auch mit einem hohen Orden, saß an diesem Morgen in seinem Arbeitszimmer auf seinem behaglichen Lehnstuhl, trank den Kaffee, den ihm seine Frau eigenhändig gebracht hatte, rauchte eine Zigarre und schrieb von Zeit zu Zeit Rezepte für seine Patienten. Nachdem er zuletzt einem alten Herrn, der an Hämorrhoiden litt, ein Tränkchen verschrieben und den Leidenden zu einer Seitentür begleitet hatte, setzte sich Krestjan Iwanowitsch in Erwartung des nächstfolgenden Besuches wieder hin. Da trat Herr Goljadkin ein.

Krestjan Iwanowitsch hatte, wie es schien, weder erwartet noch gewünscht, Herrn Goljadkin bei sich zu sehen; denn sein Gesicht verfinsterte sich auf einmal für einen Augenblick und nahm unwillkürlich einen sonderbaren, ja, man kann sagen, unzufriedenen Ausdruck an. Herr Goljadkin seinerseits pflegte, wenn er sich in seinen eigenen Angelegenheiten an jemand wandte, fast immer zur unrechten Zeit zu kommen und dann in Verwirrung zu geraten, und so ging es ihm auch jetzt. Da er sich auf den ersten Satz, der für ihn in solchen Fällen stets einen Stein des Anstoßes bildete, nicht vorbereitet hatte, so wurde er gewaltig verlegen, murmelte etwas, was wie eine Entschuldigung klang, und da er nicht wußte, was er weiter tun sollte, nahm er einen Stuhl und setzte sich. Aber nun fiel ihm ein, daß er sich hingesetzt habe, ohne dazu aufgefordert zu sein; er wurde sich sofort der Unanständigkeit seines Benehmens bewußt und beeilte sich, seinen Verstoß gegen die gesellschaftliche Form und den guten Ton dadurch wieder gutzumachen, daß er sich von dem ohne Aufforderung eingenommenen Platze eiligst wieder erhob. Dann kam er unklar zu dem Bewußtsein und zu der Erkenntnis, daß er zwei Dummheiten mit einem Mal gemacht habe, und so entschloß er sich denn ohne zu zaudern zu einer dritten; d. h. er versuchte eine Entschuldigung vorzubringen, murmelte lächelnd etwas, errötete, wurde verlegen, machte eine ausdrucksvolle Pause und setzte sich schließlich endgültig hin, ohne wieder aufzustehen, sicherte sich aber für jeden Fall durch eben jenen herausfordernden Blick, der die außerordentliche Kraft besaß, in Gedanken alle Feinde Herrn Goljadkins in Asche zu verwandeln und zu vernichten. Außerdem brachte dieser Blick Herrn Goljadkins Unabhängigkeit vollkommen zum Ausdruck, d. h. er sagte klar und deutlich, daß Herr Goljadkin sich um nichts kümmere, daß er so selbständig sei wie alle andern Leute und sich in gesicherter Stellung befinde. Krestjan Iwanowitsch hustete, räusperte sich, anscheinend zum Zeichen seiner Billigung und Zustimmung zu alledem, und richtete einen prüfenden, fragenden Blick auf Herrn Goljadkin.

»Krestjan Iwanowitsch,« begann Herr Goljadkin lächelnd, »ich bin gekommen, um Sie zum zweiten Male zu belästigen, und erlaube mir jetzt, Sie zum zweiten Male um Nachsicht zu bitten…« Es machte Herrn Goljadkin offenbar Schwierigkeit, die richtigen Worte zu finden.

»Hm… ja!« erwiderte Krestjan Iwanowitsch, indem er einen Rauchstrom aus dem Munde gehen ließ und die Zigarre auf den Tisch legte. »Aber Sie müssen sich an meine Vorschrift halten; ich habe Ihnen gesagt, daß Ihre Kur in einer Änderung Ihrer Lebensgewohnheiten bestehen muß… Also Sie müssen sich Zerstreuung machen, Freunde und Bekannte besuchen; auch ein Fläschchen Wein sollten Sie sich manchmal gönnen; Sie müssen sich zu heiterer Gesellschaft halten.«

Herr Goljadkin beeilte sich, immer noch lächelnd, zu bemerken, es scheine ihm, daß er ein Mensch sei wie alle Menschen; er lebe in seiner Häuslichkeit und habe seine Zerstreuungen wie alle Leute … natürlich könne er ins Theater gehen, da er, wie andere Menschen, die erforderlichen Mittel besitze; den Tag über sei er im Dienst, abends aber bei sich zu Hause; es fehle ihm eigentlich gar nichts; er bemerkte sogar beiläufig, er lebe seines Erachtens nicht schlechter als andere; er habe eine eigene Wohnung und habe schließlich seinen Petruschka. Hier stockte Herr Goljadkin.

»Hm! Nein, eine solche Lebensweise ist nicht das Richtige, und ich wollte Sie nach etwas ganz anderem fragen. Es wäre mir interessant zu hören, ob Sie ein großer Freund heiterer Gesellschaft sind und Ihr Leben heiter genießen … Also führen Sie jetzt ein melancholisches oder ein heiteres Leben?«

»Krestjan Iwanowitsch, ich …«

»Hm! … Ich meine,« unterbrach ihn der Arzt, »Sie müssen Ihr ganzes Leben von Grund aus umändern und in gewissem Sinne Ihren Charakter umgestalten.« (Krestjan Iwanowitsch legte einen starken Ton auf das Wort »umgestalten« und hielt mit sehr bedeutsamer Miene einen Augenblick inne.) »Sie dürfen einem heiteren Leben nicht abgeneigt sein, müssen Theater und Klubs besuchen und sich ab und zu eine Flasche Wein zuwenden. Zu Hause zu sitzen, das taugt nichts, und für Sie ist das höchst verderblich.«

»Krestjan Iwanowitsch, ich liebe die Stille,« erwiderte Herr Goljadkin, indem er dem Arzte einen bedeutsamen Blick zuwarf und offenbar nach Worten zum passendsten Ausdruck seiner Gedanken suchte. »In meiner Wohnung befindet sich niemand als ich und Petruschka … ich will sagen: mein Diener, Krestjan Iwanowitsch. Ich will sagen, Krestian Iwanowitsch, daß ich meinen eigenen Weg gehe, meinen besonderen Weg, Krestjan Iwanowitsch. Ich lebe so für mich und bin, wie ich meinen möchte, von niemandem abhängig. Ich gehe auch spazieren, Krestjan Iwanowitsch.«

»Wie? … Ja! Nun, jetzt spazieren zu gehen ist gerade kein Vergnügen; es ist sehr unfreundliches Wetter.«

»Jawohl, Krestjan Iwanowitsch. Obwohl ich ein friedlicher Mensch bin, Krestjan Iwanowitsch, wie ich wohl schon die Ehre hatte Ihnen zu bemerken, so hat mein Lebensweg doch seine besondere Richtung, Krestjan Iwanowitsch. Es gibt mancherlei Lebenswege… Ich will … ich will damit sagen, Krestjan Iwanowitsch … Entschuldigen Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe es nicht, mich gewandt auszudrücken …«

»Hm!… Sie wollen sagen …«

»Ich will sagen, Sie möchten es entschuldigen, Krestjan Iwanowitsch, daß ich meines Erachtens es nicht verstehe, mich gewandt auszudrücken,« sagte Herr Goljadkin in etwas gekränktem Tone und ein wenig verwirrt und verlegen. »In dieser Hinsicht, Krestjan Iwanowitsch, bin ich nicht so wie andere Leute,« fügte er mit einem eigenartigen Lächeln hinzu; »ich verstehe es nicht, viel zu reden, und habe es nicht gelernt, meiner Ausdrucksweise Anmut und Schönheit zu verleihen. Dafür wirke ich, Krestjan Iwanowitsch; dafür, Krestjan Iwanowitsch, wirke ich.«

»Hm!… Wie meinen Sie das … daß Sie wirken?« fragte Krestjan Iwanowitsch. Darauf trat für eine Weile Stillschweigen ein. Der Arzt blickte Herrn Goljadkin in einer seltsamen mißtrauischen Art an. Herr Goljadkin schielte seinerseits ebenfalls recht mißtrauisch nach dem Arzte hin.

»Was mich betrifft, Krestjan Iwanowitsch,« fuhr Herr Goljadkin, etwas gereizt und befremdet durch Krestjan Iwanowitschs hartnäckige Schweigsamkeit, in dem früheren Tone fort, »was mich betrifft, Krestjan Iwanowitsch, so liebe ich die Ruhe und nicht das Geräusch der Welt. Dort bei jenen Menschen, ich meine in der großen Welt, Krestjan Iwanowitsch, da muß man es verstehen, mit seinen Stiefeln das Parkett zu polieren…« (hier scharrte Herr Goljadkin ein wenig mit dem Fuße auf dem Fußboden); »dort wird das verlangt, und Wortspiele werden auch verlangt… und man muß es verstehen, parfümierte Komplimente zu drechseln… solche Dinge werden da verlangt. Aber ich habe so etwas nicht gelernt, Krestjan Iwanowitsch; all diese Finessen habe ich nicht gelernt; dazu habe ich keine Zeit gehabt. Ich bin ein schlichter, einfacher Mensch und habe von äußerem Glanze nichts an mir. Auf diesem Gebiete, Krestjan Iwanowitsch, lege ich die Waffen nieder; ich strecke die Waffen, in diesem Sinne gesagt.« All dies sagte Herr Goljadkin selbstverständlich mit einer Miene, die deutlich zu verstehen gab, daß unser Held es ganz und gar nicht bedauerte, auf diesem Gebiete die Waffen strecken zu müssen und diese Finessen nicht gelernt zu haben, sondern ganz im Gegenteil darauf stolz war. Krestjan Iwanowitsch blickte, während er ihm zuhörte, mit einer sehr unangenehmen Grimasse zu Boden und schien irgend etwas in der Zukunft vorauszusehen. Auf Herrn Goljadkins Tirade folgte ein ziemlich langes, bedeutsames Stillschweigen.

»Sie sind, wie es scheint, von Ihrem Gegenstande ein wenig abgekommen,« sagte Krestjan Iwanowitsch endlich halblaut. »Ich muß Ihnen gestehen, ich habe Sie nicht ganz verstehen können.«

»Ich verstehe es nicht, mich gewandt auszudrücken, Krestjan Iwanowitsch; ich hatte schon die Ehre, Ihnen mitzuteilen, Krestjan Iwanowitsch, daß ich es nicht verstehe, mich gewandt auszudrücken,« sagte Herr Goljadkin, diesmal in scharfem, entschiedenem Tone.

»Hm! …«

»Krestjan Iwanowitsch!« begann Herr Goljadkin wieder leise, aber nachdrücklich; seine Stimme hatte zum Teil etwas Triumphierendes; nach jedem Satze hielt er inne. »Krestjan Iwanowitsch! Als ich hier eintrat, begann ich mit Entschuldigungen. Jetzt wiederhole ich das früher Gesagte und erbitte mir wieder für eine kleine Weile Ihre freundliche Nachsicht. Ich habe keinen Anlaß, Ihnen etwas zu verbergen, Krestjan Iwanowitsch. Ich bin ein unbedeutender Mensch, das wissen Sie selbst; aber zu meinem Glücke bedaure ich es nicht, daß ich ein unbedeutender Mensch bin. Im Gegenteil, Krestjan Iwanowitsch; um alles zu sagen, ich bin sogar stolz darauf, daß ich kein großer Mann, sondern nur ein unbedeutender Mensch bin. Ich bin kein Intrigant; auch darauf bin ich stolz. Ich wirke nicht im geheimen, sondern öffentlich, ohne Hinterlist, und obgleich ich meinerseits schaden könnte und es sehr wohl könnte und sogar weiß, wem ich etwas antun könnte und wie, so mag ich mich doch mit dergleichen nicht beschmutzen, Krestjan Iwanowitsch, und wasche in dieser Hinsicht meine Hände in Unschuld. In dieser Hinsicht, sage ich, wasche ich sie in Unschuld, Krestjan Iwanowitsch!« Herr Goljadkin machte für einen Augenblick eine ausdrucksvolle Pause; er hatte mit einer milden Begeisterung gesprochen.

»Ich gehe geradeaus, offen und ohne Schleichwege, Krestjan Iwanowitsch,« fuhr unser Held fort; »denn ich verachte alles hinterhältige Wesen und überlasse es anderen. Ich suche nicht diejenigen herabzusetzen, die vielleicht edler sind als ich und Sie … d. h. ich will sagen ›als ich‹, Krestjan Iwanowitsch; ich wollte nicht sagen ›als ich und Sie‹. Versteckte Andeutungen liebe ich nicht; elende Heuchelei kann ich nicht leiden; Verleumdung und Klatsch verabscheue ich. Eine Maske trage ich nur auf dem Maskenball und laufe nicht mit ihr alle Tage vor den Leuten umher. Ich frage Sie nur, Krestjan Iwanowitsch, wie würden Sie sich an Ihrem Feinde rächen, an Ihrem schlimmsten Feinde, an dem, den Sie dafür ansähen?« schloß Herr Goljadkin und richtete einen herausfordernden Blick auf Krestjan Iwanowitsch.

Obgleich Herr Goljadkin dies alles mit großer Bestimmtheit, Deutlichkeit und Zuversichtlichkeit sprach, seine Worte abwog und auf ihre sichere Wirkung rechnete, so sah er Krestjan Iwanowitsch jetzt doch mit Unruhe, mit großer Unruhe, mit äußerster Unruhe an. Jetzt war er ganz Auge und wartete schüchtern und mit ärgerlicher, beklommener Ungeduld auf Krestjan Iwanowitschs Antwort. Aber zu Herrn Goljadkins Erstaunen und völliger Überraschung murmelte Krestjan Iwanowitsch nur etwas vor sich hin, rückte dann seinen Stuhl an den Tisch heran und bemerkte ihm ziemlich trocken, wiewohl höflich, ungefähr folgendes: seine Zeit sei kostbar; er habe ihn nicht ganz verstanden; übrigens sei er bereit, ihm nach Kräften, so gut er könne, zu dienen; aber auf alles Weitere, was nicht in sein Fach schlage, könne er nicht eingehen. Dann nahm er eine Feder, zog sich einen Bogen Papier heran, schnitt von ihm ein Stück in dem Format ab, wie es die Ärzte gebrauchen, und erklärte, er wolle ihm sofort eine angemessene Arznei verschreiben.

»Nein, das ist nicht erforderlich, Krestjan Iwanowitsch! Nein, das ist durchaus nicht erforderlich!« sagte Herr Goljadkin, indem er sich von seinem Platze erhob und Krestjan Iwanowitsch an den rechten Arm faßte. »Das ist absolut nicht nötig, Krestjan Iwanowitsch!«

Aber während Herr Goljadkin dies alles sagte, ging mit ihm eine seltsame Veränderung vor. Seine grauen Augen bekamen einen sonderbaren Glanz; seine Lippen fingen an zu zittern; alle Muskeln und Züge seines Gesichts bewegten und verschoben sich. Er selbst zitterte am ganzen Leibe. Nachdem er seinem ersten Impulse gefolgt war und dem Arzte den Arm festgehalten hatte, stand Herr Goljadkin jetzt unbeweglich da, wie wenn er kein Selbstvertrauen besäße und für seine weiteren Handlungen auf eine Eingebung wartete.

Nun spielte sich ein recht seltsamer Auftritt ab.

Etwas betroffen, schien Krestjan Iwanowitsch einen Augenblick an seinem Lehnstuhl angewachsen zu sein und blickte starr mit weit geöffneten Augen Herrn Goljadkin an, der ihn in gleicher Weise anschaute. Endlich stand Krestjan Iwanowitsch auf, wobei er sich ein wenig an dem Aufschlage von Herrn Goljadkins Uniform festhielt. Einige Sekunden lang standen sie so einander unbeweglich gegenüber, ohne die Augen voneinander abzuwenden. Dann aber erfolgte in höchst seltsamer Weise eine zweite Bewegung Herrn Goljadkins. Seine Lippen fingen an zu zucken, das Kinn begann zu hüpfen, und unser Held brach ganz unerwartet in Tränen aus. Schluchzend, mit dem Kopfe nickend, mit der rechten Hand sich gegen die Brust schlagend und mit der linken ebenfalls den Aufschlag von Krestjan Iwanowitschs Hausrock anfassend, wollte er etwas sagen, unverzüglich eine Erklärung geben, vermochte aber kein Wort herauszubringen. Endlich kam Krestjan Iwanowitsch von seinem Erstaunen wieder zu sich.

»Hören Sie auf, beruhigen Sie sich, setzen Sie sich!« sagte er, indem er sich bemühte, Herrn Goljadkin dahin zu bringen, daß er auf einem Lehnstuhl Platz nahm.

»Ich habe Feinde, Krestjan Iwanowitsch, ich habe Feinde, ich habe boshafte Feinde, die geschworen haben, mich zugrunde zu richten…« antwortete Herr Goljadkin ängstlich flüsternd.

»Lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein! Ach was, Feinde! An Feinde darf man nicht denken! Das darf man durchaus nicht! Setzen Sie sich, setzen Sie sich!« fuhr Krestjan Iwanowitsch fort und erreichte es schließlich, daß Herr Goljadkin sich auf den Lehnstuhl setzte.

Als Herr Goljadkin endlich zum Sitzen gekommen war, verwandte er kein Auge von Krestjan Iwanowitsch. Dieser begann mit höchst unzufriedener Miene von einer Ecke seines Arbeitszimmers nach der andern zu gehen. Es folgte ein langes Stillschweigen.

»Ich bin Ihnen dankbar, Krestjan Iwanowitsch, sehr dankbar und empfinde tief alles, was Sie jetzt für mich getan haben. Bis zum Grabe werde ich Ihre Freundlichkeit nicht vergessen, Krestjan Iwanowitsch,« sagte Herr Goljadkin endlich und stand mit gramvoller Miene vom Stuhle auf.

»Lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein! Ich sage Ihnen: lassen Sie es gut sein!« erwiderte Krestjan Iwanowitsch ziemlich streng auf Herrn Goljadkins exaltierte Worte und brachte ihn noch einmal dazu, sich hinzusetzen.

»Also, was haben Sie eigentlich? Erzählen Sie mir, was Sie jetzt für eine Unannehmlichkeit haben, und von was für Feinden Sie sprechen,« fuhr Krestjan Iwanowitsch fort. »Was ist Ihnen denn begegnet?«

»Nein, Krestjan Iwanowitsch, wir wollen das jetzt lieber lassen,« versetzte Herr Goljadkin und schlug die Augen nieder. »Wir wollen das alles lieber auf eine andere Zeit verschieben, Krestjan Iwanowitsch, auf eine günstigere Zeit, wenn alles an den Tag kommen und die Maske manchen Leuten vom Gesichte fallen und dies und das an den Tag kommen wird. Jetzt aber, vorläufig selbstverständlich, nach allem, was zwischen uns geschehen ist … Da werden Sie selbst sagen müssen, Krestjan Iwanowitsch … Erlauben Sie mir, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen, Krestjan Iwanowitsch,« sagte Herr Goljadkin, erhob sich diesmal mit ernster Entschlossenheit von seinem Platze und griff nach seinem Hute.

»Nun … wie Sie wollen … hm …« (Es folgte ein Stillschweigen, das wohl eine Minute dauerte.) »Ich meinerseits bin, wie Sie wissen, bereit, alles zu tun, was in meiner Macht steht … und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.«

»Ich verstehe Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie; ich verstehe Sie jetzt vollkommen … In jedem Falle bitte ich Sie zu entschuldigen, daß ich Sie gestört habe, Krestjan Iwanowitsch.«

»Hm … nein, ich hatte es anders gemeint. Aber wie es Ihnen beliebt. Mit der Medizin fahren Sie fort, wie bisher …«

»Mit der Medizin werde ich nach Ihrer Weisung fortfahren, Krestjan Iwanowitsch; ich werde damit fortfahren und sie aus derselben Apotheke entnehmen … Heutzutage ist auch der Apothekerberuf etwas sehr Hohes und Großes, Krestjan Iwanowitsch …«

»Wieso? In welchem Sinne meinen Sie das?«

»Im ganz gewöhnlichen Sinne, Krestjan Iwanowitsch. Ich will sagen, daß sich heutzutage die Verhältnisse so gestaltet haben …«

»Hm …«

»Und daß jeder dumme Junge, auch ohne Apotheker zu sein, jetzt vor ordentlichen Leuten die Nase hoch trägt.«

»Hm! Wie ist denn das zu verstehen?«

»Ich rede von einem gewissen Menschen, Krestjan Iwanowitsch … von einem gemeinsamen Bekannten von uns, sagen wir mal z. B. von Wladimir Semjonowitsch …«

»Ach so!…«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch; und ich kenne gewisse Leute, Krestjan Iwanowitsch, die auf die öffentliche Meinung nicht so viel Wert legen, daß sie auch manchmal die Wahrheit sagen sollten.«

»Ach so … Wie denn das?«

»Nun, ganz einfach so (übrigens gehört das nicht zur Sache): sie verstehen es, manchmal ein Ei mit Sauce zu servieren.«

»Was? Was zu servieren?«

»Ein Ei mit Sauce, Krestjan Iwanowitsch; das ist eine russische Redensart. Sie verstehen es z. B. manchmal, jemandem zur rechten Zeit zu gratulieren. Solche Leute gibt es, Krestjan Iwanowitsch.«

»Zu gratulieren?«

»Jawohl, zu gratulieren, Krestjan Iwanowitsch; wie es neulich einer meiner nächsten Bekannten gemacht hat!…«

»Einer Ihrer nächsten Bekannten… ach so! Wie ist denn das zugegangen?« fragte Krestjan Iwanowitsch, der Herrn Goljadkin aufmerksam anblickte.

»Ja, einer meiner nächsten Bekannten gratulierte einem andern sehr nahen Bekannten von mir, der sogar mein Freund, ja, wie man sich ausdrückt, mein Busenfreund ist, zum Avancement, zur Erlangung des Assessorgrades. Das kam ihm gerade sehr gelegen. ›Ich freue mich von ganzem Herzen über die Gelegenheit,‹ sagte er, ›Ihnen meinen Glückwunsch darbringen zu können, Wladimir Semjonowitsch, meinen aufrichtigen Glückwunsch zu Ihrem Avancement. Und ich freue mich um so mehr, da heutzutage, wie jedermann weiß, die alten Hexen, die einem Übles anwünschen konnten, ausgerottet sind.‹« Hier nickte Herr Goljadkin schlau mit dem Kopfe und blickte, die Augen zusammenkneifend, Krestjan Iwanowitsch an…

»Hm! Also das hat er gesagt…«

»Das hat er gesagt, Krestjan Iwanowitsch, das hat er gesagt, und dabei blickte er Andrei Filippowitsch, den Onkel unseres teuren Wladimir Semjonowitsch, an. Aber was kümmert mich das, daß er Assessor geworden ist, Krestjan Iwanowitsch? Was kümmert das mich? Er will heiraten, obwohl ihm, mit Erlaubnis zu sagen, die Milch noch nicht auf den Lippen getrocknet ist. Das habe ich denn auch gesagt. ›So ist das,‹ habe ich gesagt, ›Wladimir Semjonowitsch!‹ Nun habe ich aber alles gesagt; gestatten Sie mir, mich zu entfernen.«

»Hm …«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch, ich sage, gestatten Sie mir jetzt, mich zu entfernen. Aber um zwei Sperlinge mit einem Stein tot zu werfen, wandte ich mich, nachdem ich den jungen Mann mit seinen alten Hexen abgeführt hatte, an Klara Olsufjewna (die Geschichte spielte vorgestern bei Olsufi Iwanowitsch, und sie hatte soeben ein gefühlvolles Lied gesungen) und sagte: ›Sie haben ein gefühlvolles Lied gesungen; aber Ihre Zuhörer haben kein reines Herz.‹ Das war eine deutliche Anspielung, verstehen Sie wohl, Krestjan Iwanowitsch; damit spielte ich deutlich darauf an, daß man es jetzt nicht auf sie absieht, sondern weiterliegende Ziele verfolgt…«

»Aha! Nun, und was tat er darauf?«

»Er machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, Krestjan Iwanowitsch, wie man zu sagen pflegt.«

»Hm…«

»Jawohl, Krestjan Iwanowitsch. Ich sprach auch mit dem Alten selbst. ›Olsufi Iwanowitsch,‹ sagte ich, ›ich weiß, wie sehr ich Ihnen verpflichtet bin; ich verstehe vollkommen die Wohltaten zu schätzen, mit denen Sie mich fast seit meiner Kindheit überhäuft haben. Aber machen Sie die Augen auf,‹ sagte ich, ›Olsufi Iwanowitsch! Passen Sie auf! Ich selbst handle ehrenhaft und offen, Olsufi Iwanowitsch.‹«

»Sehen Sie mal an!«

»Jawohl, Krestjan Iwanowitsch. So ist das!«

»Und was sagte er darauf?«

»Ja, was sagte er, Krestjan Iwanowitsch! Er kaute so etwas zurecht; dies und das, und ›ich kenne dich,‹ und daß Seine Exzellenz seine Freude daran habe, jemandem Gutes zu erweisen, – und nun kam er ins Salbaldern hinein… Was ist da auch zu erwarten? Er ist vor Alter ja schon ganz wacklig geworden, wie man zu sagen pflegt.«

»Aha! Also so steht das jetzt!«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch; so steht es mit uns allen! Er ist ein schnurriger alter Mann: er sieht schon in seinen Sarg hinein und riecht nach Weihrauch, wie man zu sagen pflegt; aber wenn irgendein Weibergewäsch aufkommt, dann hört er darauf hin; da ist er mit Notwendigkeit dabei…«

»Weibergewäsch sagten Sie?«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch, sie haben ein Weibergewäsch aufgebracht. Auch unser Bär und sein Neffe, unser teurer Freund, haben ihre Hände dabei im Spiele gehabt; sie haben mit den Weibern unter einer Decke gesteckt und die Sache zusammengebraut. Was glauben Sie: sie haben geplant, einen Menschen zu ermorden!…«

»Einen Menschen zu ermorden?«

»Jawohl, Krestjan Iwanowitsch, einen Menschen zu ermorden, im geistigen Sinne einen Menschen zu ermorden. Sie sprengten aus… ich rede immer von einem nahen Bekannten von mir…«

Krestjan Iwanowitsch nickte mit dem Kopfe.

»Sie sprengten über ihn ein Gerücht aus… Ich gestehe Ihnen, Krestjan Iwanowitsch, ich schäme mich ordentlich, davon zu reden.«

»Hm!…«

»Sie sprengten ein Gerücht aus, er habe bereits ein schriftliches Heiratsversprechen gegeben und sei bereits der Bräutigam einer anderen… Und was meinen Sie, Krestjan Iwanowitsch, wessen Bräutigam?«

»Ich bin gespannt.«

»Der Bräutigam einer Speisewirtin, einer unwürdigen Deutschen, bei der er zu Mittag aß; statt der Bezahlung seiner Schulden habe er ihr seine Hand angeboten.«

»Das sagen sie?«

»Sollten Sie es glauben, Krestjan Iwanowitsch? Eine Deutsche, eine gemeine, widerwärtige, schamlose Deutsche, Karolina Iwanowna, wenn Sie sie kennen…«

»Ich muß gestehen, ich für meine Person…«

»Ich verstehe Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie und habe meinerseits die gleiche Empfindung…«

»Sagen Sie mir, bitte, wo wohnen Sie jetzt?«

»Wo ich jetzt wohne, Krestjan Iwanowitsch?«

»Ja … ich möchte … Sie wohnten ja wohl früher…«

»Ja freilich, ich wohnte, Krestjan Iwanowitsch, ich wohnte, ich wohnte auch früher! Wie soll ich denn nicht gewohnt haben!« antwortete Herr Goljadkin und begleitete seine Worte mit einem kurzen Lachen; er verblüffte Krestjan Iwanowitsch ein wenig durch seine Antwort.

»Nein, das haben Sie falsch aufgefaßt; ich wollte meinerseits…«

»Ich wollte ebenfalls meinerseits, Krestjan Iwanowitsch, ich wollte ebenfalls,« fuhr Herr Goljadkin lachend fort. »Aber ich habe bei Ihnen schon viel zu lange gesessen, Krestjan Iwanowitsch. Ich hoffe, Sie erlauben mir jetzt, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen…«

»Hm!…«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie, ich verstehe Sie jetzt völlig,« sagte unser Held und nahm vor Krestjan Iwanowitsch eine etwas theatralische Stellung an. »Also erlauben Sie, daß ich Ihnen einen guten Morgen wünsche…«

Hier machte unser Held einen Scharrfuß und verließ das Zimmer, in welchem Krestjan Iwanowitsch höchlichst erstaunt zurückblieb. Während Herr Goljadkin die Treppe des Arztes hinabstieg, lächelte er und rieb sich vergnügt die Hände. Als er vor der Haustür die frische Luft einatmete und sich in Freiheit fühlte, war er wirklich nahe daran, sich für den glücklichsten aller Sterblichen zu halten und sich nun geradeswegs nach seinem Bureau zu begeben – da fuhr auf einmal rasselnd eine Kutsche vor: er sah sie an, und alles fiel ihm wieder ein. Petruschka öffnete schon den Schlag. Ein sonderbares und außerordentlich unangenehmes Gefühl bemächtigte sich Herrn Goljadkins völlig. Er errötete sogar für einen Augenblick. Es war ihm, als ob er einen Stich bekäme. Er wollte schon seinen Fuß auf den Wagentritt setzen, als er sich auf einmal umdrehte und nach Krestjan Iwanowitschs Fenstern blickte. Richtig! Krestjan Iwanowitsch stand am Fenster, strich sich mit der rechten Hand den Backenbart glatt und schaute sehr neugierig auf unsern Helden herab.

»Dieser Doktor ist dumm,« dachte Herr Goljadkin, sich in seinem Wagen verbergend, »schrecklich dumm. Er mag vielleicht seine Kranken gut kurieren können; aber trotzdem ist er dumm wie ein Stück Holz.« Herr Goljadkin setzte sich hin, Petruschka rief: »Vorwärts!« und der Wagen rollte wieder nach dem Newski-Prospekt hin.

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3. Kapitel

3. Kapitel

Dieser ganze Vormittag verging für Herrn Goljadkin in mühevoller Tätigkeit. Als er auf den Newski-Prospekt gekommen war, ließ unser Held beim Kaufhofe halten. Er sprang aus dem Wagen, lief, von Petruschka begleitet, unter die Bogengänge und ging geradeswegs in einen Laden mit Gold- und Silberwaren hinein. Schon an Herrn Goljadkins Miene war zu ersehen, daß er alle bei einem bekannten Restaurant auf dem Newski-Prospekt zu halten, das er bisher nur vom Hörensagen kannte, und stieg aus, um einen Bissen zu essen, sich zu erholen und die richtige Zeit abzuwarten.

Er aß nur so viel, wie eben jemand ißt, der ein üppiges Diner in Aussicht hat, zu dem er eingeladen ist, das heißt, er genoß eine Kleinigkeit, um, wie man sich ausdrückt, das Würmchen zu töten, und trank ein Glas Schnaps dazu; dann setzte sich Herr Goljadkin in einen Lehnstuhl und griff, bescheiden um sich blickend, nach einer mageren russischen Zeitung. Nachdem er ein paar Zeilen gelesen hatte, stand er auf, sah in den Spiegel, brachte seinen Anzug in Ordnung und strich sich das Haar glatt; hierauf ging er zum Fenster und sah zu, ob auch sein Wagen da sei … dann setzte er sich wieder auf seinen Platz und nahm von neuem die Zeitung zur Hand. Man konnte bemerken, daß sich unser Held in großer Aufregung befand. Er blickte nach der Uhr, sah, daß es erst ein Viertel auf vier war und er folglich noch geraume Zeit zu warten hatte, überlegte dabei, daß es unpassend sei, so dazusitzen, und ließ sich daher Schokolade geben, obgleich er im Augenblick keinen großen Appetit darauf hatte. Nachdem er die Schokolade ausgetrunken und bemerkt hatte, daß die Zeit ein wenig vorgerückt war, ging er zum Büfett, um zu bezahlen. Auf einmal schlug ihn jemand auf die Schulter.

Er drehte sich um und sah zwei seiner Kollegen vor sich, dieselben beiden, denen er vorher in der Liteinaja-Straße begegnet war, ein paar im Lebensalter noch sehr junge und im Dienstrange noch sehr niedrig stehende Leutchen. Unser Held stand mit ihnen weder auf gutem noch auf schlechtem Fuße: sie waren weder seine Freunde, noch auch lebte er mit ihnen in offener Feindschaft. Selbstverständlich wurde von beiden Seiten der Anstand beobachtet; aber eine weitere Annäherung fand nicht statt und konnte auch nicht stattfinden. Das jetzige Zusammentreffen war Herrn Goljadkin äußerst unangenehm. Er runzelte ein wenig die Stirn und geriet für einen Augenblick in Verwirrung.

»Jakow Petrowitsch, Jakow Petrowitsch!« plapperten die beiden Registratoren. »Sie hier? durch welchen Zufall …«

»Ah, Sie sind es, meine Herren!« unterbrach Herr Goljadkin sie eilig; er war ein bißchen verlegen und ärgerte sich über das Erstaunen der beiden Beamten und zugleich über die Familiarität ihres Benehmens, kehrte aber unwillkürlich ein ungeniertes, forsches Wesen heraus. »Sie sind vom Dienst desertiert, meine Herren, he-he-he! …« Hier versuchte er sogar, um sich von seiner Würde nichts zu vergeben und sich mit den jungen Kanzleibeamten nicht zu gemein zu machen, von denen er sich immer in gebührendem Abstande gehalten hatte, einem derselben auf die Schulter zu klopfen; aber diese populäre Handlung gelang Herrn Goljadkin in diesem Falle nicht, und statt einer Gebärde anständiger Familiarität kam etwas ganz anderes heraus.

»Nun, wie ist’s? Sitzt unser Bär noch da?«

»Wer soll das sein, Jakow Petrowitsch?«

»Nun, der Bär! Als ob Sie nicht wüßten, wer ›der Bär‹ genannt wird!« Herr Goljadkin lachte auf und drehte sich zu dem Büfett hin, um das Geld in Empfang zu nehmen, das er herausbekam. »Ich rede von Andrei Filippowitsch, meine Herren,« fuhr er fort, als er mit dem Kassierer fertig war, und wandte sich, diesmal mit sehr ernster Miene, wieder zu den Beamten. Die beiden Registratoren wechselten bedeutsame Blicke miteinander.

»Der sitzt noch da und hat nach Ihnen gefragt, Jakow Petrowitsch,« sagte der eine von ihnen.

»Also er sitzt noch da! Nun, dann wollen wir ihn dasitzen lassen, meine Herren. Und er hat nach mir gefragt, wie?«

»Ja, das hat er getan, Jakow Petrowitsch. Aber was ist denn mit Ihnen los? Sie sind ja parfümiert und pomadisiert, der reine Elegant?«

»Ja, meine Herren, das ist nun einmal so! Hören Sie auf davon …« erwiderte Herr Goljadkin, indem er zur Seite blickte und gezwungen lächelte. Als sie Herrn Goljadkin lächeln sahen, brachen die Beamten in ein lautes Gelächter aus. Herr Goljadkin machte ein etwas beleidigtes Gesicht.

»Ich will Ihnen als Freund etwas mitteilen, meine Herren,« sagte unser Held nach kurzem Stillschweigen, wie wenn er sich in Gottes Namen entschlossen hätte, den Beamten ein Geheimnis zu enthüllen. »Sie kennen mich alle, meine Herren; aber bisher haben Sie mich nur von einer Seite gekannt. Ein Vorwurf trifft dafür niemanden, und ich bekenne, daß ich zum Teil selbst schuld daran bin.«

Herr Goljadkin preßte die Lippen zusammen und blickte die Beamten bedeutsam an. Diese blinkten einander wieder zu.

»Bisher haben Sie mich nicht gekannt, meine Herren. Ihnen ausführliche Aufklärungen darüber zu geben, ist jetzt und hier nicht passend. Ich werde Ihnen nur etwas weniges sagen, nur so nebenbei und andeutungsweise. Es gibt Leute, meine Herren, die keine Schleichwege lieben und eine Maske nur auf dem Maskenballe tragen. Es gibt Leute, die die wahre Bestimmung des Menschen nicht in der Geschicklichkeit sehen, das Parkett mit den Stiefeln zu polieren. Es gibt auch Leute, meine Herren, die nicht sagen, daß sie glücklich sind und das Leben wahrhaft genießen, wenn ihnen z. B. die Beinkleider gut sitzen. Es gibt endlich Leute, die es nicht lieben, unnützerweise herumzuspringen und sich herumzudrehen, zu witzeln und zu schmeicheln, und besonders, meine Herren, ihre Nase dahinein zu stecken, wo es gar nicht verlangt wird… Nun habe ich Ihnen so ziemlich alles gesagt, meine Herren; gestatten Sie jetzt, daß ich mich entferne…«

Herr Goljadkin hielt inne. Da die Herren Registratoren sich jetzt vollständig befriedigt fühlten, schlugen sie auf einmal beide in äußerst unhöflicher Manier ein lautes Gelächter auf. Herr Goljadkin wurde rot vor Ärger.

»Lachen Sie nur, meine Herren; lachen Sie nur einstweilen! Wenn Sie länger leben, werden Sie schon sehen,« sagte er im Gefühl beleidigter Würde, nahm seinen Hut und zog sich zur Tür zurück.

»Aber ich möchte Ihnen noch eines sagen, meine Herren,« fügte er, sich zum letzten Male zu den Herren Registratoren umwendend, hinzu, »ich möchte Ihnen noch eines sagen; Sie stehen mir hier beide Auge in Auge gegenüber. Mein Grundsatz, meine Herren, ist der: ›Mißlingt’s, dann nicht verzagen; gelingt’s, dann weiter wagen‹ und jedenfalls suche ich niemandes Stellung zu unterminieren. Ich bin kein Intrigant, und darauf bin ich stolz. Zum Diplomaten tauge ich nicht. Man sagt auch, meine Herren, der Vogel komme selbst auf den Jäger zugeflogen. Das ist richtig, und ich gebe es zu; aber wer ist hier der Jäger und wer der Vogel? Das ist noch die Frage, meine Herren!«

Hier schwieg Herr Goljadkin in rednerisch effektvoller Weise, machte mit sehr bedeutsamer Miene, d. h. indem er die Augenbrauen in die Höhe zog und die Lippen ganz fest zusammenpreßte, den Herren Beamten eine Abschiedsverbeugung und ging dann hinaus, indem er die beiden im äußersten Erstaunen zurückließ.

»Wohin befehlen Sie?« fragte Petruschka ziemlich mürrisch, da er des Umherfahrens in der Kälte wahrscheinlich bereits überdrüssig geworden war. »Wohin befehlen Sie?« fragte er Herrn Goljadkin noch einmal, als er dessen furchtbarem, alles vernichtendem Blicke begegnete, mit dem unser Held sich schon zweimal an diesem Morgen gesichert hatte, und zu dem er jetzt zum dritten Male seine Zuflucht nahm, während er die Treppe hinunterstieg.

»Nach der Ismailowski-Brücke.«

»Nach der Ismailowski-Brücke! Vorwärts!«

»Das Diner wird bei ihnen erst zwischen vier und fünf beginnen oder sogar erst um fünf,« dachte Herr Goljadkin; »ist es jetzt nicht noch zu früh? Übrigens kann ich ja auch etwas früher kommen; es ist ja noch dazu ein Familiendiner. Ich kann ja so ganz sans façon hingehen, wie die feinen Leute sich ausdrücken. Warum sollte ich nicht sans façon hingehen können? Unser Bär hat auch gesagt, es werde da alles sans façon sein; und daher kann ich ebenfalls…« Solche Überlegungen stellte Herr Goljadkin an; unterdessen aber wuchs seine Aufregung immer mehr und mehr. Es war zu merken, daß er sich auf etwas sehr Mühsames, um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen, vorbereitete; er flüsterte etwas vor sich hin, gestikulierte mit der rechten Hand, blickte unaufhörlich durch die Wagenfenster, so daß niemand, der ihn jetzt sah, geglaubt hätte, er schicke sich an, ein gutes Diner einzunehmen, so ganz ohne alle Umstände und im Kreise einer bekannten Familie, sans façon, wie die feinen Leute sich ausdrücken. Als sie endlich ganz nahe bei der Ismailowski-Brücke waren, bezeichnete Herr Goljadkin ein Haus; die Kutsche fuhr polternd durch den Torweg und hielt auf der rechten Seite vor einem Portal. Als Herr Goljadkin an einem Fenster des zweiten Stockwerks eine weibliche Gestalt bemerkte, warf er ihr eine Kußhand zu. Übrigens wußte er selbst nicht, was er tat; denn er befand sich in diesem Augenblicke entschieden in einem Mittelzustande zwischen Leben und Tod. Blaß und verstört stieg er aus dem Wagen, ging die Stufen vor dem Portal hinan, trat ins Haus, nahm den Hut ab, ordnete mechanisch seinen Anzug und stieg die Treppe hinauf, wobei er ein leises Zittern in den Knien fühlte.

»Ist Olsufi Iwanowitsch zu Hause?« fragte er den Diener, der ihm öffnete.

»Jawohl, das heißt nein, er ist nicht zu Hause.«

»Wie? Was redest du, mein Lieber? Ich … ich komme zum Diner, mein Freund. Du kennst mich ja doch wohl?«

»Wie sollte ich Sie nicht kennen? Aber es ist Befehl gegeben, Sie nicht anzunehmen.«

»Du… du … irrst dich gewiß, mein Freund. Ich bin es. Ich bin eingeladen, mein Freund; ich komme zum Diner,« sagte Herr Goljadkin, warf seinen Mantel ab und bekundete die augenscheinliche Absicht, in die Wohnung hineinzugehen.

»Entschuldigen Sie, es geht nicht. Es ist Befehl gegeben, Sie nicht anzunehmen, sondern abzuweisen. Das ist die Sache!«

Herr Goljadkin wurde blaß. Gerade in diesem Augenblicke öffnete sich die nach den inneren Zimmern führende Tür, und Olsufi Iwanowitschs alter Kammerdiener Gerasimowitsch kam heraus.

»Hören Sie nur, Emeljan Gerasimowitsch, der Herr hier will eintreten, und ich …«

»Ach, Sie sind ein Dummkopf, Alexejewitsch. Gehen Sie mal hinein, und schicken Sie den Schlingel, den Semjonowitsch, her. Es geht nicht,« sagte er, zu Herrn Goljadkin gewendet, in höflichem, aber entschiedenem Tone. »Es ist ganz unmöglich. Der Herr läßt um Entschuldigung bitten; er kann Sie nicht empfangen.«

»Hat er denn das gesagt, daß er mich nicht empfangen kann?« fragte Herr Goljadkin unsicher. »Entschuldigen Sie, Gerasimowitsch, warum ist es denn ganz unmöglich?«

»Es ist ganz unmöglich. Ich habe Sie gemeldet; der Herr sagte: ›Bitte den Herrn, zu entschuldigen!‹ Er sagte, er könne Sie nicht empfangen.«

»Warum denn nicht? Wie geht denn das zu? Wie…«

»Erlauben Sie, erlauben Sie!…«

»Aber wie geht denn das zu? Das ist ja unmöglich! Melden Sie mich … Wie geht denn das zu? Ich bin zum Diner…«

»Erlauben Sie, erlauben Sie!…«

»Ah, nun, übrigens ist das etwas anderes: er läßt um Entschuldigung bitten. Aber erlauben Sie, Gerasimowitsch, wie geht denn das zu, Gerasimowitsch?«

»Erlauben Sie, erlauben Sie!« versetzte Gerasimowitsch und hielt Herrn Goljadkin sehr entschieden mit der Hand zurück, während er gleichzeitig zwei Herren, die in demselben Augenblicke in das Vorzimmer traten, den Weg weit freigab. Die eintretenden Herren waren Andrei Filippowitsch und sein Neffe Wladimir Semjonowitsch. Beide blickten Herrn Goljadkin erstaunt an. Andrei Filippowitsch wollte etwas sagen; aber Herr Goljadkin hatte bereits seinen Entschluß gefaßt: mit niedergeschlagenen Augen, errötend, lächelnd, mit ganz verstörtem Gesichte verließ er schon Olsufi Iwanowitschs Vorzimmer. »Ich werde nachher noch einmal herankommen, Gerasimowitsch; ich werde die Sache aufklären; ich hoffe, daß sich alles unverzüglich und rechtzeitig aufklären wird,« sagte er auf der Schwelle und zum Teil schon auf der Treppe.

»Jakow Petrowitsch, Jakow Petrowitsch!« … erscholl Andrei Filippowitschs Stimme, der Herrn Goljadkin nacheilte.

Herr Goljadkin befand sich in diesem Augenblicke schon auf dem unteren Treppenflur. Er wandte sich schnell zu Andrei Filippowitsch um.

»Was steht zu Ihren Diensten, Andrei Filippowitsch?« fragte er in ziemlich entschiedenem Tone.

»Was ist Ihnen denn, Jakow Petrowitsch? Wie hängt denn das zusammen?«

»Es ist nichts Besonderes, Andrei Filippowitsch. Ich bin hier als Privatmann. Es ist meine persönliche Angelegenheit, Andrei Filippowitsch.«

»Was gibt es denn?«

»Ich sage ja, Andrei Filippowitsch, daß es meine persönliche Angelegenheit ist, und daß sich meines Erachtens hier nichts Tadelnswertes in bezug auf meine amtliche Stellung finden läßt.«

»Wie? In bezug auf Ihre amtliche … Was haben Sie denn nur, mein Herr?«

»Nichts, Andrei Filippowitsch, gar nichts; ein dreistes junges Mädchen, weiter nichts …«

»Was? … Was?« fragte Andrei Filippowitsch in verständnislosem Staunen. Herr Goljadkin hatte bis dahin vom Fuße der Treppe hinauf mit Andrei Filippowitsch gesprochen und dabei eine Miene gemacht, als ob er Lust hätte, ihm gerade ins Gesicht zu springen; als er nun sah, daß sein Abteilungschef einigermaßen in Verwirrung geraten war, tat er fast unbewußt einen Schritt nach vorwärts. Andrei Filippowitsch wich zurück.

»Was lachst du denn, Tölpel?« sagte er hastig zu Petruschka, der ihm beim Einsteigen in die Kutsche behilflich sein wollte.

»Worüber sollte ich denn lachen? Ich lache nicht. Wohin fahren wir jetzt?«

»Nach Hause! Vorwärts!«

»Vorwärts, nach Hause!« schrie Petruschka und kletterte hinten auf das Wagenbrett.

»Eine Stimme hat dieser Mensch – wie eine Krähe!« dachte Herr Goljadkin. Unterdessen hatte sich der Wagen bereits ziemlich weit von der Ismailowski-Brücke entfernt. Auf einmal zog unser Held aus aller Kraft an der Schnur und rief seinem Kutscher zu, er solle sofort zurückfahren. Der Kutscher wendete um und fuhr zwei Minuten darauf wieder bei Olsufi Iwanowitsch auf den Hof. »Es ist nicht nötig, du Dummkopf, es ist nicht nötig! Zurück!« rief Herr Goljadkin, – und der Kutscher schien einen solchen Befehl erwartet zu haben: ohne ein Wort zu erwidern und ohne am Portal anzuhalten, fuhr er rings um den Hof herum und wieder auf die Straße hinaus.

Indes fuhr Herr Goljadkin nicht nach Hause; sondern nachdem er die Semjonowski-Brücke passiert hatte, befahl er in eine Seitenstraße einzubiegen und ließ vor einem Restaurant von ziemlich bescheidenem Äußern halten. Unser Held stieg aus dem Wagen, lohnte den Kutscher ab und wurde so endlich seines Wagens ledig. Seinem Diener Petruschka befahl er, nach Hause zu gehen und auf seine Rückkehr zu warten; er selbst trat in das Restaurant, nahm sich ein separates Zimmer und bestellte sich ein Mittagessen. Er fühlte sich sehr unwohl und hatte die Empfindung, daß in seinem Kopfe eine chaotische Verwirrung herrsche. Lange ging er aufgeregt im Zimmer auf und ab; endlich setzte er sich auf einen Stuhl, stützte die Stirn in die Hände und bemühte sich aus aller Kraft nachzudenken und zur Klarheit über seine jetzige Lage zu gelangen.

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4. Kapitel

4. Kapitel

Dieser Tag, der festliche Geburtstag Klara Olsufjewnas, der einzigen Tochter des Staatsrates Berendejew, des ehemaligen Wohltäters des Herrn Goljadkin, dieser Tag, der durch ein glänzendes, prächtiges Diner verherrlicht wurde, ein Diner, wie man es in den Beamtenwohnungen an der Ismailowski-Brücke und in weitem Umkreise seit langer Zeit nicht erlebt hatte, ein Diner, das mehr einem sardanapalischen Schmause als einem Diner glich und, was Glanz, Luxus und Anstand anlangte, so etwas Babylonisches an sich hatte, ein Diner mit Champagner Cliquot, mit Austern und mit Früchten aus den Geschäften von Jelisejew und den Gebrüdern Miljutin und mit allerlei Mastkälbern und mit Gästen von allen Stufen der Rangliste, – dieser festliche Tag, der durch ein so festliches Diner verherrlicht wurde, schloß mit einem glänzenden Balle, glänzend in bezug auf guten Geschmack, seine Sitte und Anstand, obwohl es nur ein kleiner Familien- und Verwandtenball war. Gewiß, ich gebe zu, daß es solche Bälle auch sonst gibt, aber doch nur selten. Solche Bälle, die mehr mit Familienvergnügungen (um im höheren Stil zu reden) homöopathischen Füßchen? Wie soll ich Ihnen endlich diese eleganten Kavaliere aus dem Beamtenstande schildern, sowohl die heiteren, soliden Jünglinge, als auch die gesetzten, frohsinnigen und in wohlanständiger Art finsteren Männer, diese Kavaliere, die in den Pausen zwischen den Tänzen teils in einem kleinen, abgelegenen, grünen Zimmer eine Pfeife rauchten, teils keine Pfeife rauchten, diese Kavaliere, die vom ersten bis zum letzten einen anständigen Rang besaßen und anständigen Familien angehörten, diese Kavaliere, die von dem Gefühl der Eleganz und von dem Gefühle ihrer eigenen Würde tief durchdrungen waren, diese Kavaliere, die mit den Damen meist französisch sprachen und, wenn sie von der russischen Sprache Gebrauch machten, sich nur gewählter Ausdrücke des höchsten Stiles, feiner Komplimente und geistreicher Redewendungen bedienten, diese Kavaliere, die höchstens im Rauchzimmer sich ein paar liebenswürdige Abweichungen von der Sprache des feinsten Tones, ein paar Redewendungen voll freundschaftlicher, liebenswürdiger Intimität gestatteten, etwa von folgender Art: »Na, Petja, du Schwerenöter, du hast ja die Polka famos heruntergehopst!« oder: »Wasja, du Schlingel, du hast ja deine Dame gehörig vorgenommen!« Zu alledem ist, wie ich Ihnen, meine verehrten Leser, schon oben die Ehre hatte mitzuteilen, meine Feder unfähig, und darum schweige ich. Wenden wir uns lieber zu Herrn Goljadkin, dem einzigen, wirklichen Helden unserer durchaus wahrhaften Erzählung!

Die Sache war die, daß er sich augenblicklich in einer sehr sonderbaren (um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen befand er sich im Büfettzimmer, zog den Mantel aus, nahm den Hut ab, schob dies alles in eine Ecke, machte seinen Anzug zurecht und strich sich das Haar glatt; dann … dann ging er ins Teezimmer, aus dem Teezimmer glitt er noch in ein anderes Zimmer und schlüpfte fast unbemerkt zwischen den in Eifer geratenen Kartenspielern hindurch; dann… dann … hier vergaß Herr Goljadkin alles, was um ihn herum geschah, und erschien plötzlich ganz unerwartet im Tanzsaale.

Es traf sich, daß gerade in diesem Augenblicke nicht getanzt wurde. Die Damen promenierten in malerischen Gruppen im Saale. Die Herren drängten sich zu einzelnen Kreisen zusammen oder schwärmten durch den Saal, um Damen zu engagieren. Herr Goljadkin bemerkte nichts davon. Er sah nur Klara Olsufjewna, neben ihr Andrei Filippowitsch, ferner Wladimir Semjonowitsch und noch zwei oder drei Offiziere sowie noch zwei oder drei gleichfalls sehr interessante junge Leute, die, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, zu schönen Hoffnungen berechtigten oder solche bereits erfüllten … Er sah auch sonst noch diesen oder jenen. Oder nein; er sah niemand mehr und blickte nach niemand hin … Durch jene selbe Feder getrieben, mittels deren er uneingeladen sich in einen fremden Ball eingedrängt hatte, schritt er vorwärts, dann noch weiter vorwärts und noch weiter vorwärts, stieß im Vorbeigehen an irgendeinen Rat und trat ihm auf den Fuß, benutzte die Gelegenheit, einer hochachtbaren alten Dame auf das Kleid zu treten und etwas daran zu zerreißen, stieß einen Diener, der ein Präsentierbrett trug, an, stieß noch jemand an, schritt, dies alles nicht bemerkend oder, richtiger gesagt, es nur so obenhin bemerkend, ohne jemand anzusehen, immer weiter und weiter vorwärts und stand plötzlich vor Klara Olsufjewna selbst. Ohne allen Zweifel wäre er, ohne mit den Wimpern zu zucken, in diesem Augenblicke mit dem größten Vergnügen in die Erde versunken; aber was geschehen ist, kann man nicht rückgängig machen; das ist schlechterdings unmöglich. Was war zu tun? »Mißlingt’s, dann nicht verzagen; gelingt’s, dann weiter wagen,« dachte er bei sich. Herr Goljadkin war eben kein Intrigant und verstand sich nicht darauf, »das Parkett mit den Stiefeln zu polieren«. Es war nun einmal geschehen. Zudem hatten sich auch die Jesuiten da irgendwie hineingemischt … Aber was gingen Herrn Goljadkin die Jesuiten an! Alles, was da umherging und lärmte und redete und lachte, das verstummte plötzlich wie auf ein gegebenes Zeichen und drängte sich allmählich um Herrn Goljadkin zusammen. Aber Herr Goljadkin schien nichts zu hören und zu sehen; er vermochte nicht um sich zu schauen, nichts anzublicken; er schlug die Augen zu Boden und stand so da; nebenbei gab er sich übrigens das Ehrenwort darauf, sich noch in dieser Nacht zu erschießen. Nachdem er sich darauf das Ehrenwort gegeben hatte, sagte Herr Goljadkin in Gedanken zu sich selbst: »Nun komme, was kommen will!« und fing zu seinem eigenen größten Erstaunen auf einmal ganz unerwartet zu reden an.

Herr Goljadkin begann mit einer Gratulation und mit dem Ausdruck seiner guten Wünsche. Die Gratulation ging gut vonstatten; aber bei dem Ausdruck seiner guten Wünsche stieß unser Held an. Er hatte schon vorher gefühlt, daß, wenn er anstieße, alles mit einem Mal zum Teufel gehen werde. Und so kam es auch: er stieß an und blieb stecken; er blieb stecken und errötete; er errötete und geriet aus der Fassung; er geriet aus der Fassung und blickte auf; er blickte auf und schaute rings um sich; er schaute rings um sich und wurde starr … Alle standen da, alle schwiegen, alle warteten; etwas weiter weg wurde geflüstert, in etwas größerer Nähe gelacht. Herr Goljadkin warf einen demütigen, verlegenen Blick nach Andrei Filippowitsch hin. Andrei Filippowitsch antwortete Herrn Goljadkin mit einem solchen Blicke, daß, wäre unser Held nicht schon gänzlich und vollständig niedergeschmettert gewesen, dieser Blick ihn unfehlbar niedergeschmettert hätte. Das Schweigen dauerte an.

»Das gehört mehr zu meinen persönlichen Verhältnissen und zu meinem Privatleben, Andrei Filippowitsch,« sagte Herr Goljadkin, der mehr tot wie lebendig war, mit kaum vernehmbarer Stimme; »das ist keine amtliche Handlung, Andrei Filippowitsch …«

»Schämen Sie sich, mein Herr, schämen Sie sich!« sagte Andrei Filippowitsch fast flüsternd mit einer Miene unbeschreiblicher Entrüstung, bot Klara Olsufjewna seinen Arm und wandte sich von Herrn Goljadkin ab.

»Ich habe keinen Anlaß mich zu schämen, Andrei Filippowitsch,« antwortete Herr Goljadkin ebenfalls fast flüsternd, ließ seine kläglichen Blicke verlegen umherschweifen und versuchte dabei, sich in der erstaunten Menge zu orientieren und sich über seine eigene gesellschaftliche Stellung in ihr klar zu werden.

»Nun, das tut nichts, das tut nichts, meine Herren! Was ist denn dabei? Das kann ja jedem passieren,« flüsterte Herr Goljadkin, indem er sich ein wenig von seinem Flecke fortbewegte und aus der ihn umgebenden Menge herauszukommen suchte. Man machte ihm Platz. Unser Held schritt, so gut es ging, zwischen zwei Reihen von neugierigen, verwunderten Zuschauern hindurch. Sein Verhängnis riß ihn fort. Herr Goljadkin fühlte das selbst, daß ihn sein Verhängnis fortriß. Er hätte natürlich viel für die Möglichkeit gegeben, sich jetzt ohne Verletzung des Anstandes auf seinem früheren Standplatze auf dem Flur bei der Hintertreppe zu befinden; aber da dies entschieden unmöglich war, so versuchte er, sich in irgendein Winkelchen zu verkriechen, wo er für sich, bescheiden, anständig, abgesondert, ohne mit jemand in Berührung zu kommen und ohne die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zuziehen, stehen könnte; so hoffte er, sich zugleich das Wohlwollen der Gäste und des Hausherrn zu erwerben. Übrigens hatte Herr Goljadkin die Empfindung, als ob ihm der Boden unter den Füßen weggespült werde und er schwanke und falle. Endlich erreichte er mit Mühe ein Winkelchen und stellte sich dort wie ein unbeteiligter, ziemlich gleichmütiger Zuschauer hin; die Arme stützte er auf die Lehnen zweier Stühle, die er auf diese Art völlig in seinen Besitz nahm, und versuchte, mit möglichst mutigem Blicke die sich in seiner Nähe gruppierenden Gäste Olsufi Iwanowitschs anzusehen. Am nächsten von allen stand ihm ein Offizier, ein hochgewachsener, schöner junger Mann, dem gegenüber sich Herr Goljadkin wie ein richtiges kleines Käferchen vorkam.

»Diese beiden Stühle sind reserviert, Leutnant, der eine einer eigentümlichen Ideenverknüpfung, die in seinem Kopfe hinsichtlich der Türken vorging, in Gedanken auch auf die türkischen Pantoffeln und erinnerte sich bei dieser Gelegenheit daran, daß Andrei Filippowitsch Stiefel zu tragen pflegte, die mehr wie Pantoffeln als wie Stiefel aussahen. Man konnte bemerken, daß Herr Goljadkin sich zum Teil in seine Lage hineinfand. Nun ging ihm der Gedanke durch den Kopf: »Wenn dieser Kronleuchter da jetzt abrisse und auf die Gesellschaft herunterfiele, dann würde ich sofort hineilen und Klara Olsufjewna retten. Und wenn ich sie gerettet hätte, würde ich zu ihr sagen: ›Beunruhigen Sie sich nicht, mein Fräulein; es hat nichts auf sich; ich aber bin Ihr Retter.‹ Dann …« Hier wandte Herr Goljadkin die Augen zur Seite, um nach Klara Olsufjewna zu suchen, und erblickte Gerasimowitsch, Olsufi Iwanowitschs alten Kammerdiener. Gerasimowitsch steuerte mit sehr ernster, feierlicher Amtsmiene gerade auf ihn los. Herr Goljadkin fuhr zusammen und runzelte infolge einer unklaren und zugleich sehr unangenehmen Empfindung die Stirn. Mechanisch blickte er um sich: er dachte schon daran, sich so ganz sachte seitwärts unvermerkt aus dem Staube zu machen und zu verschwinden, d. h. so zu tun, als ob es sich um ihn ganz und gar nicht handle. Ehe jedoch unser Held irgendwelchen Entschluß fassen konnte, stand Gerasimowitsch schon vor ihm.

»Sehen Sie mal, Gerasimowitsch,« sagte unser Held, indem er sich lächelnd an den Kammerdiener wandte, »veranlassen Sie doch … sehen Sie doch die Kerze da auf dem Kronleuchter, Gerasimowitsch … die wird gleich herunterfallen … veranlassen Sie also doch, daß sie in Ordnung gebracht wird; sie wird wahrhaftig gleich herunterfallen, Gerasimowitsch …«

»Die Kerze da? Nicht doch, die Kerze steht gerade; aber es fragt da jemand nach Ihnen.«

»Wer fragt denn da nach mir, Gerasimowitsch?«

»Wer es eigentlich ist, weiß ich wirklich nicht. Es ist ein Bote von jemandem. Er sagt: ›Befindet sich Jakow Petrowitsch Goljadkin hier? Dann rufen Sie ihn doch einmal heraus; es handelt sich um eine sehr notwendige, eilige Angelegenheit …‹ So verhält sich das.«

»Nein, Gerasimowitsch, Sie irren sich; darin irren Sie sich, Gerasimowitsch.«

»Wohl kaum …«

»Nein, Gerasimowitsch, nicht ›wohl kaum‹; hier gibt es kein ›wohl kaum‹, Gerasimowitsch. Niemand fragt nach mir, Gerasimowitsch; niemand hat Anlaß nach mir zu fragen; ich bin hier zu Hause, ich will sagen: an meinem richtigen Platze, Gerasimowitsch.«

Herr Goljadkin holte tief Atem und blickte um sich. Wahrhaftig! Alle im Saale Anwesenden schauten und horchten in einer Art von feierlicher Erwartung nach ihm hin. Die Männer drängten sich näher heran, um das Gespräch mit anzuhören; weiter davon flüsterten die Damen unruhig miteinander. Der Hausherr selbst erschien in sehr geringer Entfernung von Herrn Goljadkin, und obgleich an seiner Miene nicht zu erkennen war, daß auch er an Herrn Goljadkins Affäre direkt und unmittelbar Anteil nahm (denn alles vollzog sich mit größter Diskretion), so konnte der Held unserer Erzählung doch aus alledem mit Sicherheit entnehmen, daß für ihn der entscheidende Augenblick nahe herbeigekommen war. Herr Goljadkin erkannte klar, daß der rechte Zeitpunkt da sei, um einen kühnen Schlag auszuführen und seine Feinde zu beschämen. Er war in großer Aufregung. Er fühlte eine Art von Begeisterung und begann von neuem mit zitternder, feierlicher Stimme, indem er sich an den wartenden Gerasimowitsch wandte:

»Nein, mein Freund, niemand läßt mich rufen. Du irrst dich. Ich will noch mehr sagen: du hast dich auch heute nachmittag geirrt, als du mir gegenüber behauptetest … ich sage, als du mir gegenüber zu behaupten wagtest« (Herr Goljadkin erhob die Stimme), »daß Olsufi Iwanowitsch, der seit undenklichen Jahren mein Wohltäter gewesen ist und in gewissem Sinne an mir Vaterstelle vertreten hat, mir am Tage eines für sein Vaterherz so hocherfreulichen Familienfestes den Eintritt in sein Haus verboten habe.« (Herr Goljadkin blickte selbstzufrieden, aber mit tiefer Empfindung um sich; an seinen Wimpern zeigten sich Tränen.) »Ich wiederhole, mein Freund,« schloß unser Held, »du hast dich geirrt, hast dich arg und unverzeihlich geirrt …«

Es war ein feierlicher Augenblick. Herr Goljadkin hatte das Gefühl, daß er einen tiefen Eindruck gemacht habe. Er stand, die Augen bescheiden niederschlagend, da und wartete darauf, daß Olsufi Iwanowitsch ihn umarme. Unter den Gästen war eine starke Erregung und Verwunderung wahrnehmbar; selbst der unerschütterliche, schreckliche Gerasimowitsch stotterte bei den Worten »Wohl kaum« … als plötzlich das erbarmungslose Orchester, wie wenn nichts vorgefallen wäre, eine Polka intonierte. er sich auf dem Hofe. Die frische Luft schlug ihm entgegen, und er blieb einen Augenblick stehen; gerade in diesem Augenblick schlugen die Klänge des von neuem einsetzenden Orchesters an sein Ohr. Auf einmal erinnerte Herr Goljadkin sich an alles; es schien, als ob alle seine gesunkenen Kräfte ihm wieder zurückkehrten. Er riss sich von der Stelle los, an der er bis dahin wie angenagelt gestanden hatte, und stürzte Hals über Kopf hinaus, irgendwohin, in die Luft, ins Freie, wohin ihn die Beine trugen.

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5. Kapitel

5. Kapitel

Auf allen Petersburger Türmen, auf denen Uhren die Stunden zeigten und schlugen, schlug es gerade Mitternacht, als Herr Goljadkin ganz außer sich dicht bei der Ismailowski-Brücke auf die Uferstraße an der Fontanka hinausgelaufen kam, nachdem er sich vor seinen Feinden gerettet hatte, und vor den Verfolgungen, und vor dem Hagel von Püffen, der auf ihn niedergeprasselt war, und vor dem Geschrei der aufgeregten alten Damen, und vor den Ach’s und Oh’s der übrigen Weiblichkeit, und vor Andrei Filippowitschs vernichtenden Blicken. In Herrn Goljadkin war gar kein Leben mehr, im vollen Sinne des Wortes kein Leben mehr, und wenn ihm in diesem Augenblicke noch die Fähigkeit zu laufen verblieben war, so war das nur durch ein Wunder geschehen, durch ein Wunder, an das er selbst nicht glauben wollte. Es war eine schreckliche Nacht, eine richtige Novembernacht, feucht, neblig, mit Regen und Schnee, eine Nacht, in der man auf das leichteste zu Rheumatismus, Schnupfen, Bräune und allen möglichen Arten und Gattungen von Fiebern gelangen konnte, kurz eine Nacht, die alle Annehmlichkeiten des Petersburger Novembers in sich vereinigte. Der Wind heulte in den öden Straßen, staute das schwarze Wasser der Fontanka auf und rüttelte ingrimmig an den schlanken Laternen der Uferstraße, die ihrerseits sein Geheul mit einem hellen, durchdringenden Getön beantworteten, was ein jedem Einwohner von Petersburg wohlbekanntes schrilles, klirrendes Konzert ergab. Es regnete und schneite gleichzeitig. Vom Winde getrieben fuhren die Regenstrahlen beinah in horizontaler Richtung einher wie aus einer Feuerspritze und stachen dem unglücklichen Herrn Goljadkin ins Gesicht wie tausend Nadeln. Inmitten der nächtlichen Stille, die nur durch das ferne Wagenrollen, das Geheul des Windes und das Klirren der Laternen unterbrochen wurde, ließ sich trübselig das Plätschern und Rauschen des Wassers vernehmen, das von allen Dächern und Gesimsen und aus allen Dachrinnen auf das granitne Trottoir strömte. Weit und breit war keine Menschenseele zu erblicken; ja, dies schien zu solcher Zeit und bei solchem Wetter von vornherein unmöglich zu sein. So trabte denn Herr Goljadkin jetzt allein mit seiner Verzweiflung auf dem Trottoir an der Fontanka in seiner gewöhnlichen trippelnden, eiligen Gangart dahin, mit dem Wunsche, möglichst schnell nach seiner Schestilawotschnaja-Straße, nach seiner vierten Etage und nach seiner Wohnung zu gelangen.

Obwohl der Schnee, der Regen und alle sonstigen unnennbaren Unannehmlichkeiten einer feuchten, stürmischen Petersburger Novembernacht zugleich auf den ohnehin schon durch das Unglück tief gebeugten Herrn Goljadkin eindrangen und ihm nicht die geringste Erholungspause vergönnten, ihn bis auf die Knochen durchpusteten, ihm die Augen verklebten, ihn von allen Seiten umwehten, ihn beinah umwarfen und ihm die letzte Besinnung raubten, obwohl all dies zusammen auf Herrn Goljadkin einstürmte, als ob es sich mit all seinen Feinden verschworen hätte, ihm den Garaus zu machen: so blieb trotz alledem Herr Goljadkin doch gegen diesen letzten Feindschaftsbeweis des Schicksals fast unempfindlich; so stark hatte alles, was ihm einige Minuten vorher bei dem Herrn Staatsrat Berendejew begegnet war, ihn ergriffen und erschüttert. Wenn jetzt ein fremder, unbeteiligter Zuschauer im stillen von der Seite her Herrn Goljadkins gramvolle Flucht beobachtet hätte, so hätte auch der einen furchtbaren Schreck über die Nöte des Armen bekommen und sicherlich gesagt, Herr Goljadkin sehe jetzt so aus, als wolle er sich vor sich selbst irgendwohin verstecken, als wolle er vor sich selbst irgendwohin fliehen! Ja, es war wirklich so. Wir können noch mehr sagen: Herr Goljadkin wünschte nicht nur vor sich selbst zu fliehen, sondern sogar gänzlich vernichtet zu werden, nicht zu existieren, in Staub und Asche verwandelt zu werden. Im gegenwärtigen Augenblicke nahm er nichts von dem was ihn umgab wahr; er verstand nichts, was um ihn herum geschah, und sah so aus, als ob tatsächlich für ihn weder die Unannehmlichkeiten der greulichen Nacht, noch der weite Weg, noch der Regen, noch der Schnee, noch der Wind, noch das ganze gräßliche Wetter existierten. An Herrn Goljadkins rechtem Bein war der Gummischuh vom Stiefel abgegangen und auf dem Trottoir an der Fontanka im Schmutze und im Schnee stecken geblieben; aber es kam Herrn Goljadkin gar nicht in den Sinn, seinetwegen umzukehren; er hatte den Verlust überhaupt nicht bemerkt. Er war so verstört, dass er trotz allem, was ihn umgab, ganz erfüllt von dem Gedanken an die schreckliche Katastrophe, von der er soeben betroffen war, mehrere Male plötzlich regungslos wie ein Pfahl mitten auf dem Trottoir stehen blieb; in solchen Augenblicken war er dem Tode, dem Verscheiden nahe; dann riss er sich auf einmal wie ein Wahnsinniger von dem Platze los und lief ohne sich umzusehen davon, wie wenn er sich vor irgendwelchen Verfolgern, vor irgendwelchem noch furchtbareren Unglück retten wollte … Wirklich, seine Lage war schrecklich!… Endlich als seine Kräfte völlig erschöpft waren, blieb Herr Goljadkin stehen, stützte sich auf das Geländer am Ufer in der Haltung jemandes, der plötzlich ganz unerwartet von Nasenbluten befallen ist, und begann starr in das trübe, schwarze Wasser der Fontanka hinabzublicken. Es ist unbekannt, wieviel Zeit er mit dieser Beschäftigung verbrachte. Bekannt ist nur, dass Herr Goljadkin in diesem Augenblicke so verzweifelt, so abgequält, abgemartert und abgemattet war und dermaßen die an sich schon schwachen Überreste von Lebensmut verloren hatte, dass er alles vergaß: die Ismailowski-Brücke und die Schestilawotschnaja-Straße und seine jetzige Lage… In der Tat was konnte ihm noch weiter begegnen? Es war ihm ja jetzt alles gleich: die Sache war geschehen, sein Entschluß unerschütterlich gefaßt; was konnte ihm noch widerfahren? … Plötzlich … plötzlich zuckte er mit dem ganzen Körper zusammen und sprang unwillkürlich ein paar Schritte zur Seite. Mit einer unerklärlichen Unruhe begann er um sich zu blicken; aber es war niemand da, es hatte sich nichts Besonderes ereignet, und doch… und doch war es ihm so gewesen, als hätte jemand soeben, in diesem Augenblicke bei ihm gestanden, dicht neben ihm, ebenfalls auf das Ufergeländer gelehnt, und hätte (wunderbar!) sogar etwas zu ihm gesagt, schnell, abgebrochen und nicht ganz verständlich, aber über einen ihn angehenden, ihn sehr nahe angehenden Gegenstand. »Ach was, es wird mir nur so vorgekommen sein, nicht wahr?« sagte Herr Goljadkin, indem er sich noch einmal rings umschaute. »Aber wo stehe ich denn hier? … Ach ja, ach ja!« schloss er, den Kopf hin und her wiegend, begann aber mit einem unruhigen, traurigen Gefühle, ja mit Angst in die trübe, feuchte Ferne zu blicken, wobei er seine Augen aufs äußerste anstrengte und sich unter Aufbietung aller Kraft bemühte, mit seinem kurzsichtigen Blicke den nassen Dunst, der sich vor ihm ausbreitete, zu durchdringen. Indessen fiel Herrn Goljadkin nichts Neues und nichts Besonderes in die Augen. Alles schien in gehöriger Ordnung zu sein, d. h. der Schnee fiel noch stärker, noch dichter und in noch größeren Flocken; in einer Entfernung von zwanzig Schritten war nicht das geringste zu sehen; die Laternen klirrten noch schärfer als vorher, und der Wind schien sein trauriges Lied in noch weinerlicherem, kläglicherem Tone zu singen, wie ein zudringlicher Bettler, der um ein Kupferstückchen bittet, um sich zu ernähren. »Ach ja, ach ja! Aber was ist denn mit mir?« wiederholte Herr Goljadkin noch einmal, machte sich von neuem auf den Weg und warf fortwährend flüchtige Blicke rings um sich. Aber unterdessen machte sich in Herrn Goljadkins ganzem Wesen eine neue Empfindung geltend, ein Mittelding zwischen Kummer und Angst… Ein fieberhaftes Zittern lief durch seine Glieder. Es war ein unerträglich peinvoller Augenblick! »Nun, es ist ja nichts Schlimmes,« sagte er, um sich Mut zu machen; »nun, es ist ja nichts Schlimmes; vielleicht ist die Sache überhaupt nicht schlimm, und niemandes Ehre ist befleckt. Vielleicht mußte es so kommen,« fuhr er fort, ohne selbst zu verstehen, was er sagte; »vielleicht wird das alles sich seinerzeit gut gestalten, und es werden gegen niemand Vorwürfe erhoben werden, und alle werden gerechtfertigt dastehen.« Während er so sprach und sich mit Worten das Herz leichter machte, rüttelte Herr Goljadkin sich ein wenig und schüttelte sich die Schneeflocken ab, die ihm in dichter Schicht den Hut, den Kragen, den Mantel, das Halstuch, die Stiefel und alles bedeckten; aber das sonderbare Gefühl, seine seltsame, unklare Schwermut konnte er immer noch nicht loswerden, nicht von sich abschütteln. Irgendwo in der Ferne ertönte ein Kanonenschuß. »Das ist mal ein Wetter!« dachte unser Held. »Horch! Es wird doch keine Überschwemmung geben? Offenbar ist das Wasser sehr stark gestiegen.« Kaum hatte Herr Goljadkin dies gesagt oder gedacht, als er vor sich einen Passanten ihm entgegenkommen sah, der sich wahrscheinlich, ebenso wie er selbst, aus irgendwelchem Anlaß verspätet hatte. Die Sache hätte als etwas ganz Unbedeutendes, Zufälliges erscheinen können; aber aus einem nicht verständlichen Grunde regte sich Herr Goljadkin darüber auf und wurde sogar etwas ängstlich und verwirrt. Nicht eigentlich, daß er sich vor einem schlechten Menschen gefürchtet hätte, sondern vielleicht nur so, ohne rechten Grund … »Aber wer kennt ihn schließlich, diesen verspäteten Wanderer,« dachte Herr Goljadkin flüchtig; »vielleicht hat er es auch gerade auf mich abgesehen, und ich bin hier die Hauptsache, und er geht nicht zwecklos, sondern hat seine bestimmte Absicht und kreuzt geflissentlich meinen Weg und wird mit mir anbinden.« Vielleicht dachte übrigens Herr Goljadkin das eigentlich nicht, sondern hatte nur für einen Augenblick eine ähnliche, sehr unangenehme Empfindung. Übrigens hatte er zu Gedanken und Empfindungen keine Zeit mehr; der Fußgänger war schon nur noch zwei Schritte von ihm entfernt. Herr Goljadkin beeilte sich sofort nach seiner steten Gewohnheit eine ganz besondere Miene anzunehmen, eine Miene, die deutlich zum Ausdruck brachte, daß er, Goljadkin, still für sich dahingehe und sich um nichts kümmere, und daß der Weg für alle breit genug sei, und daß er selbst, Goljadkin, niemandem etwas zuleide tue. Plötzlich blieb er wie angenagelt, wie vom Blitz gerührt stehen, drehte sich dann schnell um und blickte dem Passanten nach, der soeben an ihm vorbeigegangen war, und zwar drehte er sich mit einer solchen Miene um, als wenn ihn eine fremde Kraft rückwärts zöge, als wenn ihn der Wind wie eine Wetterfahne umdrehte. Der Fußgänger war schnell in dem Schneegestöber verschwunden. Auch er ging eilig, auch er war wie Herr Goljadkin gekleidet und vom Kopf bis zu den Füßen eingehüllt und trippelte ebenso wie dieser mit schnellen, kleinen Schritten in einer Art von Trab auf dem Trottoir an der Fontanka dahin. »Was ist das?« flüsterte Herr Goljadkin, mißtrauisch lächelnd, aber am ganzen Leibe zitternd. Ein kalter Schauder lief ihm den Rücken entlang. Unterdessen war der Passant gänzlich verschwunden, auch seine Schritte waren nicht mehr zu hören; aber Herr Goljadkin stand immer noch da und sah ihm nach. Endlich indes kam er allmählich wieder zur Besinnung. »Aber was soll denn das heißen?« dachte er ärgerlich; »bin ich denn wirklich verrückt geworden?« Er wandte sich um und setzte seinen Weg fort, wobei er seine Schritte mehr und mehr beschleunigte und sich bemühte, überhaupt an nichts mehr zu denken. Zuletzt schloss er sogar in dieser Absicht die Augen. Auf einmal schlug mitten in dem Geheul des Windes und dem Geräusch des Unwetters wieder der Schall sehr naher Schritte an sein Ohr. Er fuhr zusammen und machte die Augen auf. Vor ihm war in einer Entfernung von ungefähr zwanzig Schritten wieder die dunkle Gestalt eines Menschen sichtbar, der sich ihm schnell näherte. Dieser Mensch eilte und hastete; die Entfernung verminderte sich rasch. Herr Goljadkin konnte seinen neuen verspäteten Gefährten sogar schon ganz deutlich sehen; er blickte hin und schrie vor Erstaunen und Schreck auf; die Beine brachen unter ihm zusammen. Es war jener selbe ihm bekannte Fußgänger, den er etwa zehn Minuten vorher an sich hatte vorbeigehen sehen, und der plötzlich ganz unerwartet jetzt wieder vor ihm erschien. Indes war dieses Wunder nicht der einzige Grund, weswegen Herr Goljadkin erstaunt war; erstaunt aber war Herr Goljadkin in so hohem Grade, dass er stehen blieb, aufschrie und etwas sagen wollte. Er machte sich daran, dem Unbekannten nachzulaufen; er rief ihm sogar etwas zu, wahrscheinlich in dem Wunsche, ihn schneller zum Stehenbleiben zu veranlassen. Der Unbekannte blieb wirklich ungefähr zehn Schritte von Herrn Goljadkin entfernt stehen, und zwar so, dass das Licht einer nahestehenden Laterne vollständig auf seine ganze Gestalt fiel; er blieb stehen, wandte sich zu Herrn Goljadkin um und wartete mit ungeduldiger, ernster Miene darauf, was dieser ihm sagen werde. »Entschuldigen Sie; ich habe mich wohl geirrt,« sagte unser Held mit zitternder Stimme. Der Unbekannte drehte sich schweigend und ärgerlich wieder um und setzte schnell seinen Weg fort, wie wenn er sich beeilen wollte, die mit Herrn Goljadkin verlorenen zwei Sekunden wieder einzubringen. Was Herrn Goljadkin betrifft, so zitterten ihm alle Glieder, die Knie wurden ihm schwach und knickten ein, und er setzte sich stöhnend auf einen neben dem Trottoir stehenden Prellstein. Übrigens hatte er wirklich allen Grund, in solche Bestürzung zu geraten. Die Sache war die, dass dieser Unbekannte ihm jetzt gewissermaßen bekannt vorkam. Und das wäre alles noch nichts gewesen. Aber er erkannte diesen Menschen, erkannte ihn jetzt fast mit Sicherheit. Er hatte ihn häufig gesehen, diesen Menschen, hatte ihn irgendwann gesehen, sogar erst ganz vor kurzem; wo war das doch gewesen? Etwa gestern? Übrigens war auch das wieder nicht die Hauptsache, dass Herr Goljadkin ihn häufig gesehen hatte: es war auch an diesem Menschen fast nichts Besonderes; er konnte entschieden beim ersten Blicke niemandes besondere Aufmerksamkeit erregen. Er war eben ein Mensch wie alle andern, selbstverständlich ein ordentlicher Mensch wie alle ordentlichen Menschen und besaß vielleicht irgendwelche, sogar recht erheblichen guten Eigenschaften; kurz, er war ein gewöhnlicher Mensch. Herr Goljadkin hegte sogar keinen Haß, keine Feindschaft, ja nicht einmal den leisesten Widerwillen gegen diesen Menschen, es hätte sogar scheinen können, daß das Gegenteil der Fall sei; und doch (und in diesem Umstande lag das Hauptgewicht), und doch hätte er für keine Schätze der Welt gewünscht, ihm zu begegnen und besonders ihm so zu begegnen wie z. B. jetzt. Wir können noch mehr sagen: Herr Goljadkin kannte diesen Menschen genau: er wußte sogar, wie er mit dem Vatersnamen und dem Familiennamen hieß: aber doch hätte er um keinen Preis und, um den Ausdruck zu wiederholen, für keine Schätze der Welt ihn nennen oder zugeben mögen, daß der Mensch da so heiße, diesen Vatersnamen und diesen Familiennamen führe. Wie lange Herrn Goljadkins verständnisloses Brüten dauerte, ob er lange auf dem Prellstein saß, das kann ich nicht sagen; aber als er endlich ein wenig zur Besinnung gekommen war, begann er auf einmal aus Leibeskräften zu laufen, ohne sich umzublicken; der Atem ging ihm aus; er stolperte zweimal und wäre beinah hingefallen, und bei dieser Gelegenheit verwaiste auch Herrn Goljadkins zweiter Stiefel, indem er ebenfalls seinen Gummischuh verlor. Endlich mäßigte Herr Goljadkin seinen Schritt ein wenig, um wieder zu Atem zu kommen, blickte eilig um sich und sah, daß er bereits, ohne es zu merken, seinen ganzen Weg an der Fontanka entlang zurückgelegt, die Anitschkow-Brücke überschritten, einen Teil des Newski-Prospektes entlang gegangen war und jetzt an der Kreuzung mit der Liteinaja-Straße stand. Herr Goljadkin bog in die Liteinaja-Straße ein. Seine Lage glich in diesem Augenblicke der Lage eines Menschen, der am Rande eines furchtbaren Abgrundes steht, wenn die Erde unter seinen Füßen sich loslöst, sich schon geneigt, sich schon in Bewegung gesetzt hat, zum letzten Male schwankt, fällt und ihn in den Abgrund hinabreißt, während der Unglückliche nicht genug geistige Kraft und Energie besitzt, um zurückzuspringen und seine Augen von dem gähnenden Schlunde abzuwenden; der Abgrund zieht ihn an, und er springt schließlich selbst in ihn hinein und beschleunigt selbst den Augenblick seines eigenen Unterganges. Herr Goljadkin wußte, fühlte und war völlig überzeugt, daß ihm unbedingt unterwegs noch etwas Übles zustoßen, daß ihm noch irgendwelche Unannehmlichkeit widerfahren, daß er z. B. seinem Unbekannten wieder begegnen werde; aber seltsam: er wünschte diese Begegnung sogar, hielt sie für unvermeidlich und wünschte nur, daß alles möglichst schnell zu Ende gehen, seine Lage sich irgendwie entscheiden möchte, aber nur recht bald. Dabei aber lief und lief er immer, und zwar wie von einer fremden Kraft getrieben; denn in seinem ganzen Wesen fühlte er eine Art von Taubheit und Schwäche; er konnte nichts überlegen, obgleich seine Gedanken sich wie ein Dorngesträuch an alles anhakten. Ein verlaufenes Hündchen, ganz naß und zitternd, schloß sich an Herrn Goljadkin an und lief eilig neben ihm her; es hatte den Schwanz und die Ohren angedrückt und blickte von Zeit zu Zeit schüchtern und mit leicht verständlichem Ausdruck zu ihm hin. Ein ferner, längst schon vergessener Gedanke, die Erinnerung an ein weit zurückliegendes Ereignis, kam ihm jetzt in den Kopf, klopfte wie ein Hammer darin umher, ärgerte ihn und wollte nicht wieder weichen. »Ach, der widerwärtige kleine Hund!« flüsterte Herr Goljadkin vor sich hin, ohne sich selbst zu begreifen. Endlich erblickte er seinen Unbekannten an der Ecke der Italjanskaja-Straße. Aber jetzt kam der Unbekannte ihm nicht mehr entgegen, sondern er bewegte sich in derselben Richtung wie er und lief ebenfalls einige Schritte vor ihm. Endlich kamen sie in die Schestilawotschnaja-Straße. Herr Goljadkin war ganz außer Atem. Der Unbekannte blieb gerade vor dem Hause stehen, in welchem Herr Goljadkin wohnte. Die Klingel ertönte und fast gleichzeitig das Kreischen des eisernen Riegels. Das Pförtchen öffnete sich; der Unbekannte bückte sich, schlüpfte hinein und war verschwunden. Fast in demselben Augenblicke kam auch Herr Goljadkin eilig herbei und flog wie ein Pfeil durch das Tor. Ohne auf den brummenden Hausknecht zu hören, lief er atemlos auf den Hof und erblickte sogleich seinen interessanten Gefährten wieder, den er einen Augenblick aus den Augen verloren gehabt hatte. Der Unbekannte wurde ihm an dem Eingange zu derjenigen Treppe flüchtig sichtbar, die zu Herrn Goljadkins Wohnung führte. Herr Goljadkin stürzte ihm nach. Die Treppe war dunkel, feucht und schmutzig. Auf allen Absätzen war eine Menge verschiedenartigen Gerümpels aufgehäuft, das den Mietern gehörte, so daß ein ortsunkundiger Fremder, der im Dunkeln auf diese Treppe geriet, wohl eine halbe Stunde gebrauchte, um sich hinaufzuarbeiten, Gefahr lief, sich die Beine zu brechen, und zugleich mit der Treppe auch seine Bekannten verwünschte, die in einem so gräßlichen Hause Wohnung genommen hatten. Aber Herrn Goljadkins Gefährte schien gut bekannt und ein Hausangehöriger zu sein; er lief, ohne Schwierigkeiten zu finden, behende und mit völliger Ortskenntnis hinauf. Herr Goljadkin hatte ihn beinah ganz eingeholt; zwei- oder dreimal schlug ihm sogar der Saum des Mantels des Unbekannten an die Nase. Sein Herzschlag drohte auszusetzen. Der geheimnisvolle Mensch blieb gerade vor der Tür zu Herrn Goljadkins Wohnung stehen, klopfte, und (was übrigens zu anderer Zeit Herrn Goljadkin in Erstaunen versetzt hätte) Petruschka öffnete, wie wenn er gewartet und sich nicht schlafen gelegt hätte, sogleich die Tür und empfing den Eintretenden mit einer Kerze in der Hand. Ganz außer sich lief der Held unserer Erzählung in seine Wohnung hinein; ohne Mantel und Hut abzulegen, durchschritt er den Flur und blieb wie vom Donner gerührt auf der Schwelle seines Zimmers stehen. Herrn Goljadkins Ahnungen waren sämtlich in Erfüllung gegangen. Alles, was er befürchtet und vorher vermutet hatte, war jetzt zur vollen Wirklichkeit geworden. Der Atem stockte ihm, der Kopf schwindelte ihm. Der Unbekannte saß vor ihm, ebenfalls in Mantel und Hut, auf seinem eigenen Bette, lächelte leise, kniff die Augen ein wenig zusammen und nickte ihm freundschaftlich zu. Herr Goljadkin wollte aufschreien, aber er konnte es nicht; er wollte irgendwie Einspruch erheben, aber seine Kraft reichte dazu nicht aus. Die Haare auf seinem Kopfe sträubten sich, und er knickte, vor Schreck besinnungslos, da wo er stand, zusammen. Und er hatte auch allen Grund entsetzt zu sein. Herr Goljadkin hatte seinen nächtlichen Freund vollständig erkannt. Sein nächtlicher Freund war kein anderer als er selbst, Herr Goljadkin selbst, ein anderer Herr Goljadkin, aber vollständig derselbe wie er selbst, mit einem Worte, was man nennt, sein Doppelgänger in jeder Beziehung –

 

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6. Kapitel

6. Kapitel

Am andern Tage, genau um acht Uhr, erwachte Herr Goljadkin auf seinem Bette. All die außerordentlichen Erlebnisse des gestrigen Tages und die ganze unglaubliche, seltsame Nacht mit ihren fast unmöglichen Abenteuern stellten sich sofort mit einem Male seiner Denkkraft und seinem Gedächtnisse dar. Eine derartige grimmige, höllische Bosheit seiner Feinde und namentlich der letzte Beweis dieser Bosheit ließen Herrn Goljadkins Herz zu Eis erstarren. Aber zugleich war dies alles so seltsam, unbegreiflich, absonderlich, es erschien so unmöglich, daß es tatsächlich schwer war, an diese ganze Sache zu glauben; Herr Goljadkin neigte sogar selbst dazu, dies alles für einen wesenlosen Fiebertraum, für eine augenblickliche Verwirrung der Einbildungskraft, für eine Verdunkelung des Verstandes zu halten; aber glücklicherweise wußte er aus eigener bitterer Erfahrung, wieweit manchmal die Bosheit einen Menschen zu bringen vermag, und wieweit manchmal die Grausamkeit eines Feindes gehen kann, der sich für eine Kränkung seiner Ehre oder seines Ehrgeizes rächen möchte. Dazu kam, daß Herrn Goljadkins wie zerschlagene Glieder, sein benommener Kopf, sein steifes Kreuz und sein bösartiger Schnupfen bestätigendes Zeugnis dafür ablegten, daß es mit der gestrigen nächtlichen Wanderung und dem, was sich bei dieser Wanderung zugetragen hatte, seine Richtigkeit habe. Und schließlich hatte Herr Goljadkin auch schon längst gewußt, daß seine Feinde etwas gegen ihn planten, und daß da noch ein anderer mit ihnen unter einer Decke steckte. Aber was, was hatten sie vor? Nach gründlicher Überlegung entschied sich Herr Goljadkin dafür, zu schweigen, sich zu fügen und vorläufig nicht dagegen zu protestieren. »Vielleicht beabsichtigen sie nur, mich zu erschrecken, und wenn sie sehen, daß ich nicht darauf reagiere, nicht protestiere, sondern mich ganz ruhig verhalte und alles ruhig ertrage, so werden sie auch aufhören, von selbst aufhören und sogar die ersten sein, die aufhören.«

Solche Gedanken gingen Herrn Goljadkin durch den Kopf, als er, sich in seinem Bette ausstreckend und die gelähmten Glieder wieder zurechtbringend, darauf wartete, daß Petruschka wie gewöhnlich ins Zimmer käme. Er wartete schon eine Viertelstunde lang; er hörte, wie der faule Petruschka hinter der Scheidewand mit dem Samowar herumhantierte, konnte sich aber nicht dazu entschließen, ihn zu rufen. Wir können noch mehr sagen: Herr Goljadkin fürchtete sich jetzt sogar ein wenig hin, wusch, rasierte und kämmte sich schnell, zog die Uniform und alles übrige an, ergriff einige Akten und eilte nach der Kanzlei.

Herr Goljadkin betrat sein Dienstlokal in der unruhigen Erwartung von irgend etwas sehr Üblem, in einer Erwartung, die zwar unbewußt und unklar, dabei aber doch recht unangenehm war; bescheiden setzte er sich auf seinen festen Platz neben dem Tischvorsteher Anton Antonowitsch Sjetotschkin. Ohne jemand anzusehen oder mit jemand ein paar freundliche Worte zu wechseln, vertiefte er sich in den Inhalt der vor ihm liegenden Papiere. Er hatte sich entschlossen und fest vorgenommen, allem aus dem Wege zu gehen, was ihn zu kompromittierenden Äußerungen herausfordern konnte, also unbescheidenen Fragen, Späßen und unpassenden Anspielungen auf die Ereignisse des gestrigen Abends; er hatte sich sogar vorgenommen, den Austausch der gewöhnlichen Höflichkeiten mit den Kollegen, d. h. Fragen nach dem Befinden und dergleichen, zu unterlassen. Aber es war auch klar, daß er das auf die Dauer unmöglich aushalten konnte. Die Unruhe und die Ungewißheit über ein ihm nahe bevorstehendes Ungemach quälten ihn stets mehr als das Ungemach selbst. Dies war der Grund, weswegen er trotz seines festen Vorsatzes, sich auf nichts einzulassen und allem aus dem Wege zu gehen, doch manchmal verstohlen und sachte den Kopf in die Höhe hob, heimlich zur Seite nach rechts und links blickte, die Gesichter seiner Kollegen musterte und aus ihnen zu entnehmen suchte, ob etwas Neues, Besonderes vorliege, das ihn beträfe und ihm in irgendwelcher bösen Absicht verheimlicht würde. Er nahm mit Sicherheit an, daß alles, was er gestern erlebt hatte, mit allem, was ihn jetzt umgab, in Verbindung stehe. Er begann endlich in seiner Aufregung zu wünschen, es möchte sich doch alles irgendwie entscheiden, nur recht bald; wenn es auch auf ein Unglück hinausliefe, immerhin! Wie gut verstand das Schicksal Herrn Goljadkins Wunsch: kaum war dieser in ihm rege geworden, als seine Zweifel auf einmal gelöst wurden, aber freilich auf eine sehr seltsame und unerwartete Weise.

Die Tür nach dem Nachbarzimmer knarrte auf einmal leise und bescheiden, wie wenn sie dadurch zum Ausdruck bringen wollte, daß die eintretende Person von sehr geringer Bedeutung sei, und eine Gestalt, die Herrn Goljadkin sehr bekannt vorkam, erschien schüchtern gerade vor dem Tische, an welchem unser Held Platz genommen hatte. Unser Held hob den Kopf nicht in die Höhe; nein, er sah diese Gestalt nur ganz flüchtig von unten her an; aber schon hatte er alles bis auf die kleinsten Einzelheiten erkannt und begriffen. Er erglühte vor Scham und beugte ganz in derselben Absicht seinen armen Kopf in das Aktenstück, mit welcher der von dem Jäger verfolgte Strauß seinen Kopf in den heißen Sand steckt. Der Neuangekommene verbeugte sich vor Andrei Filippowitsch, und darauf ließ sich dessen Stimme in förmlich-freundlichem Tone vernehmen, in demjenigen Tone, in dem an allen Dienststellen die Vorgesetzten zu neu eingetretenen Untergebenen reden. »Setzen Sie sich hierher,« sagte Andrei Filippowitsch und wies den Neuling nach Anton Antonowitschs Tisch hin; »hierher, Herrn Goljadkin gegenüber; mit Arbeit werden wir Sie sofort versehen.« Zum Schluß machte Andrei Filippowitsch dem Neuangekommenen eine höflich ermahnende Handbewegung und vertiefte sich dann schleunigst in den Inhalt einiger Aktenstücke, deren ein ganzer Haufe vor ihm lag.

Herr Goljadkin hob endlich doch die Augen auf, und wenn er nicht in Ohnmacht fiel, so geschah dies nur deshalb nicht, weil er alles schon vorher geahnt, alles schon von vornherein gewußt und in seinem Herzen schon erraten hatte, wer der Ankömmling war. Herrn Goljadkins erste Bewegung war, schnell um sich zu blicken, ob nicht ein Geflüster entstanden sei, ob nicht Witzeleien von der in Bureaus üblichen Art gemacht würden, ob nicht jemand vor Erstaunen das Gesicht verziehe oder gar vor Schreck unter den Tisch gefallen sei. Aber zu seiner größten Verwunderung war an niemandem etwas Derartiges zu bemerken. Das Verhalten seiner Herren Kollegen überraschte ihn. Es schien ihm ganz ohne Sinn und Verstand zu sein. Herr Goljadkin erschrak sogar über dieses auffällige Stillschweigen. Die Wirklichkeit sprach für sich selbst; die Sache war seltsam, absonderlich, ungeheuerlich. Es war aller Grund zur Aufregung vorhanden. All diese Gedanken gingen Herrn Goljadkin selbstverständlich nur ganz flüchtig durch den Kopf. Er selbst hatte die Empfindung, als ob er auf gelindem Feuer geröstet würde. Und das war sehr erklärlich. Derjenige, der Herrn Goljadkin jetzt gegenübersaß, war der, welcher Herrn Goljadkin gestern so erschreckt, geängstigt, gepeinigt hatte, mit einem Worte, es war Herr Goljadkin selbst, nicht jener Herr Goljadkin, der jetzt mit offenem Munde, die trocken gewordene Feder in der Hand, auf dem Stuhle saß, nicht jener, der als Gehilfe seines Tischvorstehers fungierte, nicht jener, der gern in der Menge untertauchte und verschwand, nicht jener endlich, dessen Gang deutlich sagte: »Tut mir nichts zuleide, dann werde ich euch auch nichts zuleide tun,« oder: »Tut mir nichts zuleide; ich tue euch ja auch nichts zuleide,« nein, dies war ein anderer Herr Goljadkin, ein ganz anderer, der aber gleichzeitig dem ersten völlig ähnlich war, von derselben Größe, von demselben Wuchse, ebenso gekleidet, mit einer ebensolchen Glatze; kurz, nichts, geradezu nichts war zur vollständigen Ähnlichkeit vergessen, so daß, wenn man sie nebeneinander gestellt hätte, niemand, entschieden niemand gewagt haben würde zu entscheiden, wer eigentlich der wirkliche Goljadkin und wer der falsche sei, wer der alte und wer der neue, wer das Original und wer die Kopie.

Unser Held befand sich, wenn dieser Vergleich möglich ist, jetzt in der Lage eines Menschen, über den sich ein Schalk lustig macht, indem er zum Spaß heimlich ein Brennglas auf ihn richtet. »Was ist das nun? Ist es ein Traum oder nicht?« dachte er; »ist es Wirklichkeit oder eine Fortsetzung des gestrigen Erlebnisses? Aber mit welchem Rechte geschieht eigentlich dies alles? Wer hat die Anstellung eines solchen Beamten gestattet? Wer hat dazu eine Berechtigung erteilt? Schlafe ich? Träume ich?« Herr Goljadkin versuchte ins klare zu kommen, indem er sich selbst kniff; er dachte sogar daran, dies mit irgendeinem andern vorzunehmen… Nein, es war kein Traum; das stand fest. Herr Goljadkin fühlte, daß der und mit dem ganzen Charakter des Vorgangs harmonierte, folglich in gewisser Beziehung sehr merkwürdig war, so legte der gutmütige Anton Antonowitsch die Feder hin und erkundigte sich in besonders teilnahmsvoller Art nach Herrn Goljadkins Gesundheit.

»Gott sei Dank, Anton Antonowitsch, ich …« erwiderte Herr Goljadkin stotternd, »ich bin ganz gesund, Anton Antonowitsch; ich kann augenblicklich nicht klagen, Anton Antonowitsch,« fügte er in unsicherem Tone hinzu, da er diesem Anton Antonowitsch, dessen Namen er so häufig angebracht hatte, noch immer nicht ganz traute.

»So so! Und ich hatte schon geglaubt, Sie wären nicht wohl. Übrigens wäre das ja auch kein Wunder, im Gegenteil! Es herrschen jetzt allerlei ansteckende Krankheiten, wissen Sie …!«

»Ja, ich weiß, Anton Antonowitsch, daß solche Krankheiten herrschen … Aber, Anton Antonowitsch, das ist nicht der Grund, weswegen ich …« fuhr Herr Goljadkin, seinen Tischvorsteher unverwandt anblickend; fort. »Sehen Sie, Anton Antonowitsch, ich weiß nicht einmal, wie ich Ihnen … d. h. ich will sagen, von welcher Seite ich diese Sache anfassen soll, Anton Antonowitsch…«

»Was meinen Sie? Ich habe Sie … wissen Sie … ich muß bekennen, ich verstehe Sie noch nicht recht; bitte, erklären Sie deutlicher, was Sie so in Verlegenheit setzt,« sagte Anton Antonowitsch, der selbst ein wenig verlegen wurde, da er sah, daß Herrn Goljadkin sogar Tränen in die Augen getreten waren. »Ich weiß wirklich nicht, Anton Antonowitsch … hier … da ist ein Beamter, Anton Antonowitsch …«

»Na! Ich verstehe immer noch nicht.«

»Ich will sagen, Anton Antonowitsch, es ist hier ein neu eingetretener Beamter.«

»Ja freilich; ein Namensvetter von Ihnen.«

»Wie?« rief Herr Goljadkin.

»Ich sage: ein Namensvetter von Ihnen; er heißt ebenfalls Goljadkin. Ist er kein Verwandter von Ihnen?«

»Nein, Anton Antonowitsch, ich …«

»Hm! Nun sagen Sie mal! Und ich hatte geglaubt, er wäre gewiß ein naher Verwandter von Ihnen. Wissen Sie, es ist da so eine gewisse Familienähnlichkeit.«

Herr Goljadkin war starr vor Erstaunen, und eine Weile versagte ihm die Zunge den Dienst. Wie konnte der andre eine in ihrer Art so seltene, eine so ungeheuerliche, unerhörte Sache so leichthin behandeln, eine Sache, die sogar einen ganz unbeteiligten Zuschauer befremden mußte! Wie konnte er von Familienähnlichkeit sprechen, wo ein reines Spiegelbild vorlag!

»Wissen Sie, was ich Ihnen raten möchte, Jakow Petrowitsch?« fuhr Anton Antonowitsch fort. »Sie sollten zu einem Arzte gehen und den befragen. Wissen Sie, Sie sehen ganz krank aus. Besonders Ihre Augen … wissen Sie, Ihre Augen haben so einen besonderen Ausdruck.«

»Nicht doch, Anton Antonowitsch; ich fühle allerdings … d. h. ich wollte noch fragen, wie es mit diesem Beamten steht.«

»Wieso?« »Das heißt, haben Sie an ihm nicht etwas Besonderes bemerkt, Anton Antonowitsch … etwas sehr Auffälliges?«

»Inwiefern?«

»Ich meine zum Beispiel eine überraschende Ähnlichkeit mit jemand, Anton Antonowitsch, d. h. zum Beispiel mit mir. Sie sprachen soeben von einer Familienähnlichkeit, Anton Antonowitsch, und machten darüber so eine beiläufige Bemerkung … Wissen Sie, es kommen manchmal Zwillinge vor, die sich ähnlich sehen wie ein Ei dem andern, so daß man sie gar nicht unterscheiden kann. Nun also, von solcher Ähnlichkeit rede ich.«

»Ja,« versetzte Anton Antonowitsch nach kurzem Nachdenken, und wie wenn ihm dieser Umstand jetzt zum ersten Male auffiele, »ja, allerdings! Sie haben recht, die Ähnlichkeit ist wirklich erstaunlich; und Sie urteilen ganz richtig: sie ist so groß, daß man wirklich den einen für den andern nehmen kann,« fuhr er fort, indem er die Augen immer weiter öffnete. »Und wissen Sie, Jakow Petrowitsch, es ist sogar eine wunderbare Ähnlichkeit, eine märchenhafte Ähnlichkeit, wie man zu sagen pflegt, d. h. er sieht vollständig so aus wie Sie… Haben Sie das bemerkt, Jakow Petrowitsch? Ich wollte Sie schon selbst bitten, es mir zu erklären; aber ich muß bekennen, ich habe es anfänglich nicht gebührend beachtet. Es ist ein Wunder, in der Tat ein Wunder! Sagen Sie mal, Jakow Petrowitsch, Sie sind ja wohl nicht hier geboren, wie?«

»Nein.«

»Er ist auch kein Hiesiger. Vielleicht stammt er aus demselben Orte wie Sie. Gestatten Sie die Frage: wo hat Ihre Mutter meistens gelebt?«

»Sie sagten … Sie sagten, Anton Antonowitsch, er sei kein Hiesiger?«

»Allerdings, er ist nicht von hier. Aber wirklich, es ist ein reines Wunder,« fuhr der redselige Anton Antonowitsch fort, für den es das größte Vergnügen war, wenn er über irgendetwas plaudern konnte. »In der Tat, die Sache kann einen neugierig machen; wie oft geht man an dergleichen vorüber, streift daran an, stößt daran an und bemerkt es nicht! Beunruhigen Sie sich übrigens nicht! So etwas kommt vor! Wissen Sie, da möchte ich Ihnen erzählen: ganz dasselbe begegnete meiner Tante von mütterlicher Seite; die sah sich auch vor ihrem Tode doppelt…«

»Nein, ich … entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, Anton Antonowitsch … ich wollte mich erkundigen, was es mit diesem Beamten für eine Bewandtnis hat, d. h. aus welchen Gründen er hier ist.«

»Er ist an Stelle des verstorbenen Semjon Iwanowitsch hier; in dessen vakanten Platz ist er eingerückt; es war eine Vakanz entstanden, und da hat man ihn eingestellt. War doch ein prächtiger Mensch, dieser Semjon Iwanowitsch; drei Kinder hat er hinterlassen, wie man sagt, eines immer kleiner als das andere. Die Witwe hat sich Seiner Exzellenz zu Füßen geworfen. Man sagt übrigens, sie verberge Geld; sie habe welches, verberge es aber…«

»Nein, Anton Antonowitsch, ich wollte gern noch mehr über jenen eigentümlichen Fall hören.« »Was meinen Sie? Ach ja! Aber warum interessieren Sie sich so dafür? Ich sage Ihnen: beunruhigen Sie sich nicht darüber! Das geht alles vorüber. Was ist denn dabei? Sie können ja nichts dafür; das hat nun einmal unser Herrgott selbst so eingerichtet; das ist sein Wille gewesen, und darüber zu murren ist Sünde. Darin erkennt man seine Weisheit. Sie aber, Jakow Petrowitsch, sind, soviel ich davon verstehe, in keiner Weise schuld daran. Was gibt es nicht alles für Wunderdinge auf der Welt! Mutter Natur ist freigebig, und Sie werden dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden; Sie werden das nicht zu verantworten brauchen. Da fällt mir zum Beispiel ein. Sie haben ja wohl gehört, wie die.. wie nennt man sie doch?… ja, die siamesischen Zwillinge, wie die mit dem Rücken zusammengewachsen sind und so zusammen leben und essen und schlafen; es heißt, sie nehmen eine Menge Geld ein.«

»Erlauben Sie, Anton Antonowitsch…«

»Ich verstehe Sie, ich verstehe Sie! Ja! Nun ja, was ist dabei? Gar nichts! Ich sage: nach meiner vollen Überzeugung haben Sie keinen Anlaß, sich zu beunruhigen. Was liegt denn vor? Er ist ein Beamter wie andere, und es scheint ja, daß er ein tüchtiger Arbeiter ist. Er sagt, er heiße Goljadkin und sei nicht von hier und sei Titularrat. Er hat persönlich mit Seiner Exzellenz gesprochen.«

»Und wie hat sich Seine Exzellenz dazu gestellt?«

»Es ist nichts Besonderes darüber zu sagen. Der Mensch hat sich, wie man sagt, hinreichend ausgewiesen und seine Gründe dargelegt. Er hat gesagt: ›So und so, Exzellenz; ich besitze kein Vermögen und möchte gern amtlich tätig sein, und es wäre mir eine besondere Ehre, wenn mir das unter Ihrer Leitung vergönnt wäre;‹ … na, und alles, wie es sich gehört; wissen Sie, er hat sich ganz geschickt ausgedrückt. Es muß ein kluger Mensch sein. Na, selbstverständlich hat er auch eine Empfehlung mitgebracht; ohne eine solche wäre es ja nicht gegangen …«

»Von wem war die denn? … Das heißt, ich meine, wer hat denn eigentlich bei dieser schändlichen Sache seine Hand im Spiele gehabt?«

»Ja, man sagt, es sei eine gute Empfehlung gewesen; man sagt, Seine Exzellenz habe mit Andrei Filippowitsch zusammen gelacht.«

»Mit Andrei Filippowitsch gelacht?«

»Jawohl; er habe gelächelt und gesagt, es sei gut, und er seinerseits sei nicht abgeneigt, wenn er nur seine dienstlichen Obliegenheiten treu erfüllen wolle …«

»Bitte, weiter! Sie beruhigen mich einigermaßen, Anton Antonowitsch; ich bitte Sie inständig: weiter!«

»Gestatten Sie, ich wundere mich wieder über Sie … Na ja, na, die Sache ist ja ganz unwichtig; das Ereignis ist weiter nicht wunderbar; ich sage: beunruhigen Sie sich nicht; man braucht daran nichts bedenklich zu finden …«

»Nein. Ich möchte Sie noch fragen, Anton Antonowitsch, ob Seine Exzellenz weiter nichts hinzugefügt hat … zum Beispiel etwas, was mich betrifft.«

»Das heißt, gewiß! Ja freilich! Oder vielmehr nein, nichts, Sie können ganz beruhigt sein. Wissen Sie, das ist ja selbstverständlich, daß die Sache sehr auffallend ist, und zuerst … ja, sehen Sie, ich zum Beispiel habe sie zuerst fast gar nicht beachtet. Ich weiß wirklich nicht, warum ich sie nicht eher beachtet hatte, als bis Sie mich darauf aufmerksam machten. Aber übrigens, Sie können ganz beruhigt sein. Seine Exzellenz hat nichts Besonderes gesagt, gar nichts gesagt,« fügte der gutmütige Anton Antonowitsch hinzu, indem er sich von seinem Stuhle erhob.

»Also, Anton Antonowitsch, ich möchte …«

»Bitte, entschuldigen Sie mich! Ich habe schon zu viel Zeit mit diesen Kleinigkeiten verplaudert, und da ist eine wichtige, eilige Sache. Die muß ich notwendig fertigmachen.«

»Anton Antonowitsch!« rief Andrei Filippowitschs Stimme in höflichem Tone. »Seine Exzellenz wünscht Sie zu sprechen.«

»Sofort, sofort, Andrei Filippowitsch; ich komme sofort.« Anton Antonowitsch ergriff einen Pack Akten und lief zuerst zu Andrei Filippowitsch und dann in das Arbeitszimmer Seiner Exzellenz.

»Also wie liegt denn die Sache?« dachte Herr Goljadkin bei sich. »Also wie steht mein Spiel? Was macht der Himmel jetzt für ein Gesicht? … Es steht nicht übel; die Sache hat eine sehr angenehme Wendung genommen,« sagte unser Held im stillen, indem er sich die Hände rieb und vor Freuden den Stuhl unter seinem Leibe nicht spürte. »Also ist meine Sache eine ganz gewöhnliche Sache. Also wird alles ein harmloses Ende nehmen und keine schlimmen Folgen haben. Es hat tatsächlich niemand etwas gemerkt, und meine Kollegen, diese Banditen, haben sich keine Dreistigkeiten herausgenommen; sie sitzen still da und beschäftigen sich mit ihren Akten; prächtig, prächtig! Ich habe diesen guten Menschen, unsern Anton Antonowitsch, sehr gern; ich habe ihn immer sehr gern gehabt und hochgeschätzt … Übrigens, ja … wenn man bedenkt … dieser Anton Antonowitsch … verlassen kann man sich doch nicht auf ihn: er ist doch schon ganz grau und vor Alter recht wackelig geworden. Das beste und wichtigste ist übrigens, daß Seine Exzellenz nichts gesagt hat und die Sache so hat vorübergehen lassen. Das ist gut; das freut mich! Nur, warum mischt sich Andrei Filippowitsch da mit seinem Gelächter hinein? Was kümmert ihn die Sache? Dieser alte Fuchs! Immer ist er mir im Wege; immer sucht er einem einen Strich durch die Rechnung zu machen; immer kommt er einem in die Quere und ist einem hinderlich; immer ist er einem hinderlich und kommt einem in die Quere…«

Herr Goljadkin blickte wieder rings um sich und wurde wieder von neuer Hoffnung belebt. Er fühlte aber doch, daß ihn trotzdem eine ferne Ahnung von Unheil beunruhigte. Es kam ihm sogar der Einfall, sich selbst irgendwie an die Beamten heranzumachen, das Prävenire zu spielen, also etwa beim Herausgehen nach Schluß der Bureaustunden, oder indem er unter dem Vorwande einer geschäftlichen Anfrage an sie heranträte, gesprächsweise Andeutungen in folgender Art zu machen: »So und so, meine Herren, da ist so eine auffällige Ähnlichkeit, ein seltsamer Fall, die reine Komödie,« also sich selbst über die ganze Sache lustig zu machen und auf diese Weise die Tiefe der Gefahr zu sondieren. Aber unser Held sagte sich zum Schluß in Gedanken, in einem stillen, tiefen Pfuhl hätten die Teufel ihr Wesen. Übrigens war das bei Herrn Goljadkin nur ein vorübergehender Gedanke; er wurde noch rechtzeitig anderen Sinnes. Er sah ein, daß das so viel hieße, als die Gefahr herausfordern. »Das liegt nun einmal in deinem Charakter,« sagte er zu sich selbst und klopfte sich leicht mit der Hand gegen die Stirn; »gleich bist du wieder fröhlich und treibst Mutwillen! Du bist eine biedere Seele! Nein, jetzt ist es schon das beste zu warten, Jakow Petrowitsch; jetzt wollen wir uns gedulden und warten!« Nichtsdestoweniger war Herr Goljadkin, wie wir bereits erwähnt haben, wieder hoffnungsvoll und hatte ein Gefühl, als ob er von den Toten auferstanden wäre. »Es macht sich,« dachte er; »es ist mir, wie wenn mir eine Zentnerlast von der Brust gefallen wäre! Nein, so ein Erlebnis! ›Das Kästchen war nur einfach aufzuklappen‹. Krylow hat recht … Krylow hat recht; dieser Krylow ist ein Fuchs, ein Schlaukopf und ein großer Fabeldichter! Aber was diesen Menschen anlangt, so mag er meinetwegen hier amtieren, und möge es ihm wohl bekommen, wenn er nur niemandem in die Quere kommt und mit niemandem Streit anfängt; mag er hier amtieren, ich habe nichts dagegen, ich bin einverstanden!«

Unterdessen verging die Zeit wie im Fluge, und ehe Herr Goljadkin sich dessen versah, schlug es vier. Die Amtsstunden waren zu Ende; Andrei Filippowitsch griff nach seinem Hute, und alle folgten wie üblich seinem Beispiele. Herr Goljadkin blieb unter dem Vorwande eines notwendigen Bedürfnisses noch eine kleine Weile zurück und ging absichtlich erst nach allen andern, als letzter, weg, als sich bereits alle nach verschiedenen Richtungen verteilt hatten. Als er auf die Straße hinaustrat, fühlte er sich wie im Paradiese, so daß bei ihm sogar der Wunsch rege wurde, einen Umweg zu machen und eine Strecke auf dem Newski-Prospekte zu gehen. »So geht es in der Welt!« sagte unser Held. »Ein unerwarteter Umschwung der ganzen Sache! Auch das Wetter hat sich aufgeklärt; Kälte und Schlittenfahrt. Und die Kälte taugt für den Russen; der Russe verträgt sich mit der Kälte prächtig. Ich liebe den Russen. Auch ein bißchen Schnee ist da, der erste Spurschnee, wie ein Jäger sagen würde; da müßte man im ersten Spurschnee auf die Hasenjagd gehen! Ei weih! Na, wenn’s nicht ist, so schadet’s auch nichts!«

So gab Herr Goljadkin seinem Entzücken Ausdruck; aber dabei hatte er doch immer noch ein kitzelndes Gefühl im Kopfe, das mit Kummer Ähnlichkeit hatte, und manchmal verspürte er am Herzen ein Saugen, gegen das er kein Linderungsmittel wußte. »Übrigens, wir wollen noch einen Tag warten und uns dann erst freuen. Was ist denn eigentlich los? Na, wir wollen die Sache überlegen, die Sache ansehen. Na, also laß uns einmal überlegen, mein junger Freund, laß uns einmal überlegen! Also da ist ein ebensolcher Mensch wie du, ein ganz ebensolcher. Na, was hat es damit auf sich? Wenn ein solcher Mensch da ist, brauche ich darüber zu weinen? Was geht es mich an? Ich habe damit nichts zu schaffen; ich pfeife darauf, Punktum! Er ist nun einmal da, Punktum! Mag er amtieren! Na, da wird nun gesagt, das sei ein Wunder und eine Seltsamkeit wie die siamesischen Zwillinge… Na, was sollen dabei die Siamesen? Allerdings, die sind Zwillinge; aber auch große Männer haben manchmal ihre Wunderlichkeiten gehabt. Es ist sogar aus der Geschichte bekannt, daß der berühmte Suworow wie ein Hahn krähte… Na, das tat er alles aus Politik; auch große Feldherrn … aber was sollen hier die Feldherrn? Ich bin ein gewöhnlicher Mensch und weiter nichts und will niemanden kennen und verachte im Gefühle meiner Unschuld den Feind. Ich bin kein Intrigant und bin stolz darauf. Mein Charakter ist rein, aufrichtig, anständig, freundlich, sanft…«

Plötzlich verstummte Herr Goljadkin, brach ab und zitterte wie ein Blatt; ja, er schloß sogar für einen Augenblick die Augen. Da er jedoch hoffte, daß der Gegenstand seiner Furcht einfach eine Augentäuschung sei, so öffnete er schließlich die Augen wieder und schielte schüchtern nach rechts. Nein, es war keine Augentäuschung!… Neben ihm trippelte sein Bekannter vom Vormittag, lächelte, schaute ihm ins Gesicht und wartete, wie es schien, auf eine Gelegenheit, um ein Gespräch anzufangen. Es kam jedoch nicht dazu. Auf diese Art gingen sie beide etwa fünfzig Schritte. Herrn Goljadkins ganzes Bemühen ging dahin, sich möglichst fest in seinen Mantel einzuhüllen, sich möglichst tief in ihn zu vergraben und den Hut so weit als nur irgend möglich auf die Augen herabzuziehen. Um die Beleidigung vollständig zu machen, waren auch der Mantel und der Hut seines Freundes genau von derselben Art wie diejenigen, die Herr Goljadkin auf den Schultern und auf dem Kopfe trug.

»Mein Herr,« sagte unser Held endlich, indem er sich bemühte, fast im Flüstertone zu sprechen, und seinen Freund nicht ansah, »es scheint, daß wir verschiedene Wege haben … Ich bin sogar überzeugt davon,« sagte er, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Ich bin auch überzeugt, daß Sie mich vollständig verstanden haben,« fügte er zum Schluß in ziemlich strengem Tone hinzu.

»Ich möchte gern …« erwiderte endlich Herrn Goljadkins Freund, »ich möchte gern … ich hoffe, Sie werden mich großmütig entschuldigen … ich weiß nicht, an wen ich mich hier wenden soll … meine Umstände … ich hoffe, Sie werden meine Dreistigkeit verzeihen … es schien mir sogar, als ob Sie heute morgen, von Mitleid bewegt, an mir Anteil nahmen. Ich meinerseits habe mich gleich beim ersten Blick zu Ihnen hingezogen gefühlt; ich …« Hier wünschte Herr Goljadkin in Gedanken, sein neuer Kollege möchte in die Erde versinken.

»Wenn ich wagen könnte zu hoffen, daß Sie, Jakow Petrowitsch, mir gütiges Gehör schenken würden …«

»Wir … wir sind hier nicht ungestört. Wir … wollen lieber in meine Wohnung gehen,« versetzte Herr Goljadkin. »Wir wollen jetzt auf die andre Seite des Newski hinübergehen; dort werden wir beide bequemer gehen können. Und dann wollen wir eine Seitengasse einschlagen … das wird das beste sein.«

»Schön. Schlagen wir die Seitengasse ein, wenn es Ihnen so gefällig ist!« erwiderte Herrn Goljadkins demütiger Gefährte schüchtern, wie wenn er durch den Ton seiner Antwort zum Ausdruck bringen wollte, daß er nicht wählerisch sein dürfe und in seiner Lage bereit sei, sich auch mit einer Seitengasse zu begnügen. Was Herrn Goljadkin anlangt, so begriff er gar nicht, was mit ihm vorging. Er traute seinen eigenen Sinnen nicht. Er war von seinem Erstaunen noch nicht wieder zu sich gekommen.

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7. Kapitel

7. Kapitel

Erst auf der Treppe und vor der Eingangstür zu seiner Wohnung gewann er einigermaßen seine Fassung wieder. »Ach, ich Schafskopf!« schimpfte er sich selbst in Gedanken; »wohin führe ich ihn nun? Ich stecke selbst den Kopf in die Schlinge. Was wird Petruschka denken, wenn er uns zusammen sieht? Was wird dieser Halunke sich jetzt zu denken erdreisten? Und er ist so argwöhnisch …« Aber zur Reue war es bereits zu spät; Herr Goljadkin klopfte, die Tür öffnete sich, und Petruschka nahm dem Gaste und dem Hausherrn die Mäntel ab. Herr Goljadkin warf aus dem Augenwinkel flüchtige Blicke nach Petruschka und bemühte sich, seine Miene zu ergründen und seine Gedanken daraus zu erraten. Aber zu seinem größten Erstaunen sah er, daß sein Diener gar nicht daran dachte, sich zu wundern, sondern im Gegenteil so etwas erwartet zu haben schien. Allerdings machte er auch jetzt ein Gesicht wie ein Wolf, schielte zur Seite hin und tat, als ob er jemand fressen wollte. »Hat sie neben den Stuhl, auf dessen äußerstem Rande er demütig Platz genommen hatte. Dieser geringfügige Vorgang öffnete Herrn Goljadkin einigermaßen die Augen; er sah nun ein, daß der andere ihn sehr nötig hatte, und zerbrach sich daher nicht mehr den Kopf darüber, wie er mit seinem Gaste ein Gespräch anfangen solle, sondern überließ, wie es sich gebührte, alles diesem selbst. Aber der Gast seinerseits fing nicht an zu reden; ob er zu schüchtern war oder sich ein wenig schämte oder aus Höflichkeit darauf wartete, daß der Wirt den Anfang mache, blieb dahingestellt und war schwer zu entscheiden. In diesem Augenblicke kam Petruschka herein, blieb in der Tür stehen und blickte nach derjenigen Seite hin, die der, wo sich sein Herr und der Gast befanden, ganz entgegengesetzt war.

»Befehlen Sie, daß ich zwei Portionen Mittagessen hole?« fragte er mit seiner heiseren Stimme in nachlässigem Tone.

»Ich … ich weiß nicht … Sie … ja, hole zwei Portionen, mein Lieber!«

Petruschka ging weg. Herr Goljadkin sah seinen Gast an. Der Gast errötete bis über die Ohren. Herr Goljadkin war ein gutmütiger Mensch und legte sich daher in der Güte seines Herzens sogleich eine Anschauung zurecht:

»Er ist ein armer Mensch«, dachte er, »und erst einen Tag in seiner Stelle; wahrscheinlich hat er vorher viel leiden müssen; nur gut, daß er einen anständigen Anzug besitzt; aber Geld zum Mittagessen wird er nicht haben. Ach mein Gott, wie niedergeschlagen er aussieht! Na, das schadet nichts: das hat sogar sein Gutes …« – »Verzeihen Sie, daß ich …« begann Herr Goljadkin, »gestatten Sie übrigens die Frage, wie ich Sie nennen darf!«

»Ich … ich … heiße Jakow Petrowitsch,« erwiderte der Gast fast flüsternd, als wenn er sich schämte und um Verzeihung dafür bäte, daß er ebenfalls Jakow Petrowitsch heiße.

»Jakow Petrowitsch,« wiederholte unser Held, der nicht imstande war, seine Aufregung zu verbergen.

»Ja, ganz richtig … Ich bin Ihr Namensvetter,« antwortete Herrn Goljadkins demütiger Gast, indem er sich dazu aufraffte, zu lächeln und in scherzendem Tone zu reden. Aber er fiel sogleich in seine unterwürfige Haltung wieder zurück, als er die sehr ernste und etwas bestürzte Miene seines Wirtes wahrnahm und merkte, daß dieser jetzt zu Scherzen nicht aufgelegt sei.

»Gestatten … gestatten Sie mir die Frage, welchem Umstande ich die Ehre zu verdanken habe …«

»Da ich Ihre Großmut und Wohltätigkeit kenne,« unterbrach ihn der Gast schnell, aber in schüchternem Tone, indem er sich ein wenig von seinem Stuhle erhob, »so habe ich es gewagt, mich an Sie zu wenden und Sie um Ihre … um Ihre Bekanntschaft und Gönnerschaft zu bitten …« schloß der Gast, der es schwierig fand sich auszudrücken und nach Worten suchte, die einerseits nicht zu schmeichlerisch und unterwürfig klängen, um nicht sein eigenes Ehrgefühl zu verletzen, andrerseits aber auch nicht zu kühn wären und ungehörigerweise den Anspruch auf Gleichstellung erhöben. Im allgemeinen konnte man sagen, daß Herrn Goljadkins Gast sich wie ein Bettler aus gutem Stande in einem geflickten Frack und mit einem ordnungsmäßigen Paß in der Tasche benahm, der noch keine Übung darin gewonnen hat, wie es sich gehört, die Hand auszustrecken.

»Sie setzen mich in Verlegenheit,« erwiderte Herr Goljadkin, indem er sich selbst, seine Wände und den Gast betrachtete; »womit könnte ich denn … das heißt, ich will sagen, in welcher Beziehung kann ich Ihnen eigentlich mit irgend etwas dienen?«

»Ich habe mich gleich beim ersten Blick zu Ihnen hingezogen gefühlt, Jakow Petrowitsch, und habe (verzeihen Sie mir großmütig!) meine Hoffnung auf Sie gesetzt … habe gewagt, meine Hoffnung auf Sie zu setzen, Jakow Petrowitsch. Ich … ich fühle mich hier ganz wie verloren, Jakow Petrowitsch; ich bin arm, habe sehr viel gelitten, Jakow Petrowitsch, und bin hier noch neu. Da ich erfahren hatte, daß Sie zu den Ihnen angeborenen vortrefflichen Eigenschaften Ihrer schönen Seele auch noch mit mir denselben Namen führen …«

Herr Goljadkin runzelte die Stirn.

»… auch noch mit mir denselben Namen führen und mit mir aus demselben Orte stammen, so entschloß ich mich, mich an Sie zu wenden und Ihnen meine schwierige Lage vorzutragen.«

»Gut, gut, ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf erwidern soll,« antwortete Herr Goljadkin verlegen. Wissen Sie, wir wollen nach Tische darüber reden …«

Der Gast verbeugte sich; das Mittagessen wurde gebracht. Petruschka stellte alles in Ordnung auf den Tisch, und Gast und Wirt schickten sich an, sich zu sättigen. Das Essen dauerte nicht lange, denn sie beeilten sich: der Wirt, weil er sich unbehaglich fühlte und sich außerdem über das schlechte Mittagessen schämte (er schämte sich zum Teil deswegen, weil er den Gast gern gut bewirtet hätte, teils deswegen, weil er zu zeigen wünschte, daß er nicht wie ein Bettler lebe), und der Gast seinerseits, weil er sich in schrecklicher Verwirrung und äußerster Verlegenheit befand. Nachdem er einmal Brot genommen und seine Schnitte aufgegessen hatte, scheute er sich, die Hand nach einer zweiten Schnitte auszustrecken; er genierte sich, von den Speisen ein besseres Stückchen zu nehmen, und versicherte alle Augenblicke, er sei gar nicht hungrig, das Mittagessen sei vorzüglich, er für seine Person sei völlig zufrieden und werde bis zum Grabe daran denken. Als das Essen zu Ende war, zündete Herr Goljadkin sich seine Pfeife an und offerierte die andere, die er sich für Freundesbesuch hielt, dem Gaste; beide setzten sich einander gegenüber, und der Gast begann seine Erlebnisse zu erzählen.

Die Erzählung des jüngeren Herrn Goljadkin dauerte drei oder vier Stunden. Die Geschichte seiner Erlebnisse setzte sich übrigens aus den unbedeutendsten und, wenn man sich so ausdrücken kann, miserabelsten Einzelheiten zusammen. Es handelte sich dabei um amtliche Tätigkeit irgendwo bei einem Gerichte, bei einer Gouvernementsregierung; um Staatsanwälte und Präsidenten; um irgendwelche Bureau-Intrigen; um die Schändlichkeit eines Tischvorstehers; um einen Revisor; um einen plötzlichen Wechsel der Person des Chefs; darum, daß Herr Goljadkin der zweite ganz unschuldig hatte leiden müssen; um seine alte Tante Pelageja Semjonowna; darum, daß er infolge verschiedener Intrigen seiner Feinde seine Stelle verloren hatte und zu Fuß nach Petersburg gewandert war; darum, daß er hier in Petersburg viel Not und Elend durchgemacht, lange erfolglos eine Stelle gesucht, sich auf das kümmerlichste beholfen, beinah auf der Straße gewohnt, altes, vertrocknetes Brot gegessen und dazu seine Tränen geschluckt, auf dem nackten Fußboden geschlafen hatte, und daß endlich irgendein guter Mensch es übernommen hatte, für ihn zu sorgen, ihn empfohlen und ihm großmütig seine jetzige Stellung verschafft hatte. Herrn Goljadkins Gast weinte bei dieser Erzählung und trocknete sich die Tränen mit einem blaukarierten Taschentuche ab, das große Ähnlichkeit mit Wachstuch hatte. Er schloß damit, daß er Herrn Goljadkin seine derzeitige Lage mit völliger Offenheit darlegte und ihm gestand, daß er kein Geld habe, um davon in nächster Zeit zu leben und sich anständig einzurichten, ja nicht einmal um sich ordentlich zu equipieren. Er fügte noch hinzu, er könne nicht einmal das Geld für Stiefel auftreiben, und die Uniform habe er sich von jemand auf kurze Zeit geliehen.

Herr Goljadkin war gerührt und fühlte aufrichtiges Mitleid. Obgleich die Geschichte seines Gastes eine so öde Geschichte war, fielen alle Worte derselben auf sein Herz wie himmlisches Manna. Die Sache war die, daß Herr Goljadkin nun seine letzten Zweifel vergaß, sein Herz wieder dem Gefühl der Freiheit und der Freude Inhalt, in schönem Stil und mit guter Handschrift geschrieben und augenscheinlich von dem liebenswürdigen Gaste selbst verfaßt. Die Verse lauteten:

»Solltest je du mein vergessen,
Niemals doch vergeß ich dein;
Viel begibt sich wohl im Leben,
Doch vergiß auch du nicht mein!«

Mit Tränen in den Augen umarmte Herr Goljadkin seinen Gast, und nachdem er seinen Gefühlen völlig freien Lauf gelassen hatte, weihte er selbst seinen Gast in mehrere seiner Geheimnisse ein, wobei Andrei Filippowitsch und Klara Olsufjewna die Hauptthemata waren. »Na, du und ich, wir passen zusammen, Jakow Petrowitsch,« sagte unser Held zu seinem Gaste; »wir beide, Jakow Petrowitsch, wollen leben wie die Fische im Wasser, wie zwei leibliche Brüder; wir wollen List anwenden, Freundchen, wollen zusammen List anwenden; wir wollen unsererseits eine Intrige gegen sie einfädeln … gegen sie eine Intrige einfädeln. Aber von denen vertraue du dich niemandem an! Ich kenne dich ja, Jakow Petrowitsch, und verstehe deinen Charakter; du erzählst einem gleich alles; du bist eine redliche Seele! Halte dich von denen allen fern, Bruder!« Der Gast war damit völlig einverstanden, dankte Herrn Goljadkin und vergoß zuletzt ebenfalls Tränen. »Weißt du was, lieber Jakow,« sagte Herr Goljadkin mit leiser, zitternder Stimme, »zieh für einige Zeit zu mir, oder auch für immer! Wir passen zusammen. Wie denkst du darüber, Bruder? Rege dich nicht darüber auf und murre nicht darüber, daß zwischen uns jetzt ein so sonderbares Verhältnis besteht; zu murren ist den türkischen Propheten Mohammed allerlei Verleumdungen vorbrächten, erkannte ihn als einen großen Politiker in seiner Art an und ging dann zu einer sehr interessanten Beschreibung einer Barbierstube in Algier über, von der er in einem Büchelchen unter »Allerlei« gelesen hatte. Der Gast und der Wirt lachten herzlich über die Einfalt der Türken, konnten aber nicht umhin, ihren durch das Opium hervorgerufenen Fanatismus zu bewundern … Der Gast begann endlich sich zu entkleiden, und Herr Goljadkin ging hinaus hinter die Scheidewand, zum Teil aus Gutherzigkeit, um den Gast, der vielleicht kein anständiges Hemd anhabe, nicht in Verlegenheit zu setzen, da er ohnehin schon genug gelitten habe, und zum andern Teil um sich nach Möglichkeit Petruschkas zu vergewissern, ihn zu sondieren und ihn wenn möglich durch freundliche Worte aufzuheitern, damit alle glücklich waren und keine Spur von Verstimmung zurückbliebe. Es muß bemerkt werden, daß Herr Goljadkin sich immer noch ein wenig über Petruschka beunruhigte.

»Lege dich jetzt schlafen, Petruschka!« sagte Herr Goljadkin sanft, indem er in die Abteilung seines Dieners hereintrat. »Lege dich jetzt schlafen, und morgen um acht Uhr wecke mich! Hörst du, Petruschka?«

Herr Goljadkin sprach in außerordentlich mildem, freundlichem Tone. Aber Petruschka schwieg. Er war in diesem Augenblick damit beschäftigt, sein Bett zu machen, und wendete sich nicht einmal zu seinem Herrn um, was er doch schon aus Respekt gegen ihn hätte tun müssen.

»Hast du gehört, was ich sage, Petruschka?« fuhr Herr Goljadkin fort. »Lege dich jetzt schlafen, und morgen, Petruschka, wecke mich um acht Uhr; verstehst du?«

»Ich werde schon daran denken; große Sache!« brummte Petruschka vor sich hin.

»Nun, nun, Petruschka; ich sage das ja nur so, damit auch du ruhig und glücklich sein kannst. Siehst du, wir sind jetzt alle glücklich; da möchte ich, daß auch du ruhig und glücklich wärest. Jetzt aber wünsche ich dir Gute Nacht. Schlaf dich aus, Petruschka, schlaf dich aus: es hat ein jeder von uns seine Mühe und Arbeit … Und weißt du, lieber Freund, mach dir keine Gedanken darüber, daß …«

Herr Goljadkin hatte den Satz angefangen, hielt dann aber inne. »Sage ich auch nicht zu viel?« dachte er. »Fordere ich auch nicht die Gefahr heraus? So mache ich das immer; ich gehe immer zu weit.« Unser Held ging, sehr unzufrieden mit sich selbst, aus Petruschkas Raume hinaus. Außerdem fühlte er sich durch Petruschkas Respektlosigkeit und Grobheit etwas beleidigt. »Man redet freundlich mit einem solchen Halunken, der Herr erweist ihm eine Ehre, und er hat kein Gefühl dafür,« dachte Herr Goljadkin. »Übrigens findet man diese gemeine Gesinnung bei dieser ganzen Menschenklasse!« Etwas schwankend kehrte er in das Zimmer zurück, und da er sah, daß sein Gast sich schon vollständig hingelegt hatte, setzte er sich für einen Augenblick zu ihm auf das Bett. »Aber das mußt du doch bekennen, lieber Jakow« begann er flüsternd und mit dem Kopfe wackelnd, »du hast dich doch mir gegenüber vergangen, du schändlicher Mensch! Weißt du, Namensvetter, du hast doch … hm …« fuhr er in familiärem, scherzendem Tone fort. Nachdem er endlich freundschaftlich seinem Gaste Gute Nacht gesagt hatte, schickte sich Herr Goljadkin an, schlafen zu gehen. Der Gast schnarchte unterdessen schon. Herr Goljadkin seinerseits begann sich ins Bett zu legen und flüsterte dabei lächelnd vor sich hin: »Du bist heute betrunken, mein Täubchen, Jakow Petrowitsch, du Lump, du armer Schlucker; daß du ein armer Schlucker bist, besagt ja schon dein Familienname!! Na, worüber freust du dich denn? Morgen wirst du ja weinen, du Plärrliese! Was soll ich mit dir anfangen?« Nun aber machte sich eine recht sonderbare Empfindung in Herrn Goljadkins ganzem Wesen geltend, etwas, was mit Zweifel oder Reue Ähnlichkeit hatte. »Ich habe des Guten zuviel getan,« dachte er; »nun brummt mir der Kopf, und ich bin betrunken; und du hast dich nicht beherrschen können, du Dummkopf! Was hast du für einen Haufen dummes Zeug zusammengeschwatzt, und dabei möchtest du noch intrigieren, du Halunke! Allerdings ist Beleidigungen zu verzeihen und zu vergessen die erste Tugend; aber die Sache steht doch schlecht! Ja, so ist das!« Hier stand Herr Goljadkin auf, nahm das Licht und ging auf den Zehen noch einmal hin, um seinen schlafenden Gast zu betrachten. Lange stand er in tiefem Nachdenken über ihn gebeugt da. »Ein unangenehmes Bild! Der reine Spott, der reine Spott; das steht fest!«

Endlich legte sich Herr Goljadkin definitiv schlafen. In seinem Kopfe brummte, sauste und summte es. Das Bewußtsein schwand ihm … Er machte Anstrengungen, an etwas zu denken, sich an etwas sehr Interessantes zu erinnern, eine sehr wichtige, heikle Frage zu lösen; aber er konnte es nicht. Der Schlummer senkte sich auf sein armes Haupt herab, und er schlief ein, wie gewöhnlich Leute einschlafen, die nicht gewohnt sind, bei einem freundschaftlichen abendlichen Zusammensein fünf Gläser Punsch zu trinken.

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8. Kapitel

8. Kapitel

Wie gewöhnlich erwachte Herr Goljadkin am andern Tage um acht Uhr; nachdem er erwacht war, erinnerte er sich sogleich an alle Ereignisse des gestrigen Abends; bei dieser Erinnerung runzelte er die Stirn. »Wie ein rechter Dummkopf habe ich mich gestern benommen!« dachte er, während er sich vom Bett erhob, und blickte nach dem Bette seines Gastes hin. Aber wie groß war sein Erstaunen, als nicht nur der Gast, sondern sogar auch das Bett, auf dem der Gast geschlafen hatte, aus dem Zimmer verschwunden war! »Was stellt das vor?« schrie Herr Goljadkin beinah laut auf. »Wie geht das zu? Was hat jetzt dieses neue Ereignis zu bedeuten?« Während Herr Goljadkin noch verständnislos mit offenem Munde nach dem leeren Fleck hinsah, knarrte die Tür, und Petruschka kam mit dem Teebrett herein. »Wo ist er, wo ist er?« fragte unser Held kaum hörbar und zeigte mit dem Finger nach der Stelle hin, die gestern dem Gaste angewiesen worden war. Petruschka gab zuerst keine Antwort und sah seinen Herrn sogar nicht einmal an, sondern wandte seine Augen nach der Ecke rechts, so daß Herr Goljadkin selbst genötigt war, nach der Ecke rechts hinzublicken. Nach einigem Stillschweigen indes antwortete Petruschka grob mit heiserer Stimme: »Der Herr ist nicht zu Hause.«

»Du Dummkopf! Ich bin ja doch dein Herr, Petruschka!« stotterte Herr Goljadkin und sah seinen Diener mit weit geöffneten Augen an.

Petruschka antwortete nichts, blickte aber Herrn Goljadkin so an, daß dieser bis über die Ohren errötete; denn dieser beleidigende, vorwurfsvolle Blick konnte die Stelle eines wirklichen Schimpfwortes vertreten. Herr Goljadkin streckte die Waffen. Endlich erklärte Petruschka, »der andere« sei schon vor anderthalb Stunden weggegangen und habe nicht warten wollen. Diese Antwort klang allerdings wahrscheinlich und glaubwürdig; es war klar, daß Petruschka nicht log, und daß sein beleidigender Blick und der von ihm gebrauchte Ausdruck »der andere« nur eine Folge des ganzen bekannten widerwärtigen Umstandes waren; aber dennoch verstand Herr Goljadkin, wenn auch nur undeutlich, daß da etwas nicht geheuer war, und daß das Schicksal für ihn noch irgendeine nicht ganz angenehme Gabe bereit hielt. »Nun gut, wir werden sehen,« dachte er bei sich; »wir werden seinerzeit das alles durchschauen … Ach, Herr du mein Gott,« stöhnte er zum Schlusse in ganz anderem Tone, »warum habe ich ihn eingeladen? Wozu habe ich das getan? Ich stecke ihnen ja selbst meinen Kopf in die Schlinge und ziehe die Schlinge selbst zu! Ach, du Dummkopf, du Dummkopf! Daß du doch auch gar nicht das Maul halten kannst; nein, du mußt dich verplappern wie so ein dummer Junge, wie ein Kanzlist, wie ein Plebejer ohne Herr Goljadkin, während er seinen Tee trank und fortwährend nach der Wanduhr blickte. »Jetzt ist es drei Viertel auf neun; nun ist es Zeit zu gehen. Aber was wird nun geschehen? Was wird mir passieren? Ich möchte gern wissen, was sich da eigentlich Besonderes hinter dem Vorhang verbirgt, was für Absichten und Pläne sie haben, und was für Steine sie mir in den Weg werfen wollen. Es wäre gut, wenn ich erfahren könnte, was für ein Ziel eigentlich diese ganze Bande im Auge hat, und welches der erste Schritt ist, den sie unternehmen wollen …« Herr Goljadkin konnte es nicht länger aushalten; er warf die noch nicht ausgerauchte Pfeife hin, zog sich an und ging in den Dienst, um womöglich die Gefahr aufzudecken und sich über alles durch seine persönliche Anwesenheit Gewißheit zu verschaffen. Aber Gefahr war vorhanden: das wußte er selbst, daß Gefahr vorhanden war. »Aber auch diese Nuß werden wir schon knacken!« sagte Herr Goljadkin, indem er den Mantel und die Überschuhe im Vorzimmer ablegte; »nun werden wir all diese Dinge sofort durchschauen.« Nachdem er in dieser Weise zu handeln beschlossen hatte, machte unser Held seinen Anzug zurecht, nahm eine wohlanständige Dienstmiene an und wollte eben in das anstoßende Zimmer treten, als plötzlich gerade in der Tür sein Bekannter und Freund von gestern mit ihm zusammenstieß. Herr Goljadkin der jüngere schien Herrn Goljadkin den älteren nicht zu bemerken, obwohl sich beinahe ihre Nasen berührten. Herr Goljadkin der jüngere war, wie es schien, sehr beschäftigt, hatte es eilig, irgendwohin zu kommen, und war außer Atem; er hatte eine solche Amts- und Geschäftsmiene, daß, wie es schien, jeder auf seinem Gesichte lesen konnte: »Mit einem besonderen Auftrage betraut …«

»Ach, Sie sind es, Jakow Petrowitsch!« sagte unser Held und ergriff seinen gestrigen Gast am Arme.

»Später, später! Entschuldigen Sie mich; sagen Sie mir später, was Sie wünschen!« rief Herr Goljadkin der jüngere, indem er vorwärts strebte.

»Aber erlauben Sie, Jakow Petrowitsch; ich meine, Sie wollten … hm …«

»Was gibt’s denn? Sagen Sie schneller, was Sie wünschen!«

Hier blieb Herrn Goljadkins gestriger Gast, anscheinend nur ungern und mit großem Widerstreben, stehen und hielt sein Ohr Herrn Goljadkin gerade an die Nase.

»Ich muß Ihnen sagen, Jakow Petrowitsch, daß ich über Ihr Benehmen erstaunt bin … ein Benehmen, wie ich es ja wohl nicht erwarten konnte.«

»Alles hat seine gewiesene Form. Melden Sie sich bei dem Sekretär Seiner Exzellenz, und wenden Sie sich dann, wie es in der Ordnung ist, an den Herrn Kanzleivorsteher. Haben Sie eine Bittschrift? …«

»Sie … ich weiß gar nicht, Jakow Petrowitsch … Sie setzen mich einfach in Verwunderung, Jakow Petrowitsch! Sie erkennen mich gewiß nicht, oder Sie machen infolge Ihres angeborenen heiteren Temperamentes einen Scherz.«

»Ah, Sie sind es!« erwiderte Herr Goljadkin der jüngere, als wenn er Herrn Goljadkin den älteren eben erst erkannt hätte. »Also Sie sind es? Na also, haben Sie gut geschlafen?«

Hier lächelte Herr Goljadkin der jüngere ein wenig; aber er lächelte in einer amtlichen, förmlichen Manier und durchaus nicht so, wie es sich gehört hätte, da er doch jedenfalls Herrn Goljadkin dem älteren zu Dank verpflichtet war; und nachdem er so in amtlicher, förmlicher Manier gelächelt hatte, fügte er hinzu, er seinerseits freue sich sehr, daß Herr Goljadkin gut geschlafen habe. Dann verbeugte er sich ein wenig, trippelte ein wenig an ein und derselben Stelle umher, blickte nach rechts und nach links, schlug darauf die Augen zu Boden, richtete sie nach der Seitentür, und nachdem er hastig flüsternd bemerkt hatte, er habe einen besonderen Auftrag, schlüpfte er in das Nachbarzimmer und war verschwunden.

»Ist das eine tolle Geschichte! …« flüsterte unser Held, der einen Augenblick ganz starr war; »ist das eine tolle Geschichte! Was soll das nur vorstellen? …« Herr Goljadkin hatte ein Gefühl, als ob ihm Ameisen über den ganzen Leib liefen. »Übrigens,« fuhr er im stillen fort, während er in sein Dienstlokal ging, »übrigens habe ich so etwas ja schon lange gesagt; ich habe schon lange geahnt, daß er mit besonderen Aufträgen werde betraut werden … gerade gestern habe ich gesagt, daß er unzweifelhaft ein Mensch sei, den man zu besonderen Aufträgen gebrauchen werde.«

»Haben Sie Ihr gestriges Aktenstück fertiggestellt, Jakow Petrowitsch?« fragte Anton Antonowitsch Sjetotschkin Herrn Goljadkin, als dieser sich neben ihn setzte. »Haben Sie es hier?«

»Jawohl,« erwiderte Herr Goljadkin flüsternd und sah seinen Tischvorsteher mit etwas verwirrter Miene an.

»Nun gut! Ich erkundige mich deswegen danach, weil Andrei Filippowitsch schon zweimal danach gefragt hat. Seine Exzellenz kann das Aktenstück jeden Augenblick verlangen…«

»Es ist fertig.«

»Na, das ist schön!«

»Anton Antonowitsch, ich meine, ich habe meine Pflicht immer ordnungsmäßig erfüllt, und ich freue mich über die Aufträge, die mir von meinen Vorgesetzten erteilt werden, und erledige sie mit aller Sorgfalt.«

»Jawohl. Nun, was wollen Sie denn damit sagen?«

»Nichts Besonderes, Anton Antonowitsch. Ich möchte nur bemerken, Anton Antonowitsch, daß ich … d. h. ich wollte sagen, daß Übelwollen und Neid täglich ihre widerwärtige Nahrung suchen und niemanden verschonen…«

»Entschuldigen Sie, ich verstehe Sie nicht ganz. Das heißt, wen meinen Sie denn mit Ihren Andeutungen?«

»Das heißt, ich wollte nur sagen, Anton Antonowitsch, daß ich meinen geraden Weg gehe und es verachte, Schleichwege zu benutzen, daß ich kein Intrigant bin, und daß ich, wenn anders es mir erlaubt ist, dies auszusprechen, mit gutem Grunde darauf stolz sein darf…«

»Jawohl. Alles ganz richtig, und ich stimme Ihrer Meinung aus voller Überzeugung bei; aber gestatten Sie auch mir, Ihnen zu bemerken, Jakow Petrowitsch, daß persönliche Anzüglichkeiten in guter Gesellschaft nicht erlaubt sind. Was man hinter meinem Rücken von mir sagt, das will ich gern ertragen; denn auf wen wird nicht hinter seinem Rücken geschimpft? Aber ins Gesicht (nehmen Sie es mir nicht übel!) lasse ich mir keine Grobheiten sagen, mein Herr. Ich bin im Staatsdienst grau geworden, mein Herr, und lasse mir auf meine alten Tage keine Grobheiten sagen …«

»Nein, Anton Antonowitsch, ich … Sehen Sie doch, Anton Antonowitsch, Sie haben mich, wie es scheint, nicht ganz verstanden, Anton Antonowitsch. Aber ich bitte Sie, Anton Antonowitsch, ich kann es mir meinerseits nur zur Ehre anrechnen …«

»Nun bitte ich aber, auch mich zu entschuldigen. Ich habe meine Lebensart noch nach der alten Mode gelernt. Nach Ihrer neuen Mode umzulernen, damit ist es für mich zu spät. Für den Dienst des Vaterlandes hat mein Verstand bisher, wie es scheint, ausgereicht. Ich besitze, wie Sie selbst wissen, mein Herr, das Ehrenzeichen für fünfundzwanzigjährige vorwurfsfreie dienstliche Tätigkeit …«

»Ich empfinde das alles … ich empfinde das alles meinerseits vollkommen, Anton Antonowitsch. Aber davon redete ich nicht; ich sprach von der Maske, Anton Antonowitsch …«

»Von der Maske?«

»Das heißt, Sie scheinen wieder … ich fürchte, daß Sie auch hier wieder den Sinn unrichtig auffassen, das heißt den Sinn meiner Worte, wie Sie selbst sagen, Anton Antonowitsch. Ich behandle nur das Thema, das heißt, ich stelle den Gedanken hin, Anton Antonowitsch, daß die Menschen, die eine Maske tragen, heutzutage recht häufig geworden sind, und daß es jetzt schwer ist, unter der Maske einen Menschen zu erkennen …«

»Na, wissen Sie, so schwer ist das nun gerade nicht. Manchmal ist es sogar ganz leicht, und manchmal braucht man gar nicht weit zu suchen.«

»Nein, wissen Sie, Anton Antonowitsch, ich sage… ich sage von mir selbst, daß ich z. B. eine Maske nur anlege, wenn es nötig ist, d. h. einzig und allein beim Karneval und in fröhlicher Gesellschaft, im eigentlichen Sinne gesprochen, daß ich aber nicht vor den Leuten alle Tage mit einer Maske umherlaufe, in einem andern, übertragenen Sinne gesagt. Das war’s, was ich sagen wollte, Anton Antonowitsch.«

»Na, wir wollen von dieser ganzen Sache vorläufig abbrechen, und ich für meine Person habe auch keine Zeit mehr,« erwiderte Anton Antonowitsch, erhob sich von seinem Platze und suchte einige Aktenstücke zum Vortrage bei Seiner Exzellenz zusammen. »Ihre Angelegenheit wird, wie ich annehme, bald und rechtzeitig zur Klarheit gelangen. Dann werden Sie selbst sehen, gegen wen Sie Ihre Vorwürfe zu richten und wen Sie anzuklagen haben, und deshalb bitte ich Sie ganz ergebenst, mich mit weiteren privaten Erörterungen und Gesprächen, die der dienstlichen Tätigkeit Eintrag tun, zu verschonen…«

»Nein, Anton Antonowitsch,« rief Herr Goljadkin, der ein wenig blaß geworden war, dem sich Entfernenden nach, »nein, Anton Antonowitsch, so etwas ist mir nicht in den Sinn gekommen!« – »Was stellt das vor?« fuhr unser Held, nachdem er allein geblieben war, im Selbstgespräche fort; »was weht hier auf einmal für ein Wind, und was bedeutet dieser neue Winkelzug?« In demselben Augenblicke, als unser bestürzter, fassungsloser Held sich anschickte, eine Antwort auf diese neue Frage zu suchen, ließ sich von dem Nachbarzimmer her Geräusch hören, eine Art von geschäftlicher Bewegung wurde wahrnehmbar, die Tür öffnete sich, und Andrei Filippowitsch, der kurz vorher in dienstlicher Angelegenheit in das Arbeitszimmer Seiner Exzellenz gegangen war, erschien atemlos in der Tür und rief Herrn Goljadkin. Dieser, der wußte, um was es sich handelte, und Andrei Filippowitsch nicht warten lassen wollte, sprang von seinem Platze auf, beeilte sich pflichtgemäß aufs äußerste, das verlangte Schriftstück endgültig zurechtzumachen und in Ordnung zu bringen, sowie auch sich selbst instand zu setzen, um sich mit dem Schriftstück und mit Andrei Filippowitsch in das Arbeitszimmer Seiner Exzellenz zu begeben. Auf einmal schlüpfte, beinahe unter Andrei Filippowitschs Armen hindurch, der währenddessen gerade in der Tür stand, Herr Goljadkin der jüngere ins Zimmer, geschäftig, atemlos, amtseifrig, mit wichtiger, streng dienstlicher Miene, und stürzte geradeswegs auf Herrn Goljadkin den älteren los, der auf nichts weniger als auf einen solchen Überfall gefaßt war…

»Die Papiere, Jakow Petrowitsch, die Papiere… Seine Exzellenz hat danach gefragt; haben Sie sie auch in Bereitschaft?« schnatterte der Freund Herrn Goljadkins des älteren halblaut und hastig. »Andrei Filippowitsch wartet auf Sie…«

»Das weiß ich auch ohne Sie, daß er auf mich wartet,« erwiderte Herr Goljadkin der ältere ebenfalls eilig und flüsternd.

»Nein, Jakow Petrowitsch, ich bin nicht so; ich bin durchaus nicht so, Jakow Petrowitsch; ich bin Ihnen zugetan, Jakow Petrowitsch, und von herzlicher Teilnahme erfüllt.«

»Mit dieser Teilnahme bitte ich Sie ergebenst mich zu verschonen. Erlauben Sie, erlauben Sie…«

»Sie müssen selbstverständlich einen Umschlag herummachen, Jakow Petrowitsch, und bei der dritten Seite ein Lesezeichen einlegen; erlauben Sie, Jakow Petrowitsch…«

»So erlauben Sie doch endlich…«

»Aber da ist ja ein Tintenfleck, Jakow Petrowitsch; haben Sie nicht den Tintenfleck bemerkt?«

Hier rief Andrei Filippowitsch Herrn Goljadkin zum zweiten Male.

»Sofort, Andrei Filippowitsch; ich möchte nur noch einen Augenblick … es ist hier … Mein Herr, verstehen Sie nicht Russisch?«

»Das beste wird sein, ihn mit dem Federmesser zu beseitigen, Jakow Petrowitsch; überlassen Sie es lieber mir; rühren Sie ihn lieber nicht selbst an, Jakow Petrowitsch, sondern überlassen Sie es mir! Ich will selbst mit dem Federmesser …«

Andrei Filippowitsch rief Herrn Goljadkin zum dritten Male.

»Aber ich bitte Sie, wo ist denn da ein Tintenfleck? Soweit ich sehe, ist ja überhaupt keiner da!«

»Und sogar ein gewaltiger Tintenfleck! Da ist er! Da, erlauben Sie, hier habe ich ihn gesehen, da, erlauben Sie mir, Jakow Petrowitsch; ich will ihn hier mit dem Federmesser … ich tue es aus Teilnahme, Jakow Petrowitsch … ich will mit dem Federmesser in bester Absicht … sehen Sie so; es wird sofort erledigt sein …«

In einem ganz kurzen Kampfe, der zwischen ihnen entstand, überwältigte Herr Goljadkin der jüngere Herrn Goljadkin den älteren und bemächtigte sich dann plötzlich ganz unerwartet ohne weiteres und jedenfalls ganz gegen den Willen seines Gegners des von dem Vorgesetzten verlangten Schriftstückes; statt aber mit dem Federmesser »in bester Absicht« daran zu radieren, wie er Herrn Goljadkin dem älteren lügnerischerweise versichert hatte, rollte er es schnell zusammen, schob es unter den Arm, befand sich in zwei Sprüngen neben Andrei Filippowitsch, der von seinen Kniffen nichts bemerkt hatte, und eilte mit diesem in das Arbeitszimmer des Direktors hinein. Herr Goljadkin der ältere blieb wie angenagelt an seinem Fleck stehen, in der Hand das Federmesser, wie wenn er sich anschickte, etwas damit zu radieren…

Unser Held verstand sein neues Erlebnis noch nicht ganz. Er war noch nicht zur Besinnung gekommen. Er fühlte den Schlag, überlegte aber noch, was dieser zu bedeuten habe. In furchtbarer, unbeschreiblicher Erregung riß er sich endlich von seinem Platze los und stürmte davon, geradeswegs in der Richtung nach dem Arbeitszimmer des Direktors, wobei er unterwegs den Himmel anflehte, daß alles dies sich doch noch gut gestalten und weiter nichts zu bedeuten haben möge… In dem letzten Zimmer vor dem Arbeitszimmer des Direktors rannte er Nase gegen Nase mit Andrei Filippowitsch und seinem Namensvetter zusammen. Diese kamen beide bereits zurück; Herr Goljadkin trat zur Seite. Andrei Filippowitsch redete lächelnd und heiter. Herrn Goljadkins des älteren Namensvetter lächelte ebenfalls, fuchsschwänzelte, trippelte in respektvoller Entfernung von Andrei Filippowitsch einher und flüsterte ihm mit entzückter Miene etwas ins Ohr, worauf Andrei Filippowitsch sehr wohlwollend mit dem Kopfe nickte. Nun verstand unser Held auf einmal die Lage der Dinge. Die Sache war die, daß seine Arbeit (wie er später erfuhr) die Erwartungen Seiner Exzellenz beinah übertroffen hatte und wirklich zum festgesetzten Termine rechtzeitig fertig geworden war. Seine Exzellenz war außerordentlich zufrieden gewesen. Es verlautete sogar, Seine Exzellenz habe Herrn Goljadkin dem jüngeren seinen Dank, seinen warmen Dank ausgesprochen und gesagt, er werde sich bei vorkommender Gelegenheit dessen erinnern und es nicht vergessen … Natürlich war Herrn Goljadkins erste Regung, Protest einzulegen, mit aller Macht Protest einzulegen, bis an die äußersten Grenzen der Möglichkeit. Fast ohne von sich selbst zu wissen und blaß wie der Tod stürzte er zu Andrei Filippowitsch hin. Aber als dieser hörte, daß es sich um eine Privatsache Herrn Goljadkins handle, weigerte er sich, sie anzuhören, indem er in entschiedenem Tone bemerkte, er habe sogar für seine eigenen notwendigen Angelegenheiten keine freie Minute.

Die Trockenheit des Tones und die Schärfe der Zurückweisung befremdeten Herrn Goljadkin. »Es wird das beste sein, wenn ich die Sache von einer anderen Seite versuche … ich will lieber zu Anton Antonowitsch gehen.« Zu Herrn Goljadkins Unglück war auch Anton Antonowitsch nicht anwesend; auch er war irgendwo anders irgendwie beschäftigt! »Also hat er mich nicht ohne Absicht ersucht, ihn mit Erörterungen und Gesprächen zu verschonen!« dachte unser Held. »Darauf hat er abgezielt, der alte Fuchs! Wenn’s so ist, dann muß ich einfach wagen, mich mit meiner Bitte an Seine Exzellenz zu wenden.«

Immer noch blaß und mit dem Gefühl, daß sein Kopf sich in arger Verwirrung befinde, und sehr unsicher, wozu er sich eigentlich entschließen solle, setzte sich Herr Goljadkin auf seinen Stuhl. »Es wäre weit besser, wenn die ganze Sache eine harmlose Aufklärung fände,« dachte er unaufhörlich für sich. In der Tat, eine derartige dunkle Geschichte ist ganz unglaublich. Erstens ist es dummes Zeug, und zweitens kann es sich gar nicht begeben. Es ist wahrscheinlich nur so eine Einbildung von mir gewesen; oder die Sache hat ganz anders ausgesehen, als sie sich tatsächlich verhielt; oder ich bin gewiß selbst hingegangen … und habe mich da irgendwie für einen ganz anderen gehalten … Kurz, es ist eine ganz wunderliche Geschichte.«

Gerade in dem Augenblicke, als Herr Goljadkin zu dem Schlusse gelangt war, daß dies eine ganz wunderliche Geschichte sei, kam plötzlich Herr Goljadkin der jüngere ins Zimmer geflogen, mit Akten in beiden Händen und unter dem Arme. Nachdem er im Vorbeigehen ein paar notwendige Worte zu Andrei Filippowitsch gesprochen, mit noch jemandem ein bißchen geredet, einem andern ein paar Liebenswürdigkeiten gesagt und zu noch einem andern einige familiäre Bemerkungen gemacht hatte, schickte Herr Goljadkin der jüngere, der vermutlich keine überflüssige Zeit zu verschwenden hatte, sich anscheinend schon an, das Zimmer zu verlassen; aber zum Glücke für Herrn Goljadkin den älteren blieb er gerade in der Tür stehen und redete im Vorbeigehen mit zwei oder drei zufällig dort stehenden jungen Beamten. Herr Goljadkin der ältere stürzte geradeswegs auf ihn los. Kaum hatte Herr Goljadkin der jüngere dieses Manöver des älteren Herrn Goljadkin bemerkt, als er sofort in größter Unruhe um sich zu schauen begann, wohin er wohl möglichst schnell verschwinden könne. Aber unser Held hatte seinen Gast vom vorhergehenden Tage schon beim Ärmel gefaßt. Die Beamten, die um die beiden Titularräte herumstanden, traten auseinander und warteten neugierig, was nun kommen werde. Der alte Titularrat wußte sehr genau, daß die allgemeine Meinung nicht auf seiner Seite war; er wußte sehr genau, daß gegen ihn intrigiert wurde; um so mehr mußte er jetzt seinen Platz behaupten. Der entscheidende Augenblick war da.

»Nun?« sagte Herr Goljadkin der jüngere, indem er Herrn Goljadkin den älteren ziemlich dreist ansah.

Herr Goljadkin der ältere konnte kaum atmen.

»Ich weiß nicht, mein Herr,« begann er, »wie ich mir jetzt Ihr sonderbares Benehmen gegen mich erklären soll.«

»Schön! Fahren Sie fort!« Dabei blickte Herr Goljadkin der jüngere rings um sich und blinzelte den Beamten, die um sie herumstanden, zu, wie wenn er ihnen zu verstehen geben wollte, daß jetzt gleich eine Komödie beginnen werde.

»Die Dreistigkeit und Unverschämtheit Ihres Benehmens gegen mich im jetzigen Augenblick dienen noch mehr zu Ihrer Überführung, mein Herr, als alle meine Worte. Hoffen Sie nicht, Ihr Spiel zu gewinnen; Ihr Spiel steht schlecht …«

»Nun; Jakow Petrowitsch, dann sagen Sie mir doch einmal: wie haben Sie geschlafen?« antwortete Herr Goljadkin der jüngere und blickte Herrn Goljadkin dem älteren dabei gerade in die Augen.

»Sie vergessen sich, mein Herr,« sagte der Titularrat ganz verwirrt; er fühlte kaum noch den Boden unter seinen Füßen. »Ich hoffe, daß Sie Ihren Ton ändern werden …«

»Mein liebes Seelchen!« versetzte Herr Goljadkin der jüngere, indem er Herrn Goljadkin dem älteren eine ungezogene Grimasse schnitt und ihm auf einmal ganz unerwartet in Form einer Liebkosung mit zwei Fingern an die ziemlich fleischige rechte Backe griff. Unser Held fuhr auf wie eine Feuerflamme … Kaum bemerkte der Freund des älteren Herrn Goljadkin, daß sein Gegner, an allen Gliedern zitternd, sprachlos vor Entrüstung, rot wie ein Krebs und bis zum äußersten gebracht, nahe daran war, sich zu einem physischen Angriff zu entschließen, als er ihm unverzüglich in der unverschämtesten Weise seinerseits zuvorkam. Nachdem er ihm noch ein paarmal auf die Backe geklopft, ihn noch ein paarmal gekitzelt und so den vor Wut Tollen und Regungslosen noch einige Sekunden lang zu nicht geringer Belustigung der umherstehenden jungen Leute geneckt hatte, versetzte Herr Goljadkin der jüngere mit empörender Unverschämtheit zu guter Letzt Herrn Goljadkin dem älteren einige Stüber auf das dralle Bäuchlein und sagte boshaft lächelnd und mit einer versteckten Anspielung zu ihm: »Was machst du für Streiche, Brüderchen Jakow Petrowitsch, was machst du für Streiche! Du hast mir ja vorgeschlagen, wir beide wollten zusammen intrigieren, Jakow Petrowitsch!« Dann, ehe unser Held noch von dem letzten Angriffe ein wenig hatte zu sich kommen können, nahm Herr Goljadkin der jüngere auf einmal, nachdem er die umherstehenden Zuschauer durch ein leises Lächeln darauf vorbereitet hatte, eine sehr geschäftige, eifrige Dienstmiene an, schlug die Augen zur Erde nieder, krümmte sich zusammen, sagte eilig: »In besonderem Auftrage!«, schlug mit seinem kurzen Beinchen aus und huschte in das anstoßende Zimmer. Unser Held traute seinen Augen nicht und konnte immer noch nicht recht zur Besinnung kommen.

Endlich gelang es ihm, seine Gedanken wieder zu sammeln. Nachdem es ihm in einem Augenblicke zum Bewußtsein gekommen war, daß er zugrunde gerichtet und in gewissem Sinne vernichtet sei, daß er seine Ehre befleckt und seinen Ruf besudelt habe, daß er in Gegenwart fremder Personen verhöhnt und verspottet sei, daß ihn verräterischerweise derjenige beschimpft habe, den er noch gestern für seinen besten, zuverlässigsten Freund gehalten hatte, und daß er sich schließlich bodenlos blamiert habe: da stürzte Herr Goljadkin davon, um seinen Feind zu verfolgen. An die Zeugen seiner Beschimpfung mochte er im gegenwärtigen Augenblicke gar nicht denken. »Die stecken alle unter einer Decke,« sagte er bei sich; »einer hilft dem andern, und einer hetzt den andern gegen mich Menschen erlauben. Wir wollen übrigens nicht streiten, wir wollen nicht streiten. Wenn z. B. jemand Lust gehabt, ein starkes Verlangen verspürt hätte, Herrn Goljadkin in einen alten Lappen zu verwandeln, so wäre ihm das vielleicht gelungen, und er hätte ihn, ohne Widerstand zu finden, ungestraft in einen solchen verwandelt (Herr Goljadkin fühlte das manchmal selbst), und es wäre ein alter Lappen als Herrn Goljadkins Nachfolger herausgekommen, ein gemeiner, schmutziger, alter Lappen; aber das wäre kein gewöhnlicher alter Lappen gewesen, sondern ein alter Lappen mit Ehrgefühl, ein alter Lappen mit Begeisterung und Empfindsamkeit, wenn auch mit stummem Ehrgefühl und mit stummer Empfindsamkeit; und wenn auch diese Empfindsamkeit tief in den schmutzigen Falten dieses alten Lappens verborgen gewesen wäre, vorhanden wäre sie doch gewesen.

Die Stunden dauerten unglaublich lange; endlich schlug es vier. Gleich darauf standen alle auf und begaben sich, dem Vorgange ihres Vorgesetzten folgend, zu sich nach Hause. Herr Goljadkin mischte sich unter den Schwarm; seine Augen waren wachsam und ließen denjenigen, auf den er es abgesehen hatte, nicht aus der Acht. Endlich sah unser Held, daß sein Freund zu den Kanzleidienern hinlief, die die Mäntel austeilten, und nach seiner häßlichen Gewohnheit in Erwartung des seinigen um sie herumschwänzelte. Dies war der entscheidende Augenblick. Herr Goljadkin drängte sich, so gut es ging, durch den Schwarm hindurch und bemühte sich, um nicht zurückzubleiben, ebenfalls um seinen Mantel. Aber dem Freunde des Herrn Goljadkin wurde der seinige zuerst gereicht, weil er es auch hier fertig brachte, in seiner Weise sich einzuschmeicheln, den Liebenswürdigen zu spielen, verbindlich zu flüstern und sich unwürdig zu benehmen.

Nachdem Herr Goljadkin der jüngere seinen Mantel umgeworfen hatte, sah er Herrn Goljadkin den älteren ironisch an, mit der unverhohlenen, dreisten Absicht, ihn zu ärgern; dann blickte er mit der ihm eigenen Frechheit rings um sich, trippelte zu guter Letzt noch einmal bei den andern Beamten umher, wahrscheinlich um einen vorteilhaften Eindruck zu hinterlassen, sagte dem einen ein freundliches Wort, flüsterte einem andern etwas zu, widmete einem dritten eine Respektsbezeigung, spendierte einem vierten ein Lächeln, gab einem fünften die Hand und schlüpfte vergnügt die Treppe hinunter. Herr Goljadkin der ältere eilte hinter ihm her, holte ihn zu seiner größten Freude noch auf der letzten Stufe ein und faßte ihn am Mantelkragen. Herr Goljadkin der jüngere schien ein wenig zu erschrecken und blickte betroffen rings um sich.

»Wie soll ich das auffassen?« flüsterte er endlich Herrn Goljadkin mit schwacher Stimme zu.

»Mein Herr, wenn Sie überhaupt ein anständiger Mensch sind, so hoffe ich, Sie werden sich an unsere gestrigen freundschaftlichen Beziehungen erinnern,« sagte unser Held.

»Ah, ja! Nun also: haben Sie gut geschlafen?«

Die Wut benahm Herrn Goljadkin dem älteren für einen Augenblick die Sprache. »Ich habe allerdings gut geschlafen … Aber erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, mein Herr, daß Ihr Spiel gründlich verdorben ist …«

»Wer sagt das? Das sagen meine Feinde,« antwortete kurz derjenige, der sich Herr Goljadkin nannte, und befreite sich bei diesen Worten unerwartet aus den schwachen Händen des wirklichen Herrn Goljadkin. Nachdem er sich befreit hatte, eilte er hinaus, blickte um sich, sah eine Droschke, lief zu ihr hin, setzte sich hinein und war im nächsten Augenblicke den Augen Herrn Goljadkins des älteren entschwunden. Verzweifelt und von allen verlassen schaute der Titularrat sich nach allen Seiten um; aber es war keine andere Droschke da. Er machte den Versuch zu laufen; aber die Beine versagten ihm den Dienst. Mit niedergeschlagener Miene und offenem Munde, sich kraftlos zusammenkrümmend, lehnte er sich wie vernichtet an einen Laternenpfahl und blieb so einige Minuten lang auf dem Trottoir stehen. Man konnte glauben, daß es mit Herrn Goljadkin völlig aus sei.

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1. Kapitel

1. Kapitel

Es war beinahe acht Uhr morgens, als der Titularrat Jakow Petrowitsch Goljadkin nach einem langen Schlafe erwachte, gähnte, sich reckte und schließlich völlig die Augen öffnete. Etwa zwei Minuten lang blieb er noch, ohne sich zu regen, auf dem Bette liegen, wie ein Mensch, der noch nicht ganz ins klare darüber gekommen ist, ob er aufgewacht ist oder noch schläft, ob alles, was jetzt um ihn herum vorgeht, Wahrheit und Wirklichkeit ist oder eine Fortsetzung seiner wirren Träume. Bald wurde jedoch Herrn Goljadkins Denken klarer und deutlicher, und seine Gefühle nahmen ihre gewöhnliche, alltägliche Stimmung an. Alles blickte ihn bekannt an: die schmutziggrünen, verräucherten, staubigen Wände seines kleinen Zimmerchens, seine Mahagonikommode, die Stühle von imitiertem Mahagoni, der rot angestrichene Tisch, das türkische Wachstuchsofa von rötlicher Farbe mit grünlichen Blümchen und endlich die gestern hastig ausgezogenen und unordentlich auf das Sofa geworfenen Kleider. Und dann schaute auch der graue, trübe, schmutzige Herbsttag so verdrießlich und mit so saurer Miene durch die ungeputzten Fenster zu ihm ins Zimmer, daß Herr Goljadkin in keiner Weise mehr daran zweifeln konnte, daß er sich nicht in einem schönen Märchenlande, sondern in der Residenzstadt Petersburg, in der Schestilawotschnaja-Straße, in der vierten Etage einer sehr großen Mietskaserne, in seiner eigenen Wohnung befand. Nachdem er diese wichtige Entdeckung gemacht hatte, schloß Herr Goljadkin wieder krampfhaft die Augen, als bedauere er, »Aber, was hat denn das zu bedeuten?« dachte Herr Goljadkin. »Wo ist denn Petruschka?« Noch immer dasselbe Kostüm beibehaltend, blickte er zum zweiten Male hinter die Scheidewand. Petruschka war dort wieder nicht vorhanden; nur ein Samowar, der da auf dem Fußboden stand, ärgerte sich, erboste sich und kam außer sich, indem er jeden Augenblick überzukochen drohte und hitzig und schnell in seiner sonderbaren Sprache schnarrend und lispelnd etwas zu Herrn Goljadkin sagte, wahrscheinlich etwa dies: »Nehmt mich doch hin, liebe Leute; ich bin ja vollständig fertig und bereit.«

»Hol ihn der Teufel!« dachte Herr Goljadkin. »Dieser faule Patron kann einen schließlich wütend machen; wo mag er sich wieder herumtreiben?« In gerechter Entrüstung begab er sich in das Vorzimmer, das aus einem kleinen Korridor bestand, an dessen Ende eine Tür nach dem Flur führte, und erblickte seinen Diener, umgeben von einem großen Haufen anderer Diener, Hausgenossen und sonstigen Volkes, das sich hinzugefunden hatte. Petruschka erzählte etwas, die andern hörten zu. Weder der Gegenstand der Erzählung noch die Erzählung selbst schienen Herrn Goljadkin zu gefallen. Er rief sofort Petruschka zu sich und kehrte sehr mißvergnügt, ja empört in sein Zimmer zurück. »Dieser Racker ist imstande, für einen Groschen einen Menschen zu verraten, und am ehesten seinen Herrn,« dachte er im stillen; »und er hat mich auch verraten, jedenfalls hat er mich verraten; darauf möchte ich wetten, daß er mich für eine Kopeke verraten hat. Nun, wie ist es?«

»Die Livree ist gekommen, Herr!«

»Zieh sie an und komm her!«

Nachdem Petruschka die Livree angezogen hatte, trat er, dumm lächelnd, in das Zimmer seines Herrn. Er trug nun eine grüne, stark abgenutzte Bedientenlivree mit ausgefaserten goldenen Tressen, die anscheinend für jemand angefertigt war, der eine ganze Elle größer war als Petruschka. In der Hand hielt er einen gleichfalls mit Tressen besetzten und mit grünen Federn geschmückten Hut, und an der Hüfte hing ihm ein Hirschfänger in lederner Scheide.

Zur Vervollständigung des Bildes war Petruschka zufolge seiner Lieblingsgewohnheit, zu Hause immer im Negligé herumzulaufen, auch jetzt barfuß. Herr Goljadkin musterte Petruschka von allen Seiten und schien zufrieden zu sein. Die Livree war augenscheinlich aus irgendwelchem feierlichen Anlaß geliehen. Bemerkenswert war noch, daß während der Musterung Petruschka seinen Herrn mit seltsamer Spannung anblickte und mit besonderer Neugier alle Bewegungen desselben verfolgte, was Herrn Goljadkin äußerst verlegen machte.

»Nun, und der Wagen?«

»Der Wagen ist auch gekommen.«

»Auf den ganzen Tag?«

»Ja, auf den ganzen Tag. Fünfundzwanzig Rubel.«

»Sind auch die Stiefel gekommen?«

»Jawohl.«

»Tölpel! Kannst du nicht sagen: ›Jawohl, Herr!‹? Gib sie her!« Nachdem Herr Goljadkin seiner Freude darüber Ausdruck gegeben hatte, daß die Stiefel gut paßten, befahl er, ihm Tee, Waschwasser und das Rasierzeug dringende Nötigung verspürte, wahrscheinlich zu seiner eigenen Beruhigung seinem Arzte Krestjan Iwanowitsch eine sehr interessante Mitteilung zu machen. Und obgleich er mit Krestjan Iwanowitsch erst seit kurzer Zeit bekannt war, indem er ihn nämlich erst einmal in der vorigen Woche wegen gewisser Beschwerden besucht hatte, so steht doch ein Arzt, wie man zu sagen pflegt, auf gleicher Stufe mit einem Beichtvater: es wäre dumm, ihm etwas zu verheimlichen, und er seinerseits hat die Pflicht, seinen Patienten ordentlich kennen zu lernen. »Wird mein Besuch übrigens auch passend sein?« fuhr unser Held fort, während er bei der Auffahrt eines fünfstöckigen Hauses in der Liteinaja-Straße, wo er seinen Wagen hatte halten lassen, ausstieg; »wird mein Besuch auch passend sein? Wird er auch anständig sein? Werde ich ihm auch nicht ungelegen kommen? Aber, was ist dabei?« fuhr er fort, während er die Treppe hinaufstieg, Atem schöpfte und das Herzklopfen zu hemmen suchte, das sich bei ihm immer auf fremden Treppen einzustellen pflegte; »was ist dabei? Ich komme ja wegen meines Leidens; daran ist nichts Tadelnswertes zu finden … Es wäre eine Dummheit, etwas verbergen zu wollen. Und ich werde so tun, als ob ich keinen besonderen Grund hätte, sondern nur so gelegentlich herankäme, weil ich gerade vorbeigekommen wäre … Er wird schon einsehen, daß das alles so in der Ordnung ist.«

Unter solchen Überlegungen war Herr Goljadkin zur zweiten Etage hinaufgestiegen und blieb vor der mit Nummer Fünf bezeichneten Wohnung stehen, an deren Tür ein hübsches Messingschild angebracht war mit der Aufschrift:

Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz,
Doktor der Medizin und Chirurgie.

Während er dort stand, beeilte sich unser Held, seinem Gesichte einen vornehmen, ungenierten, dabei aber doch liebenswürdigen Ausdruck zu geben, und schickte sich an, die Klingel zu ziehen. Eben in dem Augenblicke, als er sich dazu anschickte, überlegte er noch schnell und rechtzeitig, daß es doch wohl besser wäre, den Besuch bis morgen zu verschieben, da vorläufig noch keine eigentliche Nötigung dazu vorliege. Aber da Herr Goljadkin auf einmal Schritte auf der Treppe hörte, so änderte er seinen neuen Entschluß unverzüglich wieder und klingelte, übrigens mit sehr entschlossener Miene, vor Krestjan Iwanowitschs Tür.

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