Kapitel 17

Zweiter Teil

I

Zwei Tage nach den seltsamen Vorgängen auf Nastasja Filippownas Abendgesellschaft, mit denen wir den ersten Teil unserer Erzählung geschlossen haben, fuhr Fürst Myschkin eilig nach Moskau, um seine unerwartete Erbschaft in Empfang zu nehmen. Es hieß damals, seine eilige Abreise habe möglicherweise auch noch andere Ursachen gehabt, aber hierüber sowie über die Erlebnisse des Fürsten in Moskau und überhaupt während seiner Abwesenheit von Petersburg sind wir nur sehr weniges zu berichten imstande. Der Fürst blieb genau sechs Monate fort, und sogar diejenigen Leute, die einigen Grund hatten, sich für sein Schicksal zu interessieren, vermochten während dieser ganzen Zeit nur äußerst wenig über ihn in Erfahrung zu bringen. Manchen kamen allerdings, wenn auch nur sehr selten, gewisse Gerüchte zu Ohren, aber diese Gerüchte klangen großenteils recht seltsam und widersprachen einander fast immer. Am meisten interessierte man sich für den Fürsten natürlich im Jepantschinschen Hause, wo er bei seiner Abreise nicht einmal Zeit gefunden hatte, sich zu verabschieden. Der General war allerdings damals noch mit ihm zusammengekommen, sogar mehrere Male, und sie hatten miteinander ernste Gespräche geführt, aber von diesen Zusammenkünften machte Jepantschin seiner Familie keine Mitteilung. Und überhaupt wurde in der ersten Zeit, das heißt einen ganzen Monat nach der Abreise des Fürsten, im Jepantschinschen Hause nach stillschweigender Übereinkunft von ihm nicht gesprochen. Nur die Generalin Lisaweta Prokofjewna äußerte sich ganz am Anfange dieser Zeit dahin, sie habe sich in dem Fürsten grausam getäuscht. Und einige Tage darauf fügte sie, ohne jedoch den Fürsten zu nennen, sondern nur so im allgemeinen, hinzu, das wichtigste Charakteristikum ihres Lebens bestehe darin, daß sie sich fortwährend in den Menschen täusche. Und schließlich, nach weiteren zehn Tagen, erklärte sie, als sie sich aus irgendeinem Grunde über ihre Töchter geärgert hatte, nun sei es genug mit den Irrtümern, weitere werde sie nicht begehen. Außerdem war nicht zu verkennen, daß in diesem Hause lange Zeit eine recht unangenehme Stimmung herrschte. Es machte sich ein gewisser Druck, eine gewisse Gespanntheit bemerkbar, man sprach sich nicht ordentlich aus und neigte dazu, sich zu streiten, alle machten finstere Gesichter. Der General war Tag und Nacht beschäftigt und mit Arbeit überhäuft; man hatte ihn selten stärker von Geschäften in Anspruch genommen und tätiger gesehen, namentlich im Dienst. Seine Familie bekam ihn kaum noch zu Gesicht.

Was die Jepantschinschen Mädchen anlangt, so hörte natürlich niemand ein lautes Wort von ihnen über das Vorgefallene, vielleicht sprachen sie sogar untereinander, wenn sie allein waren, nur sehr wenig darüber. Sie waren stolze, hochmütige Mädchen und sogar unter sich zuweilen sehr schamhaft; übrigens verstanden sie einander schon beim ersten Wort, ja sogar beim ersten Blick, so daß sie manchmal nicht nötig hatten, viel zu sagen.

Nur auf eins hätte ein fremder Beobachter, wenn ein solcher dagewesen wäre, schließen können: daß, nach all den oben angeführten, wiewohl nicht zahlreichen Fakten zu urteilen, der Fürst doch einen besonderen Eindruck in der Jepantschinschen Familie gemacht haben mußte, obwohl er sich in ihr nur einmal und noch dazu nur flüchtig gezeigt hatte. Vielleicht beruhte dieser Eindruck einfach darauf, daß einige exzentrische Abenteuer des Fürsten die Neugier erregt hatten. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls hatte er einen starken Eindruck hinterlassen.

Nach und nach versanken auch die Gerüchte, die sich zunächst in der Stadt verbreitet hatten, in das Dunkel der Ungewißheit. Man erzählte sich allerdings von einem närrischen jungen Fürsten (den Namen konnte niemand zuverlässig angeben), der auf einmal eine kolossale Erbschaft gemacht und eine zugereiste Französin, eine bekannte Cancantänzerin aus dem in Paris, geheiratet habe. Aber andere sagten, die Erbschaft habe vielmehr ein General gemacht, und derjenige, der die zugereiste Französin und berühmte Cancantänzerin geheiratet habe, sei ein enorm reicher russischer Kaufmann; dieser habe bei seiner Hochzeit aus reiner Prahlsucht in betrunkenem Zustand an einer Kerze siebenhunderttausend Rubel der letzten Prämienanleihe verbrannt. Aber alle diese Gerüchte verstummten sehr bald, wozu die Umstände sehr wesentlich mithalfen. So zum Beispiel hatte sich Rogoshins ganze Rotte, von der doch manche über das Geschehene allerlei hätten erzählen können, in geschlossenem Trupp mit ihm selbst an der Spitze nach Moskau begeben, eine Woche nach der schauderhaften Orgie in dem Vauxhall von Jekaterinhof, bei welcher auch Nastasja Filippowna zugegen gewesen war. Einige wenige, die sich für die Sache gar nicht einmal sonderlich interessierten, hatten gerüchtweise gehört, Nastasja Filippowna sei gleich am nächsten Tage nach jener Orgie in Jekaterinhof geflohen und verschwunden, und man habe endlich herausbekommen, daß sie sich nach Moskau begeben habe; sie fanden daher, daß auch Rogoshins Abreise nach Moskau mit diesem Gerücht im Einklang stehe.

Auch speziell über Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, der gleichfalls in seinem Kreis eine recht bekannte Persönlichkeit war, begannen allerlei Gerüchte umzugehen. Aber auch mit ihm geschah etwas, wovon alles üble Gerede über ihn sehr bald nachließ und dann ganz aufhörte: er wurde sehr krank und konnte nirgends in der Gesellschaft erscheinen, ja nicht einmal im Dienst. Nachdem er einen Monat lang schwer leidend gewesen war, genas er wieder, gab aber seine Tätigkeit bei der Aktiengesellschaft aus nicht näher bekanntem Grund gänzlich auf, und ein anderer erhielt seine Stelle. Im Hause des Generals Jepantschin ließ er sich gleichfalls kein einziges Mal mehr blicken, so daß auch zum General ein anderer Beamter kommen mußte. Gawrila Ardalionowitschs Feinde hätten annehmen können, er schäme sich so sehr über alles, was mit ihm vorgegangen war, daß er sich nicht auf der Straße zeigen mochte, aber er kränkelte tatsächlich immer noch: er verfiel sogar in Hypochondrie und wurde melancholisch und nervös. Warwara Ardalionowna vermählte sich im selben Winter mit Ptizyn; alle Bekannten der beiden führten diese Eheschließung geradeswegs auf den Umstand zurück, daß Ganja nicht zu seiner Tätigkeit zurückkehren mochte und nicht nur aufgehört hatte, die Familie zu unterhalten, sondern sogar selbst der Hilfe, ja beinah der Pflege bedurfte.

Wir müssen in Klammern hinzufügen, daß auch von Gawrila Ardalionowitsch im Jepantschinschen Hause nie mehr gesprochen wurde, als ob ein solcher Mensch nie im Hause verkehrt hätte, ja überhaupt nie auf der Welt gewesen wäre. Dabei hatten aber alle über ihn (und zwar sogar sehr bald) etwas sehr Merkwürdiges erfahren, nämlich folgendes: in eben jener für ihn so verhängnisvollen Nacht habe Ganja, als er nach dem unangenehmen Vorfall bei Nastasja Filippowna heimgekehrt war, sich nicht schlafen gelegt, sondern mit fieberhafter Ungeduld auf die Rückkehr des Fürsten gewartet. Der Fürst, der nach Jekaterinhof gefahren war, sei von dort um sechs Uhr morgens zurückgekehrt. Da sei Ganja zu ihm ins Zimmer gegangen und habe das angebrannte Geldpäckchen, das ihm Nastasja Filippowna während seiner Ohnmacht geschenkt hatte, vor ihm auf den Tisch gelegt. Er habe den Fürsten dringend gebeten, sobald sich eine Möglichkeit dazu biete, dieses Geschenk Nastasja Filippowna zurückzugeben. Als Ganja zum Fürsten hereingekommen sei, habe er sich in einer feindlichen und beinah verzweifelten Stimmung befunden, aber nachdem dann zwischen ihm und dem Fürsten einige Worte gewechselt worden seien, habe Ganja beim Fürsten zwei Stunden lang gesessen und die ganze Zeit über bitterlich geweint. Beide seien in aller Freundschaft voneinander geschieden.

Diese Nachricht, die allen Mitgliedern der Familie Jepantschin zu Ohren gekommen war, erwies sich, wie sich in der Folgezeit bestätigte, als völlig richtig. Es war allerdings merkwürdig, daß derartige Nachrichten sich so schnell verbreiten und bekannt werden konnten; so wurde zum Beispiel alles, was in Nastasja Filippownas Wohnung vorgegangen war, in der Jepantschinschen Familie beinah schon am nächsten Tag bekannt, und zwar in ziemlich genauen Details. Hinsichtlich der Nachrichten über Gawrila Ardalionowitsch hätte man allerdings annehmen können, daß sie den Jepantschins von Warwara Ardalionowna zugetragen worden seien, die auf einmal bei den Fräulein Jepantschin aufgetaucht war und sogar sehr bald mit ihnen auf recht vertrauten Fuß stand, worüber sich Lisaweta Prokofjewna höchlichst wunderte. Aber obgleich Warwara Ardalionowna es aus irgendeinem Grunde für nötig hielt, mit den Fräulein Jepantschin in so nahe Beziehungen zu treten, so würde sie doch über ihren Bruder mit ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gesprochen haben. Sie war ebenfalls in ihrer Art recht stolz, obwohl sie an einer Stelle Freundschaft schloß, von wo ihr Bruder beinah weggejagt worden war. Auch früher schon war sie mit den Fräulein Jepantschin bekannt gewesen, aber sie hatten einander nur selten gesehen. Im Salon zeigte sie sich übrigens auch jetzt kaum, sondern benutzte, als wollte sie nur auf einen Augenblick vorsprechen, die Hintertreppe. Lisaweta Prokofjewna war ihr weder früher zugetan gewesen, noch war sie es jetzt, obwohl sie Nina Alexandrowna, Warwara Ardalionownas Mutter, sehr hochschätzte. Sie wunderte und ärgerte sich zugleich und schrieb die Freundschaft mit Warja den Launen und der Herrschsucht ihrer Töchter zu, die »sich immerzu etwas Neues ausdenken mußten, um ihr in die Quere zu kommen«. Warwara Ardalionowna jedoch setzte trotzdem sowohl vor als auch nach ihrer Verheiratung ihre Besuche bei ihnen fort.

Aber es war nach der Abreise des Fürsten ungefähr ein Monat verflossen, da erhielt die Generalin Jepantschina einen Brief von der alten Fürstin Bjelokonskaja, die vierzehn Tage vorher nach Moskau zu ihrer ältesten dort verheirateten Tochter gefahren war, und dieser Brief übte eine starke Wirkung auf sie aus. Obwohl sie weder ihren Töchtern noch Iwan Fjodorowitsch etwas daraus mitteilte, merkten ihre Angehörigen doch an vielen Anzeichen, daß sie besonders animiert, ja aufgeregt war. Sie fing an, mit den Töchtern in einer ganz merkwürdigen Weise zu reden, immer über ganz ungewöhnliche Gegenstände; sie hatte offenbar die größte Lust, sich auszusprechen, bezwang sich aber aus irgendeinem Grunde. An dem Tage, an dem sie den Brief erhalten hatte, war sie gegen alle sehr zärtlich und küßte sogar Aglaja und Adelaida; es machte den Eindruck, als täte sie vor ihnen wegen irgend etwas Buße, aber weswegen eigentlich, das wurde ihnen nicht klar. Sogar gegen Iwan Fjodorowitsch, der bei ihr einen ganzen Monat lang in Ungnade gewesen war, wurde sie auf einmal nachsichtig. Natürlich ärgerte sie sich gleich am folgenden Tage furchtbar über ihre gestrige Sentimentalität und fand noch vor dem Mittagessen Zeit, sich mit allen zu zanken; aber gegen Abend hellte sich der Horizont wieder auf. Überhaupt befand sie sich die ganze folgende Woche über in recht guter Laune, was bei ihr schon lange nicht dagewesen war.

Aber nach einer weiteren Woche traf von der Fürstin Bjelokonskaja ein zweiter Brief ein, und diesmal entschloß sich die Generalin dazu, sich auszusprechen. Sie erklärte feierlich, die alte Bjelokonskaja (anders bezeichnete sie die Fürstin niemals, wenn sie in Abwesenheit derselben von ihr sprach) habe ihr sehr tröstliche Nachrichten über diesen … »Sonderling, na ja, über den Fürsten« zugehen lassen. Die Alte habe in Moskau Nachforschungen nach ihm angestellt, Erkundigungen über ihn eingezogen und sehr Gutes über ihn in Erfahrung gebracht; der Fürst habe sich schließlich auch bei ihr selbst eingefunden und auf sie einen sehr günstigen Eindruck gemacht. Das war auch daraus zu ersehen, daß sie ihn eingeladen hatte, sie täglich zwischen ein und zwei Uhr mittags zu besuchen, »und er kommt nun alle Tage zu ihr angelaufen, und sie ist seiner noch nicht überdrüssig geworden«, schloß die Generalin und fügte dann noch hinzu, durch Vermittelung »der Alten« habe der Fürst zu mehreren guten Familien Zutritt erhalten. »Das ist gut, daß er nicht immer zu Hause hockt und sich wie ein Dummkopf geniert.« Die jungen Mädchen, denen dies alles mitgeteilt wurde, merkten sofort, daß die Mama ihnen sehr vieles aus ihrem Brief vorenthielt. Vielleicht erfuhren sie das Fehlende durch Warwara Ardalionowna, die natürlich alles, was ihrem Mann über den Fürsten und dessen Aufenthalt in Moskau bekannt war, auch ihrerseits wissen konnte und wirklich wußte. Und Ptizyn konnte darüber allerdings mehr wissen als alle andern. Aber er war in geschäftlichen Dingen außerordentlich schweigsam, obwohl er seiner Frau selbstverständlich nichts vorenthielt. Die Abneigung der Generalin gegen Warwara Ardalionowna stieg dadurch noch mehr.

Aber wie dem auch sein mochte, das Eis war einmal gebrochen, und es durfte nun wieder über den Fürsten laut gesprochen werden. Der ungewöhnliche Eindruck, den der Fürst im Jepantschinschen Hause gemacht, und das lebhafte Interesse, das er dort erregt und hinterlassen hatte, traten von neuem klar zutage. Die Generalin wunderte sich sogar über die starke Wirkung, die die Nachrichten aus Moskau auf ihre Töchter ausübten. Und die Töchter ihrerseits waren erstaunt über die Mama, die ihnen so feierlich erklärt hatte, das wichtigste Charakteristikum ihres Lebens bestehe darin, daß sie sich fortwährend in den Menschen täusche, und gleichzeitig den Fürsten der Aufmerksamkeit der »mächtigen« alten Fürstin Bjelokonskaja in Moskau empfohlen hatte, wozu doch ein gewaltiger Aufwand von Bitten und Beschwörungen nötig war, denn »die Alte« war in gewissen Fällen nur schwer in Bewegung zu setzen.

Sowie aber einmal das Eis gebrochen war und ein neuer Wind wehte, beeilte sich auch der General auszusprechen, was er wußte. Es zeigte sich, daß auch er sich für den Fürsten lebhaft interessierte. Er machte den Seinigen übrigens nur über »die geschäftliche Seite der Angelegenheit« Mitteilung. Er habe, sagte er, im Interesse des Fürsten zwei sehr verläßliche und in ihrer Art einflußreiche Moskauer Herren beauftragt, ihn und besonders seinen Ratgeber Salaskin zu überwachen. Alles, was über die Erbschaft gesagt sei, das heißt »sozusagen das Faktum der Erbschaft«, habe sich als richtig erwiesen, aber die Erbschaft selbst stelle sich schließlich nicht als so bedeutend heraus, wie es anfangs verlautet habe. Das Vermögen stecke zur einen Hälfte in verwickelten Unternehmungen, es seien Schulden vorhanden, auch träten Prätendenten auf, und der Fürst verfahre trotz aller Ratschläge auf eine sehr wenig geschäftsmäßige Weise. Er, der General, wünsche ihm natürlich »von ganzem Herzen alles Gute«, jetzt, wo »das Eis des Schweigens« gebrochen sei, könne er das sagen, denn der junge Mann verdiene es, wenn er auch »ein bißchen soso« sei. Aber er mache doch dort arge Dummheiten: es hätten sich zum Beispiel Gläubiger des verstorbenen Kaufmanns mit anfechtbaren oder geradezu wertlosen Urkunden über ihre Ansprüche gemeldet, und andere, die von dem Fürsten Witterung bekommen hätten, ganz ohne solche Urkunden, und was habe der Fürst getan? Er habe sie fast alle befriedigt, obwohl ihm seine Freunde vorgestellt hätten, daß alle diese sauberen Patrone von Gläubigern keinerlei Rechtsansprüche besäßen, aber er habe sie dennoch befriedigt, einzig deshalb, weil sich herausgestellt habe, daß einige von ihnen tatsächlich Schaden erlitten hätten.

Die Generalin erwiderte darauf, daß auch die Fürstin Bjelokonskaja an sie so etwas geschrieben habe und daß »das dumm, sehr dumm« sei. »Dummheit ist nicht heilbar«, fügte sie in scharfem Ton hinzu; aber man konnte es ihr am Gesicht ansehen, wie sehr sie sich doch innerlich über diese Handlungsweise des »Dummkopfes« freute. Aus allem merkte der General schließlich, daß seine Gemahlin an dem Fürsten wie an einem leiblichen Sohn Anteil nahm und daß sie sich gegen Aglaja außerordentlich zärtlich benahm; als Iwan Fjodorowitsch das sah, nahm er für einige Zeit eine sehr geschäftsmäßige Haltung an.

Aber diese ganze angenehme Stimmung dauerte nicht lange. Kaum waren zwei Wochen vergangen, da trat auf einmal ein Umschlag ein; die Generalin machte wieder ein finsteres Gesicht, und der General fügte sich, nachdem er einige Male die Achseln gezuckt hatte, wieder in »das Eis des Schweigens«. Die Sache war die: vierzehn Tage vorher hatte er unterderhand eine zwar kurze und daher nicht ganz klare, aber doch zuverlässige Nachricht folgenden Inhalts erhalten: Nastasja Filippowna, die zuerst in Moskau verschwunden und dann in Moskau selbst von Rogoshin aufgefunden, dann wieder irgendwohin verschwunden und wieder von ihm aufgefunden sei, habe ihm endlich so gut wie fest versprochen, ihn zu heiraten. Und nun, nur vierzehn Tage später, erhielt Seine Exzellenz plötzlich eine andere Nachricht: Nastasja Filippowna sei zum drittenmal, fast vom Traualtar, davongelaufen und diesmal irgendwo in der Provinz untergetaucht, und gleichzeitig sei trug mit zu der gedrückten Stimmung bei, die damals in der Familie Jepantschin herrschte, obwohl die Generalin sich dahin äußerte, sie sei jetzt so froh, daß sie sich mit beiden Händen bekreuzigen möchte. Obgleich der General in Ungnade war und fühlte, daß er das selbst verschuldet hatte, schmollte er doch längere Zeit; es tat ihm leid, daß Afanassij Iwanowitsch nicht sein Schwiegersohn wurde: »Ein solches Vermögen und ein so gewandter Mensch!« Nicht lange darauf erfuhr der General, daß Afanassij Iwanowitsch sich von einer zugereisten Französin habe fesseln lassen, die zur höheren Gesellschaft gehöre, Marquise und Legitimistin sei, daß die Eheschließung bevorstehe und daß sie ihren Gemahl dann nach Paris und später irgendwohin in die Bretagne entführen werde. »Na, mit der Französin wird er zugrunde gehen«, entschied der General.

Also die Jepantschins machten sich bereit, zu Beginn des Sommers wegzureisen. Da trat plötzlich ein Ereignis ein, das von neuem alle Pläne umstieß, und die Reise wurde zur größten Freude des Generals und der Generalin wieder aufgeschoben. Es kam aus Moskau nach Petersburg ein Fürst, ein Fürst Schtsch., übrigens eine sehr bekannte Persönlichkeit, und zwar bekannt von der allerbesten Seite. Er war einer jener ehrenhaften, bescheidenen, tatfreudigen Männer, wie sie in der letzten Zeit häufiger geworden waren, jener Männer, die aufrichtig und bewußt das Nützliche erstreben, immer arbeiten und sich durch die seltene, glückliche Gabe auszeichnen, immer Arbeit für sich zu finden. Ohne sich vorzudrängen, ohne sich an dem erbitterten Gezänk und dem müßigen Gerede der Parteien zu beteiligen und ohne sich zu den Ersten zu rechnen, besaß der Fürst doch ein recht gründliches Verständnis für einen guten Teil der Entwicklung, die die letzte Zeit gebracht hatte. Er hatte früher ein Amt bekleidet und dann bei der ländlichen Selbstverwaltung mitgewirkt. Außerdem war er ein nützlicher Korrespondent mehrerer gelehrter russischer Gesellschaften. Im Verein mit einem bekannten Techniker hatte er durch das von ihm gesammelte statistische Material und die von ihm angestellten Untersuchungen bewirkt, daß eine der wichtigsten projektierten Eisenbahnen eine zweckmäßigere Richtung erhielt. Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt, gehörte zur »allervornehmsten Gesellschaft« und besaß außerdem ein »schönes, solides, sicheres« Vermögen, wie sich der General ausdrückte, der anläßlich einer sehr wichtigen geschäftlichen Angelegenheit mit dem Fürsten bei seinem Chef, dem Grafen, zusammengetroffen war und seine Bekanntschaft gemacht hatte. Der Fürst ging infolge einer gewissen besonderen Neugierde keiner Gelegenheit, mit russischen »Geschäftsleuten« bekannt zu werden, aus dem Wege. Es machte sich so, daß der Fürst auch mit der Familie des Generals bekannt wurde. Adelaida Iwanowna, die mittlere der drei Schwestern, machte auf ihn einen recht starken Eindruck. Zu Beginn des Frühlings hielt er um ihre Hand an. Der Freier gefiel sowohl ihr als auch ihrer Mutter recht gut. Der General war sehr erfreut. Selbstverständlich wurde die Reise verschoben. Die Hochzeit wurde für den Frühling in Aussicht genommen.

Die Reise hätte übrigens auch noch in der Mitte oder gegen Ende des Sommers stattfinden können, wenn auch nur in Form eines ein- oder zweimonatigen Ausfluges der Mutter und der beiden ihr verbliebenen Töchter, um den Schmerz über Adelaidas Ausscheiden aus der Familie zu besänftigen. Aber es trat wieder ein neues Ereignis ein: schon zu Ende des Frühjahrs (Adelaidas Hochzeit hatte sich etwas verzögert und war nun auf die Mitte des Sommers angesetzt worden) führte Fürst Schtsch. bei der Jepantschinschen Familie einen entfernten Verwandten von sich ein, mit dem er aber sehr gut bekannt war. Es war dies ein gewisser Jewgenij Pawlowitsch R., ein noch sehr junger Mann, ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, Flügeladjutant, bildschön, von »vortrefflicher Herkunft«, geistreich, elegant, »ein Anhänger der neuen Ideen«, »hochgebildet« und unerhört reich. Hinsichtlich dieses letzten Punktes war der General immer sehr vorsichtig. Er zog Erkundigungen ein und äußerte dann: »Die Sache scheint sich tatsächlich so zu verhalten, indes ist doch noch weitere Bestätigung erforderlich.« Dieser junge Flügeladjutant, dem man eine »große Zukunft« prophezeite, erhielt noch eine besondere Empfehlung durch die Art, wie sich die alte Fürstin Bjelokonskaja in Moskau in ihren Briefen über ihn aussprach. Nur in einem Punkte war sein Ruf etwas bedenklich: er sollte mehrere Liebesverhältnisse gehabt und, wie behauptet wurde, mehrere »Siege« über unglückliche Herzen davongetragen haben. Nachdem er Aglaja gesehen hatte, wurde er in der Familie Jepantschin ein überaus häufiger Gast. Er hatte zwar noch nichts deutlich ausgesprochen, ja nicht einmal irgendwelche Andeutungen gemacht, aber die Eltern waren doch der Ansicht, man müsse für diesen Sommer den Plan einer Auslandsreise aufgeben. Aglaja selbst war vielleicht anderer Meinung.

Dies begab sich, kurz bevor unser Held zum zweitenmal auf dem Schauplatz unserer Erzählung erschien. Zu dieser Zeit war, nach dem äußeren Scheine zu urteilen, der arme Fürst Myschkin in Petersburg bereits vollständig in Vergessenheit geraten. Wäre er jetzt auf einmal unter den Menschen, die ihn kannten, erschienen, so würden sie so überrascht gewesen sein, als ob er vom Himmel gefallen wäre. Aber wir wollen inzwischen von noch einem Ereignis Mitteilung machen und damit unsere Einleitung beschließen.

Kolja Iwolgin setzte nach der Abreise des Fürsten anfangs sein früheres Leben fort, das heißt er ging ins Gymnasium, besuchte seinen Freund Ippolit, beaufsichtigte den General und half seiner Schwester Warja in der Wirtschaft, indem er Laufburschendienste verrichtete. Aber die Untermieter verschwanden schnell: Ferdyschtschenko zog drei Tage nach dem Vorfall in Nastasja Filippownas Wohnung aus und war sehr bald verschollen, so daß man von ihm überhaupt nichts mehr zu hören bekam; es hieß, daß er irgendwo trinke, aber es fehlte dafür die Bestätigung. Der Fürst reiste nach Moskau; so war es mit den Untermietern zu Ende. Als sich dann Warja verheiratete, zogen Nina Alexandrowna und Ganja mit ihr zusammen zu Ptizyn in das ; was aber den General Iwolgin anlangt, so begegnete ihm fast gleichzeitig etwas ganz Unvorhergesehenes: er wurde ins Schuldgefängnis gesetzt. Veranlaßt hatte dies seine Freundin, die Hauptmannsfrau, auf Grund der Schuldscheine, die er ihr zu verschiedenen Zeiten im Gesamtbetrag von etwa zweitausend Rubeln gegeben hatte. Das war für ihn eine vollständige Überraschung, und der arme General war nun »entschieden ein Opfer seines zu weit gehenden Glaubens an den Edelmut des menschlichen Herzens, allgemein gesagt«. Da er sich gewöhnt hatte, Schuldscheine und Wechsel zu unterschreiben, ohne sich im geringsten darüber zu beunruhigen, so hatte er gar nicht an die Möglichkeit gedacht, daß solche Urkunden jemals wirksam werden könnten, sondern immer gemeint, das sei nur so eine Form. Nun stellte sich heraus, daß es nicht nur so eine Form war. »Und da soll man sich nun noch auf Menschen verlassen und edelmütig Vertrauen schenken!« rief er bekümmert aus, als er mit seinen neuen Freunden im Tarassowschen Hause bei einer Flasche Wein saß und ihnen seine Geschichten von der Belagerung von Kars und dem auferstandenen Soldaten erzählte. Er führte dort übrigens ein höchst angenehmes Leben. Ptizyn und Warja sagten, daß das für ihn ganz der richtige Ort sei, und Ganja stimmte ihnen völlig bei. Nur die arme Nina Alexandrowna weinte im stillen bitterlich, worüber ihre Angehörigen sehr verwundert waren, und obwohl sie fortwährend kränkelte, schleppte sie sich doch, sooft sie nur konnte, nach dem Schuldgefängnis, um ihren Mann zu besuchen.

Aber seit dem »Zwischenfall mit dem General«, wie Kolja sich ausdrückte, und überhaupt seit der Verheiratung seiner Schwester hatte sich Kolja fast gänzlich von der Oberherrschaft seiner Angehörigen frei gemacht, und es war so weit gekommen, daß er in der letzten Zeit nur noch selten bei der Familie erschien und dort übernachtete. Gerüchten zufolge hatte er eine Menge neuer Bekanntschaften angeknüpft; außerdem war er im Schuldgefängnis eine sehr bekannte Erscheinung geworden. Nina Alexandrowna konnte dort ohne ihn gar nicht mit ihrem Manne zurechtkommen. Zu Hause aber belästigte man ihn jetzt nicht einmal mit neugierigen Fragen. Warja, die früher so streng mit ihm verfahren war, unterwarf ihn jetzt nicht dem geringsten Verhör über seine Wanderungen, und Ganja redete und verkehrte zur großen Verwunderung seiner Angehörigen manchmal trotz seiner Hypochondrie mit ihm ganz freundschaftlich, was früher nie geschehen war, da der sechsundzwanzigjährige Ganja natürlich seinem fünfzehnjährigen Bruder nicht die geringste freundschaftliche Beachtung geschenkt, ihn grob behandelt, auch von allen anderen Angehörigen nur Strenge gegen ihn verlangt und beständig gedroht hatte, »ihn bei den Ohren zu nehmen«, wodurch bei Kolja »der letzte Rest menschlicher Geduld erschöpft wurde«. Man konnte glauben, daß Ganja seinen Bruder Kolja jetzt manchmal geradezu nötig hatte. Diesem hatte es nicht wenig imponiert, daß Ganja damals das Geld zurückgegeben hatte, und er war bereit, ihm dafür vieles zu verzeihen.

Es waren nun drei Monate seit der Abreise des Fürsten vergangen, da hörte man in der Familie Iwolgin, daß Kolja auf einmal mit Jepantschins bekannt geworden sei und von den jungen Mädchen stets sehr freundlich aufgenommen werde. Warja hatte dies bald erfahren; übrigens war Kolja nicht durch Warja dort bekannt geworden, sondern »ganz auf eigene Faust«. Allmählich hatte man ihn bei Jepantschins liebgewonnen. Die Generalin war ihm anfänglich nicht sehr zugetan gewesen, hatte dann aber bald an ihm Geschmack gefunden »wegen seiner Offenherzigkeit, und weil er nicht schmeichelte«. Daß Kolja nicht schmeichelte, war durchaus richtig, er verstand es, mit ihnen auf völlig gleichem Fuß und unter Wahrung seiner Unabhängigkeit zu verkehren, obwohl er der Generalin manchmal Bücher und Zeitungen vorlas, – aber er war immer äußerst dienstfertig. Ein paarmal verzankte er sich heftig mit Lisaweta Prokofjewna und erklärte ihr, sie sei eine Despotin und er werde keinen Fuß mehr in ihr Haus setzen. Das erstemal war der Streit wegen der »Frauenfrage« entstanden und das zweitemal wegen der Frage, welche Jahreszeit zum Zeisigfang die geeignetste sei. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber die Generalin schickte ihm am dritten Tage nach dem Streit durch einen Diener ein Briefchen zu, in dem sie ihn dringend bat, wieder hinzukommen; Kolja sträubte sich nicht, sondern stellte sich sofort ein. Nur Aglaja zeigte sich ihm aus einem nicht recht verständlichen Grund dauernd nicht wohlgeneigt und behandelte ihn sehr von oben herab. Und doch sollte er gerade sie in Erstaunen versetzen. Eines Tages – es war in der Osterzeit – paßte Kolja einen Augenblick ab, wo er mit Aglaja allein war, und übergab ihr einen Brief, wobei er nur bemerkte, er sei angewiesen, ihn ihr unter vier Augen zuzustellen. Aglaja warf dem »eingebildeten Jungen« einen strengen Blick zu, aber Kolja wartete Weiteres nicht ab und ging hinaus. Sie öffnete den Brief und las:

»Sie haben mich früher einmal Ihres Vertrauens gewürdigt. Vielleicht haben Sie mich jetzt ganz vergessen. Wie kommt es, daß ich an Sie schreibe? Ich weiß es nicht, aber es wurde in mir ein unüberwindliches Verlangen rege, mich Ihnen, gerade Ihnen, ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie oft hatte ich Sie alle drei dringend nötig, aber ich sah von Ihnen allen dreien immer nur Sie allein. Ich habe Sie nötig, dringend nötig. Von mir selbst habe ich Ihnen nichts zu schreiben und nichts zu erzählen. Das war auch gar nicht meine Absicht; ich wünsche nur von ganzem Herzen, daß Sie glücklich sein möchten. Sind Sie glücklich? Nur das wollte ich Ihnen sagen.

Ihr Bruder Fürst L. Myschkin.«

Als Aglaja diesen kurzen und recht sinnlosen Brief las, wurde sie plötzlich dunkelrot und versank in Nachdenken. Es würde uns schwer sein, den Gang ihrer Gedanken aufzuzeichnen. Unter anderm fragte sie sich: ›Soll ich den Brief jemandem zeigen?‹ Sie schämte sich gewissermaßen. Schließlich warf sie den Brief mit einem sonderbaren, spöttischen Lächeln in den Schubkasten ihres Nähtisches. Am folgenden Tage nahm sie ihn wieder heraus und legte ihn in ein dickes, stark in Halbfranz gebundenes Buch (so machte sie es immer mit ihren Briefschaften, um sie recht schnell zu finden, sobald sie sie gebrauchte). Erst eine Woche darauf sah sie zufällig, was es eigentlich für ein Buch war, in dem dieser Brief lag. Es war der »Don Quijote de la Mancha«. Aglaja lachte laut auf; es ist schwer zu sagen, warum.

Auch wissen wir nicht, ob sie den Brief einer ihrer Schwestern zeigte.

Aber gleich bei der Lektüre des Briefes war ihr der Gedanke durch den Kopf gegangen: ›Hat sich denn wirklich der Fürst diesen eingebildeten, großtuerischen Jungen dazu ausersehen, mit ihm Briefe zu wechseln, und ist dieser Junge vielleicht am Ende gar der einzige Mensch, mit dem der Fürst hier in Korrespondenz steht?‹ So setzte sie denn eine sehr geringschätzige Miene auf und unterwarf Kolja einem Verhör. Aber der sonst immer sehr empfindliche »Junge« beachtete diesmal ihre Geringschätzung nicht im mindesten; sehr kurz und in recht trockenem Tone erklärte er der Fragerin, er habe zwar bei der Abreise des Fürsten von Petersburg diesem für alle Fälle seine ständige Adresse mitgeteilt und ihm dabei seine Dienste angeboten; aber dies sei der erste Auftrag, den er von ihm empfangen habe, und das erste Schreiben an ihn, und zum Beweise der Wahrheit des Gesagten zeigte er ihr auch den Brief, den er selbst von dem Fürsten erhalten hatte. Aglaja machte sich kein Gewissen daraus, ihn zu lesen. In diesem Briefe an Kolja stand:

»Lieber Kolja, seien Sie so gut, den hier beiliegenden Brief an Aglaja Iwanowna abzugeben. Lassen Sie sich’s gut gehen.

Ihr Sie liebender Fürst L. Myschkin.«

»Es ist doch komisch, daß er sich einen solchen Knirps zum Vertrauten aussucht«, bemerkte Aglaja in beleidigendem Ton, gab Kolja den Brief zurück und ging verächtlich an ihm vorbei.

Das war nun doch mehr, als Kolja ertragen konnte. Und er hatte noch gerade für diesen Besuch seinen Bruder Ganja, ohne ihm den Grund zu erklären, gebeten, ob er nicht dessen noch ganz neue grüne Krawatte umbinden dürfe! Er fühlte sich bitter gekränkt.

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Kapitel 18

II

Es war Anfang Juni, und das Wetter war in Petersburg schon eine ganze Woche lang außerordentlich schön gewesen. Jepantschins besaßen ein prächtiges eigenes Landhaus in Pawlowsk. Lisaweta Prokofjewna wurde auf einmal unruhig und drängte zum Aufbruch; nach kaum zwei Tagen geschäftiger Tätigkeit zogen sie um.

Einen oder zwei Tage nach dem Umzug der Familie Jepantschin traf Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin mit dem Morgenzug aus Moskau ein. Es war niemand zu seinem Empfang auf dem Bahnhof erschienen, aber beim Aussteigen aus dem Waggon kam es ihm auf einmal so vor, als ob aus der Menge, die die mit dem Zug Angekommenen umdrängte, der seltsame, brennende Blick zweier Augen auf ihn gerichtet sei. Als er jedoch aufmerksamer hinschaute, konnte er nichts mehr wahrnehmen. Gewiß war es ihm nur so vorgekommen, aber es blieb doch bei ihm eine unangenehme Empfindung zurück. Zudem war der Fürst auch ohnedies traurig und nachdenklich und schien aus irgendeinem Grund in Sorge zu sein.

Ein Droschkenkutscher fuhr ihn nach einem Gasthof in der Litejnaja-Straße. Das Gasthaus war sehr ärmlich. Der Fürst erhielt zwei kleine, dunkle, schlecht möblierte Zimmer, wusch sich und kleidete sich um; dann ging er, ohne etwas zu genießen, eilig aus, wie wenn er Zeit zu verlieren oder jemanden nicht zu Hause anzutreffen fürchtete.

Wenn einer von den Leuten, die ihn vor einem halben Jahre bei seinem ersten Aufenthalt in Petersburg kennengelernt hatten, ihn jetzt gesehen hätte, so würde er vielleicht gefunden haben, daß sein Äußeres sich sehr vorteilhaft verändert habe. Und doch war das kaum der Fall. Nur die Kleidung war völlig anders geworden: er trug jetzt einen in Moskau von einem guten Schneider gearbeiteten Anzug, aber dieser Anzug hatte einen Fehler: er war gar zu sehr nach der Mode angefertigt (wie das gewissenhafte, aber nicht sehr talentvolle Schneider immer machen) und noch dazu für einen Menschen, der darauf nicht den geringsten Wert legte, so daß ein besonders Lachlustiger bei einem aufmerksamen Blick auf den Fürsten vielleicht Anlaß gefunden hätte zu lächeln. Aber was kommt den Leuten nicht alles lächerlich vor!

Der Fürst nahm eine Droschke und fuhr nach den Peski. In einer der Roshdestwenskij-Straßen fand er bald ein kleines Holzhäuschen. Zu seiner Verwunderung präsentierte sich dieses Häuschen äußerlich recht hübsch: es war sauber, gut in Ordnung gehalten und hatte einen Vorgarten, in dem Blumen wuchsen. Die Fenster nach der Straße zu waren geöffnet, und aus ihnen hörte man ein lautes, unaufhörliches Sprechen, ja fast ein Schreien, wie wenn jemand laut las oder eine Rede hielt; ab und zu wurde diese Stimme durch das Lachen mehrerer anderer heller Stimmen unterbrochen. Der Fürst ging in den Hof, stieg ein paar Stufen hinan und fragte nach Herrn Lebedew.

»Da ist er«, antwortete die Köchin, die die Tür geöffnet hatte. Sie hatte die Ärmel bis zum Ellbogen aufgestreift und wies mit dem Finger nach dem »Salon«.

In diesem Salon, der dunkelblau tapeziert war und dessen saubere Einrichtung einigen Anspruch auf Eleganz erhob (es befanden sich dort ein runder Tisch, ein Sofa, eine Bronzeuhr unter einem Glassturz, ein schmaler Spiegel am Fensterpfeiler und ein sehr altertümlicher kleiner Kronleuchter mit Glasprismen, der an einer bronzenen Kette von der Decke herabhing), mitten in diesem Zimmer stand Herr Lebedew in eigener Person, mit dem Rücken nach dem eintretenden Fürsten zu, sommerlich gekleidet, ohne Rock, in bloßer Weste, und hielt, sich gegen die Brust schlagend, eine affektvolle Rede über irgendein Thema. Seine Zuhörer waren: ein fünfzehnjähriger Knabe, der ein recht lustiges, kluges Gesicht hatte und ein Buch in der Hand hielt, ein etwa zwanzigjähriges junges Mädchen, ganz in Trauerkleidung, mit einem Säugling auf dem Arm, ein dreizehnjähriges Mädchen, gleichfalls in Trauer, das sehr herzlich lachte und dabei den Mund gewaltig weit aufriß, und endlich ein sehr sonderbarer Zuhörer, ein auf dem Sofa liegender junger Mann von etwa zwanzig Jahren, sehr hübsch, mit langem, dichtem, dunklem Haar, großen schwarzen Augen und einem kleinen Anflug von Bart. Dieser Zuhörer schien den Redenden häufig zu unterbrechen und ihm zu widersprechen, und darüber lachte wahrscheinlich das übrige Publikum.

»Lukjan Timofejitsch, Lukjan Timofejitsch! So hör doch! Sieh doch mal her!… Na, bei euch ist auch alles vergebens!«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung ging die Köchin fort; sie ärgerte sich so, daß sie ganz rot geworden war.

Lebedew sah sich um und stand, als er den Fürsten erblickte, eine Weile wie vom Donner gerührt; dann stürzte er mit unterwürfigem Lächeln auf ihn zu, machte aber unterwegs von neuem halt und sagte nur:

»Durch-durch-durchlauchtigster Fürst!«

Aber als könne er seine Fassung immer noch nicht wiedergewinnen, drehte er sich auf einmal um und stürzte ohne jede Veranlassung zunächst auf das Mädchen in Trauer zu, das das Kind auf dem Arme hielt, so daß diese vor Überraschung und Schreck zurückwankte; dann aber ließ er sie und stürmte auf das dreizehnjährige Mädchen los, das in der nach dem Nebenzimmer führenden Tür auf der Schwelle stand und auf dessen Gesicht als Überrest des kurz vorhergehenden Lachens noch ein Lächeln lag. Sie hielt dem Anschreien nicht stand, sondern flüchtete sogleich in die Küche; Lebedew stampfte hinter ihr sogar mit den Füßen auf den Boden, um sie noch mehr zu erschrecken; aber als er dem Blick des Fürsten begegnete, der ihn verlegen ansah, sagte er zur Erklärung:

»Nur… nur aus Ehrerbietung, hehehe!«

»Aber Sie machen sich unnötige Mühe…«, begann der Fürst.

»Sofort, sofort, sofort… schnell wie der Wind!«

Damit lief Lebedew rasch aus dem Zimmer. Erstaunt blickte der Fürst das junge Mädchen, den Knaben und den auf dem Sofa liegenden jungen Mann an, die alle drei lachten. Auch der Fürst fing an zu lachen.

»Er ist gegangen, sich den Frack anzuziehen«, sagte der Knabe.

»Es tut mir außerordentlich leid…«, begann der Fürst. »Ich dachte schon… Sagen Sie, ist er vielleicht…«

»Sie meinen betrunken?« rief eine Stimme vom Sofa her. »Nicht die Spur! Er hat vielleicht drei bis vier Gläser getrunken, na, oder auch fünf, aber was will das bedeuten? Das ist ja ganz normal.«

Der Fürst wollte sich der vom Sofa herkommenden Stimme zuwenden; aber nun begann das junge Mädchen zu sprechen und sagte mit dem offenherzigsten Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht:

»Vormittags trinkt er nie viel; wenn Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit zu ihm hergekommen sind, dann reden Sie jetzt mit ihm, es ist gerade die rechte Zeit. Wenn er abends nach Haus kommt, dann ist er allerdings manchmal betrunken; aber jetzt weint er meistens bis in die Nacht hinein und liest uns aus der Heiligen Schrift vor, weil unsere Mutter vor fünf Wochen gestorben ist.«

»Er ist wahrscheinlich deswegen weggelaufen, weil er noch nicht recht wußte, was er Ihnen antworten soll«, rief lachend vom Sofa her der junge Mann. »Ich möchte wetten, daß er vorhat, Sie zu betrügen, und sich jetzt überlegt, wie er es anstellen soll.«

»Erst vor fünf Wochen! Erst vor fünf Wochen!« fiel der zurückkehrende Lebedew ein, der inzwischen den Frack angezogen hatte.

Er blinzelte mit den Augen und zog ein Taschentuch aus der Tasche, um sich die Tränen abzuwischen. »Meine Kinder sind mutterlos!«

»Aber warum kommen Sie denn in diesem zerlumpten Anzug herein?« sagte das Mädchen. »Da hinter der Tür haben Sie ja einen ganz neuen Oberrock liegen; haben Sie ihn nicht gesehen, nein?«

»Schweig still, du Schwätzerin!« schrie Lebedew sie an. »Willst du wohl!« Er trampelte wieder mit den Füßen. Aber dieses Mal lachte sie nur.

»Warum versuchen Sie, mich zu erschrecken? Ich bin ja nicht Tanja, ich werde nicht davonlaufen«, sagte sie. »Sie werden noch unsere kleine Ljubotschka hier aufwecken, und dann wird sie noch Krämpfe bekommen… Weshalb schreien Sie denn so?«

»Nein, nein, nein! Schweig, schweig! …«, versetzte Lebedew in größter Bestürzung, lief zu dem Kind hin, das auf dem Arm seiner Tochter schlief, und bekreuzigte es mit erschrockener Miene mehrmals. »Herr Gott, erhalte sie mir, Herr Gott, erhalte sie mir! Das ist meine Kleinste, meine Tochter Ljubow«, wandte er sich an den Fürsten, »sie ist in legitimer Ehe von meiner unlängst verstorbenen Gattin Jelena geboren, die im Wochenbette starb. Und dieser Kiebitz hier ist meine Tochter Wera, in Trauerkleidung. Und dieser, dieser, ja dieser …«

»Nun? Bist du steckengeblieben?« rief der junge Mann. »So fahr doch fort! Sei nicht verlegen!«

»Durchlaucht!« rief Lebedew plötzlich mit Heftigkeit. »Haben Sie von der Ermordung der Familie Shemarin in den Zeitungen gelesen?«

»Ja, ich habe davon gelesen«, erwiderte der Fürst einigermaßen verwundert.

»Nun, das ist hier der wahre Mörder der Familie Shemarin, er ist es, er!«

»Aber was reden Sie!« versetzte der Fürst.

»Das heißt im übertragenen Sinne; er ist der künftige zweite Mörder einer künftigen zweiten Familie Shemarin, wenn es noch einmal eine solche geben wird. Darauf bereitet er sich jetzt schon vor…«

Alle lachten. Dem Fürsten kam der Gedanke, Lebedew mache vielleicht wirklich diese Winkelzüge und Seitensprünge nur deshalb, weil er seine Fragen voraussehe, nicht wisse, was er darauf antworten solle, und Zeit zu gewinnen suche.

»Er revoltiert! Er stiftet Verschwörungen an!« schrie Lebedew, als wenn er nicht mehr die Kraft hätte, sich zu beherrschen. »Na, bin ich denn imstande, na, bin ich‘ denn berechtigt, einen solchen Verleumder, einen solchen Wüstling und Unmenschen als meinen leiblichen Neffen, als den einzigen Sohn meiner seligen Schwester Anisja anzuerkennen?«

»Hör doch auf, du betrunkenes Subjekt! Können Sie es glauben, Fürst, jetzt ist er auf den Einfall gekommen, sich mit Advokatur zu befassen und Vertretungen vor Gericht zu übernehmen; er hat sich auf die Rhetorik geworfen und redet mit seinen Kindern im Hause immer nur noch im höheren Stil. Vor fünf Tagen hat er vor den Friedensrichtern gesprochen. Und wen hat er da verteidigt? Nicht die alte Frau, die ihn gebeten und angefleht hatte und die von so einem Schuft von Wucherer ausgeplündert worden war – fünfhundert Rubel, die ihr gehörten, ihr ganzes Vermögen, hatte der Mensch sich angeeignet –, sondern eben diesen Wucherer selbst, einen gewissen Seidler, einen Juden, weil der versprochen hatte, ihm fünfzig Rubel zu geben…«

»Fünfzig Rubel, wenn ich den Prozeß gewinne, und nur fünf, wenn ich ihn verliere«, erklärte Lebedew auf einmal in einer ganz anderen Tonart, als er bisher gesprochen hatte, und als hätte er nie geschrien.

»Na, er hat natürlich nichts ausgerichtet; es geht jetzt bei Gericht nicht mehr so zu wie ehemals, man hat ihn da nur ausgelacht. Aber er war mit sich sehr zufrieden. ›Denken Sie daran, meine unparteiischen Herren Richter‹, hat er gesagt, ›daß ein unglücklicher Greis, der nicht gehen kann und von seiner ehrlichen Arbeit lebt, seines letzten Stückes Brot beraubt wird; denken Sie an die weisen Worte des Gesetzgebers: »Im Gericht soll Milde herrschen«!‹ Und können Sie es glauben? Jeden Morgen deklamiert er uns hier dieselbe Rede vor, Wort für Wort, wie er sie da gehalten hat; es ist heute das fünftemal, daß er sie uns vorgetragen hat, jetzt eben, bevor Sie kamen; so gut hat sie ihm gefallen. Er leckt sich darüber die Lippen. Und er hat vor, noch so einen zu verteidigen, Sie sind ja wohl Fürst Myschkin? Kolja hat mir von Ihnen gesagt, Sie seien der klügste Mensch, der ihm bisher auf der Welt vorgekommen wäre…«

»Das stimmt! Das stimmt! Der klügste Mensch auf der Welt!« fiel Lebedew sofort ein.

»Na, der hier schwatzt das allerdings nur so hin. Der eine liebt Sie, und der andere möchte sich bei Ihnen in Gunst setzen; aber ich beabsichtige durchaus nicht, Ihnen zu schmeicheln, das sage ich Ihnen ein für allemal. Sie sind ja doch ein urteilsfähiger Mensch: seien Sie Schiedsrichter zwischen mir und ihm! Na, bist du damit einverstanden, daß der Fürst es übernimmt, unser Schiedsrichter zu sein?« wandte er sich an seinen Onkel. »Ich bin ordentlich froh, Fürst, daß Sie gerade hergekommen sind.«

»Ja, ich bin damit einverstanden!« rief Lebedew in entschlossenem Ton und sah sich unwillkürlich nach dem Publikum um, das wieder heranzurücken begann.

»Aber was haben Sie denn eigentlich miteinander?« fragte der Fürst und runzelte ein wenig die Stirn.

Er hatte wirklich Kopfschmerzen und gelangte außerdem immer mehr zu der Überzeugung, daß Lebedew ihm etwas vormachte und sich darüber freute, daß die Hauptsache hinausgeschoben wurde.

»Also Darlegung des Tatbestandes! Ich bin sein Neffe; darin hat er nicht gelogen, obwohl er sonst immer lügt. Ich habe mein Studium nicht beendet, aber ich will es beenden und werde meine Absicht durchsetzen, denn ich habe einen energischen Charakter. Inzwischen aber will ich, um zu existieren, eine Stellung bei der Eisenbahn mit fünfundzwanzig Rubel Gehalt annehmen. Ich bekenne außerdem, daß er mir schon zwei- oder dreimal geholfen hat. Ich besaß zwanzig Rubel und habe sie verspielt. Können Sie es glauben, Fürst, ich war so gemein und nichtswürdig, das Geld zu verspielen!«

»An einen Schurken, an einen Schurken, dem er überhaupt nichts hätte bezahlen sollen!« schrie Lebedew.

»Ja, an einen Schurken; aber bezahlen mußte ich es ihm«, fuhr der junge Mann fort. »Daß er ein Schurke ist, kann auch ich bezeugen, und zwar nicht deswegen, weil er dich durchgeprügelt hat. Es ist das nämlich ein in seiner Karriere gescheiterter Offizier, ein Leutnant a. D., von der ehemaligen Rogoshinschen Kohorte; er erteilt Unterricht im Boxen. Die treiben sich jetzt alle hier und da umher, seitdem Rogoshin sie weggejagt hat. Aber das allerärgste war, daß ich wußte, daß er ein Schurke, ein Taugenichts und Dieb war, und mich doch mit ihm zum Spiel hinsetzte, und daß ich, als ich den letzten Rubel setzte (wir spielten ), bei mir dachte: ›Wenn ich verliere, gehe ich zu Onkel Lukjan und falle ihm zu Füßen; er wird es mir nicht abschlagen.‹ Das war eine unwürdige Handlungsweise, eine ganz unwürdige Handlungsweise! Das war eine bewußte Gemeinheit!«

»Ja, das war eine bewußte Gemeinheit!« wiederholte Lebedew.

»Na, triumphiere nicht zu früh, warte noch!« rief der Neffe beleidigt. »Er freut sich schon. Ich kam zu ihm hierher, Fürst, und bekannte ihm alles: ich handelte ehrenhaft und beschönigte nichts, was ich getan hatte; ich schimpfte vor seinen Ohren auf mich selbst mit den stärksten Ausdrücken; alle hier Anwesenden sind Zeugen. Um die Stelle bei der Eisenbahn zu erhalten, muß ich mich unbedingt einigermaßen equipieren, denn ich bin ganz zerlumpt. Da, sehen Sie mal meine Stiefel an! Sonst kann ich die Stelle nicht antreten, und wenn ich sie nicht zum bestimmten Termin antrete, so bekommt sie ein anderer; dann sitze ich wieder auf dem trockenen und kann mich nach einer neuen Stelle umsehen. Jetzt bitte ich ihn nur um fünfzehn Rubel und verspreche, ihn nie wieder um Geld zu bitten und ihm überdies im Laufe der ersten drei Monate die ganze Schuld bis auf die letzte Kopeke zurückzuzahlen. Ich werde mein Wort halten. Ich bin imstande, monatelang von Brot und Kwaß zu leben, denn ich habe einen festen Charakter. Für drei Monate werde ich fünfundsiebzig Rubel Gehalt bekommen. Mit dem früheren zusammen werde ich ihm im ganzen fünfunddreißig Rubel schuldig sein; somit werde ich genug Geld haben, um ihm alles zu bezahlen. Na, mag er mir Prozente abnehmen, soviel er will, hol’s der Teufel! Kennt er mich denn etwa nicht? Fragen Sie ihn selbst, Fürst: habe ich ihm nicht jedesmal, wenn er mir früher geholfen hatte, das Geld zurückbezahlt? Warum will er denn nun diesmal nicht? Er ist ärgerlich darüber, daß ich an diesen Leutnant meinen Spielverlust bezahlt habe; das ist der einzige Grund! So ein Mensch ist das, er gönnt weder sich noch einem andern etwas!«

»Und nun geht er nicht weg!« schrie Lebedew. »Er hat sich hier hingelegt und geht nicht weg.«

»Das habe ich dir ja gesagt. Ich gehe nicht weg, ehe du mir nicht das Geld gibst. Warum lächeln Sie, Fürst? Sie finden wohl, daß ich unrecht habe?«

»Ich lächle nicht, aber meiner Ansicht nach haben Sie in der Tat bis zu einem gewissen Grade unrecht«, antwortete der Fürst mit Widerstreben.

»So sagen Sie doch geradeheraus, daß ich ganz und gar unrecht habe, und machen Sie keine gewundenen Redensarten! Was soll das heißen: ›bis zu einem gewissen Grade‹?«

»Nun, wenn Sie wollen, dann auch ganz und gar unrecht.«

»Wenn ich will! Lächerlich! Denken Sie denn, ich weiß nicht selbst, daß meine Handlungsweise etwas Bedenkliches hat, daß das Geld ihm gehört, daß er seinen freien Willen hat und daß das, was ich tue, auf Erpressung hinausläuft? Aber Sie kennen das Leben nicht, Fürst. Wenn man auf diese Leute nicht einen Druck ausübt, erreicht man nichts bei ihnen. Man muß einen Druck auf sie ausüben. Mein Gewissen ist ja rein; ich kann mit gutem Gewissen sagen: ich werde ihn nicht zu Schaden bringen, ich werde ihm sein Geld mit Zinsen zurückerstatten. Er hat ja auch schon eine gewisse seelische Befriedigung gehabt, indem er gesehen hat, wie ich mich vor ihm erniedrigte. Was will er nun noch mehr? Wozu ist er denn gut auf der Welt, wenn er niemandem nützt? Und ich bitte Sie, was tut er denn selbst? Erkundigen Sie sich nur einmal, wie er andere behandelt und wie er die Leute betrügt! Wie ist er denn zu diesem Haus gekommen? Ich lasse mir den Kopf abschneiden, wenn er Sie nicht schon betrogen hat und nicht überlegt, wie er Sie noch weiter betrügen kann! Sie lächeln? Sie glauben mir nicht?«

»Mir scheint, daß das alles mit Ihrer Sache nichts zu tun hat«, bemerkte der Fürst.

»Ich liege hier nun schon den dritten Tag, und was habe ich nicht alles zu sehen bekommen!« rief der junge Mann, ohne hinzuhören. »Können Sie sich vorstellen, daß er diesen Engel hier, dieses junge, jetzt mutterlose Mädchen, meine Kusine, seine Tochter, verdächtigt und in ihrem Schlafzimmer jede Nacht nach Liebhabern sucht! Auch zu mir pflegt er leise hereinzukommen und unter dem Sofa, auf dem ich liege, nachzusehen. Er ist vor Mißtrauen verrückt geworden, in jedem Winkel vermutet er Diebe. Die ganze Nacht über springt er jeden Augenblick aus dem Bett, sieht nach den Fenstern, ob sie auch gut geschlossen sind, faßt die Türen an, guckt in den Ofen, und so treibt er es jede Nacht etwa siebenmal. Vor Gericht verteidigt er Gauner, und er selbst verrichtet dreimal in jeder Nacht seine Gebete, hier im Salon; er liegt dabei auf den Knien und schlägt wohl eine halbe Stunde lang mit der Stirn auf den Fußboden. Und für wen er nicht alles betet! Was redet er dabei nicht alles in seiner Trunkenheit her! Er hat schon für das Seelenheil der Gräfin Dubarry gebetet, ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört; Kolja hat es auch gehört; er ist ganz verrückt geworden!«

»Sehen Sie nur, hören Sie nur, wie er mich beschimpft, Fürst!« schrie Lebedew, der ganz rot geworden und wirklich außer sich war. »Aber das weiß er nicht, daß ich, der Trunkenbold und Liederjan, der Räuber und Übeltäter, ihn, diesen Spötter, als er noch ein ganz kleines Kind war, in Windeln gewickelt und in der Wanne gebadet habe und daß ich, selbst ein bettelarmer Mensch, bei meiner verwitweten, bettelarmen Schwester Anisja die Nächte über, ohne zu schlafen, aufgesessen und sie beide während ihrer Krankheiten gepflegt und dem Hausknecht Holz gestohlen und ihnen Lieder vorgesungen und dazu mit den Fingern geschnipst habe, und das alles mit hungrigem Magen! Ja, so habe ich ihn gepflegt, und nun lacht er über mich! Und was kümmert dich das, wenn ich auch wirklich einmal für das Seelenheil der Gräfin Dubarry meine Stirn bekreuzigt hätte? Vor drei Tagen, Fürst, habe ich zum erstenmal in meinem Leben ihre Biographie im Konversationslexikon gelesen. Weißt du denn überhaupt, wer die Gräfin Dubarry war? Sag, weißt du es oder nicht?«

»Na, du bist wohl der einzige, der das weiß!« murmelte der junge Mann spöttisch, aber etwas gezwungen.

»Das war eine Gräfin, die aus der Schande hervorgegangen war und dann wie eine Königin regierte und die von einer großen Kaiserin in einem eigenhändigen Schreiben ›ma cousine‹ angeredet wurde. Ein Kardinal, der päpstliche Nuntius, erbot sich beim (weißt du, was das ist: lever du roi?), ihr die seidenen Strümpfe persönlich auf die nackten Füße zu ziehen, und meinte noch, das sei für ihn eine große Ehre, – so eine hohe, heilige Persönlichkeit! Weißt du das? Ich sehe dir am Gesicht an, daß du es nicht weißt! Na, und wie ist sie gestorben? Antworte, wenn du es weißt!«

»Scher dich weg! Laß mich in Ruh!«

»Gestorben ist sie in der Weise, daß nach all diesen Ehren der Henker Sampson diese hohe Machthaberin auf die Guillotine schleppte, unschuldig, zum Ergötzen der Pariser Fischweiber, und sie vor Angst gar nicht begriff, was mit ihr vorging. Sie sah, daß er sie am Halse unter das Messer bog und mit Fußtritten hinschob (die Weiber lachten dazu), und sie schrie: ›Encore un moment, monsieur le bourreau, encore un moment!‹ Das bedeutet: ›Warten Sie nur noch ein Augenblickchen, Herr bourreau, nur ein einziges Augenblickchen!‹ Und für dieses Augenblickchen wird Gott ihr vielleicht verzeihen; denn man kann sich nichts vorstellen, was für eine Menschenseele schlimmer wäre als diese misère. Weißt du, was das Wort misère bedeutet? Na, siehst du wohl, die schreckliche Lage, von der ich erzählt habe, das ist eben so eine misère. Als ich von diesem Aufschrei der Gräfin und von diesem einen Augenblickchen las, da hatte ich ein Gefühl, als ob man mir das Herz mit einer Zange zwickte. Und was geht dich das an, du Wurm, daß ich vor dem Zubettgehen in meinem Gebet ihrer, dieser großen Sünderin, gedacht habe? Vielleicht habe ich es gerade deswegen getan, weil, solange die Erde steht, für sie wahrscheinlich noch nie jemand seine Stirn bekreuzigt hat oder es sich überhaupt hat in den Sinn kommen lassen. Denn es wird für sie in jener Welt eine angenehme Empfindung sein, daß sich ein ebenso großer Sünder wie sie gefunden hat, der auch für sie wenigstens ein einziges Mal auf Erden gebetet hat. Warum lachst du? Du glaubst nicht, du Atheist! Aber woher hast du dein Wissen? Und du hast das, was du erlauscht hast, auch noch lügnerisch entstellt, denn ich habe nicht einfach nur für die Gräfin Dubarry gebetet; ich habe so gesagt: ›O Gott, gib die ewige Ruhe der Seele der großen Sünderin Gräfin Dubarry und allen, die ihr gleichen!‹ und das ist doch etwas ganz anderes, denn es gibt viele solche großen Sünderinnen, die warnende Beispiele für die Veränderlichkeit des Glückes sind und viel gelitten haben und sich jetzt dort ängstigen und stöhnen und warten. Und auch für dich und alle, die dir gleichen, für alle frechen, unverschämten Gesellen deiner Art habe ich damals gebetet, wie du wissen wirst, da du mich damals bei meinem Gebet hast belauschen mögen…«

»Na, nun hör nur auf, laß es genug sein; bete, für wen du willst, hol dich der Teufel; warum bist du so ins Schreien hineingekommen?« unterbrach ihn der Neffe ärgerlich. »Er ist außerordentlich belesen, Fürst; haben Sie das schon gewußt?« fügte er mit einem ungeschickten Lächeln hinzu. »Er liest jetzt immer Memoiren und allerlei andere Bücher.«

»Ihr Onkel ist aber bei alledem kein herzloser Mensch«, bemerkte der Fürst etwas unwillig. Dieser junge Mann wurde ihm sehr zuwider.

»Sie werden ihn uns am Ende noch durch Ihr Lob verderben! Sehen Sie nur, wie er gleich die Hand aufs Herz legt und einen spitzen Mund macht; das ist ihm süß eingegangen! Herzlos ist er nicht, meinetwegen, aber ein Spitzbube ist er, das ist das Malheur, und außerdem ist er auch noch ein Trunkenbold und ist wie jeder Mensch, der ein paar Jahre lang getrunken hat, ganz aus dem Leim gegangen, so daß alles an ihm knarrt. Die Kinder hat er allerdings lieb, und meine selige Tante hat er gut behandelt… Sogar mich hat er lieb, und er hat mir gewiß in seinem Testament einen Teil seines Vermögens hinterlassen.«

»Nichts hinterlasse ich dir!« schrie Lebedew ingrimmig.

»Hören Sie mal, Lebedew«, sagte der Fürst in bestimmtem Ton, indem er sich von dem jungen Mann abwandte, »ich weiß ja aus Erfahrung, daß Sie, wenn Sie wollen, auf geschäftlichem Gebiet Tüchtiges leisten können… Ich habe jetzt sehr wenig Zeit, und wenn Sie… Entschuldigen Sie, wie ist doch Ihr Vor- und Vatersname? Ich habe es vergessen.«

»Ti-Ti-Timofej.«

»Und?«

»Lukjanowitsch.«

Alle, die im Zimmer anwesend waren, lachten wieder laut auf.

»Er lügt!« rief der Neffe. »Auch darin lügt er! Er heißt gar nicht Timofej Lukjanowitsch, Fürst, sondern Lukjan Timofejewitsch! Na, nun sag selbst, warum hast du denn gelogen? Dir kann es doch gleich sein, ob du Lukjan oder Timofej heißt, und was hat der Fürst daran für ein Interesse? Er schwindelt nur aus reiner Angewohnheit, versichere ich Ihnen!«

»Ist das wirklich wahr?« fragte der Fürst ungeduldig.

»Ich heiße allerdings Lukjan Timofejewitsch«, gestand Lebedew verlegen, indem er demütig die Augen niederschlug und wieder die Hand aufs Herz legte.

»Aber warum tun Sie denn das? Ich bitte Sie!«

»Aus Selbsterniedrigung«, flüsterte Lebedew, der seinen Kopf immer tiefer und immer demütiger herabsinken ließ.

»Ach was! Was liegt denn darin für eine Selbsterniedrigung! Wenn ich nur wüßte, wo Kolja jetzt zu finden ist!« sagte der Fürst und wollte sich schon umdrehen, um wegzugehen.

»Ich will Ihnen sagen, wo Kolja ist«, erbot sich wieder der junge Mann.

»Nein, nein, nein!« rief Lebedew aufgeregt und hastig.

»Kolja hat hier übernachtet, ist aber am Morgen weggegangen, um seinen General zu suchen, den Sie, Fürst, Gott weiß warum, aus dem Schuldgefängnis losgekauft haben. Der General hatte noch gestern versprochen, er würde hierherkommen, um hier zu übernachten, aber er ist nicht gekommen. Am wahrscheinlichsten ist er die Nacht im Gasthaus ›Zur Waage‹, nicht weit von hier, gewesen. Kolja ist also entweder dort oder in Pawlowsk bei Jepantschins. Er hatte Geld und wollte noch gestern hinfahren. Also in der ›Waage‹ oder in Pawlowsk.«

»In Pawlowsk, in Pawlowsk wird er sein!… Aber wir wollen in unser Gärtchen gehen und… ein Täßchen Kaffee…«

Und Lebedew zog den Fürsten an der Hand hinaus. Sie verließen das Zimmer, durchschritten einen kleinen Hof und passierten ein Pförtchen. Dort befand sich wirklich ein sehr kleines, sehr hübsches Gärtchen, in welchem dank dem guten Wetter schon alle Bäume grün waren. Lebedew ließ den Fürsten auf einem grün angestrichenen Holzbänkchen an einem in die Erde gegrabenen Tisch Platz nehmen und setzte sich selbst ihm gegenüber. Nach kurzer Zeit erschien wirklich der Kaffee. Der Fürst lehnte nicht ab. Lebedew fuhr fort, ihm mit kriecherischer Miene in großer Spannung in die Augen zu sehen.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie ein so hübsches Hauswesen haben«, sagte der Fürst, aber sein Gesicht machte den Eindruck, als ob er an etwas ganz anderes dachte.

»Wir sind arme, unglückliche…«, begann Lebedew, sich zusammenkrümmend, aber er hielt inne.

Der Fürst blickte zerstreut vor sich hin und hatte seine letzte Bemerkung offenbar schon wieder vergessen. Es verging noch ungefähr eine Minute. Lebedew beobachtete den Fürsten und wartete.

»Nun also, wie steht es?« sagte der Fürst, der aus seinen Gedanken zu sich zu kommen schien. »Sie wissen ja selbst, Lebedew, was wir beide miteinander zu verhandeln haben: ich bin infolge Ihres Briefes hergekommen; nun reden Sie!« Lebedew wurde verlegen; er wollte etwas sagen, brachte aber nur stotternde Laute heraus und konnte nichts Deutliches von sich geben. Der Fürst wartete ein Weilchen und lächelte traurig.

»Ich glaube Sie sehr gut zu verstehen, Lukjan Timofejewitsch: Sie haben mich wahrscheinlich nicht erwartet. Sie dachten, ich würde mich aus meiner Zurückgezogenheit nicht gleich auf Ihre erste Benachrichtigung hin aufmachen, und schrieben mir, um Ihr Gewissen zu beruhigen. Aber Sie sehen, ich bin hergekommen. Nun lassen Sie es genug sein, und täuschen Sie mich nicht weiter! Hören Sie auf, zwei Herren zu dienen! Rogoshin ist schon drei Wochen hier, ich weiß alles. Haben Sie es schon wieder fertiggebracht, sie ihm zu verraten und zu verkaufen wie damals? Sagen Sie die Wahrheit!«

»Der Unmensch hat es selbst erfahren, ganz allein.«

»Schimpfen Sie nicht auf ihn; er hat Sie ja freilich schlecht behandelt…«

»Geprügelt hat er mich, geprügelt!« fiel Lebedew in großer Erregung ein. »Mit einem Hund hat er mich in Moskau gehetzt, die ganze Straße entlang, mit einem Jagdhund. Es war ein schreckliches Tier!«

»Sie halten mich für ein kleines Kind, Lebedew. Sagen Sie mir im Ernst: hat sie ihn jetzt in Moskau verlassen?«

»Im Ernst, im Ernst, und wieder unmittelbar vor der Trauung. Der zählte schon die Minuten, aber sie reiste hierher nach Petersburg und kam geradewegs zu mir: ›Rette mich, beschütze mich, Lukjan‹, sagte sie, ›und sage dem Fürsten nichts!‹… Sie fürchtet sich vor Ihnen, Fürst, noch mehr als vor ihm, und das ist das Rätselhafte!«

Lebedew hielt mit schlauer Miene den Finger an die Stirn.

»Und jetzt haben Sie die beiden wieder zusammengeführt?«

»Durchlauchtigster Fürst, was konnte… was konnte ich dagegen tun?«

»Nun genug! Ich werde selbst alles in Erfahrung bringen. Sagen Sie mir nur: wo ist sie jetzt? Bei ihm?«

»O nein, ganz und gar nicht! Sie lebt immer noch ganz für sich. Sie sagt: ›Ich bin frei‹, und wissen Sie, Fürst, das ist bei ihr immer der Refrain: ›Ich bin noch vollkommen frei‹, sagt sie. Sie wohnt immer noch auf der Petersburger Seite, im Hause meiner Schwägerin, wie ich Ihnen ja auch geschrieben habe.«

»Ist sie auch jetzt dort?«

»Ja, wenn sie nicht bei dem schönen Wetter in Pawlowsk ist, bei Darja Alexejewna, in deren Landhaus. Sie sagt: ›Ich bin vollkommen frei!‹ Noch gestern hat sie sich Nikolai Ardalionowitsch gegenüber sehr ihrer Freiheit gerühmt. Ein übles Zeichen!«

Lebedew fletschte die Zähne.

»Ist Kolja oft bei ihr?«

»Er ist leichtsinnig und unberechenbar und nicht diskret.«

»Sind Sie in letzter Zeit da gewesen?«

»Ich gehe alle Tage hin, alle Tage.«

»Also waren Sie auch gestern da?«

»N-nein, vorvorgestern.«

»Wie schade, daß Sie angetrunken sind, Lebedew! Sonst hätte ich Sie etwas gefragt.«

»Oh, nicht die Spur betrunken bin ich!«

Lebedew machte geradezu ein finsteres Gesicht.

»Sagen Sie mir: in welchem Zustand befand sie sich, als Sie sie verließen?«

»Sie suchte…«

»Sie suchte?«

»Es war, als ob sie immer etwas suchte, als ob sie etwas verloren hätte. Was die bevorstehende Ehe betrifft, so war ihr sogar der Gedanke daran zuwider, und sie faßte die bloße Erwähnung derselben als Beleidigung auf. An ihn selbst denkt sie nicht mehr als an ein Stückchen Apfelsinenschale, das heißt: doch mehr, sie denkt an ihn mit Furcht und Schrecken und verbietet einem sogar, von ihm zu reden; sie sehen einander nur, wenn es unbedingt nötig ist.. . und er empfindet das außerordentlich schmerzlich! Aber sie wird ihrem Schicksal doch nicht entgehen!… Sie ist unruhig, spottlustig, launisch, zänkisch…«

»Launisch und zänkisch?«

»Ja, zänkisch, denn es fehlte das vorige Mal wenig daran, daß sie mich wegen etwas, was ich gesagt hatte, an den Haaren gerissen hätte. Ich wollte sie durch die Apokalypse zur Besinnung bringen.«

»Wie? Was?« fragte der Fürst, der sich verhört zu haben glaubte.

»Durch Vorlesen der Apokalypse. Sie ist eine Dame mit unruhigem Geist, hehe! Überdies habe ich die Beobachtung gemacht, daß sie eine große Neigung zu ernsten, wenn auch abseits gelegenen Gesprächsgegenständen hat. Sie liebt dergleichen und faßt es sogar als ein Zeichen besonderer Hochachtung auf, wenn man von solchen Dingen anfängt. Ja. Ich bin in der Auslegung der Apokalypse stark und beschäftige mich damit schon seit fünfzehn Jahren. Sie stimmte mir darin bei, daß wir jetzt bei dem dritten Pferd, dem Rappen, angelangt sind und bei dem Reiter, der ein Maß in seiner Hand hat, da ja in jetziger Zeit alles nach dem Maß und dem Vertrag geht und alle Menschen nur ihr Recht suchen: ›Ein Maß Weizen um einen Dinar und drei Maß Gerste um einen Dinar‹… und dann möchten sie sich noch einen freien Geist und ein neues Herz und einen gesunden Leib und alle andern Gaben obendrein bewahren. Aber auf Grund des bloßen Rechtes können sie sich das nicht bewahren, und danach folgt das fahle Pferd und der, des Name Tod heißt, und nach ihm kommt dann die Hölle… Darüber reden wir, wenn wir zusammenkommen, und es hat bei ihr starke Wirkung getan.«

»Sie selbst glauben daran?« fragte der Fürst, indem er Lebedew mit einem eigentümlichen Blick ansah.

»Ich glaube daran und lege es aus. Denn ich bin arm und nackt und ein Atom im Strudel der Menschheit. Und wer achtet Lebedew? Jeder spottet über ihn, und jeder versetzt ihm einen Fußtritt. Aber dort, bei dieser Auslegung, stehe ich den Großen dieser Welt gleich. Denn dabei kommt es auf den Verstand an! Und es hat auch schon ein hoher Würdenträger vor mir gezittert… auf seinem Lehnstuhl, als ihm ein Licht aufging. Seine Exzellenz Nil Alexejewitsch hatte vor zwei Jahren vor Ostern von mir gehört (ich war damals noch in seinem Departement angestellt), ließ mich durch Pjotr Sacharytsch eigens aus dem Büro zu sich in sein Arbeitszimmer rufen und fragte mich unter vier Augen: ›Ist das wahr, daß du ein Verkünder des Antichrist bist?‹ Und ich leugnete nicht und sprach: ›Ich bin es.‹ Und ich legte ihm alles aus und stellte es ihm dar, und ich milderte das Schreckliche nicht, sondern steigerte es noch unvermerkt, indem ich die allegorische Bücherrolle öffnete, und zog Schlüsse aus den Zahlen. Und er lachte, aber bei den Zahlen und den Ähnlichkeiten fing er an zu zittern und bat mich, das Buch zu schließen und wegzugehen, und zu Ostern wies er mir eine Gratifikation an, und in der Woche nach Ostern hauchte er seine Seele aus.«

»Was reden Sie da, Lebedew?«

»Ich sage es, wie es gewesen ist. Er fiel nach dem Mittagessen aus seiner Equipage… mit der Schläfe schlug er gegen einen Prellstein, und wie ein kleines Kind, ganz wie ein kleines Kind, war er auf der Stelle tot. Dreiundsiebzig Jahre war er nach der Rangliste alt geworden; er hatte eine rötliche Gesichtsfarbe, graues Haar und besprengte sich ganz mit Parfüm, und immer lächelte er, immer lächelte er wie ein kleines Kind. Pjotr Sacharytsch erinnerte sich damals noch an das, was vorhergegangen war. ›Du hast es vorhergesagt‹, sagte er zu mir.«

Der Fürst erhob sich. Lebedew wunderte sich und war sogar ganz befremdet, daß der Fürst schon fort wollte.

»Sie sind jetzt so gleichgültig geworden, hehe!« erlaubte er sich unterwürfig zu bemerken.

»Ich fühle mich in der Tat nicht ganz wohl; der Kopf tut mir weh, wohl von der Reise«, antwortete der Fürst mit finsterem Gesicht.

»Sie sollten aufs Land gehen«, riet Lebedew schüchtern.

Der Fürst überlegte.

»Ich will selbst in drei Tagen mit meiner ganzen Familie in mein Landhaus ziehen, damit sich auch der Säugling da kräftigt und damit hier im Hause unterdessen alles zurechtgemacht wird. Ich ziehe ebenfalls nach Pawlowsk.«

»Sie ziehen auch nach Pawlowsk?« fragte der Fürst rasch. »Wie geht denn das zu? Ziehen hier alle Leute nach Pawlowsk? Und Sie haben, wie Sie sagen, dort ein eigenes Landhaus?«

»Alle Leute ziehen nicht nach Pawlowsk. Mir hat Iwan Petrowitsch Ptizyn eines von den Landhäusern überlassen, die ihm da billig zugefallen sind. Es ist ein hübscher Ort und hochgelegen und grün und billig, und es herrscht da bon ton, und auch Musik ist da; darum ziehen so viele nach Pawlowsk. Ich wohne übrigens nur in einem Nebengebäude, das Landhaus selbst…«

»Das haben Sie wohl vermietet?«

»N-n-nein. Noch nicht… noch nicht definitiv.«

»Vermieten Sie es mir!« schlug der Fürst schnell vor.

Gerade darauf schien es Lebedew abgesehen zu haben. Dieser Gedanke war ihm wenige Augenblicke vorher durch den Kopf gegangen. Ein Bedürfnis nach einem Mieter hatte er übrigens gar nicht mehr; ein solcher hatte sich bereits gefunden und ihn benachrichtigt, er werde das Landhaus vielleicht mieten. Lebedew wußte bestimmt, daß er es nicht »vielleicht«, sondern sicher mieten werde, aber jetzt war ihm auf einmal ein seiner Meinung nach vielversprechender Gedanke gekommen, das Landhaus dem Fürsten zu überlassen, unter Benutzung des Umstandes, daß der bisherige Reflektant sich nur unbestimmt ausgedrückt hatte. ›Das ist ja ein eigentümliches Zusammentreffen und eine ganz neue Wendung der Dinge‹, das war seine Empfindung. Er nahm den Vorschlag des Fürsten fast mit Entzücken an und machte auf dessen direkte Frage nach dem Preis nur eine abwehrende Handbewegung.

»Nun, wie Sie wollen«, sagte der Fürst. »Ich werde mich erkundigen, was üblich ist, und Sie sollen nicht zu Schaden kommen.«

Sie verließen nunmehr beide den Garten.

»Ich könnte Ihnen… ich könnte Ihnen … wenn es Ihnen erwünscht wäre, könnte ich Ihnen eine sehr interessante Mitteilung machen, hochverehrter Fürst, ich könnte Ihnen etwas mitteilen, was sich auf denselben Gegenstand bezieht«, murmelte Lebedew, der glückselig neben dem Fürsten einherscharwenzelte.

Der Fürst blieb stehen.

»Darja Alexejewna hat ebenfalls ein Landhaus in Pawlowsk.«

»Nun, und?«

»Eine gewisse Dame ist mit ihr befreundet und beabsichtigt anscheinend, sie häufig in Pawlowsk zu besuchen. Sie hat dabei eine bestimmte Absicht.«

»Nun?«

»Aglaja Iwanowna…«

»Ach, hören Sie auf, Lebedew!« unterbrach ihn der Fürst, als sei bei ihm ein wunder Punkt berührt. »Das verhält sich alles anders. Sagen Sie mir lieber, wann Sie umziehen! Mir ist es je eher um so lieber, da ich im Gasthaus…«

Während dieses Gespräches hatten sie den Garten verlassen, waren, ohne nochmals in das Haus zu kommen, über den Hof gegangen und näherten sich nun dem Torpförtchen.

»Das beste wäre«, meinte Lebedew schließlich, »wenn Sie gleich heute aus dem Gasthaus zu mir zögen; übermorgen ziehen wir dann alle zusammen nach Pawlowsk.«

»Ich werde es mir überlegen«, erwiderte der Fürst nachdenklich und ging aus dem Tor.

Lebedew sah ihm nach. Die plötzliche Zerstreutheit des Fürsten überraschte ihn. Dieser hatte sogar vergessen, beim Weggehen Lebewohl zu sagen, und nicht einmal mit dem Kopf genickt, was zu der Höflichkeit und Aufmerksamkeit des Fürsten, die Lebedew gut kannte, wenig stimmte.

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Kapitel 19

III

Es ging schon auf zwölf. Der Fürst wußte, daß er bei Jepantschins in ihrer Stadtwohnung jetzt nur den dienstlich beschäftigten General treffen konnte, und auch den kaum. Er sagte sich, daß der General ihn womöglich sogleich mit Beschlag belegen und nach Pawlowsk mitnehmen würde, und ihm lag doch sehr daran, vorher noch einen Besuch zu machen. Auf die Gefahr hin, daß es ihm für Jepantschins zu spät werden und er genötigt sein würde, seine Fahrt nach Pawlowsk bis zum nächsten Tage aufzuschieben, entschloß sich der Fürst, zunächst jenes Haus aufzusuchen, wohin es ihn sosehr verlangte.

Dieser Besuch war für ihn übrigens in gewisser Hinsicht gewagt. Er zauderte und schwankte. Er wußte von dem Haus, daß es in der Gorochowaja-Straße lag, nicht weit von der Sadowaja-Straße, und entschied sich dafür, hinzugehen, in der Hoffnung, es werde ihm noch gelingen, ehe er hinkam, einen endgültigen Beschluß zu fassen.

Als er an die Kreuzung der Gorochowaja- und Sadowaja-Straße kam, wunderte er sich selbst über seine ungewöhnliche Aufregung; er hatte nicht erwartet, daß ihm das Herz so schmerzhaft schlagen würde. Eines der Häuser zog, wahrscheinlich durch seine besondere Physiognomie, schon von weitem seine Aufmerksamkeit auf sich, und der Fürst erinnerte sich später, daß er zu sich gesagt hatte: ›Es wird gewiß dieses Haus sein!‹ Mit außerordentlicher Neugier ging er näher heran, um seine Mutmaßung auf ihre Richtigkeit zu prüfen; er fühlte, daß es ihm aus irgendeinem Grund besonders unangenehm sein würde, wenn er es sollte erraten haben. Es war dies ein großes, finsteres, dreistöckiges Haus, ohne allen architektonischen Schmuck, von schmutziggrüner Farbe. Eine allerdings nur sehr geringe Anzahl derartiger Häuser, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut sind, hat sich namentlich in diesen Straßen Petersburgs (obwohl sich doch in dieser Stadt so vieles ändert) fast unversehrt erhalten. Sie sind solide gebaut, mit dicken Mauern und sehr wenigen Fenstern; im Erdgeschoß sind die Fenster manchmal vergittert. Meist befindet sich unten ein Wechselgeschäft. Der Skopze, der in dem Wechselgeschäft sitzt, wohnt oben. Ein solches Haus macht von außen und innen einen ungastlichen, unfreundlichen Eindruck, es sucht sich gleichsam zu verstecken und zu verbergen; aber warum eigentlich schon die bloße Physiognomie des Hauses einen solchen Eindruck macht, das ist schwer zu sagen. Die architektonischen Linien müssen wohl auf geheimnisvolle Weise diese Wirkung ausüben. In diesen Häusern wohnen fast ausschließlich Kaufleute. Der Fürst näherte sich dem Tor, sah nach dem Türschild und las:

»Haus des erblichen Ehrenbürgers Rogoshin.«

Seinem Zaudern ein Ende machend, öffnete er die Glastür, die hinter ihm geräuschvoll wieder zuschlug, und begann die Haupttreppe zum zweiten Stock hinaufzusteigen. Die Treppe war dunkel, kunstlos aus Steinstufen gebaut, die Wände mit roter Farbe angestrichen. Er wußte, daß Rogoshin mit seiner Mutter und seinem Bruder das ganze zweite Stockwerk dieses düsteren Hauses bewohnte. Der Diener, der dem Fürsten öffnete, ließ ihn ohne Anmeldung hinein und führte ihn lange: sie passierten einen für Festlichkeiten bestimmten Saal mit marmorartig bemalten Wänden, eichenem Parkettfußboden und schweren, plumpen Möbeln aus den zwanziger Jahren; sie gingen auch durch einige kleine Zimmerchen, wobei sie Bogen und Zickzacke machten, ein paar Stufen hinauf- und dann wieder ebenso viele hinunterstiegen, und klopften endlich an einer Tür an. Parfen Semjonowitsch öffnete selbst; als er den Fürsten erblickte, wurde er so blaß und blieb so starr auf dem Flecke stehen, daß er mit seinem unbeweglichen, erschrockenen Blick und dem zu einem verständnislosen Lächeln schief gezogenen Mund eine Zeitlang einem steinernen Götzenbild glich; er schien in dem Besuch des Fürsten etwas Unglaubliches, ja beinah Wunderbares zu sehen. Der Fürst hatte zwar etwas Derartiges erwartet, war aber doch erstaunt.

»Vielleicht komme ich nicht gelegen, Parfen, ich kann ja wieder gehen«, sagte er schließlich verlegen.

»Nicht doch, du kommst durchaus gelegen!« erwiderte Parfen, der endlich seine Fassung wiedergewann. »Bitte, tritt näher!«

Sie duzten sich. In Moskau waren sie häufig und lange zusammen gewesen, und es hatte bei diesem Zusammensein auch Augenblicke gegeben, die auf das Herz des einen wie des andern tiefen Eindruck gemacht hatten. Jetzt hatten sie einander mehr als drei Monate nicht gesehen.

Die Blässe und ein leises, huschendes Zucken waren noch immer nicht von Rogoshins Gesicht gewichen. Er hatte zwar seinen Gast eingeladen, näher zu treten, aber seine außerordentliche Befangenheit dauerte an. Während er den Fürsten zu einem Lehnsessel führte und am Tisch Platz nehmen ließ, wandte sich dieser zufällig zu ihm hin und blieb, überrascht von seinem seltsam starren Blick, stehen. Dieser Blick schien den Fürsten zu durchbohren und erinnerte ihn zugleich an etwas Peinliches, Düsteres, das er vor wenigen Stunden gesehen hatte. Er setzte sich nicht hin, sondern blieb, ohne sich zu rühren, stehen und blickte Rogoshin eine Weile gerade in die Augen: diese Augen schienen im ersten Moment noch stärker aufzuflammen. Endlich lächelte Rogoshin, aber etwas verlegen und verwirrt.

»Warum siehst du mich denn so unverwandt an?« murmelte er. »Setz dich doch!«

Der Fürst setzte sich.

»Parfen«, sagte er, »sag mir aufrichtig: wußtest du, daß ich heute nach Petersburg kommen würde?«

»Daß du herkommen würdest, habe ich mir gedacht«, versetzte Rogoshin. »Und wie du siehst, habe ich mich nicht geirrt«, fügte er boshaft lächelnd hinzu. »Aber woher hätte ich wissen sollen, daß du gerade heute kommen würdest?«

Die schroffe Heftigkeit und der seltsam gereizte Ton der an die Antwort angeschlossenen Frage befremdeten den Fürsten noch mehr.

»Aber selbst wenn du wußtest, daß ich heute kommen würde, so brauchst du doch nicht so gereizt zu sein«, sagte der Fürst leise, nicht ohne Verlegenheit.

»Warum fragtest du denn, ob ich es gewußt habe?«

»Als ich vorhin aus dem Bahnwagen stieg, sah ich zwei ganz ebensolche Augen auf mich gerichtet wie die, mit denen du mich soeben von hinten ansahst.«

»Na so was! Wessen Augen waren denn das?« murmelte Rogoshin argwöhnisch. Es schien dem Fürsten, als sei er zusammengezuckt.

»Ich weiß es nicht, es war einer aus der Menge, ich halte sogar für möglich, daß es mir nur so vorgekommen ist, dergleichen Täuschungen begegnen mir in letzter Zeit häufiger. Ich habe beinah dieselbe Empfindung, Bruder Parfen, wie ich sie vor fünf Jahren hatte, als ich noch meine Anfälle bekam.«

»Na also, vielleicht ist es dir nur so vorgekommen, ich weiß es nicht…«, murmelte Parfen.

Das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht stand ihm in diesem Augenblick sehr schlecht; dieses Lächeln hatte sozusagen einen Sprung bekommen, und Parfen war trotz aller Bemühung nicht imstande, es wieder zusammenzukleben.

»Nun, willst du wieder ins Ausland gehen, ja?« fragte er und fügte plötzlich hinzu: »Erinnerst du dich noch, wie wir im Herbst auf der Bahn zusammen von Pskow hierherfuhren, du… im Mantel, weißt du noch, und in Gamaschen?«

Rogoshin lachte plötzlich laut auf, dieses Mal mit unverhohlener Feindseligkeit, und als freute er sich, daß es ihm gelungen war, diese Gesinnung wenigstens auf irgendeine Weise zum Ausdruck zu bringen.

»Wohnst du hier für die Dauer?« fragte der Fürst, indem er das Arbeitszimmer musterte.

»Ja, ich bin hier zu Hause. Wo sollte ich auch sonst hin?«

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich habe von dir Dinge gehört, die dir gar nicht ähnlich sehen.«

»Was reden die Leute nicht alles!« bemerkte Rogoshin trocken.

»Aber du hast doch deine ganze Leibkohorte weggejagt und wohnst nun hier im elterlichen Haus und begehst keine tollen Streiche mehr. Das ist recht schön. Gehört das Haus dir oder euch allen gemeinsam?«

»Das Haus gehört der Mutter. Zu ihr geht es auf der andern Seite des Flurs.«

»Und wo wohnt dein Bruder?«

»Bruder Semjon Semjonytsch wohnt im Nebengebäude.«

»Ist er verheiratet?«

»Witwer. Wozu willst du das wissen?«

Der Fürst blickte vor sich hin und erwiderte nichts; er war plötzlich in Gedanken versunken und schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Rogoshin drang nicht auf eine Antwort, sondern wartete ruhig. Sie schwiegen beide.

»Ich habe dein Haus, als ich näher kam, auf hundert Schritte als das deinige erkannt«, sagte der Fürst.

»Woran denn?«

»Das weiß ich nicht. Dein Haus hat die Physiognomie eurer ganzen Familie und eures ganzen Rogoshinschen Lebens; wenn du mich aber fragst, worauf sich diese meine Anschauung gründet, so kann ich dafür keine Erklärung geben. Es ist natürlich nur Einbildung. Ich bin sogar in Sorge darüber, daß mich solche Dinge so aufregen. Früher wäre mir gar nicht der Gedanke gekommen, daß du gerade in einem solchen Hause wohnen würdest, aber sowie ich es jetzt erblickte, mußte ich sofort denken: ›Ja, gerade so muß sein Haus aussehen!‹«

»Sieh mal an!« versetzte Rogoshin mit einem unbestimmten Lächeln, ohne den unklaren Gedanken des Fürsten recht zu verstehen. »Dieses Haus hat noch der Großvater gebaut«, bemerkte er. »Es haben immer Skopzen darin gewohnt, die Familie Chludjakow, die wohnen auch jetzt hier zur Miete.«

»Es ist hier so düster. Du sitzt hier so im Dunklen«, sagte der Fürst, indem er sich im Arbeitszimmer umsah.

Es war ein großes, hohes, dunkles Zimmer, mit allerlei Möbeln vollgestellt, meist großen Arbeitstischen, Schreibtischen und Schränken, in denen Geschäftsbücher und Papiere aufbewahrt wurden. Ein breites, rotes Ledersofa diente offenbar als Rogoshins Bett. Der Fürst bemerkte auf dem Tisch, an dem ihn Rogoshin hatte Platz nehmen lassen, ein paar Bücher; eines von ihnen, Solowjows Geschichte Rußlands, war aufgeschlagen und mit einem Lesezeichen versehen. An den Wänden hingen in trüben Goldrahmen einige Ölgemälde, die so dunkel geworden waren, daß sich auf ihnen schwer etwas erkennen ließ. Ein lebensgroßes Porträt zog die Aufmerksamkeit des Fürsten auf sich: es stellte einen etwa fünfzigjährigen Mann dar in einem langschößigen Rock von deutschem Schnitt, mit zwei Medaillen am Halse, einem sehr dünnen, kurzen, grauen Bart, runzligem, gelbem Gesicht und mißtrauischem, verschlossenem, finsterem Blick.

»Das ist wohl dein Vater?« fragte der Fürst.

»Ja, das ist er«, antwortete Rogoshin mit unangenehmem Lächeln, als hätte er vor, im nächsten Augenblick irgendeinen ungenierten Scherz über seinen verstorbenen Vater zu machen.

»War er ein Altgläubiger?«

»Nein, er ging in die Kirche, aber er sagte allerdings, der alte Glaube sei richtiger. Auch vor den Skopzen hat er Achtung gehabt. Dies hier war sein Arbeitszimmer. Warum fragst du danach, ob er altgläubig war?«

»Wirst du die Hochzeit hier feiern?«

»J-ja«, antwortete Rogoshin, der bei der unerwarteten Frage zusammenzuckte.

»Werdet ihr bald heiraten?«

»Du weißt ja selbst, daß das nicht von mir abhängt.«

»Parfen, ich bin nicht dein Feind und beabsichtige nicht, dir irgendwie hinderlich zu sein. Ich wiederhole dir das jetzt ebenso, wie ich es dir früher einmal in einem fast gleichen Augenblick ausgesprochen habe. Als in Moskau deine Hochzeit bevorstand, bin ich dir nicht hinderlich gewesen, das weißt du. Das erstemal kam sie selbst zu mir hingestürzt, unmittelbar vor der Trauung, und bat mich, sie vor dir zu ›retten‹. Ich wiederhole dir ihren eigenen Ausdruck. Dann ist sie auch von mir weggelaufen; du hast sie wieder ausfindig gemacht und zum Altar geführt, und da ist sie, wie es heißt, wieder von dir weggelaufen, hierher. Ist das wahr? Mir hat es Lebedew so mitgeteilt, und darum bin ich hergereist. Daß ihr euch aber hier wieder geeinigt habt, das habe ich erst gestern zum erstenmal von einem deiner früheren Freunde gehört, von Saljoshew, wenn du es wissen willst. Hierhergefahren bin ich aber in folgender Absicht: ich wollte sie endlich überreden, zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit ins Ausland zu reisen. Sie ist körperlich und seelisch sehr heruntergekommen, namentlich hat ihr Kopf stark gelitten, und sie bedarf meines Erachtens sorgsamster Pflege. Ich wollte sie nicht selbst ins Ausland begleiten, sondern hatte in Aussicht genommen, alles Nötige ohne meine persönliche Anwesenheit einzurichten. Ich sage dir die reine Wahrheit. Wenn es wirklich zutrifft, daß ihr euch wieder geeinigt habt, dann werde ich ihr gar nicht vor Augen treten und auch zu dir nie wieder kommen. Du weißt selbst, daß ich dich nicht täusche, da ich immer gegen dich aufrichtig gewesen bin. Wie ich darüber denke, daraus habe ich dir nie ein Hehl gemacht und habe dir immer gesagt, daß es ihr sicheres Verderben ist, wenn sie deine Frau wird. Und auch dein Verderben wird es sein, vielleicht in noch schlimmerem Grad als das ihre. Wenn ihr euch wieder trenntet, so wäre das für mich eine große Beruhigung; aber zwischen euch Unfrieden zu stiften und euch auseinanderzubringen ist nicht meine Absicht. Sei doch ruhig und hege keinen Argwohn gegen mich! Du weißt ja doch selbst, daß ich niemals dein wirklicher Nebenbuhler gewesen bin, selbst damals nicht, als sie sich zu mir geflüchtet hatte. Du lachtest jetzt eben, und ich weiß, warum du es tust. Aber wir haben dort getrennt gelebt, sie und ich, und dann sogar in verschiedenen Städten, und du weißt das alles doch ganz genau. Ich habe dir ja schon früher auseinandergesetzt, daß ich sie nicht aus Liebe, sondern aus Mitleid gern habe. Ich meine, ich habe das damals klar dargelegt. Du sagtest damals, du hättest diese meine Worte verstanden, nicht wahr? Hast du sie auch wirklich verstanden? Oh, wie voll Haß du mich ansiehst! Ich bin hergekommen, um dich zu beruhigen, weil auch du mir teuer bist. Ich habe dich sehr lieb, Parfen. Ich gehe jetzt und komme niemals wieder. Lebe wohl!«

Der Fürst stand auf.

»Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen!« sagte Parfen leise; er erhob sich nicht von seinem Platz und legte den Kopf in die rechte Hand. »Ich habe dich lange nicht gesehen.«

Der Fürst setzte sich wieder. Beide schwiegen.

»Wenn ich dich nicht vor mir sehe, fühle ich gleich gegen dich einen Groll, Lew Nikolajewitsch. In diesen drei Monaten, wo ich dich nicht gesehen habe, bin ich jeden Augenblick auf dich ergrimmt gewesen, bei Gott! Ich hätte dich vergiften mögen! So steht das. Und jetzt hast du nun noch nicht eine Viertelstunde bei mir gesessen, und schon ist mein ganzer Groll vergangen, und du bist mir wieder lieb und teuer wie früher. Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen!…«

»Wenn ich bei dir bin, dann glaubst du mir, und wenn ich nicht da bin, dann hörst du gleich auf, mir zu vertrauen, und hast mich wieder im Verdacht. Du schlägst ganz nach deinem Vater«, antwortete der Fürst freundlich lächelnd und bemüht, seine Rührung zu verbergen.

»Ich glaube dem Klang deiner Stimme, wenn ich bei dir sitze. Ich verstehe ja, daß wir beide, du und ich, nicht miteinander zu vergleichen sind…«

»Warum fügst du das hinzu? Und gleich bist du wieder in gereizter Stimmung«, versetzte der Fürst, der sich über Rogoshin wunderte.

»Wir werden in dieser Hinsicht nicht nach unserer Meinung gefragt«, antwortete dieser, »das wird ohne unser Zutun bestimmt. Wir beide lieben ja auch auf verschiedene Weise; es ist eben in allem ein Unterschied«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen leise fort. »Du liebst sie, wie du sagst, aus Mitleid. Von solchem Mitleid mit ihr ist bei mir nichts vorhanden. Und sie haßt mich ja auch, haßt mich mehr als irgendeinen andern Menschen. Ich träume jetzt jede Nacht von ihr, und zwar immer, daß sie sich mit einem andern über mich lustig macht. So steht die Sache, Bruder. Sie geht mit mir zum Traualtar und denkt dabei an mich mit keinem Gedanken; sie hat dabei keine andere Empfindung, als wenn sie die Schuhe wechselte. Wirst du es glauben? Fünf Tage habe ich sie nicht gesehen, weil ich nicht wage, zu ihr hinzufahren; ich fürchte, sie fragt mich: ›Warum bist du hergekommen?‹ Und wie oft hat sie mir Schimpf angetan…«

»Dir Schimpf angetan? Was redest du!«

»Als ob du es nicht wüßtest! Sie ist ja doch von mir unmittelbar vor der Trauung mit dir selbst weggelaufen; das hast du ja eben selbst gesagt.«

»Aber du wirst doch selbst nicht glauben, daß …«

»Und hat sie mich nicht mit dem Offizier, diesem Semtjushnikow, in Moskau betrogen? Ich weiß bestimmt, daß sie es getan hat, und noch dazu, nachdem sie den Tag für die Trauung selbst angesetzt hatte.«

»Das ist unmöglich!« rief der Fürst.

»Ich weiß es sicher«, erklärte Rogoshin im Ton der festesten Überzeugung. »Das liegt nicht in ihrem Wesen, willst du sagen, nicht wahr? Das ist richtig, Bruder, daß das nicht in ihrem Wesen liegt. Aber das ist doch nur leeres Gerede. Dir gegenüber wird sie sich nicht so benehmen und ein solches Betragen vielleicht selbst verabscheuen, aber mir gegenüber benimmt sie sich nun eben so. So ist es nun einmal. Sie betrachtet mich als das niedrigste Geschöpf auf Gottes Erdboden! Und mit Keller, diesem Offizier, der so gern boxt, hat sie sich lediglich in der Absicht eingelassen, sich über mich lustig zu machen… Und du weißt noch nicht, was sie mit mir in Moskau angestellt hat! Und wieviel Geld, wieviel Geld hat mich das alles gekostet…«

»Aber… wie in aller Welt kannst du sie denn unter solchen Umständen heiraten? Wie soll denn das später werden?« fragte der Fürst ganz erschrocken.

Rogoshin warf dem Fürsten einen grimmigen, furchtbaren Blick zu und antwortete nicht.

»Ich bin jetzt schon fünf Tage nicht bei ihr gewesen«, fuhr er fort, nachdem er ungefähr eine Minute lang geschwiegen hatte. »Ich fürchte immer, daß sie mich wegjagt. Sie sagt: ›Ich bin noch immer meine eigene Herrin; wenn ich will, jage ich dich ganz fort und reise selbst ins Ausland‹ (davon hat sie zu mir schon gesprochen, daß sie ins Ausland reisen will«, bemerkte er gleichsam in Klammern und sah dem Fürsten in ganz besonderer Art in die Augen). »Manchmal allerdings will sie mir damit nur Furcht einjagen, sie möchte sich immer über mich lustig machen; aber zu andern Zeiten ist sie wirklich in finsterer Stimmung, zieht die Augenbrauen zusammen und sagt kein Wort, und das ist’s, was ich am meisten fürchte. Neulich dachte ich: ›Ich will doch nicht immer mit leeren Händen zu ihr kommen‹, aber sie lachte nur spöttisch über meine Geschenke und wurde dann sogar ernstlich zornig. Ich hatte ihr einen so schönen Schal geschenkt, daß ihr, obwohl sie früher im Luxus gelebt hat, seinesgleichen wohl noch nicht vor Augen gekommen war; den hat sie ihrem Stubenmädchen Katjka geschenkt. Und von dem Termin für die Hochzeit darf ich gar nicht zu reden anfangen. Ich kann mich ja gar nicht als ihren Bräutigam ansehen, wenn ich mich fürchte, auch nur zu ihr hinzugehen. Da sitze ich nun hier, und wenn ich es nicht mehr aushalten kann, dann gehe ich heimlich und verstohlen auf der Straße an ihrem Hause vorbei oder verstecke mich irgendwo hinter einer Ecke. Neulich habe ich beinah bis zum Morgengrauen in der Nähe ihrer Haustür gelauert, ich hatte so einen Verdacht. Aber sie hatte mich wohl durch das Fenster bemerkt und sagte nachher: ›Was würdest du mit mir machen, wenn du sähest, daß ich dich betrüge?‹ Ich konnte mich nicht halten und sagte: ›Das weißt du selbst.‹«

»Was soll sie wissen?«

»Woher soll ich es denn wissen?« erwiderte Rogoshin, grimmig auflachend. »In Moskau habe ich sie damals mit keinem abfassen können, obwohl ich lange aufpaßte. Ich nahm sie mir damals einmal vor und sagte zu ihr: ›Du bist mit mir verlobt und willst in eine ehrenhafte Familie eintreten; weißt du jetzt aber auch, was du für eine bist? So eine bist du!‹ sagte ich.«

»Das hast du zu ihr gesagt?«

»Ja.«

»Nun, und sie?«

»›Ich habe jetzt vielleicht nicht einmal Lust‹, sagte sie, ›dich als Lakaien anzunehmen, geschweige denn deine Frau zu werden.‹ – ›Und ich‹, sagte ich, ›gehe mit solchem Bescheid nicht weg; die Sache muß so oder so ein Ende haben!‹ – ›Und ich‹, sagte sie, ›werde gleich Keller rufen und ihm sagen, er soll dich aus dem Haus hinauswerfen.‹ Da habe ich mich auf sie gestürzt und sie geschlagen, daß sie blaue Flecke davon bekam.«

»Es ist nicht möglich!« rief der Fürst.

»Ich sage dir: es ist so gewesen«, erwiderte Rogoshin leise, aber mit funkelnden Augen. »Sechsunddreißig Stunden lang habe ich nicht geschlafen, nicht gegessen, nicht getrunken und ihr Zimmer nicht verlassen, auf den Knien habe ich vor ihr gelegen. ›Ich sterbe hier‹, sagte ich, ›ich gehe nicht hinaus, ehe du mir nicht verzeihst, und wenn du mich hinausbringen läßt, ertränke ich mich, denn wie werde ich jetzt ohne dich leben können?‹ Sie war den ganzen Tag wie eine Wahnsinnige: bald weinte sie, bald wollte sie mich mit einem Messer töten, bald schimpfte sie auf mich. Sie rief Saljoshew, Keller, Semtjushnikow und alle andern herbei, wies vor aller Augen mit dem Finger auf mich und schmähte mich. ›Wir wollen heute alle zusammen ins Theater fahren, meine Herren‹, sagte sie, ›mag er hier sitzen bleiben, wenn er nicht weggehen will; ich brauche doch seinetwegen nicht das Haus zu hüten! Es wird Ihnen hier, während ich weg bin, Tee gereicht werden, Parfen Semjonowitsch, Sie müssen ja heute ganz hungrig geworden sein.‹ Sie kehrte allein aus dem Theater zurück. ›Das sind Feiglinge und Schufte‹, sagte sie, ›sie fürchten sich vor dir und wollen auch mir Angst machen; sie sagen: »Er wird so nicht fortgehen, er wird Sie am Ende noch ermorden!« Aber ich werde, wenn ich in mein Schlafzimmer gehe, die Tür nicht hinter mir zuschließen; so wenig fürchte ich mich vor dir! Das magst du wissen und mit eigenen Augen sehen! Hast du Tee getrunken?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›und sie mir davon und flüchtete sich zu Lebedew. Als ich herkam, sagte sie zu mir: ›Ich will dich nicht gänzlich abweisen, ich will nur noch warten, solange es mir gefällt, denn ich bin immer noch meine eigene Herrin. Warte auch du, wenn du willst!‹ So steht es jetzt bei uns … Wie denkst du über das alles, Lew Nikolajewitsch?«

»Wie denkst du selbst darüber?« fragte der Fürst zurück und blickte Rogoshin traurig an.

»Aber denke ich denn überhaupt?« rief dieser heftig und unwillkürlich. Er wollte noch etwas hinzufügen, unterdrückte es aber und schwieg in grenzenlosem Kummer.

Der Fürst erhob sich und wollte wieder fortgehen.

»Ich werde dir trotzdem nicht hinderlich sein«, sagte er leise, beinah melancholisch, als antwortete er auf einen eigenen heimlichen Gedanken.

»Weißt du, was ich dir sagen werde?« rief Rogoshin; er wurde auf einmal lebhaft, und seine Augen funkelten. »Wie du so vor mir zurücktreten kannst, dafür habe ich kein Verständnis! Liebst du sie denn gar nicht mehr? Früher schmachtetest du doch nach ihr, das habe ich recht wohl gesehen. Und warum wärst du denn jetzt Hals über Kopf hierhergereist? Aus Mitleid?« (Sein Gesicht verzerrte sich zu einem boshaften Lächeln.) »Hehe!«

»Du meinst, daß ich dich betrüge?« fragte der Fürst.

»Nein, ich glaube dir, aber ich verstehe nichts davon. Das wahrscheinlichste ist wohl, daß dein Mitleid am Ende noch größer ist als meine Liebe!«

Ein böser Gedanke, der danach drängte, sich sofort zu äußern, flammte auf seinem Gesicht auf.

»Nun, deine Liebe ist vom Haß schwer zu unterscheiden«, versetzte der Fürst lächelnd. »Wenn sie aber vergeht, wird das Unglück vielleicht noch schlimmer sein. Ich kann dir schon jetzt sagen, Bruder Parfen …«

»Daß ich sie umbringen werde?«

Der Fürst zuckte zusammen.

»Daß du sie grimmig hassen wirst für diese deine jetzige Liebe und für all die Qual, die du jetzt ausstehst. Für mich ist das allerwunderbarste, wie es zugeht, daß sie wieder bereit ist, dich zu heiraten. Als ich es gestern hörte, wollte ich es kaum glauben, und es wurde mir ganz schwer ums Herz. Sie hat sich ja schon zweimal von dir losgemacht und ist unmittelbar vor der Trauung davongelaufen; also hat sie doch ein Gefühl dafür, was ihr bevorsteht! … Was in aller Welt reizt sie jetzt an dir? Etwa dein Geld? Das ist Unsinn. Und du hast ja auch wohl von deinem Geld schon ein gut Teil vergeudet. Oder möchte sie überhaupt nur einen Mann bekommen? Aber einen Mann könnte sie doch auch von dir abgesehen mit Leichtigkeit erlangen. Und jeder andere wäre besser als du, weil du sie vielleicht geradezu umbringen wirst und sie das schon jetzt wohl nur zu gut weiß. Oder weil du sie so heftig liebst? Wirklich, das könnte der Grund sein. Ich habe mir sagen lassen, daß es Frauen gibt, die gerade so geliebt zu werden wünschen … aber …«

Der Fürst brach ab und versank in Nachdenken.

»Warum hast du wieder über das Porträt meines Vaters gelächelt?« fragte Rogoshin, der jede Veränderung in dem Gesicht des Fürsten, jede darüber hinhuschende Regung mit der größten Aufmerksamkeit beobachtete.

»Warum ich gelächelt habe? Es kam mir der Gedanke, wenn dir dieses Unglück nicht zugestoßen und diese Liebe nicht über dich gekommen wäre, dann würdest du vielleicht genauso werden wie dein Vater, und zwar in sehr kurzer Zeit. Du würdest allein und wortkarg in diesem Haus sitzen mit einer gehorsamen, schweigsamen Frau, würdest nur selten und in strengem Ton reden, keinem Menschen trauen, den freundschaftlichen Verkehr mit Menschen auch gar nicht vermissen und nur schweigend und mit finsterer Miene Geld zusammenhäufen. Höchstens würdest du gelegentlich die Bücher der Altgläubigen loben und dich für das Bekreuzigen mit zwei Fingern interessieren, und auch das vielleicht erst, wenn du alt geworden wärest …«

»Spotte nur! Ganz genau dasselbe hat sie neulich gesagt, als sie ebenfalls dieses Porträt betrachtete! Es ist erstaunlich, wie ihr in allen Dingen ein und derselben Ansicht seid …«

»Ist sie denn schon bei dir gewesen?« fragte der Fürst lebhaft interessiert.

»Ja. Sie betrachtete das Porträt lange und stellte viele Fragen über den Verstorbenen. ›Du würdest ganz genau so sein‹, sagte sie endlich lächelnd zu mir. ›Du hast starke Empfindung die Hand. ›Deine Mutter‹, sagte sie, ›hat gewiß viel Leid zu ertragen gehabt.‹ Als sie dieses Buch hier in meinem Zimmer sah, wunderte sie sich und sagte: ›Was treibst du denn hier? Du liest russische Geschichte?‹ (Sie hatte aber einmal in Moskau selbst zu mir gesagt: ›Du solltest doch ein bißchen für deine Bildung tun und wenigstens Solowjows Russische Geschichte lesen, du weißt ja rein gar nichts!‹) ›Das ist recht von dir‹, sagte sie, ›lies das nur weiter! Ich werde dir selbst ein Verzeichnis der Bücher aufstellen, die du in erster Linie lesen mußt, ist es dir recht?‹ Niemals, niemals vorher hatte sie so zu mir gesprochen, so daß ich ganz erstaunt war; zum erstenmal konnte ich wieder frei aufatmen.«

»Ich freue mich darüber sehr, Parfen«, erwiderte der Fürst mit warmem Gefühl, »sehr freue ich mich. Wer weiß, vielleicht bringt euch Gott doch noch zueinander.«

»Das wird nie geschehen!« rief Rogoshin heftig.

»Höre, Parfen, wenn du sie so liebst, möchtest du dann nicht ihre Achtung verdienen? Und wenn du das möchtest, hoffst du dann nicht, daß es dir gelingen wird? Ich habe vorhin gesagt, daß es mir ein wunderbares Rätsel ist, warum sie dich heiraten will. Aber obwohl ich dies Rätsel nicht lösen kann, so zweifle ich doch nicht daran, daß jedenfalls ein zureichender, vernünftiger Grund vorhanden sein muß. Von deiner Liebe ist sie überzeugt, aber wahrscheinlich ist sie auch davon überzeugt, daß du mancherlei gute Eigenschaften besitzt. Es kann ja nicht anders sein! Das, was du soeben gesagt hast, bestätigt es. Du sagst selbst, daß sie es möglich gefunden hat, mit dir in einem ganz andern Ton zu sprechen als dem, in dem sie früher mit dir verkehrt und geredet hat. Du bist mißtrauisch und eifersüchtig; daher übertreibst du alles, was du Schlechtes bemerkst. Sie denkt doch offenbar nicht so schlecht von dir, wie du annimmst. Sonst liefe ja, wenn sie dich heiratete, dies auf dasselbe hinaus, wie wenn sie mit Bewußtsein ins Wasser ginge oder sich ans Messer lieferte. Ist denn das möglich? Wer tut denn das mit Bewußtsein?«

Mit bitterem Lächeln hörte Parfen die warmen Worte des Fürsten an. Seine Überzeugung schien bereits unerschütterlich festzustehen.

»Mit was für schrecklichen Augen du mich jetzt ansiehst, Parfen!« rief der Fürst erschrocken.

»Ins Wasser gehen oder sich ans Messer liefern!« sagte dieser endlich. »Hehe! Eben deshalb heiratet sie mich ja, weil sie als meine Frau bestimmt mit dem Messer rechnet! Hast du denn wirklich noch nicht begriffen, Fürst, was hier vorliegt?«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Nun, vielleicht verstehst du es wirklich nicht, hehe! Man sagt ja von dir, du wärest nicht so ganz… hm. Sie liebt einen andern, begreif das doch! Geradeso, wie ich sie jetzt liebe, geradeso liebt sie jetzt einen andern. Und dieser andere, weißt du, wer das ist? Das bist du! Na, das hast du nicht gewußt, nicht wahr?«

»Ich?«

»Ja, du. Sie hat sich gleich damals an ihrem Geburtstag in dich verliebt. Aber sie denkt, sie könne dich nicht heiraten, weil sie dir Schande machen und dir dein ganzes Leben verderben würde. ›Man weiß ja‹, sagte sie, ›was ich für eine bin.‹ Und bei dieser Auffassung ist sie bis zu diesem Augenblick geblieben. Das hat sie mir alles ganz offen ins Gesicht gesagt. Sie fürchtet, dich zu entehren und ins Verderben zu bringen; aber bei mir kommt so etwas natürlich nicht in Betracht, mich kann sie heiraten. Da sieht man, wie sie mich achtet; das ist auch bemerkenswert!«

»Aber wie geht es zu, daß sie von dir zu mir geflüchtet ist, und…von mir …«

»Und von dir zu mir! Hehe! Was hat sie nicht alles für Einfälle! Sie ist jetzt ganz wie im Fieber. Sie schreit mich an: ›Ich heirate dich, gerade wie wenn ich ins Wasser gehe. Nur recht schnell Hochzeit!‹ Sie treibt selbst zur Eile, bestimmt den Tag, und wenn die Zeit heranrückt, erschrickt sie, oder es kommen ihr andere Gedanken; Gott weiß, wie’s zusammenhängt, aber du hast es ja selbst gesehen: sie weint und lacht und wird wie vom Fieber geschüttelt. Und was ist dabei Wunderbares, daß sie auch von dir weggelaufen ist? Sie ist damals von dir weggelaufen, weil es ihr selbst zum Bewußtsein kam, wie stark sie dich liebt. Bei dir zu bleiben, das ging über ihre Kraft. Du hast vorhin gesagt, ich hätte sie damals in Moskau wieder ausfindig gemacht; das ist nicht richtig, sie kam aus eigenem Antrieb von dir zu mir gelaufen: ›Bestimm einen Tag‹, sagte sie, ›ich bin bereit! Laß Champagner bringen! Wir wollen zu den Zigeunerinnen fahren!‹ schrie sie… Und wenn ich nicht gewesen wäre, so hätte sie sich schon längst ins Wasser gestürzt, das kann ich bestimmt sagen. Sie stürzt sich nur deswegen nicht hinein, weil ich ihr vielleicht noch schrecklicher bin als das Wasser. Aus purem Grimm wird sie mich heiraten … Wenn sie mich heiratet, so kann ich mit aller Sicherheit sagen, daß sie es aus Grimm tut.«

»Aber wie kannst du nur… wie kannst du nur …«, rief der Fürst, ohne den Satz zu beenden. Er blickte Rogoshin erschrocken an.

»Warum sprichst du nicht zu Ende?« fragte dieser lächelnd. »Aber wenn du willst, so werde ich dir sagen, was du in diesem Augenblick im stillen denkst: ›Wie kann sie unter solchen Umständen seine Frau werden? Wie kann man das zulassen?‹ Ich weiß, daß du das denkst…«

»Ich bin nicht deswegen hergereist, Parfen; ich sage dir, so etwas ist mir nicht in den Sinn gekommen…«

»Es ist ja möglich, daß du nicht deswegen hergereist bist und daß dir so etwas nicht in den Sinn gekommen war, aber nun wird sich der Zweck nachträglich ergeben, hehe! Nun genug! Warum bist du so bestürzt? Solltest du wirklich nichts davon gewußt haben? Du setzt mich in Erstaunen!«

»Das ist bei dir nur Eifersucht, Parfen, das ist eine Krankheit, du übertreibst das alles maßlos…«, murmelte der Fürst in größter Erregung. »Was hast du denn?«

»Laß das liegen!« sagte Parfen und riß dem Fürsten hastig ein Messer aus der Hand, das dieser vom Tische aufnahm, wo es neben dem Buch gelegen hatte, und tat es wieder auf seinen früheren Platz.

»Mir ist, als hätte ich es bei der Ankunft in Petersburg gewußt, als hätte ich eine Vorahnung gehabt…«, fuhr der Fürst fort. »Ich wollte nicht herfahren! Ich wollte diese ganze Sache vergessen und mir aus dem Herzen reißen! Nun, leb wohl… Aber was hast du denn?«

Während des Sprechens hatte der Fürst in der Zerstreutheit dasselbe Messer wieder vom Tisch genommen, und nun nahm Rogoshin es ihm zum zweitenmal aus der Hand und warf es auf den Tisch. Es war ein Messer von ganz einfacher Gestalt, mit einem Griff aus Hirschhorn, nicht zum Zusammenklappen, mit einer etwa dreieinhalb langen und entsprechend breiten Klinge.

Als Rogoshin sah, daß der Fürst stutzig darüber wurde, weil ihm dieses Messer zweimal aus der Hand gerissen ward, ergriff er es grimmig und ärgerlich, legte es in das Buch und schleuderte das Buch auf einen anderen Tisch.

»Du schneidest damit wohl die Seiten auf?« fragte der Fürst, aber zerstreut, als sei er immer noch in Gedanken versunken.

»Ja, freilich.«

»Es ist ja ein Gartenmesser!«

»Ja. Kann man denn die Seiten nicht auch mit einem Gartenmesser aufschneiden?«

»Aber es…es ist ganz neu.«

»Na, was ist denn dabei, daß es neu ist? Darf ich mir etwa nicht ein neues Messer kaufen, sobald ich will?« schrie Rogoshin endlich in einer Art Raserei; seine Gereiztheit war mit jedem Wort ärger geworden.

Der Fürst zuckte zusammen und blickte ihn aufmerksam an.

»Aber wir sind auch die Richtigen!« sagte er lachend; er war nun wieder völlig zur Besinnung gekommen. »Sei mir nicht böse, Bruder, wenn mir der Kopf so schwer ist wie jetzt, und dazu noch diese Krankheit… ich werde dann ganz zerstreut und komisch. Ich wollte überhaupt nicht danach fragen… ich weiß schon nicht mehr, um was es sich handelte. Leb wohl!«

»Nicht dort!« sagte Rogoshin.

»Ich habe vergessen, durch welche Tür ich hereingekommen bin!«

»Hier, hier, komm, ich werde dir den Weg zeigen.«

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Kapitel 2

II

Der General Jepantschin wohnte in seinem eigenen Hause, etwas seitwärts von der Litejnaja, nach der Preobrashenskij-Kathedrale zu. Außer diesem stattlichen Hause, von dem fünf Sechstel vermietet waren, besaß General Jepantschin noch ein gewaltiges Haus in der Sadowaja, das gleichfalls einen sehr hohen Ertrag brachte. Außer diesen beiden Häusern hatte er dicht bei Petersburg ein sehr bedeutendes, einträgliches Gut und ferner im Petersburger Kreise eine Fabrik. In früheren Zeiten hatte General Jepantschin, wie allgemein bekannt war, sich auch an Branntweinpachtungen beteiligt. Jetzt war er Mitglied mehrerer solider Aktiengesellschaften und hatte dort eine sehr gewichtige Stimme. Er galt als ein Mann mit großem Vermögen, ausgedehnter Tätigkeit und einflußreichen Verbindungen. darstellt, ein Lebensalter, von dem eigentlich erst das richtige Leben beginnt. Seine Gesundheit, seine frische Gesichtsfarbe, die kräftigen, wenn auch schwarzen Zähne, der stämmige, untersetzte Körperbau, der ernste Ausdruck morgens im Dienste und die heitere Miene abends beim Kartenspiel oder bei seiner Erlaucht: all dies trug zu seinen gegenwärtigen und künftigen Erfolgen bei und bestreute den Lebensweg Seiner Exzellenz mit Rosen.

Der General erfreute sich einer blühenden Familie. Allerdings gab es hier für ihn nicht lauter Rosen; aber dafür war so manches da, worauf schon seit längerer Zeit die wichtigsten Hoffnungen und Bestrebungen Seiner Exzellenz in ernster, herzlicher Empfindung gerichtet waren. Und welche Bestrebungen im Leben könnten auch wichtiger und heiliger sein als die elterlichen? Woran soll jemand sein Herz hängen, wenn nicht an die Familie? Die Familie des Generals bestand aus seiner Gattin und drei erwachsenen Töchtern. Der General hatte in sehr jugendlichem Alter geheiratet, als er noch im Range eines Leutnants stand, und zwar ein mit ihm fast gleichaltriges Mädchen, das weder Schönheit noch Bildung besaß und ihm nur fünfzig Seelen mitbrachte, die allerdings als Grundlage für die weitere günstige Entwicklung seiner Vermögensverhältnisse dienten. Aber der General murrte in der Folgezeit nie über seine frühe Heirat, betrachtete sie nie als einen unglücklichen Jugendstreich, und seine Gattin schätzte er so hoch und fürchtete sich vor ihr manchmal so sehr, daß er sie sogar liebte. Die Generalin stammte aus der fürstlichen Familie Myschkin, einer zwar nicht glänzenden, aber sehr alten Familie, und war auf ihre Herkunft sehr stolz. Eine damals einflußreiche Persönlichkeit, einer jener Gönner, welche die Gönnerschaft nichts kostet, hatte die Freundlichkeit, sich für die Ehe der jungen Prinzessin zu interessieren. Er öffnete dem jungen Offizier ein Türchen zur Karriere und gab ihm einen Stoß nach vorwärts; der aber hätte gar nicht einmal eines Stoßes, sondern nur eines einzigen Gnadenblickes bedurft – er wäre nicht zugrunde gegangen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verlebten die Gatten die ganze Zeit ihrer langen Ehe in voller Einmütigkeit. Schon in sehr jungen Jahren hatte es die Generalin verstanden, als eine geborene Prinzessin und als die Letzte ihres Geschlechts, vielleicht auch durch ihre persönlichen Eigenschaften, einige sehr hochgestellte Gönnerinnen zu finden. In der Folgezeit begann sie bei dem Reichtum und dem bedeutenden Dienstrang ihres Gatten sich in diesem hohen Kreis sogar einigermaßen einzuleben.

In diesen letzten Jahren waren die Generalstöchter alle drei herangewachsen und herangereift: Alexandra, Adelaida und Aglaja. Allerdings trugen sie alle drei nur den Namen Jepantschin; aber mütterlicherseits waren sie doch von fürstlicher Abkunft; sie hatten eine bedeutende Mitgift und einen Vater, der vielleicht Aussicht hatte, später noch eine sehr hohe Stelle zu erhalten, und, was ebenfalls sehr wichtig war, sie waren alle drei recht hübsch, auch die älteste, Alexandra, nicht ausgenommen, die bereits fünfundzwanzig Jahre alt war. Die mittlere war dreiundzwanzig, und die jüngste, Aglaja, eben erst zwanzig geworden. Diese jüngste war sogar eine wirkliche Schönheit und begann schon in der Gesellschaft großes Aufsehen zu erregen. Aber auch das war noch nicht alles: alle drei zeichneten sich durch Bildung, Verstand und Talente aus. Es war bekannt, daß sie einander innig liebten und sich gegenseitig in jeder Hinsicht behilflich waren. Man sprach sogar von gewissen Opfern, die die beiden älteren zugunsten der jüngsten, die der Abgott des ganzen Hauses war, gebracht haben sollten. In Gesellschaft neigten sie nicht dazu, sich vorzudrängen, sondern waren sogar allzu bescheiden. Niemand konnte ihnen den Vorwurf der Hoffart oder des Dünkels machen; aber doch wußte man, daß sie ihren Stolz hatten und ihren eigenen Wert kannten. Die älteste war musikalisch, die mittlere eine begabte Malerin; aber davon wußte viele Jahre lang fast niemand, und es war erst in der letzten Zeit und nur zufällig an die Öffentlichkeit gekommen. Kurz, es wurde über sie außerordentlich viel Lobendes gesprochen. Indessen fehlte es auch nicht an Übelwollenden. Mit Schrecken redeten diese davon, wie viele Bücher die jungen Damen gelesen hätten. Mit dem Heiraten hatten sie es nicht eilig; sie legten zwar Wert auf den Verkehr in einem gewissen Gesellschaftskreise, aber alles nur mit Maßen. Das war um so bemerkenswerter, als jedermann die Richtung, den Charakter, die Ziele und die Wünsche ihres Vaters kannte.

Es war schon gegen elf Uhr, als der Fürst an der Wohnung des Generals klingelte. Der General wohnte im zweiten Stockwerk und hatte eine ziemlich bescheidene, wiewohl seinem Range entsprechende Wohnung. Dem Fürsten wurde von einem Diener in Livree geöffnet, und es bedurfte langer Auseinandersetzungen mit diesem Menschen, der ihn und sein Bündelchen gleich von Anfang an mißtrauisch betrachtete. Endlich, nachdem er ihm wiederholt auf das bestimmteste erklärt hatte, daß er wirklich Fürst Myschkin sei und unbedingt den General in einer notwendigen Angelegenheit sprechen müsse, führte ihn der erstaunte Diener in ein kleines Vorzimmer vor dem eigentlichen, beim Arbeitszimmer gelegenen Empfangszimmer und übergab ihn dort einem andern Diener, der vormittags in diesem Vorzimmer den Dienst versah und dem General die Besucher anzumelden hatte. Dieser zweite Diener trug einen Frack, war über vierzig Jahre alt und hatte eine ernste, wichtige Miene; er stand Seiner Exzellenz zur speziellen Verfügung, wenn derselbe sich im Arbeitszimmer befand, und war sich infolgedessen seines Wertes bewußt.

»Warten Sie im Empfangszimmer, und lassen Sie Ihr Bündelchen hier!« sagte er, indem er sich langsam und würdevoll in seinen Lehnstuhl setzte und mit einem strengen, erstaunten Blick den Fürsten ansah, der sich ebendort mit seinem Bündelchen in der Hand neben ihm auf einen Stuhl niederließ.

»Wenn Sie erlauben«, sagte der Fürst, »möchte ich lieber hier bei Ihnen warten; was soll ich dort so ganz allein?«

»Im Vorzimmer können Sie nicht bleiben, da Sie ein Besucher, das heißt ein Gast, sind. Wollen Sie zum General selbst?«

Der Diener konnte sich offenbar nicht mit dem Gedanken befreunden, daß er einen solchen Besucher vorlassen solle, und hielt es daher für gut, ihn noch einmal zu fragen.

»Ja, ich habe ein Anliegen …«, begann der Fürst.

»Ich frage Sie nicht, von welcher Art Ihr Anliegen ist; meine Sache ist nur, Sie zu melden. Aber ohne den Sekretär kann ich nicht hingehen und Sie melden.«

Das Mißtrauen dieses Mannes schien immer mehr zu wachsen: der Fürst war doch auch dem Typ der täglichen Besucher gar zu unähnlich. Zwar kam es ziemlich oft, fast täglich, zu bestimmter Stunde vor, daß der General, namentlich in Geschäftsangelegenheiten, Gäste empfing, die manchmal sehr verschiedenartig aussahen; aber trotz dieser Gewohnheit und der recht weitherzigen Instruktion war der Kammerdiener in großem Zweifel; die Vermittlung des Sekretärs schien ihm für die Anmeldung doch unumgänglich notwendig.

»Sind Sie wirklich … aus dem Ausland gekommen?« fragte er schließlich fast unwillkürlich und wurde dabei verlegen. Er wollte vielleicht fragen: ›Sind Sie wirklich Fürst Myschkin?‹

»Ja, ich komme direkt von der Bahn. Mir scheint, Sie wollten fragen, ob ich wirklich Fürst Myschkin bin, taten dies aber aus Höflichkeit nicht.«

»Hm! …« brummte der Diener erstaunt.

»Ich versichere Ihnen, daß ich Sie nicht belogen habe, und daß Sie mit meiner Anmeldung nichts Unverantwortliches begehen. Daß ich aber in solchem Anzug und mit einem Bündelchen herkomme, dabei ist nichts zu verwundern; meine Vermögensverhältnisse sind augenblicklich nicht glänzend.«

»Hm! Ich habe in dieser Hinsicht keine Befürchtungen, sehen Sie! Ich bin verpflichtet, Sie zu melden, und dann wird der Sekretär zu Ihnen herkommen, außer wenn Sie … Aber das ist es eben: außer wenn … Wenn es gestattet ist, möchte ich mir erlauben zu fragen: Sie beabsichtigen nicht, aus Bedürftigkeit den General um eine Unterstützung zu bitten?«

»O nein, seien Sie darüber ganz beruhigt! Ich habe ein anderes Anliegen.«

»Nehmen Sie es mir nicht übel; aber ich fragte im Hinblick auf Ihr Äußeres. Warten Sie auf den Sekretär; der General selbst ist jetzt mit einem Oberst beschäftigt, und dann wird auch der Sekretär kommen … es ist der Sekretär von einer Aktiengesellschaft.«

»Wenn ich also lange werde warten müssen, so möchte ich Sie fragen: kann man hier nicht irgendwo rauchen? Eine Pfeife und Tabak habe ich bei mir.«

»Rau-chen?« versetzte der Kammerdiener, ihn geringschätzig und erstaunt anstarrend, als ob er seinen Ohren nicht traute. »Rauchen? Nein, hier können Sie nicht rauchen, und Sie sollten sich schämen, auch nur daran zu denken. Haha … Sonderbar!«

»Oh, ich meinte ja nicht in diesem Zimmer; daß das nicht geht, weiß ich ja; sondern ich würde irgendwohin gehen, wohin Sie mich weisen würden; denn ich bin daran gewöhnt und habe jetzt schon drei Stunden lang nicht geraucht. Übrigens, wie Sie es für gut halten; wissen Sie, es gibt ein Sprichwort: Kommst du in ein fremdes Kloster, so suche da nicht deine eigene Ordnung einzuführen.«

»Na, wie soll ich Sie melden, so einen eigentümlichen Besucher?« murmelte der Kammerdiener beinah unwillkürlich. »Erstens gehört es sich nicht, daß Sie sich hier aufhalten; Sie sollten im Empfangszimmer sitzen, weil Sie selbst sich als Besucher, das heißt als Gast bezeichnen; da wird Rechenschaft von mir gefordert werden … Wie ist es? Beabsichtigen Sie etwa, bei uns zu wohnen?« fügte er hinzu, noch einmal nach dem Bündel des Fürsten hinschielend, das ihm offenbar keine Ruhe ließ.

»Nein, das beabsichtige ich nicht. Selbst wenn ich dazu aufgefordert würde, würde ich nicht hierbleiben. Ich bin ganz einfach nur hergekommen, um mich mit den Herrschaften bekannt zu machen, weiter nichts.«

»Wie? Um die Bekanntschaft zu machen?« fragte der Kammerdiener erstaunt und mit verdreifachtem Mißtrauen. »Wie konnten Sie dann aber zuerst sagen, Sie kämen mit einem Anliegen?«

»Oh, ich kann kaum sagen: mit einem Anliegen! Das heißt, wenn Sie wollen, habe ich auch ein Anliegen, das aber nur darin besteht, daß ich um einen Rat bitten möchte. In der Hauptsache aber bin ich gekommen, um mich vorzustellen, da ich Fürst Myschkin bin und die Generalin Jepantschina gleichfalls die letzte Fürstentochter aus der Familie Myschkin ist und es außer mir und ihr keine Myschkins mehr gibt.«

»Also sind Sie gar noch ein Verwandter?« rief der erschrockene Diener, den ordentlich ein Schauder überlief.

»Auch das ist kaum richtig. Übrigens, wenn man es genau nimmt, gewiß, wir sind Verwandte, aber so entfernte, daß wir uns eigentlich kaum als solche betrachten können. Ich habe mich einmal vom Ausland aus brieflich an die Generalin gewandt; aber sie hat mir nicht geantwortet. Ich habe es aber doch für notwendig gehalten, bei meiner Rückkehr hier Beziehungen anzuknüpfen. Ihnen aber setze ich das alles jetzt auseinander, um Ihre Zweifel zu zerstreuen; denn ich sehe, Sie beunruhigen sich immer noch. Melden Sie nur, daß Fürst Myschkin da ist, und der Anlaß meines Besuches wird schon aus der Meldung ersichtlich sein. Empfangen sie mich – gut; empfangen sie mich nicht – auch gut, vielleicht sogar sehr gut. Aber ich glaube, sie werden nicht anders können, als mich empfangen; die Generalin wird gewiß wünschen, den einzigen noch lebenden Repräsentanten ihres Geschlechts zu sehen; denn wie ich mit Bestimmtheit gehört habe, legt sie auf ihre Herkunft großen Wert.«

Es hätte scheinen können, daß diese Mitteilungen des Fürsten höchst einfach und natürlich waren; aber je einfacher und natürlicher sie an sich waren, um so absonderlicher kamen sie im gegenwärtigen Augenblick heraus, und der erfahrene Kammerdiener konnte nicht umhin, in ihnen etwas zu finden, was, von einem Menschen zu einem andern Menschen gesagt, durchaus angemessen, aber von einem Gast zu einem Diener gesagt, völlig unangemessen war. Aber da die Diener weit verständiger sind, als die Herrschaften gewöhnlich glauben, so ging es auch dem Kammerdiener durch den Kopf, daß hier zwei Fälle möglich seien: entweder war der Fürst ein Herumtreiber und jedenfalls gekommen, um bei der Herrschaft um ein Almosen zu bitten, oder er war einfach ein Narr und ohne Ehrgefühl, da ein vernünftiger Fürst, der Ehrgefühl besitzt, nicht im Vorzimmer sitzen und mit einem Diener über seine Angelegenheiten reden würde. Hatte er sich also nicht in dem einen wie in dem andern Fall für die Anmeldung zu verantworten?

»Aber Sie sollten sich doch in das Empfangszimmer begeben«, bemerkte er möglichst energisch.

»Wenn ich da gesessen hätte, hätte ich Ihnen das alles ja nicht auseinandersetzen können«, versetzte der Fürst in heiterem Tone, »und somit würden Sie sich immer noch beim Anblick meines Mantels und meines Bündelchens beunruhigen. Aber jetzt halten Sie es vielleicht nicht einmal mehr für nötig, auf den Sekretär zu warten, sondern gehen einfach selbst hin und melden mich an.«

»Ich darf einen Besucher wie Sie ohne den Sekretär nicht anmelden, und außerdem hat der General selbst noch vorhin ausdrücklich verboten, daß er von irgend jemand gestört wird, solange der Oberst da ist; nur Gawrila Ardalionytsch geht ohne Anmeldung hinein.«

»Ist das ein Beamter?«

»Gawrila Ardalionytsch? Nein. Er ist bei einer Aktiengesellschaft angestellt. Legen Sie doch wenigstens Ihr Bündelchen hin!«

»Ich habe selbst schon daran gedacht. Wenn Sie also erlauben, tue ich es. Sagen Sie, soll ich auch den Mantel ablegen?«

»Gewiß! Sie können doch nicht im Mantel zu ihm hineingehen.«

Der Fürst erhob sich, zog sich eilig den Mantel aus und stand nun in einem ziemlich anständigen, gut gearbeiteten, wiewohl schon abgetragenen Jackett da. Über die Weste zog sich eine stählerne Uhrkette hin. An der Kette war eine silberne Genfer Uhr sichtbar.

Obgleich der Fürst ein Narr war (zu dieser Ansicht war der Diener bereits gelangt), schien es dem Kammerdiener des Generals schließlich doch unpassend, dieses Privatgespräch mit dem Besucher länger fortzusetzen, obwohl der Fürst ihm aus irgendeinem Grunde gefiel, natürlich nur so in seiner Art. Aber von einem andern Gesichtspunkte aus erweckte er bei ihm ein entschiedenes, starkes Mißfallen.

»Und wann empfängt die Generalin?« fragte der Fürst, indem er sich wieder auf seinen früheren Platz setzte.

»Das gehört nicht zu meinem Dienst. Sie empfängt zu verschiedenen Zeiten, je nach der Persönlichkeit. Die Schneiderin wird schon um elf Uhr vorgelassen. Gawrila Ardalionytsch wird ebenfalls früher empfangen als andere, sogar zum ersten Frühstück.«

»Hier bei Ihnen ist es in den Zimmern im Winter wärmer als im Ausland«, bemerkte der Fürst, »aber dafür ist es dort auf den Straßen wärmer als bei uns. So ist es einem Russen kaum möglich, im Winter dort in den Häusern zu wohnen, weil er da nicht seine gewohnte Wärme hat.«

»Wird da nicht geheizt?«

»O doch, aber die Häuser sind anders gebaut, das heißt die Öfen und die Fenster.«

»Hm! Sind Sie denn lange im Ausland gereist?«

»Vier Jahre. Übrigens habe ich fast immer an einem Orte stillgesessen, auf dem Lande.«

»Da sind Sie wohl unsere Verhältnisse nicht mehr gewöhnt?«

»Das ist richtig. Können Sie es glauben: ich wundere mich über mich selbst, daß ich das Russischsprechen nicht verlernt habe. Während ich jetzt mit Ihnen spreche, denke ich: ›Aber ich spreche ja noch ganz gut.‹ Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich soviel spreche. Wirklich, seit gestern habe ich fortwährend Lust, russisch zu sprechen.«

»Hm! Haha! Haben Sie früher in Petersburg gewohnt?« (Trotz seiner Vorsätze brachte der Diener es doch nicht fertig, ein so höflich und bescheiden geführtes Gespräch seinerseits abzubrechen.)

»In Petersburg? Fast gar nicht, nur bei Durchreisen. Auch habe ich früher hier eigentlich nichts gekannt; und jetzt gibt es hier, höre ich, so viel Neues, daß, wie man sagt, auch wer vorher alles gekannt hat, jetzt alles von neuem lernen muß. Es wird hier jetzt viel von den Gerichten geredet.«

»Hm! … Die Gerichte. Die Gerichte, ja, ja, die Gerichte. Aber wie ist es dort? Geht es da beim Gericht gerechter zu oder nicht?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe über die unsrigen viel Gutes gehört. Da ist ja nun bei uns die Todesstrafe wieder abgeschafft.«

»Aber dort finden Hinrichtungen statt?«

»Ja. Ich habe in Frankreich bei einer zugesehen, in Lyon. Schneider hatte mich mitgenommen.«

»Hängen sie die Menschen auf?«

»Nein, in Frankreich werden immer die Köpfe abgeschlagen.«

»Schreit denn der Betreffende dabei?«

»Bewahre! Es geht in einem Augenblick vor sich. Sie legen den Menschen hin, und dann fällt mittels einer Maschine (Guillotine heißt sie) so ein breites Messer mit einem schweren, kräftigen Schlag herunter … Der Kopf fliegt ab, ehe man nur mit den Augen blinken kann. Die Vorbereitungen sind allerdings peinlich. Wenn das Urteil verkündet ist, machen sie den Hinzurichtenden zurecht, binden ihn und führen ihn auf das Schafott; das ist schrecklich! Das Volk läuft zusammen, sogar die Weiber, obwohl man es dort nicht gern hat, daß Weiber dabei zusehen.«

»Die haben dabei auch nichts zu suchen.«

»Gewiß, gewiß! Solche Qualen mit anzusehen! … Der Verurteilte war ein gebildeter, unerschrockener, kräftiger Mann, schon bei Jahren. Legros war sein Name. Nun, sehen Sie, ich sage Ihnen, ob Sie es nun glauben oder nicht: als er auf das Schafott heraufkam, da weinte er und sah weiß aus wie ein Blatt Papier. Ist das möglich? Ist das nicht entsetzlich? Wer weint denn vor Angst? Ich hätte nicht gedacht, daß jemand, der kein Kind ist, vor Angst weinen könnte, ein Mann, der nie geweint hat, ein Mann von fünfundvierzig Jahren. Was mag mit der Seele in diesem Augenblick vorgehen? In was für krampfhafte Zuckungen wird sie versetzt? Es ist eine Peinigung der Seele, weiter nichts! Es gibt ein Gebot: ›Du sollst nicht töten!‹, und da tötet man nun, weil jemand getötet hat, auch ihn? Nein, das darf nicht sein! Es ist jetzt schon einen Monat her, daß ich das gesehen habe; aber es ist mir bis heute, als ob ich es vor Augen hätte. Ich habe fünfmal davon geträumt.«

Der Fürst war beim Sprechen aufgelebt, eine leichte Röte war auf sein blasses Gesicht getreten, obgleich er äußerlich so still und ruhig redete wie vorher. Der Kammerdiener hörte ihm mit teilnahmsvollem Interesse zu und wünschte, wie es schien, nicht mehr, sich von dem Gespräch loszumachen; vielleicht war auch er ein Mensch mit Einbildungskraft und einem Hange zum Nachdenken.

»Es ist wenigstens noch gut, daß nicht viel Quälerei dabei ist, wenn der Kopf abfliegt«, bemerkte er.

dem Tode nicht entgehen kann, und eine schlimmere Qual als diese gibt es auf der Welt nicht. Man führe einen Soldaten in der Schlacht einer Kanone gerade gegenüber und stelle ihn dorthin und schieße auf ihn; er wird noch immer hoffen; aber man lese diesem selben Soldaten das Urteil vor, das ihn mit Sicherheit dem Tode weiht, und er wird den Verstand verlieren oder zu weinen anfangen. Wer kann denn glauben, daß die menschliche Natur imstande sei, dies zu ertragen, ohne in Irrsinn zu geraten? Wozu eine solche gräßliche, unnütze, zwecklose Marter? Vielleicht gibt es auch einen Menschen, dem man das Todesurteil vorgelesen hat, den man sich hat quälen lassen, und zu dem man dann gesagt hat: ›Geh hin; du bist begnadigt!‹ Ein solcher Mensch könnte vielleicht erzählen. Von dieser Qual und von diesem Schrecken hat auch Christus gesprochen. Nein, so darf man mit einem Menschen nicht verfahren!«

Obgleich der Kammerdiener all dies nicht hätte so ausdrücken können wie der Fürst, verstand er doch, wenn auch nicht alles, so doch die Hauptsache, was sogar an seiner gerührten Miene wahrzunehmen war.

»Wenn Sie so sehr wünschen zu rauchen«, sagte er, »so würde das vielleicht auch gehen; nur müßten Sie es sehr bald tun. Denn er könnte auf einmal nach Ihnen fragen, und dann wären Sie nicht da. Sehen Sie, dort unter der kleinen Treppe ist eine Tür. Gehen Sie in die Tür hinein, rechts ist ein Kämmerchen; da können Sie rauchen; nur müssen Sie die Luftklappe aufmachen, denn das Rauchen ist hier doch nicht in der Ordnung.«

Aber der Fürst kam nicht mehr dazu fortzugehen und zu rauchen. In das Vorzimmer trat ein junger Mann mit Papieren in der Hand. Der Kammerdiener nahm ihm den Pelz ab. Der junge Mann schielte nach dem Fürsten hin.

»Der Herr da sagt mir, Gawrila Ardalionytsch«, begann der Kammerdiener in vertraulichem, beinah familiärem Ton, »daß er ein Fürst Myschkin und ein Verwandter der gnädigen Frau sei; er ist mit dem Zuge aus dem Ausland gekommen, mit einem Bündelchen in der Hand, aber …« Das Weitere konnte der Fürst nicht verstehen, da der Kammerdiener zu flüstern anfing. Gawrila Ardalionowitsch hörte aufmerksam zu und betrachtete den Fürsten mit großem Interesse; schließlich hörte er nicht mehr weiter zu und trat ungeduldig an ihn heran.

»Sie sind Fürst Myschkin?« fragte er sehr freundlich und höflich. Es war ein sehr schöner junger Mann, ebenfalls etwa achtundzwanzig Jahre alt, schlank, blond, von Mittelgröße, mit einem kleinen Napoleonsbärtchen und einem verständigen, sehr hübschen Gesicht. Nur war sein Lächeln bei all seiner Liebenswürdigkeit ein wenig zu schlau; die Zähne traten dabei ein wenig zu perlenartig heraus; der Blick war trotz all seiner Heiterkeit und scheinbaren Offenherzigkeit etwas zu scharf und forschend.

Der Fürst hatte die Empfindung: ›Wenn er allein ist, sieht er wahrscheinlich ganz anders aus und lacht vielleicht nie.‹

Der Fürst setzte ihm alles, was er in der Geschwindigkeit konnte, auseinander, fast dasselbe, was er schon vorher dem Kammerdiener und noch früher seinem Reisegefährten Rogoshin auseinandergesetzt hatte. Gawrila Ardalionowitsch schien unterdessen in seinem Gedächtnis etwas zu suchen.

»Haben Sie nicht«, fragte er, »vor einem Jahre oder vor noch kürzerer Zeit einen Brief, wie mir scheint, aus der Schweiz an Lisaweta Prokofjewna geschickt?«

»Ganz richtig.«

»Dann kennt man Sie hier und wird sich Ihrer sicherlich erinnern. Sie wollen zu Seiner Exzellenz? Ich werde Sie sofort melden … Er wird gleich frei sein. Nur sollten Sie … Sie sollten bis dahin ins Empfangszimmer gehen … Warum ist der Herr hier?« wandte er sich in strengem Ton an den Kammerdiener.

»Ich sagte schon, der Herr wollte selbst nicht …«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers, und ein Offizier mit einem Portefeuille unter dem Arm kam laut redend und sich verabschiedend heraus.

»Du bist hier, Ganja?« rief eine Stimme aus dem Arbeitszimmer. »So komm doch herein!«

Gawrila Ardalionowitsch nickte dem Fürsten zu und begab sich eilig in das Arbeitszimmer.

Ungefähr zwei Minuten darauf öffnete sich die Tür von neuem, und Gawrila Ardalionowitschs wohlklingende, höfliche Stimme rief:

»Bitte treten Sie näher, Fürst.«

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Kapitel 11

XI

Der Fürst hatte den Salon verlassen und sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Unmittelbar darauf kam Kolja zu ihm gelaufen, um ihn zu trösten. Der arme Junge schien sich jetzt gar nicht mehr von ihm losreißen zu können.

»Sie haben gut daran getan, daß Sie weggegangen sind«, sagte er. »Da wird jetzt der Wirrwarr noch ärger werden als bisher; jeden Tag geht es bei uns so zu, und all das hat uns diese Nastasja Filippowna eingebrockt.«

»Da bei euch hat sich viel Krankheitsstoff angesammelt, lieber Kolja«, bemerkte der Fürst.

»Jawohl, viel Krankheitsstoff. Aber wir dürfen uns nicht einmal darüber beklagen, wir sind selbst an allem schuld. Ich habe jedoch einen sehr guten Freund, der ist noch unglücklicher. Ist es Ihnen recht, daß ich Sie mit ihm bekannt mache?«

»Sehr recht. Ist er Ihr Schulkamerad?«

»Ja, beinah mein Schulkamerad. Ich werde Ihnen das alles später erklären… Aber schön ist Nastaja Filippowna, meinen Sie nicht auch? Ich hatte sie noch nie gesehen, obwohl ich mich sehr darum bemüht hatte. Sie hat mich geradezu geblendet. Ich würde meinem Bruder alles verzeihen, wenn er sie aus Liebe nähme, aber daß er es um des Geldes willen tut, das ist häßlich!«

»Ja, Ihr Bruder gefällt mir nicht sonderlich.«

»Na, wie wäre das auch möglich! Wie sollte er Ihnen gefallen, nachdem… Wissen Sie, ich bin empört, daß die Leute über diese Dinge so verschiedener Meinung sind. Irgendein Irrsinniger oder ein Dummkopf oder ein Bösewicht gibt jemandem eine Ohrfeige, und da ist nun der Betreffende für sein ganzes Leben entehrt und kann die Schmach nur durch Blut abwaschen oder dadurch, daß der andre ihn auf den Knien um Verzeihung bittet. Nach meiner Ansicht ist das abgeschmackt, ein despotischer Zwang. Auf dieser Anschauung beruht Lermontows Drama ›Der Maskenball‹, meiner Ansicht nach ein dummes Stück. Das heißt, ich will sagen, ein unnatürliches Stück. Aber er war ja beinah noch ein Kind, als er es schrieb.«

»Sehr gut gefällt mir Ihre Schwester.«

»Wie sie Ganja ins Gesicht gespuckt hat! Ja, Warja ist tapfer! Aber Sie haben ihm nicht ins Gesicht gespuckt, und ich bin doch überzeugt, daß Sie es nicht aus Mangel an Mut unterlassen haben. Aber da ist sie selbst, der Wolf in der Fabel! Ich wußte, daß sie kommen würde; sie hat einen anständigen Charakter, wenn sie auch ihre Fehler besitzt.«

»Du hast hier nichts zu suchen«, fiel Warja zuerst über Kolja her. »Geh zum Vater! Belästigt er Sie, Fürst?«

»Durchaus nicht, im Gegenteil.«

»Na also, was redest du, verehrte ältere Schwester! Das ist so eine häßliche Eigenschaft an ihr. Übrigens dachte ich, der Vater würde bestimmt mit Rogoshin weggehen. Wahrscheinlich bereut er jetzt schon, es nicht getan zu haben. Ich will mal zusehen, wie es mit ihm steht«, fügte Kolja hinzu und ging hinaus.

»Gott sei Dank, ich habe Mama fortgebracht und veranlaßt, sich ins Bett zu legen, und es ist nichts weiter vorgekommen. Ganja ist verlegen und sehr nachdenklich. Und er hat auch allen Grund dazu. Was hat er da für eine Lehre erhalten!… Ich bin hergekommen, um Ihnen noch einmal zu danken, Fürst, und Sie zu fragen: hatten Sie Nastasja Filippowna vorher noch gar nicht gekannt?«

»Nein, noch gar nicht.«

»Wie kommen Sie dann dazu, ihr gerade ins Gesicht zu sagen, daß das nicht ihr wahres Wesen sei? Und Sie haben, wie es scheint, damit das Richtige getroffen. Sie ist vielleicht wirklich anders, als sie scheinen wollte. Übrigens werde ich nicht aus ihr klug. Sie beabsichtigte sicherlich, uns zu beleidigen, das ist klar. Ich habe auch früher schon manches Seltsame über sie gehört. Aber wenn sie hergekommen war, um uns einzuladen, wie konnte sie sich dann zuerst gegen Mama so benehmen? Ptizyn kennt sie ganz genau, aber er sagt, er habe ihr Verhalten vorhin auch nicht verstehen können. Und wie benahm sie sich gegen Rogoshin? So darf man doch nicht reden, wenn man Selbstachtung besitzt, noch dazu im Hause des eigenen… Mama ist ebenfalls um Sie sehr beunruhigt.«

»Es hat nichts auf sich«, erwiderte der Fürst mit einer geringschätzigen Handbewegung.

»Und wie sie Ihnen gehorchte…«

»Inwiefern gehorchte?«

»Sie sagten ihr, sie solle sich schämen, und darauf änderte sie sofort ihr ganzes Benehmen. Sie üben auf sie einen gewaltigen Einfluß aus, Fürst«, fügte Warja mit einem leisen Lächeln hinzu.

Die Tür öffnete sich, und ganz unerwartet trat Ganja ein. Er wurde in seinem Entschluß nicht einmal wankend, als er Warja erblickte; nachdem er eine kleine Weile auf der Schwelle gestanden hatte, ging er entschlossen auf den Fürsten los.

»Fürst, ich habe mich unwürdig benommen, verzeihen Sie mir, liebster Freund!« sagte er mit wahrer Empfindung. Seine Gesichtszüge drückten starken Schmerz aus. Der Fürst sah ihn erstaunt an und antwortete nicht sogleich. »Nun, verzeihen Sie mir doch, verzeihen Sie mir doch!« drängte Ganja ungeduldig. »Wenn Sie es verlangen, küsse ich Ihnen sofort die Hand!«

Der Fürst war außerordentlich überrascht und umarmte Ganja schweigend. Beide küßten einander herzlich.

»Ich hätte nie, nie gedacht, daß Sie ein solcher Mensch sind«, sagte der Fürst endlich, mühsam Atem holend. »Ich meinte, Sie seien… dessen nicht fähig.«

»Um Verzeihung zu bitten? … Wie bin ich nur heute darauf gekommen, Sie für einen Idioten zu halten! Sie bemerken vieles, was andere Menschen niemals beachten. Ich könnte mit Ihnen etwas besprechen, aber … es ist doch wohl besser, wenn ich es nicht tue!«

»Da ist noch jemand, bei dem Sie sich entschuldigen sollten«, sagte der Fürst, auf Warja weisend.

»Nein, die sind nun einmal meine Feinde. Glauben Sie mir, Fürst, ich habe oft versucht, unser Verhältnis zu bessern; aber aufrichtige Verzeihung sucht man da vergebens!« rief Ganja heftig.

Er wandte sich von Warja zur Seite ab.

»Nicht doch, ich verzeihe dir«, sagte Warja plötzlich.

»Und wirst du heute abend zu Nastasja Filippowna kommen?«

»Wenn du es verlangst, werde ich hinkommen; aber überlege selbst, ob ich nach dem Vorgefallenen überhaupt eine Möglichkeit habe, dort zu erscheinen.«

»Sie ist ja doch nicht so, wie sie tat. Du siehst ja, sie will einem immer Rätsel aufgeben! Spiegelfechterei!« Ganja lächelte boshaft.

»Ich weiß selbst, daß sie nicht so ist und daß sie Spiegelfechterei treibt, aber was für welche! Und dann bedenke noch eines, Ganja: wofür hält sie dich selbst? Mag auch vieles an ihrem Benehmen nur Spiegelfechterei sein, und mag sie auch Mama die Hand geküßt haben; aber sie hat sich doch über dich lustig gemacht! Das wird durch die fünfundsiebzigtausend Rubel nicht aufgewogen, Bruder, bei Gott nicht! Du bist noch anständiger Empfindungen fähig, darum sage ich dir das. Fahre du doch auch selbst nicht hin! Hüte dich vor ihr! Das kann nicht gut ausgehen!«

Nach diesen Worten verließ Warja schnell und in großer Aufregung das Zimmer.

»So sind meine Mutter und meine Schwester immer!« sagte Ganja lächelnd. »Ob sie wirklich denken, daß ich das nicht auch selbst weiß? Ich weiß sogar noch viel mehr als sie.«

Als Ganja das gesagt hatte, setzte er sich auf das Sofa, in dem offensichtlichen Wunsch, seinen Besuch noch länger auszudehnen.

»Wenn Sie das selbst wissen«, fragte der Fürst recht schüchtern, »warum haben Sie sich dann zu einer solchen Marter entschlossen, von der Sie selbst glauben, daß sie durch fünfundsiebzigtausend Rubel tatsächlich nicht aufgewogen wird?«

»Davon möchte ich nicht reden«, murmelte Ganja. »Übrigens, sagen Sie mir doch, wie Sie selbst darüber denken; ich möchte gern Ihre Meinung darüber kennenlernen: wird diese ›Marter‹ durch fünfundsiebzigtausend Rubel aufgewogen oder nicht?«

»Meiner Ansicht nach nicht.«

»Nun, das ließ sich denken. Und unter solchen Umständen zu heiraten, muß man sich schämen?«

»Allerdings, sehr.«

»Nun, dann mögen Sie wissen, daß ich sie heiraten werde, jetzt ganz sicher. Vorhin war ich noch schwankend, aber jetzt nicht mehr. Sagen Sie kein Wort! Ich weiß, was Sie sagen wollen…«

»Ich will nicht über denjenigen Punkt reden, von dem Sie annehmen, daß ich mich über ihn äußern will; ich wundere mich nur über Ihre außerordentliche Zuversicht…«

»Zuversicht worauf? Was für eine Zuversicht?«

»Daß Nastasja Filippowna Sie bestimmt heiraten wird und die ganze Sache bereits feststeht, und zweitens, auch wenn sie Ihre Frau werden sollte, daß die fünfundsiebzigtausend Rubel dann so ohne weiteres geradeswegs in Ihre Tasche gelangen werden. Übrigens ist mir natürlich hier vieles nicht bekannt.«

Ganja machte eine heftige Bewegung nach dem Fürsten hin.

»Natürlich ist Ihnen nicht alles bekannt«, sagte er. »Warum würde ich denn sonst diese ganze Bürde auf mich nehmen?«

»Ich meine, es ist ein sehr häufiger Vorgang, daß jemand um des Geldes willen heiratet und das Geld in den Händen der Frau bleibt.«

»N-nein, bei uns wird es anders sein… Hier … hier liegen Umstände vor…«, murmelte Ganja, in unruhigem Nachdenken befangen. »Und was ihre Antwort anlangt, so ist daran kein Zweifel mehr möglich«, fügte er schnell hinzu. »Woraus schließen Sie, daß sie mir einen Korb geben wird?«

»Ich weiß nichts als das, was ich gesehen habe. Aber auch Warwara Ardalionowna hat soeben gesagt…«

»Bah, das reden die Weiber so hin, ohne zu wissen, was sie sagen. Aber über Rogoshin hat sie sich lustig gemacht, das können Sie glauben, das ist mir klargeworden. Das war deutlich zu merken. Ich hatte vorhin meine Besorgnisse, aber jetzt ist mir die Sache klargeworden. Oder meinen Sie vielleicht, wie sie sich gegen die Mutter, den Vater und Warja benommen hat?«

»Und gegen Sie.«

»Es mag sein, aber das war nur gewöhnliche weibliche Rachsucht, weiter nichts. Sie ist ein schrecklich reizbares, argwöhnisches, eitles Weib. Wie ein bei der Beförderung übergangener Beamter! Sie wollte sich zeigen und ihnen ihre ganze Geringschätzung beweisen … na, und mir auch, das ist ja richtig, das bestreite ich nicht… Aber trotzdem wird sie mich heiraten. Sie ahnen gar nicht, welchen Täuschungen die menschliche Eitelkeit unterworfen ist: da hält sie mich nun für einen Schuft, weil ich sie, die Geliebte eines andern, so offen ihres Geldes wegen nehme, und weiß nicht, daß ein anderer sie in noch gemeinerer Weise betrügen würde: er würde sich an sie heranmachen und sie mit liberalen, fortschrittlichen Redereien überschütten und allerlei Frauenfragen erörtern, so daß sie ihm schließlich wie ein Faden durchs Nadelöhr geht. Er würde der eitlen Närrin einreden (und das ist so leicht!), daß er sie nur ›wegen ihres edlen Herzens und wegen ihres Unglücks‹ nehme, würde sie aber dabei doch um des Geldes willen heiraten. Ich gefalle ihr nicht, weil ich zum Schwanzwedeln keine Lust habe, was doch nützlich wäre. Aber was tut sie denn selbst? Tut sie nicht ganz dasselbe? Also, wenn dem so ist, warum verachtet sie mich dann und treibt ein solches Spiel mit mir? Deswegen, weil ich selbst mich nicht unterwerfe, sondern meinen Stolz herauskehre. Nun, wir werden ja sehen!«

»Haben Sie sie denn früher wirklich geliebt?«

»Anfangs habe ich sie geliebt. Aber genug davon… Es gibt eben Frauen, die nur zu Geliebten taugen und zu weiter nichts. Ich sage nicht, daß sie meine Geliebte gewesen wäre. Wenn sie friedfertig leben will, werde ich auch friedfertig leben, aber wenn sie sich auflehnt, werde ich mich sofort von ihr lossagen und das Geld für mich behalten. Lächerlich will ich mich nicht machen, das am allerwenigsten.«

»Es will mir doch scheinen«, bemerkte der Fürst vorsichtig, »daß Nastasja Filippowna ein ganz kluges Weib ist. Wozu sollte sie, wenn sie solche Marter voraussieht, in die Falle gehen? Sie könnte ja doch auch einen andern heiraten. Ich wundere mich, daß Sie diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen.«

»Das hat schon seine Gründe! Sie wissen in dieser Angelegenheit nicht alles, Fürst… und außerdem glaubt sie fest, daß ich sie wahnsinnig liebe, das schwöre ich Ihnen. Und wissen Sie, ich vermute stark, daß auch sie mich liebt, das heißt auf ihre Art; Sie kennen die Redensart: ›Wen ich liebe, den prügle ich.‹ Sie wird mich ihr ganzes Leben lang für einen Gauner halten (und darin hat sie ja auch vielleicht recht) und mich doch auf ihre Art lieben, sie trifft dazu schon ihre Anstalten; das liegt einmal so in ihrem Wesen. Sie ist eine echte Russin, kann ich Ihnen sagen, na, und ich bereite eine Überraschung für sie vor. Die Szene von vorhin mit Warja ereignete sich ja ganz zufällig, aber sie wird mir von Vorteil sein: sie hat jetzt gesehen und sich überzeugt, daß ich ihr treuer Anhänger bin und um ihretwillen alle Bande zerreiße. Ich bin nämlich auch gerade kein Dummkopf, das können Sie mir glauben. Übrigens, Sie denken doch hoffentlich nicht, daß ich ein arger Schwätzer bin? Ich habe vielleicht tatsächlich übel daran getan, liebster Fürst, daß ich mich Ihnen so ganz anvertraue. Aber das kommt daher, daß Sie der erste anständige Mensch sind, auf den ich seit langem gestoßen bin, und da habe ich mich denn auf Sie gestürzt, das heißt, nehmen Sie dieses ›ich habe mich auf Sie gestürzt‹ nicht im physischen Sinne. Sie zürnen mir doch nicht mehr wegen meines Benehmens von vorhin? Ich spreche vielleicht zum ersten Male seit vollen zwei Jahren frei von der Leber weg. Hier gibt es sehr wenige ehrenhafte Leute, Ptizyn ist noch der ehrenhafteste. Sie lachen wohl gar, wie mir scheint? Die Schufte haben eine besondere Zuneigung zu ehrenhaften Leuten, haben Sie das noch nicht gewußt? Ich aber bin ja… Sagen Sie mir übrigens auf Ihr Gewissen: inwiefern bin ich denn ein Schuft? Weil alle, nachdem sie mich einmal einen Schuft genannt hat, es ihr nachsprechen? Und wissen Sie: weil die Leute und sie mich so genannt haben, nenne ich mich auch selbst einen Schuft! Das ist gemein, sehr gemein!«

»Ich werde Sie jetzt nie mehr für einen Schuft halten«, versetzte der Fürst. »Vorhin hielt ich Sie geradezu für einen Bösewicht, und nun haben Sie mir plötzlich eine so große Freude gemacht! Das soll mir eine Lehre sein, nicht abzuurteilen, wo es einem an Erfahrung fehlt. Jetzt sehe ich, daß man Sie nicht für einen Bösewicht halten darf, sondern überhaupt nicht nur für keinen besonders verdorbenen Menschen. Sie sind meiner Ansicht nach einfach der gewöhnlichste Mensch, den es überhaupt geben kann, nur vielleicht sehr schwach, aber von Originalität kann keine Rede sein.«

Ganja lächelte im stillen spöttisch, schwieg aber. Der Fürst merkte, daß seine Antwort ihm nicht gefallen hatte, wurde verlegen und verstummte gleichfalls.

»Hat mein Vater Sie um Geld gebeten?« fragte Ganja auf einmal.

»Nein.«

»Er wird es tun, aber geben Sie ihm nichts! Und doch kann ich mich noch an die Zeit erinnern, wo er ein ganz anständiger Mann war. Er hatte Zutritt zu den besten Kreisen. Und wie schnell es mit ihnen zu Ende geht, mit diesen alten, anständigen Leuten! Kaum haben sich die Umstände geändert, so ist auch von dem frühern nichts mehr vorhanden; es ist, wie wenn Schießpulver abbrennt. Ich versichere Ihnen, er hat früher nicht so gelogen, früher war er nur ein etwas exaltierter Mensch, und nun sehen Sie, wohin sich das schließlich entwickelt hat! Natürlich ist das Trinken daran schuld. Wissen Sie, daß er eine Geliebte aushält? Er ist jetzt nicht mehr ein bloßer unschuldiger Aufschneider. Ich kann die Langmut der Mutter nicht begreifen. Hat er Ihnen von der Belagerung von Kars erzählt? Oder davon, wie bei seiner Troika das graue Seitenpferd zu sprechen anfing? So weit versteigt er sich.«

Und Ganja schüttelte sich auf einmal nur so vor Lachen.

»Warum sehen Sie mich so an?« fragte er dann den Fürsten. »Ich wundere mich darüber, daß Sie so herzlich lachen. Ihr Lachen ist wirklich noch ganz kindlich. Als Sie vorhin hereinkamen, um sich mit mir zu versöhnen, und sagten: ›Wenn Sie es verlangen, küsse ich Ihnen die Hand!‹, das war ganz in der Art, wie Kinder sich aussöhnen. Also sind Sie solcher Worte und Empfindungen doch noch fähig. Und dann fingen Sie auf einmal an, mir einen ganzen Vortrag über diese dunkle Heiratsangelegenheit und über diese fünfundsiebzigtausend Rubel zu halten. Wahrhaftig, das erscheint alles so ungereimt und wunderlich.«

»Und was schließen Sie daraus?«

»Daß Sie vielleicht doch leichtsinnig handeln und gut täten, die Sache vorher gründlich zu überlegen. Möglicherweise hat Warwara Ardalionowna doch recht.«

»Ah so! Eine Empfehlung der Moralität! Daß ich noch ein kleiner Junge bin, weiß ich selbst«, unterbrach ihn Ganja eifrig. »Das geht ja schon daraus hervor, daß ich mit Ihnen ein solches Gespräch geführt habe. Aber ich gehe nicht aus Berechnung diese Ehe ein, Fürst«, fuhr er, sich verteidigend, fort wie ein in seinem Ehrgefühl verletzter junger Mann. »Wenn ich aus Berechnung handelte, so würde ich wahrscheinlich Fehler dabei begehen, da weder mein Verstand aushalten. Wie kommt Jepantschin dazu, mich in dieser Weise zu beleidigen? Tut er das etwa aus Bosheit? Keineswegs, sondern einfach deshalb, weil ich kein Geld habe. Na, aber dann … Aber nun genug, es ist Zeit, daß wir aufhören. Kolja hat schon zweimal seine Nase hereingesteckt, er will Sie zum Mittagessen rufen. Und ich muß ausgehen. Ich werde Sie manchmal besuchen. Sie werden es bei uns ganz gut haben, Sie werden jetzt geradezu in die Familie aufgenommen werden. Hüten Sie sich nur, etwas weiterzuplaudern! Mir scheint, daß Sie und ich entweder gute Freunde oder erbitterte Feinde sein werden. Was meinen Sie, Fürst: wenn ich Ihnen vorhin die Hand geküßt hätte (wozu ich mich von Herzen erbot), wäre ich dann deswegen Ihr Feind geworden?«

»Unbedingt wären Sie das geworden, aber nicht für immer; später würden Sie Ihren Sinn geändert und mir verziehen haben«, erwiderte der Fürst nach kurzem Nachdenken lachend.

»Aha! Mit Ihnen muß man sehr vorsichtig sein. Weiß der Teufel, Sie haben auch in diese Antwort gleich wieder einen Tropfen Gift geträufelt. Und wer weiß, vielleicht sind Sie gar mein Feind? Übrigens, hahaha! Ich vergaß, Sie zu fragen: ich hatte den Eindruck, daß Nastasja Filippowna Ihnen außerordentlich gut gefiel, habe ich recht?«

»Ja… Sie hat mir gefallen.«

»Haben Sie sich in sie verliebt?«

»N-nein.«

»Aber dabei ist er ganz rot geworden und macht ein Armesündergesicht. Nun, es tut nichts, es tut nichts, ich werde mich nicht über Sie lustig machen. Auf Wiedersehen! Und wissen Sie: sie ist ein tugendhaftes Weib, können Sie das glauben? Sie meinen wohl, sie lebt mit dem Menschen, dem Tozkij, zusammen? Keine Spur! Schon lange nicht mehr! Aber haben Sie wohl bemerkt, daß sie selbst sehr linkisch ist und vorhin manchmal ganz verlegen wurde? Wirklich! Aber gerade solche Weiber sind besonders herrschsüchtig. Nun leben Sie wohl!«

Ganja verließ das Zimmer weit ungezwungener, als er hereingekommen war, und in guter Laune. Der Fürst saß etwa zehn Minuten lang da, ohne sich zu rühren, und dachte nach. Kolja steckte wieder den Kopf durch die Tür.

»Ich möchte nicht zu Mittag essen, Kolja, ich habe vorhin bei Jepantschins gut gefrühstückt.«

Kolja trat ganz durch die Tür herein und überreichte dem Fürsten ein Billett. Es kam vom General und war zusammengefaltet und versiegelt. Es war dem Knaben am Gesicht anzusehen, daß es ihm peinlich war, das Billett zu übergeben. Der Fürst las es durch, stand auf und griff nach seinem Hute.

»Es sind nur ein paar Schritte«, sagte Kolja verlegen. »Er sitzt dort jetzt bei der Flasche. Es ist mir unbegreiflich, wodurch er sich da Kredit verschafft hat. Bitte, lieber Fürst, sagen Sie nachher meinen Angehörigen nichts davon, daß ich Ihnen das Billett zugestellt habe! Tausendmal habe ich schon geschworen, solche Billette nicht mehr zu überbringen, aber er tut mir dann doch immer wieder leid. Ich möchte Ihnen jedoch sagen: machen Sie bitte mit ihm keine Umstände; geben Sie ihm eine Kleinigkeit, dann ist die Sache erledigt.«

»Das war auch mein Gedanke, Kolja. Ich muß Ihren Papa sprechen… aus einem besonderen Anlaß … Kommen Sie…«

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Kapitel 12

XII

Kolja führte den Fürsten nach der nahe gelegenen Litejnaja-Straße, zu einem Kaffeehaus, das im Erdgeschoß lag und seinen Eingang von der Straße hatte. Hier hatte Ardalion Alexandrowitsch es sich als alter Stammgast rechts in der Ecke in einem besonderen Zimmerchen bequem gemacht: vor ihm auf einem Tischchen stand eine Flasche, in der Hand hielt er wirklich die ›Indépendance Belge‹. Er hatte auf den Fürsten gewartet; kaum hatte er ihn erblickt, legte er sofort die Zeitung beiseite und begann eine eifrige, wortreiche Auseinandersetzung, von der der Fürst übrigens fast nichts verstand, weil der General schon beinahe »fertig« war.

»Zehn Rubel habe ich nicht«, unterbrach ihn der Fürst. »Aber hier ist ein Fünfundzwanzigrubelschein, lassen Sie ihn wechseln, und geben Sie mir fünfzehn Rubel zurück, da ich sonst selbst keinen Groschen in der Tasche habe.«

»O gewiß, und seien Sie überzeugt, daß ich schleunigst …«

»Ich habe außerdem noch eine Bitte an Sie, General. Sind Sie niemals bei Nastasja Filippowna gewesen?«

»Ich? Ich sollte nicht dagewesen sein? Das sagen Sie zu mir? Mehrmals, mein Lieber, mehrmals!« rief der General in einem Anfall von selbstgefälliger, triumphierender Ironie. »Aber ich habe schließlich diese Beziehungen selbst abgebrochen, weil ich diese ungehörige Verbindung nicht befördern mag. Sie haben es selbst gesehen und waren heute morgen Zeuge: ich habe alles getan, was ein Vater tun konnte, aber das war ein milder, nachgiebiger Vater; jetzt wird ein Vater von anderer Art auf die Bühne treten, und dann … dann wollen wir einmal sehen, ob ein alter, verdienstvoller Krieger über die Intrige obsiegen oder die schamlose Kameliendame in eine hochanständige Familie eindringen wird.«

»Und ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie, als Bekannter Nastasja Filippownas, mich nicht heute abend bei ihr einführen könnten. Ich muß heute unter allen Umständen hingehen, ich habe da etwas zu tun; aber ich weiß schlechterdings nicht, wie ich Einlaß finden kann. Ich bin ihr zwar vorhin vorgestellt, aber sie hat mich nicht eingeladen, und es ist dort heute eine Abendgesellschaft nur für geladene Gäste. Ich bin übrigens bereit, mich über mancherlei Vorschriften des gesellschaftlichen Verkehrs hinwegzusetzen und mich sogar auslachen zu lassen, wenn ich nur irgendwie hineinkomme.«

»Sie haben da vollständig, aber auch vollständig meinen eigenen Gedanken getroffen, mein junger Freund«, rief der General ganz begeistert. »Ich habe Sie nicht wegen dieser Kleinigkeit herrufen lassen«, fuhr er fort, indem er die fünfundzwanzig Rubel nahm und in die Tasche steckte, »sondern gerade, um Sie zu einem gemeinsamen Besuch bei Nastasja Filippowna oder, besser gesagt, zu einem gemeinsamen Feldzug gegen Nastasja Filippowna aufzufordern! General Iwolgin und Fürst Myschkin! Was für ein Gesicht sie machen wird! Mit Rücksicht auf ihren Geburtstag werde ich in liebenswürdigster Form schließlich doch meinen Willen zum Ausdruck bringen, indirekt, nicht so geradeheraus, aber die Wirkung wird dieselbe sein, wie wenn ich geradeheraus spräche. Dann mag Ganja sich selbst entscheiden, wie er sich verhalten will: auf der einen Seite sein Vater, ein hochverdienter und… sozusagen… und so weiter, auf der andern Seite… Aber was kommen muß, das komme! Ihr Gedanke ist außerordentlich vielversprechend. Und um neun Uhr wollen wir uns hinbegeben, wir haben noch Zeit.«

»Wo wohnt sie denn?«

»Weit von hier: beim Großen Theater, im Hause der Frau Mytowzowa, fast auf dem Platze selbst, in der Beletage. Es wird keine große Gesellschaft da sein, obwohl es ihr Geburtstag ist, und die Gäste werden frühzeitig aufbrechen…«

Es war schon längst Abend; der Fürst saß noch immer da und wartete darauf, daß der General aufstehen würde, aber dieser begann eine endlose Menge von Anekdoten zu erzählen, ohne eine einzige zu Ende zu bringen. Bei der Ankunft des Fürsten hatte er sich eine neue Flasche geben lassen, die er erst nach einer Stunde geleert hatte; dann verlangte er noch eine dritte und trank auch diese aus. Man kann sich leicht denken, daß der General dabei Zeit fand, fast seine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Endlich stand der Fürst auf und erklärte, er könne nicht länger warten. Der General trank den letzten Rest aus seiner Flasche aus, erhob sich und verließ mit sehr unsicheren Schritten das Zimmer. Der Fürst war verzweifelt. Es war ihm jetzt unbegreiflich, wie er hatte so dumm sein können, auf diesen Menschen sein Vertrauen zu setzen. In Wirklichkeit hatte er ja auch nie sein Vertrauen auf ihn gesetzt; er hatte nur insofern auf den General gerechnet, als er gehofft hatte, durch dessen Beihilfe Einlaß bei Nastasja Filippowna zu finden, wenn auch mit etwas unangenehmem Aufsehen; aber er hatte nicht erwartet, daß der General sich in einem derartig skandalösen Zustande befinden werde: er war völlig betrunken, entwickelte eine große Redseligkeit und sprach ohne Unterbrechung sehr gefühlvoll, ja weinerlich. Sein Thema war dabei fortwährend dieses: durch das schlechte Benehmen all seiner Familienmitglieder sei alles zugrunde gegangen, und es sei endlich Zeit, dem ein Ende zu machen. Endlich traten sie auf die Litejnaja-Straße hinaus. Das Tauwetter dauerte noch an; ein bedrückender, warmer, feucht riechender Wind pfiff durch die Straßen, die Kutschen platschten im Schmutz, die Hufschläge der Traber und Karrengäule ertönten mit hellem Klang auf dem Pflaster. Die Fußgänger wanderten trübselig und durchnäßt die Gehsteige entlang. Man begegnete einzelnen Betrunkenen.

»Sehen Sie wohl diese erleuchteten Beletagen?« sagte der General. »Hier wohnen überall meine Kameraden, und ich, der ich am längsten von ihnen gedient und am meisten durchgemacht habe, ich schleppe mich zu Fuß nach dem Großen Theater, in die Wohnung eines zweideutigen Frauenzimmers! Ein Mann, der dreizehn Kugeln in der Brust hat…. Sie glauben es nicht? Und doch hat einzig um meinetwillen nach Paris telegrafiert und seine Aufmerksamkeit dem belagerten Sewastopol eine Zeitlang entzogen, und Nélaton, der Pariser Hofarzt, hat sich im Namen der Wissenschaft freies Geleit verschafft und ist in das belagerte Sewastopol gekommen, um mich zu untersuchen. ›Ach, das ist jener Iwolgin, der dreizehn Kugeln im Leibe hat!‹ so reden die Leute von mir. Sehen Sie wohl dieses Haus hier, Fürst? Hier wohnt in der Beletage ein alter Kamerad von mir, General Sokolowitsch, mit seiner zahlreichen, prächtigen Familie. Dieses Haus und noch drei Häuser auf dem Newskij Prospekt und zwei in der Morskaja-Straße, die bilden jetzt meinen ganzen Bekanntenkreis. Wenn ich sage ›meinen‹, so bezieht sich das nur auf meine eigene Person; Nina Alexandrowna hat sich schon längst den Verhältnissen gefügt. Aber ich gebe mich immer noch in der gebildeten Gesellschaft meiner ehemaligen Kameraden und Untergebenen, die mich bis auf den heutigen Tag vergöttern, meinen Erinnerungen hin und finde da sozusagen meine Erholung. Dieser General Sokolowitsch… ich bin übrigens schon lange nicht mehr bei ihm gewesen und habe Anna Fjodorowna geraume Zeit nicht gesehen… wissen Sie, lieber Fürst, wenn man selbst nicht mehr empfängt, dann hört man auch unwillkürlich auf, bei anderen Besuche zu machen. Indessen… hm!… Sie scheinen mir nicht zu glauben… Übrigens warum sollte ich den Sohn meines besten Freundes und Jugendgespielen nicht in diese entzückende Familie einführen? General Iwolgin und Fürst Myschkin! Sie werden ein reizendes junges Mädchen kennenlernen, oder vielmehr nicht eines, sondern zwei, ja drei, die Zierden der Residenz und der vornehmen Gesellschaft: Schönheit, Bildung, moderne Richtung… Frauenfrage, Poesie, all das hat sich bei ihnen zu einer glücklichen, bunten Mischung vereinigt, ganz abgesehen von den achtzigtausend Rubeln Mitgift in barem Geld für jede von ihnen, was trotz aller Frauenfragen und sozialen Probleme niemals schaden kann… mit einem Wort, ich fühle mich unbedingt verpflichtet und verbunden, Sie einzuführen. General Iwolgin und Fürst Myschkin!«

»Jetzt? Jetzt gleich? Aber Sie haben vergessen …«, begann der Fürst.

»Nichts, nichts habe ich vergessen! Wir wollen hingehen! Hier diese prachtvolle Treppe hinauf! Ich wundere mich, daß kein Portier da ist, aber freilich… es ist ein Feiertag, und da hat sich der Portier davongemacht. Sie haben diesen Trunkenbold immer noch nicht weggejagt. Dieser Sokolowitsch verdankt das ganze Glück seines Lebens und seiner Karriere mir, mir allein und sonst niemand. Aber… da sind wir schon!«

Der Fürst erhob keine Einwendungen mehr gegen den Besuch und folgte dem General gehorsam, um ihn nicht zu reizen, in der festen Hoffnung, daß General Sokolowitsch und seine ganze Familie allmählich wie eine Luftspiegelung verschwinden und sich als nicht existierend erweisen würden, so daß sie dann ruhig die Treppe wieder hinuntersteigen könnten. Aber zu seinem Schrecken mußte er diese Hoffnung aufgeben: der General führte ihn die Treppe hinauf wie jemand, der da wirklich Bekannte hatte, und schaltete alle Augenblicke detaillierte Bemerkungen biographischen und topographischen Inhalts ein, die den Eindruck mathematischer Genauigkeit machten. Als sie endlich in der Beletage angelangt waren und rechts vor der Eingangstür einer prächtigen Wohnung haltmachten und der General nach dem Griff der Klingel faßte, da beschloß der Fürst davonzulaufen, aber ein sonderbarer Umstand hielt ihn noch einen Augenblick zurück.

»Sie haben sich geirrt, General«, sagte er, »hier an der Tür steht der Name Kulakow, und Sie wollten doch bei Sokolowitsch klingeln.«

»Kulakow… Kulakow beweist nichts. Das ist Sokolowitschs Wohnung, und ich klingle bei Sokolowitsch. Ich schere mich den Teufel um Kulakow… Da wird schon geöffnet.«

Die Tür öffnete sich wirklich. Ein Diener schaute heraus und meldete, die Herrschaften seien nicht zu Hause.

»Wie schade, wie schade! Daß wir es so schlecht getroffen haben!« wiederholte Ardalion Alexandrowitsch mehrere Male hintereinander mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns. »Bestellen Sie, lieber Freund, daß General Iwolgin und Fürst Myschkin gewünscht hätten, den Herrschaften ihre besondere Hochachtung zu bezeigen, und außerordentlich, außerordentlich bedauert hätten …«

In diesem Augenblick schaute aus einem der Zimmer durch die geöffnete Eingangstür noch ein anderes Gesicht heraus, anscheinend das Gesicht einer Wirtschafterin oder vielleicht auch Gouvernante, einer etwa vierzigjährigen Dame in dunklem Kleid. Als sie die Namen des Generals Iwolgin und des Fürsten Myschkin hörte, näherte sie sich neugierig und mißtrauisch.

»Marja Alexandrowna ist nicht zu Hause«, sagte sie, indem sie besonders den General scharf ansah, »sie ist mit dem gnädigen Fräulein Alexandra Michailowna zur Großmutter gefahren.«

»Auch Alexandra Michailowna ist mit ihr aus! O Gott, wie bedauerlich! Und denken Sie sich nur, Madame, solch Mißgeschick habe ich immer! Ich bitte Sie ganz ergebenst, meine Empfehlung auszurichten und Alexandra Michailowna zu bestellen, sie möchte sich erinnern … mit einem Wort, sagen Sie ihr, ich wünschte ihr von Herzen das, was sie selbst sich am Donnerstag abend bei den Klängen des Chopinschen Liedes gewünscht habe, sie wird sich schon erinnern… Das sei mein Herzenswunsch! General Iwolgin und Fürst Myschkin!«

»Ich werde es nicht vergessen«, versetzte, den Abschiedsgruß erwidernd, die Dame, die etwas mehr Vertrauen zu den Besuchern gewonnen hatte.

Während sie die Treppe hinunterstiegen, bedauerte der General immer noch in derselben affektvollen Weise, daß sie die Herrschaften nicht angetroffen hätten und daß dem Fürsten eine so entzückende Bekanntschaft entgangen sei.

»Wissen Sie, mein Lieber, es liegt eine gewisse gefühlvolle Schwärmerei in meinem Wesen, haben Sie das wohl schon bemerkt? Übrigens… übrigens scheint mir, daß wir an die falsche Adresse gekommen sind«, schloß er auf einmal ganz unerwartet. »Jetzt erinnere ich mich: Sokolowitschs wohnen in einem andern Hause, und mir scheint, jetzt sogar in Moskau. Ja, ich habe mich ein bißchen geirrt, aber… das tut nichts.«

»Ich möchte nur eines wissen«, bemerkte der Fürst niedergeschlagen. »Ist es nicht das beste, wenn ich auf Ihre Hilfe ganz verzichte und lieber allein hingehe?«

»Verzichten? Allein hingehen? Aber wieso denn, da das doch für mich ein äußerst wichtiger Schritt ist, von dem so viel in dem Schicksal meiner ganzen Familie abhängt? Aber da kennen Sie Iwolgin schlecht, mein junger Freund! Wer ›Iwolgin‹ sagt, der sagt ›Mauer‹. ›Auf Iwolgin kann man sich wie auf eine Mauer verlassen‹, so hieß es schon in der Schwadron, in der ich meine Laufbahn begann. Ich muß nur noch unterwegs in einem Hause vorsprechen, in dem meine Seele schon seit mehreren Jahren ihre Erholung findet von all der Unruhe und den schweren Prüfungen, die…«

»Sie wollen erst noch nach Hause gehen?«

»Nein, ich will… zu der Frau Hauptmann Terentjewa, der Witwe des Hauptmanns Terentjew, meines früheren Untergebenen, ja Freundes… Hier, bei der Frau Hauptmann, lebe ich seelisch wieder auf, hierher trage ich all das Leid, das das Leben und meine Familie mir bereiten … Und da gerade heute ein schwerer Druck auf meiner Seele lastet, so möchte ich…«

»Ich glaube«, murmelte der Fürst, »ich habe so schon eine große Torheit begangen, als ich Sie vorhin mit meiner Bitte belästigte. Und außerdem wollen Sie ja jetzt… Leben Sie wohl!«

»Aber ich darf Sie jetzt nicht weggehen lassen, mein junger Freund, das darf ich nicht!« rief der General. »Sie ist eine Witwe, eine Familienmutter und vermag in ihrem Herzen Saiten erklingen zu lassen, die in meinem ganzen Wesen ihren Widerhall finden. Der Besuch bei ihr wird nur fünf Minuten dauern, in diesem Hause verkehre ich ganz ungeniert, ich wohne da fast. Ich will mich da waschen und die nötigste Toilette machen, und dann fahren wir in einer Droschke nach dem Großen Theater. Seien Sie überzeugt, daß ich Ihrer den ganzen Abend bedarf … Hier in diesem Hause ist es, wir sind schon da… Ah, Kolja, du bist schon hier? Nun, ist Marfa Borissowna zu Hause, oder bist du selbst eben erst gekommen?«

»O nein«, antwortete Kolja, der unerwartet in der Haustür mit ihnen zusammengestoßen war, »ich bin schon eine ganze Weile hier bei Ippolit; es geht ihm schlechter, er hat sich heute vormittag hinlegen müssen. Ich habe jetzt eben ein Spiel Karten vom Kaufmann geholt. Marfa Borissowna erwartet Sie. Aber, Papa, in welchem Zustande sind Sie!« schloß Kolja, indem er den Gang und die Haltung des Generals scharf musterte. »Nun, dann wollen wir hinaufgehen!«

Die Begegnung mit Kolja bewog den Fürsten, den General auch noch zu Marfa Borissowna zu begleiten, aber nur auf eine Minute. Der Fürst brauchte Kolja; von dem General wollte er sich unter allen Umständen losmachen, und er konnte es sich nicht verzeihen, daß er vorhin den Einfall gehabt hatte, auf diesen Menschen irgendwelche Hoffnungen zu setzen. Auf der Hintertreppe stiegen sie zum vierten Stock hinauf, was ziemlich lange dauerte.

»Wollen Sie den Fürsten dort einführen?« fragte Kolja unterwegs.

»Ja, mein Sohn, das will ich: General Iwolgin und Fürst Myschkin. Aber wie ist Marfa Borissownas Befinden … und Stimmung?…«

»Wissen Sie, Papa, es wäre am besten, wenn Sie nicht zu ihr gingen! Sie ist wütend auf Sie! Sie haben sich seit drei Tagen nicht blicken lassen, und sie wartet auf Geld. Warum haben Sie ihr Geld versprochen? So machen Sie es immer! Nun müssen Sie sehen, wie Sie mit ihr fertig werden.«

Im vierten Stock blieben sie vor einer niedrigen Tür stehen. Der General war augenscheinlich ängstlich geworden und schob den Fürsten vor.

»Ich werde hier stehenbleiben«, murmelte er. »Ich möchte sie überraschen…«

Kolja ging zuerst hinein. Eine stark geschminkte, etwa vierzigjährige Dame in Pantoffeln und Hausjacke, die Haare in kleine Zöpfe geflochten, sah aus der Tür, und die vom General geplante Überraschung fiel sofort ins Wasser. Kaum hatte ihn die Dame erblickt, als sie schrie:

»Da ist er ja, der gemeine, schändliche Mensch! Das hatte ich doch geahnt!«

»Kommen Sie nur mit herein, sie macht nur Scherz!« flüsterte der General, immer noch harmlos lächelnd, dem Fürsten zu.

Aber es war kein Scherz gewesen. Kaum waren sie durch ein dunkles, niedriges Vorzimmer in den engen, mit sechs Rohrstühlen und zwei Spieltischen möblierten Salon getreten, als die Dame sofort mit gekünstelter, weinerlich klingender, ordinärer Stimme fortfuhr:

»Schämst du dich denn gar nicht, du Barbar, du Tyrann meiner Familie, du Barbar und Unmensch? Ganz ausgeplündert hat er mich, alles hat er mir abgepreßt, und damit ist er noch nicht zufrieden! Wie lange soll ich das noch von dir ertragen, du schamloser, ehrloser Mensch?«

»Marfa Borissowna, Marfa Borissowna! Das ist hier Fürst Myschkin. General Iwolgin und Fürst Myschkin«, murmelte der General zitternd und fassungslos.

»Können Sie es glauben«, wandte sich die Frau Hauptmann plötzlich an den Fürsten, »können Sie es glauben, daß dieser schamlose Mensch nicht einmal mit meinen vaterlosen Kindern Mitleid gehabt hat? Alles hat er uns geraubt, alles weggeschleppt, alles verkauft und versetzt, nichts hat er uns gelassen! Was soll ich mit deinen Schuldscheinen anfangen, du listiger, gewissenloser Mensch? Antworte, du Betrüger, antworte mir, du unersättlicher Räuber: womit soll ich meine vaterlosen Kinder satt machen? Da kommt er nun betrunken her und kann nicht auf den Beinen stehen!… Womit habe ich Gott den Herrn erzürnt, du schändlicher, abscheulicher Gauner? Antworte!«

Aber der General war nicht dazu aufgelegt, diese Frage zu beantworten.

»Marfa Borissowna, da sind fünfundzwanzig Rubel… das ist alles, was ich durch die Beihilfe meines edelmütigen Freundes geben kann. Fürst! Ich habe mich schrecklich geirrt! Ja, so ist… das Leben… Aber jetzt… verzeihen Sie, ich fühle mich schwach«, fuhr der General, mitten im Zimmer stehend und sich nach allen Seiten verbeugend, fort. »Ich fühle mich schwach, verzeihen Sie! Lenotschka! Ein Kissen… liebes Kind!«

Lenotschka, ein Mädchen von acht Jahren, lief sofort ein Kissen holen und legte es auf das mit Wachstuch überzogene, harte, abgenutzte Sofa. Der General setzte sich darauf, in der Absicht, noch vieles zu sagen, aber kaum hatte er das Sofa berührt, als er sich sofort zur Seite neigte, sich nach der Wand zu wandte und in den Schlaf des Gerechten versank. Marfa Borissowna bot dem Fürsten zeremoniös und mit kummervoller Miene einen Stuhl an einem der Spieltische an, setzte sich selbst ihm gegenüber, stützte die rechte Wange in die Hand, sah den Fürsten schweigend an und seufzte. Drei kleine Kinder, zwei Mädchen und ein Knabe, von denen Lenotschka das älteste war, traten ebenfalls an den Tisch heran, legten alle drei die Arme darauf und sahen unverwandt auf den Fürsten. Aus dem anstoßenden Zimmer kam Kolja herein.

»Ich freue mich sehr, daß ich Sie hier getroffen habe, Kolja«, wandte sich der Fürst an ihn. »Können Sie mir nicht helfen? Ich muß unter allen Umständen zu Nastasja Filippowna. Ich habe vorhin Ardalion Alexandrowitsch darum gebeten, mich hinzubringen, aber der ist ja nun eingeschlafen. Führen Sie mich hin, denn ich weiß hier mit den Straßen nicht Bescheid. Die Adresse habe ich übrigens: beim Großen Theater, im Hause der Frau Mytowzowa.«

»Nastasja Filippowna? Die hat überhaupt nie beim Großen Theater gewohnt, und der Vater ist nie bei ihr gewesen, wenn Sie das wissen wollen; ich wundere mich, daß Sie von ihm eine Hilfe erwartet haben. Sie wohnt nicht weit von der Wladimirskaja-Straße, bei den Fünf Ecken; das ist von hier viel näher. Wollen Sie jetzt gleich hin? Es ist jetzt halb zehn. Wenn es Ihnen recht ist, will ich Sie hinführen.«

Der Fürst und Kolja gingen sogleich weg. Aber leider hatte der Fürst kein Geld, um eine Droschke zu nehmen, und so mußten sie den Weg zu Fuß machen.

»Ich hätte Sie gern mit Ippolit bekannt gemacht«, sagte Kolja, »er ist der älteste Sohn dieser Hauptmannsfrau in der Jacke und war im andern Zimmer, er ist krank und hat heute den ganzen Tag im Bett gelegen. Aber er ist so sonderbar, er hat ein sehr feines Gefühl, und ich glaube, er hätte sich vor Ihnen geschämt, weil Sie gerade zu einer solchen Szene gekommen waren… Aber ich, ich schäme mich nicht so wie er, weil es sich bei mir um den Vater handelt und bei ihm um die Mutter, und das ist doch ein Unterschied, weil für das männliche Geschlecht in solchen Dingen nichts Entehrendes liegt. Übrigens hat diese Ansicht von einem Vorrang des männlichen Geschlechts auf diesem Gebiete vielleicht keine innere Begründung. Ippolit ist ein prächtiger Mensch, aber ein Sklave mancher vorgefaßten Meinungen.«

»Sie sagen, er ist schwindsüchtig?«

»Ja, ich glaube, daß es für ihn das beste wäre, wenn er bald stürbe. Ich würde mir an seiner Stelle jedenfalls den Tod wünschen. Ihm tun aber sein Bruder und seine Schwestern leid, die Kleinen, die Sie gesehen haben. Wenn es möglich wäre, wenn wir nur das nötige Geld hätten, dann würden wir beide, er und ich, uns eine besondere Wohnung mieten und uns von unseren Familien trennen. Das ist unser Ideal. Aber wissen Sie was? Als ich ihm vorhin von Ihrer Affäre mit Ganja erzählte, da wurde er ganz ärgerlich und sagte, wer eine Ohrfeige hinnehme und den Beleidiger nicht zum Duell herausfordere, der sei ein Lump. Er ist übrigens schrecklich reizbar; ich lasse mich nie mehr darauf ein, mit ihm zu disputieren. Also da hat Nastasja Filippowna Sie gleich zu sich eingeladen?«

»Das ist es ja eben, daß sie das nicht getan hat.«

»Aber wie können Sie dann zu ihr hingehen?« rief Kolja erstaunt und blieb sogar mitten auf dem Gehsteig stehen. »Und… und in diesem Anzug? Es ist doch da heute eine Abendgesellschaft nur für geladene Gäste!«

»Ich weiß auch tatsächlich nicht, wie ich Einlaß finden werde. Empfängt sie mich, gut; wenn nicht, nun, so ist die Sache eben mißglückt. Und was den Anzug angeht, was ist da zu machen?«

»Führt Sie denn eine besondere Angelegenheit dorthin? Oder gehen Sie nur hin, in ›feiner Gesellschaft‹?«

»Nein, ich habe eigentlich… das heißt, ich habe allerdings eine besondere Angelegenheit… es ist schwer, das auszudrücken, aber…«

»Nun, welcher Art Ihre Angelegenheit genauer ist, das ist ja Ihre Sache; mir geht es vor allem darum, daß Sie sich da heute abend nicht einfach in die entzückende Gesellschaft von Kameliendamen, Generälen und Halsabschneidern eindrängen wollen. Wenn das Ihre Absicht wäre, dann würde ich – verzeihen Sie, Fürst – Sie auslachen und verachten. Hier gibt es sehr wenig ehrenhafte Leute, und man kann eigentlich niemanden so recht von Herzen hochachten. Unwillkürlich gewöhnt man sich da, von oben auf sie herabzublicken, und dabei wollen sie doch alle respektiert sein, Warja in erster Linie. Und haben Sie wohl bemerkt, Fürst: in unserm Zeitalter sind alle Menschen Abenteurer! Ganz besonders bei uns in Rußland, in unserm lieben Vaterland. Und wie sich das alles so herausgebildet hat, das ist mir unbegreiflich. Alles schien so fest und solide zu sein; und jetzt? Da reden und schreiben nun die Leute überall. Sie decken Mißstände auf. Alle Leute sind bei uns damit beschäftigt, Übelstände aufzudecken. Die Eltern sind die ersten, die den Rückzug antreten und sich ihrer früheren moralischen Grundsätze schämen. In Moskau hat ein Vater seinem Sohn als Lebensregel aufgestellt, vor nichts zurückzuschrecken, wo es sich darum handelt, Geld zu verdienen; die Sache ist bekanntlich in der Presse besprochen worden. Sehen Sie meinen Vater, den General, an! Was ist aus ihm geworden? Übrigens, wissen Sie was? Mir scheint, daß er ein ehrenhafter Mann ist, wahrhaftig, das glaube ich! Es liegt bei ihm nur an einer gewissen Lässigkeit und am Trinken. Wahrhaftig, so ist es. Er tut mir sogar leid, nur fürchte ich mich, das auszusprechen, weil mich sonst alle auslachen, aber wahrhaftig, er tut mir leid. Und was ist an ihnen, den Klugen, dran? Sie sind sämtlich Wucherer, alle ohne Ausnahme! Ippolit verteidigt den Wucher; er sagt, der sei eine Notwendigkeit, eine wirtschaftliche Erschütterung, eine Art Ebbe und Flut, hol’s der Teufel! Mir mißfällt das sehr an ihm, aber er bleibt erbittert bei seiner Meinung. Denken Sie nur, seine Mutter, die Frau Hauptmann, bekommt Geld von meinem Vater und leiht es ihm dann wieder zu hohen Prozenten, ein ganz schändliches Benehmen! Und wissen Sie, daß die Mama, das heißt meine Mama, Nina Alexandrowna, Ippolit mit Geld, Kleidungsstücken, Wäsche und allem möglichen unterstützt und durch ihn zum Teil sogar auch die andern Kinder, weil die von ihrer Mutter vollständig vernachlässigt werden? Und Warja tut dasselbe.«

»Nun, sehen Sie wohl, Sie sagten, es gebe keine ehrenhaften, sittlich starken Menschen und alle seien Wucherer; da haben Sie ja nun gleich ein paar sittlich starke Menschen: Ihre Mutter und Warja. Hier zu helfen, unter solchen Umständen zu helfen, ist das etwa kein Zeichen sittlicher Kraft?«

»Warja tut es aus Ehrgeiz, aus Prahlsucht, um nicht hinter der Mutter zurückzubleiben; na, aber Mama, die tut es wirklich… ich empfinde gegen sie Hochachtung. Ja, ich billige und achte eine solche Handlungsweise. Sogar Ippolit hat ein Gefühl dafür, aber er ist fast ganz verbittert. Zuerst wollte er sich darüber lustig machen und nannte es von Mamas Seite eine Gemeinheit, aber jetzt urteilt er manchmal doch anders darüber. Hm! Also Sie nennen das sittliche Kraft? Das will ich mir merken. Ganja weiß nichts davon, sonst würde er es Nachgiebigkeit nennen.«

»Ganja weiß nichts davon? Es scheint, daß Ganja auch sonst sehr vieles nicht weiß«, entfuhr es unwillkürlich dem Fürsten, der sehr nachdenklich geworden war.

»Und wissen Sie, Fürst: Sie gefallen mir sehr. Ihr Verhalten vorhin Ganja gegenüber kommt mir gar nicht aus dem Sinn.«

»Auch Sie gefallen mir sehr, Kolja.«

»Hören Sie mal, wie beabsichtigen Sie Ihr Leben hier einzurichten? Ich werde mir bald eine Beschäftigung verschaffen und etwas verdienen, dann könnten ja wir drei, ich, Sie und Ippolit, uns eine gemeinsame Wohnung mieten und zusammen leben, und meinen Vater würden wir dann zu uns nehmen.«

»Mit dem größten Vergnügen. Aber darüber können wir erst später reden. Ich bin jetzt sehr… sehr zerstreut. Wie? Sind wir schon da? In diesem Haus? … Das ist ja ein großartiges Portal! Und ein Portier! Nun, Kolja, ich weiß nicht, was daraus werden soll.«

Der Fürst stand ganz fassungslos da.

»Morgen werden Sie mir alles erzählen! Seien Sie nur nicht zu schüchtern! Ich wünsche Ihnen von Herzen guten Erfolg, denn ich bin in allen Dingen derselben Ansicht wie Sie. Leben Sie wohl! Ich gehe wieder dahin zurück und werde es Ippolit erzählen. Daß sie Sie empfangen wird, daran ist gar nicht zu zweifeln, da brauchen Sie keine Sorge zu haben. Sie ist eine höchst eigenartige Frau. Diese Treppe hier hinauf, in der ersten Etage, der Portier wird Ihnen Bescheid sagen.«

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Kapitel 13

XIII

Der Fürst befand sich, als er die Treppe hinaufstieg, in großer Unruhe und suchte sich mit aller Kraft Mut zu machen.›Das Schlimmste‹, dachte er, ›kann doch nur sein, daß sie mich nicht empfängt und irgend etwas Schlechtes von mir denkt, oder auch vielleicht, daß sie mich empfängt und mir ins Gesicht lacht… Ach was! Daraus will ich mir nichts machen!‹ Und in der Tat ängstigte ihn dies nicht so besonders, aber die Frage, warum er eigentlich dorthin ging und was er dort wollte, auf diese Frage fand er schlechterdings keine befriedigende Antwort. Selbst wenn es ihm irgendwie gelänge, eine günstige Gelegenheit abzupassen und zu Nastasja Filippowna zu sagen: ›Heiraten Sie diesen Menschen nicht, und richten Sie sich nicht zugrunde; er liebt Sie nicht, er liebt nur Ihr Geld, das hat er mir selbst gesagt, und auch Aglaja Jepantschina hat es mir gesagt, und ich bin hergekommen, um Sie davon in Kenntnis zu setzen‹, so würde, sagte er sich, auch das nicht in jeder Beziehung korrekt sein. Und noch eine andere ungelöste Frage trat ihm vor die Seele, eine so wichtige Frage, daß der Fürst sich sogar fürchtete, an sie auch nur zu denken, daß er gar nicht wagte, sie als zulässig zu betrachten und zu formulieren, sondern bei dem bloßen Gedanken an sie errötete und zu zittern begann. Aber das Ende war doch, daß er trotz all dieser Befürchtungen und Zweifel eintrat und nach Nastasja Filippowna fragte.

Nastasja Filippowna hatte eine nicht sehr große, aber wirklich prachtvoll ausgestattete Wohnung. In den fünf Jahren ihres Petersburger Aufenthalts hatte es zuerst eine Zeit gegeben, wo Afanassij Iwanowitsch ganz besonders viel Geld für sie aufwandte; er rechnete damals noch auf ihre Liebe und hoffte, sie namentlich durch Komfort und Luxus zu betören, denn er wußte, wie leicht man sich an den Luxus gewöhnt und wie schwer es einem nachher fällt, auf ihn zu verzichten, wenn er allmählich zum Bedürfnis geworden ist. In dieser Hinsicht blieb Tozkij den alten, guten Traditionen treu und änderte nichts an ihnen, da er die unüberwindliche Macht der sinnlichen Eindrücke außerordentlich hoch anschlug. Nastasja Filippowna verhielt sich gegen den Luxus nicht ablehnend, sie liebte ihn sogar, aber – und dies erschien sehr merkwürdig – sie ließ sich von ihm nicht unterjochen, sondern machte den Eindruck, als könne sie ihn auch jederzeit entbehren; sie sprach das sogar mehrmals absichtlich aus, wodurch Tozkij sich unangenehm berührt fühlte. Übrigens hatte Nastasja Filippowna gar manches an sich, wovon Afanassij Iwanowitsch nicht sonderlich erbaut war, ein Gefühl, das sich in der Folgezeit sogar bis zur Verachtung steigerte. Ganz abgesehen davon, daß sie manchmal, und offenbar aus persönlicher Neigung, Leute an sich heranzog, die das Gegenteil von elegant waren, traten bei ihr auch noch einige andere ganz seltsame Neigungen hervor: es zeigte sich eine barbarische Vermischung zweier verschiedener Geschmacksrichtungen, ferner eine Fähigkeit, auf gewisse Genüsse zu verzichten und sich statt dessen mit andern zu begnügen, die ein anständiger, feingebildeter Mensch als gar nicht vorhanden betrachtet. In der Tat, hätte – um ein Beispiel anzuführen – Nastasja Filippowna irgendeine liebenswürdige, vornehme Unwissenheit bekundet, etwa eine Unkenntnis der Tatsache, daß Bäuerinnen nicht weißen Batist tragen können, wie sie ihn trug, so wäre Afanassij Iwanowitsch damit wohl ganz zufrieden gewesen. Auf solche Resultate zielte ursprünglich nach Tozkijs Programm, der auf diesem Gebiet ein großer Sachverständiger war, Nastasja Filippownas ganze Erziehung ab, aber leider kamen statt dessen ganz sonderbare Resultate zutage. Trotzdem jedoch lagen in Nastasja Filippownas Wesen noch manche Eigenschaften, die mitunter sogar Afanassij Iwanowitsch selbst durch ihre ungewöhnliche, reizvolle Originalität und ihre urwüchsige Kraft anzogen und ihn bisweilen auch jetzt noch entzückten, wo schon all seine früheren Spekulationen auf Nastasja Filippowna zusammengestürzt waren.

Dem Fürsten öffnete ein Mädchen (Nastasja Filippowna hielt sich stets nur weibliche Dienerschaft) und hörte zu seiner Verwunderung seine Bitte, ihn zu melden, ohne jedes Erstaunen an. Weder seine schmutzigen Stiefel noch sein breitkrempiger Hut, noch sein ärmelloser Mantel, noch seine verlegene Miene machten sie auch nur im geringsten stutzig. Sie nahm ihm den Mantel ab, forderte ihn auf, im Empfangszimmer zu warten, und ging sogleich, um ihn zu melden.

Die Gesellschaft, die sich bei Nastasja Filippowna versammelt hatte, bestand aus ihren ständigen Bekannten, die immer bei ihr verkehrten. Es waren sogar nur ziemlich wenige Gäste anwesend im Vergleich mit den Veranstaltungen, die in früheren Jahren an demselben Tage stattgefunden hatten. Erschienen waren erstens und als Hauptpersonen Afanassij Iwanowitsch Tozkij und Iwan Fjodorowitsch Jepantschin; beide benahmen sich sehr liebenswürdig, aber beide befanden sich in einer gewissen geheimen Unruhe durch die nur schlecht verhehlte Spannung auf die versprochene Entscheidung über Ganja. Außer ihnen war selbstverständlich auch Ganja da – sehr düster, nachdenklich und höchst »unliebenswürdig«; er stand meist in einiger Entfernung abseits und schwieg. Was Warja anlangt, so hatte er sich dafür entschieden, sie lieber nicht mitzubringen, aber Nastasja Filippowna tat ihrer gar nicht Erwähnung; dagegen fing sie unmittelbar nach Ganjas Begrüßung an, von der Szene zu sprechen, die er vorher mit dem Fürsten gehabt hatte. Der General, der noch nichts davon gehört hatte, interessierte sich sehr dafür. Ganja erzählte in trockenem, ruhigem Ton, aber vollkommen wahrheitsgemäß alles, was sich vor kurzem begeben hatte, und daß er bereits zum Fürsten hingegangen sei, um ihn um Verzeihung zu bitten. Dabei sprach er mit großer Lebhaftigkeit seine Meinung dahin aus, wenn man den Fürsten einen Idioten nenne, so sei das sehr sonderbar und ein Grund dafür unerfindlich; er sei vollständig entgegengesetzter Ansicht und halte ihn für einen sehr selbständig denkenden Menschen. Nastasja Filippowna hörte diese Äußerung mit großer Aufmerksamkeit an und verfolgte neugierig Ganjas Mienenspiel, aber das Gespräch ging sogleich auf Rogoshin über, der bei den Vorgängen des Vormittags so stark beteiligt gewesen war und für den Afanassij Iwanowitsch und Iwan Fjodorowitsch sich gleichfalls äußerst lebhaft zu interessieren begannen. Besondere Mitteilungen über Rogoshin zu machen, war, wie sich herausstellte, Ptizyn in der Lage, der sich in dessen geschäftlichen Angelegenheiten mit ihm fast bis neun Uhr abends abgemüht hatte. Rogoshin hatte mit aller Energie darauf bestanden, noch heute hunderttausend Rubel zu bekommen. »Er war allerdings betrunken«, bemerkte Ptizyn dabei, »aber trotz aller Schwierigkeiten werden die hunderttausend Rubel wohl für ihn beschafft werden, nur weiß ich nicht, ob heute noch ganz, aber es arbeiten viele daran, Trepalow, Kinder, Biskup; Prozente gibt er, soviel einer verlangt, natürlich alles in seiner Trunkenheit und in der ersten Freude…«, schloß Ptizyn.

Alle diese Mitteilungen wurden mit Interesse entgegengenommen, zum Teil allerdings mit düsterem Interesse; Nastasja Filippowna schwieg und wünschte offenbar nicht, sich zu äußern; auch Ganja redete nicht. General Jepantschin beunruhigte sich im stillen nicht weniger als die andern; der Perlenschmuck, den er schon am Vormittag überreicht hatte, war mit sehr kühler Freundlichkeit und sogar mit einem eigentümlichen Lächeln in Empfang genommen worden. Ferdyschtschenko war von allen Gästen der einzige, der sich in heiterer, festtäglicher Stimmung befand; er lachte manchmal laut ohne sichtbaren Grund, lediglich weil er die Rolle des Spaßmachers übernommen hatte. Afanassij Iwanowitsch selbst, der für einen geistreichen, eleganten Plauderer galt und in früherer Zeit bei diesen Abendgesellschaften gewöhnlich das Gespräch geleitet hatte, befand sich offenbar nicht in der rechten Stimmung und sogar in einer ihm sonst fremden Verwirrung. Die andern Gäste, die übrigens wenig zahlreich waren (ein jämmerlicher, alter Lehrer, der Gott weiß weshalb eingeladen war, ein unbekannter, sehr jugendlicher Mensch, der furchtbar schüchtern war und die ganze Zeit über schwieg, eine gewandte, etwa vierzigjährige Dame, Schauspielerin, und eine außerordentlich hübsche, sehr schön und luxuriös gekleidete und überaus stille junge Frau), vermochten das Gespräch nicht sonderlich zu beleben, ja, sie wußten manchmal gar nicht, wovon sie sprechen sollten.

Unter diesen Umständen kam das Erscheinen des Fürsten sogar sehr gelegen. Die Meldung von seiner Ankunft rief einige Verwunderung und ein eigentümliches Lächeln hervor, namentlich als die Gäste an Nastasja Filippownas erstauntem Gesicht merkten, daß es ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen war, ihn einzuladen. Aber nach diesem ersten Erstaunen bekundete Nastasja Filippowna auf einmal eine solche Freude, daß die Mehrzahl der Anwesenden sich sogleich anschickte, den unerwarteten Gast mit Lachen und Heiterkeit zu empfangen.

»Er tut das allerdings aus Naivität«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, »und es ist jedenfalls nicht ungefährlich, solche Neigungen zu ermutigen; aber im gegenwärtigen Augenblick ist es wirklich nicht übel, daß er auf den Einfall gekommen ist, hier zu erscheinen, wenn auch in so origineller Manier. Er wird vielleicht zu unserer Erheiterung beitragen, soweit ich wenigstens über ihn urteilen kann.«

»Das muß er um so mehr, als er sich eingedrängt hat!« fügte Ferdyschtschenko rasch hinzu.

»Was soll das heißen?« fragte trocken der General, der Ferdyschtschenko nicht leiden konnte.

»Er muß eben Eintrittsgeld bezahlen«, erwiderte dieser erläuternd.

»Nun, Fürst Myschkin ist denn doch: kein Ferdyschtschenko«, konnte sich der General nicht enthalten zu entgegnen. Er konnte sich immer noch nicht darein finden, daß er sich mit Ferdyschtschenko in ein und derselben Gesellschaft befinden und mit ihm auf gleichem Fuße verkehren sollte.

»Ei, ei, General, vergreifen Sie sich nicht an Ferdyschtschenko«, antwortete dieser schmunzelnd. »Ich habe hier meine besonderen Privilegien.«

»Was für Privilegien?«

»Ich hatte das vorige Mal die Ehre, es der Gesellschaft ausführlich auseinanderzusetzen, und will es jetzt für Euer Exzellenz noch einmal wiederholen. Wollen Euer Exzellenz folgendes erwägen: alle Menschen sind geistreich, nur ich besitze diese Eigenschaft nicht. Zum Ausgleich habe ich mir die Erlaubnis erwirkt, die Wahrheit sagen zu dürfen, da allen bekannt ist, daß die Wahrheit nur Leute sagen, denen es an Geist mangelt. Außerdem bin ich ein sehr rachsüchtiger Mensch, und zwar wieder eben deswegen, weil ich nicht geistreich bin. Ich ertrage demütig jede Beleidigung, aber nur so lange, bis es meinem Beleidiger einmal schiefgeht; sowie das eintritt, erinnere ich mich sofort an die Beleidigung und räche mich irgendwie, ich schlage aus, wie Iwan Petrowitsch Ptizyn einmal von mir sagte, der natürlich für seine Person nie gegen jemand ausschlägt. Kennen Euer Exzellenz die Krylowsche Fabel ›Der Löwe und der Esel‹? Na, die paßt auf uns beide, auf Sie und mich, die ist auf uns zugeschnitten.«

»Sie sind wohl wieder einmal ins Faseln gekommen, Ferdyschtschenko!« brauste der General auf.

»Aber was haben Sie denn, Exzellenz?« erwiderte Ferdyschtschenko, der darauf gerechnet hatte, ein Wortgefecht herbeizuführen und weiterzusalbadern. »Beunruhigen Sie sich nicht, Exzellenz, ich kenne meinen Platz: wenn ich sagte, daß Sie und ich der Löwe und der Esel aus der Krylowschen Fabel seien, so übernehme ich natürlich die Rolle des Esels und Euer Exzellenz die des Löwen, wie es ja auch in der Krylowschen Fabel heißt:

›Der mächt’ge Leu, der einst die Wälder
Erschreckte, war nun altersschwach.‹

Ich aber, Exzellenz, bin der Esel.«

»Mit letzterem bin ich einverstanden«, platzte der General heraus.

Alles, was Ferdyschtschenko da sagte, war ja plump, absichtlich plump, aber es war nun einmal üblich geworden, daß man Ferdyschtschenko die Rolle eines Clowns spielen ließ.

»Nur deshalb verstattet man mir ja hier den Zutritt und duldet mich«, hatte Ferdyschtschenko einmal erklärt, »damit ich in diesem Ton rede. In der Tat, könnte man sonst einen Menschen meiner Art empfangen? Ich begreife ja das alles. Na, kann man etwa mich, den armseligen Ferdyschtschenko, neben einen so feinen Gentleman wie Afanassij Iwanowitsch setzen? Wenn man es doch tut, so gibt es dafür nur eine Erklärung: man tut es eben deshalb, weil es undenkbar ist.«

Aber wenn er auch gewöhnlich plump war, so war er doch auch oft bissig, und manchmal sogar in hohem Grade, und das war es, woran Nastasja Filippowna Gefallen zu finden schien. Wer bei ihr zu verkehren wünschte, dem blieb nichts anderes übrig, als diesen Ferdyschtschenko zu ertragen. Er hatte vielleicht wirklich die volle Wahrheit erraten, als er die Vermutung aussprach, daß sie ihn deswegen empfange, weil er gleich bei seiner ersten Anwesenheit auf Tozkij einen unerträglichen Eindruck gemacht hatte. Ganja seinerseits mußte sich von ihm ein endlose Reihe von Martern gefallen lassen, und in dieser Hinsicht wußte sich Ferdyschtschenko seiner Gönnerin sehr nützlich zu machen.

»Zuerst werde ich vom Fürsten verlangen, daß er uns ein modernes Lied vorsingt«, bemerkte Ferdyschtschenko und paßte auf, was Nastasja Filippowna dazu sagen würde.

»Ich glaube nicht, daß er das tun wird, Ferdyschtschenko, und möchte Sie bitten, sich nicht zu sehr ins Zeug zu legen.«

»Ah, ah! Nun, wenn er unter Ihrem besonderen Schutz steht, dann werde auch ich mich erweichen lassen…«

Aber Nastasja Filippowna stand, ohne hinzuhören, auf und ging selbst dem Fürsten entgegen.

»Ich habe bedauert«, sagte sie, plötzlich vor ihn hintretend, »daß ich vorhin in der Eile vergessen habe, Sie einzuladen, und ich freue mich sehr, daß Sie mir jetzt selbst die Gelegenheit geben, Ihr entschlossenes Verhalten zu loben und Ihnen zu danken.«

Während sie das sagte, blickte sie den Fürsten forschend an, bemüht, über den Grund seines Kommens Klarheit zu erlangen.

Der Fürst hätte auf ihre freundlichen Worte vielleicht etwas erwidert, aber er war dermaßen von ihrer Erscheinung überrascht und geblendet, daß er kein Wort herausbringen konnte. Nastasja Filippowna bemerkte dies mit Vergnügen. Sie war an diesem Abend in großer Toilette und machte einen außerordentlich starken Eindruck. Sie ergriff ihn bei der Hand und führte ihn zu den Gästen. Unmittelbar vor dem Eingang in den Salon blieb der Fürst plötzlich stehen und flüsterte ihr in großer Erregung hastig zu:

»An Ihnen ist alles vollkommen… sogar Ihre Abgezehrtheit und Blässe… man möchte Sie sich gar nicht anders vorstellen… Ich hatte ein so starkes Verlangen, zu Ihnen zu gehen… ich … verzeihen Sie mir…«

»Bitten Sie nicht um Verzeihung«, erwiderte lachend Nastasja Filippowna, »dadurch wird Ihre ganze Sonderbarkeit und Originalität zerstört. Und es wird doch mit Recht über Sie gesagt, daß Sie ein sonderbarer Mensch seien. Also Sie halten mich für vollkommen, ja?«

»Ja.«

»Sie sind zwar sonst ein Meister im Erraten, aber hier haben Sie sich geirrt. Ich werde Sie noch heute daran erinnern.«

Sie stellte den Fürsten den Gästen vor, von denen er der größeren Hälfte bereits bekannt war. Tozkij sagte ihm sogleich eine Liebenswürdigkeit. Alle schienen etwas lebendiger zu werden, alle begannen auf einmal zu reden und zu lachen. Nastasja Filippowna wies dem Fürsten einen Platz an ihrer Seite zu.

»Aber was ist denn eigentlich an dem Erscheinen des Fürsten so Verwunderliches?« überschrie Ferdyschtschenko alle. »Die Sache ist doch klar, die Sache spricht für sich selbst!«

»Die Sache ist nur zu klar und spricht nur zu sehr für sich selbst!« sagte auf einmal Ganja, der bisher geschwiegen hatte. »Ich habe den Fürsten bis heute fast ununterbrochen beobachtet, von dem Augenblick an, als er in Iwan Fjodorowitschs Wohnung zum erstenmal Nastasja Filippownas Bild auf dem Tische liegen sah. Ich erinnere mich sehr genau, daß mir gleich damals ein Gedanke an das kam, was mir jetzt zur vollen Überzeugung geworden ist, und was mir, beiläufig gesagt, der Fürst selbst gestanden hat!«

Ganja hatte das alles sehr ernst, ohne die geringste Spur von Scherzhaftigkeit, ja mit finsterer Miene gesagt, was einen ziemlich seltsamen Eindruck machte.

»Ich habe Ihnen keine Geständnisse gemacht«, antwortete der Fürst errötend, »ich habe nur eine Frage beantwortet, die Sie an mich richteten.«

»Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko. »Das ist wenigstens aufrichtig gesprochen, aufrichtig und zugleich schlau!«

Alle lachten laut.

»Schreien Sie doch nicht so, Ferdyschtschenko«, sagte Ptizyn mit gedämpfter Stimme unwillig zu ihm.

»Solche Bravourstücke hätte ich wahrhaftig nicht von Ihnen erwartet, Fürst«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch. »Zu welcher Menschenklasse muß man Sie danach rechnen? Und ich hatte Sie für einen Philosophen gehalten! Ja, ja, die stillen Wässerchen!«

»Und daraus, daß der Fürst bei einem harmlosen Scherz rot wird wie ein unschuldiges junges Mädchen, schließe ich, daß er als ein ehrenwerter Jüngling in seinem Herzen die löblichsten Absichten hegt«, sagte, oder richtiger lispelte auf einmal ganz unerwartet der zahnlose siebzigjährige Lehrer, der bis dahin vollständig stumm gewesen war und von dem niemand hatte erwarten können, daß er im Laufe des Abends überhaupt ein Wort reden würde.

Alle lachten nur noch mehr. Der Alte, der wahrscheinlich glaubte, man lache über seine geistreiche Bemerkung, begann, alle ansehend, noch stärker als sie zu lachen, wobei er in ein heftiges Husten hineingeriet, so daß Nastasja Filippowna, die wunderlicherweise für all solche originellen Greise, Greisinnen und selbst Narren eine besondere Schwäche hatte, sogleich anfing, ihn zu liebkosen und zu küssen, und ihm noch Tee reichen ließ. Von der eintretenden Dienerin ließ sie sich eine Mantille bringen, in die sie sich einhüllte; auch gab sie Befehl, noch Holz im Kamin nachzulegen. Auf die Frage, wie spät es sei, antwortete die Dienerin, es sei schon halb elf.

»Meine Herren, wollen Sie nicht Champagner trinken?« schlug Nastasja Filippowna plötzlich vor. »Ich habe alles vorbereiten lassen. Vielleicht wird Sie das lustiger machen. Bitte, ohne sich zu genieren!«

Die Einladung zu trinken, und namentlich in so naiven Ausdrücken, machte sich von Nastasja Filippownas Seite recht sonderbar. Alle kannten die strenge Etikette, die auf ihren früheren Abendgesellschaften geherrscht hatte. Überhaupt gestaltete sich dieser Abend lustiger, aber in ungewöhnlicher Weise. Die Aufforderung zum Champagnertrinken lehnten die Gäste nicht ab; zuerst nahm sie der General an, dann die gewandte Dame, der alte Lehrer, Ferdyschtschenko, danach alle andern. Auch Tozkij griff nach einem Glase, in der Hoffnung, dem neuen Ton, der jetzt angeschlagen war, eine gewisse harmonische Färbung zu verleihen, indem er ihm nach Möglichkeit den Charakter eines liebenswürdigen Scherzes gab. Ganja war der einzige, der nichts trank. Aus den sonderbaren, mitunter sehr scharfen und hastigen Ausfällen Nastasja Filippownas, die sich ebenfalls Wein geben ließ und erklärte, sie werde an diesem Abend drei große Gläser voll trinken, und aus ihrem hysterischen, grundlosen Lachen, das dann plötzlich mit Schweigsamkeit und sogar mit düsterer Nachdenklichkeit wechselte, aus alledem war schwer klug zu werden. Manche vermuteten, sie hätte Fieber; schließlich merkte man, daß sie anscheinend auf etwas wartete, oft nach der Uhr sah und ungeduldig und zerstreut wurde.

»Sie scheinen ein bißchen zu fiebern?« fragte die gewandte Dame.

»Nicht ein bißchen, sondern recht stark; darum habe ich mich auch in die Mantille gewickelt«, antwortete Nastasja Filippowna, die tatsächlich blasser geworden war und ab und zu ein heftiges Zittern in ihrem Körper zu unterdrücken schien.

Alle Gäste gerieten in Unruhe und Bewegung.

»Sollten wir nicht unserer Wirtin Ruhe gönnen?« sagte Tozkij, indem er Iwan Fjodorowitsch ansah.

»Durchaus nicht, meine Herrschaften! Ich bitte Sie dringend, sitzenzubleiben. Ihre Anwesenheit ist besonders heute für mich notwendig«, erklärte Nastasja Filippowna nachdrücklich und bedeutsam. Und da fast alle Gäste schon wußten, daß an diesem Abend eine sehr bedeutsame Entscheidung fallen sollte, so erschienen diese Worte besonders schwerwiegend. Der General und Tozkij wechselten wieder einen Blick miteinander. Ganja machte krampfhafte Bewegungen.

»Es wäre ganz nett, wenn wir ein Gesellschaftsspiel spielten«, sagte die gewandte Dame.

»Ich kenne ein prachtvolles, neues Gesellschaftsspiel«, erklärte Ferdyschtschenko. »Ich weiß nur von einem Fall, wo es auf der Welt gespielt wurde, und auch da gelang es nicht.«

»Was ist das für ein Spiel?« fragte die gewandte Dame.

»Wir waren einmal in einer Gesellschaft zusammen, nun, und wir hatten ein bißchen getrunken, das ist richtig, und da machte einer den Vorschlag, es sollte jeder von uns, ohne vom Tisch aufzustehen, laut etwas von sich erzählen, aber etwas, was er selbst nach bestem Wissen und Gewissen für die schlechteste Handlung von allen schlechten Handlungen halte, die er im Laufe seines ganzen Lebens begangen habe; aber Vorschrift solle dabei sein, daß wahrheitsgemäß erzählt werden müsse, das war die Hauptsache, jeder sollte wahrheitsgemäß erzählen und nicht lügen.«

»Eine sonderbare Idee«, sagte der General.

»Sehr sonderbar allerdings, Exzellenz, aber eben darum gut.«

»Ein komischer Gedanke«, meinte Tozkij, »der übrigens begreiflich ist: es steckt eine eigenartige Prahlsucht dahinter.«

»Vielleicht war gerade das die Absicht, Afanassij Iwanowitsch.«

»Aber bei einem solchen Gesellschaftsspiel muß man ja weinen und nicht lachen«, bemerkte die gewandte Dame.

»Eine ganz unmögliche, absurde Sache!« rief Ptizyn.

»Und ist es gelungen?« fragte Nastasja Filippowna.

»Das ist es ja eben, daß es nicht gelang; die Geschichte wurde schließlich widerwärtig. Jeder erzählte wirklich etwas, viele die Wahrheit, und denken Sie sich: manche erzählten sogar mit Vergnügen. Aber dann fing ein jeder an, sich zu schämen, und das Spiel konnte nicht weiter durchgeführt werden! Im ganzen war es übrigens recht vergnüglich, das heißt in seiner Art.«

»Nein, wirklich, das wäre schön!« bemerkte Nastasja Filippowna, die auf einmal ganz lebendig wurde. »Das sollten wir wirklich probieren, meine Herrschaften! Wir scheinen in der Tat nicht in besonders heiterer Stimmung zu sein. Wenn jeder von uns damit einverstanden wäre, etwas zu erzählen … etwas in dieser Art … selbstverständlich nur, wenn er einverstanden ist… jeder muß freie Hand haben, nicht wahr? Vielleicht können wir es durchführen. Wenigstens ist es sehr originell.«

»Ja, es ist ein genialer Gedanke!« fügte Ferdyschtschenko bekräftigend hinzu. »Die Damen sind übrigens dispensiert, die Herren machen den Anfang; die Ordnung wird durch das Los bestimmt, wie wir es auch damals machten! Wir wollen es unbedingt tun, unbedingt! Wer absolut nicht will, braucht natürlich nicht zu erzählen, aber dazu müßte schon einer besonders unliebenswürdig sein! Geben Sie Ihre Lose her, meine Herren, hierher, mir; legen Sie sie in meinen Hut, der Fürst wird sie ziehen. Es ist eine ganz leichte Aufgabe, die schlechteste Handlung aus seinem ganzen Leben zu erzählen – das ist sehr leicht, meine Herren! Nun, Sie werden selbst sehen! Wenn aber jemand etwas vergessen sollte, so werde ich sogleich seinem Gedächtnis zu Hilfe kommen.«

Die Idee war höchst sonderbar und gefiel fast niemandem. Die einen machten finstere Gesichter, die anderen lächelten schlau. Manche erhoben Einwendungen, wenn auch nicht sehr energisch, so zum Beispiel Iwan Fjodorowitsch, der Nastasja Filippowna nicht hinderlich sein mochte und bemerkte, wie sehr dieser sonderbare Einfall, vielleicht eben deswegen, weil er sonderbar und beinah undurchführbar war, sie reizte. Wenn Nastasja Filippowna sich einmal entschlossen hatte, ihre Wünsche auszusprechen, so ließ sie sich auch nicht mehr zurückhalten und kannte keine Rücksichten, mochten auch diese Wünsche noch so kapriziös und für sie selbst ganz nutzlos sein. Und jetzt befand sie sich in einer Art von hysterischem Zustand, sie entwickelte eine unruhige Geschäftigkeit und lachte krampfhaft und in einzelnen Anfällen, namentlich bei den Einwendungen des beunruhigten Tozkij. Ihre dunklen Augen blitzten, auf ihren blassen Wangen traten zwei rote Flecken hervor. Der bedrückte, mürrische Gesichtsausdruck mancher ihrer Gäste steigerte ihren spottlustigen Wunsch vielleicht noch mehr; vielleicht gefiel ihr gerade der Zynismus und die Grausamkeit, die in dieser Idee lagen. Manche waren sogar überzeugt, daß sie da einen besonderen Zweck verfolge. Indessen begannen die Gäste sich einverstanden zu erklären: jedenfalls war die Sache interessant und für viele sogar sehr verlockend. Am eifrigsten von allen zeigte sich Ferdyschtschenko.

»Aber wenn nun etwas von der Art ist, daß man es in Damengesellschaft unmöglich erzählen kann?« bemerkte der schweigsame Jüngling schüchtern.

»Dann erzählen Sie es nicht! Als ob es nicht auch ohne das genug schlechte Handlungen gäbe!« erwiderte Ferdyschtschenko. »Ei, ei, Sie junger Mann!«

»Aber ich weiß gar nicht, welche meiner Handlungen ich für die schlechteste halten soll«, warf die gewandte Dame ein.

»Die Damen sind von der Pflicht zu erzählen dispensiert«, wiederholte Ferdyschtschenko, »aber eben nur dispensiert: wenn sie sich aus freien Stücken dazu bereit finden, so wird das mit dankbarer Anerkennung aufgenommen. Die Herren aber werden nur dispensiert, wenn sie durchaus nicht wollen.«

»Aber wie soll ich da beweisen, daß ich nicht lüge?« fragte Ganja. »Wenn ich aber lüge, so verliert das ganze Spiel seinen Sinn. Und wer wird denn nicht lügen? Jeder wird es unfehlbar tun.«

»Aber auch das ist schon reizvoll, zu sehen, wie jemand dann lügt. Und was dich betrifft, Ganja, so brauchst du dich vor dem Lügen nicht besonders zu fürchten, da deine schlechteste Handlung sowieso schon allen bekannt ist. Und denken Sie nur, meine Herrschaften«, rief Ferdyschtschenko ganz enthusiastisch, »denken Sie nur, mit was für Augen wir nachher einander ansehen werden, zum Beispiel morgen, nach diesen Erzählungen!«

»Aber ist’s möglich? Soll denn das wirklich Ernst sein, Nastasja Filippowna?« fragte Tozkij würdevoll.

»Wer sich vor dem Wolf fürchtet, soll nicht in den Wald gehen!« versetzte Nastasja Filippowna lächelnd.

»Aber erlauben Sie, Herr Ferdyschtschenko, wie kann man denn daraus ein Gesellschaftsspiel machen?« fuhr Tozkij, der immer unruhiger wurde, fort. »Ich versichere Ihnen, daß solche Dinge nie gelingen; Sie sagen ja selbst, daß es schon einmal mißglückt ist.«

»Wieso mißglückt? Ich habe das vorige Mal erzählt, wie ich drei Rubel gestohlen habe, das habe ich ganz einfach und ohne weiteres erzählt!«

»Wenn auch. Aber Sie konnten es doch unmöglich so erzählen, daß es wahrscheinlich klang und man es Ihnen glaubte. Und Gawrila Ardalionowitsch hat ganz richtig bemerkt, daß das Spiel jeden Sinn verliert, sobald man der Erzählung anzumerken glaubt, daß sie nicht wahr ist. Die Wahrheit wird dabei nur dann gesagt werden, wenn sich jemand zufällig in einer eigenartigen, unfeinen, prahlerischen Stimmung befindet, einer Stimmung, die hier undenkbar ist und durchaus unpassend sein würde.«

»Aber was sind Sie für ein feinfühliger Mensch, Afanassij Iwanowitsch! Sie setzen mich geradezu in Erstaunen!« rief Ferdyschtschenko. »Denken Sie nur, meine Herrschaften, durch seine Bemerkung, ich hätte von meinem Diebstahl nicht so erzählen können, daß es glaubhaft geklungen habe, deutet Afanassij Iwanowitsch auf die feinste Weise an, daß ich auch tatsächlich nicht imstande gewesen sei, den Diebstahl auszuführen (denn das so geradeheraus zu sagen, wäre unpassend), obwohl er vielleicht im stillen ganz davon überzeugt ist, daß Ferdyschtschenko es sehr wohl habe fertigbringen können zu stehlen! Aber zur Sache, meine Herren, zur Sache, die Lose sind eingesammelt, und auch Sie, Afanassij Iwanowitsch, haben das Ihrige hineingelegt, also schließt sich niemand aus. Nun nehmen Sie die Ziehung vor, Fürst!«

Der Fürst fuhr schweigend mit der Hand in den Hut und zog die Lose heraus, als erstes das Ferdyschtschenkos, als zweites das Ptizyns, als drittes das des Generals, als viertes das Afanassij Iwanowitschs, als fünftes das seinige, als sechstes das Ganjas und so weiter. Die Damen hatten keine Lose hineingelegt.

»O Gott, welches Unglück!« rief Ferdyschtschenko. »Und ich hatte gedacht, zuerst würde der Fürst drankommen und dann der General! Aber Gott sei Dank, wenigstens kommt Iwan Petrowitsch nach mir, da werde ich für meine Offenherzigkeit entschädigt werden. Nun, meine Herren, ich bin natürlich verpflichtet, ein gutes Beispiel zu geben, aber am meisten bedaure ich in diesem Augenblick, daß ich ein so unbedeutender Mensch bin und nichts Bemerkenswertes an mir habe; selbst meine dienstliche Rangstellung ist eine ganz niedrige; was für ein Interesse kann es denn erwecken, daß Ferdyschtschenko eine häßliche Handlung begangen hat? Und welches ist denn meine schlechteste Handlung? Da liegt ein vor. Soll ich etwa wieder von demselben Diebstahl erzählen, um Afanassij Iwanowitsch davon zu überzeugen, daß man stehlen kann, ohne eigentlich ein Dieb zu sein?…«

»Sie überzeugen mich auch davon, Herr Ferdyschtschenko, daß man tatsächlich ein bis zur Berauschtheit gehendes Vergnügen empfinden kann, wenn man von seinen unsauberen Handlungen erzählt, obwohl man nicht danach gefragt ist… Übrigens aber… Verzeihen Sie, Herr Ferdyschtschenko!«

»Fangen Sie an, Ferdyschtschenko! Sie schwatzen schrecklich viel unnützes Zeug und werden nie zu Ende kommen!« befahl Nastasja Filippowna gereizt und ungeduldig.

Alle bemerkten, daß sie nach ihrem anfallartigen Lachen von vorhin plötzlich geradezu düster, mürrisch und reizbar geworden war, aber nichtsdestoweniger bestand sie hartnäckig und despotisch darauf, daß ihrer absurden Laune gehorcht werde. Afanassij Iwanowitsch litt furchtbare Qualen. Er war auch auf Iwan Fjodorowitsch wütend, der, als wäre nichts geschehen, beim Champagner saß und vielleicht sogar etwas zu erzählen beabsichtigte, wenn er an die Reihe kam.

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Kapitel 14

XIV

»Ich bin eben nicht geistreich, Nastasja Filippowna, daher schwatze ich unnützes Zeug!« rief Ferdyschtschenko und schickte sich an zu erzählen. »Wäre ich so geistreich wie Afanassij Iwanowitsch oder Iwan Petrowitsch, so würde ich heute wie diese beiden Herren schweigend dasitzen. Gestatten Sie eine Frage, Fürst: wie denken Sie darüber? Ich bin der Meinung, daß es auf der Welt weit mehr Diebe gibt als Leute, die keine Diebe sind, und daß es keinen so ehrenhaften Menschen gibt, der nicht wenigstens einmal in seinem Leben etwas gestohlen hätte. Das ist meine Anschauung, aus der ich übrigens keineswegs den Schluß ziehe, daß alle ohne Ausnahme Diebe sind, obwohl ich wirklich manchmal die größte Lust hätte, das daraus zu folgern. Wie denken Sie darüber?«

»Pfui, wie dumm Sie reden«, rief Darja Alexejewna, »und was ist das für Unsinn! Es ist undenkbar, daß alle Menschen etwas gestohlen haben sollten; ich habe nie etwas gestohlen.«

»Sie haben nie etwas gestohlen, Darja Alexejewna, aber was wird der Fürst sagen, der auf einmal ganz rot geworden ist?«

»Es scheint mir, daß Sie recht haben, aber stark übertreiben«, versetzte der Fürst, der tatsächlich aus nicht recht ersichtlichem Grunde errötet war.

»Und Sie selbst, Fürst, haben nichts gestohlen?«

»Pfui, wie lächerlich das alles ist! Bedenken Sie, Herr Ferdyschtschenko, was Sie da reden!« mischte sich der General ein.

»Die Sache ist einfach die: nun es soweit ist, schämen Sie sich zu erzählen, und darum wollen Sie den Fürsten mit sich zusammenkuppeln, um so mehr, als er so dienstfertig ist«, schalt Darja Alexejewna.

»Ferdyschtschenko, entweder erzählen Sie, oder schweigen Sie, und beschränken Sie Ihre Menschenkenntnis auf Ihre eigene Person! Sie erschöpfen die größte Geduld«, sagte Nastasja Filippowna in scharfem, ärgerlichem Ton.

»Sofort, Nastasja Filippowna! Wenn sogar der Fürst es eingestanden hat (denn ich bleibe dabei: der Fürst hat es so noch später verspürt. Ein zweites Mal würde ich das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wieder tun; Sie können mir das glauben oder nicht, ganz wie Sie wollen, ich habe kein Interesse daran. Na, das ist die ganze Geschichte.«

»Aber das ist gewiß noch nicht Ihre schlechteste Handlung«, sagte Darja Alexejewna voll Abscheu.

»Das ist eine seelische Verirrung, keine Handlung«, bemerkte Afanassij Iwanowitsch.

»Und was geschah mit dem Dienstmädchen?« fragte Nastasja Filippowna, ohne ihren hochgradigen Ekel zu verbergen.

»Das Dienstmädchen wurde natürlich gleich am andern Tag weggejagt. In jenem Hause wurde streng auf Ordnung gehalten.«

»Und Sie haben das zugelassen?«

»Na, das ist nett! Ich hätte wohl hingehen und mich angeben sollen?« kicherte Ferdyschtschenko, der übrigens durch den sehr unangenehmen Eindruck, den seine Erzählung bei allen hervorgerufen hatte, einigermaßen überrascht war.

»Wie schmutzig das ist!« rief Nastasja Filippowna.

»Pah, Sie wollen von jemand seine häßlichste Handlung hören und verlangen dabei, daß sie rein und sauber sein soll! Die häßlichen Handlungen sind immer sehr schmutzig, Nastasja Filippowna, das werden wir sofort von Iwan Petrowitsch hören. Viele solcher Handlungen glänzen ja freilich nach außen und möchten als Tugend erscheinen, weil der Betreffende eine eigene Equipage hat. Gar mancher hat eine eigene Equipage, aber mit welchen Mitteln …«

Kurz gesagt, Ferdyschtschenko vermochte sich nicht zu beherrschen und wurde plötzlich boshaft, so daß er sich vergaß und das Maß überschritt; sogar sein Gesicht verzerrte sich ganz. Wie seltsam es auch scheinen mag, so mochte er doch eine ganz andere Wirkung von seiner Erzählung erwartet haben. Solche »Verstöße« gegen den guten Ton und solche »eigenartige Prahlsucht«, wie Tozkij das genannt hatte, kamen bei ihm recht oft vor und lagen durchaus in seinem Charakter.

Nastasja Filippowna bebte ordentlich vor Zorn und blickte Ferdyschtschenko unverwandt an; dieser wurde sofort ängstlich und verstummte, ja es überlief ihn geradezu ein kalter Schauer; er merkte, daß er zu weit gegangen war.

»Wollen wir nicht lieber ganz damit aufhören?« fragte Afanassij Iwanowitsch schlau.

»Ich bin an der Reihe, aber ich mache von dem Recht auf Dispensation Gebrauch und werde nicht erzählen«, erklärte Ptizyn in entschiedenem Ton.

»Sie wollen nicht?«

»Ich kann nicht, Nastasja Filippowna, und ich halte überhaupt ein solches Gesellschaftsspiel für ein Ding der Unmöglichkeit.«

»Dann kommen ja wohl Sie dran, General«, wandte sich Nastasja Filippowna an diesen. »Sollten auch Sie sich weigern, dann wird auch aus unserem ganzen weiteren Spiel nichts werden, und das würde mir leid tun, da ich beabsichtige, zum Schluß etwas aus meinem eigenen Leben mitzuteilen, es aber erst nach Ihnen und Afanassij Iwanowitsch tun will, weil sie beide mir Mut machen müssen«, schloß sie lachend.

»Oh, wenn Sie versprechen, sich ebenfalls zu beteiligen«, rief der General eifrig, »dann bin ich bereit, Ihnen meinetwegen meine ganze Lebensgeschichte vorzutragen, aber ich muß bekennen, ich habe in der Erwartung, daß ich an die Reihe kommen würde, mir bereits ein Geschichtchen zurechtgelegt…«

»Schon allein aus der Miene Seiner Exzellenz kann man entnehmen, mit welcher Autorenfreude er sein Geschichtchen ausgearbeitet hat«, erlaubte sich der immer noch etwas verlegene Ferdyschtschenko mit boshaftem Lächeln zu bemerken.

Nastasja Filippowna warf dem General einen flüchtigen Blick zu und lächelte ebenfalls vor sich hin. Aber es war deutlich, daß ihre Verstimmung und Gereiztheit immer mehr wuchs. Afanassij Iwanowitsch bekam einen gewaltigen Schreck, als er sie eine Erzählung in Aussicht stellen hörte.

»Meine Herrschaften, wie jedem Menschen, ist es auch mir in meinem Leben vorgekommen, daß ich nicht sehr löbliche Handlungen begangen habe«, begann der General, »seltsamerweise aber halte ich selbst das kurze Geschichtchen, aber doch konnte ich mich nicht eher beruhigen, als bis ich vor etwa fünfzehn Jahren die Einrichtung traf, daß ständig zwei kranke alte Frauen auf meine Kosten im Armenhaus unterhalten und ihnen so durch anständige Verpflegung ihre letzten Tage auf dieser Erde freundlicher gestaltet werden sollten. Und ich gedenke diese Einrichtung durch Stiftung eines Kapitals zu einer dauernden zu machen. Nun also, das ist alles. Ich wiederhole, daß ich vielleicht sonst noch viel Übles in meinem Leben begangen habe, aber diese Handlung halte ich, wie ich auf mein Gewissen versichere, für die häßlichste meines ganzen Lebens.«

»Und statt der häßlichsten haben Euer Exzellenz eine der besten Handlungen Ihres Lebens erzählt; Sie haben Ferdyschtschenko geprellt!« bemerkte Ferdyschtschenko.

»Wirklich, General, ich hätte nicht gedacht, daß Sie ein so gutes Herz hätten, es ist ordentlich schade!« sagte Nastasja Filippowna in lässigem Ton.

»Schade? Wieso?« fragte der General mit freundlichem Lachen und trank nicht ohne Selbstgefälligkeit von seinem Champagner.

Aber nun war die Reihe an Afanassij Iwanowitsch, der sich ebenfalls vorbereitet hatte. Alle sahen voraus, daß er sich nicht wie Iwan Petrowitsch weigern würde, erwarteten aus gewissen Gründen seine Erzählung mit besonderer Neugier und blickten zugleich Nastasja Filippowna forschend an. In einer sehr würdevollen Weise, die durchaus zu seinem stattlichen Äußern paßte, begann Afanassij Iwanowitsch mit leiser, freundlicher Stimme eines seiner »netten Geschichtchen«. (Beiläufig sei folgendes bemerkt: er war eine ansehnliche Erscheinung, stattlich, hochgewachsen, etwas kahlköpfig, mit leicht angegrautem Haar, ziemlich wohlbeleibt, mit weichen, roten, etwas herabhängenden Backen und falschen Zähnen. Er trug bequeme, elegante Kleider und wundervolle Wäsche. Seine fleischigen, weißen Hände anzusehen, war ein Genuß. Am Zeigefinger der rechten Hand steckte ein kostbarer Brillantring.) Nastasja Filippowna betrachtete während seiner ganzen Erzählung unverwandt den Spitzenbesatz an ihrem Ärmel und zupfte daran mit zwei Fingern der linken Hand, so daß sie den Erzähler auch nicht einen Augenblick anblickte.

entbrannt. Ich weiß wirklich nicht, ob zwischen den beiden irgendein Verhältnis bestand, ich meine, ob er irgendwelche ernstlichen Hoffnungen hegen durfte. Der arme Mensch verlor fast den Verstand, um zum Ballabend für Anfissa Alexejewna Kamelien zu beschaffen. Die Gräfin Sozkaja aus Petersburg, die bei der Frau des Gouverneurs zu Besuch war, und Sofja Bespalowa wollten, wie bekannt geworden war, mit Sträußen aus weißen Kamelien kommen. Anfissa Alexejewna wünschte sich, um einen besonderen Effekt hervorzubringen, rote. Der arme Platon wurde beinah zu Tode gehetzt, wie das den Ehemännern bekanntlich so geht; er hatte ihr hoch und heilig geschworen, ihr einen Strauß zu verschaffen; aber was geschah? Am Tage vor dem Ball schnappte die Mytischtschewa, Katerina Alexandrowna, die in allen Dingen Anfissa Alexejewnas furchtbare Rivalin war und mit ihr auf höchst gespanntem Fuß lebte, ihr die Blumen weg. Natürlich folgten Weinkrämpfe, Ohnmacht. Platon war ganz zu Boden geschmettert. Man begreift: wenn Petja es auf irgendeine Weise fertigbekommen hätte, in diesem kritischen Augenblick einen Strauß zu beschaffen, so wären seine Belange dadurch natürlich sehr wesentlich gefördert worden; die Dankbarkeit einer Frau kennt in solchen Fällen keine Grenzen. Er läuft umher wie ein Besessener, aber es war eben ein Ding der Unmöglichkeit, absolut nichts zu machen! Auf einmal treffe ich ihn am Tage vor dem Geburtstag und Ball um elf Uhr abends bei Marja Petrowna Subkowa, einer Gutsnachbarin Ordynzews. Er strahlt. ›Was ist mit dir?‹ – ›Ich habe welche gefunden! Heureka!‹ – ›Na, Bruder, das setzt mich in Erstaunen! Wo denn? Wie denn?‹ – ›In Jekschaisk‹ (das war ein kleines Städtchen, zwanzig Werst entfernt, es lag nicht in unserm Kreis), ›da ist so ein bärtiger, reicher Kaufmann, namens Trepalow, der wohnt da mit seiner alten Frau, und statt der Kinder haben sie lauter Kanarienvögel. Die beiden sind große Blumenfreunde; der hat Kamelien.‹– ›Aber ich bitte dich, das ist doch eine sehr unsichere Sache; wenn er sie nun nicht hergibt?‹ – ›Ich werde auf die Knie fallen und mich vor seinen Füßen so lange umherwälzen, bis er sie mir gibt, ohne die Blumen weiche ich nicht vom Platze!‹ – ›Wann fährst du denn?‹ – ›Morgen ganz früh, um fünf

212 ihre Dankbarkeit, ihre Tränen der Dankbarkeit vorstellen! Platon, der tags zuvor noch tiefunglücklich und halbtot gewesen war, Platon schluchzte nun an meiner Brust. So geht es ja leider allen Ehemännern seit der Erschaffung… der legitimen Ehe! Ich habe nichts weiter hinzuzufügen, als daß die Aussichten des armen Petja durch diesen Vorfall völlig zerstört waren. Ich dachte anfangs, er würde mich umbringen, sowie er den Hergang erführe, und traf für die Begegnung mit ihm schon alle Vorkehrungen, aber die Sache entwickelte sich in einer Weise, die ich nicht erwartet hatte: er fällt in Ohnmacht, am Abend phantasiert er, am nächsten Morgen hohes Fieber, er heult wie ein kleines Kind, bekommt Krämpfe. Als er einen Monat darauf wiederhergestellt war, ließ er sich nach dem Kaukasus versetzen; es wurde ein richtiger Roman! Schließlich fiel er auf der Krim. Damals war noch sein Bruder Stepan Worchowskoi Kommandeur des Regiments und zeichnete sich als solcher aus. Ich muß gestehen, ich habe noch viele Jahre nachher Gewissensbisse verspürt: warum, zu welchem Zweck habe ich so schlecht an ihm gehandelt? Wenn ich damals selbst verliebt gewesen wäre! Aber so; war es einfach ein dummer Streich, um einer Dame ein bißchen den Hof zu machen, weiter nichts. Und hätte ich ihm diesen Strauß nicht weggefischt, wer weiß, der Mensch lebte vielleicht heute noch und wäre glücklich und hätte es zu etwas gebracht und wäre nie auf den Gedanken gekommen, gegen die Türken zu ziehen.«

Afanassij Iwanowitsch hörte jetzt mit derselben ruhigen Würde auf zu sprechen, mit der er seine Erzählung begonnen hatte.

Man bemerkte, daß, als Afanassij Iwanowitsch schwieg, Nastasja Filippownas Augen in einer ganz besonderen Weise zu funkeln und sogar ihre Lippen zu zittern anfingen. Alle blickten die beiden gespannt an.

»Sie haben Ferdyschtschenko geprellt! Nein, wie haben Sie mich geprellt! Das ist zu arg!« rief Ferdyschtschenko weinerlich, da er sich sagte, daß er jetzt eine Bemerkung machen könne und müsse.

»Warum verstehen Sie Ihre Sache nicht besser? Lernen Sie jetzt von klugen Leuten!« versetzte ihm Darja Alexejewna in triumphierendem Ton. Sie war eine alte, treue Freundin Tozkijs und stand immer auf seiner Seite.

»Sie haben recht, Afanassij Iwanowitsch, dieses Gesellschaftsspiel ist sehr langweilig, und wir müssen es so schnell wie möglich abbrechen«, sagte Nastasja Filippowna wegwerfend. »Ich werde nun noch selbst erzählen, was ich versprochen habe, und dann wollen wir Karten spielen.«

»Aber vorher noch vor allen Dingen die versprochene Geschichte!« stimmte ihr der General eifrig bei.

»Fürst«, wandte Nastasja Filippowna sich plötzlich in scharfem Ton an Myschkin, »meine alten Freunde hier, der General und Afanassij Iwanowitsch, wollen mich immer verheiraten. Sagen Sie mir, wie Sie darüber denken: soll ich heiraten oder nicht? Was Sie sagen, werde ich tun.«

Afanassij Iwanowitsch wurde blaß, der General erstarrte, alle rissen die Augen auf und streckten die Köpfe vor. Ganja stand wie angewurzelt auf seinem Platz.

»Mit … mit wem?« fragte der Fürst mit fast versagender Stimme.

»Mit Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin«, fuhr Nastasja Filippowna scharf, bestimmt und deutlich wie vorher fort.

Es vergingen einige Sekunden des Schweigens; es schien, daß der Fürst mit aller Anstrengung zu reden versuchte, aber kein Wort herausbekam, als lastete ein furchtbarer Druck auf seiner Brust.

»N-nein … heiraten Sie ihn nicht!« flüsterte er endlich, er konnte nur mühsam atmen.

»So soll es auch sein! Gawrila Ardalionowitsch!« wandte sie sich herrisch und gleichsam triumphierend an diesen, »haben Sie gehört, welche Entscheidung der Fürst gefällt hat? Nun, darin liegt zugleich auch meine Antwort; so soll denn diese Sache ein für allemal erledigt sein!«

»Nastasja Filippowna!« sagte Afanassij Iwanowitsch mit zitternder Stimme.

»Nastasja Filippowna!« rief auch der General in bittendem, aber erregtem Ton.

Alle waren in Bewegung und Unruhe geraten.

»Aber meine Herrschaften«, fuhr sie fort, indem sie ihre Gäste anscheinend sehr erstaunt ansah, »warum regen Sie sich denn so auf? Und was machen Sie alle für Gesichter?«

»Aber … erinnern Sie sich doch, Nastasja Filippowna«, murmelte Tozkij stotternd, »Sie haben uns doch das Versprechen gegeben … ganz freiwillig … und hätten doch auch etwas rücksichtsvoller verfahren können … Es fällt mir schwer und … gewiß, ich bin verwirrt, aber … Mit einem Worte, jetzt in diesem Augenblick und in Gegenwart … in Gegenwart so vieler Leute, und alles das so … eine so ernste Sache durch ein Gesellschaftsspiel zu entscheiden, eine Sache, bei der es um die Ehre und das Herz geht … von der so viel abhängt …«

»Ich verstehe Sie nicht, Afanassij Iwanowitsch, Sie sind wirklich ganz verwirrt. Erstens, was soll das heißen: ›in Gegenwart so vieler Leute‹? Befinden wir uns etwa nicht in einem schönen, vertrauten Kreise? Und warum sagen Sie: ›durch ein Gesellschaftsspiel‹? Ich beabsichtigte allerdings, auch meinerseits einen Beitrag zu liefern; das habe ich getan, war er etwa nicht hübsch? Und warum meinen Sie, daß es mir nicht ernst sei? Ist denn das nicht ernst? Sie haben gehört, daß ich zum Fürsten sagte: ›Was Sie sagen werden, das werde ich tun.‹ Hätte er nun ja gesagt, so hätte ich sofort meine Einwilligung gegeben, aber er hat nein gesagt, und daher habe ich mich geweigert; ist denn das etwa nicht ernst? Mein ganzes Leben hing hier an einem Haar; was kann es Ernsteres geben?«

»Aber der Fürst! Was hat der Fürst damit zu tun? Was ist denn schließlich überhaupt dieser Fürst?« murmelte der General, der kaum mehr imstande war, seinen Unwillen darüber zu verbergen, daß dem Fürsten in einer sogar kränkenden Weise eine solche Autorität zuerkannt wurde.

»Der Fürst ist für mich insofern von Wert, als er in meinem ganzen Leben der erste Mensch ist, dem ich wegen seiner aufrichtigen Ergebenheit habe Vertrauen schenken können. Er hat auf den ersten Blick an mich geglaubt, und ich glaube ihm.«

»Es bleibt mir nur übrig, Nastasja Filippowna für das außerordentliche Zartgefühl zu danken, mit dem sie mich behandelt hat«, sagte Ganja endlich; er war ganz blaß, seine Stimme zitterte, seine Lippen verzogen sich krampfhaft. »Sie hat natürlich durchaus richtig gehandelt … Aber … der Fürst … der Fürst wird dabei wohl …«

»Er wird dabei wohl nach den fünfundsiebzigtausend Rubeln trachten, nicht wahr?« unterbrach ihn Nastasja Filippowna. »Das wollten Sie doch sagen? Bestreiten Sie es nicht, das wollten Sie sicherlich sagen! Afanassij Iwanowitsch, ich vergaß hinzuzufügen: behalten Sie die fünfundsiebzigtausend Rubel, und erfahren Sie, daß ich Sie umsonst freilasse! Lassen wir es jetzt genug sein! Sie müssen doch auch endlich wieder frei atmen! Neun Jahre und drei Monate! Morgen beginnt für mich ein neues Leben, aber heute bin ich Geburtstagskind und meine eigene Herrin, zum erstenmal in meinem ganzen Leben! General, nehmen auch Sie Ihren Perlenschmuck zurück; schenken Sie ihn Ihrer Gemahlin, da ist er. Und morgen verlasse ich diese Wohnung für immer. Ich werde hier keine Abendgesellschaften mehr geben, meine Herren!«

Nach diesen Worten erhob sie sich plötzlich, wie wenn sie weggehen wollte.

»Nastasja Filippowna! Nastasja Filippowna!« ertönte es von allen Seiten. Alle waren in größter Aufregung und sprangen von ihren Plätzen auf, alle umringten sie, alle horchten mit Unruhe auf die abgerissenen, fieberhaften, leidenschaftlichen Sätze, die sie hervorstieß, alle hatten das Gefühl, daß da etwas nicht in Ordnung war, niemand vermochte daraus klug zu werden, niemand konnte die Sache begreifen. In diesem Augenblick ertönte plötzlich ein starkes, lautes Klingeln, genau wie einige Stunden vorher in Ganjas Wohnung.

»A-a-ah! Da kommt die Entscheidung! Endlich! Um halb zwölf!« rief Nastasja Filippowna. »Ich bitte Sie, Platz zu nehmen, meine Herren, das ist die Entscheidung!«

Nachdem sie das gesagt hatte, setzte sie sich selbst hin. Ein seltsames Lächeln zitterte auf ihren Lippen. Sie saß schweigend da, in fieberhafter Erwartung, und blickte nach der Tür.

»Es ist Rogoshin mit den hunderttausend Rubeln, kein Zweifel!« murmelte Ptizyn vor sich hin.

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Kapitel 10

X

Im Vorzimmer wurde es plötzlich sehr geräuschvoll und lebendig. Vom Salon aus schien es, daß von draußen mehrere Menschen hereingekommen waren und ihnen immer noch andere folgten. Mehrere Stimmen redeten und schrien zugleich; auch auf der Treppe wurde geredet und geschrien, denn die Tür, die vom Vorzimmer dorthin führte, war, wie man hören konnte, nicht wieder geschlossen worden. Es war offenbar ein höchst sonderbarer Besuch. Alle sahen einander an; Ganja eilte nach dem Wohnzimmer, aber auch in das Wohnzimmer drangen schon mehrere Menschen ein.

»Ah, da ist er ja, der Judas!« rief eine Stimme, die dem Fürsten bekannt vorkam. »Guten Tag, Ganja, du Schuft!«

»Ja, das ist er in eigener Person!« bestätigte eine andere Stimme.

Der Fürst konnte nicht daran zweifeln: die eine Stimme war die Rogoshins, die andere die Lebedews.

Ganja stand wie vor den Kopf geschlagen auf der Schwelle des Salons und sah schweigend und ohne es zu hindern zu, wie hinter Parfen Rogoshin zehn oder zwölf Menschen einer nach dem andern in das Wohnzimmer eintraten. Die Gesellschaft war sehr buntscheckig und zeichnete sich nicht nur durch ihre Buntscheckigkeit, sondern auch durch ihr seltsames Benehmen aus. Einige traten so ein, wie sie von der Straße kamen, im Überzieher und Pelz. Ganz betrunken waren diese Leute übrigens nicht; jedoch machten sie sämtlich den Eindruck, daß sie stark angeheitert waren. Sie schienen alle einer des andern zu bedürfen, um den Mut zum Eintreten zu finden; einzeln hätten sie nicht Kühnheit genug besessen, aber alle schoben sich sozusagen wechselseitig vorwärts. Selbst Rogoshin schritt nur mit großer Vorsicht an der Spitze dieses Trupps einher, aber er hatte augenscheinlich irgendeine Absicht und schien traurig, gereizt und sorgenvoll. Die übrigen bildeten nur den Chor oder, besser gesagt, die Hilfstruppe. Außer Lebedew war da auch der schön frisierte Saljoshew, der seinen Pelz im Vorzimmer abgelegt hatte und nun in gewandter, stutzerhafter Art eintrat, und zwei oder drei Herren von ähnlicher Art wie er, offenbar aus dem Kaufmannsstand, ferner einer in einem halbmilitärischen Paletot, dann ein kleiner, sehr dicker Mensch, der beständig lachte, weiter ein Herr von gewaltiger Körpergröße, der gleichfalls ungewöhnlich dick war, sehr finster aussah, sich schweigsam verhielt und offenbar große Hoffnungen auf seine Fäuste setzte. Auch ein Student der Medizin war da und ein scharwenzelnder Pole. Von der Treppe her blickten noch zwei undefinierbare Damen ins Vorzimmer herein, wagten aber nicht einzutreten; Kolja schlug ihnen die Tür vor der Nase zu und sicherte sie durch Vorlegung des Hakens.

»Guten Tag, Ganja, du Schuft! Na? Parfen Rogoshins Besuch hast du wohl nicht erwartet?« wiederholte Rogoshin, indem er zum Salon ging und in der Tür vor Ganja stehen blieb. Aber in diesem Augenblick erblickte er plötzlich im Salon, sich gerade gegenüber, Nastasja Filippowna. Es schien, daß er es sich nicht hatte träumen lassen, sie hier zu treffen, denn ihr Anblick übte auf ihn eine außerordentliche Wirkung aus: er wurde so blaß, daß sogar seine Lippen eine bläuliche Färbung annahmen. »Also ist es wahr!« sagte er mit ganz verstörtem Gesicht leise vor sich hin. »Nun ist alles zu Ende!… Aber… Das sollst du mir jetzt büßen!« fügte er zähneknirschend hinzu und blickte Ganja mit maßloser Wut an. »Oh… ach!…«

Er konnte kaum Luft holen, sogar das Reden fiel ihm schwer. Mechanisch trat er in den Salon, aber als er die Schwelle überschritt, erblickte er plötzlich Nina Alexandrowna und Warja und blieb trotz all seiner Aufregung einigermaßen verlegen stehen. Hinter ihm kam Lebedew, der ihn wie sein Schatten begleitete und schon stark betrunken war, dann der Student, der Herr mit den Fäusten, Saljoshew, der sich nach rechts und nach links verbeugte, und endlich drängte sich noch der kleine Dicke durch. Die Anwesenheit der Damen hielt sie alle noch ein wenig im Zaum und war ihnen offenbar recht störend, natürlich nur bis es losging, bis sich der erste Anlaß bot, ein Geschrei zu erheben und loszulegen… Dann würden auch irgendwelche Damen nicht mehr stören.

»Was? Du auch hier, Fürst?« sagte Rogoshin zerstreut, er war etwas verwundert, den Fürsten hier zu treffen. »Immer noch in Gamaschen!… Ach!« seufzte er, er hatte den Fürsten bereits vergessen, richtete seine Blicke wieder auf Nastasja Filippowna und rückte ihr, wie von einem Magnet angezogen, immer näher.

Nastasja Filippowna betrachtete die Ankömmlinge ebenfalls mit unruhiger Neugierde.

Endlich faßte sich Ganja. »Aber erlauben Sie, was soll denn das eigentlich bedeuten?« sagte er mit starker Stimme, indem er die Eingetretenen mit strengem Blick ansah und sich vor allem an Rogoshin wandte. »Sie sind hier nicht in einen Pferdestall hereingekommen, meine Herren, hier befinden sich meine Mutter und meine Schwester.«

»Das sehen wir, daß deine Mutter und deine Schwester da sind«, preßte Rogoshin zwischen den Zähnen hervor.

»Daß die Mutter und die Schwester da sind, das sieht man«, pflichtete ihm Lebedew bei, um sich ein Ansehen zu geben.

Der Herr mit den Fäusten, der wohl annahm, daß jetzt der richtige Augenblick gekommen sei, fing an, etwas zu brummen.

»Aber das ist doch unerhört!« rief Ganja erregt und überlaut. »Erstens ersuche ich Sie alle, dieses Zimmer zu verlassen und in das Wohnzimmer zu gehen, und dann seien Sie so freundlich, sich vorzustellen …«

»Nun sieh einer an! Er kennt mich nicht!« erwiderte Rogoshin mit boshaftem Lächeln, ohne sich vom Fleck zu rühren. »Kennst du Rogoshin nicht mehr?«

»Ich bin allerdings schon irgendwo mit Ihnen zusammengetroffen, aber …«

»Sieh mal an! Irgendwo zusammengetroffen! Ich habe ja erst vor drei Monaten zweihundert Rubel, die meinem Vater gehörten, an dich verspielt, und der Alte ist gestorben, ehe er es erfahren hat; du hast mich hingeschleppt, und Knif hat mich gerupft. Und da kennst du mich nicht? Ptizyn kann es bezeugen! Aber wenn ich jetzt drei Rubel aus der Tasche ziehe und dir zeige, dann kriechst du hinter ihnen her auf allen vieren bis zur Wassilij-Insel. So ein Subjekt bist du! So einen Charakter hast du! Ich bin auch jetzt hierhergekommen, um dich für Geld zu kaufen. Kümmere dich nicht darum, daß ich in solchen Stiefeln hereingekommen bin; ich habe Geld, lieber Freund, viel Geld, und werde dich und alles, was drum und dran ist, kaufen … Wenn ich will, kaufe ich euch alle! Alles kaufe ich!« Er war immer hitziger geworden und schien sich immer mehr in seinen Rausch hineinzusteigern.

»Ach!« schrie er. »Nastasja Filippowna! Jagen Sie mich nicht fort! Sagen Sie nur ein einziges Wörtchen: werden Sie ihn heiraten oder nicht?«

Rogoshin hatte diese Frage gestellt, als wäre er ganz wirr im Kopf und als wendete er sich an eine Gottheit, aber mit der Kühnheit eines zum Tode Verurteilten, der nichts mehr zu verlieren hat. In Todesangst wartete er auf die Antwort.

Nastasja Filippowna maß ihn mit einem spöttischen, hochmütigen Blick, aber dann sah sie nach Warja und nach Nina Alexandrowna hin, betrachtete prüfend Ganja und veränderte plötzlich ihren Ton.

»Nein, keineswegs; was haben Sie bloß? Und mit welchem Recht stellen Sie mir diese Frage?« antwortete sie leise und ernst und, wie es schien, etwas erstaunt.

»Nein? Nein?« schrie Rogoshin, vor Freude ganz außer sich. »Also nicht? Und die Leute hatten es mir gesagt! … Ach! Oh! … Nastasja Filippowna! Die Leute sagen, Sie hätten sich mit Ganja verlobt! Mit diesem Menschen? Ist das denn überhaupt möglich? Ich habe zu allen Leuten gesagt, daß das nicht möglich ist. Ich kaufe ja den ganzen Patron für hundert Rubel, und wenn ich ihm tausend Rubel, na, oder auch dreitausend Rubel dafür gebe, daß er zurücktritt, so wird er am Tage vor der Hochzeit davonlaufen und mir seine Braut überlassen. Ja, ja, so ist es, Ganja, du Schuft! Du würdest gewiß die Dreitausend nehmen! Da sind sie, da! Eben deswegen bin ich ja hergekommen, um mir von dir einen solchen schriftlichen Verzicht ausstellen zu lassen; ich habe gesagt: ›Ich will ihn kaufen!‹ und das werde ich tun!«

»Scher dich weg von hier, du bist ja betrunken!« schrie Ganja, der abwechselnd rot und blaß wurde.

Nach dieser Aufforderung ließen sich plötzlich mehrere heftige Stimmen vernehmen; Rogoshins ganzer Trupp hatte schon lange auf die erste Herausforderung gewartet. Lebedew flüsterte Rogoshin etwas mit besonderem Eifer ins Ohr.

»Da hast du recht, du Büromensch!« antwortete Rogoshin. »Da hast du recht, du Trunkenbold! Ach, wir wollen’s wagen! Nastasja Filippowna!« rief er, blickte wie ein Halbirrer rings um sich, wurde ängstlich und ging dann auf einmal wieder zu kühner Dreistigkeit über. »Da sind achtzehntausend Rubel!« Und er warf ein in weißes Papier eingewickeltes, kreuzweise zugebundenes Päckchen vor ihr auf das Tischchen. »Da! Und … es kommt noch mehr!«

Er wagte nicht zu Ende zu sprechen und zu sagen, was er wollte …

»Nein, nein, nein!« flüsterte ihm von neuem Lebedew mit ganz erschrockenem Gesicht zu. Man konnte merken, daß er über die Höhe der Summe erschrocken war und vorgeschlagen hatte, es mit einer beträchtlich geringeren zu versuchen.

»Nein, nein, darin bist du nun schon ein Dummkopf, lieber Freund; du weißt nicht, wen wir vor uns haben… und offenbar bin ich ebenso ein Dummkopf wie du!« Dies letztere fügte Rogoshin hinzu, da er unter Nastasja Filippownas funkelndem Blick zur Besinnung kam und zusammenfuhr. »Ach, ach! Ich habe Unsinn geredet, weil ich auf dich hörte«, fuhr er in tiefer Reue fort.

Als Nastasja sein bestürztes Gesicht sah, lachte sie laut auf.

»Achtzehntausend Rubel bietet er mir? Da sieht man doch gleich den Bauern!« fügte sie ungeniert und dreist hinzu und stand vom Sofa auf, als ob sie aufzubrechen beabsichtigte. Ganja beobachtete diese ganze Szene mit fast versagendem Herzschlag.

»Also vierzigtausend, vierzig, nicht achtzehn!« schrie Rogoshin. »Wanjka Ptizyn und Biskup haben versprochen, bis sieben Uhr die Vierzigtausend heranzuschaffen. Vierzigtausend! Bar auf den Tisch!«

Die Szene wurde sehr widerwärtig, aber Nastasja Filippowna, statt wegzugehen, lachte immer weiter, als ob sie sie absichtlich verlängern wollte. Nina Alexandrowna und Warja erhoben sich gleichfalls von ihren Plätzen und warteten erschrocken und schweigend, was das für einen Ausgang nehmen würde; Warjas Augen funkelten, aber auf Nina Alexandrowna übte all dies physisch eine sehr üble Wirkung aus: sie zitterte und drohte im nächsten Augenblick in Ohnmacht zu fallen.

»Nun, wenn’s nicht anders ist, dann hundert! Noch heute übergebe ich Ihnen hunderttausend Rubel! Ptizyn, sei mir behilflich, du machst dabei einen guten Profit!«

»Du bist verrückt geworden!« flüsterte ihm Ptizyn zu, der rasch zu ihm herantrat und ihn am Arm faßte. »Du bist betrunken, es wird nach der Polizei geschickt werden müssen. Wo glaubst du denn zu sein?«

»Er ist betrunken und renommiert«, sagte Nastasja Filippowna, wie um ihn zu reizen.

»Ich renommiere nicht; das Geld wird dasein, zum Abend wird es dasein … Ptizyn, sei mir behilflich, du alter Wucherer, nimm dafür, soviel du willst, aber beschaff mir zum Abend hunderttausend Rubel, ich will beweisen, daß ich nicht kneife!« rief Rogoshin verzückt und enthusiastisch.

»Aber was soll denn das eigentlich bedeuten?« rief Ardalion Alexandrowitsch auf einmal in zornigem, drohendem Ton und ging auf Rogoshin zu. Die Plötzlichkeit, mit der sich der bisher so schweigsame Alte einmischte, hatte etwas sehr Komisches, und man hörte auch wirklich Lachen.

»Wo kommt denn der her?« fragte Rogoshin lachend. »Komm mit, Alter, da sollst du dich mal toll und voll saufen!«

»Aber das ist ja eine Gemeinheit!« rief Kolja, der vor Scham und Ärger geradezu weinte.

»Ist denn kein einziger unter euch, der es fertigbringt, dieses schamlose Weib hinauszuschaffen?« rief plötzlich, zitternd vor Zorn, Warja.

»Also mich nennt man ein schamloses Weib!« entgegnete Nastasja Filippowna mit verächtlicher Heiterkeit. »Und ich, dumm wie ich bin, komme hierher, um die beiden Damen auf den Abend zu mir einzuladen! Sehen Sie, Gawrila Ardalionowitsch, wie mich Ihr Schwesterchen behandelt!«

Ein Weilchen stand Ganja infolge der heftigen Worte seiner Schwester da wie vom Blitz getroffen, aber als er sah, daß Nastasja Filippowna sich diesmal wirklich zum Fortgehen anschickte, stürzte er wie ein Rasender auf War ja zu und packte sie wütend bei der Hand.

»Was hast du getan?« schrie er und sah sie an, als ob er sie auf dem Fleck zu Asche verbrennen wollte. Er hatte vollständig die Fassung verloren und war fast von Sinnen.

»Was ich getan habe? Wohin zerrst du mich? Du verlangst doch nicht etwa, daß ich sie um Verzeihung dafür bitten soll, daß sie deine Mutter beleidigt hat und hergekommen ist, um dein Haus zu beschimpfen, du gemeiner Mensch?« rief Warja wieder und blickte ihren Bruder triumphierend und herausfordernd an.

Ein paar Sekunden lang standen sie einander so Auge in Auge gegenüber. Ganja hielt immer noch ihre Hand in der seinen. Warja suchte sich einmal und noch einmal mit aller Gewalt loszureißen, vermochte es aber nicht und spie plötzlich, ganz außer sich, dem Bruder ins Gesicht.

»Ist das ein Mädchen!« rief Nastasja Filippowna. »Bravo, Ptizyn, ich gratuliere Ihnen!«

Dem so beleidigten Ganja wurde es schwarz vor Augen, er verlor völlig die Herrschaft über sich und holte mit aller Kraft gegen seine Schwester aus. Der Schlag hätte sie sicherlich gerade ins Gesicht getroffen. Aber plötzlich wurde Ganjas Hand durch eine andere festgehalten.

Zwischen ihm und seiner Schwester stand der Fürst.

»Hören Sie auf, es ist genug!« sagte er nachdrücklich, aber am ganzen Leibe wie von einer sehr heftigen Erschütterung zitternd.

»Wirst du mir etwa immer im Wege sein?« brüllte Ganja, ließ Warjas Hand los und versetzte in sinnloser Wut mit der freigewordenen Hand dem Fürsten mit aller Kraft eine Ohrfeige.

»Ach!« schrie Kolja und schlug die Hände zusammen. »Ach, mein Gott!«

Von allen Seiten erschollen Ausrufe. Der Fürst war ganz blaß geworden. Mit einem eigenartigen, vorwurfsvollen Blick sah er Ganja gerade in die Augen; seine Lippen zitterten und strengten sich an, etwas zu sagen; ein seltsames und ganz unmotiviertes Lächeln verzerrte sie.

»Nun, wenn mir das auch widerfährt … aber sie … sie lasse ich nicht schlagen!« sagte er endlich leise.

Aber seine Empfindungen wurden doch zu mächtig; er wandte sich von Ganja weg, verbarg das Gesicht in den Händen, ging in eine Ecke, stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand und sagte mit fast versagender Stimme:

»Oh, wie werden Sie sich Ihres Benehmens schämen!«

Ganja stand in der Tat wie vernichtet da. Kolja stürzte auf den Fürsten zu, um ihn zu umarmen und zu küssen. Nach ihm drängten sich Rogoshin, Warja, Ptizyn, Nina Alexandrowna und alle andern heran, selbst der alte Ardalion Alexandrowitsch.

»Es hat nichts auf sich, es hat nichts auf sich!« murmelte der Fürst nach allen Seiten hin, immer noch mit demselben unmotivierten Lächeln.

»Und er wird es auch bereuen!« schrie Rogoshin. »Du wirst dich schämen, Ganja, daß du ein solches … Schaf« (er konnte kein anderes Wort finden) »beleidigt hast! Fürst, mein liebes Kerlchen, scher dich nicht um diese Bande, laß sie und komm mit mir! Da wirst du sehen, wie Rogoshin die Leute behandelt, die er gern hat.« Auf Nastasja Filippowna hatten Ganjas Tat und die Antwort des Fürsten ebenfalls einen tiefen Eindruck gemacht. Ihr meist blasses, nachdenkliches Gesicht, das die ganze Zeit über mit dem bisherigen gekünstelten Lachen nicht hatte harmonieren wollen, war jetzt augenscheinlich von einem neuen Gefühl erregt, jedoch wollte sie’s nicht zeigen, und der spöttische Ausdruck bemühte sich gleichsam, auf ihrem Gesicht zu verbleiben.

»Wirklich, ich habe dieses Gesicht schon irgendwo gesehen!« sagte sie dann ernst, indem sie sich an ihre frühere Frage wieder erinnerte.

»Und Sie schämen sich auch nicht! Ist denn das Ihr wahres Wesen, wie Sie sich jetzt geben? Wie wäre denn das möglich!« rief auf einmal der Fürst im Tone ernsten, starken Vorwurfs.

Nastasja Filippowna war erstaunt; sie lächelte, aber nur, als ob sie etwas dahinter zu verbergen suchte; dann richtete sie einen etwas verlegenen Blick auf Ganja und verließ den Salon. Aber sie war noch nicht ins Vorzimmer gelangt, als sie plötzlich umkehrte, schnell an Nina Alexandrowna herantrat, ihre Hand ergriff und an ihre Lippen führte.

»Ich bin ja wirklich nicht so; er hat es erraten«, flüsterte sie rasch und leidenschaftlich, und eine dunkle Röte übergoß auf einmal ihr ganzes Gesicht. Darauf kehrte sie um und ging diesmal so eilig hinaus, daß sich niemand in der Geschwindigkeit darüber klarwerden konnte, weshalb sie eigentlich zurückgekehrt war. Sie hatten nur gesehen, daß sie Nina Alexandrowna etwas zugeflüstert und ihr, wie es schien, die Hand geküßt hatte. Aber Warja hatte alles genau gesehen und gehört und verfolgte sie erstaunt mit den Augen.

Ganja kam zur Besinnung und stürzte zu Nastasja Filippowna hin, um sie hinauszubegleiten, aber sie war schon aus dem Zimmer.

Er holte sie auf der Treppe ein.

»Begleiten Sie mich nicht weiter!« rief sie ihm zu. »Auf Wiedersehen heute abend! Ich erwarte Sie bestimmt, hören Sie?«

Verwirrt und nachdenklich ging er zurück; ein schweres Rätsel lastete auf seiner Seele mit noch schwererem Druck als bisher. Auch an den Fürsten mußte er denken … Er war so in seine Gedanken vertieft, daß er kaum bemerkte, wie Rogoshins ganze Rotte, die hinter ihrem Anführer her eilig die Wohnung verließ, sich an ihm vorbeiwälzte und ihm in der Tür sogar ein paar Stöße versetzte. Alle redeten laut miteinander. Rogoshin selbst ging mit Ptizyn und besprach mit ihm eifrig eine wichtige und anscheinend unaufschiebbare Sache.

»Du hast das Spiel verloren, Ganja!« rief er ihm im Vorbeigehen zu.

Ganja sah ihnen beunruhigt nach.

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Kapitel 1

Erster Teil

I

Es war gegen Ende des November, bei Tauwetter, als sich um neun Uhr morgens ein Zug der Petersburg-Warschauer Bahn in voller Fahrt Petersburg näherte. Das Wetter war so feucht und neblig, daß das Tageslicht kaum zur Geltung kam; man konnte rechts und links von der Bahn aus den Fenstern der Wagen nur auf zehn Schritte mit Mühe etwas erkennen. Unter den Passagieren waren einige, die aus dem Ausland zurückkehrten; am meisten gefüllt waren aber die Abteile dritter Klasse, und zwar fast ausschließlich mit kleinen Geschäftsleuten, die aus nicht sehr weiter Entfernung kamen. Alle waren, wie das so zu sein pflegt, müde; allen waren während der Nacht die Augenlider schwer geworden, alle fröstelten, alle Gesichter waren gelblich, von derselben Farbe wie der Nebel.

In einem Wagen dritter Klasse saßen einander seit dem Morgengrauen dicht am Fenster zwei Passagiere gegenüber: beides junge Leute, beide fast ohne Gepäck, beide nicht elegant gekleidet, beide mit recht interessanten Gesichtern und beide von dem Wunsch erfüllt, endlich miteinander in ein Gespräch zu kommen. Wenn sie beide voneinander gewußt hätten, wodurch sie gerade in diesem Augenblick interessant waren, so hätten sie sich gewiß darüber gewundert, daß der Zufall sie so seltsam in einem Wagen dritter Klasse der Petersburg-Warschauer Eisenbahn einander gegenübergesetzt hatte. Der eine von ihnen war von kleiner Statur, etwa siebenundzwanzig Jahre alt und hatte krauses, fast schwarzes Haar und kleine, graue, aber feurige Augen. Seine Nase war breit und plattgedrückt, die Backenknochen traten stark hervor; die schmalen Lippen verzogen sich fortwährend zu einem dreisten, spöttischen dies alles genau, zum Teil weil er nichts anderes zu tun hatte, und fragte schließlich mit jenem taktlosen Lächeln, durch das manchmal in so ungenierter, geringschätziger Weise das Vergnügen der Leute über das Mißgeschick des Nächsten zum Ausdruck kommt:

»Ist Ihnen kalt?«

Er machte dabei Bewegungen mit den Schultern.

»Ja, sehr kalt«, antwortete der Reisegenosse mit großer Bereitwilligkeit, »und sehen Sie, dabei haben wir noch Tauwetter. Wie wäre es erst, wenn wir Kälte hätten? Ich hatte gar nicht gedacht, daß es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr gewohnt.«

»Sie kommen wohl aus dem Ausland?«

»Ja, aus der Schweiz.«

»Füt! Nun sehen Sie einmal an!«

Der Schwarzhaarige tat einen Pfiff und lachte.

Es kam ein Gespräch in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes in dem Schweizermantel, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Gefährten zu antworten, war erstaunlich; er merkte in seiner Harmlosigkeit offenbar gar nicht, daß manche dieser Fragen sehr geringschätzig klangen und höchst unpassend und müßig waren. Bei seinen Antworten teilte er unter anderem mit, daß er tatsächlich lange Zeit nicht in Rußland gewesen sei, über vier Jahre; man habe ihn wegen einer Krankheit ins Ausland geschickt, wegen einer eigentümlichen Nervenkrankheit nach Art der Epilepsie oder des Veitstanzes, die sich in Zuckungen und Krämpfen geäußert habe. Der schwarzhaarige junge Mann lächelte beim Zuhören einige Male, namentlich lachte er auf, als auf die Frage: »Na, sind Sie denn nun geheilt?« der Blonde erwiderte: »Nein, geheilt bin ich nicht.«

»Haha! Da haben Sie also Ihr Geld vergebens bezahlt, und wir hier schenken jenen Leuten Vertrauen!« bemerkte der Schwarzhaarige spöttisch.

»Ja, das ist durchaus richtig!« mischte sich ein danebensitzender schlecht gekleideter Herr in das Gespräch, so eine Art von geriebenem Amtsschreiber, etwa vierzig Jahre alt, kräftig gebaut, mit roter Nase und einem Gesicht voller Pickel. »Das ist durchaus richtig; sie saugen uns Russen das Mark aus, ohne selbst etwas dafür zu leisten!«

»Oh, wie Sie sich in meinem Fall irren!« erwiderte der Schweizer Patient in ruhigem, versöhnlichem Ton. »Ich kann ja allerdings nicht darüber disputieren, weil ich keinen Gesamtüberblick habe, aber mein Arzt hat mir von dem wenigen, was er besaß, noch das Geld für die Fahrt hierher gegeben, und fast zwei Jahre lang hat er mich dort aus seinen eigenen Mitteln unterhalten.«

»Wie? Hatten Sie wirklich niemand, der für Sie bezahlte?« fragte der Schwarzhaarige.

»Nein. Herr Pawlischtschew, der die Kosten meines dortigen Aufenthalts getragen hatte, ist vor zwei Jahren gestorben; ich schrieb dann hierher an die Generalin Jepantschina, eine entfernte Verwandte von mir, habe aber keine Antwort erhalten. So bin ich denn hergereist.«

»Wo gedenken Sie denn zu bleiben?«

»Sie meinen, wo ich Wohnung nehmen werde?… Das weiß ich noch nicht, wirklich nicht… es ist noch ungewiß…«

»Darüber haben Sie noch keinen Entschluß gefaßt?«

Beide Zuhörer brachen von neuem in ein Gelächter aus.

»Und dieses Bündelchen enthält wohl Ihre ganze Habe?« fragte der Schwarzhaarige.

»Ich möchte wetten, daß es so ist«, fiel mit sehr zufriedener Miene der rotnasige Beamte ein, »und daß Sie kein weiteres Gepäck im Gepäckwagen haben. Obwohl Armut keine Schande ist, wie man immer wieder bemerken muß.«

Es stellte sich heraus, daß es sich wirklich so verhielt: der blonde junge Mann gestand dies sofort mit großer Bereitwilligkeit ein.

»Ihr Bündelchen hat trotzdem einen gewissen Wert«, fuhr der Beamte, nachdem er sich satt gelacht hatte, fort (bemerkenswert war, daß auch der Eigentümer des Bündelchens selbst schließlich beim Anblick der beiden mitzulachen anfing, was deren Heiterkeit noch vergrößerte). »Man möchte zwar wetten, daß keine Rollen mit ausländischen Goldstücken, wie Napoleondors, Friedrichsdors oder holländischen Dukaten, darin sind; das kann man zum Beispiel schon aus Ihren ausländischen Gamaschen schließen, aber wenn man zu Ihrem Bündelchen noch eine solche Verwandte hinzunimmt wie die Generalin Jepantschina, dann gewinnt auch das Bündelchen gewissermaßen einen höheren Wert, selbstverständlich nur in dem Fall, wenn die Generalin Jepantschina wirklich Ihre Verwandte ist und Sie sich nicht aus Zerstreutheit irren… was einem außerordentlich leicht passieren kann… sagen wir: infolge eines Übermaßes von Phantasie.«

»Oh, Sie haben wieder das Richtige getroffen«, erwiderte der blonde junge Mensch, »denn ich befinde mich wirklich beinah in einem Irrtum, das heißt sie ist kaum meine Verwandte; ja ich habe mich tatsächlich damals gar nicht darüber gewundert, daß ich keine Antwort nach der Schweiz bekam. Ich hatte das eigentlich auch so erwartet.«

»Da haben Sie das Geld für die Frankierung des Briefes unnütz ausgegeben. Hm!… Nun, wenigstens sind Sie offenherzig und aufrichtig, und das ist löblich! Hm!… Den General Jepantschin kenne ich, im Grunde weil er eine allgemein bekannte Persönlichkeit ist, und den verstorbenen Herrn Pawlischtschew, der Sie in der Schweiz unterhalten hat, habe ich ebenfalls gekannt, vorausgesetzt, daß es sich um Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew handelt, denn es waren zwei Vettern. Der andere befindet sich noch auf der Krim. Nikolai Andrejewitsch aber, der Verstorbene, war ein sehr achtbarer Mann, hatte gute Verbindungen und besaß seinerzeit viertausend Seelen…«

»Ganz richtig, er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew.« Nachdem der junge Mensch diese Antwort gegeben hatte, betrachtete er unverwandt und mit lebhaftem Interesse den Herrn, der sich über alles so gut orientiert zeigte.

Diese Herren Alleswisser begegnen einem manchmal, und in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht sogar ziemlich häufig. Sie wissen alles; der ganze unruhige Forschungstrieb ihres Verstandes und ihre gesamten Fähigkeiten streben unaufhaltsam nach einer Seite hin, natürlich infolge des Mangels an wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sich ausdrücken würde. Bei dem Ausdruck »sie wissen alles« muß man übrigens an ein ziemlich beschränktes Gebiet denken: wo der und der angestellt ist, mit wem er bekannt ist, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur gewesen ist, was für eine Frau er genommen hat, wieviel Mitgift er dabei erhalten hat, wer sein Vetter und sein entfernterer Vetter ist und so weiter und so weiter, und sonst noch allerlei von dieser Art. Großenteils gehen diese Alleswisser mit durchgestoßenen Ellbogen umher und bekommen siebzehn Rubel Gehalt monatlich. Die Leute, über die sie alle möglichen Einzelheiten wissen, würden natürlich nicht sagen können, warum jene an ihnen ein derartiges Interesse haben, und dabei finden viele dieser Alleswisser an diesem Wissen, das einer ganzen Wissenschaft gleichkommt, ein ausgesprochenes Vergnügen und gelangen dadurch zu Selbstachtung und sogar zu einem sehr hohen Grad seelischer Zufriedenheit. Und es ist auch eine verführerische Wissenschaft. Ich habe Gelehrte, Literaten, Dichter und Staatsmänner gekannt, die in dieser Wissenschaft ihre größte Befriedigung, ihr höchstes Ziel fanden und sogar ausgesprochen nur hierdurch Karriere machten.

Im weiteren Verlauf dieses Gesprächs gähnte der schwarzhaarige junge Mensch, blickte ziellos durchs Fenster und wartete mit Ungeduld auf das Ende der Reise. Er war etwas zerstreut, sogar sehr zerstreut, beinah aufgeregt; ja er benahm sich einigermaßen sonderbar: manchmal hörte er zu, ohne recht zuzuhören, sah, ohne recht zu sehen, und lachte, ohne im nächsten Augenblick zu wissen und sich zu erinnern, worüber er eigentlich gelacht hatte.

»Aber gestatten Sie die Frage: mit wem habe ich die Ehre?« wandte sich auf einmal der Herr mit dem Gesicht voller Pickel an den blonden jungen Mann mit dem Bündelchen.

»Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin«, antwortete dieser, ohne zu zögern, mit größter Bereitwilligkeit.

»Fürst Myschkin? Lew Nikolajewitsch? Kenne ich nicht. Nicht einmal vom Hörensagen«, antwortete der Beamte nachdenkend. »Das heißt, ich meine nicht den Namen; der Name ist ja historisch und in Karamsins Geschichte Rußlands zu finden; ich meine Ihre Person, und überhaupt begegnen Fürsten Myschkin einem nirgends mehr; man hört von ihnen nicht einmal reden.«

»Wie könnte es auch anders sein!« versetzte der Fürst sogleich. »Fürsten Myschkin gibt es jetzt außer mir gar keine mehr; ich glaube, ich bin der letzte. Und was meinen Vater und meinen Großvater anlangt, so besaßen die nur ein einziges Gut, auf dem sie zurückgezogen lebten. Mein Vater war übrigens Leutnant bei der Linie, vorher Fähnrich. Und nun weiß ich nicht, in welcher Weise die Generalin Jepantschina zu den Myschkinschen Fürstentöchtern gehört; sie ist ebenfalls die Letzte in ihrer Art…«

»Hahaha! Die Letzte in ihrer Art! Haha! Wie Sie das gedreht haben!« kicherte der Beamte.

Auch der schwarzhaarige junge Mann lächelte. Der Blonde war etwas verlegen, daß es ihm gelungen war, ein allerdings ziemlich einfaches Wortspiel zu machen.

»Seien Sie überzeugt, ich habe es ganz ohne Absicht gesagt«, erklärte er schließlich einigermaßen befangen.

»Sehr begreiflich, sehr begreiflich!« stimmte ihm der Beamte heiter bei.

»Haben Sie denn dort auch Wissenschaften betrieben, Fürst, bei Ihrem Professor?« fragte unvermittelt der Schwarzhaarige.

»Ja… allerdings…«

»Ich für meine Person habe nie etwas studiert.«

»Auch ich nur ein klein wenig«, fügte der Fürst in einem Tone hinzu, der beinah wie eine Bitte um Entschuldigung klang. »Mir einen regulären Unterricht zu erteilen, hielt man in Anbetracht meiner Krankheit nicht für möglich.«

»Kennen Sie die Familie Rogoshin?« fragte der schwarzhaarige junge Mensch schnell.

»Nein, ich kenne sie nicht, gar nicht. Ich kenne in Rußland überhaupt nur wenige Menschen. Ist Ihr Name Rogoshin?«

»Ja, ich heiße Rogoshin, Parfen Rogoshin.«

»Parfen? Sind Sie da nicht vielleicht ein Mitglied eben jener Familie Rogoshin…«, begann der Beamte mit noch gesteigerter Wichtigtuerei.

»Jawohl, eben jener, eben jener«, unterbrach ihn schnell und mit unhöflicher Ungeduld der Schwarzhaarige, der überhaupt dem Beamten mit dem Gesicht voller Pickel nie Beachtung geschenkt, sondern gleich von Anfang an immer nur zu dem Fürsten gesprochen hatte.

»Ja … ist es möglich?« rief der Beamte starr vor Staunen, die Augen traten ihm beinah aus den Höhlen, und sein ganzes Gesicht nahm sogleich einen ehrerbietigen, knechtischen, ja erschrockenen Ausdruck an. »Sind Sie ein Sohn eben jenes erblichen Ehrenbürgers Semjon Parfenowitsch Rogoshin, der vor einem Monat starb und ein bares Kapital von zwei und einer halben Million hinterließ?«

»Woher haben Sie denn erfahren, daß er ein bares Kapital von zwei und einer halben Million hinterlassen hat?« unterbrach ihn der Schwarzhaarige, der sich auch diesmal nicht dazu herabließ, den Beamten anzusehen. »Nun sehe mal einer den Kerl an!« (Er zwinkerte dem Fürsten zu.) »Und was haben die Leute nur davon, daß sie sich sofort mit Schmeicheleien an einen heranmachen? Aber wahr ist, daß mein Vater gestorben ist und ich jetzt einen Monat nachher beinah ohne Stiefel von Pskow nach Hause fahre. Weder mein niederträchtiger Bruder noch meine Mutter haben mir Geld oder eine Benachrichtigung geschickt nichts haben sie mir geschickt! Als ob ich ein Hund wäre! Einen ganzen Monat lang habe ich in Pskow im Fieber gelegen!«

»Aber jetzt werden Sie mehr als ein Milliönchen mit einemmal bekommen, mindestens soviel, o mein Herrgott!« rief der Beamte und schlug die Hände zusammen.

»Na, was geht ihn das an? Sagen Sie bitte selbst!« sagte Rogoshin, wieder mit dem Kopfe auf ihn hindeutend, in gereiztem und ärgerlichem Ton. »Ich werde Ihnen ja doch nicht eine einzige Kopeke geben, und wenn Sie sich vor mir auf den Kopf stellen und auf den Händen gehen.«

»Das werde ich tun, das werde ich tun!«

»Da haben wir’s! Aber ich werde Ihnen nichts geben, gar nichts, und wenn Sie eine ganze Woche lang tanzen!«

»Sie brauchen mir nichts zu geben! Das verlange ich auch gar nicht! Sie brauchen mir nichts zu geben! Aber ich werde doch tanzen. Meine Frau und meine kleinen Kinder werde ich im Stich lassen und vor Ihnen tanzen. Aus reiner Liebenswürdigkeit!«

»Pfui über Sie!« sagte der Schwarzhaarige und spuckte aus. »Vor fünf Wochen befand ich mich in demselben Zustand wie Sie jetzt«, wandte er sich an den Fürsten. »Mit einem einzigen Bündelchen entfloh ich vor meinem Vater nach Pskow zu einer Tante, und dort habe ich am Fieber krank gelegen, und er ist in meiner Abwesenheit gestorben. Ein Schlagfluß hat ihm den Garaus gemacht. Ich wünsche dem Verstorbenen die ewige Ruhe; aber er hat mich damals fast zu Tode geprügelt. Sie können es mir glauben, Fürst, bei Gott! Wäre ich damals nicht davongelaufen, so hätte er mich auf dem Fleck totgeschlagen.«

»Hatten Sie ihn durch irgend etwas gereizt?« fragte der Fürst und betrachtete mit einem gewissen besonderen Interesse den Millionär im Schafpelz.

Aber obgleich schon in dem Begriff einer zu erbenden Million möglicherweise etwas Merkwürdiges lag, so war da doch noch etwas anderes, was den Fürsten in Verwunderung versetzte und sein Interesse weckte; und auch Rogoshin selbst unterhielt sich aus irgendeinem Grund gern mit dem Fürsten, wiewohl er anscheinend mehr ein mechanisches als seelisches Bedürfnis nach Unterhaltung hatte, sozusagen mehr aus Zerstreutheit als aus Gutherzigkeit, aus Unruhe und Aufregung, um nur jemanden anzusehen und über irgendeinen Gegenstand die Zunge in Bewegung zu setzen. Es schien, daß er auch jetzt noch Fieber hatte, wenigstens in einem gewissen Grade. Was den Beamten anlangt, so hing dieser ordentlich an Rogoshins Mund, wagte kaum zu atmen und fing jedes Wort auf und legte es gleichsam auf die Waage, als hielte er es für einen Brillanten.

»Er war zornig, gewiß, ja, und vielleicht nicht ohne Grund«, antwortete Rogoshin, »aber wer sich am schlimmsten gegen mich benahm, das war mein Bruder. Von meiner Mutter will ich nichts sagen; sie ist eine alte Frau, liest die Lebensbeschreibungen der Heiligen, sitzt mit alten Weibern zusammen, und was Bruder Senka anordnet, das muß geschehen. Aber er, warum hat er mich seinerzeit nicht benachrichtigt? Na, begreifen läßt es sich schon! Es ist wahr, ich lag damals ohne Besinnung. Und es war auch ein Telegramm abgeschickt, sagen sie. Und es ist auch ein Telegramm bei der Tante angekommen. Aber sie ist seit dreißig Jahren Witwe und sitzt immer vom Morgen bis zum Abend mit Gottesnarren zusammen. Sie ist beinah eine Nonne, oder eigentlich noch schlimmer als eine Nonne. Vor Telegrammen hat sie von jeher Angst gehabt, und so hat sie auch dieses uneröffnet auf der Polizei abgeliefert, und da wird es wohl noch liegen. Erst Konew, Wassilij Wassiljewitsch Konew, hat sich meiner angenommen und mir alles geschrieben. Von der Brokatdecke auf dem Sarge des Vaters hat der Bruder bei Nacht die massiv goldenen Quasten abgeschnitten und gesagt: ›Die sind einen tüchtigen Batzen Geld wert.‹ Schon allein dafür kann er nach Sibirien kommen, wenn ich will, denn das ist Heiligtumsschändung. He, Sie Vogelscheuche!« wandte er sich an den Beamten. »Wie steht es im Gesetz: ist das Heiligtumsschändung?«

»Jawohl, Heiligtumsschändung, Heiligtumsschändung!« stimmte ihm der Beamte sogleich bei.

»Und kommt einer dafür nach Sibirien?«

»Gewiß, nach Sibirien, nach Sibirien! Ohne weiteres nach Sibirien!«

»Bei mir zu Hause denken sie bestimmt, daß ich noch krank sei«, fuhr Rogoshin, zu dem Fürsten gewendet, fort. »Aber ich habe mich, ohne ein Wort zu sagen, obwohl ich noch nicht hergestellt bin, still auf die Bahn gesetzt und fahre jetzt hin. Nun mach mir das Tor auf, Bruder Semjon Semjonowitsch! Er hat mich bei meinem verstorbenen Vater verpetzt, das weiß ich. Aber daß ich wirklich durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna damals den Vater aufgebracht habe, das ist wahr. Da habe ich allein schuld. Das habe ich in einem Augenblick der Unbedachtsamkeit getan.«

»Durch die Geschichte mit Nastasja Filippowna?« sagte dir Beamte in kriecherischem Tone, wie wenn er etwas überlegte.

»Die Dame kennen Sie nicht!« schrie ihn Rogoshin ungeduldig an.

»Und ich kenne sie doch!« erwiderte der Beamte triumphierend.

»Ach was! Es gibt viele Damen, die Nastasja Filippowna heißen! Und ich muß sagen: was sind Sie für ein unverschämtes Subjekt! Na, das habe ich doch gleich gewußt, daß sich irgend so ein Subjekt an mich hängen wird!« fuhr er, zum Fürsten gewendet, fort.

»Aber vielleicht kenne ich sie doch!« versetzte der Beamte beharrlich. »Da müßte ich nicht Lebedew sein, wenn ich sie nicht kennen sollte! Euer Durchlaucht belieben mir einen Vorwurf zu machen; aber wie, wenn ich Ihnen den Beweis liefere? Also es ist dieselbe Nastasja Filippowna, um derentwillen Ihr Vater Sie mit einem Haselstock ermahnen wollte; es ist Nastasja Filippowna Baraschkowa, sozusagen sogar eine vornehme Dame und in ihrer Art eine Fürstin, und sie hat ein Verhältnis mit einem gewissen Tozkij, mit Afanassij Iwanowitsch Tozkij, ausschließlich mit diesem einen, einem Gutsbesitzer und Großkapitalisten, Mitglied verschiedener Handelsgesellschaften, der infolge dieser seiner kommerziellen Tätigkeit mit dem General Jepantschin in sehr freundschaftlicher Beziehung steht…«

»Na, nun sieh mal an!« rief Rogoshin, wirklich erstaunt, aus. »Pfui Teufel, er weiß wahrhaftig genau Bescheid.«

»Er weiß alles! Lebedew weiß alles! Auch Alexaschka Lidiatschows Begleiter bin ich zwei Monate lang gewesen, Euer Durchlaucht, und zwar ebenfalls nach dem Tode seines Vaters, und ich kenne alle, geradezu alle seine Heimlichkeiten, und es kam so weit, daß er ohne mich keinen Schritt tat. Jetzt sitzt er im Schuldgefängnis; aber damals hatte ich Gelegenheit, auch Fräulein Armance und Fräulein Coralie und die Fürstin Pazkaja und Nastasja Filippowna kennenzulernen, und auch vieles, vieles zu erfahren, hatte ich Gelegenheit.«

»Nastasja Filippowna? Hat sie etwa mit Lichatschow…«, rief Rogoshin und blickte den Redenden böse an; sogar seine Lippen waren blaß geworden und zitterten.

»N-ein! N-ein! Entschieden nein!« beeilte sich der Beamte, schnell gefaßt, zu erwidern. »Bei der konnte Lichatschow durch kein Geld zum Ziele gelangen! Nein, die ist von anderer Art als Fräulein Armance. Da ist Tozkij der einzige. Abends sitzt sie im Großen Theater oder im Französischen Theater in ihrer eigenen Loge. Die Offiziere reden ja da unter sich allerlei; aber auch die können nichts beweisen. ›Da ist die berühmte Nastasja Filippowna‹, sagen sie, aber das ist auch alles; sonst ist da nichts zu sagen! Weil eben nichts vorliegt.«

»Ja, so verhält sich das alles«, bestätigte Rogoshin mit trüber, finsterer Miene. »Auch Saljoshew hat es mir damals gesagt. Ich ging damals, Fürst, in einem Schnurrock, den mein Vater schon vor zwei Jahren abgelegt hatte, über den Newskij Prospekt, und sie kam aus einem Laden heraus und stieg in ihren Wagen. Da stand ich auf der Stelle in Flammen. Ich begegnete meinem Freunde Saljoshew; der sah anders aus als ich; er geht wie ein Friseurgehilfe, immer die Lorgnette im Auge; wir aber mußten bei unserm Vater in Schmierstiefeln gehen und uns mit fastenmäßiger Kohlsuppe amüsieren. ›Die ist nichts für dich‹, sagte er; ›das ist‹, sagte er, ›eine Fürstin, sie heißt Nastasja Filippowna, mit dem Familiennamen Baraschkowa, und lebt mit Tozkij; Tozkij aber weiß jetzt nicht, wie er von ihr loskommen soll, weil er nämlich schon ganz in die soliden Jahre hineingekommen ist (er ist fünfundfünfzig alt) und eine der ersten Schönheiten von Petersburg heiraten will.‹ Dann teilte er mir noch mit, daß ich Nastasja Filippowna an demselben Tage im Großen Theater wiedersehen könne, im Ballett; sie werde in ihrer Parterreloge sitzen. Bei uns zu Hause, bei unserm Vater, da hätte es mal einer probieren sollen und sagen, er wolle ins Ballett gehen; der Vater hätte kurzen Prozeß gemacht und ihn halbtot geprügelt! Ich schlich mich indessen still für ein Stündchen weg und sah Nastasja Filippowna wieder. Die ganze folgende Nacht konnte ich nicht schlafen. Am andern Morgen gab mir der Vater zwei fünfprozentige Staatsschuldscheine, jeden zu fünftausend Rubel, und sagte: ›Geh hin und verkaufe sie; dann trage siebentausendfünfhundert Rubel zu Andrejew aufs Kontor und bezahle sie dort; und was du von den zehntausend noch übrig hast, das bring geradeswegs hierher und liefere es mir ab; ich werde auf dich warten.‹ Die Staatsschuldscheine verkaufte ich und empfing das Geld dafür; aber zu Andrejew aufs Kontor begab ich mich nicht, sondern ich ging, ohne mich umzusehen, nach dem Englischen Magazin und suchte dort für das ganze Geld ein Paar Ohrgehänge aus, jedes mit einem Brillanten fast von Nußgröße; vierhundert Rubel blieb ich noch schuldig; ich nannte meinen Namen, und man gab mir Kredit. Mit den Ohrgehängen ging ich gleich zu Saljoshew: ›So und so, Bruder‹, sagte ich, ›wir wollen zu Nastasja Filippowna gehen.‹ Wir gingen hin. Was ich damals unter den Füßen und vor mir und rechts und links hatte, weiß ich nicht; daran habe ich keine Erinnerung. Wir traten bei ihr gleich in den Salon ein, und dann kam sie selbst zu uns. Ich ließ übrigens damals nicht bekannt werden, daß ich selbst der Geber sei, sondern Saljoshew sagte: ›Von Parfen Rogoshin, der Sie gestern gesehen hat, ein kleines Andenken; haben Sie die Gewogenheit, es anzunehmen!‹ Sie öffnete das Etui, betrachtete den Schmuck und lächelte. ›Sagen Sie Ihrem Freund Herrn Rogoshin meinen Dank‹, sagte sie, ›für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit!‹ Dann verneigte sie sich und ging hinaus. Na, warum bin ich damals nicht dort auf dem Fleck gestorben! Aber wenn ich fortging, so tat ich es mit dem Gedanken: ›Lebendig komme ich doch nie wieder her!‹ Was ich aber am schwersten als Kränkung empfand, das war, daß diese Kanaille, der Saljoshew, sich angemaßt hatte, alles allein zu reden und zu tun. Ich bin von kleiner Statur und war wie ein Plebejer gekleidet und hatte dagestanden, sie angestarrt und geschwiegen, weil ich mich schämte; er aber in modischem Anzug, mit pomadisiertem und gekräuseltem Haar, mit seinem frischen Teint und seiner karierten Krawatte hatte den Liebenswürdigen gespielt und ein Mal über das andere gedienert, und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie ihn für mich genommen! ›Na‹ sagte ich, als wir hinausgegangen waren, ›du wage nicht, dich wieder bei mir blicken zu lassen, verstehst du?‹ Er lachte: ›Aber wie wirst du jetzt vor deinem Vater Semjon Parfenytsch Rechenschaft ablegen?‹ Die Wahrheit zu sagen, ich hatte damals schon vor, ohne erst nach Hause zu gehen, mich ins Wasser zu stürzen; aber ich dachte: ›Es ist ja doch ganz gleich!‹ und kehrte wie ein armer Sünder nach Hause zurück.«

»O weh, o weh!« sagte der Beamte und schnitt dabei eine Grimasse; ja er schüttelte sich sogar mit dem ganzen Leibe. »Und der Selige war imstande, nicht nur wegen zehntausend, sondern schon wegen zehn Rubel einen ins Jenseits zu spedieren.« Er nickte dem Fürsten zu. Der Fürst sah Rogoshin mit lebhaftem Interesse an; es schien, als sei der in diesem Augenblick noch blasser.

»Dazu war er imstande!« wiederholte Rogoshin. »Aber was wissen Sie davon?« Dann erzählte er dem Fürsten weiter: »Er erfuhr sogleich alles; Saljoshew hatte es jedem, der ihm begegnete, ausgeschwatzt. Der Vater nahm mich, schloß mich im oberen Stockwerk ein und prügelte mich eine ganze Stunde lang. ›Und das ist nur eine Vorbereitung für dich‹, sagte er. ›Heute abend komme ich, um dir gute Nacht zu sagen.‹ Sollte man’s glauben? Der alte Mann fuhr zu Nastasja Filippowna, verbeugte sich tief vor ihr und flehte sie unter Tränen an; endlich holte sie ihm das Etui herbei, warf es ihm hin und sagte: ›Da hast du deine Ohrringe, alter Graubart; sie sind für mich jetzt um das Zehnfache im Wert gestiegen, nun ich weiß, daß Parfen sie einem so strengen Vater zum Trotz beschafft hat. Grüße Parfen Semjonytsch von mir und bestelle ihm meinen Dank!‹ Na, ich hatte unterdessen mich von meiner Mutter segnen lassen und mir von Sergej Protuschin zwanzig Rubel geborgt; damit setzte ich mich auf die Bahn und fuhr nach Pskow, wo ich fiebernd ankam. Dort langweilten mich die alten Frauen durch das Vorlesen von Gebeten aus dem Kirchenkalender rein zu Tode, und ich saß betrunken dabei; als ich mein letztes Geld in den Kneipen vertrunken hatte, lag ich die ganze Nacht bewußtlos auf der Straße, und am Morgen hatte ich dann das Fieber; und außerdem hatten mich in der Nacht auch noch die Hunde angefressen. Nur mit Mühe habe ich mich erholt.«

»Nun, nun, jetzt wird aber Nastasja Filippowna in einer andern Tonart zu uns reden!« kicherte der Beamte und rieb sich dabei die Hände. »Was ist jetzt an jenem Ohrgehänge gelegen, mein Herr! Jetzt werden wir ihr solche Ohrgehänge zum Ersatz schenken, daß …«

»Hören Sie mal, wenn Sie nur noch ein einziges Mal ein Wort über Nastasja Filippowna sagen, dann gnade Ihnen Gott! Ich werde Sie durchprügeln, wenn Sie auch mit Lichatschow verkehrt haben!« schrie Rogoshin und packte ihn kräftig am Kragen.

»Aber wenn Sie mich durchprügeln, so bedeutet das, daß Sie mich nicht von sich stoßen! Prügeln Sie mich! Gerade dadurch gewinnen Sie mich zum Freunde! Wenn Sie mich durchgehauen haben, so haben Sie gerade dadurch unsere Freundschaft besiegelt… Aber da sind wir angelangt!«

Sie fuhren tatsächlich in den Bahnhof ein. Obgleich Rogoshin gesagt hatte, daß er ganz in der Stille abgereist sei, erwarteten ihn doch schon mehrere Menschen. Sie riefen und winkten ihm mit den Mützen.

»Nun sieh mal, Saljoshew ist auch da!« murmelte Rogoshin, indem er mit einem triumphierenden, sogar etwas boshaften Lächeln nach ihnen hinblickte; dann wandte er sich auf einmal zum Fürsten. »Fürst, ich weiß nicht, weswegen ich dich liebgewonnen habe. Vielleicht, weil ich dich in einem solchen Augenblick getroffen habe; aber den hier habe ich doch auch getroffen« (er wies auf Lebedew), »und den habe ich nicht liebgewonnen. Komm zu mir, Fürst! Wir werden dir diese Gamaschen ausziehen; ich werde dir den besten Marderpelz kaufen, dir den schönsten Frack machen lassen, eine weiße Weste oder was für eine du sonst wünschst; ich werde dir die Taschen voll Geld stopfen, und…dann wollen wir zu Nastasja Filippowna fahren! Wirst du kommen oder nicht?«

»Gehen Sie darauf ein, Fürst Lew Nikolajewitsch!« fügte Lebedew in eindringlichem, feierlichem Tone hinzu. »Lassen Sie sich das ja nicht entgehen! Lassen Sie sich das ja nicht entgehen!«

Fürst Myschkin stand auf, streckte Rogoshin höflich die Hand hin und sagte freundlich zu ihm:

»Ich werde mit dem größten Vergnügen kommen und danke Ihnen herzlich dafür, daß Sie mich liebgewonnen haben. Ich werde sogar vielleicht heute schon kommen, wenn ich Zeit finde. Denn ich sage Ihnen aufrichtig: auch Sie haben mir sehr gefallen, und besonders als Sie von den Brillantohrgehängen erzählten. Aber auch schon vor den Ohrgehängen haben Sie mir gefallen, obwohl Sie eine so düstere Miene haben. Ich danke Ihnen auch für die versprochenen Kleider und den Pelz; denn ich werde wirklich Kleider und einen Pelz bald nötig haben. An Geld besitze ich in diesem Augenblick kaum eine Kopeke.«

»Geld wird dasein, zum Abend wird Geld dasein; komm nur!«

»Es wird dasein, wird dasein«, echote der Beamte. »Zum Abend, noch vor Sonnenuntergang, wird welches dasein!«

»Sind Sie ein großer Freund des weiblichen Geschlechts, Fürst? Sagen Sie es mir schon vorher!«

»Ich? N-n-nein! Ich bin ja … Sie wissen vielleicht nicht, ich kenne ja infolge meiner angeborenen Krankheit die Frauen überhaupt nicht.«

»Nun, wenn’s so ist«, rief Rogoshin, »so bist du ja ein richtiger Gottesnarr, Fürst, und solche Menschen wie dich liebt Gott.«

»Und solche Menschen liebt Gott der Herr«, wiederholte der Beamte.

»Und Sie können mir folgen, Sie Schmeißfliege!« sagte Rogoshin zu Lebedew, und alle verließen den Bahnwagen.

Lebedew hatte also schließlich doch sein Ziel erreicht. Bald entfernte sich der lärmende Haufe in Richtung des Wosnessenskij Prospekts. Der Fürst mußte sich nach der Litejnaja wenden. Es war feucht und naß; der Fürst erkundigte sich bei Vorübergehenden: er hörte, daß es bis zum Ende seines Weges etwa drei Werst seien, und entschied sich dafür, eine Droschke zu nehmen.

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