Kapitel 46

VIII

Auch für den Fürsten begann dieser Tag damit, daß er sich von schlimmen Ahnungen bedrückt fühlte; diese ließen sich zwar durch seinen krankhaften Zustand erklären, aber seine Traurigkeit hatte doch einen gar zu unbestimmten Charakter, und das war für ihn das qualvollste. Gewiß standen ihm bestimmte Tatsachen deutlich vor Augen, schmerzliche, peinliche Tatsachen, aber seine Traurigkeit ging doch über alles hinaus, was ihm Gedächtnis und Denkkraft als Stoff dafür boten; er sah ein, daß er sich nicht beruhigen würde, wenn er allein bliebe. Allmählich setzte sich in seinem Kopf die Erwartung fest, daß noch an diesem Tag mit ihm etwas Besonderes und Entscheidendes geschehen würde. Der Anfall, den er tags zuvor gehabt hatte, war leichter gewesen: außer einer starken Niedergeschlagenheit, einer gewissen Schwere im Kopf und Schmerzen in den Gliedern fühlte er keine andere gesundheitliche Störung. Sein Kopf arbeitete durchaus normal, obgleich die Seele krank war. Er stand sehr spät auf und erinnerte sich sofort mit aller Deutlichkeit an den gestrigen Abend; auch daran erinnerte er sich, freilich nicht ganz klar, daß man ihn eine halbe Stunde nach dem Anfall nach Hause gebracht hatte. Er erfuhr, daß bereits ein Bote von Jepantschins bei ihm erschienen war, um nach seinem Befinden zu fragen. Um halb zwölf erschien ein zweiter; das war ihm angenehm. Wera Lebedewa war die erste, die ihn besuchte und für ihn sorgte. Im ersten Augenblick, als sie ihn erblickte, fing sie plötzlich an zu weinen; aber als der Fürst sie gleich beruhigte, lachte sie. Ihn überraschte das starke Mitgefühl, das dieses Mädchen für ihn empfand; er ergriff ihre Hand und küßte sie. Wera errötete.

»Ach, was tun Sie, was tun Sie!« rief sie erschrocken und zog schnell ihre Hand weg.

Sie ging in seltsamer Aufregung bald wieder weg. Unter anderm hatte sie ihm erzählt, ihr Vater sei an diesem Tage schon ganz frühmorgens zu dem »Dahingeschiedenen« gelaufen, wie er den General nannte, um nachzufragen, ob er in der Nacht gestorben sei; es verlaute, er werde wahrscheinlich bald sterben. Kurz vor zwölf Uhr kam auch Lebedew selbst nach Hause und zum Fürsten, aber eigentlich »nur auf einen Augenblick, um sich nach dem kostbaren Befinden zu erkundigen«, und so weiter und außerdem dem »Schränkchen« einen Besuch abzustatten. Da er nichts anderes tat als ächzen und stöhnen, so machte der Fürst, daß er ihn bald wieder loswurde, aber Lebedew versuchte doch noch, sich nach dem gestrigen Anfall zu erkundigen, obgleich er offenbar darüber bereits in allen Einzelheiten orientiert war. Nach ihm kam Kolja angelaufen, ebenfalls nur auf einen Augenblick; er hatte es wirklich eilig und befand sich in einer starken, düsteren Unruhe. Er begann damit, daß er den Fürsten geradeheraus und inständig bat, ihm alles mitzuteilen, was man ihm noch verberge; das meiste habe er schon am gestrigen Tag erfahren. Er war tief und heftig erschüttert.

Mit aller Teilnahme, deren er nur fähig war, erzählte ihm der Fürst den ganzen Hergang, indem er die Tatsachen mit größter Genauigkeit wiedergab; sein Bericht traf den armen Jungen wie ein Donnerschlag. Er vermochte kein Wort herauszubringen und weinte schweigend. Der Fürst fühlte, daß dies einer jener Eindrücke war, die sich nie wieder verwischen und im Leben eines Jünglings einen Wendepunkt bilden. Er beeilte sich, ihm seine Ansicht über die Angelegenheit mitzuteilen, und fügte hinzu, daß seiner Ansicht nach auch der Tod des alten Mannes seine Ursache vielleicht hauptsächlich in dem Gefühl des Schreckens gehabt habe, das in seinem Herzen nach dem Vergehen zurückgeblieben sei, und daß zu so etwas nicht jeder Mensch fähig wäre. Koljas Augen funkelten, als er den Fürsten so reden hörte.

»Abscheuliche Menschen sind Ganja und Warja und Ptizyn! Ich werde mich nicht mit ihnen herumstreiten, aber unsere Wege gehen von nun an auseinander! Ach, Fürst, ich habe seit gestern sehr viel neue Empfindungen durchgemacht; das ist eine schwere Prüfung für mich! Auch für meine Mutter glaube ich jetzt selbst sorgen zu müssen; sie befindet sich zwar in Warjas Pflege, aber das ist doch nicht das Richtige…«

Er sprang auf, da er sich erinnerte, daß er erwartet wurde, fragte noch schnell nach dem Gesundheitszustand des Fürsten und fügte, als er die Antwort gehört hatte, plötzlich eilig hinzu:

»Gibt es sonst nichts Neues? Ich hörte, daß gestern… (übrigens habe ich kein Recht, davon zu reden), aber wenn Sie jemals in irgendeiner Sache einen treuen Diener nötig haben, so steht ein solcher vor Ihnen. Es scheint, daß wir beide nicht ganz glücklich sind, nicht wahr? Aber… ich stelle keine Fragen, ich stelle keine Fragen…«

Er ging weg, der Fürst aber versank noch mehr in seine Gedanken: alle Leute prophezeiten ihm Unheil, alle hatten bereits aus dem Geschehenen ihre Schlüsse gezogen, alle sahen so aus, als ob sie etwas wüßten, etwas, was er nicht wußte; Lebedew fragte ihn aus, Kolja machte direkte Andeutungen, Wera weinte. Zuletzt machte er ärgerlich eine Handbewegung, als würfe er alles hinter sich: ›Weg mit der verdammten krankhaften Zweifelsucht!‹ dachte er. Sein Gesicht hellte sich auf, als er zwischen ein und zwei Uhr die Jepantschinschen Damen eintreten sah, die ihm »auf ein Augenblickchen« einen Besuch machen wollten. Lisaweta Prokofjewna hatte, als sie vom Frühstückstisch aufstand, erklärt, sie würden jetzt alle Spazierengehen, und zwar alle zusammen. Diese Mitteilung war kurz, trocken, ohne Erläuterungen in Form eines Befehls erfolgt. Alle hatten sich aufgemacht, das heißt die Mama, die jungen Mädchen und Fürst Schtsch. Lisaweta Prokofjewna hatte ohne weiteres die den gewohnten täglichen Spaziergängen entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Alle hatten sogleich gemerkt, um was es sich handelte, und alle hatten geschwiegen, da sie sich fürchteten, die Mama zu reizen; diese aber war, als wollte sie einen Vorwurf und die Erwiderung darauf vermeiden, allen vorangegangen, ohne sich umzudrehen. Schließlich hatte Adelaida bemerkt, auf einem Spaziergange brauche man doch nicht so zu laufen, und sie könnten mit der Mama gar nicht mitkommen.

Da hatte sich Lisaweta Prokofjewna auf einmal umgedreht und gesagt: »Also wir kommen jetzt bei ihm vorbei. Wie nun auch Aglaja darüber denken und was sich auch weiter ereignen mag, jedenfalls ist er kein Fremder, und jetzt ist er obendrein unglücklich und krank; ich wenigstens werde jetzt zu ihm gehen und ihn besuchen. Wer mit mir kommen will, kann es tun, wer es nicht will, kann vorbeigehen; der Weg ist nicht versperrt.«

Alle waren selbstverständlich mitgekommen. Der Fürst beeilte sich, wie es sich gehörte, noch einmal wegen der gestrigen Vase und… wegen des Skandals um Verzeihung zu bitten.

»Na, es hat nichts auf sich«, antwortete Lisaweta Prokofjewna. »Um die Vase ist es nicht weiter schade, sondern um dich. Also merkst du jetzt selbst, daß es ein Skandal war; da sieht man, was es bedeutet: ›sich eine Sache beschlafen‹. Aber auch das macht nichts, da jeder jetzt sieht, daß du dafür nicht verantwortlich gemacht werden kannst. Nun aber auf Wiedersehen; wenn du dazu imstande bist, so geh ein bißchen spazieren und lege dich dann wieder schlafen – das ist mein Rat. Und wenn du magst, so besuche uns wie früher; sei ein für allemal versichert, daß, was sich auch ereignen und begeben mag, du doch immer ein Freund unseres Hauses bleibst, wenigstens mein Freund. Für mich wenigstens kann ich einstehen …«

Auf diese Herausforderung reagierten alle und stimmten der Mama bei. Sie gingen fort, aber in Lisaweta Prokofjewnas gutmütiger Eile, etwas Freundliches und Ermutigendes zu sagen, hatte doch eine arge Grausamkeit verborgen gelegen, was ihr gar nicht zum Bewußtsein gekommen war. In der Einladung, »wie früher« zu kommen, und den Worten »wenigstens mein Freund« wiederum hatte eine Art Voraussagung gelegen. Der Fürst rief sich Aglajas Verhalten ins Gedächtnis zurück; gewiß, sie hatte ihm sehr freundlich zugelächelt, beim Kommen und beim Abschied, hatte aber kein Wort gesagt, nicht einmal da, als alle ihm ihre Freundschaft versicherten, obgleich sie ihn zweimal unverwandt angesehen hatte. Ihr Gesicht war ungewöhnlich blaß gewesen, als hätte sie die Nacht schlecht geschlafen. Der Fürst nahm sich vor, am Abend unbedingt »wie früher« zu ihnen zu gehen, und blickte in fieberhafter Erregung nach der Uhr. Da trat, gerade drei Minuten, nachdem Jepantschins weggegangen waren, Wera ins Zimmer.

»Lew Nikolajewitsch, Aglaja Iwanowna hat mir soeben heimlich eine Bestellung an Sie aufgetragen.«

Der Fürst begann ordentlich zu zittern.

»Ein Billett?«

»Nein, eine mündliche Bestellung; auch dazu hatte sie nur knapp Zeit. Sie läßt Sie dringend bitten, heute den ganzen Tag das Haus auch nicht eine Minute zu verlassen, bis sieben Uhr abends oder sogar bis neun Uhr, das habe ich nicht ganz deutlich gehört.«

»Ja… warum denn? Was bedeutet das?«

»Das weiß ich nicht; aber sie hat mir aufs strengste befohlen, es auszurichten.«

»Hat sie den Ausdruck ›aufs strengste‹ gebraucht?«

»Nein, so geradezu hat sie es nicht gesagt: sie hatte kaum Zeit, sich umzudrehen und es mir zu sagen; es war ein Glück, daß ich gleich selbst herbeisprang. Aber schon an ihrem Gesicht war zu sehen, wie sie es befahl: ob aufs strengste oder nicht. Sie sah mich an, daß mir beinah das Herz stehenblieb…«

Der Fürst richtete noch einige Fragen an Wera, und obgleich er nichts weiter erfuhr, wurde er nun noch unruhiger. Als er allein geblieben war, legte er sich auf das Sofa und fing wieder an nachzudenken. ›Vielleicht ist heute jemand bis neun Uhr bei ihnen, und sie fürchtet wieder, daß ich in Gegenwart der Gäste etwas anrichte‹, dachte er endlich und begann wieder ungeduldig auf den Abend zu warten und nach der Uhr zu sehen. Aber die Auflösung des Rätsels erfolgte lange vor Abend und ebenfalls in Form eines neuen Besuches, und diese Auflösung hatte die Gestalt eines neuen qualvollen Rätsels: genau eine halbe Stunde, nachdem Jepantschins weggegangen waren, trat Ippolit bei ihm ein, dermaßen müde und erschöpft, daß er beim Eintritt, ohne ein Wort zu sagen, wie besinnungslos auf einen Sessel niederfiel und sofort einen entsetzlichen Hustenanfall bekam. Er hustete so, daß er Blut ausspie. Seine Augen funkelten, und rote Flecke brannten auf seinen Wangen. Der Fürst murmelte ihm etwas zu, aber er antwortete nicht und winkte noch lange, ohne zu antworten, nur mit der Hand ab, der Fürst möchte ihn vorläufig in Ruhe lassen. Endlich kam er wieder zu sich.

»Ich werde gleich gehen!« brachte er endlich unter großen Anstrengungen mit heiserer Stimme heraus.

»Wenn Sie wollen, werde ich Sie nach Hause bringen«, sagte der Fürst und erhob sich von seinem Platz, aber er verstummte schnell, da ihm einfiel, daß ihm soeben verboten war, das Haus zu verlassen.

Ippolit lachte.

»Ich meine nicht, daß ich von Ihnen weggehen will«, fuhr er, beständig hüstelnd und mit Atemnot kämpfend, fort. »Ich habe es vielmehr nötig gefunden, zu Ihnen zu kommen, in einer ernsten Angelegenheit… sonst hätte ich Sie nicht belästigt. Ich werde nach drüben gehen, und diesmal scheint es ernst zu sein. Ich bin kaputt! Glauben Sie mir, ich sage das nicht, um mich bedauern zu lassen… ich hatte mich heute gegen zehn Uhr schon hingelegt, um vor dem Jüngsten Tag überhaupt nicht mehr aufzustehen, aber ich habe meine Absicht geändert und bin noch einmal aufgestanden, um zu Ihnen zu kommen… also muß es wohl etwas Dringliches sein.«

»Es ist mir schmerzlich, Sie anzusehen; Sie hätten mich doch lieber rufen lassen sollen, statt sich selbst herzubemühen.«

»Na, nun lassen Sie es genug sein! Sie haben mich bedauert und somit der gesellschaftlichen Höflichkeit Genüge getan… Ja, das hatte ich vergessen: wie steht es mit Ihrer Gesundheit?«

»Ich bin gesund. Ich befand mich gestern… nicht ganz…«

»Ich habe davon gehört, ich habe davon gehört! Die chinesische Vase hat dran glauben müssen; schade, daß ich nicht dabei war! Ich bin in einer ernsten Angelegenheit gekommen. Erstens hatte ich heute das Vergnügen, Gawrila Ardalionowitsch bei einem Rendezvous mit Aglaja Iwanowna an der grünen Bank zu sehen. Ich bin erstaunt gewesen, was für ein dummes Gesicht ein Mensch machen kann. Ich sagte das zu Aglaja Iwanowna selbst, nachdem Gawrila Ardalionowitsch weggegangen war… Es scheint, Sie wundern sich über nichts, Fürst«, fügte er hinzu, indem er mißtrauisch das ruhige Gesicht des Fürsten ansah. »Man sagt, sich über nichts zu wundern, sei ein Kennzeichen von großem Verstand; meiner Ansicht nach könnte es in gleichem Maße als Kennzeichen großer Dummheit dienen… Ich spiele übrigens damit nicht auf Sie an; entschuldigen Sie… Ich bin heute in der Wahl meiner Ausdrücke sehr unglücklich.« »Ich habe schon gestern erfahren, daß Gawrila Ardalionowitsch…« Der Fürst verstummte, sichtlich verlegen, obwohl Ippolit sich darüber ärgerte, daß er sich nicht wunderte.

»Sie haben es gewußt! Das ist eine Neuigkeit! Übrigens brauchen Sie mir meinetwegen nichts zu erzählen … Aber Zeuge des Rendezvous sind Sie heute nicht gewesen?«

»Wenn Sie selbst dort waren, werden Sie ja gesehen haben, daß ich nicht da war.«

»Na, Sie könnten ja in einem Busch gesessen haben. Übrigens freue ich mich jedenfalls über den Ausgang, selbstverständlich für Sie; sonst hätte ich schon geglaubt, Gawrila Ardalionowitsch liefe Ihnen den Rang ab!«

»Ich bitte Sie, Ippolit, mit mir darüber nicht zu reden, und schon gar nicht in solchen Ausdrücken.«

»Das ist um so weniger nötig, als Sie bereits alles wissen.«

»Sie irren sich. Ich weiß fast nichts, und Aglaja Iwanowna weiß sicherlich, daß ich nichts weiß. Ich habe auch von diesem Rendezvous nicht das geringste gewußt. Sie sagen, es habe ein Rendezvous stattgefunden? Nun gut, verlassen wir dieses Thema …«

»Aber was heißt denn das? Bald haben Sie es gewußt, bald haben Sie es nicht gewußt! Sie sagen: ›Gut, verlassen wir dieses Thema‹? Aber seien Sie doch nicht so vertrauensselig! Besonders, wenn Sie nichts wissen. Ebendarum sind Sie so vertrauensselig, weil Sie nichts wissen. Aber wissen Sie wohl, was für Pläne diese beiden Menschen, der Bruder und die Schwester, verfolgen? Haben Sie nicht vielleicht einen Verdacht?… Gut, gut, ich verlasse dieses Thema …«, fügte er hinzu, als er bemerkte, daß der Fürst eine ungeduldige Handbewegung machte. »Aber ich bin in einer eigenen Angelegenheit hergekommen und möchte Ihnen in dieser Hinsicht eine … Erklärung abgeben. Hol’s der Teufel, man kann absolut nicht sterben ohne Erklärungen; es ist schrecklich, wieviel Erklärungen ich abgebe. Wollen Sie mich anhören?«

»Reden Sie, ich höre.«

»Ich ändere aber doch wieder meine Absicht: ich fange doch mit Ganja an. Können Sie sich vorstellen, daß auch ich heute angewiesen wurde, nach der grünen Bank zu kommen? Übrigens, ich will nicht lügen: ich selbst habe um ein Rendezvous ersucht, habe dringend darum gebeten; ich versprach, ein Geheimnis zu enthüllen. Ich weiß nicht, ob ich zu früh hinkam (wie es scheint, kam ich tatsächlich zu früh), aber kaum hatte ich meinen Platz neben Aglaja Iwanowna eingenommen, da sehe ich, daß Gawrila Ardalionowitsch und Warwara Ardalionowna erscheinen, beide Arm in Arm, als ob sie spazierengingen. Sie mochten wohl beide sehr überrascht sein, mich dort zu finden; das hatten sie nicht erwartet, sie wurden ganz verlegen. Aglaja Iwanowna wurde dunkelrot und, mögen Sie es nun glauben oder nicht, kam sogar aus der Fassung, ob nun deswegen, weil ich da war, oder einfach, weil sie Gawrila Ardalionowitsch sah, der ja ein sehr schöner Mann ist. Jedenfalls wurde sie dunkelrot und brachte die Sache in einem Augenblick auf sehr komische Art zum Abschluß: sie stand auf, erwiderte Gawrila Ardalionowitschs Verbeugung und Warwara Ardalionownas schmeichlerisches Lächeln und sagte kurz: ›Ich bin nur deshalb hergekommen, um Ihnen meine persönliche Befriedigung über Ihre aufrichtigen freundschaftlichen Gefühle gegen mich auszusprechen, und wenn ich derselben bedürfen sollte, so seien Sie überzeugt…‹ Hier machte sie ihnen eine Abschiedsverbeugung, und beide gingen weg, ich weiß nicht, ob mit dem Gefühl, zum Narren gehalten zu sein, oder mit einem Gefühl des Triumphes; Ganja jedenfalls mit dem ersteren; er verstand überhaupt nichts und wurde rot wie ein Krebs (er hat manchmal einen ganz wunderlichen Gesichtsausdruck!); aber Warwara Ardalionowna hatte wohl verstanden, daß sie sich möglichst schnell davonmachen mußten und von Aglaja Iwanowna nichts mehr zu erwarten hatten, und zog den Bruder mit sich fort. Sie ist klüger als er und triumphiert jetzt, davon bin ich überzeugt. Ich meinerseits war zu dem Gespräch mit Aglaja Iwanowna hingegangen, um mit ihr alles wegen ihrer Zusammenkunft mit Nastasja Filippowna zu verabreden.«

»Mit Nastasja Filippowna!« rief der Fürst.

»Aha! Jetzt, scheint es, verlieren Sie Ihre Kaltblütigkeit und fangen an, sich zu wundern? Ich freue mich sehr, daß Sie endlich einem Menschen ähnlich sehen wollen. Zum Lohn dafür will ich Ihnen auch etwas Interessantes erzählen. Das hat man davon, wenn man jungen, hochmütigen Mädchen Dienste erweist: ich habe heute von ihr eine Ohrfeige bekommen!«

»Eine… eine moralische?« fragte der Fürst unwillkürlich.

»Ja, nicht im physischen Sinne. Ich glaube, gegen einen solchen Menschen wie mich kann niemand die Hand aufheben; nicht einmal eine Frau wird jetzt nach mir schlagen; nicht einmal Ganja würde es tun! Obwohl ich gestern eine Zeitlang dachte, er würde sich auf mich stürzen… Ich möchte wetten, daß ich weiß, woran Sie jetzt denken. Sie denken: ›Schlagen darf man ihn allerdings nicht, aber dafür könnte man ihn mit einem Kissen ersticken oder im Schlaf mit einem nassen Lappen… und das müßte man sogar tun…‹ Es steht Ihnen auf dem Gesicht geschrieben, daß Sie das denken, in eben dieser Sekunde.«

»Das habe ich nie gedacht!« versetzte der Fürst voll Widerwillen.

»Ich weiß nicht, mir hat heut nacht geträumt, daß mich jemand… mit einem nassen Lappen erstickte… na, ich will Ihnen auch sagen wer: denken Sie sich – Rogoshin! Was meinen Sie, kann man einen Menschen mit einem nassen Lappen ersticken?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich habe gehört, daß das möglich sei. Nun gut, verlassen wir dieses Thema! Na, wieso bin ich ein Klatschmaul? Warum hat sie mich heute ein Klatschmaul gescholten? Wohlgemerkt: erst nachdem sie alles bis auf das letzte Pünktchen angehört und sogar ihrerseits Fragen gestellt hatte… Aber so sind die Weiber! Ihr zu Gefallen bin ich zu Rogoshin in Beziehung getreten, zu diesem interessanten Menschen; in ihrem Interesse habe ich eine persönliche Zusammenkunft zwischen ihr und Nastasja Filippowna arrangiert. Vielleicht trägt sie es mir nach, daß ich ihr Ehrgefühl verletzt habe, indem ich darauf hindeutete, daß sie sich an einem von Nastasja Filippowna abgenagten Knochen vergnüge. Und ich will nicht leugnen, daß ich ihr das in ihrem eigenen Interesse die ganze Zeit über klarzumachen suchte, indem ich ihr zwei Briefe dieses Inhalts schrieb und dann an dritter Stelle dieses Rendezvous mit ihr hatte… Ich habe auch bei dem Rendezvous mit ihr das Gespräch mit dem Hinweis begonnen, daß dies für sie erniedrigend sei… Und dabei rührt die Wendung vom abgenagten Knochen eigentlich nicht von mir her, sondern von einem andern; wenigstens bedienten sich bei Ganjetschka alle dieses Ausdrucks, und sogar sie selbst hat ihn in den Mund genommen. Na also, warum nennt sie mich da ein Klatschmaul? Ich sehe, ich sehe: es ist Ihnen jetzt bei meinem Anblick sehr lächerlich zumute, und ich möchte wetten, daß Sie auf mich die dummen Verse anwenden:

›Und auf mein Ende glänzt, obgleich es trübe,
Vielleicht ein holder Abschiedsblick der Liebe.‹

Hahaha!« Er brach plötzlich in ein krampfhaftes Lachen aus und bekam einen Hustenanfall. »Beachten Sie auch«, fuhr er, noch immer hustend, mit heiserer Stimme fort, »was für ein Mensch Ganjetschka ist: er redet vom abgenagten Knochen, aber was will er sich jetzt selbst zunutzemachen?«

Der Fürst schwieg lange; er war sehr erschrocken.

»Sie sprachen von einer Zusammenkunft mit Nastasja Filippowna?« murmelte er endlich.

»Ja, ist Ihnen denn das wirklich nicht bekannt, daß heute eine Zusammenkunft Aglaja Iwanownas mit Nastasja Filippowna stattfinden wird, zu welchem Zweck Nastasja Filippowna eigens durch Rogoshin, auf Aglaja Iwanownas Einladung hin und infolge meiner Bemühungen, brieflich aus Petersburg herberufen ist, und daß sie sich jetzt, ebenso wie Rogoshin selbst, gar nicht weit von Ihnen in ihrer früheren Wohnung befindet, bei jener Dame, Darja Alexejewna heißt sie … einer sehr zweideutigen Dame, ihrer Freundin, und daß ebendorthin, in dieses zweideutige Haus, sich heute auch Aglaja Iwanowna zu einem freundschaftlichen Gespräch mit Nastasja Filippowna und zur Lösung verschiedener schwieriger Probleme begeben wird? Die beiden wollen sich wohl mit Mathematik beschäftigen. Das haben Sie nicht gewußt? Ehrenwort?«

»Das ist unglaublich!«

»Na, das ist ja schön, wenn es unglaublich ist. Übrigens, woher hätten Sie es auch wissen sollen? Allerdings, wenn hier nur eine Fliege vorbeifliegt, wird das gleich allgemein bekannt: so ein Nest ist Pawlowsk! Aber ich wollte Ihnen doch vorher davon Mitteilung machen, und Sie können mir dankbar sein. Nun, auf Wiedersehen – wahrscheinlich in jener Welt. Und noch eins: ich habe mich zwar Ihnen gegenüber gemein benommen, aber sagen Sie freundlichst selbst: warum hätte ich meine Chancen verlieren sollen? Etwa zu Ihrem Vorteil? Ich habe ihr ja meine Beichte gewidmet (wußten Sie das nicht?). Und wie hat sie diese Widmung aufgenommen! Hehe! Aber ihr gegenüber habe ich mich nicht gemein benommen, ihr gegenüber habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen; und doch hat sie mich beschimpft und verhöhnt… Übrigens habe ich mich auch Ihnen gegenüber nicht schuldig gemacht; wenn ich auch zu ihr das von dem abgenagten Knochen und noch manches in dieser Art gesagt habe, so teile ich Ihnen doch zum Entgelt jetzt Tag, Stunde und Ort der Zusammenkunft mit und decke dieses ganze Spiel auf… selbstverständlich aus Ärger und nicht aus Edelmut. Verzeihen Sie, ich bin redselig wie ein Stotterer oder wie ein Schwindsüchtiger. Seien Sie also auf der Hut, und ergreifen Sie baldigst die erforderlichen Maßnahmen, wenn Sie den Namen Mensch verdienen! Die Zusammenkunft findet heute abend statt, das ist sicher.«

Ippolit ging zur Tür, aber der Fürst rief ihm nach, und er blieb in der Tür stehen.

»Also Aglaja Iwanowna wird Ihrer Ansicht nach heute selbst zu Nastasja Filippowna gehen?« fragte der Fürst. Auf seinen Wangen und auf seiner Stirn traten rote Flecke hervor.

»Genau weiß ich es nicht, aber wahrscheinlich wird es so sein«, antwortete Ippolit, sich halb umwendend. »Es kann ja übrigens auch nicht anders sein. Nastasja Filippowna kann doch nicht zu ihr kommen! Und bei Ganja ist es auch unmöglich; der hat ja fast einen Toten bei sich in der Wohnung. Wie geht es denn dem General?«

»Schon aus dem einen Grunde ist es unmöglich!« rief der Fürst. »Wie kann sie denn dorthin gehen, selbst wenn sie es wollte? Sie kennen die Sitten in dieser Familie nicht; sie kann nicht allein zu Nastasja Filippowna gehen. Das ist Unsinn!«

»Sehen Sie mal, Fürst: für gewöhnlich springt niemand aus dem Fenster, aber wenn eine Feuersbrunst ausbricht, dann springt am Ende auch der vornehmste Gentleman und die vornehmste Dame aus dem Fenster. Wenn es nötig ist, dann ist eben nichts zu machen, und unser Fräulein geht zu Nastasja Filippowna. Oder verwehrt man es etwa Ihrem Fräulein überhaupt, auszugehen?«

»Nein, das meine ich nicht…«

»Nun, wenn das nicht der Fall ist, dann braucht sie nur die Stufen vor der Haustür hinabzusteigen und geradewegs hinzugehen, nötigenfalls unter Verzicht auf die Rückkehr nach Hause. Es gibt manchmal Fälle, in denen man die Schiffe hinter sich verbrennt und sich die Rückkehr nach Hause versagt; das Leben besteht doch nicht allein aus Frühstücken und Diners und Männern wie Fürst Schtsch. Mir scheint, Sie halten Aglaja Iwanowna für ein Modedämchen oder für ein Pensionsfräulein; ich habe darüber schon mit ihr gesprochen, und sie schien meiner Ansicht zu sein. Passen Sie um sieben oder acht Uhr auf… Ich würde an Ihrer Stelle jemand als Wache dorthin schicken, damit Sie genau den Augenblick abpassen, wo sie aus der Haustür tritt. Schicken Sie doch Kolja hin; Sie können sicher sein, daß er mit Vergnügen spionieren wird, das heißt für Sie … denn diese moralischen Dinge haben alle nur einen relativen Wert… Haha!«

Ippolit ging hinaus. Der Fürst sah keinen Anlaß, jemand zum Spionieren hinzuschicken, selbst wenn er dazu fähig gewesen wäre. Aglajas Befehl, er solle zu Hause bleiben, war jetzt beinah aufgeklärt: vielleicht wollte sie ihn abholen. Denkbar war allerdings auch, daß sie nicht wünschte, daß er durch irgendeinen Zufall dorthin geriet, und ihm deshalb befohlen hatte, zu Hause zu bleiben … Auch das war möglich. Ihm schwindelte; das ganze Zimmer drehte sich um ihn. Er legte sich auf das Sofa und schloß die Augen.

So oder so, jedenfalls kam die Sache jetzt zur Entscheidung, zum Abschluß. Nein, der Fürst hielt Aglaja nicht für ein Modedämchen oder für ein Pensionsfräulein; er fühlte jetzt, daß er schon längst gerade etwas Derartiges gefürchtet hatte; aber zu welchem Zweck wollte sie mit Nastasja Filippowna zusammenkommen? Ein kalter Schauder lief ihm über den ganzen Leib; er fieberte wieder.

Nein, er hielt sie nicht für ein Kind! Manche ihrer Blicke, manche ihrer Worte hatten ihn in der letzten Zeit erschreckt. Manchmal war es ihm so vorgekommen, als ob sie sich zu sehr Zwang antat, sich zu sehr zurückhielt, und er erinnerte sich, daß ihn das geängstigt hatte. Allerdings hatte er sich alle diese Tage bemüht, nicht daran zu denken, hatte die bedrückenden Gedanken verscheucht, aber was lag in dieser Seele verborgen? Diese Frage hatte ihn schon lange gequält, obgleich er an diese Seele glaubte. Und nun sollte dies alles sich heute entscheiden und aufgedeckt werden! Ein entsetzlicher Gedanke! Und dann auf der andern Seite »diese Frau«! Warum hatte er nur immer die Vorstellung gehabt, daß diese Frau gerade im letzten Augenblick erscheinen und sein ganzes Schicksal wie einen mürben Faden zerreißen würde? Daß er immer diese Vorstellung gehabt hatte, das hätte er jetzt beschworen mögen, obgleich seine Gedanken fast so wirr waren wie im Fieber. Wenn er sich in letzter Zeit bemüht hatte, sie zu vergessen, so hatte er das einzig und allein getan, weil er sie fürchtete. Wie stand es: liebte er diese Frau oder haßte er sie? Diese Frage legte er sich heute kein einziges Mal vor; in dieser Hinsicht war sein Herz rein: er wußte, wen er liebte … Er fürchtete nicht sosehr die Zusammenkunft der beiden, nicht die Seltsamkeit und den ihm unbekannten Grund dieser Zusammenkunft, nicht die Entscheidung, wie auch immer sie fallen mochte, – er fürchtete Nastasja Filippowna selbst. Er erinnerte sich sogar später, nach einigen Tagen, daß ihm in diesen fieberhaften Stunden fast die ganze Zeit über ihre Augen und ihr Blick vor der Seele gestanden hatten, daß er ihre Worte, seltsame Worte, zu hören geglaubt hatte, obgleich nach diesen fieberhaften, gramvollen Stunden ihm nachher nur sehr wenig in Erinnerung blieb. Er erinnerte sich zum Beispiel kaum daran, daß Wera ihm das Mittagessen gebracht und er gegessen hatte; er wußte nicht mehr, ob er nach dem Essen geschlafen hatte oder nicht. Er wußte nur, daß er an diesem Abend alles erst von dem Augenblick an völlig klar zu unterscheiden angefangen hatte, als Aglaja auf einmal zu ihm auf die Veranda gekommen und er vom Sofa aufgesprungen und in die Mitte des Raumes getreten war, um sie zu begrüßen: es war drei Viertel acht. Aglaja war ganz allein, sie trug einfache Kleidung, die sie anscheinend in Hast angelegt hatte, darüber einen leichten Burnus. Ihr Gesicht war blaß wie vorhin, aber ihre Augen funkelten in einem hellen, trockenen Glanz; einen solchen Ausdruck der Augen hatte er bisher nie bei ihr kennengelernt. Sie blickte ihn aufmerksam an.

»Sie sind ganz fertig«, bemerkte sie leise und anscheinend ruhig, »angezogen und mit dem Hut in der Hand; also hat Sie jemand benachrichtigt, und ich weiß auch, wer: Ippolit?«

»Ja, er hat es mir gesagt …«, murmelte der Fürst, halbtot vor Aufregung.

»Nun, dann kommen Sie: Sie wissen, daß Sie mich unbedingt begleiten müssen. Ich meine, Sie sind doch wohl soweit bei Kräften, daß Sie ausgehen können?«

»Ja, das bin ich, aber… ist es denn möglich?«

Er stockte sofort wieder und vermochte kein Wort mehr herauszubringen. Dies war sein einziger Versuch, die Wahnsinnige zurückzuhalten, dann folgte er ihr selbst wie ein Sklave. Wie unklar auch seine Gedanken waren, so begriff er doch, daß sie auch ohne ihn dorthin gehen würde und er ihr daher unter allen Umständen folgen müsse. Er ahnte, wie stark ihre Entschlossenheit war; er war außerstande, diesen wilden Drang zu hemmen. Sie gingen schweigsam und redeten auf dem ganzen Weg kaum ein Wort. Es fiel ihm nur auf, daß sie den Weg genau kannte, und als er einen Umweg einschlagen wollte, weil da nicht so viele Menschen gingen, und ihr dies vorschlug, hörte sie, sich anscheinend zur Aufmerksamkeit zwingend, zu und antwortete kurz: »Es ist ja ganz gleich!« Als sie schon ganz nahe bei Darja Alexejewnas Haus waren (einem großen, alten Holzhaus), kam eine luxuriös gekleidete Dame in Begleitung eines jungen Mädchens aus der Haustür; beide stiegen in eine dort wartende elegante Equipage, sie lachten und redeten laut und warfen den beiden Ankömmlingen keinen Blick zu, als bemerkten sie sie gar nicht. Kaum war die Equipage weggefahren, als die Haustür sich sofort zum zweitenmal öffnete und Rogoshin, der schon gewartet hatte, den Fürsten und Aglaja hereinließ und hinter ihnen die Tür zuriegelte.

»Im ganzen Haus ist jetzt niemand außer uns vieren«, bemerkte er laut und sah den Fürsten seltsam an.

Im ersten Zimmer erwartete sie Nastasja Filippowna, gleichfalls sehr einfach und ganz in Schwarz gekleidet; sie stand auf und kam ihnen einige Schritte entgegen, aber sie lächelte nicht und reichte dem Fürsten nicht einmal die Hand.

Ungeduldig hielt sie ihren unruhigen Blick auf Aglaja gerichtet. Beide setzten sich in einiger Entfernung voneinander – Aglaja in einer Ecke des Zimmers auf das Sofa, Nastasja Filippowna am Fenster. Der Fürst und Rogoshin setzten sich nicht und wurden auch gar nicht aufgefordert, sich zu setzen. Der Fürst blickte wieder erstaunt und, wie es schien, mit tiefem Schmerz Rogoshin an, aber dieser lächelte immer noch ganz in seiner alten Art. Das Schweigen dauerte noch einige Augenblicke.

Dann trat endlich ein unheilverkündender Ausdruck auf Nastasja Filippownas Gesicht; ihr Blick wurde starr, fest und haßerfüllt; sie wandte ihn nicht einen Augenblick von ihrer Besucherin ab. Aglaja war offenbar verwirrt, aber nicht schüchtern. Beim Eintritt hatte sie ihrer Nebenbuhlerin kaum einen Blick zugeworfen und dann die ganze Zeit mit niedergeschlagenen Augen dagesessen, als wäre sie in Gedanken versunken. Ein paarmal ließ sie wie von ungefähr ihren Blick durch das Zimmer gleiten; auf ihrem Gesicht malte sich deutlich der Widerwille, den sie empfand, als ob sie sich hier zu beschmutzen fürchtete. Mechanisch brachte sie ihre Kleidung in Ordnung und wechselte sogar einmal unruhig ihren Platz, indem sie in die Sofaecke rückte. Sie war sich kaum selbst aller ihrer Bewegungen bewußt, aber gerade durch diese Unbewußtheit wurde das Beleidigende, das in ihnen lag, noch gesteigert. Endlich blickte sie Nastasja Filippowna fest und gerade in die Augen und las sogleich klar alles, was in deren nichts Gutes verheißendem Blick funkelte. Das Weib hatte das Weib verstanden; Aglaja fuhr zusammen.

»Sie wissen sicher, warum ich Sie zu einer Zusammenkunft eingeladen habe«, sagte sie endlich, aber sehr leise; ja sie stockte sogar ein paarmal in diesem kurzen Satz.

»Nein, ich weiß nichts«, antwortete Nastasja Filippowna kurz und trocken.

Aglaja errötete. Vielleicht kam es ihr auf einmal sehr seltsam und wunderlich vor, daß sie jetzt bei dieser Frau, im Hause »dieses Weibes«, saß und auf deren Antwort wartete. Beim ersten Ton von Nastasja Filippownas Stimme ging es wie ein Zittern durch ihren Körper. Das alles bemerkte »dieses Weib« natürlich sehr genau.

»Sie verstehen alles… aber Sie stellen sich absichtlich, als verstünden Sie es nicht«, sagte Aglaja so leise, daß es beinahe nur ein Flüstern war, und blickte mit finsterer Miene zu Boden.

»Was könnte ich für Grund haben, das zu tun?« erwiderte Nastasja Filippowna leise lächelnd.

»Sie wollen aus meiner Lage Vorteil ziehen… daß ich in Ihrem Hause bin«, fuhr Aglaja mit komischer Ungeschicklichkeit fort.

»An dieser Lage sind Sie schuld und nicht ich!« fuhr Nastasja Filippowna auf einmal auf. »Nicht ich habe Sie eingeladen, sondern Sie mich, und ich weiß bis zu diesem Augenblick noch nicht warum.«

Aglaja hob hochmütig den Kopf.

»Halten Sie Ihre Zunge im Zaum; ich bin nicht hergekommen, mit dieser Ihrer Waffe zu kämpfen…«

»Ah! Also sind Sie doch hergekommen, ›um zu kämpfen‹? Denken Sie sich, ich hatte geglaubt, Sie wären… geistreicher…« Beide blickten einander schon mit unverhohlenem Zorn an. Die eine dieser Frauen war dieselbe, die noch vor kurzem so bewegte Briefe an die andere geschrieben hatte. Und das alles war bei der ersten Begegnung und den ersten Worten wie vom Winde weggeblasen. Ja es schien, daß niemand von den vier Menschen, die sich in diesem Augenblick im Zimmer befanden, dies seltsam fand. Der Fürst, der es noch gestern nicht für möglich gehalten hätte, so etwas auch nur zu träumen, stand jetzt da, sah und hörte, als hätte er das alles schon längst vorhergesehen. Der phantastischste Traum hatte sich auf einmal in grelle, aufdringliche Wirklichkeit verwandelt. Die eine dieser Frauen empfand in diesem Augenblick für die andere bereits eine solche Verachtung und wünschte so lebhaft, ihr das zu zeigen (vielleicht war sie auch nur zu diesem Zweck gekommen, wie Rogoshin am nächsten Tag äußerte), daß, mochte auch diese andere mit ihrem zerrütteten Geist und ihrem kranken Herzen noch so phantasiebegabt sein, doch wohl keine vorher gebildete Meinung der giftigen, echt weiblichen Verachtung von Seiten ihrer Rivalin standhalten konnte. Der Fürst war überzeugt, daß Nastasja Filippowna nicht selbst anfangen würde, von den Briefen zu reden; aus ihren funkelnden Blicken konnte er entnehmen, wie sehr sie es jetzt bereuen mochte, diese Briefe geschrieben zu haben; aber er hätte die Hälfte seines Lebens dafür hingegeben, wenn Aglaja jetzt nicht von ihnen gesprochen hätte.

Aber Aglaja schien sich plötzlich zusammenzunehmen und sich mit einemmal wieder in die Gewalt zu bekommen.

»Sie haben mich mißverstanden«, sagte sie, »ich bin nicht hergekommen, um… mit Ihnen zu streiten, obgleich ich Sie nicht liebe. Ich… ich bin zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen menschlich zu sprechen. Als ich Sie hierherbat, hatte ich schon meinen Entschluß gefaßt, worüber ich mit Ihnen reden wollte, und von meinem Entschluß werde ich nicht abgehen, auch wenn Sie mich gar nicht verstehen sollten. Das würde Ihr Schade sein, nicht der meinige. Ich wollte Ihnen auf das antworten, was Sie mir geschrieben haben, und zwar persönlich, weil mir das zweckmäßiger Fürsten wiedersah, ging mir sein Schicksal tief zu Herzen. Lachen Sie nicht; wenn Sie darüber lachen, sind Sie nicht wert, es anzuhören…«

»Sie sehen, daß ich nicht lache«, versetzte Nastasja Filippowna traurig und finster.

»Übrigens ist es mir ganz gleich, lachen Sie, soviel Sie wollen! Als ich ihn selbst fragte, sagte er mir, er liebe Sie schon längst nicht mehr, schon die bloße Erinnerung an Sie sei ihm eine Qual, aber Sie täten ihm leid, und sooft er an Sie denke, sei es ihm, als habe er einen Stich ins Herz bekommen, der lebenslänglich blute. Ich muß Ihnen noch sagen, daß ich noch nie in meinem Leben einem Menschen begegnet bin, der ihm an edler Schlichtheit und grenzenlosem Vertrauen gleichkäme. Aus allem, was er sagte, konnte ich entnehmen, daß ihn jeder, der es will, betrügen kann und daß er jedem, der ihn betrogen hat, nachher verzeihen wird, und das war der Grund, weshalb ich ihn liebgewann…«

Aglaja hielt einen Augenblick inne, sie schien erschrocken zu sein und ihren eigenen Ohren nicht zu glauben, daß sie ein solches Wort hatte aussprechen können; aber zu gleicher Zeit funkelte ein grenzenloser Stolz in ihrem Blick auf; es machte den Eindruck, als sei ihr jetzt alles gleich; mochte selbst »dieses Weib« über das ihr soeben entschlüpfte Bekenntnis lachen.

»Ich habe Ihnen alles gesagt, und jetzt haben Sie gewiß verstanden, was ich von Ihnen will?«

»Vielleicht habe ich es verstanden; aber sprechen Sie es selbst aus!« antwortete Nastasja Filippowna leise.

Der helle Zorn flammte in Aglajas Gesicht auf.

»Ich wollte von Ihnen erfahren«, sagte sie fest und deutlich, »mit welchem Recht Sie sich in seine Gefühle für mich einmischen. Mit welchem Recht haben Sie es gewagt, an mich Briefe zu schreiben? Mit welchem Recht erklären Sie alle Augenblicke ihm und mir, daß Sie ihn lieben, und das, nachdem Sie ihn selbst verlassen haben und ihm in so beleidigender und… schmachvoller Weise weggelaufen sind?«

»Ich habe weder ihm noch Ihnen erklärt, daß ich ihn liebe«, sagte Nastasja Filippowna mit sichtlicher Anstrengung. »Und… Sie haben recht darin, daß ich ihm weggelaufen bin…,« fügte sie kaum hörbar hinzu.

»Wie können Sie sagen, Sie hätten es weder ihm noch mir erklärt?« rief Aglaja. »Und Ihre Briefe? Wer hat Sie gebeten, bei uns die Rolle der Heiratsvermittlerin zu übernehmen und mir zuzureden, daß ich ihn nehmen soll? Ist das nicht eine deutliche Erklärung Ihrer eigenen Empfindungen? Warum drängen Sie sich uns auf? Ich dachte zuerst schon, Sie wollten im Gegenteil dadurch, daß Sie sich in unsere Angelegenheiten einmischten, bei mir eine Abneigung gegen ihn erwecken, damit ich mich von ihm abwandte, und erst nachher habe ich verstanden, was dahintersteckte: Sie bildeten sich einfach ein, daß Sie mit all diesen Narrenspossen eine große Heldentat vollführten… Aber konnten Sie ihn denn überhaupt lieben, wenn Sie in Ihre eigene Eitelkeit so sehr verliebt sind? Warum sind Sie nicht einfach von hier fortgereist, statt mir lächerliche Briefe zu schreiben? Warum heiraten Sie jetzt nicht den edlen Mann, der Sie so liebt und Ihnen die Ehre erwiesen hat, Ihnen seine Hand anzubieten? Der Grund ist nur zu klar: wenn Sie Rogoshin heiraten, wo bleibt dann die Ihnen angetane Schmach? Man erweist Ihnen sogar zuviel Ehre! Jewgenij Pawlowitsch hat von Ihnen gesagt, Sie hätten zuviel Gedichte gelesen und seien ›zu gebildet für Ihre… Stellung‹; Sie seien ein gelehrtes Frauenzimmer und eine Müßiggängerin; nehmen Sie noch Ihre Eitelkeit hinzu, da haben Sie all Ihre Motive…«

»Und Sie sind keine Müßiggängerin?«

Gar zu rasch und gar zu offen war das Gespräch zu dieser unerwarteten Tonart gelangt, unerwartet insofern, als Nastasja Filippowna noch auf der Fahrt nach Pawlowsk von einem glücklichen Ausgang geträumt hatte, obwohl sie natürlich eher Schlechtes als Gutes erwartete. Aglaja aber hatte sich in einem Augenblick von ihrem Affekt völlig hinreißen lassen, wie wenn sie von einem steilen Berge hinabfuhr, und konnte der süßen Lockung, sich zu rächen, nicht widerstehen. Für Nastasja Filippowna war es eine seltsame Überraschung, Aglaja in einem solchen Zustand zu sehen; sie betrachtete sie, als traute sie ihren Augen nicht, und wußte sich im ersten Augenblick überhaupt nicht zurechtzufinden. Mochte ihr nun, wie Jewgenij Pawlowitsch meinte, die Lektüre von Gedichten den Kopf ein bißchen verdreht haben, oder mochte sie, wovon der Fürst überzeugt war, einfach eine Irrsinnige sein: jedenfalls war diese Frau, obwohl sie manchmal so zynische, dreiste Manieren herauskehrte, in Wirklichkeit weit schamhafter, zartfühlender und vertrauensvoller, als man es von ihr hätte denken sollen. Allerdings waren Bücherwissen, ein Hang zur Träumerei, eine große Verschlossenheit und eine zügellose Phantasie hervorstechende Eigenschaften an ihr, aber dafür besaß sie auch eine bedeutende seelische Kraft und Tiefe…

Der Fürst hatte dafür Verständnis; sein Gesicht verriet, wie sehr er litt. Aglaja bemerkte dies und zitterte vor Haß.

»Wie können Sie sich erdreisten, so mit mir zu reden?« rief sie in Erwiderung auf Nastasja Filippownas Bemerkung in unbeschreiblich hochmütigem Tone.

»Sie haben sich gewiß verhört«, versetzte Nastasja Filippowna erstaunt. »Wie soll ich denn mit Ihnen geredet haben?«

»Wenn Sie eine ehrenhafte Frau sein wollten, warum haben Sie sich dann von Ihrem Verführer Tozkij nicht einfach losgesagt… ohne alles Komödienspielen?« sagte Aglaja auf einmal ohne äußeren Anlaß.

»Was wissen Sie von meiner Lage, daß Sie über mich zu Gericht zu sitzen wagen?« rief Nastasja Filippowna zusammenfahrend; sie war erschreckend blaß geworden.

»Ich weiß soviel davon, daß Sie nicht arbeiten gegangen, sondern mit dem reichen Rogoshin davongefahren sind, um den gefallenen Engel zu spielen. Ich wundere mich nicht, daß Tozkij sich um des gefallenen Engels willen erschießen wollte!«

»Hören Sie auf damit!« erwiderte Nastasja Filippowna voll Abscheu und wie in tiefem Schmerz. »Sie haben für mich ebensoviel Verständnis wie… Darja Alexejewnas Stubenmädchen, das neulich mit seinem Bräutigam vor dem Friedensrichter prozessierte. Und die hätte noch eher Verständnis…«

»Wahrscheinlich ist sie ein ehrbares Mädchen, das von seiner Arbeit lebt. Warum reden Sie von einem Stubenmädchen mit solcher Geringschätzung?«

»Meine Geringschätzung gilt nicht der Arbeit, sondern Ihnen, wenn Sie von der Arbeit reden.«

»Wenn Sie hätten ehrbar leben wollen, dann wären Sie Wäscherin geworden.«

Beide standen auf und blickten einander mit bleichen Gesichtern an.

»Aglaja, halten Sie ein! Sie sind ungerecht!« rief der Fürst fassungslos. Rogoshin lächelte nicht mehr, sondern hörte mit zusammengepreßten Lippen und verschränkten Armen zu.

»Da, seht sie an!« sagte Nastasja Filippowna, zitternd vor zorniger Erregung. »Seht dieses Fräulein an! Und ich hatte sie für einen Engel gehalten! Sind Sie denn ohne Gouvernante zu mir gekommen, Aglaja Iwanowna? … Aber wenn Sie wollen… wenn Sie wollen, so werde ich Ihnen sofort geradeheraus, ungeschminkt sagen, warum Sie zu mir gekommen sind. Sie haben Angst gehabt, darum sind Sie gekommen!«

»Angst vor Ihnen?« fragte Aglaja, ganz außer sich vor naivem, hemmungslosem Erstaunen darüber, daß die andere so mit ihr zu reden wagte.

»Allerdings, vor mir! Wenn Sie sich entschlossen, zu mir zu kommen, so geschah das aus Furcht. Und wen man fürchtet, den verachtet man nicht. Nein, wenn ich jetzt daran denke, daß ich Sie hochgeschätzt habe, sogar noch bis zu diesem Augenblick! Und wollen Sie wissen, warum Sie vor mir Angst haben und welches jetzt Ihre Hauptabsicht ist? Sie wollten persönlich feststellen, wen von uns beiden er mehr liebt, mich oder Sie, denn Sie sind schrecklich eifersüchtig…«

»Er hat mir bereits gesagt, daß er Sie haßt…«, flüsterte Aglaja kaum vernehmbar.

»Vielleicht; vielleicht bin ich seiner nicht wert, nur… nur glaube ich, Sie haben gelogen! Er kann mich nicht hassen, und er hat das nicht sagen können! Ich bin übrigens bereit, Ihnen… in Anbetracht Ihrer Lage zu verzeihen… aber ich habe doch eine bessere Meinung von Ihnen gehabt; ich glaubte, Sie wären klüger… und auch schöner, bei Gott!… Nun, dann nehmen Sie Ihren Schatz hin… da ist er, er blickt nach Ihnen hin und kann sich gar nicht fassen; nehmen Sie ihn für sich, aber unter einer Bedingung: machen Sie augenblicklich, daß Sie hinauskommen! Augenblicklich!«

Sie sank in einen Sessel und brach in Tränen aus. Aber auf einmal leuchtete ein neuer Gedanke in ihren Augen auf; sie blickte Aglaja fest und unverwandt an und stand von ihrem Sitz auf.

»Willst du, daß ich ihm jetzt gleich be-feh-le, hörst du wohl? Ich be-feh-le ihm, und er wird sich sofort von dir lossagen und für immer bei mir bleiben und mich heiraten, und du wirst allein nach Hause laufen. Willst du, willst du?« schrie sie wie eine Wahnsinnige, vielleicht ohne selbst daran zu glauben, daß sie solche Worte sprechen konnte.

Aglaja stürzte erschrocken zur Tür, aber in der Tür blieb sie wie angenagelt stehen und hörte weiter zu.

»Willst du, daß ich Rogoshin fortjage? Du glaubtest wohl, ich würde mich dir zuliebe schon mit Rogoshin trauen lassen? Gleich diesen Augenblick werde ich in deiner Gegenwart rufen: ›Mach, daß du wegkommst, Rogoshin!‹ und zum Fürsten werde ich sagen: ›Denkst du noch an das, was du mir versprochen hast?‹ O Gott, warum habe ich mich nur so vor ihnen allen erniedrigt? Und du, Fürst, hast du mir nicht beteuert, du würdest an meiner Seite bleiben, was auch mit mir geschehen möge, und mich niemals verlassen, und du hättest mich lieb und würdest mir alles verzeihen und würdest mich a… achten…? Ja, auch das hast du gesagt! Und ich bin damals von dir weggelaufen, nur um dir deine Freiheit wiederzugeben, aber jetzt will ich nicht mehr! Warum hat sie mich auch wie eine Dirne behandelt? Frag Rogoshin, ob ich eine Dirne bin, er wird es dir sagen! Was wirst du jetzt tun, wo sie mich beschimpft hat und noch dazu in deiner Gegenwart? Wirst auch du dich von mir abwenden, ihr deinen Arm bieten und sie mit dir fortnehmen? Dann sollst du verflucht sein, denn du bist der einzige Mensch gewesen, an den ich geglaubt habe. Geh weg, Rogoshin, dich kann ich nicht brauchen!« schrie sie fast besinnungslos; sie preßte die Worte mit Anstrengung hervor; ihr Gesicht war verzerrt, ihre Lippen trocken. Offenbar glaubte sie selbst nicht im geringsten an einen Erfolg ihrer Prahlerei, wünschte aber doch, diese Situation noch um einen Augenblick zu verlängern und sich selbst zu täuschen. Ihre Erregung war so stark, daß sie vielleicht den Tod zur Folge haben konnte, wenigstens glaubte das der Fürst. »Da steht er! Sieh hin!« rief sie endlich Aglaja zu und wies mit der Hand auf den Fürsten. »Wenn er nicht sofort zu mir herantritt und mich nimmt und dich verläßt, dann kannst du ihn behalten; ich trete ihn dir ab, ich kann ihn nicht brauchen…«

Sie sowohl wie Aglaja standen nun schweigend da, wie wenn sie auf etwas warteten, und blickten beide wie geistesgestört nach dem Fürsten hin. Aber der verstand die ganze Bedeutung dieser Herausforderung vielleicht nicht; ja man kann sogar sagen: er verstand sie gewiß nicht. Er sah nur das verzweifelte, irrsinnige Gesicht vor sich, das, wie er sich einmal Aglaja gegenüber ausgedrückt hatte, bei ihm immer die Empfindung hervorrief, als ob ihm das Herz von einem tiefen Stich blute. Er konnte diesen Anblick nicht länger ertragen, wandte sich an Aglaja und sagte, auf Nastasja Filippowna weisend, im Ton vorwurfsvoller Bitte:

»Wie ist es nur möglich! Sie ist doch… so unglücklich!«

Aber kaum hatte er das gesagt, als er unter Aglajas furchtbarem Blick verstummte. In diesem Blick lag so viel Schmerz und gleichzeitig ein so grenzenloser Haß, daß er die Hände zusammenschlug, aufschrie und zu ihr hinstürzte, aber es war bereits zu spät. Sie hatte auch den kurzen Augenblick seines Schwankens nicht ertragen können, schlug die Hände vor das Gesicht, rief: »Ach, mein Gott!« und stürzte aus dem Zimmer. Rogoshin eilte ihr nach, um ihr die Haustür aufzuriegeln.

Auch der Fürst lief ihr nach, aber als er zur Schwelle gelangt war, umfingen ihn zwei Arme. Nastasja Filippownas gramvolles, entstelltes Gesicht blickte ihn starr an, die bläulichen Lippen bewegten sich und fragten:

»Willst du ihr nach? Willst du ihr nach?«

Sie fiel ihm bewußtlos in die Arme. Er hob sie auf, trug sie ins Zimmer, legte sie auf einen Lehnsessel und stand über sie gebeugt in stumpfer Erwartung da. Auf einem Tischchen stand ein Glas mit Wasser; der zurückkehrende Rogoshin ergriff es und spritzte ihr Wasser ins Gesicht; sie schlug die Augen auf und war eine Weile noch völlig verständnislos; aber auf einmal blickte sie um sich, zuckte zusammen, schrie auf und stürzte zum Fürsten hin.

»Mein! Mein!« schrie sie. »Ist das stolze Fräulein weg? Hahaha!« lachte sie krampfhaft. »Hahaha! Ich habe ihn diesem Fräulein abtreten wollen! Aber warum? Wozu? Ich Wahnsinnige!… Geh weg, Rogoshin! Hahaha!«

Rogoshin blickte die beiden starr an, ohne ein Wort zu sagen, nahm seinen Hut und ging hinaus. Zehn Minuten darauf saß der Fürst neben Nastasja Filippowna, blickte sie unverwandt an und streichelte ihr mit beiden Händen Kopf und Gesicht wie einem kleinen Kind. Er lachte mit ihr und war bereit, Tränen zu vergießen, wenn sie weinte. Er sprach nicht, sondern hörte geduldig ihr leidenschaftliches, glückseliges, unzusammenhängendes Gestammel an, verstand kaum etwas davon, lächelte aber leise, und sobald es ihm schien, als wolle sie wieder anfangen, traurig zu werden oder zu weinen, Vorwürfe zu erheben oder sich zu beklagen, begann er sogleich wieder, ihr den Kopf zu streicheln und zärtlich die Hände über ihre Wangen zu führen und ihr wie einem Kinde tröstend zuzureden.

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Kapitel 47

IX

Nach dem Ereignis, das wir im letzten Kapitel erzählt haben, waren zwei Wochen vergangen, und die Situation der handelnden Personen unserer Erzählung hatte sich dermaßen verändert, daß es uns außerordentlich schwer wird, ohne besondere Erläuterungen an die Fortsetzung zu gehen. Und doch fühlen wir, daß wir uns auf eine einfache Darlegung der Tatsachen beschränken müssen, unter möglichster Vermeidung besonderer Erläuterungen, und zwar aus einem sehr einfachen Grund: weil wir selbst in vielen Fällen in Verlegenheit sind, wie wir die Vorgänge erklären sollen. Ein solches Bekenntnis unsererseits muß dem Leser notwendigerweise sonderbar und unverständlich erscheinen, denn wie kann man etwas erzählen, wenn man selbst keine klare Vorstellung davon und keine persönliche Meinung darüber hat? Um uns nicht in eine noch schiefere Lage zu bringen, wollen wir lieber versuchen, das Gesagte an einem Beispiel klarzumachen; vielleicht wird dann der wohlgeneigte Leser verstehen, worin für uns eigentlich die Schwierigkeit liegt, und dieses Verfahren empfiehlt sich um so mehr, als dieses Beispiel keine Abschweifung, sondern im Gegenteil die unmittelbare, direkte Fortsetzung der Erzählung sein wird.

Zwei Wochen waren vergangen, das heißt, der Juli hatte bereits begonnen, und während dieser beiden Wochen war die Geschichte unseres Helden und besonders das letzte Ereignis dieser Geschichte allmählich in allen Straßen, die in der Nachbarschaft der Landhäuser Lebedews, Ptizyns, Darja Alexejewnas und der Familie Jepantschin lagen, kurz gesagt, fast im ganzen Ort und sogar in dessen Umgegend bekannt geworden und hatte dabei eine seltsame, sehr erheiternde, beinah unglaubliche und gleichzeitig beinah zum Greifen anschauliche Fassung erhalten. Fast die ganze Gesellschaft, Einheimische, Sommerfrischler, Residenzler, die zu den Konzerten herauskamen, alle erzählten ein und dieselbe Geschichte, aber mit tausend Variationen: ein Fürst habe in einer ehrenwerten, bekannten Familie einen Skandal herbeigeführt, sich von einer Tochter dieser Familie, die schon seine Braut gewesen sei, losgesagt, sich von einer bekannten Dame der Halbwelt betören lassen, alle seine früheren Beziehungen abgebrochen und beabsichtige nun, ohne sich um etwas zu kümmern, trotz aller Drohungen und trotz der allgemeinen Entrüstung des Publikums, sich in nächster Zeit mit dem ehrlosen Frauenzimmer hier in Pawlowsk in aller Öffentlichkeit, erhobenen Hauptes und allen gerade ins Gesicht blickend trauen zu lassen. Dieses Geschichtchen wurde durch skandalöse Züge dermaßen ausgeschmückt, und es wurden so viele bekannte, bedeutende Persönlichkeiten hineingemischt und so viele mannigfache phantastische und rätselhafte Details hinzugetan, und es stützte sich andrerseits auf so unwiderlegliche, feststehende Tatsachen, daß die allgemeine Neugier und die entstehenden Klatschereien gewiß sehr entschuldbar waren. Die feinste, schlauste und gleichzeitig am wahrscheinlichsten klingende Interpretation wurde diesem Geschichtchen Welt eine Gefallene zu heiraten und dadurch zu beweisen, daß es in seiner Ideenwelt weder gefallene noch tugendhafte Frauen gebe, sondern nur einzig und allein die freie Frau, und daß er die herkömmliche, übliche Einteilung nicht anerkenne, sondern ausschließlich die »Frauenfrage« auf den Schild erhebe. Ja die gefallene Frau stehe in seinen Augen sogar noch etwas höher als die nicht gefallene. Diese Darstellung erschien sehr glaubwürdig und wurde von der Mehrzahl der Sommerfrischler akzeptiert, um so mehr, als sie durch die Ereignisse, die nun jeder weitere Tag brachte, ihre Bestätigung fand. Allerdings blieb eine Menge von Dingen unaufgeklärt: es wurde erzählt, das arme Mädchen habe ihren Bräutigam – oder nach anderen: ihren »Verführer« – so innig geliebt, daß sie gleich am nächsten Tag, nachdem er sich von ihr losgesagt habe, zu ihm hingelaufen sei, als er sich gerade bei seiner Geliebten befunden habe; andere behaupteten dagegen, er selbst habe sie absichtlich zu seiner Geliebten hingelockt, lediglich aus Nihilismus, um sie zu beschimpfen und zu beleidigen. Wie dem nun auch sein mochte, das Interesse an diesem Ereignis wuchs von Tag zu Tag, zumal nicht der geringste Zweifel aufkommen konnte, daß die skandalöse Hochzeit wirklich stattfinden würde.

Und wenn uns nun jemand eine Erklärung abverlangte, nicht hinsichtlich der nihilistischen Färbung, die man dem Ereignis verliehen hatte, o nein, sondern nur darüber, inwieweit die in Aussicht genommene Hochzeit den wirklichen Wünschen des Fürsten entsprochen habe, worin eigentlich in diesem Augenblick seine Wünsche bestanden hätten, wie eigentlich der Seelenzustand unseres Helden im vorliegenden Zeitpunkt zu charakterisieren sei, und über andere Punkte dieser Art – dann müßten wir bekennen, daß wir uns in großer Verlegenheit befinden, was wir darauf antworten sollen. Wir wissen nur das eine, daß die Hochzeit wirklich angesetzt wurde und daß der Fürst selbst Lebedew, Keller und einem Bekannten Lebedews, den letzterer ihm bei dieser Gelegenheit vorstellte, Vollmacht gab, alle erforderlichen Besorgungen sowohl kirchlicher als auch wirtschaftlicher Art zu erledigen; daß sie angewiesen wurden, dabei nicht mit Geld zu sparen; daß Nastasja Filippowna zur Hochzeit drängte und sie zu beschleunigen wünschte; daß zum Bräutigamsmarschall des Fürsten Keller auf seine eigene dringende Bitte ernannt wurde und zu Nastasja Filippownas Brautmarschall Burdowskij, der dieses Amt mit Begeisterung übernahm, und daß der Hochzeitstag auf Anfang Juli festgesetzt wurde. Aber außer diesen durchaus sicheren Details sind uns noch einige Tatsachen bekannt, die uns entschieden wieder irremachen, nämlich deswegen, weil sie den vorhergehenden widersprechen. Wir hegen zum Beispiel starken Verdacht, daß der Fürst, nachdem er Lebedew und die andern mit der Erledigung aller Geschäfte betraut hatte, gleich am selben Tag die erfolgte Ernennung eines Zeremonienmeisters und der beiden Marschälle und das Bevorstehen der Hochzeit fast ganz vergaß und daß, wenn er die Sache durch Überlassung der Geschäfte an andere möglichst schnell ordnete, er es einzig und allein in der Absicht tat, nun selbst nicht mehr daran denken zu müssen und dies alles vielleicht sogar so schnell wie möglich ganz zu vergessen. Woran dachte er aber in diesem Falle selbst, woran wollte er sich erinnern und wonach strebte er? Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß ihm hierbei keinerlei Gewalt angetan wurde (etwa von seiten Nastasja Filippownas). Nastasja Filippowna hatte allerdings den dringenden Wunsch, daß die Hochzeit möglichst bald stattfinden möge, und sie war es, die sich den Plan mit der Hochzeit ausgedacht hatte, und nicht der Fürst; aber der Fürst hatte doch aus freien Stücken eingewilligt, freilich etwas zerstreut und wie wenn man von ihm etwas ganz Alltägliches verlangte. Solche merkwürdigen Tatsachen liegen uns in beträchtlicher Zahl vor, aber weit entfernt, zur Aufhellung zu dienen, verdunkeln sie vielmehr unserer Ansicht nach die Erklärung des Hergangs, auch wenn wir ihrer noch so viele beibringen würden; aber doch wollen wir hier noch ein Beispiel anführen.

Es ist uns genau bekannt, daß während dieser beiden Wochen der Fürst ganze Tage und Abende mit Nastasja Filippowna zusammen verbrachte; daß sie ihn zum Spaziergang und zu den Konzerten mitnahm; daß er täglich mit ihr in der Equipage ausfuhr; daß er anfing, sich ihretwegen zu beunruhigen, wenn er sie nur eine Stunde lang nicht alle zusammen sofort zu Nina Alexandrowna, gefolgt vom Oberhaupt der Familie, Iwan Fjodorowitsch selbst, der soeben nach Hause zurückgekehrt war, und hinter ihnen schlich auch Fürst Lew Nikolajewitsch her, trotz der gekündigten Freundschaft und der harten Worte; aber auf Warwara Ardalionownas Anordnung wurde er auch dort nicht zu Aglaja gelassen. Die Sache endete übrigens damit, daß Aglaja, als sie sah, wie die Mutter und die Schwestern um sie weinten und daß sie ihr keinerlei Vorwürfe machten, sich in ihre Arme warf und sogleich mit ihnen nach Hause zurückkehrte. Man erzählte, obgleich diese Gerüchte nicht sehr zuverlässig waren, Gawrila Ardalionowitsch habe auch diesmal sehr wenig Glück gehabt; er habe, als Warwara Ardalionowna zu Lisaweta Prokofjewna gelaufen und er mit Aglaja allein geblieben sei, die Gelegenheit benutzen wollen und angefangen, von seiner Liebe zu reden; als Aglaja das gehört habe, sei sie trotz all ihres Kummers und ihrer Tränen auf einmal in lautes Gelächter ausgebrochen und habe ihm die seltsame Frage vorgelegt, ob er wohl zum Beweis seiner Liebe auf der Stelle seinen Finger über einer Kerze verbrennen wolle. Gawrila Ardalionowitsch sei über dieses Ansinnen ganz verdutzt und fassungslos gewesen und habe ein so verblüfftes Gesicht gemacht, daß Aglaja über ihn krampfhaft gelacht, ihn stehengelassen habe und zu Nina Alexandrowna nach oben gelaufen sei, wo ihre Eltern sie dann vorgefunden hätten. Diese Geschichte gelangte am darauffolgenden Tag durch Ippolit zur Kenntnis des Fürsten. Da Ippolit nicht mehr vom Bett aufstand, ließ er den Fürsten eigens zu sich rufen, um ihm diese Nachricht mitzuteilen. Wie dieses Gerücht zu Ippolits Ohren gelangt war, ist uns unbekannt, aber als der Fürst die Geschichte von der Kerze und dem Finger hörte, mußte er so lachen, daß sogar Ippolit sich wunderte, aber dann fuhr er auf einmal zusammen und brach in Tränen aus… Überhaupt befand er sich in diesen Tagen in großer Unruhe und in einer außerordentlichen, undefinierbaren und qualvollen Verwirrung. Ippolit behauptete geradezu, er sei von Sinnen, aber darüber ließ sich noch nichts Sicheres sagen.

Wenn wir all diese Tatsachen anführen, es jedoch ablehnen, sie zu erklären, beabsichtigen wir nicht, unsern Helden in den Augen unserer Leser zu rechtfertigen. Wir sind im Gegenteil durchaus bereit, die Entrüstung zu teilen, die er sogar bei seinen Freunden durch sein Verhalten erweckte. Selbst Wera Lebedewa war eine Zeitlang über ihn empört; sogar Kolja war empört, desgleichen Keller, solange er noch nicht zum Bräutigamsmarschall erwählt war, ganz zu schweigen von Lebedew selbst, der sogar gegen den Fürsten zu intrigieren anfing, und zwar ebenfalls aus Empörung, die sogar ganz aufrichtig war. Aber davon werden wir noch später zu reden haben. Allgemein gesehen sind wir völlig und in höchstem Grade mit einigen sehr kräftigen und in psychologischer Hinsicht sogar sehr tiefsinnigen Bemerkungen einverstanden, die Jewgenij Pawlowitsch offen und ohne Umschweife dem Fürsten gegenüber in einem freundschaftlichen Gespräch aussprach, und zwar am sechsten oder siebenten Tag nach dem Vorfall bei Nastasja Filippowna. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß nicht nur Jepantschins selbst, sondern auch alle, die direkt oder indirekt mit der Familie in Verbindung standen, es für notwendig hielten, alle Beziehungen zum Fürsten vollständig abzubrechen. Fürst Schtsch. zum Beispiel wandte sich sogar weg, als er dem Fürsten begegnete, und erwiderte seinen Gruß nicht. Aber Jewgenij Pawlowitsch fürchtete nicht, sich dadurch zu kompromittieren, daß er den Fürsten besuchte, obwohl er selbst wieder angefangen hatte, täglich bei Jepantschins zu verkehren, und dort mit sichtlich erhöhter Freundlichkeit aufgenommen wurde. Er kam zum Fürsten gleich an dem Tage, nachdem die Jepantschins alle aus Pawlowsk abgereist waren. Als er bei dem Fürsten eintrat, kannte er bereits alle im Publikum verbreiteten Gerüchte, ja er hatte vielleicht selbst teilweise bei ihrer Verbreitung mitgewirkt. Der Fürst freute sich sehr über sein Kommen und begann sogleich von Jepantschins zu reden; dieses schlichte, offenherzige Verhalten löste auch dem Gast die Zunge, so daß auch er ohne Umschweife geradewegs zur Sache kam.

Der Fürst wußte noch nicht, daß Jepantschins abgereist waren; er war überrascht und wurde blaß; aber einen Augenblick darauf nickte er verwirrt und nachdenklich mit dem Kopf und gestand, daß es wohl habe so kommen müssen; dann erkundigte er sich schnell danach, wohin sie denn abgereist seien. Jewgenij Pawlowitsch beobachtete ihn unterdessen aufmerksam, und alles, was er wahrnahm, das heißt die Schnelligkeit der Fragen, ihre Direktheit, die Verwirrung des Fürsten und gleichzeitig eine gewisse sonderbare Offenherzigkeit, Unruhe und Aufregung, alles dies versetzte ihn in nicht geringe Verwunderung. Er machte übrigens in liebenswürdiger Weise dem Fürsten von allem eingehende Mitteilung; dieser wußte vieles noch nicht, und sein Besuch war der erste Bote, der von jener Familie zu ihm kam. Jewgenij Pawlowitsch bestätigte, daß Aglaja tatsächlich krank gewesen sei und drei Nächte hintereinander fast gar nicht geschlafen, sondern immer gefiebert habe; jetzt gehe es ihr besser, und sie befinde sich außer aller Gefahr, aber in einem nervösen, hysterischen Zustand. Ein Glück sei nur, daß in der Familie der vollste Friede herrsche. Aglajas Angehörige seien darauf bedacht, alle Andeutungen über das Geschehene zu vermeiden, sogar wenn sie unter sich seien, nicht nur in Aglajas Gegenwart. Die Eltern hätten schon miteinander über eine Reise ins Ausland gesprochen, die im Herbst, gleich nach Adelaidas Hochzeit, stattfinden solle; Aglaja habe die ersten Mitteilungen darüber schweigend entgegengenommen. Er, Jewgenij Pawlowitsch, werde vielleicht ebenfalls ins Ausland reisen. Sogar Fürst Schtsch. habe vor, dies mit Adelaida zusammen für ungefähr zwei Monate zu tun, wenn seine Geschäfte es ihm erlauben sollten. Der General selbst werde in Petersburg bleiben. Jetzt seien sie alle nach ihrem Gut Kolmino, etwa zwanzig Werst von Petersburg, übergesiedelt, wo sich ein herrschaftliches Gutshaus befinde. Die alte Bjelokonskaja sei noch nicht nach Moskau zurückgereist und, wie es scheine, sogar absichtlich noch dageblieben. Lisaweta Prokofjewna habe energisch erklärt, es sei nach allem Vorgefallenen unmöglich, in Pawlowsk zu bleiben; er, Jewgenij Pawlowitsch, habe ihr täglich von den im Ort umlaufenden Gerüchten Mitteilung gemacht. Nach ihrem auf der Jelagin-Insel gelegenen Landhaus überzusiedeln, hätten sie ebenfalls nicht für möglich gehalten.

»Na ja, und in der Tat«, fügte Jewgenij Pawlowitsch hinzu, »das müssen Sie selbst zugeben: war das etwa auszuhalten?… Zumal man wußte, was bei Ihnen hier in Ihrem Hause stündlich vorging, Fürst, und Sie, trotz der Zurückweisung, dort täglich einen Besuch machten …«

»Ja, ja, ja, Sie haben recht, ich wollte Aglaja Iwanowna sprechen…«, erwiderte der Fürst und nickte wieder mit dem Kopf.

»Ach, lieber Fürst«, rief Jewgenij Pawlowitsch mit großer Lebhaftigkeit und Betrübnis, »wie konnten Sie nur damals zulassen, daß das alles geschah? Gewiß, gewiß, das kam für Sie alles so unerwartet… Ich gebe zu, daß Sie die Geistesgegenwart verlieren mußten und… außerstande waren, das von Sinnen gekommene Mädchen zurückzuhalten, das ging über Ihre Kräfte. Aber das mußten Sie doch begreifen, wie ernst und stark die Empfindungen dieses Mädchens Ihnen gegenüber waren. Sie wollte nicht mit einer andern teilen, und Sie… und Sie haben einen solchen Schatz weggeworfen und zerstört!«

»Ja, ja, Sie haben recht; ja, ich habe mich schuldig gemacht«, sagte der Fürst wieder in tiefem Kummer. »Aber wissen Sie: sie war die einzige, Aglaja war die einzige, die so über Nastasja Filippowna urteilte… Alle übrigen Menschen urteilten anders über sie.«

»Ja, das ist ja eben das Empörende, daß gar nichts Ernstes vorlag!« rief Jewgenij Pawlowitsch, der ganz in Eifer geriet. »Verzeihen Sie mir, Fürst, aber… ich… ich habe darüber nachgedacht, Fürst, habe viel darüber nachgedacht; ich weiß genau, was früher vorgegangen ist; ich weiß alles, was vor einem halben Jahre geschehen ist, alles, und… all das war nichts Ernstes! All das war nur ein leichter Rausch, eine phantastische Laune, ein verwehender Rauch, und nur die ängstliche Eifersucht eines ganz unerfahrenen Mädchens konnte das für etwas Ernstes halten!…«

Und nun ließ Jewgenij Pawlowitsch ganz ungeniert seiner Entrüstung freien Lauf. Verständig und klar und – wir wiederholen es – sogar mit außerordentlicher psychologischer Einsicht entwarf er dem Fürsten ein Bild der gesamten früheren Beziehungen desselben zu Nastasja Filippowna. Jewgenij Pawlowitsch hatte von jeher die Gabe des Wortes besessen; jetzt aber bewies er geradezu ein Frau! An demselben Tag sehen Sie diese Frau; Sie sind bezaubert von ihrer Schönheit, einer phantastischen, dämonischen Schönheit (ich gebe ja zu, daß sie schön ist). Nehmen Sie Ihre Nervosität hinzu, Ihre Epilepsie, unser Petersburger die Nerven schwächendes Tauwetter; nehmen Sie hinzu, daß Sie diesen ganzen Tag in einer Ihnen bisher unbekannten, für Sie beinah märchenhaften Stadt zubrachten, mit allerlei Menschen zusammenkamen, die verschiedensten Szenen erlebten, unerwartete Bekanntschaften machten, einer ganz unerwarteten Wirklichkeit gegenübertraten, die drei schönen Fräulein Jepantschin und darunter Aglaja kennenlernten; nehmen Sie Ihre Ermüdung und Ihr Schwindelgefühl hinzu; nehmen Sie Nastasja Filippownas Salon und den dort herrschenden Ton hinzu, und… was meinen Sie: was konnten Sie von sich selbst in einem solchen Augenblick erwarten?«

»Ja, ja; ja, ja«, sagte der Fürst, nickte wieder mit dem Kopfe und begann zu erröten, »ja, so ist das ungefähr gewesen, und wissen Sie, ich hatte wirklich die ganze vorhergehende Nacht im Zug nicht geschlafen und ebenso die zweitletzte nicht und war sehr zerstreut…«

»Nun ja, gewiß, das ist es ja eben, worauf ich hinauswill«, fuhr Jewgenij Pawlowitsch eifrig fort. »Es ist klar, daß Sie sozusagen in einem Wonnerausch sich auf die Möglichkeit stürzten, öffentlich eine hochherzige Anschauung zu äußern, nämlich die, daß Sie, ein geborener Fürst und ein reiner Mensch, eine nicht durch eigene Schuld, sondern durch die Schuld eines abscheulichen, vornehmen Wüstlings entehrte Frau nicht für ehrlos halten. O Gott, das ist ja so begreiflich! Aber darum handelt es sich nicht, lieber Fürst, sondern darum, ob dieses Ihr Gefühl wahr und echt und natürlich oder nur ein auf einem Denkprozeß beruhendes Entzücken war. Was meinen Sie: im Tempel ist einst einer Frau verziehen worden, einer ebensolchen Frau, aber es wurde ihr nicht gesagt, daß sie recht handle und aller Ehren und aller Achtung wert sei. Hat Ihnen selbst denn nicht nach drei Monaten Ihr gesunder Verstand zugeflüstert, wie die Sache zusammenhing? Mag sie jetzt auch schuldlos sein (behaupten werde ich das nicht, denn soweit will ich nicht gehen), aber kann denn alles, was ihr widerfahren ist, ihren unerträglichen, dämonischen Stolz und ihren frechen, gierigen Egoismus rechtfertigen? Verzeihen Sie, Fürst, ich lasse mich hinreißen; aber…« »Ja, alles das ist vielleicht richtig; vielleicht haben Sie recht…«, murmelte der Fürst wieder. »Sie ist wirklich sehr reizbar, und Sie haben recht, gewiß, aber…«

»Sie verdient Mitleid? Das wollten Sie sagen, lieber Fürst? Aber durften Sie denn aus Mitleid mit ihr und zu ihrem Vergnügen ein anderes hochgesinntes, reines Mädchen schmählich kränken und vor den Augen jener hochmütigen, haßerfüllten Nebenbuhlerin erniedrigen? Da geht denn doch das Mitleid zu weit! Das ist denn doch eine arge Übertreibung! Durften Sie denn ein Mädchen, das Sie liebten, so vor seiner eigenen Rivalin demütigen und sich um der andern willen und vor den Augen ebendieser andern von ihm abwenden, nachdem Sie ihm schon selbst einen ehrlichen Antrag gemacht hatten… und das hatten Sie doch getan, und zwar in Gegenwart der Eltern und Schwestern! Gestatten Sie die Frage, Fürst: sind Sie bei einer solchen Handlungsweise noch ein ehrenhafter Mensch? Und haben Sie nicht das herrliche Mädchen betrogen, als Sie ihr versicherten, daß Sie sie liebten?«

»Ja, ja, Sie haben recht, ich fühle, daß ich eine Schuld auf mich geladen habe!« sagte der Fürst in unbeschreiblichem Gram.

»Aber genügt denn das?« rief Jewgenij Pawlowitsch ganz entrüstet. »Genügt denn das, einfach auszurufen: ›Ach, ich habe eine Schuld auf mich geladen!‹ Sie sind schuldig und bleiben dabei doch hartnäckig! Und wo hatten Sie denn damals Ihr Herz, Ihr ›christliches‹ Herz? Sie haben ja ihr Gesicht in jenem Augenblick gesehen: was meinen Sie, hat sie etwa weniger gelitten als jene andere, um derentwillen Sie sich von ihr trennten? Wie konnten Sie nur das alles mit ansehen und zugeben? Wie war es nur möglich?«

»Aber… ich habe es ja gar nicht zugegeben…«, murmelte der unglückliche Fürst.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe bei Gott nichts zugegeben. Ich weiß bis auf den heutigen Tag noch nicht, wie das alles gekommen ist… ich… ich lief damals Aglaja Iwanowna nach, und Nastasja Filippowna fiel in Ohnmacht, und nachher hat man mir bis jetzt den Zutritt zu Aglaja Iwanowna verwehrt.«

»Ganz gleich! Sie hätten hinter Aglaja herlaufen sollen, wenn auch die andere in Ohnmacht lag!«

»Ja… ja, das hätte ich tun müssen… aber sie wäre gestorben! Sie hätte sich das Leben genommen, Sie kennen sie nicht, und… ich wollte ja doch nachher Aglaja Iwanowna alles erzählen, und … Sehen Sie, Jewgenij Pawlowitsch, ich sehe, daß Sie doch wohl nicht alles wissen. Sagen Sie, warum läßt man mich nicht zu Aglaja Iwanowna? Ich würde ihr alles erklären. Sehen Sie: die beiden haben damals gar nicht über den richtigen Punkt gesprochen, gar nicht über den richtigen Punkt, darum hat ihre Zusammenkunft auch diesen Ausgang genommen… Ich kann Ihnen das nicht erklären, aber ich würde es vielleicht Aglaja erklären können… Ach, mein Gott, mein Gott! Sie sprechen von ihrem Gesicht in jenem Augenblick, als sie weglief… o mein Gott, ich erinnere mich!… Kommen Sie, kommen Sie!« rief er, indem er eilig aufsprang und Jewgenij Pawlowitsch am Ärmel mitzog.

»Wohin?«

»Gehen wir zu Aglaja Iwanowna, gehen wir jetzt gleich!…«

»Aber sie ist ja gar nicht in Pawlowsk, ich habe es Ihnen ja schon gesagt, und wozu sollten wir auch hingehen?«

»Sie wird es verstehen, sie wird es verstehen!« murmelte der Fürst und faltete wie betend die Hände. »Sie wird verstehen, daß das alles sich nicht so verhält, sondern ganz, ganz anders!«

»Wieso ganz anders? Sie wollen ja doch jene Frau heiraten? Also bleiben Sie hartnäckig… Wollen Sie sie heiraten oder nicht?«

»Nun ja, ich werde sie heiraten; ja, ich werde sie heiraten!«

»Also wie können Sie dann sagen, es verhielte sich nicht so?«

»O nein, es verhält sich nicht so, es verhält sich nicht so! Daß ich sie heirate, ist ganz unerheblich, das hat nichts zu bedeuten!«

»Wie kann denn das unerheblich sein und nichts zu bedeuten haben? Das sind doch keine Lappalien? Sie heiraten eine geliebte Frau, um sie glücklich zu machen, und Aglaja Iwanowna sieht und weiß das; also wie kann das unerheblich sein?«

»Um sie glücklich zu machen? O nein! Ich heirate einfach; sie will es so, und was liegt auch daran, daß ich sie heirate: ich… Nun, das ist ja ganz unerheblich! Aber sie würde sonst sicherlich sterben. Ich sehe jetzt, daß diese Ehe mit Rogoshin ein Wahnsinn war! Ich habe jetzt alles verstanden, was ich früher nicht verstand, und sehen Sie: als die beiden Frauen damals einander gegenüberstanden, da konnte ich Nastasja Filippownas Gesicht nicht ertragen… Sie wissen nicht, Jewgenij Pawlowitsch« (hier dämpfte er seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern), »ich habe das noch nie zu jemandem gesagt, auch zu Aglaja nicht: aber ich kann Nastasja Filippownas Gesicht nicht ertragen… Sie hatten vorhin ganz recht mit dem, was Sie über den damaligen Abend bei Nastasja Filippowna sagten; aber da war noch ein Moment, das Sie ausgelassen haben, weil Sie nichts davon wissen: ich habe ihr Gesicht angeschaut! Schon an jenem Vormittag auf dem Bild hatte ich es nicht ertragen können… Sehen Sie, Wera, Wera Lebedewa, die hat ganz andere Augen; ich… ich fürchte mich vor ihrem Gesicht!« fügte er in großer Angst hinzu.

»Sie fürchten sich?«

»Ja; sie ist wahnsinnig!« flüsterte er erbleichend.

»Sie wissen das bestimmt?« fragte Jewgenij Pawlowitsch höchst interessiert.

»Ja, bestimmt; jetzt weiß ich es bereits bestimmt; jetzt, in diesen Tagen, bin ich mir darüber völlig klargeworden!«

»Aber was tun Sie sich denn da an?« rief Jewgenij Pawlowitsch erschrocken. »Also heiraten Sie aus Angst? Das ist ja gar nicht zu begreifen… Vielleicht lieben Sie sie auch gar nicht einmal?«

»O doch, ich liebe sie von ganzem Herzen! Sie ist ja ein Kind, jetzt ist sie ein Kind, ganz und gar ein Kind! Oh, Sie wissen nur nichts davon!«

»Und gleichzeitig haben Sie Aglaja Iwanowna Ihre Liebe beteuert?«

»Ja, ja!«

»Wie ist das möglich? Also wollen Sie alle beide lieben?«

»Ja, ja.«

»Ich bitte Sie, Fürst, was reden Sie! Kommen Sie zur Besinnung!«

»Ich kann ohne Aglaja nicht leben… ich muß unbedingt mit ihr sprechen! Ich… ich werde bald im Schlaf sterben, ich dachte schon, ich würde in dieser Nacht im Schlaf sterben. Oh, wenn Aglaja es wüßte, alles wüßte, das heißt unbedingt alles. Denn hierbei muß man alles wissen, das ist die erste Bedingung! Warum können wir niemals alles über einen andern erfahren, wenn es doch nötig ist, wenn der andere sich schuldig gemacht hat!… Ich weiß übrigens nicht, was ich rede; ich bin ganz verwirrt; Sie haben mich furchtbar aufgeregt… Hat sie denn wirklich auch jetzt noch ein solches Gesicht wie damals, als sie weglief? O ja, ich habe eine Schuld auf mich geladen! Höchstwahrscheinlich bin ich an allem schuld. Ich weiß noch nicht inwiefern, aber ich bin schuld. Es liegt da etwas vor, was ich Ihnen nicht erklären kann, Jewgenij Pawlowitsch, ich finde nicht die richtigen Ausdrücke, aber … Aglaja Iwanowna wird es verstehen! Oh, ich habe immer geglaubt, daß sie es verstehen wird.«

»Nein, Fürst, sie wird es nicht verstehen! Aglaja Iwanowna hat wie eine Frau, wie ein Mensch geliebt, und nicht wie… wie ein abstrakter Geist. Wissen Sie was, mein armer Fürst: das wahrscheinlichste ist, daß Sie weder die eine noch die andere jemals geliebt haben!«

»Ich weiß es nicht… vielleicht haben Sie in vielem recht, Jewgenij Pawlowitsch. Sie sind ein sehr verständiger Mensch, Jewgenij Pawlowitsch; ach, ich bekomme wieder Kopfschmerzen, lassen Sie uns zu ihr gehen! Um Gottes willen, um Gottes willen!«

»Aber ich sage Ihnen ja, daß sie nicht in Pawlowsk ist, sie ist in Kolmino.«

»Dann wollen wir nach Kolmino fahren, gleich, gleich!«

»Das ist un-mög-lich!« erwiderte Jewgenij Pawlowitsch gedehnt und stand auf.

»Hören Sie, ich werde einen Brief schreiben; bringen Sie den Brief hin!«

»Nein, Fürst, nein! Verschonen Sie mich mit solchen Aufträgen, ich kann sie nicht ausführen!«

Sie trennten sich. Jewgenij Pawlowitsch ging mit sonderbaren Eindrücken fort: auch er war zu der Überzeugung gekommen, daß der Fürst nicht ganz bei Sinnen sei. Und was hatte es eigentlich mit diesem Gesicht auf sich, das er fürchtete und das er so liebte? Und gleichzeitig würde er vielleicht wirklich ohne Aglaja sterben, so daß Aglaja vielleicht niemals erfahren würde, wie sehr er sie geliebt hatte! Haha! Und wie konnte er zwei zugleich lieben? Etwa mit zwei verschiedenen Lieben? Interessant… Der arme Idiot! Und was sollte nun aus ihm werden?

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Kapitel 38

X

Der Fürst starb jedoch nicht vor seiner Hochzeit, weder im Wachen noch »im Schlaf«, wie er es im Gespräch mit Jewgenij Pawlowitsch prophezeit hatte. Vielleicht schlief er wirklich schlecht und hatte schlimme Träume; aber bei Tage, im Verkehr mit Menschen, schien er gesund und sogar zufrieden zu sein, nur manchmal sehr nachdenklich, aber dies nur, wenn er allein war. Mit der Hochzeit hatte man es eilig; sie sollte etwa eine Woche nach Jewgenij Pawlowitschs Besuch stattfinden. Bei solcher Eile hätten selbst die besten Freunde des Fürsten, wenn er solche gehabt hätte, sich in ihren Bemühungen, den unglücklichen Verrückten zu »retten«, getäuscht gesehen. Es ging ein Gerücht, Jewgenij Pawlowitschs Besuch sei teilweise von dem General Iwan Fjodorowitsch und seiner Gattin Lisaweta Prokofjewna veranlaßt worden. Aber wenn sie auch beide in ihrer maßlosen Herzensgüte wünschen mochten, den bedauernswerten Irren vom Abgrund zurückzuhalten, so mußten sie sich natürlich doch auf diesen schwachen Versuch beschränken; weder ihre Lage noch auch vielleicht ihre Herzensstimmung (was nur natürlich war) konnten sie zu ernsthafteren Anstrengungen anregen. Wir haben erwähnt, daß sogar die Personen aus der nächsten Umgebung des Fürsten sich teilweise gegen ihn erklärten. Wera Lebedewa beschränkte sich übrigens darauf, im stillen für sich zu weinen und mehr als früher in ihrer eigenen Wohnung zu sitzen und weniger zum Fürsten hereinzukommen. Kolja verlor in dieser Zeit seinen Vater; der Alte war infolge eines zweiten Schlaganfalles acht Tage nach dem ersten gestorben. Der Fürst nahm großen Anteil an dem Kummer der Familie und brachte in der ersten Zeit täglich einige Stunden bei Nina Alexandrowna zu; er war auch bei der Beerdigung und in der Kirche. Vielen fiel es auf, daß das in der Kirche anwesende Publikum das Erscheinen und Weggehen des Fürsten mit unwillkürlichem Geflüster begleitete; dasselbe geschah auch oft auf der Straße und im Park: wenn er vorbeiging oder vorbeifuhr, fing man an, von ihm zu reden, nannte seinen Namen und zeigte auf ihn; auch Nastasja Filippownas Name war aus diesen Gesprächen herauszuhören. Auch bei der Beerdigung sahen sich die Leute nach ihr um, aber sie war nicht anwesend. Auch die Hauptmannsfrau war nicht bei der Beerdigung; es war Lebedew gelungen, sie rechtzeitig zurückzuhalten. Die Seelenmesse machte auf den Fürsten einen starken, ergreifenden Eindruck; er flüsterte Lebedew in Erwiderung auf eine an ihn gerichtete Frage noch in der Kirche zu, daß dies fast die erste rechtgläubige Seelenmesse sei, der er beiwohne; er erinnere sich nur, einmal in seiner Kindheit bei einer Seelenmesse in einer Dorfkirche zugegen gewesen zu sein.

»Ja, es kommt einem vor, als ob da im Sarg gar nicht derselbe Mensch vor einem läge, den wir noch vor kurzem zu unserm Vorsitzenden ernannt haben, erinnern Sie sich?« flüsterte Lebedew dem Fürsten zu. »Wen suchen Sie denn?«

»Ich sehe mich nur so um, mir schien …«

»Suchen Sie Rogoshin?«

»Ist er etwa hier?«

»Ja, er ist in der Kirche.«

»Darum war mir auch, als ob seine Augen auftauchten«, murmelte der Fürst in starker Verwirrung. »Aber… warum ist er denn hier? Ist er eingeladen worden?«

»Das ist niemandem in den Sinn gekommen. Er ist ja mit der Familie überhaupt nicht bekannt. Hier sind ja allerlei Leute, ein buntes Publikum. Aber warum wundern Sie sich darüber so? Ich treffe ihn jetzt häufig; in der letzten Woche bin ich ihm schon ungefähr viermal hier in Pawlowsk begegnet.«

»Ich habe ihn seitdem noch nicht ein einziges Mal gesehen«, murmelte der Fürst.

Da auch Nastasja Filippowna ihm nicht mitgeteilt hatte, daß sie Rogoshin »seitdem« gesehen hatte, gelangte der Fürst jetzt zu der Ansicht, daß Rogoshin sich aus irgendeinem Grunde absichtlich nicht zeige. Diesen ganzen Tag über war er sehr nachdenklich, während Nastasja Filippowna den ganzen Tag und den ganzen Abend sich in überaus heiterer Stimmung befand.

Kolja, der sich mit dem Fürsten noch vor dem Tod seines Vaters versöhnt hatte, schlug ihm, da die Sache nötig und unaufschiebbar war, als Marschälle Keller und Burdowskij vor. Er verbürgte sich dafür, daß Keller sich anständig benehmen und vielleicht sogar »von Nutzen« sein würde; von Burdowskij brauchte man gar nicht erst zu reden; der war ein stiller, bescheidener Mensch. Nina Alexandrowna und Lebedew bemerkten dem Fürsten, wenn die Hochzeit nun einmal beschlossene Sache sei, warum sie dann gerade in Pawlowsk und noch dazu in der Hochsaison der Sommerfrische so öffentlich gefeiert werden solle? Ob es nicht besser sei, sie in Petersburg und zu Hause zu veranstalten? Dem Fürsten war es durchaus klar, worauf all diese Befürchtungen hinzielten, aber er antwortete kurz und schlicht, dies sei Nastasja Filippownas dringender Wunsch.

Am nächsten Tag erschien bei dem Fürsten auch Keller, der benachrichtigt worden war, daß er Hochzeitsmarschall sein solle. Bevor er eintrat, blieb er in der Tür stehen, hob, sobald er den Fürsten erblickte, die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe und rief, als leiste er einen Eid:

»Ich werde nicht trinken!«

Dann trat er an den Fürsten heran, schloß ihn kräftig in die Arme, schüttelte ihm beide Hände und erklärte, er habe allerdings zu Anfang, als er von der Sache gehört habe, eine feindliche Stellung dagegen eingenommen und das auch beim Billard ausgesprochen, und zwar aus keinem andern Grunde, als weil er dem Fürsten keine andere als die Prinzessin de Rohan zugedacht und mit der Ungeduld eines Freundes täglich auf die Verwirklichung dieses Planes gewartet habe; aber jetzt sehe er selbst, daß der Fürst eine mindestens zwölfmal so edle Gesinnung habe als sie »alle zusammengenommen«! Denn er strebe nicht nach Glanz, nicht nach Reichtum, nicht einmal nach äußerer Ehre, sondern nur nach der Wahrheit! Die Herzensneigungen hochgestellter Persönlichkeiten würden eben durchschaut, und der Fürst stehe durch seine Bildung zu hoch, als daß man ihn, allgemein gesagt, nicht zu den hochgestellten Persönlichkeiten rechnen müßte! »Aber der Pöbel und dieses ganze Gesindel urteilen anders; in der Stadt, in den Häusern, in den Gesellschaften, in den Villen, beim Konzert, in den Trinkstuben und beim Billard hört man über nichts anderes reden und spektakeln als über das bevorstehende Ereignis. Ich habe gehört, daß man Ihnen sogar unter den Fenstern eine Katzenmusik machen will, und zwar in der Hochzeitsnacht! Wenn Sie, Fürst, die Pistole eines ehrenhaften Mannes nötig haben, so bin ich bereit, ein halb Dutzend Schüsse mit diesem Volk zu wechseln, bevor Sie sich noch am nächsten Morgen vom Hochzeitslager erheben.« Er riet auch, um dem großen Andrang Neugieriger entgegenzuwirken, bei der Rückkehr von der Kirche auf, dem Hof eine Feuerspritze bereitzuhalten, aber Lebedew protestierte dagegen: »Wenn wir die Feuerspritze in Gang setzen, schlagen sie mir das ganze Haus zusammen.«

»Dieser Lebedew intrigiert gegen Sie, Fürst, bei Gott! Man will Sie unter staatliche Vormundschaft stellen, können Sie sich das denken? Sie mit allem, was drum und dran ist, mit Ihrem freien Willen und mit Ihrem Geld, das heißt mit den beiden Dingen, durch die sich ein jeder von uns von einem Vierfüßler unterscheidet! Ich habe es gehört, aus zuverlässiger Quelle gehört! Es ist die reine Wahrheit!«

Der Fürst erinnerte sich, selbst schon etwas Derartiges gehört zu haben, hatte es aber selbstverständlich nicht weiter beachtet. Auch jetzt lachte er nur darüber und vergaß es sofort wieder. Lebedew war wirklich eine Zeitlang in dieser Richtung tätig gewesen; die Spekulationen dieses Menschen gingen immer sozusagen aus einer plötzlichen verblieb er nun und bemerkte dem Fürsten gegenüber am Ende seiner Beichte: »Jetzt werden Sie von mir nichts anderes zu sehen bekommen als Ergebenheit und Bereitschaft, mein Blut für Sie zu vergießen; deswegen bin ich hergekommen.«

Auch Ippolit trug in diesen letzten Tagen dazu bei, die Aufmerksamkeit des Fürsten von dessen eigenen Angelegenheiten abzulenken; er ließ ihn sehr oft zu sich rufen. Sie wohnten nicht weit entfernt in einem kleinen Häuschen; die kleinen Kinder, Ippolits Bruder und Schwester, freuten sich wenigstens insofern über die Sommerfrische, als sie sich vor dem Kranken in den Garten retten konnten; die arme Hauptmannsfrau aber hatte er sich gänzlich Untertan gemacht und zum Opfer seiner Launen erkoren: der Fürst hatte täglich genug zu tun, die Streitenden auseinanderzubringen und zu versöhnen; der Kranke nannte ihn immer noch wie früher seine Kinderfrau, wagte dabei jedoch nicht, über ihn wegen seiner Vermittlerrolle zu spötteln. Er war auf Kolja sehr schlecht zu sprechen, weil dieser fast gar nicht zu ihm kam, da er in der ersten Zeit bei seinem im Sterben liegenden Vater und dann bei seiner verwitweten Mutter blieb. Schließlich machte er die nahe bevorstehende Hochzeit des Fürsten mit Nastasja Filippowna zum Ziel seiner Spöttereien, wodurch er zuletzt den Fürsten tief kränkte und gegen sich aufbrachte; dieser hörte denn auch auf, ihn zu besuchen. Zwei Tage darauf kam morgens die Hauptmannsfrau zu dem Fürsten geschlichen und bat ihn unter Tränen, doch zu ihnen zu kommen; sonst quäle jener sie zu Tode. Sie fügte hinzu, er wünsche, dem Fürsten ein großes Geheimnis mitzuteilen. Der Fürst ging hin. Ippolit wollte sich mit ihm versöhnen, fing an zu weinen, wurde nach den Tränen selbstverständlich noch boshafter, wagte aber nicht, seine Bosheit zum Ausdruck zu bringen. Es ging ihm sehr schlecht, und an allen Anzeichen war zu sehen, daß er jetzt bald sterben würde. Ein Geheimnis hatte er gar nicht mitzuteilen; er sprach nur in dringendem Ton, sozusagen atemlos vor Aufregung (die aber vielleicht gekünstelt war), die Bitte aus, der Fürst möge sich »vor Rogoshin in acht nehmen«. »Das ist ein Mensch, der von seinem Recht niemandem etwas abtritt; der ist von anderer Art, Fürst, als Sie und ich; wenn der etwas will, schrickt er vor nichts zurück…«, und so weiter und so weiter. Der Fürst fing an, eingehendere Fragen zu stellen, und wünschte, irgendwelche Tatsachen zu hören; aber Tatsachen waren keine vorhanden, nur persönliche Gefühle und Empfindungen Ippolits. Zu seiner großen Genugtuung gelang es Ippolit schließlich, den Fürsten in große Angst zu versetzen. Anfangs wollte der Fürst auf einige besondere Fragen des Kranken nicht antworten und lächelte nur über seine Ratschläge, davonzugehen, nötigenfalls sogar ins Ausland; russische Geistliche gebe es überall, und man könne sich auch dort trauen lassen. Zum Schluß aber sprach Ippolit folgenden Gedanken aus: »Ich fürchte ja nur für Aglaja Iwanowna; Rogoshin weiß, wie Sie sie lieben; eine Liebe ist der andern wert; Sie haben ihm Nastasja Filippowna weggenommen; er wird Aglaja Iwanowna töten; obgleich sie jetzt nicht mehr die Ihrige ist, wird das doch für Sie ein großer Schmerz sein, nicht wahr?« Er erreichte damit seine Absicht: der Fürst war, als er von ihm wegging, wie von Sinnen.

Diese Warnungen vor Rogoshin erfolgten am Vorabend der Hochzeit. Diesen Abend war der Fürst zum letztenmal vor der Trauung mit Nastasja Filippowna zusammen; aber Nastasja Filippowna war nicht imstande, ihn zu beruhigen, und steigerte sogar im Gegenteil in dieser letzten Zeit seine Unruhe mehr und mehr. Früher, das heißt einige Tage vorher, hatte sie beim Zusammensein mit ihm alle Anstrengungen gemacht, um ihn aufzuheitern, da seine traurige Miene ihr Angst machte; sie hatte sogar versucht, ihm etwas vorzusingen; am häufigsten aber hatte sie ihm aus ihren Erinnerungen allerlei Komisches erzählt. Der Fürst stellte sich dann immer so, als ob er lache, und lachte auch manchmal wirklich über ihren glänzenden Verstand und den frischen Affekt, mit dem sie manchmal erzählte, wenn sie sich hinreißen ließ, und sie ließ sich oft hinreißen. Wenn sie den Fürsten lachen sah und wahrnahm, welchen Eindruck ihre Erzählungen auf ihn machten, geriet sie in Entzücken und wurde stolz auf sich selbst. Jetzt aber wuchs ihre Traurigkeit und Nachdenklichkeit fast mit jeder Stunde. Sein Urteil über Nastasja Filippowna stand bereits fest; sonst wäre ihm natürlich alles an ihr jetzt rätselhaft und unbegreiflich erschienen. Aber er glaubte aufrichtig, daß sie noch gleichsam eine Auferstehung durchmachen könne. Er hatte ganz wahrheitsgemäß zu Jewgenij Pawlowitsch gesagt, daß er sie aufrichtig und herzlich liebe, und in seiner Liebe zu ihr lag wirklich eine Zuneigung wie zu einem bedauernswerten, kranken Kind, das man schwer oder geradezu unmöglich sich selbst überlassen kann. Er legte niemandem seine Gefühle für sie dar und mochte selbst dann nicht davon sprechen, wenn ein solches Gespräch sich nicht ganz vermeiden ließ. Wenn er mit Nastasja Filippowna selbst zusammen war, redeten sie niemals »von ihren Gefühlen«, gerade als hätten sie sich beide das Wort darauf gegeben. An ihrem gewöhnlichen, heiteren und lebhaften Gespräch konnte jeder teilnehmen. Darja Alexejewna erzählte später, es sei ihr diese ganze Zeit eine Freude und ein Genuß gewesen, die beiden anzusehen.

Aber dieses sein Urteil über Nastasja Filippownas seelischen und geistigen Zustand befreite ihn zum Teil auch von vielen andern Zweifeln. Jetzt war sie eine ganz andere Frau als jene, die er vor drei Monaten gekannt hatte. Er dachte zum Beispiel jetzt nicht mehr darüber nach, warum sie damals vor der Ehe mit ihm unter Tränen, Verwünschungen und Vorwürfen geflohen war und jetzt selbst auf eine baldige Hochzeit drang. Der Fürst meinte, sie fürchte also nicht mehr wie damals, daß die Ehe mit ihr ihn unglücklich machen werde. Ein so schnell wieder erwachtes Selbstvertrauen konnte seiner Ansicht nach bei ihr nicht natürlich sein. Andrerseits konnte dieses Selbstvertrauen nicht allein aus Haß gegen Aglaja hervorgehen: Nastasja Filippowna vermochte doch etwas tiefer zu empfinden. War es etwa die Furcht vor ihrem Schicksal an Rogoshins Seite? Mit einem Wort: hier mochten alle diese Ursachen, mit noch andern vereint, zusammenwirken; aber ganz klar war ihm, daß hier gerade dasjenige Übel vorlag, das er schon lange geahnt hatte, ein Übel, dem die arme, kranke Seele keinen Widerstand mehr leisten konnte. All dies befreite ihn zwar bis zu einem gewissen Grade von Zweifeln, vermochte ihm aber in dieser ganzen Zeit nicht zu seelischer Ruhe und Erholung zu verhelfen. Manchmal bemühte er sich, an nichts zu denken; die Ehe schien er tatsächlich als eine unwichtige Formalität zu betrachten; auf sein eigenes Schicksal legte er dabei sehr wenig Wert. Was Erörterungen und Gespräche von der Art anlangte, wie er sie mit Jewgenij Pawlowitsch gehabt hatte, so hätte er dabei schlechterdings nichts zu antworten gewußt und fühlte sich dazu völlig unfähig; er ging daher allen derartigen Gesprächen aus dem Weg.

Er hatte übrigens bemerkt, daß Nastasja Filippowna sehr wohl wußte und verstand, was Aglaja für ihn bedeutete. Sie sprach nicht darüber, aber er sah, welchen Ausdruck ihr Gesicht annahm; wenn sie ihn manchmal, noch in der ersten Zeit, in dem Augenblick überraschte, wo er sich fertigmachte, um zu Jepantschins zu gehen. Als Jepantschins abreisten, strahlte sie ordentlich. Wie unaufmerksam und achtlos er auch war, so hatte ihn doch der Gedanke beunruhigt, Nastasja Filippowna könne absichtlich einen Skandal herbeiführen, um Aglaja aus Pawlowsk zu vertreiben. Das Gerede und Geklatsch über die Hochzeit in allen Landhäusern war sicherlich zum Teil von Nastasja Filippowna selbst genährt, um ihre Nebenbuhlerin zu reizen. Da es schwer war, der Familie Jepantschin auf der Straße zu begegnen, so ließ Nastasja Filippowna einmal den Fürsten zu sich in den Wagen steigen und gab Befehl, unmittelbar an den Fenstern des Jepantschinschen Landhauses vorbeizufahren. Das war für den Fürsten eine höchst peinliche Überraschung; er merkte es nach seiner Gewohnheit erst, als sich schon nichts mehr daran ändern ließ und der Wagen bereits dicht vor den Fenstern vorbeifuhr. Er sagte nichts, war aber nachher zwei Tage lang krank; Nastasja Filippowna wiederholte dieses Experiment dann nicht zum zweitenmal. In den letzten Tagen vor der Hochzeit wurde sie sehr nachdenklich; sie überwand schließlich jedesmal ihre Traurigkeit und wurde wieder heiter; aber es war eine stillere Heiterkeit, nicht so laut und glückselig wie zuvor und noch vor kurzem. Der Fürst verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Auffallend war ihm, daß sie mit ihm nie von Rogoshin sprach. Nur einmal, etwa fünf Tage vor der Hochzeit, schickte Darja Alexejewna plötzlich zu ihm, er möchte sofort kommen, Nastasja Filippowna befinde sich sehr schlecht. Er fand sie in einem Zustand, der mit völliger Geistesstörung Ähnlichkeit hatte: sie schrie und zitterte und rief, Rogoshin habe sich im Garten bei ihrem Haus versteckt, sie habe ihn soeben gesehen, er werde sie in der Nacht ermorden… ihr den Hals abschneiden! Den ganzen Tag konnte sie sich nicht wieder beruhigen. Aber als an demselben Abend der Fürst auf einen Augenblick zu Ippolit ging, erzählte ihm die Hauptmannsfrau, die soeben von Petersburg zurückgekehrt war, wo sie verschiedene Geschäfte zu erledigen gehabt hatte, es sei dort an diesem Tage Rogoshin zu ihr in die Wohnung gekommen und habe sie über Pawlowsk ausgefragt. Auf die Frage des Fürsten nach der genaueren Zeit, zu welcher Rogoshin bei ihr gewesen sei, gab die Hauptmannsfrau fast dieselbe Stunde an, zu welcher Nastasja Filippowna ihn am gleichen Tage in ihrem Garten gesehen zu haben glaubte. Die Sache erwies sich also als eine einfache Sinnestäuschung: Nastasja Filippowna ging selbst zu der Hauptmannsfrau, um sie genauer zu befragen, und fühlte sich außerordentlich beruhigt.

Am Tage vor der Hochzeit befand sich Nastasja Filippowna, als der Fürst sie verließ, in sehr angeregter Stimmung: aus Petersburg war von der Modistin der Hochzeitsstaat für den nächsten Tag eingetroffen, das Hochzeitskleid, der Kopfschmuck und so weiter und so weiter. Der Fürst hatte gar nicht erwartet, daß der Putz auf sie eine so belebende Wirkung ausüben Würde; er selbst lobte alles, und sein Lob erhöhte noch ihre Glückseligkeit. Aber dabei sagte sie etwas mehr, als sie eigentlich gewollt hatte: sie habe bereits gehört, daß im Ort Entrüstung herrsche und wirklich von einigen Taugenichtsen eine Katzenmusik vorbereitet werde, mit eigens für diesen Zweck gedichteten Spottversen, und daß alles dies auch von der übrigen Gesellschaft gutgeheißen werde. Und nun habe sie gerade Lust, den Kopf vor all diesen Leuten noch höher zu tragen und alle durch den Geschmack und Reichtum ihrer Toilette in den Schatten zu stellen, – »mögen sie schreien, mögen sie pfeifen, wenn sie es wagen!« Bei dem bloßen Gedanken daran funkelten ihre Augen. Sie hatte noch eine geheime Hoffnung, sprach sie aber nicht laut aus: sie hoffte, Aglaja oder wenigstens ein Abgesandter von ihr werde ebenfalls inkognito unter dem Publikum in der Kirche sein und die Trauung mit ansehen, und sie bereitete sich darauf im stillen vor. Sie trennte sich gegen elf Uhr abends vom Fürsten, ganz mit diesen Gedanken beschäftigt; aber es hatte noch nicht zwölf geschlagen, als ein Bote von Darja Alexejewna zum Fürsten gelaufen kam: er möchte schnell hinkommen; es stehe sehr schlecht. Als der Fürst hinkam, hatte sich seine Braut im Schlafzimmer eingeschlossen und weinte verzweifelt und krampfhaft; sie wollte lange Zeit nicht auf das hören, was man ihr durch die verschlossene Tür sagte; endlich öffnete sie, ließ nur den Fürsten herein, schloß hinter ihm die Tür wieder zu und fiel vor ihm auf die Knie. (So stellte es wenigstens Darja Alexejewna nachher dar, die einiges hatte erspähen können).

»Was tue ich! Was tue ich! Was tue ich dir an!« rief sie, indem sie krampfhaft seine Füße umklammerte.

Der Fürst blieb eine ganze Stunde bei ihr; wir wissen nicht, wovon sie miteinander gesprochen haben. Darja Alexejewna erzählte, sie hätten sich nach einer Stunde in beruhigter, glücklicher Stimmung voneinander getrennt. Der Fürst schickte noch einmal in dieser Nacht hin, um sich zu erkundigen, aber Nastasja Filippowna war bereits eingeschlafen. Am Morgen, noch ehe sie aufgewacht war, erschienen noch zwei Boten vom Fürsten bei Darja Alexejewna, und erst der dritte Abgesandte erhielt den Auftrag, zu melden, Nastasja Filippowna sei jetzt von einem ganzen Schwarm von Modistinnen und Friseuren aus Petersburg umgeben, von der gestrigen Aufregung sei auch nicht die Spur mehr vorhanden, sie sei mit ihrer Toilette beschäftigt, wie nur eine so schöne Frau vor der Trauung beschäftigt sein könne, und jetzt, gerade in diesem Augenblick, finde eine wichtige Beratung darüber statt, was von Brillanten angelegt werden solle und wie. Der Fürst beruhigte sich vollständig.

Der ganze nachstehende Bericht über diese Hochzeit ist den Erzählungen von Leuten entnommen, die über diese Ereignisse Bescheid wußten, und scheint zuverlässig zu sein.

Die Trauung war auf acht Uhr abends angesetzt; Nastasja Filippowna war schon um sieben Uhr fertig. Schon von sechs Uhr an begannen sich allmählich Scharen von faßten ihn an und zogen ihn mit Gewalt in die Wohnung hinein. Keller befand sich in gereizter Stimmung und drängte zur Eile. Nastasja Filippowna erhob sich, blickte noch einmal in den Spiegel, bemerkte »mit einem schiefen Lächeln«, wie Keller nachher erzählte, daß sie »leichenblaß« aussehe, verbeugte sich andächtig vor dem Heiligenbild und trat aus der Haustür. Ein dumpfes Gemurmel begrüßte ihr Erscheinen. Im ersten Augenblick erscholl Gelächter, Beifallklatschen, vereinzeltes Pfeifen; einen Augenblick darauf ließen sich auch mündliche Äußerungen vernehmen:

»So eine Schönheit!« wurde in der Menge gerufen.

»Sie ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein!«

»Der Brautkranz deckt alles zu, ihr Dummköpfe!«

»Nein, so eine Schönheit kann man lange suchen, hurra!« riefen die Nächststehenden.

»Eine Fürstin! Um einer solchen Fürstin willen würde ich meine Seele verkaufen!« schrie ein Kanzlist. »Mein Leben gäbe ich hin für eine Nacht!…«

Nastasja Filippowna war, als sie heraustrat, wirklich bleich wie Leinwand; aber ihre großen schwarzen Augen funkelten die Menge an wie glühende Kohlen; diesem Blick konnte die Menge nicht widerstehen; die Entrüstung verwandelte sich in ein enthusiastisches Geschrei. Schon war der Wagenschlag geöffnet, schon bot Keller der Braut den Arm, als sie plötzlich aufschrie und sich von den Stufen vor der Haustür gerade in die Volksmenge hineinstürzte. Alle ihre Begleiter standen starr vor Staunen, die Menge trat vor ihr auseinander, und fünf oder sechs Schritte von der Haustür entfernt erschien plötzlich Rogoshin. Sein Blick war es gewesen, den Nastasja Filippowna in der Menge aufgefangen hatte. Sie lief wie ein Wahnsinnige zu ihm hin und ergriff seine beiden Hände.

»Rette mich! Schaffe mich weg! Wohin du willst, sofort!«

Rogoshin nahm sie beinahe auf die Arme und trug sie fast zum Wagen hin. Darauf zog er in einem Augenblick aus seinem Portemonnaie einen Hundertrubelschein und reichte ihn dem Kutscher hin.

»Nach dem Bahnhof, und wenn du noch zum Zuge hinkommst, bekommst du noch einen Hunderter!«

Damit sprang er selbst hinter Nastasja Filippowna in den Wagen und warf den Schlag zu. Der Kutscher überlegte nicht einen Augenblick und schlug auf die Pferde los. Keller schob nachher alles auf das Überraschende des Vorgangs: »Noch eine Sekunde, und ich hätte mich gefaßt gehabt, dann hätte ich es nicht geschehen lassen!« erklärte er, als er über das Geschehene berichtete. Er nahm sich schnell mit Burdowskij einen andern Wagen, der zufällig dort stand, und machte sich an die Verfolgung, aber unterwegs änderte er seine Absicht. »Es ist jedenfalls zu spät!« sagte er. »Mit Gewalt kann man sie nicht wiederholen!«

»Auch der Fürst würde es nicht wollen!« bemerkte der tief ergriffene Burdowskij.

Rogoshin und Nastasja Filippowna kamen noch rechtzeitig zum Bahnhof. Nachdem sie aus dem Wagen ausgestiegen waren, fand Rogoshin, fast schon im Begriff, in den Zug zu steigen, doch noch Zeit, ein vorübergehendes Mädchen in einem alten, aber anständigen, dunklen Umhang und einem Kopftuch anzuhalten.

»Wollen Sie mir für fünfzig Rubel Ihren Umhang überlassen?« fragte er, indem er dem Mädchen das Geld hinhielt. Während das Mädchen noch staunte und vergeblich den Zusammenhang zu begreifen suchte, hatte er ihr schon einen Fünfzigrubelschein in die Hand geschoben, ihr den Umhang nebst dem Tuch abgenommen und beides Nastasja Filippowna über die Schultern und den Kopf geworfen. Ihre allzu prächtige Toilette fiel in die Augen und würde im Eisenbahnwagen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, und erst nachher verstand das Mädchen, warum ihr jemand ihre alten, wertlosen Kleidungsstücke mit solchem Profit für sie abgekauft hatte.

Das Gerücht von dem merkwürdigen Ereignis gelangte mit außerordentlicher Schnelligkeit nach der Kirche. Als Keller zum Fürsten kam, stürzten eine Menge ihm ganz unbekannter Leute auf ihn zu, um ihn auszufragen. Man redete laut über die Sache, schüttelte den Kopf und lachte sogar; niemand verließ die Kirche; alle warteten sie darauf, wie der Bräutigam die Nachricht aufnehmen würde. Er wurde etwas blaß, hörte aber die Mitteilung mit Ruhe an und sagte kaum hörbar: »Befürchtungen hatte ich; aber ich gleichzeitig in so würdevoller Weise, mit solchem Vertrauen auf die Anständigkeit seiner Gäste, daß die unbescheidenen Fragen ganz von selbst verstummten. Allmählich begann das Gespräch beinah einen ernsten Charakter anzunehmen. Ein etwas streitsüchtiger Herr beteuerte plötzlich mit großer Entrüstung, er werde sein Gut jetzt nicht verkaufen, was auch immer geschehen möge; er werde vielmehr den richtigen Zeitpunkt abpassen, Unternehmungen seien besser als Geld: »Sehen Sie, mein Herr, darin besteht meine wirtschaftliche Methode, ich mache kein Geheimnis daraus.« Da er sich mit seiner Bemerkung an den Fürsten gewandt hatte, spendete dieser ihm lebhaften Beifall, obwohl Lebedew ihm ins Ohr flüsterte, daß dieser Herr weder Haus noch Hof besitze und niemals ein Gut gehabt habe. So war beinah eine Stunde vergangen, der Tee war ausgetrunken, und nun wurde es den Gästen doch endlich peinlich, noch länger dazubleiben. Der Arzt und der grauhaarige Herr nahmen von dem Fürsten bewegt Abschied, und auch alle andern empfahlen sich freundlich und geräuschvoll. Gute Wünsche wurden ausgesprochen sowie Ansichten folgender Art: »Deswegen braucht man den Kopf noch nicht hängen zu lassen, vielleicht ist es so auch am besten«, und so weiter. Es wurden allerdings auch Versuche gemacht, Champagner zu verlangen, aber die älteren unter den Gästen hielten die jüngeren zurück. Als alle weggegangen waren, beugte sich Keller zu Lebedew hin und sagte zu ihm: »Wir beide, du und ich, hätten ein großes Geschrei erhoben, eine Schlägerei veranstaltet, uns unwürdig benommen und uns die Polizei auf den Hals geholt; aber er, siehst du wohl, hat sich neue Freunde erworben, und noch dazu was für welche; ich kenne sie!« Lebedew, der ziemlich »fertig« war, seufzte und erwiderte: »Er hat es den Weisen und Klugen verborgen und den Kindlein offenbaret; das habe ich schon früher über ihn gesagt, und jetzt füge ich hinzu: Gott hat auch dieses Kindlein selbst bewahrt und vom Abgrund errettet. Er und alle seine Heiligen!«

Endlich, um halb elf, ließen alle den Fürsten allein; der Kopf tat ihm weh; als letzter ging Kolja weg, nachdem er ihm noch behilflich gewesen war, den Hochzeitsanzug mit der Hauskleidung zu vertauschen. Sie nahmen voneinander sehr herzlich Abschied. Kolja redete nicht über das Geschehene, versprach aber, morgen recht früh wiederzukommen. Er bezeugte später, der Fürst habe ihm bei diesem letzten Abschied nichts angedeutet, also auch vor ihm seine Absichten geheimgehalten. Bald war im ganzen Hause fast niemand mehr zurückgeblieben: Burdowskij war zu Ippolit gegangen; Keller und Lebedew hatten sich zusammen irgendwohin begeben. Nur Wera Lebedewa blieb noch einige Zeit in den Zimmern und brachte sie schleunigst aus dem festtäglichen wieder in ihren gewöhnlichen Zustand. Als sie wegging, blickte sie zum Fürsten hinein. Er saß am Tisch, auf beide Ellbogen gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen. Sie trat leise an ihn heran und berührte ihn an der Schulter; der Fürst blickte sie verständnislos an und schien sich eine ganze Weile zu besinnen; als er dann aber zu sich kam und sich an alles erinnerte, geriet er plötzlich in große Erregung. Das Ende war übrigens, daß er Wera dringend bat, sie möchte doch morgen früh zum ersten Zug um sieben Uhr an seine Tür klopfen. Wera versprach es; der Fürst bat sie inständig, niemandem etwas davon mitzuteilen; sie versprach auch dies, und zuletzt, als sie schon die Tür geöffnet hatte, um hinauszugehen, hielt der Fürst sie noch ein drittes Mal zurück, ergriff ihre beiden Hände, küßte sie, küßte dann auch Wera selbst auf die Stirn und sagte mit einem »ganz besonderen« Gesichtsausdrucke zu ihr: »Bis morgen!« So wenigstens berichtete Wera nachher. Sie ging in großer Angst um ihn fort. Am Morgen fühlte sie sich einigermaßen beruhigt, als sie um sieben Uhr der Verabredung gemäß an seine Tür geklopft und ihn benachrichtigt hatte, daß der Zug nach Petersburg in einer Viertelstunde abgehe; es schien ihr, er habe, als er die Tür öffnete, ganz frisch ausgesehen und sogar gelächelt. Er hatte sich in der Nacht fast gar nicht ausgekleidet, aber doch geschlafen. Er äußerte, möglicherweise werde er noch am gleichen Tag zurückkommen. Somit war sie die einzige, der er in diesem Augenblick für möglich und notwendig befunden hatte mitzuteilen, daß er nach der Stadt fahre.

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Kapitel 41

III

Der Skandal mit dem General wäre zu jeder anderen Zeit spurlos im Sande verlaufen. Es waren bei ihm auch früher schon derartige Fälle von plötzlicher Störrigkeit vorgekommen, jedoch nur recht selten, da er im allgemeinen ein sehr friedlicher Mensch war und zur Gutherzigkeit neigte. Er hatte wohl hundertmal den Kampf mit der Verlotterung aufgenommen, die sich seiner in den letzten Jahren bemächtigt hatte. Er erinnerte sich dann plötzlich, daß er »der Vater der Familie« sei, versöhnte sich mit seiner Frau und vergoß aufrichtige Tränen. Er verehrte Nina Alexandrowna bis zur Vergötterung zum Dank dafür, daß sie ihm so vieles schweigend verzieh und ihn trotz seines clownhaften, unwürdigen Benehmens immer noch liebte. Aber dieser hochherzige Kampf mit der Verlotterung dauerte gewöhnlich nicht lange; der General war doch eine zu »impulsive« Natur, wenigstens in seiner Art; er konnte das ruhige Büßerleben in seiner Familie gewöhnlich nicht ertragen und revoltierte schließlich dagegen; er geriet dann in heftigen Zorn, über den er sich vielleicht selbst im gleichen Augenblick Vorwürfe machte, aber er konnte es eben nicht aushalten: er fing Streit an, begann hochmütige, pathetische Reden zu führen, verlangte seiner Person gegenüber einen maßlosen, ganz unmöglichen Respekt und verschwand schließlich aus dem Haus, manchmal sogar auf lange Zeit. In den letzten zwei Jahren hatte er von den Angelegenheiten seiner Familie nur ganz allgemein oder nur vom Hörensagen Kenntnis; sich näher darum zu kümmern, hatte er aufgegeben, da er dazu nicht die geringste Veranlagung verspürte.

Aber dieses Mal war bei dem »Skandal mit dem General« etwas Besonderes hervorgetreten; alle schienen etwas zu wissen, wovon sie sich zu reden fürchteten. Der General war erst drei Tage vorher bei der Familie, das heißt bei Nina Alexandrowna, »formell« wieder erschienen, aber nicht in der demütigen, reuigen Stimmung, in der er sich in früheren Fällen immer »zurückzumelden« pflegte, sondern im Gegenteil in außerordentlich reizbarer Verfassung. Er war redselig und unruhig, knüpfte mit jedem, der ihm in den Weg kam, ein eifriges Gespräch an und stürzte sich dabei geradezu auf die Menschen, redete aber immer über so bunte, unerwartete Themen, daß man gar nicht begreifen konnte, was ihn eigentlich jetzt so aufregte. Zeitweilig war er heiter, meist aber nachdenklich, ohne daß er übrigens selbst gewußt hätte, worüber er nachdachte; auf einmal begann er etwas zu erzählen, von Jepantschins, vom Fürsten, von Lebedew, brach dann aber plötzlich wieder ab, hörte gänzlich auf zu reden, antwortete auf weitere Fragen nur mit einem stumpfsinnigen Lächeln, ohne übrigens zu bemerken, daß man ihn fragte und er lächelte. Die letzte Nacht hatte er ächzend und stöhnend verbracht und seine Frau, die ihm die ganze Nacht über heiße Umschläge gemacht hatte, halbtot gequält; erst gegen Morgen war er eingeschlafen, hatte vier Stunden lang geschlafen und war in einem Anfall von sehr starker, seltsamer Hypochondrie erwacht, die dann dazu führte, daß er mit Ippolit in Streit geriet und einen »Fluch über dieses Haus« aussprach. Es war auch aufgefallen, daß er in diesen drei Tagen beständig ein sehr starkes Ehrgefühl bekundete und infolgedessen ungewöhnlich empfindlich war. Kolja allerdings behauptete der Mutter gegenüber beharrlich, das sei alles nur Sehnsucht nach dem Alkohol und vielleicht nach Lebedew, mit dem sich der General in letzter Zeit außerordentlich angefreundet hatte. Aber drei Tage vorher hatte er sich mit Lebedew auf einmal heftig gezankt und sich in schrecklicher Wut von ihm getrennt, und sogar mit dem Fürsten hatte es eine Szene gegeben. Kolja hatte den Fürsten um Aufklärung gebeten und war schließlich auf die Vermutung gekommen, daß auch dieser ihm irgend etwas nicht sagen wollte. Wenn wirklich, wie Ganja mit größter Bestimmtheit annahm, ein besonderes Gespräch zwischen Ippolit und Nina Alexandrowna stattgefunden hatte, so war es doch merkwürdig, daß dieser boshafte Herr, den Ganja so geradezu ein Klatschmaul nannte, kein Vergnügen daran gefunden hatte, auch Kolja in derselben Weise aufzuklären. Sehr möglich, daß er gar kein boshafter »Bube« von der Art war, wie ihn Ganja in seinem Gespräch mit der Schwester geschildert hatte, sondern in anderer Weise boshaft; und er hatte auch Nina Alexandrowna eine gewisse von ihm gemachte Beobachtung wohl kaum nur zu dem Zweck mitgeteilt, »ihr das Herz zu zerreißen«. Wir wollen nicht vergessen, daß die Motive der menschlichen Handlungen gewöhnlich unendlich komplizierter und mannigfaltiger sind, als wir nachher immer glauben, und sich nur selten mit Sicherheit angeben lassen. Für den Erzähler ist es manchmal das beste, sich auf die einfache Darlegung der Tatsachen zu beschränken. So wollen wir auch bei der weiteren Darstellung der über den General hereingebrochenen Katastrophe verfahren, denn trotz alles Widerstrebens sehen wir uns doch in die Notwendigkeit versetzt, auch dieser Nebenfigur unserer Erzählung etwas mehr Aufmerksamkeit und Platz zuzugestehen, als wir bisher beabsichtigten.

Die Ereignisse hatten sich in nachstehender Reihenfolge abgespielt.

Als Lebedew von seiner Fahrt nach Petersburg, bei der er Nachforschungen nach Ferdyschtschenko hatte anstellen wollen, noch an demselben Tage mit dem General zurückgekehrt war, hatte er dem Fürsten nichts Besonderes mitgeteilt. Wäre der Fürst in jener Zeit nicht durch andere für ihn sehr wichtige Dinge abgelenkt und in Anspruch genommen worden, so hätte er bald bemerken müssen, daß auch an den beiden darauffolgenden Tagen Lebedew ihm nicht nur keine Aufklärung gab, sondern sogar im Gegenteil aus irgendeinem Grund einem Zusammentreffen mit ihm aus dem Weg ging. Als der Fürst schließlich doch darauf aufmerksam wurde, wunderte er sich darüber, daß an diesen beiden Tagen Lebedew bei zufälligen Begegnungen, wie er sich erinnerte, stets in der heitersten Stimmung und fast immer mit dem General zusammen gewesen war. Die beiden Freunde trennten sich keine Minute mehr. Der Fürst hörte mitunter lautes, eifriges Gespräch, das zu ihm von oben herunterdrang, und lachendes, munteres Disputieren; einmal sehr spätabends schlugen sogar plötzlich und unerwartet die Töne eines feuchtfröhlichen Soldatenliedes an sein Ohr, und er erkannte sofort die heisere Baßstimme des Generals. Aber das angestimmte Lied kam nicht recht in Gang und verstummte plötzlich wieder. Dann setzte sich ungefähr noch eine Stunde ein sehr lebhaftes Gespräch fort; nach allen Anzeichen zu urteilen, waren die Redenden bereits betrunken. Man konnte erraten, daß die beiden Freunde, die sich da oben vergnügten, einander umarmten und schließlich einer von ihnen zu weinen anfing. Dann folgte auf einmal ein heftiger Streit, der ebenfalls bald wieder verstummte. Diese ganzen Tage befand sich Kolja in besonders sorgenvoller Stimmung. Der Fürst war größtenteils nicht zu Hause und kehrte manchmal erst sehr spät zurück; dann wurde ihm immer gemeldet, Kolja habe ihn den ganzen Tag gesucht und nach ihm gefragt. Aber bei Begegnungen vermochte Kolja nichts Besonderes zu sagen, außer daß er mit dem General und dessen jetziger Aufführung sehr unzufrieden sei: »Sie treiben sich herum, betrinken sich nicht weit von hier in einer Schenke, umarmen und zanken sich auf der Straße, ärgern sich gegenseitig und können sich doch nicht voneinander trennen.« Als der Fürst ihm erwiderte, daß das auch früher fast täglich dieselbe Geschichte gewesen sei, wußte Kolja nicht, was er darauf antworten und wie er erklären sollte, weswegen er sich eigentlich jetzt so beunruhigte.

An dem Morgen nach dem Trinklied und dem Streit wollte der Fürst gegen elf Uhr ausgehen, als plötzlich der General in großer Aufregung bei ihm erschien.

»Ich habe lange nach einer Gelegenheit gesucht, wo ich die Ehre haben könnte, Sie zu sprechen, hochverehrter Lew Nikolajewitsch, schon lange, sehr lange«, murmelte er und drückte dem Fürsten so kräftig die Hand, daß es diesem beinahe weh tat. »Schon sehr, sehr lange.«

Der Fürst bat ihn, Platz zu nehmen.

»Nein, ich wollte mich nicht hinsetzen, ich halte Sie überdies auf, ein andermal. Wie es scheint, kann ich bei dieser Gelegenheit Ihnen auch zu der… Erfüllung… Ihrer Herzenswünsche gratulieren.«

»Welcher Herzenswünsche?«

Der Fürst wurde verlegen. Er hatte, wie viele Leute in seiner Lage, die Vorstellung, daß bestimmt niemand etwas sehe, errate oder verstehe.

»Seien Sie ganz beruhigt, seien Sie ganz beruhigt! Ich werde Ihre zarten Gefühle nicht verletzen. Ich habe das selbst durchgemacht und weiß selbst, wie es ist, wenn ein Fremder… wie man sagt seine Nase… nach dem üblichen Ausdruck… da hineinsteckt, wo es nicht gewünscht wird. Ich mache diese Erfahrung jeden Morgen. Ich bin in einer andern, wichtigen Angelegenheit gekommen. In einer sehr wichtigen Angelegenheit, Fürst.«

Der Fürst bat ihn noch einmal, sich zu setzen, und setzte sich selbst.

»Nun, dann nur auf eine Sekunde… Ich bin gekommen, um Sie um Rat zu fragen. Ich habe jetzt bekanntlich keine praktische Tätigkeit; aber da ich mich selbst und meine den Russen im allgemeinen fehlende Geschäftstüchtigkeit wohl zu schätzen weiß… so möchte ich mich, meine Frau und meine Kinder in die Lage bringen… kurz gesagt, Fürst, ich möchte gern einen guten Rat haben.«

Der Fürst spendete seiner Absicht warmes Lob.

»Na, das ist alles nur dummes Zeug«, unterbrach ihn der General, »und, was die Hauptsache ist, ich will gar nicht davon, sondern von etwas anderem, Wichtigem reden. Und ich habe mich entschlossen, es gerade Ihnen auseinanderzusetzen, Lew Nikolajewitsch, als einem Menschen, von dessen Aufrichtigkeit und Edelsinn ich ebenso überzeugt bin wie… wie… Sie wundern sich doch nicht über meine Worte, Fürst?«

Der Fürst betrachtete seinen Gast, wenn nicht mit besonderer Verwunderung, so doch mit großer Aufmerksamkeit und Neugier. Der Alte war etwas blaß, seine Lippen zuckten mitunter leicht, seine Hände schienen keinen Ruhepunkt finden zu können. Er saß erst einige Minuten und hatte sich während dieser Zeit bereits ein paarmal ohne Anlaß vom Stuhle erhoben und wieder hingesetzt, offenbar ohne diesen seinen Bewegungen die geringste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Auf dem Tisch lagen Bücher; er nahm eines, warf, ohne sich im Reden zu unterbrechen, einen Blick auf die aufgeschlagene Seite, klappte es sofort wieder zu und legte es auf den Tisch zurück, ergriff ein anderes Buch, das er gar nicht mehr aufschlug, sondern die ganze übrige Zeit in der rechten Hand behielt, wobei er es unaufhörlich in der Luft umherschwenkte.

»Genug!« rief er plötzlich. »Ich sehe, daß ich Sie sehr belästige.«

»Aber durchaus nicht, ich bitte Sie, tun Sie mir den Gefallen, im Gegenteil, ich bin ganz Ohr und würde gern erfahren …«

»Fürst, ich möchte mich in eine geachtete Position bringen… ich möchte gern mich selbst und… meine Rechte achten können.«

»Wer einen solchen Wunsch hegt, verdient schon dafür alle Hochachtung.«

Der Fürst sagte diesen Satz, einen Satz, wie sie in Schönschreibheften als Vorlage dienen, in der festen Überzeugung, daß er eine gute Wirkung haben würde. Er fühlte fast instinktiv, daß man durch eine solche hohle, aber schönklingende Phrase, wenn sie zur rechten Zeit ausgesprochen wurde, das Herz eines Menschen wie des Generals gewinnen und besänftigen konnte, namentlich wenn der Betreffende sich in solcher Lage befand wie der General. Jedenfalls mußte er erreichen, daß ein solcher Gast sich beim Weggehen leichter ums Herz fühlte, das war die Aufgabe.

Die Redensart schmeichelte, rührte und gefiel sehr: der General wurde plötzlich gefühlvoll, änderte sofort seinen Ton und erging sich in langen, begeisterten Auseinandersetzungen. Aber wie sehr sich der Fürst auch beim Zuhören anstrengte, er konnte buchstäblich nichts verstehen. Der General redete etwa zehn Minuten lang eifrig und schnell, als wäre er gar nicht imstande, die sich massenhaft in seinem Kopf drängenden Gedanken zu bewältigen; gegen Ende blitzten sogar Tränen in seinen Augen, aber doch waren es nur Phrasen ohne Anfang und Ende, zusammenhanglose Worte und zusammenhanglose Gedanken, die rasch und in bunter Folge hervorstürzten und übereinander wegsprangen.

»Genug! Sie haben mich verstanden, und ich bin beruhigt«, schloß er plötzlich und stand auf. »Ein Herz wie das Ihrige muß einen Leidenden verstehen. Fürst, Sie sind von einem idealen Edelsinn! Was sind alle andern gegen Sie? Aber Sie sind noch jung, und so erteile ich Ihnen meinen Segen. Also zum Schluß: ich bin gekommen, um Sie zu bitten, mir eine Stunde für eine wichtige Unterredung zu bestimmen; auf diese Unterredung setze ich meine größte Hoffnung. Was ich suche, ist nur Freundschaft und ein Herz, Fürst; ich habe die Forderungen meines Herzens bisher nie erfüllt gesehen.«

»Aber warum nicht gleich jetzt? Ich bin bereit zuzuhören…«

»Nein, Fürst, nein«, unterbrach ihn der General eifrig. »Nicht gleich! Gleich, das wäre ein Traum! Und die Sache ist allzu, allzu wichtig, allzu wichtig! In der Stunde, die dieses Gespräch dauern wird, wird sich mein Schicksal entscheiden. Diese Stunde wird mir gehören, und ich möchte nicht, daß uns in einem so heiligen Augenblick der erste beste Eindringling unterbrechen könnte, der erste beste freche Mensch, wie es ein solcher frecher Mensch oft tut« (er beugte sich auf einmal zum Fürsten hin und sprach in einem sonderbaren, geheimnisvollen, beinah ängstlichen Flüsterton), »ein solcher frecher Mensch, der nicht so viel wert ist wie Ihr Stiefelabsatz, geliebter Fürst! Oh, ich sage nicht: wie mein Stiefelabsatz! Beachten Sie besonders, daß ich nicht meinen Stiefelabsatz erwähnt habe, denn ich achte mich selbst zu sehr, um das so ohne weiteres auszusprechen; aber nur Sie sind imstande, zu verstehen, daß ich, indem ich in einem solchen Fall meinen Stiefelabsatz unerwähnt lasse, vielleicht einen außerordentlichen Stolz auf meine Würde zum Ausdruck bringe. Außer Ihnen wird kein anderer dafür Verständnis haben, auch er nicht, er vor allem nicht. Er hat für nichts Verständnis, Fürst, er ist völlig, völlig unfähig, etwas zu begreifen! Man muß ein Herz haben, um etwas zu verstehen!«

Gegen Ende dieser Rede wurde der Fürst beinah ängstlich und setzte die Unterredung mit dem General für den folgenden Tag zur gleichen Stunde fest. Der General ging in mutiger Stimmung weg; er fühlte sich sehr getröstet und fast beruhigt. Am Abend, zwischen sechs und sieben Uhr, ließ der Fürst auf einen Augenblick Lebedew zu sich bitten.

Lebedew erschien mit großer Eilfertigkeit, er hielt es für eine Ehre, wie er sofort beim Eintritt sagte; mit keiner Silbe redete er davon, daß er sich drei Tage lang gewissermaßen versteckt gehalten und offenbar eine Begegnung mit dem Fürsten vermieden hatte. Er setzte sich auf den Rand eines Stuhles, schnitt Grimassen, lächelte, kniff die lachenden, lauernden Augen zusammen, rieb sich die Hände und machte in der naivsten Weise ein Gesicht, als ob er eine sehr wichtige, längst erwartete und von allen bereits erratene Mitteilung zu hören erhoffte. Dem Fürsten war das wieder peinlich; ihm wurde klar, daß alle Leute auf einmal angefangen hatten, etwas von ihm zu erwarten, daß alle ihn unter Andeutungen, Lächeln und Augenzwinkern so anblickten, als ob sie ihm zu etwas gratulieren wollten. Keller war schon dreimal eilig hereingekommen, ebenfalls mit dem offensichtlichen Wunsch zu gratulieren; er begann jedesmal mit enthusiastischen, unklaren Redensarten, die er aber nie zu Ende brachte, und verschwand schnell wieder. (Er hatte in den letzten Tagen angefangen, in einer Wirtschaft besonders stark zu trinken, und in einem Billardlokal randaliert.) Selbst Kolja begann trotz seines Kummers ebenfalls ein paarmal ein unklar andeutendes Gespräch mit dem Fürsten.

Der Fürst fragte Lebedew geradeheraus und in etwas gereiztem Ton, was er über den jetzigen Zustand des Generals denke und warum sich dieser in solcher Unruhe befinde. Mit wenigen Worten erzählte er ihm die Szene, die am Vormittag stattgefunden hatte.

»Jeder Mensch hat seine Unruhe, Fürst, und … besonders in unserer seltsamen, unruhigen Zeit, jawohl!« antwortete Lebedew etwas trocken und verstummte dann gekränkt, mit der Miene eines Mannes, der sich in seinen Erwartungen arg getäuscht sieht.

»Was sprechen Sie für philosophische Gedanken aus!« sagte der Fürst lächelnd.

»Die Philosophie ist etwas Notwendiges; gerade für unser Zeitalter wäre es sehr notwendig, sie auf das praktische Leben anzuwenden, aber man schätzt diese Wissenschaft zu gering, das ist es. Ich meinerseits, hochgeehrter Fürst, bin zwar von Ihnen in einer gewissen, Ihnen bekannten Angelegenheit mit Ihrem Vertrauen beehrt worden, aber nur bis zu einem gewissen Grad, und nicht weiter, als es die mit dieser Angelegenheit zusammenhängenden Umstände mit sich brachten… Das begreife ich vollkommen und beklage mich in keiner Weise darüber.«

»Sie scheinen mir aus irgendeinem Grund Böse zu sein, Lebedew?«

»Ganz und gar nicht, nicht im geringsten, hochgeehrter, durchlauchtigster Fürst, nicht im geringsten!« rief Lebedew pathetisch und legte die Hand aufs Herz. »Im Gegenteil, ich habe sofort eingesehen, daß ich weder durch meine Stellung in der Welt noch durch Eigenschaften des Geistes und Herzens, noch durch angesammelte Reichtümer, noch durch mein früheres Benehmen, noch durch Kenntnisse, durch nichts Ihr geschätztes und meine Hoffnungen weit übersteigendes Vertrauen verdiene und daß, wenn ich Ihnen überhaupt dienen kann, ich das nur als Sklave und Tagelöhner vermag, nicht anders… ich bin nicht böse, aber traurig.«

»Aber ich bitte Sie, Lukjan Timofejitsch!«

»Es ist nicht anders! So auch jetzt, so auch im vorliegenden Fall! Als ich jetzt zu Ihnen kam und Sie mit meinem Herzen und meinen Gedanken anschaute, da sagte ich zu mir: ›Freundschaftlicher Mitteilungen bin ich unwürdig, aber vielleicht kann ich in meiner Eigenschaft als Hauswirt zur gegebenen Zeit, zu dem erwarteten Termin, sozusagen eine Instruktion erhalten oder, wenn’s hoch kommt, eine Benachrichtigung im Hinblick auf gewisse bevorstehende und zu erwartende Veränderungen …‹«

Während Lebedew so sprach, sog er sich mit seinen scharfen, zusammengekniffenen Augen geradezu an dem ihn erstaunt anblickenden Fürsten fest; er hoffte immer noch, seine Neugier befriedigt zu sehen.

»Ich begreife absolut nicht!« rief der Fürst beinah zornig. »Und… Sie sind ein schrecklicher Intrigant!« fügte er, auf einmal herzlich auflachend, hinzu.

Sofort fing auch Lebedew an zu lachen, und sein strahlender Blick ließ erkennen, daß seine Hoffnungen wieder lebendig geworden waren und sich sogar verdoppelt hatten.

»Ich werde Ihnen einmal etwas sagen, Lukjan Timofejitsch. Nehmen Sie es mir nur nicht übel, aber ich wundere mich über Ihre Naivität und nicht allein über die Ihrige! Sie erwarten gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick von mir etwas mit solcher Naivität, daß ich mich ordentlich vor Ihnen darüber schäme, daß ich nichts mitzuteilen habe, womit ich Ihre Wißbegierde befriedigen könnte; aber ich schwöre Ihnen, daß absolut nichts vorliegt, können Sie sich das vorstellen?«

Der Fürst fing wieder an zu lachen.

Lebedew nahm eine würdevolle Haltung an. Er war allerdings manchmal sehr naiv und zudringlich in seiner Neugier, aber gleichzeitig war er ein recht schlauer, geriebener Mensch und in manchen Fällen sogar von einer heimtückischen Schweigsamkeit; der Fürst hatte dadurch, daß er ihn fortwährend zurückstieß, ihn sich beinah zum Feind gemacht. Aber der Fürst stieß ihn nicht etwa deswegen zurück, weil er ihn geringgeschätzt hätte, sondern weil der Gegenstand seiner Neugier gar zu delikat war. Gewisse Zukunftsträume hatte der Fürst noch vor wenigen Tagen sozusagen wie ein Verbrechen betrachtet, aber Lukjan Timofejitsch faßte das ablehnende Verhalten des Fürsten lediglich als Widerwillen und Mißtrauen gegen sich persönlich auf, pflegte mit tief verwundetem Herzen fortzugehen und war nicht nur auf Kolja und Keller, sondern sogar auf seine eigene Tochter Wera Lukjanowna wegen des Fürsten eifersüchtig. Vielleicht hätte er sogar gerade in diesem Augenblick aufrichtig gewünscht, dem Fürsten eine für diesen höchst interessante Mitteilung zu machen, aber er schwieg finster und sagte nichts.

»Womit kann ich Ihnen denn nun dienen, hochgeehrter Fürst, da Sie mich doch jetzt haben rufen lassen?« fragte er endlich, nachdem das Stillschweigen eine Weil« gedauert hatte.

»Ich wollte Sie eigentlich nach dem General fragen«, versetzte der Fürst, der sich ebenfalls einen Augenblick seinen Gedanken überlassen hatte und nun zusammenfuhr, »und … wie es mit dem Diebstahl geworden ist, von dem Sie mir Mitteilung gemacht haben…«

»Wie es womit geworden ist?«

»Na aber! Als ob Sie mich jetzt nicht verstünden! Ach, mein Gott, was soll das nur bedeuten, Lukjan Timofejitsch, Sie schauspielern fortwährend! Ich rede von dem Geld, von dem Geld, von den vierhundert Rubel, die Sie damals mit der Brieftasche verloren hatten; Sie kamen an dem Morgen, ehe Sie nach Petersburg fuhren, hierher, um mir davon zu erzählen, haben Sie nun endlich verstanden?«

»Ach so, jene vierhundert Rubel meinen Sie!« erwiderte Lebedew gedehnt, als käme er erst jetzt auf das Richtige. »Ich danke Ihnen, Fürst, für Ihre aufrichtige Teilnahme, sie ist mir sehr schmeichelhaft, aber… ich habe das Geld wiedergefunden, schon längst.«

»Sie haben es wiedergefunden! Ach, Gott sei Dank!«

»Dieser Ausruf zeugt von Ihrer überaus edlen Denkungsart, denn vierhundert Rubel sind keine Kleinigkeit für einen armen Menschen, der von seiner schweren Arbeit leben muß und eine zahlreiche Familie von mutterlosen Kindern hat…«

»Das meine ich ja nicht! Gewiß, ich freue mich auch darüber, daß Sie das Geld wiedergefunden haben«, verbesserte sich der Fürst eilig, »aber… wie ist es denn zugegangen, daß Sie es wiedergefunden haben?«

»Ganz einfach, ich fand es unter dem Stuhl, auf dem der Rock gehangen hatte, so daß die Brieftasche offenbar aus der Tasche geglitten und auf den Fußboden gefallen war.«

»Unter den Stuhl? Das ist doch nicht möglich; Sie haben mir doch selbst gesagt, Sie hätten in allen Ecken und Winkeln nachgesucht; wie sollten Sie denn gerade diese wichtigste Stelle nicht revidiert haben?«

»Das ist es ja eben, daß ich sie revidiert habe! Daß ich das getan habe, darauf besinne ich mich ganz genau! Auf allen vieren bin ich herumgekrochen, habe den Stuhl weggerückt und an dieser Stelle mit den Händen umhergetastet, da ich meinen eigenen Augen nicht glaubte: ich sah, daß nichts da war, daß der Fleck leer und glatt war wie meine Handfläche da, aber dennoch fuhr ich fort umherzutasten. Solch ein törichtes Zweifeln an seinen eigenen Sinnen wiederholt sich immer beim Menschen, wenn er… bei wichtigen traurigen Verlusten den dringenden Wunsch hat, das Verlorene wiederzufinden: er sieht, daß nichts da und der Fleck leer ist, sieht aber doch fünfzehnmal nach ihm hin.«

»Ja, allerdings; aber wie hängt denn die Sache hier zusammen?… Ich verstehe es gar nicht«, murmelte der Fürst ganz verwirrt. »Sie sagen, es sei zuerst nicht dagewesen und Sie hätten an dieser Stelle gesucht, aber dann sei es plötzlich doch dagewesen!«

»Ja, dann war es plötzlich doch da.«

Der Fürst sah Lebedew mit einem sonderbaren Blick an.

»Und der General?« fragte er dann plötzlich.

»Wieso? Was ist mit dem General?« erwiderte Lebedew, der wieder nicht verstand.

»Ach, mein Gott! Ich frage, was der General dazu sagte, als Sie die Brieftasche unter dem Stuhl wiedergefunden hatten. Sie hatten ja doch zuerst beide zusammen danach gesucht.«

»Ja, wir hatten zuerst zusammen danach gesucht. Aber ich muß bekennen, diesmal schwieg ich still und zog es vor, ihm keine Mitteilung davon zu machen, daß ich die Brieftasche bereits allein wiedergefunden hatte.«

»Aber… warum denn das? War denn das Geld vollzählig darin?«

»Ich habe die Brieftasche geöffnet; das Geld war vollzählig darin, nicht ein einziger Rubel fehlte.«

»Aber Sie hätten doch wenigstens zu mir kommen und es mir sagen sollen«, bemerkte der Fürst nachdenklich.

»Ich fürchtete, Sie in Ihren persönlichen und vielleicht sozusagen ganz außerordentlichen Empfindungen zu stören, Fürst; zudem stellte ich mich überhaupt so, als ob ich nichts gefunden hätte. Ich machte die Brieftasche auf, revidierte den Inhalt, machte sie dann wieder zu und legte sie wieder unter den Stuhl.«

»Wozu denn das?«

»Eine besondere Absicht hatte ich nicht dabei, ich war nur neugierig, was nun weiter geschehen würde«, erwiderte Lebedew kichernd und sich die Hände reibend.

»Also liegt sie auch jetzt noch seit vorgestern da?«

»O nein, sie hat nur vierundzwanzig Stunden lang dagelegen. Sehen Sie, ich wünschte, daß auch der General sie finden möchte. Denn wenn ich sie schließlich gefunden hatte, warum sollte nicht auch der General einen Gegenstand bemerken, der unter dem Stuhl hervorsah und einem sozusagen in die Augen sprang? Ich hob diesen Stuhl zu wiederholten Malen auf und stellte ihn anders hin, so daß die Brieftasche nun ganz frei dalag, aber der General bemerkte sie absolut nicht, und so dauerte das einen ganzen Tag lang. Er ist jetzt offenbar sehr zerstreut, man kann gar nicht aus ihm klug werden: er redet, erzählt, lacht, aber auf einmal wird er dann auf mich furchtbar böse, ich weiß nicht weshalb. Als wir schließlich einmal aus dem Zimmer gingen, ließ ich die Tür absichtlich offenstehen; er schwankte ein Weilchen, als wollte er etwas sagen; wahrscheinlich war er um die Brieftasche mit dem vielen Geld besorgt, aber auf einmal wurde er furchtbar zornig und sagte nichts. Wir waren auf der Straße noch nicht zwei Schritte gegangen, als er mich im Stich ließ und nach der anderen Seite hinüberging. Erst am Abend trafen wir im Wirtshaus wieder zusammen.«

»Aber schließlich haben Sie doch wohl die Brieftasche unter dem Stuhl weggenommen?«

»Nein, sie ist noch in derselben Nacht von dort verschwunden.«

»Also wo ist sie denn jetzt?«

»Hier!« erwiderte Lebedew lachend, indem er vom Stuhl aufstand, sich ganz aufrichtete und den Fürsten vergnügt ansah. »Sie befand sich auf einmal hier, in meinem eigenen Rockschoß. Da! Sehen Sie selbst, und befühlen Sie sie!«

In der Tat hatte sich im linken vorderen Rockschoß, genau vorn, an einer sehr sichtbaren Stelle ein ordentlicher Bausch gebildet, und beim Befühlen konnte man ohne weiteres erraten, daß sich da eine lederne Brieftasche befand, die aus der zerrissenen Tasche dort hinuntergerutscht war.

»Ich habe sie herausgenommen und revidiert: der Inhalt war vollzählig. Ich ließ sie wieder hinuntergleiten und gehe so seit gestern morgen herum; ich trage sie im Rockschoß, sie schlägt sogar gegen mein Bein.«

»Und Sie bemerken das gar nicht?«

»Nein, ich bemerke es nicht, hehe! Und stellen Sie sich vor, hochgeehrter Fürst – obwohl der Gegenstand einer solchen besonderen Beachtung von Ihrer Seite gar nicht würdig ist – meine Taschen sind immer ganz und heil, und nun hatte diese Tasche auf einmal über Nacht ein solches Loch bekommen! Ich besah mir dieses Loch genauer; es macht den Eindruck, als ob es jemand mit einem Federmesser hineingeschnitten hätte; ist das nicht beinah unglaublich?«

»Und… der General?«

»Den ganzen Tag über war er böse, gestern und heute; er ist furchtbar verstimmt; bald ist er vergnügt und lustig und sagt mir sogar Schmeicheleien, bald ist er so gefühlvoll, daß ihm sogar die Tränen kommen, bald wieder wird er auf einmal zornig, so daß ich sogar Angst bekomme, wahrhaftig; ich bin ja doch kein Soldat, Fürst. Gestern saßen wir im Wirtshaus, und mein Rockschoß stand wie zufällig so recht sichtbar hervor mit der daran befindlichen Erhöhung; er schielte danach hin und ärgerte sich. Gerade in die Augen sieht er mir jetzt schon längst nicht mehr, außer wenn er sehr betrunken oder sehr gefühlvoll ist; aber gestern sah er mich ein paarmal so an, daß es mir ordentlich kalt den Rücken hinunterlief. Ich beabsichtige übrigens, morgen die Brieftasche zu finden; aber heute abend will ich noch meinen Spaß mit ihm haben.«

»Warum quälen Sie ihn so?« rief der Fürst.

»Ich quäle ihn nicht, Fürst, ich quäle ihn nicht«, erwiderte Lebedew lebhaft. »Ich habe ihn von Herzen gern und… schätze ihn hoch, und jetzt – Sie mögen es glauben oder nicht – ist er mir noch teurer geworden, ich schätze ihn noch höher!«

Lebedew sagte das alles so ernst und aufrichtig, daß der Fürst geradezu empört war.

»Sie haben ihn gern und quälen ihn so! Ich bitte Sie, schon allein dadurch, daß er Ihnen den verlorenen Gegenstand so offen unter den Stuhl legte und in den Rock steckte, schon dadurch allein beweist er Ihnen deutlich, daß er Ihnen gegenüber keine List anwenden will, sondern Sie schlicht und einfach um Verzeihung bittet. Hören Sie: er bittet Sie um Verzeihung! Er hofft also auf Ihr Zartgefühl, glaubt also an Ihre freundschaftliche Gesinnung. Und Sie demütigen ihn dermaßen … einen grundehrlichen Menschen!«

»Einen grundehrlichen Menschen, einen grundehrlichen Menschen, Fürst!« fiel Lebedew mit funkelnden Augen ein. »Und nur Sie, edelster Fürst, waren imstande, ein so gerechtes Wort auszusprechen! Darum bin ich Ihnen ja auch bis zur Vergötterung ergeben, obwohl ich von mancherlei Lastern angefault bin! Also abgemacht! Ich finde die Brieftasche jetzt gleich, sofort und nicht erst morgen; da, ich ziehe sie vor Ihren Augen heraus, da ist sie, und da ist auch das ganze bare Geld; hier, nehmen Sie es, edelster Fürst, nehmen Sie es, und heben Sie es mir bis morgen auf! Morgen oder übermorgen werde ich es mir wieder zurückerbitten; wissen Sie, Fürst, es hat offenbar in der ersten Nacht, nachdem es abhanden gekommen war, irgendwo in meinem Gärtchen unter einem Stein gelegen, meinen Sie nicht auch?«

»Sagen Sie es ihm nur nicht so gerade ins Gesicht, daß Sie die Brieftasche wiedergefunden haben. Mag er ganz einfach sehen, daß nichts mehr in Ihrem Rockfutter steckt; dann wird er es schon verstehen.«

»Also auf diese Art? Wäre es nicht besser, zu sagen, daß ich sie wiedergefunden habe, und so zu tun, als hätte ich sie bisher nicht bemerkt?«

»N-nein«, versetzte der Fürst nach einiger Überlegung, »n-nein, dazu ist es jetzt zu spät, das ist zu gefährlich; wirklich, sagen Sie lieber nichts! Und seien Sie freundlich zu ihm, aber… tragen Sie dabei nicht zu stark auf und… und… nun, Sie wissen schon…«

»Ich weiß, Fürst, ich weiß, das heißt, ich weiß, daß ich es vielleicht nicht werde durchführen können, denn dazu muß man ein Herz haben wie das Ihrige. Und überdies bin ich selbst reizbar und empfindlich; er behandelt mich aber jetzt manchmal auch gar zu sehr von oben herab; bald schluchzt er und umarmt mich, und dann auf einmal fängt er an, mich zu demütigen und zu schmähen; na, dann stelle ich gleich absichtlich den Rockschoß zur Schau, hehe! Auf Wiedersehen, Fürst, denn ich halte Sie offenbar auf und behindere Sie in den sozusagen interessantesten Gefühlen…« »Aber um Gottes willen: schweigen Sie von der Sache wie bisher!«

»Mit leisen Schritten, mit leisen Schritten!« Aber obgleich die Sache nun erledigt war, war der Fürst nach Lebedews Weggang doch in fast noch größerer Sorge als vorher. Ungeduldig sah er der morgigen Zusammenkunft mit dem General entgegen.

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Kapitel 42

IV

Die Zusammenkunft war auf zwölf Uhr festgesetzt, aber der Fürst verspätete sich ganz unerwartet. Bei seiner Heimkehr fand er in seiner Wohnung den General vor, der auf ihn wartete. Er bemerkte auf den ersten Blick, daß dieser unzufrieden war und vielleicht gerade darüber, daß er hatte warten müssen. Der Fürst bat um Entschuldigung und setzte sich schleunigst hin, aber in einer eigentümlich ängstlichen Art, als wäre sein Gast von Porzellan und als fürchte er jeden Augenblick, ihn zu zerbrechen. Früher war er dem General gegenüber niemals ängstlich gewesen, dergleichen war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Der Fürst erkannte bald, daß er da einen ganz andern Menschen vor sich hatte als tags zuvor: statt der Verwirrung und Zerstreutheit machte sich eine große Zurückhaltung bemerkbar; man konnte schließen, daß dies ein Mensch war, der irgendeinen endgültigen Entschluß gefaßt hatte. Übrigens war diese Ruhe mehr äußerlich als wirklich vorhanden. Aber jedenfalls zeigte der Gast eine vornehme Zwanglosigkeit, obwohl diese sich mit zurückhaltender Würde paarte; am Anfang behandelte er den Fürsten sogar mit einer Art von Herablassung; diese vornehme Zwanglosigkeit findet man ja oft bei stolzen, ungerecht gekränkten Leuten. Er sprach freundlich, wenn auch in seinem Ton etwas Trauriges lag.

»Da ist Ihr Buch, das ich neulich von Ihnen entliehen habe«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung nach einem von ihm mitgebrachten Band, der auf dem Tisch lag. »Ich danke Ihnen.«

»Ach ja, haben Sie diesen Artikel gelesen, General? Wie hat er Ihnen gefallen? Ist er nicht interessant?« erwiderte der Fürst, erfreut über die Möglichkeit, schnell ein Gespräch über einen nebensächlichen Gegenstand anfangen zu können.

»Ja, interessant ist er, meinetwegen, aber plump und jedenfalls abgeschmackt. Vielleicht wimmelt er auch von Lügen.«

Der General sprach mit affektierter Würde und zog sogar die einzelnen Worte ein wenig in die Länge.

»Ach, es ist doch eine so schlichte Erzählung, die Erzählung eines alten Soldaten über das, was er während des Aufenthaltes der Franzosen in Moskau mit eigenen Augen gesehen hat, manches darin ist überaus reizvoll geschildert. Memoiren von Augenzeugen sind ja überhaupt wertvoll, wer auch immer diese Augenzeugen sind, nicht wahr?«

»An Stelle des Redakteurs hätte ich diesen Artikel nicht abgedruckt; was aber Memoiren von Augenzeugen im allgemeinen anlangt, so findet ein dreister, aber amüsanter Lügner leichter Glauben als ein würdiger, wohlverdienter Mann. Ich kenne gewisse Memoiren aus dem Jahre 1812, die… Ich habe meinen Entschluß gefaßt, Fürst, und verlasse dieses Haus, das Haus des Herrn Lebedew.«

Der General sah den Fürsten bedeutsam an.

»Sie wohnen ja auch eigentlich hier in Pawlowsk bei… bei Ihrer Tochter…«, antwortete der Fürst, der nicht recht wußte, was er sagen sollte.

Er erinnerte sich, daß der General ja gekommen war, um sich in einer wichtigen Angelegenheit Rat zu erbitten, in einer Angelegenheit, von der sein Schicksal abhänge.

»Bei meiner Frau; mit andern Worten in meiner eigenen Wohnung im Hause meiner Tochter.«

»Verzeihen Sie, ich …«

»Ich verlasse Lebedews Haus, lieber Fürst, weil ich mich von diesem Menschen losgesagt habe; ich habe mich gestern abend von ihm losgesagt und habe bereut, dies nicht schon früher getan zu haben. Ich verlange Respekt, Fürst, und möchte ihn mir auch von denjenigen Leuten ausbitten, denen ich sozusagen mein Herz schenke. Fürst, ich verschenke mein Herz häufig und werde dabei fast immer betrogen. Dieser Mensch ist meines Geschenkes unwürdig.«

»Er ist nicht frei von inneren Widersprüchen«, bemerkte der Fürst zurückhaltend, »und manche Züge seines Charakters… aber mitten in all dem kann man doch ein Herz wahrnehmen und einen schlauen, mitunter auch amüsanten Verstand.«

Daß der Fürst in gewählten Ausdrücken sprach und sich eines respektvollen Tones bediente, schmeichelte dem General offenbar, obgleich seine Miene manchmal immer noch ein plötzlich rege werdendes Mißtrauen bekundete. Aber der Ton des Fürsten klang so natürlich und aufrichtig, daß es unmöglich war zu zweifeln.

»Gewiß besitzt er auch gute Eigenschaften«, stimmte der General bei, »und ich bin der erste gewesen, der das offen aussprach, als ich diesem Individuum beinah meine Freundschaft schenkte. Sein Haus und seine Gastfreundschaft benötige ich nicht, da ich eine eigene Familie besitze. Ich will meine Laster nicht entschuldigen: ich bin unenthaltsam; ich habe mit ihm getrunken und vergieße jetzt vielleicht Tränen darüber. Aber ich hatte doch nicht allein des Suffs wegen (verzeihen Sie, Fürst, einem schwer gereizten Mann diese derbe Offenherzigkeit), nicht allein des Suffs wegen mich ihm angeschlossen. Was mich lockte, waren, wie Sie richtig sagen, seine guten Eigenschaften. Aber alles geht bis zu einer gewissen Grenze, auch die Wertschätzung der guten Eigenschaften, und wenn er auf einmal die Dreistigkeit hat, mir ins Gesicht zu behaupten, er habe im Jahre 1812 als Kind sein linkes Bein verloren und es auf dem Waganjkowschen Friedhof in Moskau begraben, so überschreitet das denn doch alle Grenzen und zeugt von einer Respektlosigkeit und Frechheit…«

»Vielleicht war das nur ein Scherz, der heiteres Gelächter hervorrufen sollte.«

»Ich verstehe. Eine unschuldige Lüge, die heiteres Gelächter hervorrufen soll, kann, auch wenn sie plump ist, ein Menschenherz nicht beleidigen. Mancher lügt auch sozusagen nur aus Freundschaft, um demjenigen, mit dem er sich unterhält, ein Vergnügen zu machen, aber wenn bei einem solchen Benehmen Respektlosigkeit durchschimmert und wenn namentlich der Erzähler durch eine solche Respektlosigkeit zeigen will, daß ihm der Umgang mit dem andern lästig wird, dann bleibt einem anständigen Mann nichts anderes übrig, als den Beleidiger in die Schranken zu weisen, sich von ihm abzuwenden und alle Beziehungen zu ihm abzubrechen.«

Der General war, während er sprach, ganz rot geworden.

»Aber Lebedew kann doch im Jahre 1812 gar nicht in Moskau gewesen sein, dazu ist er ja zu jung; das ist lächerlich.«

»Erstens das; aber selbst angenommen, daß er damals schon geboren war, wie kann er mir ins Gesicht behaupten, ein französischer Chasseur habe eine Kanone auf ihn abgefeuert und ihm so zum Vergnügen ein Bein abgeschossen; er habe dieses Bein aufgehoben, nach Hause getragen und nachher auf dem Waganjkowschen Friedhof begraben. Er sagt, er habe ein Denkmal darüber errichten lassen, mit einer Inschrift auf der einen Seite: ›Hier ruht ein Bein des Kollegiensekretärs Lebedew‹, und auf der andern: ›Ruhe sanft, liebe Asche, bis zum frohen Tage der Auferstehung!‹ und schließlich noch, er lasse jährlich für dieses Bein eine Seelenmesse lesen (so etwas zu sagen, ist geradezu ein Religionsfrevel) und fahre zu diesem Zweck jährlich nach Moskau. Und zum Beweis fordert er mich auf, nach Moskau mitzukommen; da wolle er mir das Grab zeigen und sogar im Kreml jene selbe französische Kanone, die nachher erbeutet worden sei; er behauptet, es sei die elfte vom Tor aus, ein französisches Falkonettgeschütz alter Konstruktion.«

»Und dabei sind, wie der Augenschein lehrt, seine beiden Beine heil und gesund!« sagte der Fürst lachend. »Ich versichere Ihnen, daß das ein harmloser Spaß ist, ärgern Sie sich doch nicht darüber!«

»Aber erlauben Sie auch mir, die Sache so aufzufassen, wie ich es für richtig halte. Was den augenscheinlichen Zustand seiner Beine anlangt, so ist seine Angabe freilich nicht ganz unwahrscheinlich; es wird versichert, daß das Tschernoswitowsche Bein…«

»Ach ja, mit einem Tschernoswitowschen Bein soll man ja sogar tanzen können.«

»Das weiß ich ganz genau; als Tschernoswitow sein Bein erfunden hatte, war das erste, was er tat, daß er schleunigst zu mir kam, um es mir zu zeigen. Aber das Tschernoswitowsche Bein ist erst viel später erfunden worden… Und außerdem behauptet er, daß sogar seine verstorbene Frau während ihrer ganzen Ehe nicht gewahr geworden sei, daß er, ihr Mann, ein Holzbein habe. ›Wenn du‹, sagte er, als ich ihn auf all diese Ungereimtheiten hinwies, ›wenn du im Jahre 1812 bei Napoleon Kammerpage warst, dann mußt du auch mir erlauben, mein Bein auf dem Waganjkowschen Friedhof zu begraben.‹«

»Aber sind Sie denn…«, begann der Fürst und wurde verlegen.

Der General schien ebenfalls beinah verlegen zu werden, sah aber gleich im selben Augenblick den Fürsten sehr von oben herab und fast spöttisch an.

»Sprechen Sie zu Ende, Fürst«, sagte er, indem er die Worte mit besonderer Ruhe dehnte, »sprechen Sie zu Ende! Ich bin großmütig; sagen Sie alles: bekennen Sie nur, daß es Ihnen komisch vorkommt, einen Menschen in seinem jetzigen Zustand der Erniedrigung und Unbrauchbarkeit vor sich zu sehen und zugleich zu hören, daß dieser Mensch persönlich ein Zeuge großer Ereignisse gewesen ist. Er hat Ihnen noch nichts davon hinterbracht?«

»Nein, ich habe von Lebedew nichts gehört… wenn Sie von Lebedew reden…«

»Hm, ich nahm das Gegenteil an. Eigentlich ging unser Gespräch gestern von diesem… sonderbaren Artikel im Archiv aus. Ich wies auf dessen Absurdität hin, und da ich selbst persönlich Zeuge gewesen bin … Sie lächeln, Fürst, Sie betrachten mein Gesicht?«

»N-nein, ich …«

»Ich habe noch ein jugendliches Äußeres«, sagte der General langsam, »aber ich bin erheblich älter, als ich aussehe. Im Jahre 1812 war ich zehn oder elf Jahre alt. Ich weiß mein Lebensalter selbst nicht ganz genau. In der Dienstliste ist es zu niedrig angegeben, und ich selbst hatte im Lauf meines Lebens die Schwäche, mir ein paar Jahre abzurechnen.«

»Ich versichere Ihnen, General, ich finde es durchaus nicht seltsam, daß Sie im Jahre 1812 in Moskau waren und… gewiß können Sie darüber mancherlei mitteilen… ebenso wie alle, die damals dort waren. Einer unserer Landsleute beginnt seine Selbstbiographie gerade mit der Erzählung, daß er im Jahre 1812 als Säugling in Moskau von französischen Soldaten mit Brot gefüttert worden sei.«

»Nun, da sehen Sie es!« bemerkte der General beifällig und herablassend. »Was mir begegnet ist, geht allerdings über die gewöhnlichen Erlebnisse hinaus, enthält aber nichts Unerhörtes. Sehr oft macht die Wahrheit den Eindruck des Unmöglichen. Kammerpage! Das hört sich freilich sonderbar an. Aber daß ein zehnjähriger Knabe ein solches Abenteuer erlebt hat, erklärt sich vielleicht gerade durch sein Alter. Mit fünfzehn Jahren hätte mir das nicht begegnen können, auf keinen Fall, da ich als Fünfzehnjähriger am Tage von Napoleons Einzug in Moskau nicht aus unserm Holzhaus in der Alten Basmannaja-Straße von meiner Mutter weggelaufen wäre, die sich mit der Abreise aus Moskau verspätet hatte und vor Furcht zitterte. Als Fünfzehnjähriger hätte auch ich Angst gehabt, aber als Zehnjähriger fürchtete ich mich nicht und drängte mich durch die Menge hindurch bis dicht an die Freitreppe des Palastes, als Napoleon gerade vom Pferd stieg.«

»Ohne Zweifel haben Sie sehr treffend bemerkt, daß sich Ihre Furchtlosigkeit gerade aus Ihrem Alter von zehn Jahren erklärt«, schaltete der Fürst schüchtern ein; ihn quälte der Gedanke, daß er gleich erröten würde.

»Ohne Zweifel, und alles vollzog sich so einfach und natürlich, wie es sich eben nur in der Wirklichkeit vollziehen kann; wenn ein Romanschriftsteller dasselbe vortrüge, würde er allerlei Unmögliches und Unwahrscheinliches zusammenspinnen.«

»Ja, so ist es!« rief der Fürst. »Das ist ein Gedanke, von dem auch ich einmal überrascht gewesen bin, und zwar erst neulich. Ich weiß von einem wirklich geschehenen Mord wegen einer Uhr; die Geschichte steht jetzt in den Zeitungen. Hätte das ein Schriftsteller ersonnen, so würden die Kenner unseres Volkslebens und die Kritiker sofort ein großes Geschrei erheben, das sei unglaublich; aber wenn man es in den Zeitungen als Tatsache liest, dann spürt man, daß man gerade aus solchen Tatsachen die russische Wirklichkeit kennenlernt. Das war eine sehr hübsche Bemerkung von Ihnen, General!« schloß der Fürst eifrig; er freute sich sehr, daß er auf diese Art die helle Röte seines Gesichtes motivieren konnte.

»Nicht wahr, nicht wahr?« rief der General, dessen Augen vor Vergnügen blitzten. »Ein Knabe, ein Kind, das für die Gefahr kein Verständnis hat, drängt sich durch die Menge, um den Glanz, die Uniformen, das Gefolge und schließlich den großen Mann zu sehen, von dem es schon soviel Geschrei gehört hatte. Denn damals redeten alle Leute jahrelang nur von ihm. Die Welt war voll von diesem Namen; ich hatte ihn sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. Als Napoleon in einer Entfernung von zwei Schritten an mir vorüberging, fiel es ihm zufällig auf, wie ich ihn ansah; ich trug adlige Tracht und war gut gekleidet. Ich war der einzige von dieser Art in der großen Menge, Sie werden selbst zugeben…«

»Ohne Zweifel mußte ihm das auffallen und ein Beweis dafür sein, daß nicht alle geflüchtet, sondern daß auch Adlige mit ihren Kindern dageblieben waren.«

»Ganz richtig, ganz richtig! Er wollte die Bojaren für sich gewinnen! Als er seinen Adlerblick auf mich richtete, mochten ihm wohl auch meine Augen entgegenblitzen. ›Voilà un garçon bien éveillé!‹ sagte er. ›Qui est ton père?‹ Auf diese schnelle Frage antwortete ich ebenso schnell: ›Ein russisches Herz ist imstande, sogar in einem Feind seines Vaterlandes den großen Mann zu erkennen!‹ Das heißt, ich sogar um so peinlicher, je stärker die Besorgnis vor diesem Unheil war.«

»Ja, gewiß…«, murmelte der Fürst beinah fassungslos, »Ihre Memoiren würden… sehr interessant sein.«

Der General trug natürlich das vor, was er schon gestern Lebedew erzählt hatte, und trug es daher sehr geläufig vor, aber an dieser Stelle schielte er wieder mißtrauisch nach dem Fürsten hin.

»Meine Memoiren«, sagte er, indem er eine noch würdevollere Haltung annahm, »ich soll meine Memoiren schreiben? Das hat mich nicht verlocken können, Fürst! Indes, wenn Sie wollen, so sind meine Memoiren schon geschrieben; aber… sie liegen in meinem Schreibtisch. Wenn man mir die Augen mit Erde zugedeckt haben wird, dann mögen sie erscheinen, und dann werden sie ohne Zweifel auch in andere Sprachen übersetzt werden, nicht wegen ihres literarischen Wertes, nein, aber wegen der Wichtigkeit der gewaltigen Ereignisse, deren Augenzeuge ich, obwohl noch ein Kind, gewesen bin. Aber gerade das kam mir zustatten: eben weil ich nur ein Kind war, konnte ich sozusagen in das innerste Schlafgemach des ›großen Mannes‹ eindringen! Ich hörte nachts das Stöhnen dieses ›Riesen im Unglück‹; vor einem Kind brauchte er sich nicht zu schämen, daß er stöhnte und weinte, obgleich ich bereits verstand, daß die Ursache seiner Leiden das Stillschweigen des Kaisers Alexander war.«

»Aber er hat ja doch Briefe an ihn geschrieben… mit Friedensangeboten…«, schaltete der Fürst schüchtern ein.

»Wir wissen eigentlich nicht, was für Angebote er ihm geschrieben hat, aber er schrieb täglich, stündlich, einen Brief nach dem andern! Er regte sich furchtbar auf. Einmal in der Nacht, als wir beide allein waren, stürzte ich weinend zu ihm hin (oh, ich liebte ihn!) und rief: ›Bitten Sie den Kaiser Alexander um Verzeihung!‹ Ich hätte mich ja freilich so ausdrücken sollen: ›Versöhnen Sie sich mit dem Kaiser Alexander!‹, aber weil ich ein Kind war, sprach ich meinen Gedanken in jener naiven Weise aus. ›O mein Kind‹, antwortete er (er ging im Zimmer auf und ab), ›O mein Kind!‹ (er schien es damals öfter nicht zu beachten, daß ich erst zehn Jahre alt war, und unterhielt sich gern mit mir, ›o mein Kind, ich bin bereit, dem Kaiser Alexander die Füße zu küssen; dagegen werde ich den König von Preußen und den Kaiser von Österreich lebenslänglich hassen. Jedoch… du verstehst schließlich nichts von Politik!‹ Er schien sich plötzlich zu erinnern, mit wem er sprach, und verstummte, aber seine Augen sprühten noch lange Zeit Funken. Wollte ich all diese Tatsachen berichten – und ich war auch bei den allerwichtigsten Ereignissen Zeuge – und den Bericht jetzt herausgeben, dann all diese Kritiken, all diese verletzte literarische Eitelkeit, all dieser Neid, das Parteitreiben und… nein, dafür danke ich!«

»Was Sie von dem Parteitreiben gesagt haben, ist natürlich richtig, und ich kann Ihnen darin nur beistimmen«, antwortete der Fürst leise, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Ich habe vor kurzer Zeit das Buch von Charras über den Waterloo-Feldzug gelesen. Es ist offenbar ein ernstes Buch, und Fachmänner versichern, daß es mit außerordentlicher Sachkenntnis geschrieben sei. Aber auf jeder Seite schimmert die Freude des Verfassers über Napoleons Demütigung hindurch, und falls es möglich wäre, dem Kaiser auch bei den übrigen Feldzügen jede Spur von Talent abzusprechen, so würde Charras sich darüber wahrscheinlich höchlichst freuen; aber das macht bei einem so ernsten Werk einen schlechten Eindruck, weil es eine parteiische Denkungsart ist. Waren Sie damals durch Ihren Dienst beim Kaiser sehr in Anspruch genommen?

Der General war entzückt. Die Bemerkung des Fürsten hatte durch ihren Ernst und ihre Schlichtheit den letzten Rest seines Mißtrauens zerstreut.

»Charras! Oh, ich war selbst empört! Ich schrieb gleich damals an ihn, aber… ich kann mich jetzt eigentlich nicht mehr recht erinnern… Sie fragen, ob mich der Dienst sehr in Anspruch nahm. O nein! Ich hieß zwar Kammerpage, aber ich faßte das schon damals nicht als ein ernstes Amt auf. Zudem mußte Napoleon sehr bald alle Hoffnung aufgeben, daß es ihm gelingen würde, die Herzen der Russen für sich zu gewinnen, und so hätte er schließlich auch mich vergessen, den er aus politischen Erwägungen an sich herangezogen hatte, wenn… wenn er mich nicht persönlich liebgewonnen hätte; ich spreche das jetzt kühn aus. Mich zog mein Herz zu ihm. Dienst wurde nicht viel von mir verlangt: ich mußte manchmal im Palast erscheinen und… den Kaiser zu Pferd auf seinen Spazierritten begleiten, das war alles. Ich war ein ganz geschickter Reiter. Er pflegte vor Tische auszureiten; zur Suite gehörten gewöhnlich Davout, ich, der Mameluck Roustan…«

»Constant«, entfuhr es auf einmal dem Fürsten.

»N-nein, Constant war damals nicht da, er war damals mit einem Brief weggeschickt… zur Kaiserin Josephine; aber statt seiner waren zwei Ordonnanzen da und einige polnische Ulanen… na, das war das ganze Gefolge, abgesehen natürlich von den Generalen und Marschällen, die Napoleon mitnahm, um mit ihnen das Terrain und die Stellung der Truppen zu besichtigen und mit ihnen zu beraten… Am häufigsten befand sich Davout in seiner Umgebung, wie ich mich noch jetzt erinnere: ein sehr großer, kräftiger, kaltblütiger Mensch mit einer Brille und einem seltsamen Blick. Mit ihm beriet der Kaiser besonders oft. Er legte großen Wert auf seine Ansichten. Ich erinnere mich, daß sie schon mehrere Tage miteinander beraten hatten; Davout kam jeden Morgen und jeden Abend; oft stritten sie sogar; endlich schien Napoleon nachzugeben. Sie waren beide allein im Arbeitszimmer, als dritter ich, den sie kaum beachteten. Auf einmal fiel Napoleons Blick zufällig auf mich, ein seltsamer Gedanke leuchtete in seinen Augen auf. ›Kind!‹ sagte er plötzlich zu mir, ›wie denkst du darüber: wenn ich zur russischen Kirche übertrete und eure Sklaven befreie, werden mir dann die Russen folgen oder nicht?‹ – ›Niemals!‹ rief ich empört. Napoleon war überrascht. ›In den von Patriotismus glänzenden Augen dieses Kindes‹, sagte er, ›habe ich die Meinung des ganzen russischen Volkes gelesen. Genug davon, Davout! Das alles ist ein Hirngespinst! Entwickeln Sie Ihr zweites Projekt!‹«

»Ja, aber auch dieses Projekt war eine großartige Idee!« bemerkte der Fürst, augenscheinlich interessiert. »Sie führen also dieses Projekt auf Davout zurück?«

»Wenigstens berieten sie darüber zusammen. Die Idee rührte gewiß von Napoleon her und war dieses Adlers würdig, aber auch das andere Projekt war eine bedeutende Idee… Das war jener berühmte ›!‹ Und gleich am folgenden Tag wurde der Abmarsch angekündigt.«

»All das ist außerordentlich interessant«, sagte der Fürst sehr leise, »wenn das alles so zuging… das heißt, ich will sagen…«, suchte er sich schleunigst zu verbessern.

»O Fürst!« rief der General, der von seiner eigenen Erzählung so berauscht war, daß er vielleicht auch vor der größten Unvorsichtigkeit nicht mehr zurückgeschreckt wäre, »Sie sagen: ›All das‹, aber es war noch mehr; ich versichere Ihnen, daß ich noch weit mehr erlebte. All das waren nur armselige politische Ereignisse. Aber ich wiederhole Ihnen, ich war Zeuge der nächtlichen Tränen und Seufzer dieses großen Mannes, und das hat niemand gesehen und gehört außer mir! In der letzten Zeit weinte er allerdings nicht mehr, er hatte keine Tränen mehr, er stöhnte nur noch manchmal, aber sein Gesicht umwölkte sich immer düsterer. Die Ewigkeit umschattete ihn schon gleichsam mit ihren dunklen Flügeln. Manchmal verbrachten wir nachts ganze Stunden allein zusammen in Stillschweigen; der Mameluck Roustan schnarchte im Nebenzimmer; dieser Mensch hatte einen furchtbar festen Schlaf. ›Dafür ist er mir und der Dynastie treu‹, pflegte Napoleon von ihm zu sagen. Einmal war mir furchtbar schwer ums Herz, und er bemerkte plötzlich Tränen in meinen Augen; er blickte mich gerührt an: ›Du bemitleidest mich!‹ rief er. ›Du bemitleidest mich, mein Kind, und vielleicht bemitleidet mich noch ein anderes Kind, mein Sohn, ; alle übrigen hassen mich, und meine Brüder werden die ersten sein, die mich in meinem Unglück verraten!‹ Aufschluchzend stürzte ich zu ihm hin; da konnte auch er sich nicht mehr beherrschen, wir umarmten uns, und unsere Tränen vermischten sich miteinander. ›Schreiben Sie, schreiben Sie einen Brief an die Kaiserin Josephine!‹ rief ich ihm weinend zu. Napoleon fuhr zusammen, überlegte einen Augenblick und sagte dann zu mir: ›Du erinnerst mich an ein drittes Herz, das mich liebt; ich danke dir, mein Freund!‹ Darauf setzte er sich hin und schrieb jenen Brief an Josephine, mit dem Constant am folgenden Tag weggeschickt wurde.«

»Das war schön von Ihnen gehandelt«, sagte der Fürst »Inmitten all der bösen Gedanken haben Sie ihn zu einem guten Gefühl hingeleitet.«

»Ganz richtig, Fürst! Und wie schön Sie das ausdrücken, ganz in Übereinstimmung mit Ihrem eigenen Herzen!« rief der General entzückt, und seltsamerweise blinkten wirkliche Tränen in seinen Augen. »Ja, Fürst, ja, das war ein großartiges Schauspiel! Und wissen Sie, ich wäre beinah mit ihm nach Paris gegangen und hätte dann schließlich sein Los auf der ›heißen Insel der Verbannung‹ geteilt, aber leider gingen unsere Lebenswege auseinander! Wir trennten uns: er ging nach der heißen Insel, wo er sich vielleicht in einem Augenblick tiefen Grams wenigstens einmal noch an die Tränen des armen Knaben erinnert haben mag, der ihn in Moskau umarmt und von ihm Abschied genommen hatte; ich dagegen kam in das Kadettenkorps, wo ich nichts fand als Drill, rohes Benehmen der Kameraden und… Ach, alles war zu Ende! ›Ich will dich deiner Mutter nicht entziehen und werde dich daher nicht mitnehmen!‹ sagte er zu mir an dem Tag, an dem der Rückzug begann; ›aber ich würde gern etwas für dich tun.‹ Er stieg schon zu Pferd. ›Schreiben Sie mir etwas zum Andenken in das Album meiner Schwester!‹ sagte ich schüchtern, denn er war sehr zerstreut und finster. Er drehte sich um, verlangte eine Feder und nahm das Album. ›Wie alt ist deine Schwester?‹ fragte er mich, die Feder schon in der Hand haltend. ›Drei Jahre‹, antwortete ich. ›.‹ Er schrieb in das Album:

Ne mentez jamais!
Napoléon, votre ami sincère
.

Ein solcher Rat und in einem solchen Augenblick, Sie müssen selbst sagen, Fürst …«

»Ja, das ist bedeutsam.«

»Dieses Blatt hing in einem goldenen Rahmen unter Glas bei meiner Schwester zeitlebens in ihrem Salon an der augenfälligsten Stelle, bis zu ihrem Tode (sie starb im Wochenbett); wo es jetzt ist, weiß ich nicht… Aber… ach, mein Gott! Es ist schon zwei Uhr! Wie ich Sie aufgehalten habe, Fürst! Es ist unverzeihlich!«

Der General stand von seinem Stuhl auf.

»Oh, im Gegenteil!« stammelte der Fürst. »Sie haben mich so schön unterhalten, und… Ihre Mitteilungen… waren so interessant, ich bin Ihnen so dankbar!«

»Fürst!« sagte der General, indem er ihm wieder die Hand drückte, so daß es fast schmerzte, und ihn mit glänzenden Augen unverwandt anblickte, als wäre er selbst auf einmal zur Besinnung gekommen und von einem plötzlichen Gedanken überrascht. »Fürst! Sie sind ein so guter, ein so harmloser Mensch, daß Sie mir manchmal geradezu leid tun. Ich sehe Sie mit inniger Rührung an, Gott segne Sie! Möge Ihr Leben… in Liebe beginnen und aufblühen! Das meine ist abgeschlossen! Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie!«

Er ging schnell hinaus, das Gesicht mit den Händen bedeckend. An der Aufrichtigkeit seiner Erregung konnte der Fürst nicht zweifeln. Er verstand auch, daß der Alte wie berauscht von seinem Erfolg wegging, aber er ahnte doch, daß dieser Mensch zu derjenigen Sorte von Lügnern gehörte, die zwar bis zur Wollust und Selbstvergessenheit schwindeln, aber sogar auf dem Gipfelpunkt ihres Rausches im stillen noch argwöhnen, daß man ihnen nicht glaubt und nicht glauben kann. Es war denkbar, daß der Alte in seiner jetzigen Lage zur Besinnung kommen, sich über die Maßen schämen und den Fürsten verdächtigen würde, er bemitleide ihn nur, was ihn natürlich tief kränken mußte. ›Habe ich auch nicht schlecht daran getan, daß ich ihn bis zu solcher Begeisterung kommen ließ?‹ fragte sich der Fürst beunruhigt, konnte sich aber im nächsten Augenblick nicht mehr halten und brach in ein gewaltiges, wohl zehn Minuten anhaltendes Gelächter aus. Er wollte sich wegen dieses Gelächters Selbstvorwürfe machen, sah aber sofort ein, daß er dazu keinen Anlaß habe, weil ihm ja der General unendlich leid tat.

Seine Ahnung ging in Erfüllung. Schon am Abend desselben Tages erhielt er einen sonderbaren Brief, der ebenso kurz wie energisch war. Der General teilte ihm darin mit, daß er sich auch von ihm für alle Zeiten trenne; er achte ihn und sei ihm dankbar, aber auch von ihm könne er nicht »Mitleidsbezeigungen annehmen, die die Würde eines ohnehin schon unglücklichen Mannes noch weiter herabdrücken«. Als der Fürst hörte, daß der Alte sich bei Nina Alexandrowna eingeschlossen habe, fühlte er sich seinetwegen beinahe beruhigt. Aber wir haben bereits gesehen, daß der General auch bei Lisaweta Prokofjewna Unheil anrichtete. Wir können hier keine Einzelheiten mitteilen, aber wir bemerken in aller Kürze, daß der Kernpunkt bei dieser Zusammenkunft darin bestand, daß der General Lisaweta Prokofjewna in Angst versetzte und durch seine bitteren Andeutungen über Ganja ihre Entrüstung erregte. Er wurde mit Schimpf und Schande aus dem Hause gewiesen. Das war der Grund, weshalb er dann eine so schlechte Nacht und einen so schlechten Morgen hatte, allen Verstand verlor und zuletzt beinah geisteskrank auf die Straße lief.

Kolja begriff immer noch nicht, was eigentlich vorging, und hoffte sogar, durch Strenge etwas bei seinem Vater zu erreichen.

»Na, was denken Sie nun, wohin wir unsere Schritte lenken sollen, General?« fragte er. »Zum Fürsten wollen Sie nicht, mit Lebedew haben Sie sich verzankt, Geld haben Sie nicht, und ich habe nie welches: da sitzen wir nun auf dem trockenen, mitten auf der Straße.«

»Man sitzt angenehmer im Trockenen als auf dem trockenen«, murmelte der General. »Mit diesem Wortspiel habe ich Begeisterung erregt… in einer Offiziersgesellschaft… im Jahre vierundvierzig… Im Jahre tausend… achthundert… vierundvierzig, ja!… Ich entsinne mich nicht… Oh, erinnere mich nicht daran, erinnere mich nicht daran! ›Wo ist meine Jugend, meine Frische!‹ wie jemand ausrief … Wer hat das doch ausgerufen, Kolja?«

»Das kommt bei Gogol in den ›Toten Seelen‹ vor, Papa«, antwortete Kolja und schielte ängstlich nach dem Vater hin.

»Tote Seelen! O ja, tote Seelen! Wenn du mich begraben läßt, dann schreib auf mein Grab: ›Hier ruht eine tote Seele!‹

Der Schande kann ich nicht entrinnen!

Wer hat das gesagt, Kolja?«

»Das weiß ich nicht, Papa.«

»Jeropegow soll nicht existiert haben? Jeroschka Jeropegow!…« rief er ganz außer sich und blieb auf der Straße stehen. »Und das ist mein Sohn, mein leiblicher Sohn! Jeropegow, ein Mann, der elf Monate lang wie ein Bruder mit mir zusammen gelebt hat, für den ich zu einem Duell gegangen bin … Fürst Wygorezkij, unser Hauptmann, sagte zu ihm, als wir bei der Flasche saßen: ›Du, Grischa, wo hast du denn deinen Anna-Orden erworben? Das möchte ich wirklich wissen.‹ – ›Auf den Schlachtfeldern meines Vaterlandes, da habe ich ihn erworben!‹ Ich rief: ›Bravo, Grischa!‹ Na, daraus entstand dann ein Duell. Und dann heiratete er Marja Petrowna Su… Sutugina und fiel auf dem Schlachtfeld… Die Kugel prallte von dem Kreuz ab, das ich auf der Brust trug, und fuhr ihm gerade in die Stirn. ›Ich werde dich in Ewigkeit nicht vergessen!‹ rief er und fiel tot nieder. Ich… ich habe mit Ehren gedient, Kolja, ich habe als anständiger Mann gedient, aber ›der Schande kann ich nicht entrinnen‹! Kommt ihr beide, du und Nina, zu meinem Grab… ›Arme Nina!‹ so habe ich sie früher genannt, Kolja; es ist schon lange her, noch in der ersten Zeit, und sie hörte das so gern!… Nina, Nina! Was habe ich dir für ein Schicksal bereitet! Wofür kannst du mich noch lieben, du geduldiges Herz? Deine Mutter hat das Herz eines Engels, Kolja, hörst du wohl? Das Herz eines Engels!«

»Das weiß ich, Papa. Papa, liebster Papa, lassen Sie uns nach Hause zurückkehren, zu Mama! Sie ist uns ja nachgelaufen! Aber was stehen Sie denn so da? Als ob Sie es nicht begreifen… Na, warum weinen Sie denn?«

Kolja weinte selbst und küßte seinem Vater die Hände.

»Du küßt mir die Hände, mir?«

»Nun ja, gewiß, gewiß. Was ist daran verwunderlich? Na, warum heulen Sie denn mitten auf der Straße? Und dabei nennen Sie sich General und wollen ein Soldat sein; na, nun kommen Sie!«

»Gott segne dich, lieber Junge, dafür, daß du dich gegen deinen mit Schande bedeckten Vater respektvoll benommen hast… ja, gegen einen mit Schande bedeckten alten Mann, deinen Vater… Mögest du einmal einen ebensolchen Sohn haben… le roi de Rome… Oh, mein Fluch, mein Fluch über dieses Haus!«

»Aber was soll denn dieser ganze Aufstand hier bedeuten?« brauste Kolja plötzlich auf. »Was ist denn passiert? Warum wollen Sie jetzt nicht nach Hause zurückkehren? Wieso sind Sie so verrückt geworden?«

»Ich werde es dir erklären, werde es dir erklären… ich werde dir alles sagen. Schrei nicht so, die Leute hören es… le roi de Rome… Ach, mir ist so übel, und ich bin so traurig!

Wo ist dein Grab, du alte Kinderfrau?

Wer hat so gerufen, Kolja?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht, wer so gerufen hat! Kommen Sie gleich nach Hause, gleich! Ich werde Ganja durchprügeln, wenn es nötig ist … Aber wo wollen Sie denn wieder hin?«

Der General schleppte ihn nach der Freitreppe eines nahen Hauses.

»Wo wollen Sie hin? Das ist ein fremdes Haus!«

Der General setzte sich auf die Stufen und zog Kolja immer an der Hand zu sich heran.

»Bück dich, bück dich!« murmelte er. »Ich will dir alles sagen… die Schande… bück dich… mit dem Ohr, mit dem Ohr, ich will es dir ins Ohr sagen…«

»Aber was ist Ihnen denn?« rief Kolja ganz erschrocken, hielt aber doch sein Ohr hin.

»Le roi de Rome…«, flüsterte der General, der ebenfalls am ganzen Leibe zitterte.

»Was?… Was haben Sie nur mit Ihrem roi de Rome?…«

»Ich… ich…«, flüsterte der General wieder, indem er sich immer fester an die Schulter seines Sohnes klammerte, »ich… will… ich will dir… alles… Marja, Marja… Petrowna Su-su-su…«

Kolja riß sich los, faßte selbst den General bei den Schultern und blickte ihn an wie ein Irrsinniger. Der Alte wurde dunkelrot, seine Lippen färbten sich bläulich, leichte, krampfhafte Zuckungen liefen über sein Gesicht. Auf einmal bog er sich zusammen und begann sachte in Koljas Arme zu sinken.

»Ein Schlaganfall!« rief dieser über die ganze Straße hin, da er endlich gemerkt hatte, um was es sich handelte.

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Kapitel 34

VI

»Ich will nicht lügen: die Wirklichkeit hat in diesen sechs Monaten auch nach mir ihre Angelhaken ausgeworfen und auf mich manchmal eine solche Anziehungskraft ausgeübt, daß ich mein Todesurteil vergaß oder, richtiger gesagt, nicht daran denken wollte und sogar anfing, tätig zu sein. Ich schiebe bei dieser Gelegenheit einige Worte über meine damalige Lage ein. Als ich vor acht Monaten schon recht krank wurde, brach ich alle meine Beziehungen ab und sagte mich von all meinen bisherigen Kameraden los. Da ich von jeher ein recht mürrischer Geselle gewesen war, so vergaßen sie mich leicht; natürlich hätten sie mich auch ohnedies vergessen. Auch zu Hause, das heißt ›in der Familie‹, stand ich einsam da. Vor etwa fünf Monaten schloß ich mich ein für allemal von den Meinigen ab und betrat seitdem die Zimmer der Familie gar nicht mehr. Die Meinigen gehorchten mir stets, und niemand wagte, zu mir hereinzukommen, außer um zu bestimmter Stunde das Zimmer aufzuräumen und mir das Mittagessen zu bringen. Meine Mutter nahm zitternd meine Befehle entgegen und wagte nicht einmal, vor meinen Ohren zu jammern, wenn ich mich mitunter entschloß, sie zu mir hereinzulassen. Die Kinder schlug sie um meinetwillen beständig, damit sie keinen Lärm machten und mich dadurch störten, denn ich beklagte mich oft über ihr Geschrei; ich kann mir denken, wie sie mich jetzt dafür lieben! Den ›treuen Kolja‹, wie ich ihn benannt beschwören, daß seine Lippen damals nicht vor Zorn bebten, und als er mich am Arm faßte und sein prächtiges ›Gehen Sie weg!‹ sagte, da war er gar nicht zornig. Eine gewisse Würde lag darin, sogar viel Würde, eine Würde, die zu seinem ganzen Wesen gar nicht recht passen wollte (so daß sie, die Wahrheit zu sagen, recht komisch wirkte), aber Zorn lag nicht darin. Vielleicht hatte er einfach angefangen, mich zu verachten. Seit jener Zeit begann er plötzlich, als ich ihm ein paarmal auf der Treppe begegnete, vor mir den Hut abzunehmen, was er früher nie getan hatte, aber er blieb nicht mehr stehen wie früher, sondern lief verlegen an mir vorbei. Wenn er mich auch verachtete, so machte er das doch auf seine Weise: er ›verachtete demütig‹. Vielleicht aber nahm er seinen Hut auch einfach aus Furcht ab, weil ich der Sohn seiner Gläubigerin war; denn er war meiner Mutter beständig Geld schuldig und nie imstande, sich aus den Schulden herauszuarbeiten. Und das ist sogar das wahrscheinlichste. Ich hätte mich gern mit ihm ausgesprochen und weiß sicher, daß er nach zehn Minuten mich um Verzeihung gebeten hätte; aber ich war doch der Meinung, daß es das beste sei, ihn in Ruhe zu lassen.

Zur gleichen Zeit, das heißt um die Zeit, als Surikow sein Kind ›erfrieren ließ‹, Mitte März, besserte sich ohne sichtbaren Grund mein Befinden auf einmal erheblich, und das dauerte etwa vierzehn Tage. Ich fing an auszugehen, am häufigsten in der Abenddämmerung. Ich liebte diese Tageszeit im März, wo es anfängt, kalt zu werden, und das Gas angezündet wird; ich machte manchmal weite Wege. Einmal überholte mich in der Schestilawotschnaja-Straße in der Dunkelheit ein ›den besseren Ständen angehöriger‹ Herr, ich konnte ihn nicht genauer erkennen; er trug etwas in Papier Eingewickeltes und hatte einen kurzen, unschönen Paletot an, der für die Jahreszeit zu leicht war. Als er an einer Laterne vorbeikam, die sich in einer Entfernung von ungefähr zehn Schritten vor mir befand, bemerkte ich, daß ihm etwas aus der Tasche fiel. Ich beeilte mich, es aufzuheben, – und es war die höchste Zeit, da bereits ein Mann in einem langen Kaftan hinzusprang; als dieser aber den Gegenstand in meinen Händen erblickte, machte er betrunkenem Zustand. Auf dem Tisch brannte ein Lichtstümpfchen in einem eisernen Nachtleuchter, auch stand dort eine fast geleerte Flasche Branntwein. Terentjitsch brummte, ohne aufzustehen, mir etwas zu und wies mit der Hand nach der folgenden Tür; die Frau war weggegangen, so daß mir weiter nichts übrigblieb, als diese Tür zu öffnen. Das tat ich denn auch und trat in das nächste Zimmer.

Dieses Zimmer war noch schmaler und enger als das vorhergehende, so daß ich nicht einmal wußte, wie ich mich darin umdrehen sollte; ein schmales, einschläfriges Bett in der Ecke nahm einen großen Teil des Raumes in Anspruch; an sonstigen Möbeln war weiter nichts vorhanden als drei einfache Stühle, die mit allerlei Lumpenkram bepackt waren, und ein ganz einfacher hölzerner Küchentisch vor einem alten Wachstuchsofa, so daß man zwischen dem Tisch und dem Bett kaum durchgehen konnte. Auf dem Tisch brannte ein Talglicht auf einem ebensolchen Leuchter wie im ersten Zimmer, und auf dem Bette quäkte ein ganz kleines Kind, nach dem Schreien zu urteilen vielleicht erst drei Wochen alt; eine kranke, blasse, anscheinend noch junge Frau in tiefem Negligé, die vielleicht nach der Entbindung eben erst wieder angefangen hatte aufzustehen, war damit beschäftigt, das Kind zu ›wechseln‹, das heißt mit trockenen Windeln zu versehen, aber das Kind wollte sich nicht beruhigen und schrie in Erwartung der mageren Mutterbrust weiter. Auf dem Sofa schlief ein anderes Kind, ein dreijähriges Mädchen, das, wie es schien, mit einem Frack zugedeckt war. Am Tisch stand der Herr in einem sehr abgetragenen Rock (den Paletot hatte er schon ausgezogen, er lag auf dem Bett) und wickelte ein blaues Papier auseinander, in welches zwei Pfund Weißbrot und zwei kleine Würste eingeschlagen waren. Auf dem Tisch stand außerdem eine Teekanne mit Tee; auch lagen dort ein paar Stücke Schwarzbrot umher. Unter dem Bett schaute ein offener Koffer hervor, desgleichen zwei Bündel mit alten Kleidern.

Kurz, es herrschte eine furchtbare Unordnung. Ich hatte auf den ersten Blick den Eindruck, daß beide, sowohl der Herr als die Dame, von besserem Stande, aber durch die Armut in jenen erniedrigenden Zustand versetzt waren, in dem die Unordnung schließlich jeden Versuch, gegen sie anzukämpfen, niederschlägt und es den Menschen sogar zu einem schmerzlichen Bedürfnis macht, in dieser täglich wachsenden Unordnung ein gewisses bitteres und sozusagen rachsüchtiges Gefühl des Vergnügens zu finden.

Als ich eintrat, war der Herr, der ebenfalls erst kurz vor mir hereingekommen war und seine Lebensmittel auswickelte, mit der Frau in schnellem, lebhaftem Gespräch begriffen; obwohl diese noch mit dem Trockenlegen des Kindes beschäftigt war, hatte sie doch bereits zu jammern angefangen, denn die Nachrichten, die der Mann mitgebracht hatte, waren offenbar wie gewöhnlich schlecht gewesen. Das magere Gesicht dieses der äußeren Erscheinung nach etwa achtundzwanzigjährigen Mannes zeigte eine bräunliche Farbe und war umrahmt von einem schwarzen Backenbart mit glatt ausrasiertem Kinn; es machte mir einen recht anständigen, sogar angenehmen Eindruck; die Miene war düster, aber mit einer krankhaften Beimischung von sehr reizbarem Stolz. Als ich eintrat, spielte sich eine seltsame Szene ab.

Es gibt Leute, die in ihrer reizbaren Empfindlichkeit einen besonderen Genuß finden, namentlich wenn diese (was sich immer sehr schnell vollzieht) ihren höchsten Grad erreicht; in diesem Augenblick ist es ihnen, wie es scheint, sogar angenehmer, beleidigt zu sein, als nicht beleidigt zu sein. Diese reizbaren Menschen werden nachher immer von heftiger Reue gequält, selbstverständlich wenn sie klug genug sind, um einzusehen, daß sie sich zehnmal so empfindlich benommen haben, wie es angemessen gewesen wäre. Der Herr blickte mich eine Weile erstaunt an, die Frau dagegen war so erschrocken, als wäre es ein furchtbares Wunderding, daß auch zu ihnen jemand kam; plötzlich aber, als ich noch kaum ein paar Worte gemurmelt hatte, stürzte der Herr mit einer wahren Wut auf mich los; namentlich weil er sah, daß ich anständig gekleidet war, hielt er sich wohl dadurch für schrecklich beleidigt, daß ich gewagt hatte, so ungeniert in seine elende Wohnung hereinzukommen und die ganze unordentliche Einrichtung zu betrachten, deren er sich selbst schämte. Er freute sich gewiß, daß er eine Gelegenheit gefunden hatte, an irgend jemand seinen Ärger über all seine Mißerfolge auszulassen. Einen Augenblick lang dachte ich sogar, er werde auf mich losschlagen: er wurde blaß wie eine Frau bei einem hysterischen Anfall, worüber seine Frau einen furchtbaren Schreck bekam.

›Wie können Sie es wagen, so einzutreten? Hinaus!‹ schrie er zitternd und kaum imstande, die Worte ordentlich herauszubringen. Aber plötzlich erblickte er in meiner Hand seine Brieftasche.

›Sie haben das wohl verloren?‹ sagte ich in möglichst ruhigem, trockenem Ton. (Das war übrigens das Richtige.)

Er stand ganz erschrocken vor mir da und konnte eine Weile nichts begreifen; dann griff er schnell nach seiner Seitentasche, öffnete vor Schreck den Mund und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

›O Gott! Wo haben Sie es gefunden? Wie ist das zugegangen?‹

Ich erklärte ihm in kurzen Worten und womöglich in noch trocknerem Ton als vorher, wie ich die Brieftasche aufgehoben hätte, ihm noch nachgeeilt wäre und ihm nachgerufen hätte, und wie ich endlich auf meine Vermutung hin, und beinah nur von meinem Gefühl geleitet, hinter ihm her die Treppe hinaufgelaufen wäre.

›O Gott!‹ rief er, zu seiner Frau gewendet, ›hier sind all unsere Dokumente darin und meine letzten Instrumente, hier ist alles … oh, mein Herr, wissen Sie, was Sie für mich getan haben? Ich wäre verloren gewesen!‹

Ich griff unterdessen nach der Türklinke, um ohne Antwort fortzugehen, aber ich bekam selbst keine Luft, und plötzlich kam meine Aufregung in einem so heftigen Hustenanfall zum Ausbruch, daß ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Ich sah, wie der Herr hin und her lief, um für mich einen leeren Stuhl zu finden, wie er endlich die auf dem einen Stuhl liegenden Lumpen packte, sie auf den Fußboden warf, mir eilig den Stuhl hinstellte und mir vorsichtig behilflich war, mich darauf zu setzen. Aber mein Husten dauerte fort und beruhigte sich erst nach etwa drei Minuten. Als ich wieder zu mir kam, saß er schon neben mir auf einem anderen Stuhl, von dem er wahrscheinlich ebenfalls die Lumpen auf den Fußboden geworfen hatte, und betrachtete mich unverwandt.

›Sie scheinen leidend zu sein?‹ sagte er in dem Ton, indem gewöhnlich die Ärzte reden, wenn sie zu einem Kranken kommen. ›Ich selbst bin… Mediziner‹ (er sagte nicht: Arzt), und bei diesen Worten wies er zu irgendeinem Zweck mit der Hand auf das Zimmer hin, als protestiere er gegen seine jetzige Lage. ›Ich sehe, daß Sie…‹

›Ich bin schwindsüchtig‹, sagte ich möglichst kurz und stand auf.

Er sprang ebenfalls auf.

›Vielleicht sehen Sie die Sache zu schwarz an, und… bei Anwendung geeigneter Mittel…‹

Er war in größter Verwirrung und schien seine Fassung immer noch nicht wiedergewinnen zu können; die Brieftasche hielt er in der linken Hand.

›Oh, beunruhigen Sie sich nicht!‹ unterbrach ich ihn und griff wieder nach der Türklinke, ›in der vorigen Woche hat mich B-n untersucht‘ (ich brachte also wieder B-n hinein), und mein Fall liegt ganz klar. Entschuldigen Sie…‹

Ich wollte wieder die Tür öffnen und meinen verlegenen, dankbaren, beschämten Arzt verlassen, aber der nichtswürdige Husten befiel mich in diesem Augenblick von neuem. Nun bestand mein Arzt darauf, daß ich wieder Platz nähme und mich erholte; er wandte sich zu seiner Frau, und diese sagte mir, ohne ihren Platz zu verlassen, ein paar dankbare, freundliche Worte. Sie wurde dabei sehr verlegen, so daß sogar eine Röte auf ihren blaßgelben, hageren Wangen spielte. Ich blieb, nahm aber dabei eine Miene an, die in jedem Augenblick zeigte, daß ich sehr fürchtete, sie zu genieren. (Das war auch das Richtige.) Mein Arzt wurde schließlich von peinlicher Reue gequält, das sah ich.

›Wenn ich…‹, begann er, fortwährend abbrechend und in andere Konstruktion übergehend. ›Ich bin Ihnen so dankbar und habe mir so viel gegen Sie zuschulden kommen lassen… ich… Sie sehen…‹, er zeigte wieder auf das Zimmer, ›ich befinde mich augenblicklich in einer solchen Lage…‹

›Oh‹, sagte ich, ›da ist nichts dabei, das ist nichts Ungewöhnliches. Sie haben wohl Ihre Stelle verloren und sind hergekommen, um sich vor den maßgebenden Persönlichkeiten zu rechtfertigen und eine neue Stelle zu suchen?‹

›Woher… woher wissen Sie das?‹ fragte er erstaunt.

›Das sieht man auf den ersten Blick‹, antwortete ich unwillkürlich in spöttischem Ton. ›Es kommen viele aus der Provinz hoffnungsvoll hierher, laufen hier herum und führen ein ebensolches Leben wie Sie.‹

Er fing auf einmal an, mit zitternden Lippen lebhaft zu reden; er beklagte sich über das, was ihm widerfahren war, erzählte alles ausführlich und erregte, wie ich bekennen muß, mein Interesse; ich saß bei ihm fast eine Stunde. Er erzählte mir seine Geschichte, die übrigens von ganz gewöhnlicher Art war. Er war Arzt in der Provinz gewesen und hatte ein staatliches Amt bekleidet, aber da hatten nun Intrigen begonnen, in die auch seine Frau mit hineingezogen worden war. Er hatte seinen Stolz herausgekehrt und sich hitzig benommen; bei der Gouvernementsbehörde war eine für seine Feinde günstige Personalveränderung eingetreten; sie hatten gegen ihn gewühlt und Beschwerden über ihn eingereicht; er hatte seine Stelle verloren und war mit seinen letzten Mitteln nach Petersburg gekommen, um sich zu rechtfertigen; in Petersburg hatte man, nach dem bekannten Verfahren, ihm lange Zeit überhaupt kein Gehör geschenkt, dann ihn angehört, dann ihn abschlägig beschieden, dann ihm lockende Versprechungen gemacht, dann ihm scharf und streng geantwortet, dann ihn aufgefordert, eine Rechtfertigungschrift zu verfassen, dann deren Annahme verweigert, ihn aufgefordert, eine Bittschrift einzureichen, – kurz, er war hier schon über vier Monate herumgelaufen und hatte all seine Mittel aufgezehrt; die letzten Sachen seiner Frau waren ins Leihhaus gewandert, und nun war das Kind geboren, und… und… ›heute habe ich auf die eingereichte Bittschrift endgültig einen ablehnenden Bescheid erhalten, und ich habe fast kein Brot mehr, nichts habe ich, und nun ist noch meine Frau niedergekommen. Ich… ich…‹

Er sprang vom Stuhl auf und wandte sich ab. Seine Frau weinte in der Ecke, das Kind begann wieder zu wimmern. Ich zog mein Notizbuch heraus und begann darin zu schreiben. Als ich damit fertig war und mich erhob, stand er vor mir und sah mich in ängstlicher Spannung an.

›Ich habe mir Ihren Namen notiert‹, sagte ich zu ihm, ›nun, und auch alles übrige: den Ort, wo Sie angestellt waren, den Namen Ihres Gouverneurs und die Daten. Ich habe einen Bekannten, noch von der Schule her, er heißt Bachmutow, sein Onkel ist der Wirkliche Staatsrat Pjotr Matwejewitsch Bachmutow, der als Departementsdirektor…‹

›Pjotr Matwejewitsch Bachmutow!‹ rief mein Mediziner, zitternd vor Aufregung. ›Aber das ist ja gerade der Mann, von dem fast alles abhängt!‹

Tatsächlich nahm die Geschichte meines Mediziners, an deren weiterer Entwicklung ich durch Zufall mitwirkte, nun einen so glücklichen Gang, als ob alles sorgsam vorbereitet gewesen wäre, ganz wie in einem Roman. Ich sagte diesen armen Leuten, sie sollten auf mich möglichst keinerlei Hoffnungen setzen, ich sei selbst nur ein armer Gymnasiast (ich setzte mich selbst absichtlich herunter; ich hatte das Gymnasium schon längst absolviert und war nicht mehr Gymnasiast), es habe keinen Zweck, ihnen meinen Namen anzugeben, aber ich würde mich sofort nach der Wassilij-Insel zu meinem Kameraden Bachmutow begeben, und da ich zuverlässig wisse, daß sein Onkel, der Wirkliche Staatsrat, ein kinderloser Junggeselle, an seinem Neffen, in dem er den letzten Sproß seines Geschlechtes sehe, außerordentlich hänge und ihn sehr in sein Herz geschlossen habe, so ›wird mein Kamerad vielleicht imstande sein, mir zu Gefallen bei seinem Onkel etwas für Sie durchzusetzen…‹

›Wenn mir nur gestattet würde, mich vor Seiner Exzellenz zu rechtfertigen! Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden, die Sache mündlich darzulegen!‹ rief er; er zitterte wie im Fieber, und seine Augen glänzten. So drückte er sich aus: ›Könnte ich nur der Ehre teilhaftig werden!‹ Nachdem ich noch einmal wiederholt hatte, die Sache werde wahrscheinlich mißlingen und alles sich als Torheit herausstellen, fügte ich hinzu, wenn ich morgen vormittag nicht zu ihnen käme, so sei die Sache aus und sie hätten nichts mehr zu erwarten. Sie begleiteten mich unter Verbeugungen hinaus und waren fast wie von Sinnen. Nie werde ich ihren Gesichtsausdruck vergessen. Ich nahm mir eine Droschke und fuhr sogleich nach der Wassilij-Insel.

Mit diesem Bachmutow hatte ich auf dem Gymnasium mehrere Jahre lang auf gespanntem Fuß gelebt. Er galt bei uns als Aristokrat, wenigstens nannte ich ihn so: er war stets elegant gekleidet und kam in eigener Equipage angefahren, indessen renommierte er nicht, sondern benahm sich stets als guter Kamerad, war immer außerordentlich heiter und sogar manchmal recht witzig, obgleich es mit seinem Verstand nicht weit her war, wiewohl er in der Klasse immer den ersten Platz innehatte; ich dagegen war nie in irgendeinem Gegenstand der Erste. Alle Kameraden mochten ihn gern leiden, nur ich nicht. Mehrmals hatte er sich mir in jenen Jahren zu nähern versucht, aber ich hatte mich jedesmal mürrisch und gereizt von ihm abgewandt. Jetzt hatte ich ihn schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen; er besuchte die Universität. Als ich zwischen acht und neun Uhr abends zu ihm ins Zimmer trat (es war sehr offiziell zugegangen, indem man mich erst angemeldet hatte), empfing er mich zunächst erstaunt, auch nicht einmal eigentlich freundlich, dann aber wurde er sofort heiter und lachte, als er mich ansah, auf einmal laut auf.

›Wie sind Sie denn auf den Einfall gekommen, mich zu besuchen, Terentjew?‹ rief er mit seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Ungeniertheit, die manchmal etwas Dreistes, aber nie etwas Verletzendes hatte, die mir an ihm so gefiel und um derentwillen ich ihn so haßte. ›Aber was ist das?‹ rief er erschrocken. ›Sie sehen ja ganz krank aus!‹

Der Husten quälte mich wieder, ich sank auf einen Stuhl und konnte mich nur mit Mühe wieder erholen.

›Beunruhigen Sie sich nicht, ich habe die Schwindsucht‹, sagte ich. ›Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen.‹

Erstaunt setzte er sich hin, ich trug ihm sofort die ganze Geschichte des Arztes vor und bemerkte, er selbst könne bei dem großen Einfluß, den er auf seinen Onkel ausübe, vielleicht für den Unglücklichen etwas erwirken.

›Das werde ich tun, das werde ich unbedingt tun, gleich morgen werde ich meinen Onkel in dieser Angelegenheit überfallen, ich freue mich sogar sehr, Sie haben das alles so hübsch erzählt… Aber wie sind Sie denn eigentlich auf den Einfall gekommen, Terentjew, sich an mich zu wenden?‹

›Von Ihrem Onkel hängt hier so viel ab, und außerdem waren wir beide, Sie und ich, immer Feinde, Bachmutow, und da Sie ein anständig denkender Mensch sind, so dachte ich, daß Sie es einem Feind nicht abschlagen würden‹, fügte ich ironisch hinzu.

›Gerade wie Napoleon sich an England gewandt hat!‹ rief er lachend. ›Ich werde es tun, ich werde es tun! Ich werde sogar sofort hingehen, wenn es möglich ist!‹ fügte er eilig hinzu, als er sah, daß ich ernst und gemessen vom Stuhl aufstand.

Und wirklich nahm ganz unerwarteterweise diese unsere Sache einen solchen Verlauf, wie man ihn sich besser gar nicht denken konnte. Nach anderthalb Monaten erhielt unser Mediziner wieder eine Stelle in einem andern Gouvernement, er bekam das Umzugsgeld und sogar eine Unterstützung. Ich vermute, daß Bachmutow, der die beiden Leute häufig zu besuchen pflegte (während ich seitdem absichtlich nicht mehr zu ihnen ging und den Arzt, wenn er zu mir kam, recht trocken empfing), – daß Bachmutow, wie ich vermute, den Arzt sogar überredete, ein Darlehen von ihm anzunehmen. Mit Bachmutow kam ich in diesen sechs Wochen zweimal zusammen, und wir trafen uns zum drittenmal, als wir von dem Arzt bei seiner Abreise Abschied nahmen. Bachmutow hatte bei sich zu Hause eine Abschiedsfeier in Form eines Mittagessens mit Champagner arrangiert; dabei war auch die Frau des Arztes zugegen; indes fuhr sie sehr bald wieder nach Haus zu ihrem Kind. Das war Anfang Mai, es war ein klarer Abend, und der gewaltige Sonnenball senkte sich in die Bucht hinab. Bachmutow begleitete mich nach Haus; wir gingen über die Nikolai-Brücke, der genossene Wein hatte auf uns beide seine Wirkung ausgeübt. Bachmutow sprach sein Entzücken darüber aus, daß die Sache zu einem so guten Ende gelangt war, bedankte sich bei mir für irgend etwas, sagte, eine wie angenehme Empfindung er jetzt nach dieser guten Tat habe, versicherte, daß das ganze Verdienst mir gebühre, und bemerkte, es sei ein arger Irrtum, wenn heutzutage viele lehrten und predigten, daß die gute Tat eines einzelnen keinen Wert habe. Auch mich drängte es, mich auszusprechen.

›Wer das sogenannte Einzelalmosen angreift‹, begann ich, ›der greift die Natur des Menschen an und verachtet dessen persönliche Würde. Aber die Organisation des gesellschaftlichen Almosenwesens und die Frage der persönlichen Freiheit sind zwei verschiedene Fragen und schließen einander nicht aus. Die gute Tat des einzelnen wird allezeit bestehenbleiben, denn sie ist ein Bedürfnis der Persönlichkeit, das lebendige Bedürfnis einer direkten Einwirkung der einen Persönlichkeit auf die andere. In Moskau lebte ein alter Herr mit einem deutschen Namen, ein »General«, das heißt ein Wirklicher Staatsrat; der ging sein ganzes Leben lang fortwährend in die Gefängnisse zu den Verbrechern; jeder Trupp von Verschickten, der nach Sibirien abging, wußte im voraus, daß »der alte General« ihm auf den einen Besuch machen werde. Er verfuhr dabei mit größtem Ernst und größter Frömmigkeit; er erschien, ging durch die Reihen der Verschickten, die ihn umringten, blieb vor einem jeden stehen, erkundigte sich bei jedem nach seinen Bedürfnissen, hielt fast nie jemandem eine Strafpredigt und nannte sie alle »Täubchen«. Er gab ihnen Geld und schickte ihnen notwendige Gebrauchsgegenstände, wie Fußlappen und Leinwand, auch brachte er ihnen manchmal geistliche Büchelchen mit und beschenkte damit jeden des Lesens Kundigen in der festen Überzeugung, daß diese sie unterwegs lesen und ihren des Lesens unkundigen Schicksalsgenossen vorlesen würden. Nach den begangenen Verbrechen fragte er nur selten, jedoch hörte er zu, wenn der Verbrecher von selbst davon zu reden anfing. Alle Verbrecher behandelte er gleich, er machte darin keinen Unterschied. Er sprach mit ihnen wie mit Brüdern, sie selbst aber betrachteten ihn schließlich als ihren Vater. Wenn er unter den Verschickten eine Frau mit einem Kind auf dem Arm bemerkte, so trat er hinzu, liebkoste das Kind und schnipste ihm etwas mit den Fingern vor, damit es anfinge zu lachen. So verfuhr er viele Jahre lang bis zu seinem Tod, es kam so weit, daß er in ganz Rußland und in ganz Sibirien bekannt war, das heißt bei allen und wachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie an einen andern weitergeben. Und wie können Sie wissen, welchen Anteil Sie dadurch an der künftigen Gestaltung der Schicksale der Menschheit haben werden? Wenn die theoretische Erkenntnis und ein ganzes dieser Arbeit gewidmetes Leben Sie schließlich dahin bringen, daß Sie imstande sind, ein gewaltiges Samenkorn auszustreuen, der Welt einen gewaltigen Gedanken als Erbe zu hinterlassen, dann …‹ Und so weiter, ich redete damals noch viel über diesen Gegenstand.

›Und wenn man dabei daran denken muß, daß gerade Ihnen ein solches Leben nicht vergönnt ist!‹ rief Bachmutow im Ton eines erregten Vorwurfs, der sich gegen irgend jemand richtete.

In diesem Augenblick standen wir auf der Brücke, mit den Ellbogen auf das Geländer gestützt, und blickten auf die Newa hinunter.

›Wissen Sie, was mir eben durch den Kopf gegangen ist?‹ sagte ich, indem ich mich noch weiter über das Geländer beugte.

›Doch nicht ins Wasser zu springen?‹ rief Bachmutow beinah entsetzt. Vielleicht glaubte er, diesen Gedanken auf meinem Gesicht gelesen zu haben.

›Nein, vorläufig nur eine Erwägung, nämlich diese: ich habe jetzt noch zwei bis drei Monate zu leben, vielleicht vier; wenn ich aber zum Beispiel nur noch zwei Monate übrig hätte und große Lust bekäme, ein gutes Werk zu tun, das eine Menge Arbeit, Lauferei und Mühe erforderte, in der Art wie die Angelegenheit unseres Arztes, so müßte ich in diesem Fall aus Mangel an noch verfügbarer Zeit von dem betreffenden Werk Abstand nehmen und mir ein kleineres, meinen Mitteln entsprechendes Werk suchen (wenn es mich nun einmal so nach guten Werken gelüstet). Geben Sie zu, daß das ein amüsanter Gedanke ist!‹

Der arme Bachmutow war um mich sehr beunruhigt, er begleitete mich ganz bis zu mir nach Hause und war so zartfühlend, daß er sich gar nicht auf Tröstungsversuche einließ und fast immer schwieg. Als er von mir Abschied nahm, drückte er mir warm die Hand und bat mich um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete ihm, wenn er als ›Tröster‹ zu mir kommen wolle (und auch sein Schweigen würde diesen selben Sinn haben, ich machte ihm das klar), so werde er mich ja dadurch jedesmal erst recht an den Tod erinnern. Er zuckte die Schultern, gab mir aber recht; wir schieden recht höflich voneinander, was ich gar nicht erwartet hatte.

Aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde das erste Samenkorn meiner ›letzten Überzeugung‹ gesät. Eifrig erfaßte ich diesen neuen Gedanken, eifrig durchdachte ich ihn in allen Einzelheiten und Möglichkeiten (ich schlief die ganze Nacht nicht), und je mehr ich mich in ihn vertiefte, je mehr ich ihn in meine Seele aufnahm, um so größer wurde meine Angst. Sie wuchs schließlich zu furchtbarer Größe und wich auch an den folgenden Tagen nicht von mir. Manchmal, wenn ich an diese ständige Angst dachte, überlief es mich eiskalt infolge einer neuen Angst: aus dieser Angst konnte ich ja schließen, daß meine ›letzte Überzeugung‹ in mir sehr fest Wurzel gefaßt hatte und mich jedenfalls zur Entscheidung drängen würde. Aber zu dieser Entscheidung fehlte es mir an Entschlossenheit. Nach drei Wochen war dies alles zum Ende gelangt, und die Entschlossenheit hatte sich eingestellt, aber infolge eines sehr merkwürdigen Umstandes.

Ich verzeichne hier in meiner Erklärung all diese Zeitangaben. Mir kann das natürlich gleichgültig sein, aber jetzt (und vielleicht erst in diesem Augenblick) hege ich den Wunsch, es möchten diejenigen, die über meine Handlung ein Urteil fällen werden, klar erkennen, aus welcher Kette logischer Schlüsse meine ›letzte Überzeugung‹ hervorging. Oben habe ich soeben die Bemerkung hingeschrieben, daß die endgültige Entschlossenheit, an der es mir zur Ausführung meiner ›letzten Überzeugung‹ gemangelt hatte, bei mir anscheinend gar nicht aus einem logischen Schluß hervorging, sondern aus einem sonderbaren äußeren Anstoß, einem sonderbaren, mit dem Gang der Sache selbst vielleicht gar nicht in Zusammenhang stehenden Umstand. Vor zehn Tagen kam Rogoshin zu mir, und zwar in einer ihn betreffenden Angelegenheit, auf die hier näher einzugehen ich für überflüssig halte. Ich hatte Rogoshin früher nie gesehen, aber sehr viel von ihm gehört. Ich gab ihm alle überraschte mich; es hat Ähnlichkeit mit einem Friedhof, ihm aber scheint es zu gefallen, was übrigens begreiflich ist: ein so volles, unmittelbares Leben, wie er es führt, ist schon für sich zu voll, als daß es einer besonderen Umgebung bedürfte.

Dieser Besuch bei Rogoshin hatte mich sehr ermüdet. Außerdem hatte ich mich schon vom Morgen an nicht wohl gefühlt; gegen Abend wurde ich sehr schwach und legte mich zu Bett, und zeitweilig verspürte ich eine starke Hitze und redete in manchen Augenblicken sogar irre. Kolja blieb bis nach zehn Uhr bei mir. Ich erinnere mich jedoch an alles, worüber wir miteinander sprachen. Aber wenn mir für einige Minuten die Lider zufielen, stand mir sofort Iwan Fornitsch vor Augen, von dem ich träumte, er wäre in den Besitz mehrerer Millionen Rubel gelangt. Er wußte gar nicht, wo er damit bleiben sollte, zerbrach sich darüber den Kopf, zitterte vor Angst, das Geld könnte ihm gestohlen werden, und beschloß endlich, es in der Erde zu vergraben. Ich riet ihm nun, statt einen so großen Haufen Gold nutzlos in die Erde zu legen, möchte er aus der ganzen Masse einen kleinen Sarg für das erfrorene Kind gießen lassen und zu diesem Zwecke das Kind wieder ausgraben. Diesen meinen Spott nahm Surikow mit Tränen der Dankbarkeit auf und schritt sogleich zur Ausführung des Planes. Angeekelt spuckte ich aus und ging von ihm weg. Als ich wieder ganz zur Besinnung gekommen war, sagte mir Kolja, ich hätte gar nicht geschlafen und die ganze Zeit über mit ihm von Surikow gesprochen. Zeitweilig befand ich mich in außerordentlicher Angst und Verwirrung, so daß Kolja in großer Unruhe fortging. Als ich selbst aufstand, um hinter ihm die Tür zuzuschließen, fiel mir plötzlich ein Gemälde ein, das ich vorher bei Rogoshin in einem der düstersten Säle seines Hauses über der Tür gesehen hatte. Er selbst hatte es mir im Vorbeigehen gezeigt, und ich hatte ungefähr fünf Minuten lang davorgestanden. In künstlerischer Hinsicht war an ihm nichts Hervorragendes, aber es hatte in mir eine eigentümliche Unruhe hervorgerufen.

Auf diesem Bilde ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen wenn der Tod so furchtbar und die Naturgesetze so stark sind, wie kann man sie dann überwinden? Wie kann man sie überwinden, wenn selbst derjenige sie jetzt nicht besiegte, der zu seinen Lebzeiten der Natur überlegen war, derjenige, dem sie gehorchte, derjenige, der da rief: ›Talitha kumi‹ und das Mägdelein stand auf, oder: ›Lazarus, komm heraus!‹ und der Tote kam heraus? Wenn man dieses Gemälde anschaut, so erscheint die Natur als eine riesige, unerbittliche, stumme Bestie oder, um es richtiger, weit richtiger, wenn auch etwas sonderbar auszudrücken, als eine riesige Maschine neuester Konstruktion, die ohne Sinn und Verstand dieses herrliche, unschätzbare Wesen ergriff, zermalmte und verschlang, dieses Wesen, das allein so viel wert war wie die ganze Natur und all ihre Gesetze und der ganze Erdball, der vielleicht einzig und allein zu dem Zweck geschaffen wurde, damit dieses Wesen auf ihm erschiene! Gerade diese Vorstellung von einer dunklen, brutalen, sinnlosen Macht, der alles gehorcht, wird durch dieses Bild zum Ausdruck gebracht und teilt sich dem Beschauer unwillkürlich mit. Diese Menschen, die den Toten umgaben und von denen hier keiner auf dem Gemälde dargestellt ist, mußten an diesem Abend, der mit einem Schlag all ihre Hoffnungen und beinah ihren Glauben vernichtete, die entsetzlichste Angst und Bestürzung empfinden. Sie mußten in der schrecklichsten Furcht auseinandergehen, obgleich sie alle eine gewaltige Idee in sich trugen, die ihnen nie wieder entrissen werden konnte. Und wenn der Herr und Meister selbst am Tage vor der Hinrichtung sein eigenes Bild hätte sehen können, hätte er dann wohl so, wie es jetzt wirklich geschehen ist, sich kreuzigen lassen und den Tod erlitten? Auch diese Frage steigt einem bei Betrachtung dieses Gemäldes unwillkürlich auf.

Alles dies schwebte auch mir ganze anderthalb Stunden lang, nachdem Kolja weggegangen war, bruchstückweise vor, vielleicht tatsächlich im Fieberwahn, manchmal aber auch in klarer Gestalt. Kann einem denn das in klarer Gestalt vorschweben, was überhaupt keine Gestalt hat? Aber es schien mir zeitweilig, als sähe ich diese grenzenlose Macht, dieses taube, dunkle, stumme Wesen in einer seltsamen, unglaublichen Form vor mir. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als führe mich jemand, der eine Kerze hielt, an der Hand und zeige mir eine riesige, widerliche Tarantel und versichere mir, das sei eben jenes dunkle, taube, allmächtige Wesen, und als lache er über meine Empörung. In meinem Zimmer wird vor dem Heiligenbild immer zur Nacht das Lämpchen angezündet, das zwar nur ein schwaches, trübes Licht gibt, jedoch kann man alles erkennen und dicht bei ihm sogar lesen. Ich glaube, es war schon Mitternacht vorüber; ich war völlig wach und lag mit offenen Augen da; plötzlich wurde die Tür meines Zimmers geöffnet, und Rogoshin trat herein.

Er trat herein, machte die Tür wieder zu, sah mich schweigend an und ging leise in die Ecke zu dem Stuhl, der dicht unter dem Heiligenlämpchen steht. Ich war sehr erstaunt und blickte erwartungsvoll hin; Rogoshin stützte sich mit dem Ellbogen auf ein Tischchen und begann, mich schweigend anzuschauen. So vergingen zwei bis drei Minuten, und ich erinnere mich, daß sein Stillschweigen mich sehr verletzte und ärgerte. Warum wollte er denn nicht reden? Daß er so spät kam, schien mir allerdings sonderbar, aber ich erinnere mich, daß ich gerade darüber eigentlich nicht erstaunt war. Im Gegenteil: ich hatte ihm zwar am Morgen meinen Gedanken nicht deutlich ausgesprochen, aber ich wußte, daß er ihn verstanden hatte; und dieser Gedanke war derart, daß Rogoshin wegen desselben allerdings herkommen konnte, um nochmals darüber zu reden, selbst zu so später Stunde. Ich meinte auch, daß er deswegen gekommen sei. Wir hatten uns am Vormittag in einigermaßen feindseliger Stimmung getrennt, und ich erinnere mich sogar, daß er mich ein paarmal sehr spöttisch angesehen hatte. Und nun las ich in seinem Blick den gleichen Spott, und das war es eben, was mich beleidigte. Daran, daß dies wirklich Rogoshin selbst war und nicht eine Erscheinung, ein Fieberwahn, daran zweifelte ich anfangs nicht im geringsten. Ein solcher Gedanke kam mir überhaupt gar nicht in den Kopf.

Unterdessen saß er noch immer da und schaute mich mit demselben Lächeln an. Ich drehte mich zornig im Bett herum, stützte mich ebenfalls mit dem Ellbogen auf das Kopfkissen und beschloß absichtlich, auch meinerseits zu schweigen, und wenn wir noch so lange so dasitzen sollten. Aus irgendeinem Grunde wollte ich durchaus, daß er zuerst anfangen sollte zu reden. Ich glaube, so vergingen etwa zwanzig Minuten. Plötzlich kam mir der Gedanke: wie, wenn das nicht Rogoshin ist, sondern eine Erscheinung?

Weder in meiner Krankheit noch sonst je in der vorhergehenden Zeit hatte ich eine Erscheinung gehabt; aber ich hatte immer, schon seit meiner Kinderzeit, gemeint, und das meinte ich auch jetzt, das heißt noch vor kurzem, wenn ich auch nur ein einziges Mal eine Erscheinung sähe, so würde ich auf der Stelle sterben, und zwar meinte ich das, obwohl ich an keine Erscheinungen glaube. Aber als mir der Gedanke kam, daß dies nicht Rogoshin, sondern nur eine Erscheinung sei, erschrak ich, wie ich mich erinnere, gar nicht darüber. Noch mehr: ich wurde darüber sogar zornig. Sonderbar war auch das, daß die Beantwortung der Frage, ob das eine Erscheinung sei oder Rogoshin selbst, mich eigentlich gar nicht so beschäftigte und beunruhigte, wie es wohl natürlich gewesen wäre; ich glaube, daß ich damals an etwas ganz anderes dachte. Es interessierte mich zum Beispiel weit mehr, warum Rogoshin, der vorhin in Schlafrock und Pantoffeln gewesen war, jetzt einen Frack, eine weiße Weste und eine weiße Krawatte trug. Es tauchte in meinem Kopf auch der Gedanke auf: wenn das eine Erscheinung war und ich mich nicht vor ihr fürchtete, warum sollte ich dann nicht aufstehen und zu ihr hingehen und mich selbst vergewissern? Vielleicht wagte ich es übrigens auch nicht und fürchtete mich doch. Aber sowie mir der Gedanke gekommen war, daß ich mich fürchtete, kam es mir vor, als führe man mir mit einem Stück Eis über den ganzen Körper, ich fühlte eine Kälte im Rücken, und die Knie zitterten mir. Gerade in diesem Augenblick ließ Rogoshin, als hätte er erraten, daß ich mich fürchtete, den Arm, mit dem er sich aufgestützt hatte, sinken, richtete sich auf und öffnete den Mund, als wollte er loslachen; dabei sah er mich starr an. Mich ergriff eine solche Wut, daß ich mich wirklich auf ihn stürzen wollte, aber da ich mir fest vorgenommen hatte, daß ich nicht zuerst anfangen wollte zu reden, so blieb ich im Bett, um so mehr, als ich mir immer noch nicht im klaren darüber war, ob es Rogoshin selbst wäre oder nicht.

Ich erinnere mich nicht genau, wie lange das dauerte; auch habe ich keine sichere Erinnerung, ob ich manchmal auf Minuten das Bewußtsein verlor oder nicht. Endlich jedoch stand Rogoshin auf, musterte mich ebenso langsam und aufmerksam wie vorher, als er hereinkam, lächelte aber nicht mehr und ging leise, beinah auf den Zehen, zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Ich stand nicht vom Bett auf; ich erinnere mich nicht, wie lange ich noch mit offenen Augen dalag und nachdachte, weiß Gott, worüber ich nachdachte; ebensowenig erinnere ich mich, wie mir das Bewußtsein schwand und ich einschlief. Am andern Morgen erwachte ich, als nach neun Uhr an meine Tür geklopft wurde. Ich hatte ein für allemal die Anordnung getroffen, wenn ich nicht selbst bis neun Uhr die Tür öffnete und nach Tee riefe, solle Matrjona bei mir anklopfen. Als ich ihr die Tür aufmachte, kam mir sofort der Gedanke: wie hat er nur hereinkommen können, da doch die Tür verschlossen war? Ich erkundigte mich und überzeugte mich, daß es für den wirklichen Rogoshin unmöglich gewesen war, hereinzukommen, da all unsere Türen zur Nacht zugeschlossen werden.

Dieses eigenartige Erlebnis, das ich so ausführlich erzählt habe, war nun auch die Ursache, weshalb ich endgültig meinen ›Entschluß‹ faßte. Diesen endgültigen Entschluß führte also nicht die Logik, nicht eine logische Überzeugung herbei, sondern der Ekel. Es war mir unmöglich, in einem Leben zu verharren, das so seltsame, für mich beleidigende Formen annahm. Diese Gespenstererscheinung hatte mich erniedrigt. Ich konnte mich nicht einer dunklen Macht unterordnen, die die Gestalt einer Tarantel annahm. Und erst dann, als ich, schon in der Dämmerung, zum festen, endgültigen Entschluß gelangt war, erst da wurde mir leichter ums Herz. Dies war nur das erste Moment; um das zweite Moment zu erleben, fuhr ich nach Pawlowsk, aber das ist bereits hinreichend klargestellt.«

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Kapitel 35

VII

»Ich besaß eine kleine Taschenpistole, die ich mir noch als Kind angeschafft hatte, in jenem komischen Lebensalter, wo man auf einmal anfängt, an Geschichten von Duellen und räuberischen Überfällen Gefallen zu finden, und wo ich mir ausmalte, wie ich zum Duell herausgefordert werden und mit welchem edlen Anstand ich vor der Pistole des Gegners dastehen würde. Vor einem Monat habe ich sie mir wieder angesehen und instand gesetzt. In dem Kasten, in dem sie lag, fanden sich zwei Kugeln und im Pulverhorn Pulver für drei Schüsse. Diese Pistole ist ein elendes Ding, der Schuß weicht zur Seite ab und trägt nur fünfzehn Schritt weit, aber sie kann doch wohl einen Schädel zerschmettern, wenn man sie dicht an die Schläfe setzt.

Ich beschloß, in Pawlowsk bei Sonnenaufgang zu sterben und dazu in den Park zu gehen, um die Bewohner der Landhäuser nicht zu stören. Meine ›Erklärung‹ wird der Polizei die ganze Sache hinreichend klarlegen. Freunde der Psychologie und wer sonst Lust hat, mögen aus ihr alle ihnen beliebigen Schlüsse ziehen. Ich würde jedoch nicht wünschen, daß dieses Manuskript der Öffentlichkeit übergeben wird. Ich bitte den Fürsten, ein Exemplar für sich zu behalten und ein zweites Aglaja Iwanowna Jepantschina zu geben. Dies ist mein Wille. Ich vermache mein Skelett der medizinischen Akademie zum Besten der Wissenschaft.

Ich erkenne keine Richter an, die mich richten dürften, und weiß, daß ich jetzt außerhalb des Machtbereichs eines jeden Gerichtes stehe. Erst neulich noch belustigte mich folgende Vorstellung: wenn es mir jetzt auf einmal in den Sinn käme, einen beliebigen Menschen zu töten, meinetwegen zehn Menschen zugleich, oder sonst eine Handlung zu begehen, die in dieser Welt als besonders schrecklich gilt, in welche Verlegenheit würde dann das Gericht mir gegenüber kommen in Anbetracht dessen, daß ich nur noch zwei bis drei Monate zu leben habe und die Folter und die körperlichen Mißhandlungen abgeschafft sind? Ich würde behaglich in einem Krankenhaus sterben, in einem warmen Zimmer und unter der Obhut eines aufmerksamen Arztes, und es vielleicht weit behaglicher und wärmer haben als bei mir zu Hause. Ich verstehe nicht, warum Leuten, die sich in gleicher Lage befinden wie ich, nicht derselbe Gedanke in den Kopf kommt, wenn auch nur zum Scherz. Vielleicht kommt er ihnen übrigens auch in den Kopf; heitere Leute gibt es ja auch bei uns viele.

Aber wenn ich auch kein Gericht anerkenne, so weiß ich doch, daß man mich richten wird, wenn ich erst ein tauber und stummer Angeklagter sein werde. Ich will nicht aus der Welt gehen, ohne ein Wort der Entgegnung zurückzulassen, ein freies Wort, ein Wort, das mir nicht abgenötigt ist; nicht zu meiner Entschuldigung, o nein! ich brauche niemand um Verzeihung zu bitten und für nichts, sondern einfach, weil ich es so wünsche.

Hier zunächst ein sonderbarer Gedanke: wer könnte mir jetzt unter Berufung auf irgendwelches Recht oder irgendwelches innere Gefühl das Recht bestreiten wollen, über diese zwei, drei Wochen, die ich noch Frist habe, nach meinem Belieben zu verfügen? Welches Gericht hat sich darum zu kümmern? Wer kann ein Interesse daran haben, daß ich nicht nur zum Tode verurteilt bin, sondern auch noch wohlgesittet den Hinrichtungstermin abwarten muß? Kann das wirklich jemand verlangen? Etwa um der Moral willen? Wenn ich mir in der Blüte der Gesundheit und Kraft das Leben nehmen wollte, das ›meinem Nächsten noch nützlich sein könnte‹ und so weiter, dann würde ich es noch verstehen, daß die Moral auf Grund der alten Anschauung es als tadelnswert ansähe, daß ich über mein Leben, ohne jemand um Erlaubnis zu fragen, Verfügung träfe, oder was sie sonst noch vorbringen möchte. Aber jetzt, jetzt, wo mir der Hinrichtungstermin bereits angekündigt ist? Welche Moral kann denn außer dem Leben des Todeskandidaten auch noch das letzte Röcheln beanspruchen, mit dem er den letzten Lebenshauch von sich gibt, während er die Trostworte des Fürsten anhört, der in seinen christlichen Beweisen sich sicher zu dem glücklichen Gedanken versteigen wird, daß es im Grunde für den Betreffenden sogar das beste ist, wenn er stirbt. (Christen von seinem Schlage versteigen sich immer zu diesem Gedanken, das ist ihr liebstes Steckenpferd.) Und was wollen diese Menschen immer mit ihren lächerlichen ›Bäumen von Pawlowsk‹? Mir die letzten Lebensstunden versüßen? Können sie denn nicht begreifen, daß sie mich um so unglücklicher machen, je mehr ich meine Lage vergesse, je mehr ich mich diesem letzten Trugbild von Leben und Liebe hingebe, mit dem sie mir meine Meyersche Mauer und alles, was ich so offenherzig und schlicht darauf geschrieben habe, verdecken wollen? Was helfen mir eure freie Natur, euer Pawlowsker Park, eure Sonnenauf- und -untergänge, euer blauer Himmel und eure zufriedenen Gesichter, wenn dieses ganze Fest, das kein Ende nimmt, damit angefangen hat, daß es mich zu einem überflüssigen Gast erklärte? Was soll ich inmitten all dieser Schönheit, wenn ich in jeder Minute, in jeder Sekunde denken muß, daß sogar diese winzige Fliege, die jetzt im Sonnenstrahl um mich herumsummt, an diesem ganzen Festschmaus und Festchor teilnimmt, ihren Platz in ihm kennt und liebt und glücklich ist, während ich allein ein Ausgestoßener bin und nur infolge meiner Schwachmütigkeit das bisher nicht habe begreifen wollen? Oh, ich weiß ja, wie gern der Fürst und all diese Leute mich dahin bringen möchten, daß auch ich statt all dieser ›grimmigen, boshaften‹ Reden sittsam zum Triumph der Moral in Millevoyes berühmte klassische Strophe einstimmte:

›O, puissent voir votre beauté sacrée
Tant d’amis, sourds à mes adieux!
Qu’ils meurent pleins de jours, que leur mort soit pleurée,
Qu’un ami leur ferme les yeux!‹

Oh, könnten sie eure heilige Schönheit sehn,
All die Freunde, die taub für mein Scheiden!
Mögen sie am Ende ihrer Tage sterben, möge ihr Tod beweint werden,
Möge ein Freund ihnen die Augen zudrücken! (frz.)

Aber glaubt es nur, glaubt es nur, ihr harmlosen Leute, daß auch in dieser wohlgesitteten Strophe, in diesem akademischen Segen, den der Dichter der Welt in seinen französischen Versen erteilt, so viel heimliche Galle, so viel unversöhnlicher, sich selbst an den Reimen erquickender Groll steckt, daß vielleicht sogar der Dichter selbst sich hat täuschen lassen und diesen Groll für Tränen der Rührung gehalten hat und in diesem Glauben gestorben ist; Friede seiner Asche! Wisset, daß es in dem Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit und Schwäche eine Grenze der Schande gibt, über die der Mensch nicht mehr hinausgehen kann und bei der er anfängt, in seiner Schande selbst einen großen Genuß zu empfinden … Nun, gewiß, die Sanftmut ist eine gewaltige Kraft in diesem Sinne, das gebe ich zu, obwohl nicht in dem Sinne, in welchem die Religion die Sanftmut für eine Kraft hält.

Die Religion! Daß es ein ewiges Leben gibt, gebe ich zu und habe ich vielleicht immer zugegeben. Nehmen wir an, mein Bewußtsein sei nach dem Willen einer höheren Macht entzündet worden, nehmen wir an, dieses mit Bewußtsein begabte Wesen habe sich in der Welt umgeschaut und gesagt: ›Ich bin!‹, und nehmen wir an, diese höhere Macht schreibe ihm plötzlich vor, wieder zu verschwinden, weil das zu irgendeinem Zweck, der ihm nicht einmal erklärt wird, notwendig sei, – dies alles zugegeben, so erhebt sich doch immer wieder die Frage: wozu ist unter solchen Umständen von meiner Seite Sanftmut erforderlich? Kann ich denn nicht einfach aufgefressen werden, ohne daß man von mir ein Loblied auf dasjenige verlangt, was mich auffrißt? Trete ich wirklich jemandem damit zu nahe, daß ich nicht noch zwei Wochen warten will? Ich kann das nicht glauben; weit richtiger dürfte die Annahme sein, daß mein nichtiges Leben, das Leben eines Atoms, einfach erforderlich war, um irgendeine allgemeine Harmonie im Weltall zu vervollständigen, um irgendein Plus oder Minus herbeizuführen, irgendeinen Kontrast herzustellen und so weiter und so weiter, geradeso wie täglich der Opfertod vieler Millionen von Wesen notwendig ist, ohne den die übrige Welt nicht existieren kann (obwohl dazu bemerkt werden muß, daß diese Einrichtung an und für sich nicht sehr edelmütig ist). Aber nehmen wir dies an! Ich will zugeben, daß es unmöglich war, die Welt auf andere Weise einzurichten, das heißt ohne ein fortwährendes gegenseitiges Auffressen; ich will sogar zugeben, daß ich von dieser Einrichtung nichts verstehe, aber dafür weiß ich etwas anderes mit Bestimmtheit: wenn mir auch das Bewußtsein meines Ichs verliehen ist, so ist es doch nicht meine Sache, daß die Welt fehlerhaft eingerichtet ist und nicht anders bestehen kann. Wer wird unter solchen Umständen über mich zu Gericht sitzen und weswegen? Man mag sagen, was man will, das alles erscheint unmöglich und ungerecht.

Und doch habe ich mir niemals, sogar trotz meines lebhaften Wunsches, vorstellen können, daß es kein zukünftiges Leben und keine Vorsehung gebe. Am wahrscheinlichsten ist wohl, daß dies alles existiert, daß wir aber vom zukünftigen Leben und seinen Gesetzen nichts begreifen. Aber wenn es so schwer, ja ganz unmöglich ist, dies zu begreifen, kann ich denn dann dafür verantwortlich gemacht werden, daß ich nicht imstande gewesen bin, das Unfaßbare zu ergründen? Allerdings sagen nun die Menschen, und natürlich der Fürst mit ihnen, hier sei eben Gehorsam vonnöten, man müsse gehorchen, ohne zu räsonieren, einzig und allein aus guter Gesittung, und ich würde mit Sicherheit in jener Welt für meine Sanftmut belohnt werden. Wir erniedrigten die Vorsehung zu sehr, wenn wir aus Ärger darüber, daß wir sie nicht begreifen können, ihr unsere eigenen Anschauungen zuschrieben. Aber ich wiederhole noch einmal: wenn es unmöglich ist, sie zu begreifen, dann kann der Mensch auch schwer für das verantwortlich gemacht werden, was zu begreifen ihm nicht vergönnt ist. Aber wenn dem so ist, wie kann ich dann dafür verurteilt werden, daß ich den wahren Willen und die wahren Gesetze der Vorsehung nicht habe begreifen können? Nein, das beste ist schon, die Religion aus dem Spiele zu lassen.

Nun genug! Wenn ich bis zu diesen Zeilen gelangt sein werde, wird gewiß die Sonne schon aufgehen und ›nach alter Weise am Himmel tönen‹, und eine gewaltige, unberechenbare Kraft wird sich über die ganze von ihr beschienene Erde ergießen. Sei es denn! Ich werde sterben, indem ich gerade auf die Quelle der Kraft und des Lebens hinblicke, und ich werde dieses Leben verschmähen! Hätte es in meiner Macht gestanden, nicht geboren zu werden, so würde ich ein an so höhnische Bedingungen geknüpftes Dasein gewiß nicht angenommen haben. Aber es steht noch in meiner Macht, zu sterben, obgleich ich nur einen kargen, schon gezählten Rest hingebe. Das ist keine große Machtäußerung und auch keine große Auflehnung gegen das Schicksal.

Eine letzte Erklärung: ich sterbe ganz und gar nicht deswegen, weil ich nicht imstande wäre, diese drei Wochen noch zu ertragen; oh, meine Kraft würde schon dazu ausreichen, und wenn ich wollte, würde ich schon an dem bloßen Bewußtsein des mir angetanen Unrechts einen ausreichenden Trost haben, aber ich bin kein französischer Dichter und mag solchen Trost nicht. Endlich noch etwas, was mich vielleicht lockt: die Natur hat dadurch, daß sie mir bis zu meiner Hinrichtung nur drei Wochen Frist gegeben hat, meine Tätigkeit dermaßen eingeschränkt, daß vielleicht der Selbstmord die einzige Handlung ist, die nach eigenem Willen anzufangen und zu beenden ich noch Zeit habe. Nun, vielleicht will ich die letzte Möglichkeit zum Handeln benutzen? Auch ein Protest ist manchmal keine kleine Tat …«

Die »Erklärung« war zu Ende. Ippolit hielt endlich inne …

Es gibt in extremen Fällen einen höchsten Grad zynischer Offenherzigkeit, bei welchem ein nervöser Mensch, der auf das äußerste gereizt und ganz außer sich geraten ist, nichts mehr fürchtet und zu jedem Skandal bereit ist, ja sogar mit Freuden einen solchen hervorruft; er fällt über andere Menschen her, indem er dabei die unklare, aber feste Absicht hat, sich im nächsten Augenblick unbedingt vom Kirchturm herabzustürzen und dadurch mit einem Schlag alle etwa entstandenen Mißverständnisse zu beseitigen. Ein Merkmal dieses Zustandes ist gewöhnlich auch die herannahende Erschöpfung der physischen Kräfte. Die außerordentliche, fast unnatürliche Anspannung, mit der Ippolit sich bis dahin aufrechterhalten hatte, war nun bis auf diesen höchsten Grad gelangt. An sich erschien dieser achtzehnjährige, von der Krankheit erschöpfte junge Mensch schwach wie ein vom Baum abgerissenes zitterndes Blättchen; aber sobald er Zeit fand, einen Blick über seine Zuhörer gleiten zu lassen – was er jetzt zum erstenmal seit einer ganzen Stunde tat –, prägte sich in seinem Blick und seinem Lächeln sofort der hochmütigste, verächtlichste, beleidigendste Widerwille aus. Er schien mit seiner Herausforderung Eile zu haben. Aber auch die Zuhörer waren voller Entrüstung. Alle erhoben sich geräuschvoll und ärgerlich vom Tisch. Die Müdigkeit, der Wein, die Anspannung steigerten noch den Wirrwarr und, wenn man sich so ausdrücken kann, den Schmutz der Empfindungen.

Plötzlich sprang Ippolit schnell vom Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte.

»Die Sonne ist aufgegangen!« rief er, indem er nach den leuchtenden Baumwipfeln hinblickte und, zum Fürsten gewandt, auf sie wie auf ein Wunder hinwies. »Sie ist aufgegangen!«

»Haben Sie denn gedacht, sie würde nicht aufgehen?« bemerkte Ferdyschtschenko.

»Das verspricht wieder Hitze für den ganzen Tag«, murmelte Ganja lässig und ärgerlich; er hielt den Hut in der Hand, reckte sich und gähnte. »Die Trockenheit scheint den ganzen Monat anzuhalten! … Wollen wir gehen, Ptizyn?«

Ippolit wurde, als er ihn so reden hörte, fast starr vor Staunen; plötzlich erbleichte er furchtbar und begann am ganzen Leib zu zittern.

»Sie bringen die Gleichgültigkeit, mit der Sie mich kränken wollen, in recht ungeschickter Weise zum Ausdruck«, wandte er sich an Ganja und sah ihn dabei starr an. »Sie sind ein Nichtswürdiger!«

»Na, weiß der Teufel, was das bedeuten soll, sich so aufzuknöpfen!« schrie Ferdyschtschenko. »Was ist das für eine unerhörte Schwachheit!«

»Er ist einfach ein Narr«, sagte Ganja.

Ippolit hatte wieder ein wenig Kraft gesammelt.

»Ich verstehe es, meine Herren«, begann er, immer noch wie vorher zitternd und bei jedem Wort stockend, »daß ich Ihre persönliche Rache verdient habe, und … ich bedaure, Sie mit diesen Fieberphantasien« (er wies auf das Manuskript) »halbtot gequält zu haben. Übrigens bedaure ich, daß es mir nicht gelungen ist, Sie ganz totzuquälen …« (Er lächelte dumm.) »Habe ich Sie totgequält, Jewgenij Pawlytsch?« fragte er diesen, sich plötzlich zu ihm wendend. »Habe ich Sie totgequält oder nicht? Antworten Sie!«

»Es war etwas zu weit ausgesponnen, aber im übrigen…«

»Sagen Sie alles! Lügen Sie wenigstens ein einziges Mal in Ihrem Leben nicht!« rief Ippolit zitternd in befehlendem Ton.

»Oh, mir ist die Sache ganz gleichgültig! Bitte, tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich in Ruhe!« erwiderte Jewgenij Pawlowitsch und wandte sich geringschätzig ab.

»Gute Nacht, Fürst!« sagte Ptizyn, an diesen herantretend.

»Aber er wird sich gleich erschießen! Was machen Sie denn! Sehen Sie ihn doch nur an!« rief Wera, stürzte in größter Angst zu Ippolit hin und faßte ihn sogar an den Armen. »Er hat ja gesagt, bei Sonnenaufgang wolle er sich erschießen! Was machen Sie denn!«

»Er wird sich nicht erschießen!« murmelten einige spöttisch, darunter auch Ganja.

»Meine Herren, nehmen Sie sich in acht!« rief Kolja und faßte Ippolit ebenfalls am Arm. »Sehen Sie ihn nur an! Fürst! Fürst, warum tun Sie denn nichts?«

Um Ippolit drängten sich Wera, Kolja, Keller und Burdowskij; alle vier hatten ihn an den Armen gepackt.

»Er hat ein Recht… ein Recht…«, murmelte Burdowskij, der übrigens ebenfalls ganz fassungslos war.

»Erlauben Sie, Fürst, was wollen Sie nun anordnen?« fragte Lebedew, auf den Fürsten zugehend, er war betrunken und bis zur Frechheit aufgebracht.

»Was ich anordnen will?«

»Nein, erlauben Sie, ich bin der Hausherr, obgleich ich es an Achtung Ihnen gegenüber nicht fehlen lassen will… Allerdings sind auch Sie hier Hausherr, aber ich will nicht, daß so etwas in meinem eigenen Hause… Jawohl.«

»Er wird sich nicht erschießen, der Junge treibt nur Possen!« rief ganz unerwartet General Iwolgin entrüstet und mit großartiger Würde.

»Der General hat’s getroffen!« stimmte Ferdyschtschenko bei.

»Das weiß ich, daß er sich nicht erschießen wird, General, hochverehrter General, aber doch… denn ich bin doch der Hausherr.«

»Hören Sie mal, Herr Terentjew«, sagte auf einmal Ptizyn, nachdem er sich von dem Fürsten verabschiedet hatte, und streckte Ippolit seine Hand hin, »Sie reden ja wohl in Ihrem Heft von Ihrem Skelett und vermachen es der Akademie? Meinen Sie damit Ihr eigenes Skelett? Vermachen Sie also der Akademie Ihre eigenen Knochen?«

»Ja, meine Knochen…«

»Soso. Sonst wäre nämlich ein Mißverständnis möglich. Man sagt, ein solcher Fall sei bereits vorgekommen.«

»Warum hänseln Sie ihn?« rief der Fürst.

»Ihm kommen schon die Tränen«, fügte Ferdyschtschenko hinzu.

Aber Ippolit weinte ganz und gar nicht. Er wollte sich von seinem Platz rühren, aber die vier Personen, die ihn umringten, griffen gleichzeitig nach seinen Armen. Man hörte lachen.

»Das hat er ja gerade gewollt, daß man ihn bei den Armen halten soll, dazu hat er ja sein Heft vorgelesen«, bemerkte Rogoshin. »Leb wohl, Fürst! Ach, ich habe zu lange gesessen, die Knochen tun mir weh.«

»Wenn Sie sich wirklich haben erschießen wollen, Terentjew«, sagte Jewgenij Pawlowitsch lachend, »so würde ich an Ihrer Stelle nach all den Komplimenten, die man Ihnen gemacht hat, mich nun gerade nicht erschießen, um die Leute zu foppen.«

»Diese Menschen möchten alle furchtbar gern sehen, wie ich mich erschieße!« warf ihm Ippolit entgegen.

Er sprach, als wollte er auf alle losfahren.

»Und ärgern sich darüber, daß sie es nicht zu sehen bekommen.«

»Also glauben auch Sie nicht, daß ich es tun werde?«

»Ich will Sie nicht anstacheln, ich halte es vielmehr für sehr möglich, daß Sie sich erschießen werden. Vor allen Dingen werden Sie nicht böse!…« sagte Jewgenij Pawlowitsch langsam, indem er die Worte in gönnerhafter Weise dehnte.

»Ich sehe erst jetzt, was für einen ungeheuren Fehler ich damit begangen habe, daß ich Ihnen dieses Heft vorgelesen habe!« erwiderte Ippolit und blickte Jewgenij Pawlowitsch auf einmal mit so vertrauensvoller Miene an, als bäte er einen Freund um einen freundschaftlichen Rat.

»Es ist eine komische Situation für Sie, aber … ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen raten soll«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch lächelnd.

Ippolit sah ihn mit unverwandtem Blick ernst und starr an und schwieg. Man konnte denken, daß er zeitweilig völlig geistesabwesend war.

»Nein, erlauben Sie, was ist denn das für eine Art!« ereiferte sich Lebedew. »›Ich will mich im Park erschießen‹, sagt er, ›um niemand zu stören!‹ Er denkt wohl, daß er niemand stört, wenn er die Stufen hinuntersteigt und drei Schritte weit in den Garten geht.«

»Meine Herren …«, begann der Fürst.

»Nein, erlauben Sie, hochverehrter Fürst«, unterbrach ihn Lebedew wütend, »da Sie selbst sehen, daß das kein Scherz ist, und da mindestens die Hälfte Ihrer Gäste der gleichen Meinung und der bestimmten Überzeugung ist, daß er jetzt, nach allem hier Gesprochenen, um der Ehre willen sich unter allen Umständen erschießen muß, so erkläre ich als der Hausherr in Gegenwart dieser Zeugen, daß ich Sie auffordere, mir behilflich zu sein!«

»Was sollen wir denn tun, Lebedew? Ich bin gern bereit, Ihnen zu helfen.«

»Was geschehen muß, ist dies: erstens soll er sofort die Pistole ausliefern, von der er uns vorgeprahlt hat, sowie das sämtliche Zubehör. Wenn er das tut, so will ich in Anbetracht seines krankhaften Zustandes damit einverstanden sein, daß er diese Nacht im Hause bleibt, natürlich unter der Bedingung, daß er von mir beaufsichtigt wird. Morgen aber muß er unter allen Umständen fort, da mag er gehen, wohin es ihm beliebt; nehmen Sie es nicht übel, Fürst! Wenn er aber seine Waffe nicht ausliefert, so werde ich ihn unverzüglich an den Armen packen, ich am einen, der General am andern, und ich werde sofort zur Polizei schicken und sie benachrichtigen; die wird dann schon das Weitere veranlassen. Herr Ferdyschtschenko als guter Bekannter von mir wird so freundlich sein und hingehen.«

Ein großer Lärm erhob sich. Lebedew war in eine Hitze geraten, die bereits jedes Maß überstieg; Ferdyschtschenko machte sich fertig, um zur Polizei zu gehen; Ganja blieb ärgerlich bei seiner Behauptung, es werde sich niemand erschießen. Jewgenij Pawlowitsch schwieg.

»Fürst, sind Sie einmal von einem Kirchturm hinabgestürzt?« flüsterte Ippolit ihm plötzlich zu.

»N-nein…«, antwortete der Fürst naiv.

»Haben Sie etwa geglaubt, ich hätte diesen ganzen Haß nicht vorhergesehen?« flüsterte Ippolit wieder und sah den Fürsten mit funkelnden Augen an, als erwarte er tatsächlich von ihm eine Antwort. »Nun genug!« rief er, indem er sich an alle Anwesenden wandte. »Ich bin daran schuld… in höherem Grad als Sie alle! Lebedew, da ist der Schlüssel.« (Er zog sein Portemonnaie heraus und entnahm ihm einen Stahlring mit drei oder vier kleinen Schlüsseln.) »Dieser ist es, der vorletzte… Kolja wird es Ihnen zeigen… Kolja! Wo ist Kolja?« rief er, er starrte Kolja an, ohne ihn zu sehen. »Ja… er wird es Ihnen zeigen; er hat vorhin mit mir zusammen meinen Koffer gepackt. Führen Sie ihn hin, Kolja, mein Koffer steht… im Zimmer des Fürsten unter dem Tisch… mit diesem Schlüssel… unten im Koffer… meine Pistole und das Pulverhorn. Er selbst hat die Sachen vorhin eingepackt, Herr Lebedew, er wird sie Ihnen zeigen, aber unter der Bedingung, daß Sie mir morgen früh, wenn ich nach Petersburg fahre, die Pistole zurückgeben. Hören Sie wohl? Ich tue das mit Rücksicht auf den Fürsten, nicht um Ihretwillen.«

»So ist es recht!« rief Lebedew, griff nach dem Schlüssel und lief, spöttisch lächelnd, in das Nachbarzimmer.

Kolja blieb stehen, er schien etwas sagen zu wollen, aber Lebedew zog ihn hinter sich her.

Ippolit blickte die lachenden Gäste an. Der Fürst bemerkte, daß seine Zähne wie im stärksten Fieberschauer klapperten.

»Was sind das hier alles für nichtswürdige Menschen!« flüsterte Ippolit ganz außer sich dem Fürsten wieder zu. Wenn er mit dem Fürsten sprach, beugte er sich immer zu ihm hin und flüsterte.

»Lassen Sie sie doch; Sie sind sehr schwach…«

»Gleich, gleich… gleich werde ich fortgehen.«

Plötzlich umarmte er den Fürsten.

»Sie meinen vielleicht, daß ich verrückt bin?« fragte er, indem er ihn, seltsam auflachend, ansah.

»Nein, aber Sie …«

»Gleich, gleich, seien Sie still; reden Sie nicht; bleiben Sie stehen … ich will Ihnen in die Augen sehen … Bleiben Sie so stehen, ich will Sie ansehen. Ich will vom Menschen Abschied nehmen.«

Er stand und blickte, ohne sich zu rühren, den Fürsten schweigend etwa zehn Sekunden lang an. Er war sehr blaß, seine Schläfen waren feucht von Schweiß. Er hielt den Fürsten in sonderbarer Weise an der Schulter gefaßt, als fürchtete er sich, ihn loszulassen.

»Ippolit, Ippolit, was ist Ihnen?« rief der Fürst.

»Gleich … es ist genug … ich werde mich hinlegen. Ich will einen Schluck auf die Gesundheit der Sonne trinken … Ich will es, ich will es, lassen Sie mich!«

Er ergriff schnell ein Glas vom Tisch, stürzte davon und stand im nächsten Augenblick am Ausgang der Veranda. Der Fürst wollte ihm nachlaufen, aber es traf sich, daß gerade in diesem Moment Jewgenij Pawlowitsch ihm die Hand hinstreckte, um ihm Lebewohl zu sagen. Es verging eine Sekunde, und plötzlich erscholl in der Veranda ein allgemeiner Aufschrei. Dann folgte ein Augenblick ärgster Verwirrung.

Folgendes war geschehen:

Als Ippolit ganz nahe an den Ausgang der Veranda gelangt war, blieb er stehen, in der linken Hand hielt er das Glas, die rechte hatte er in die rechte Seitentasche seines Mantels gesteckt. Keller versicherte nachher, Ippolit habe schon vorher diese Hand immer in der rechten Tasche gehabt, schon als er mit dem Fürsten gesprochen und ihn mit der linken Hand an die Schulter und den Kragen gefaßt habe, und diese rechte Hand in der Tasche habe schon damals seinen, Kellers, ersten Verdacht erregt. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls veranlaßte ihn eine gewisse Unruhe, Ippolit ebenfalls nachzulaufen. Aber auch er kam zu spät. Er sah nur, wie auf einmal in Ippolits rechter Hand etwas schimmerte und wie in derselben Sekunde die kleine Taschenpistole sich dicht an seiner Schläfe befand. Keller stürzte hinzu, um ihn am Arm zu packen, aber im selben Augenblick drückte Ippolit ab. Es ertönte das scharfe, trockene Knacken des Hahnes; ein Schuß jedoch erfolgte nicht. Als Keller Ippolit umfaßte, sank ihm dieser wie bewußtlos in die Arme, vielleicht wirklich in der Vorstellung, daß er schon tot sei. Die Pistole befand sich in Kellers Händen. Man ergriff Ippolit, stellte ihm einen Stuhl hin, setzte ihn darauf, und alle umdrängten ihn, alle schrien, alle fragten. Alle hatten das Knacken des Hahnes gehört und erblickten nun einen Menschen, der lebte und nicht einmal eine Schramme aufwies. Ippolit selbst saß da, ohne zu begreifen, was vorging, und ließ wie geistesabwesend seinen Blick über alle Umstehenden hingleiten. Lebedew und Kolja kamen in diesem Augenblick wieder hereingelaufen.

»Hat die Pistole versagt?« fragten mehrere.

»Vielleicht war sie gar nicht geladen?« vermuteten andere.

»Geladen ist sie!« rief Keller, der die Pistole untersuchte. »Aber…«

»Also hat sie versagt?«

»Es war gar kein Zündhütchen darauf«, meldete Keller.

Es ist schwer, die nun folgende klägliche Szene zu schildern. Der ursprüngliche allgemeine Schreck wurde schnell von heiterem Gelächter abgelöst. Manche wollten sich sogar vor Lachen ausschütten und fanden darin ein schadenfrohes Vergnügen. Ippolit schluchzte krampfhaft, rang die Hände, stürzte zu allen hin, sogar zu Ferdyschtschenko, faßte ihn mit beiden Händen und schwur ihm, er habe vergessen, »ganz zufällig, nicht absichtlich vergessen«, ein Zündhütchen aufzusetzen; die Zündhütchen, zehn Stück an der Zahl, befänden sich alle in seiner Westentasche (er zeigte sie allen herum); er habe vorher keines aufgesetzt aus Besorgnis, der Schuß könne zufällig in der Tasche losgehen; er habe damit gerechnet, daß er auch später noch Zeit haben werde, sobald es nötig sei, und habe es dann plötzlich vergessen. Er stürzte zum Fürsten und zu Jewgenij Pawlowitsch hin und flehte Keller an, ihm die Pistole zurückzugeben, er werde allen sofort beweisen, daß er »Ehre im Leibe habe«… er sei jetzt »für alle Ewigkeiten entehrt«!

Schließlich fiel er bewußtlos hin. Man trug ihn in das Zimmer des Fürsten, und Lebedew, der wieder ganz nüchtern geworden war, schickte unverzüglich zu einem Arzt, während er selbst, seine Tochter, sein Sohn, Burdowskij und der General am Bett des Kranken blieben. Als der bewußtlose Ippolit hinausgetragen war, stellte sich Keller mitten in der Veranda hin und verkündete, so daß alle es hörten, in wirklicher Begeisterung, wobei er jedes Wort einzeln und deutlich aussprach:

»Meine Herren, wenn jemand von Ihnen noch einmal laut in meiner Gegenwart einen Zweifel äußern sollte, daß das Zündhütchen nur zufällig vergessen war, und behauptet, der unglückliche junge Mensch habe nur Komödie gespielt, so wird der Betreffende es mit mir zu tun haben.«

Aber niemand antwortete ihm. Die Gäste entfernten sich endlich in einzelnen Gruppen. Ptizyn, Ganja und Rogoshin gingen zusammen.

Der Fürst war sehr erstaunt, daß Jewgenij Pawlowitsch seine Absicht geändert hatte und gehen wollte, ohne sich mit ihm ausgesprochen zu haben.

»Sie wollten doch mit mir sprechen, sobald alle fortgegangen wären?« fragte er ihn.

»Ganz richtig«, erwiderte Jewgenij Pawlowitsch, setzte sich auf einen Stuhl und nötigte den Fürsten, sich neben ihn zu setzen, »aber ich habe meine Absicht jetzt vorläufig geändert. Ich muß Ihnen bekennen, daß ich etwas verwirrt bin, und Ihnen wird es wohl ebenso gehen. Meine Gedanken sind ganz in Unordnung gekommen; außerdem ist der Gegenstand, über den ich mit Ihnen sprechen wollte, für mich sehr wichtig und auch für Sie. Sehen Sie, Fürst, ich möchte wenigstens einmal in meinem Leben ganz ehrlich handeln, das heißt ganz ohne Hintergedanken; ich glaube aber, daß ich jetzt, in diesem Augenblick, einer ganz ehrlichen Handlung nicht fähig bin, und Sie vielleicht auch nicht … ja … und … nun, wir werden uns also später aussprechen. Vielleicht gewinnt auch die Sache sowohl für mich als auch für Sie an Klarheit, wenn wir noch die drei Tage warten, die ich jetzt in Petersburg verbringen werde.«

Darauf stand er wieder vom Stuhl auf, so daß es nicht recht verständlich war, warum er sich überhaupt hingesetzt hatte. Der Fürst hatte auch den Eindruck, als wäre Jewgenij Pawlowitsch unzufrieden und gereizt und sähe ihn feindselig an und als läge in seinem Blick etwas ganz anderes als vorher.

»Übrigens, Sie gehen jetzt zu dem Kranken?«

»Ja … ich bin um ihn besorgt«, erwiderte der Fürst.

»Seien Sie unbesorgt; er wird gewiß noch sechs Wochen leben und sich vielleicht hier noch ganz erholen. Aber das beste wäre, wenn Sie ihn morgen wegjagten.«

»Ich habe ihn vielleicht wirklich dadurch verletzt, daß … ich nichts gesagt habe, er hat vielleicht gedacht, ich zweifelte daran, daß er sich erschießen würde. Wie denken Sie darüber, Jewgenij Pawlytsch?«

»Nein, nein. Sie sind zu gutherzig, daß Sie sich um ihn noch Sorgen machen. Ich habe sagen hören, aber nie in natura gesehen, daß sich jemand absichtlich erschießt, um gelobt zu werden, oder aus Ärger darüber, daß man ihn deswegen nicht lobt. Vor allen Dingen hätte ich ein solches offenes Eingestehen der eigenen Schwäche nicht für möglich gehalten! Aber ich möchte Ihnen doch raten, ihn morgen wegzujagen.«

»Sie glauben, daß er noch einmal auf sich schießen wird?«

»Nein, jetzt wird er sich nicht mehr erschießen. Aber nehmen Sie sich vor diesen einheimischen in acht! Ich wiederhole Ihnen: diese talentlose, ungeduldige, begehrliche Nichtigkeit nimmt gewöhnlich ihre Zuflucht zum Verbrechen.«

»Ist er etwa ein Lacenaire?«

»Dem Wesen nach ja, obwohl die Rollen vielleicht verschieden sind. Achten Sie darauf, ob dieser Herr nicht imstande ist, ein Dutzend Menschen abzuschlachten, bloß um einen auffallenden Streich zu begehen, genauso, wie er uns das selbst vorhin in seiner Erklärung vorgelesen hat. Jetzt werden mich diese Worte am Einschlafen hindern.«

»Sie beunruhigen sich vielleicht zu sehr.«

»Ich muß mich über Sie wundern, Fürst; glauben Sie nicht, daß er imstande ist, jetzt ein Dutzend Menschen zu töten?«

»Ich scheue mich, Ihnen darauf zu antworten, all dies ist sehr seltsam, aber…« »Nun, wie Sie wollen, wie Sie wollen!« schloß Jewgenij Pawlowitsch gereizt. »Überdies sind Sie ja ein so tapferer Mann; nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nicht selbst einer von diesem Dutzend sein werden.«

»Das wahrscheinlichste ist, daß er niemand töten wird«, sagte der Fürst, indem er Jewgenij Pawlowitsch nachdenklich anblickte.

Dieser lachte ärgerlich.

»Auf Wiedersehen! Es wird Zeit, daß ich gehe! Haben Sie bemerkt, daß er eine Abschrift seiner Beichte Aglaja Iwanowna vermacht hat?«

»Ja, es ist mir aufgefallen, und… ich denke darüber nach.«

»Nun allerdings, in Anbetracht jenes Dutzends«, antwortete Jewgenij Pawlowitsch, von neuem lachend, und ging weg.

Eine Stunde darauf (es war schon drei Uhr vorüber) ging der Fürst in den Park. Er hatte in seiner Wohnung zu schlafen versucht, es aber vor starkem Herzklopfen nicht vermocht. Im Hause war übrigens alles in Ordnung gebracht worden, und man hatte sich wieder einigermaßen beruhigt; der Kranke war eingeschlafen, und der Arzt, der gekommen war, hatte erklärt, es bestehe keinerlei besondere Gefahr. Lebedew, Kolja und Burdowskij hatten sich im Zimmer des Kranken hingelegt, um einander in der Nachtwache abzulösen; es war also kein Grund, sich Sorge zu machen.

Aber die Unruhe des Fürsten wuchs von Minute zu Minute. Er schweifte, zerstreut um sich blickend, im Park umher und blieb erstaunt stehen, als er zu dem freien Platz vor dem Vauxhall gelangte und die Reihen leerer Bänke und die Pulte für die Musiker erblickte. Dieser Ort machte auf ihn einen überraschenden Eindruck und kam ihm aus irgendeinem Grund furchtbar häßlich vor. Er kehrte wieder um und gelangte auf eben dem Weg, auf dem er tags zuvor mit Jepantschins zum Vauxhall gegangen war, zu der grünen Bank, die ihm für das Rendezvous angegeben war, setzte sich darauf und lachte plötzlich laut auf, worüber er sofort in starke Entrüstung geriet. Seine traurige Stimmung hielt immer noch an; er wäre am liebsten irgendwohin fortgegangen … er wußte nur nicht, wohin. Über ihm auf einem Baum sang ein Vögelchen, und er begann es mit den Augen im Laubwerk zu suchen; plötzlich flatterte das Vögelchen von dem Baum fort, und im gleichen Augenblick mußte er unwillkürlich an jene Fliege im warmen Sonnenstrahl denken, von der Ippolit in seiner Erklärung gesagt hatte, sie »kenne ihren Platz und nehme an dem allgemeinen Festchor teil, während er allein ein Ausgestoßener« sei. Dieser Gedanke hatte schon vorhin auf ihn starken Eindruck gemacht, und er erinnerte sich jetzt daran. Längst Vergessenes wurde in ihm rege und trat ihm plötzlich klar vor die Seele.

Es war in der Schweiz gewesen, im ersten Jahr seiner Kur, sogar in den ersten Monaten. Er war damals noch ganz wie ein Idiot gewesen, konnte nicht einmal ordentlich sprechen und war manchmal nicht imstande, zu verstehen, was man von ihm wollte. Einmal, an einem klaren, sonnigen Tag, war er in die Berge gegangen und wanderte dort, mit einem qualvollen Gedanken beschäftigt, der jedoch durchaus keine deutliche Gestalt annehmen wollte, lange umher. Über ihm der leuchtende Himmel, unten der See, ringsum in weiter, weiter Entfernung der helle Horizont. Er schaute dies alles lange an und wurde dabei von einem schmerzlichen Gefühl gepeinigt. Er erinnerte sich jetzt, daß er damals seine Hände nach dieser hellen, endlosen Bläue ausgestreckt und geweint hatte. Es war ihm eine Qual gewesen, daß er all dem ganz fremd gegenüberstand. Was war dies für ein Fest, was war dies für ein steter, endloser, großer Feiertag, zu dem es ihn schon lange, schon immer, schon seit seiner Kindheit hinzog, und zu dem er doch nie hingelangen konnte? Jeden Morgen ging dieselbe helle Sonne auf, jeden Morgen stand über dem Wasserfall ein Regenbogen, jeden Abend flammte der höchste schneebedeckte Berg dort in der Ferne am Rand des Himmels in purpurner Glut; jede kleine Fliege, die im warmen Sonnenstrahl um ihn herumsummte, nahm an diesem Fest teil, kannte ihren Platz, liebte ihn und war glücklich, jedes Gräschen wuchs und war glücklich! Und alles hatte seinen vorgeschriebenen Weg, und alles kannte diesen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne, er stand allem fremd gegenüber, er war ein Ausgestoßener. Oh, er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; taub und stumm quälte er sich, aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals gesagt, all diese selben Worte und als habe Ippolit das über die Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen, übernommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei diesem Gedanken heftig zu klopfen …

Er schlief auf der Bank ein, aber seine Unruhe blieb auch im Schlaf. Unmittelbar vor dem Einschlafen erinnerte er sich daran, daß Ippolit ein Dutzend Menschen ermorden würde, und mußte über das Absurde dieser Vorstellung lächeln. Um ihn herrschte eine schöne, klare Stille, nur die Blätter rauschten leise, und davon schien es ringsumher noch stiller und einsamer zu werden. Er träumte, und es waren lauter unruhige Träume, die ihn alle Augenblicke zusammenschrecken ließen. Schließlich träumte er, es käme eine Frau zu ihm, er kannte sie, kannte sie qualvoll genau; er konnte jedem ihren Namen nennen, sie jedem zeigen, aber seltsam: sie hatte jetzt ein ganz anderes Gesicht als das, welches er immer gekannt hatte, und er gab sich voll innerer Qual alle Mühe, sie nicht als jene Frau wiederzuerkennen. In diesem Gesicht lag so viel Reue und Angst, daß es schien, sie wäre eine furchtbare Verbrecherin und habe soeben eine schreckliche Tat begangen. Eine Träne zitterte auf ihrer blassen Wange; sie winkte ihm mit der Hand und legte den Finger an die Lippen, als wolle sie ihn auffordern, ihr leise zu folgen. Das Herz stand ihm still, um keinen Preis, um keinen Preis wollte er sie für eine Verbrecherin halten, aber er fühlte, daß gleich etwas Schreckliches geschehen würde, durch das sein ganzes Leben beeinflußt würde. Sie schien ihm etwas zeigen zu wollen, ganz in der Nähe, im Park. Er erhob sich, um ihr nachzugehen, und plötzlich hörte er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte, eine Hand befand sich in der seinigen, er faßte diese Hand, drückte sie kräftig und erwachte. Vor ihm stand, laut lachend, Aglaja.

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Kapitel 36

VIII

Sie lachte, war aber zugleich ungehalten.

»Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig.

»Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte. »Ach ja! Das Rendezvous … Ich habe hier geschlafen.«

»Das habe ich gesehen.«

»Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei … eine andere Frau hiergewesen.«

»Eine andere Frau sollte hiergewesen sein?«

Endlich hatte er seine Gedanken gesammelt.

»Es war nur ein Traum«, sagte er nachdenklich. »Sonderbar, daß ich in einem solchen Augenblick von so etwas träumte … Setzen Sie sich!« Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber manchmal so, als sähe er sie überhaupt nicht vor sich. Sie errötete.

»Ach ja!« sagte der Fürst zusammenfahrend. »Ippolit hat sich erschossen!«

»Wann? In Ihrer Wohnung?« fragte sie, jedoch ohne großes Erstaunen. »Gestern abend lebte er ja wohl noch? Wie konnten Sie denn nach einem solchen Vorfall hier schlafen?« rief sie, plötzlich lebhaft werdend.

»Aber er ist ja nicht tot, die Pistole versagte.«

Auf Aglajas dringende Bitten mußte der Fürst sogleich und in aller Ausführlichkeit die Ereignisse der vergangenen Nacht erzählen. Sie trieb ihn während der Erzählung alle Augenblicke zur Eile, unterbrach ihn aber selbst fortwährend mit Fragen, und zwar betrafen diese fast immer nebensächliche Dinge. Unter anderm hörte sie mit großem Interesse an, was Jewgenij Pawlowitsch gesagt hatte, und stellte hierzu einige Male sogar Fragen.

»Nun aber genug! Wir müssen uns beeilen«, schloß sie, nachdem sie alles gehört hatte. »Wir können hier nur eine Stunde bleiben, bis acht Uhr, weil ich um acht unter allen Umständen zu Hause sein muß, damit die andern nicht erfahren, daß ich hier gesessen habe. Ich bin aber wegen einer ernsten Angelegenheit hergekommen und habe Ihnen viel mitzuteilen. Nur haben Sie mich jetzt ganz aus dem Konzept gebracht. Was Ippolit betrifft, so meine ich, es war das Richtige, daß seine Pistole versagt hat, das paßt am besten zu seiner Persönlichkeit. Aber sind Sie überzeugt, daß er sich tatsächlich erschießen wollte und es nicht bloß Schwindel war?«

»Es war bestimmt kein Schwindel.«

»Das ist das wahrscheinlichste. Er hat also auch geschrieben, Sie sollten mir seine Beichte bringen? Warum haben Sie sie mir nicht gebracht?«

»Aber er ist ja nicht gestorben. Ich werde ihn danach fragen.«

»Bringen Sie sie mir auf jeden Fall, Sie brauchen gar nicht erst zu fragen. Es wird ihm sicher sehr angenehm sein, weil er vielleicht überhaupt mit der Absicht auf sich geschossen hat, daß ich dann seine Beichte lesen sollte. Bitte lachen Sie nicht über meine Worte, Lew Nikolajitsch; es ist sehr wohl möglich, daß es sich so verhält.«

»Ich lache nicht, denn ich bin selbst davon überzeugt, daß dies teilweise sehr wohl möglich ist.«

»Sie sind davon überzeugt? Sie glauben das wirklich auch?« fragte Aglaja höchst erstaunt.

Sie stellte ihre Fragen schnell und redete hastig, geriet aber manchmal in Verwirrung und brachte oft die Sätze nicht zu Ende. Alle Augenblicke kündigte sie ihm eilig etwas Bevorstehendes an; überhaupt befand sie sich in außerordentlicher Unruhe, und obwohl sie eine sehr tapfere, herausfordernde Miene zeigte, war sie vielleicht doch etwas feige. Sie trug ein ganz einfaches Alltagskleid, das ihr sehr gut stand. Sie zuckte oft zusammen, errötete und saß nur auf dem Rand der Bank. Die Zustimmung des Fürsten zu ihrer Ansicht, daß Ippolit sich erschossen habe, damit sie seine Beichte läse, versetzte sie in großes Erstaunen.

»Natürlich wünschte er«, erklärte der Fürst, »daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten …«

»Wieso loben?«

»Das heißt, es ist… Wie soll ich Ihnen das sagen? Es ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn umringen und ihm sagen, daß sie ihn sehr lieben und achten, und ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben. Sehr möglich, daß er Sie dabei mehr als alle andern im Auge hatte, weil er sich Ihrer in einem solchen Augenblick erinnerte … obwohl er vielleicht selbst nicht wußte, daß er Sie im Auge hatte.«

»Das ist mir ganz unverständlich: er hatte jemand im Auge und wußte nicht, was er im Auge hatte. Übrigens habe ich für seine Handlungsweise Verständnis: wissen Sie, daß ich selbst an die dreißig Mal, sogar zu der Zeit, als ich noch ein dreizehnjähriges Mädchen war, daran gedacht habe, mich zu vergiften, und alles das in einem Brief an meine Eltern niederschrieb und mir sogar überlegte, wie ich im Sarg liegen würde und wie alle um mich herumstehen und weinen und sich anklagen würden, weil sie so hart gegen mich gewesen seien… Warum lächeln Sie wieder?« fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen schnell hinzu. »Woran denken Sie denn, wenn Sie sich Ihren Träumereien überlassen? Vielleicht stellen Sie sich vor, Sie seien Feldmarschall und schlügen Napoleon.«

»Wahrhaftig, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daran denke ich, besonders beim Einschlafen«, antwortete der Fürst lachend. »Nur schlage ich nicht Napoleon, sondern immer die Österreicher.«

»Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu scherzen, Lew Nikolajitsch. Mit Ippolit will ich selbst sprechen und bitte Sie, ihm das mitzuteilen. Aber was Sie betrifft, so mißfällt mir Ihre Handlungsweise sehr, denn es ist sehr roh, eine Menschenseele so zu untersuchen und zu beurteilen, wie Sie es mit Ippolits Seele machen. Es fehlt Ihnen an Zartheit; die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.«

Der Fürst dachte nach.

»Mir scheint, daß Sie gegen mich ungerecht sind«, sagte er dann. »Ich finde nichts Schlechtes daran, daß er so gedacht hat, denn es neigen ja alle Menschen dazu, so zu denken; zudem hat er vielleicht überhaupt nicht so gedacht, sondern nur einen Wunsch gehabt… er wünschte, zum letztenmal mit Menschen zusammen zu sein und ihre Achtung und Liebe zu verdienen; das sind doch sehr gute Gefühle, nur daß die Sache einen ganz andern Ausgang nahm; das kam von seiner Krankheit und noch von etwas anderem! Manche Menschen haben eben immer in allem Glück, während andern alles mißlingt…«

»Damit meinen Sie wohl sich selbst?« bemerkte Aglaja.

»Allerdings«, antwortete der Fürst, ohne die in der Frage liegende Schadenfreude zu beachten.

»Aber an Ihrer Stelle wäre ich hier doch nicht eingeschlafen. Wohin Sie nur kommen, da schlafen Sie auch gleich ein, das ist gar nicht hübsch von Ihnen.«

»Ich habe ja die ganze Nacht nicht geschlafen, und dann bin ich immerzu umhergewandert; ich war auf dem Musikplatz…«

»Auf welchem Musikplatz?«

»Da, wo gestern konzertiert wurde, und dann bin ich hierhergekommen, habe mich hingesetzt, hin und her überlegt und bin eingeschlafen.«

»Ah, so ist das! Das ändert die Sache zu Ihren Gunsten… Aber warum sind Sie nach dem Musikplatz gegangen?«

»Das weiß ich nicht, nur so …«

»Gut, gut, davon ein andermal; Sie unterbrechen mich immerzu, und was geht es mich überhaupt an, daß Sie nach dem Musikplatz gegangen sind? Von was für einer Frau haben Sie da geträumt?«

»Von… von… Sie haben sie gesehen…«

»Ich verstehe… verstehe sehr wohl. Sie haben sie also sehr… Wie haben Sie sie denn im Traum gesehen, in welcher Gestalt? Übrigens will ich es gar nicht wissen«, fügte sie, plötzlich abbrechend, in ärgerlichem Tone hinzu. »Unterbrechen Sie mich nicht…«

Sie wartete ein wenig, als wollte sie sich ein Herz fassen oder als suchte sie ihren Ärger zu überwinden.

»Der Grund, weswegen ich Sie herbestellt habe, ist der: ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, mein Freund zu sein. Warum sehen Sie mich auf einmal so starr an?« fügte sie beinahe zornig hinzu.

Der Fürst blickte sie in diesem Augenblick tatsächlich sehr aufmerksam an, da er bemerkte, daß sie wieder anfing, furchtbar rot zu werden. Sie schien in solchen Fällen, je mehr sie errötete, sich um so mehr über sich zu ärgern, was deutlich in ihren blitzenden Augen zum Ausdruck kam; gewöhnlich richtete sie dann unmittelbar darauf ihren Zorn gegen denjenigen, mit dem sie sprach, mochte diesen nun eine Schuld treffen oder nicht, und fing an, sich mit ihm zu streiten. Da sie ihr scheues Wesen kannte und wußte, wie leicht sie sich schämte, beteiligte sie sich gewöhnlich nur wenig an dem Gespräch und war schweigsamer als ihre Schwestern, mitunter sogar im Übermaß. Wenn sie, besonders in heiklen Fällen, gar nicht umhinkonnte zu reden, so tat sie das zunächst sehr hochmütig und irgendwie herausfordernd. Sie fühlte es immer vorher, wenn sie anfing oder anfangen wollte zu erröten.

»Sie wollen meinen Vorschlag vielleicht nicht annehmen?« fragte sie und blickte dabei den Fürsten hochmütig an.

»O doch, ich will ihn annehmen, nur ist das gar nicht erforderlich … ich meine, ich habe nie geglaubt, daß man einen solchen Vorschlag zu machen brauchte«, erwiderte der Fürst verlegen.

»Aber was haben Sie denn eigentlich gedacht, weswegen ich Sie hierherbestellt hätte? Was denken Sie sich eigentlich? Sie halten mich vielleicht für eine kleine Närrin, wie sie das bei mir zu Hause alle tun?«

»Ich habe nicht gewußt, daß man Sie für eine Närrin hält, ich … ich halte Sie nicht dafür.«

»Sie halten mich nicht dafür? Das ist sehr vernünftig von Ihnen. Und namentlich ist es sehr vernünftig, daß Sie es sagen.«

»Meiner Ansicht nach sind Sie vielleicht mitunter sogar sehr vernünftig«, fuhr der Fürst fort. »Sie haben vorhin einen sehr vernünftigen Gedanken ausgesprochen. Sie sagten in bezug auf meine zweifelnde Beurteilung Ippolits: ›Die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.‹ Das hat sich mir eingeprägt, und darüber denke ich nach.«

Aglaja wurde auf einmal dunkelrot vor Freude. Alle Gefühlsveränderungen vollzogen sich bei ihr mit großer Offenheit und außerordentlicher Schnelligkeit. Der Fürst freute sich ebenfalls und lachte sogar vor Vergnügen, als er sie anblickte.

»So hören Sie denn«, begann sie wieder, »ich habe lange auf Sie gewartet, um Ihnen alles zu erzählen, schon von der Zeit an, wo Sie mir von dort den Brief geschrieben hatten, und sogar schon früher… Die Hälfte haben Sie von mir schon gestern gehört: ich halte Sie für den ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Menschen, ehrlicher und wahrheitsliebender als alle andern, und wenn man von Ihnen sagt, daß Ihr Verstand… das heißt, daß Ihr Verstand mitunter nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene Überzeugung, die ich auch verfochten habe, denn wenn Ihr Verstand auch wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das gewiß nicht übelnehmen, ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, und sogar so gut, wie jene es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So ist es doch?«

»Vielleicht ist es so«, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig.

»Ich wußte, daß Sie es verstehen würden«, fuhr sie mit wichtiger Miene fort: »Fürst Schtsch. und Jewgenij Pawlowitsch verstehen von diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber denken Sie sich: maman hat es begriffen!«

»Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.«

»Wieso? Wirklich?« fragte Aglaja erstaunt.

»Wahrhaftig, das ist meine Ansicht.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich freue mich sehr, daß ich mit maman Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl sehr?« fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage zu bemerken.

»Sehr, wirklich sehr, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.«

»Ich freue mich ebenfalls, denn ich habe bemerkt, daß man sich manchmal… über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache: ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht, daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich aufzieht… Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgenij Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will, daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will… ich will… nun, ich will von Hause weglaufen, und ich habe Sie ausgewählt, mir zu helfen.«

»Von Hause weglaufen!?« rief der Fürst.

»Ja, ja, ja, von Hause weglaufen!« rief sie plötzlich, in heftigem Zorn aufflammend. »Ich will nicht, ich will nicht, daß sie mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgenij Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt. Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe, sogar das Wichtigste, und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts verbergen. Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst. Die Meinigen haben auf einmal angefangen, davon zu reden, daß ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief gar nicht gezeigt, aber jetzt reden sie schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will mich nützlich machen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war, dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt aber habe ich mir alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet, um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen gotischen Dom gesehen, ich will in Rom sein, ich will alle wissenschaftlichen Sammlungen ansehen, ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr vorbereitet und studiert und sehr viele Bücher gelesen, ich habe alle möglichen verbotenen Bücher gelesen. Alexandra und Adelaida lesen alle Bücher, die dürfen das. Aber mir gibt man nicht alle, ich stehe unter Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht herumstreiten, aber meiner Mutter und meinem Vater habe ich schon längst erklärt, daß ich meine soziale Stellung vollständig verändern will. Ich beabsichtige, erzieherisch tätig zu sein, und habe dabei auf Sie gerechnet, weil Sie gesagt haben, Sie hätten Kinder gern. Können wir zusammen eine erzieherische Tätigkeit ausüben, wenn nicht gleich, so doch in Zukunft? Wir werden gemeinsam Nutzen stiften; ich will kein Generalstöchterchen sein… Sagen Sie, Sie sind doch ein sehr gelehrter Mann?«

»Oh, durchaus nicht!«

»Das ist schade, ich hatte es geglaubt… wie bin ich nur darauf gekommen, es zu glauben? Aber Sie werden mich dabei doch anleiten, denn ich habe Sie ausgewählt.«

»Das ist eine Torheit, Aglaja Iwanowna.«

»Ich will von Hause weglaufen, ich will!« rief sie, und ihre Augen funkelten wieder. »Wenn Sie mir Ihre Hilfe versagen, so heirate ich Gawrila Ardalionowitsch. Ich will nicht, daß man mich zu Hause für ein schlechtes Frauenzimmer hält und mir Gott weiß was vorwirft.«

»Sind Sie bei Sinnen!« rief der Fürst und sprang beinah von der Bank in die Höhe. »Was wirft man Ihnen vor? Wer tut so etwas?«

»Alle bei uns zu Hause, meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, Fürst Schtsch., sogar Ihr abscheulicher Kolja! Und wenn sie es nicht geradeheraus sagen, so denken sie es wenigstens. Ich habe es ihnen allen ins Gesicht gesagt, sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater. Maman war einen ganzen Tag krank, und am nächsten Tag sagten mir Alexandra und Papa, ich wüßte selbst nicht, was ich zusammenphantasierte und was für Ausdrücke ich gebrauchte. Aber ich habe ihnen sehr entschieden geantwortet, ich verstünde schon alles, alle Ausdrücke, und ich wäre kein kleines Kind mehr, und ich hätte schon vor zwei Jahren absichtlich zwei Romane von Paul de Kock gelesen, um alles zu erfahren. Als maman das hörte, fiel sie beinah in Ohnmacht.«

Dem Fürsten ging plötzlich ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er blickte Aglaja prüfend an und lächelte.

Er konnte gar nicht glauben, daß dasselbe hochmütige Mädchen vor ihm saß, das ihm früher einmal mit so stolzer, hochfahrender Miene Gawrila Ardalionowitschs Brief zum Lesen gegeben hatte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie in diesem hochmütigen, abweisenden schönen Mädchen ein solches Kind stecken konnte, ein Kind, das vielleicht in Wirklichkeit auch jetzt noch nicht alle Ausdrücke verstand.

»Haben Sie immer nur im Elternhaus gelebt, Aglaja Iwanowna?« fragte er. »Ich meine, sind Sie nie in einer Schule gewesen, haben Sie nie ein Unterrichtsinstitut besucht?«

»Nein, niemals; ich habe immer wie in einer verkorkten Flasche zu Hause gesessen und werde direkt aus der Flasche heiraten; warum lächeln Sie wieder? Ich sehe, daß anscheinend auch Sie sich über mich lustig machen und sich zur Gegenpartei halten«, fügte sie, finster die Stirn runzelnd, hinzu. »Machen Sie mich nicht ärgerlich, ich weiß sowieso schon nicht, was in meinem Kopf vorgeht… Ich bin überzeugt, Sie sind in dem festen Glauben hierhergekommen, daß ich in Sie verliebt bin und Sie zu einem Rendezvous bestellt habe«, sagte sie in gereiztem Ton.

»Ich habe das gestern wirklich befürchtet«, versetzte der Fürst in unbedachter Offenherzigkeit (er war sehr verwirrt). »Aber heute bin ich überzeugt, daß Sie…«

»Wie!« rief Aglaja, und ihre Unterlippe fing auf einmal an zu zittern. »Sie haben befürchtet, daß ich… Sie haben zu denken gewagt, daß ich… O Gott! Sie haben vielleicht geargwöhnt, ich hätte Sie mit der Absicht hierherbestellt, um Sie in meine Netze zu locken, damit man uns dann hier zusammen überraschte und Sie nötigte, mich zu heiraten…«

»Aglaja Iwanowna! Schämen Sie sich nicht? Wie konnte nur ein so schmutziger Gedanke in Ihrem reinen, unschuldigen Herzen entstehen? Ich möchte wetten, daß Sie selbst kein Wort von dem, was Sie eben sagten, für wahr halten… Sie wissen selbst nicht, was Sie reden!«

Aglaja saß mit beharrlich gesenktem Kopf da, als hätte sie selbst über das, was sie gesagt hatte, einen Schreck bekommen.

»Ich schäme mich gar nicht«, murmelte sie. »Woher wissen Sie, daß ich ein unschuldiges Herz habe? Wie konnten Sie wagen, mir damals den Liebesbrief zu schicken?«

»Den Liebesbrief? Mein Brief ein Liebesbrief! Das war ein höchst respektvoller Brief; was in diesem Brief stand, das war in der schwersten Stunde meines Lebens aus meinem Herzen geströmt! Ich erinnerte mich damals Ihrer wie einer Lichtgestalt… ich…«

»Nun gut, gut«, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus dem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie beugte sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. »Gut«, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, »ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt… um Sie zu prüfen. Nehmen Sie an, ich hätte es nicht gesagt! Und wenn ich Sie gekränkt habe, so verzeihen Sie mir! Bitte, sehen Sie mich nicht gerade an, wenden Sie sich ab! Sie sagten, das sei ein sehr schmutziger Gedanke: ich habe es absichtlich gesagt, um Sie zu verletzen. Manchmal bekomme ich selbst einen Schreck über das, was ich sagen möchte, aber plötzlich sage ich es doch. Sie sagten soeben, Sie hätten diesen Brief in der schwersten Stunde Ihres Lebens geschrieben… Ich weiß, was das für eine Stunde war«, sagte sie leise und blickte wieder zur Erde.

»Oh, wenn Sie alles wissen könnten!«

»Ich weiß alles!« rief sie in erneuter Erregung. »Sie lebten damals einen ganzen Monat lang in einer Wohnung mit dieser schlechten Frau, mit der Sie fortgegangen waren…«

Sie errötete jetzt nicht mehr, während sie das sagte, sondern wurde blaß; auf einmal stand sie wie geistesabwesend von der Bank auf, setzte sich aber, zur Besinnung kommend, gleich wieder hin; ihre Lippe zuckte noch lange. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute. Der Fürst war durch diese plötzliche Heftigkeit sehr überrascht und wußte nicht, worauf er sie zurückführen sollte.

»Ich liebe Sie durchaus nicht«, sagte sie plötzlich kurz und scharf.

Der Fürst antwortete nicht; sie schwiegen wieder ungefähr eine Minute lang.

»Ich liebe Gawrila Ardalionowitsch …«, sagte sie hastig, aber kaum hörbar, und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

»Das ist nicht wahr«, erwiderte der Fürst, ebenfalls beinah flüsternd.

»Dann lüge ich also? Es ist doch wahr, ich habe ihm mein Wort gegeben, vorgestern, auf dieser Bank.«

Der Fürst erschrak und dachte einen Augenblick nach.

»Das ist nicht wahr«, sagte er noch einmal in entschiedenem Ton. »Sie haben sich das alles nur ausgedacht.«

»Sehr höflich von Ihnen! Wissen Sie, er hat sich gebessert; er liebt mich mehr als sein Leben. Er hat vor meinen Augen seine Hand verbrannt, nur um mir zu beweisen, daß er mich mehr liebt als sein Leben.«

»Er hat seine Hand verbrannt?«

»Jawohl, seine Hand. Sie mögen es glauben oder nicht, das ist mir ganz gleich.«

Der Fürst schwieg wieder. Aglajas Worte klangen nicht scherzhaft; sie war ärgerlich.

»Wie? Hat er denn eine Kerze hierher mitgebracht, wenn das hier geschehen ist? Anders kann ich mir die Sache nicht vorstellen…«

»Jawohl… eine Kerze. Was ist daran unwahrscheinlich?«

»Eine bloße Kerze oder eine auf einem Leuchter?«

»Nun ja … nein … eine halbe Kerze… ein Stümpfchen… eine ganze Kerze… das ist ja ganz egal, lassen Sie doch das Gerede!… Meinetwegen kann er auch Zündhölzer mitgebracht haben! Er zündete die Kerze an und hielt eine ganze halbe Stunde lang den Finger in die Flamme; ist das etwa nicht möglich?«

»Ich habe ihn gestern gesehen; seine Finger sind ganz heil.«

Aglaja brach nun auf einmal ganz wie ein Kind in ein schallendes Gelächter aus.

»Wissen Sie, warum ich eben gelogen habe?« wandte sie sich mit der kindlichsten Zutraulichkeit an den Fürsten; ihre Lippen zitterten immer noch vor Lachen. »Deswegen: wenn man lügt und dabei in geschickter Weise etwas Ungewöhnliches, etwas Exzentrisches einflicht, wissen Sie, etwas, was sehr selten ist oder überhaupt nicht vorkommt, dann erscheint die Lüge weit glaubhafter. Das habe ich früher beobachtet. Es ist mir nur deshalb mißglückt, weil ich es nicht richtig verstanden habe…«

Auf einmal machte sie wieder ein finsteres Gesicht, als fiele ihr etwas ein.

»Wenn ich damals«, sagte sie, indem sie sich zu dem Fürsten hinwandte und ihn mit ernster, ja trauriger Miene ansah, »wenn ich Ihnen damals das Gedicht vom ›armen Ritter‹ deklamiert habe, so wollte ich Sie damit zwar für einiges loben, zugleich aber wollte ich auch Ihr Benehmen in gewisser Hinsicht als Torheit hinstellen und Ihnen beweisen, daß ich alles wußte…«

»Sie sind sehr ungerecht gegen mich und gegen jene unglückliche Frau, von der Sie soeben einen so schrecklichen Ausdruck gebrauchten, Aglaja.«

»Ich habe den Ausdruck deswegen gebraucht, weil ich alles weiß! Ich weiß, daß Sie ihr vor einem halben Jahr vor aller Ohren Ihre Hand antrugen. Unterbrechen Sie mich nicht, Sie sehen, ich spreche ganz ohne Kommentar. Darauf ist sie mit Rogoshin davongelaufen, dann haben Sie mit ihr in irgendeinem Dorf oder in irgendeiner Stadt zusammen gelebt, und sie ist von Ihnen weggegangen und hat sich zu einem andern begeben.« (Aglaja errötete stark.) »Dann ist sie wieder zu Rogoshin zurückgekehrt, der sie wie… wie ein Wahnsinniger liebt. Darauf sind Sie, der Sie ebenfalls ein sehr vernünftiger Mensch sind, ihr jetzt schleunigst hierher nachgereist, sowie Sie erfahren hatten, daß sie nach Petersburg zurückgekehrt war. Gestern abend haben Sie sich zu ihrem Verteidiger gemacht, und jetzt eben haben Sie von ihr geträumt… Sie sehen, daß ich alles weiß; Sie sind ja doch um ihretwillen hierhergereist, nicht wahr, um ihretwillen?«

»Ja, um ihretwillen«, antwortete der Fürst leise; er ließ traurig und nachdenklich den Kopf sinken und ahnte nicht, mit was für einem funkelnden Blick Aglaja ihn betrachtete. »Um ihretwillen, nur um zu erfahren… Ich glaube nicht an ihr Glück mit Rogoshin, obgleich… kurz, ich weiß nicht, was ich hier für sie tun und wie ich ihr helfen kann, aber ich bin trotzdem hergekommen.«

Er zuckte zusammen und sah Aglaja an; diese hörte ihm voll Haß zu.

»Wenn Sie hergereist sind, ohne zu wissen, wozu, so lieben Sie sie sehr«, sagte sie schließlich.

»Nein«, versetzte der Fürst, »nein, ich liebe sie nicht. Oh, wenn Sie wüßten, mit welchem Entsetzen ich an jene Zeit zurückdenke, die ich mit ihr verlebte!«

Ein Schauder überlief bei diesen Worten seinen Körper.

»Erzählen Sie mir alles!« sagte Aglaja.

»Es gibt nichts, was Sie nicht hören könnten. Warum ich den Wunsch hegte, gerade Ihnen all dies zu erzählen und nur Ihnen, das weiß ich nicht; vielleicht weil ich Sie tatsächlich sehr liebte. Diese unglückliche Frau ist fest überzeugt, daß sie das am tiefsten gesunkene, lasterhafteste Wesen der ganzen Welt ist. Oh, sagen Sie nicht Schlechtes von ihr, werfen Sie keinen Stein auf sie! Sie hat sich schon selbst mit dem Bewußtsein ihrer unverdienten Schande nur zu sehr gequält! Und was trifft sie denn für eine Schuld, o mein Gott? Oh, alle Augenblicke ruft sie wie rasend, sie bekenne sich nicht schuldig, sie sei das Opfer andrer Leute, das Opfer eines Wüstlings und Bösewichts, aber obgleich sie so redet, ist sie doch die erste, die das nicht glaubt, und ist vielmehr in tiefster Seele davon überzeugt, daß sie selbst daran schuld sei. Sobald ich versuchte, diese düstere Auffassung zu bekämpfen, stieg ihre Seelenpein dermaßen, daß mein Herz, solange ich an diese schreckliche Zeit zurückdenken werde, nie wieder recht fröhlich sein wird. Es ist mir, als wäre mein Herz durchbohrt worden und hörte nicht auf zu bluten. Sie lief von mir weg; wissen Sie, warum? In Wirklichkeit nur, um mir zu beweisen, daß sie ein gemeines Weib sei. Aber das schrecklichste ist, daß sie vielleicht selbst nicht wußte, daß sie mir nur das beweisen wollte, und sie lief weg, weil sie sich innerlich getrieben fühlte, eine schändliche Handlung zu begehen, um sich dann sagen zu können: ›Siehst du, du hast eine neue Schandtat begangen, also bist du ein gemeines Geschöpf!‹ Oh, vielleicht verstehen Sie das nicht, Aglaja! Wissen Sie wohl, daß in diesem steten Bewußtsein der Schande für sie vielleicht ein schrecklicher, unnatürlicher Genuß liegt, eine Art von Rache, die sie an jemand nimmt? Mitunter brachte ich sie dahin, daß sie wieder Licht um sich zu sehen glaubte; aber sofort empörte sie sich wieder, und das ging so weit, daß sie mich voll Bitterkeit beschuldigte, ich stellte mich hoch über sie (obgleich mir das nie in den Sinn gekommen war), und mir schließlich, als ich ihr die Ehe anbot, geradezu erklärte, sie verlange von niemand ein hochmütiges Mitleid oder irgendwelche Hilfe oder daß man sie ›zu sich emporhebe‹. Sie haben sie gestern gesehen; glauben Sie wirklich, daß sie sich in dieser Gesellschaft glücklich fühlt, daß sie in diesen Kreis hineinpaßt? Sie wissen nicht, wie hochgebildet sie ist und was sie alles begreifen kann! Sie hat mich manchmal geradezu in Erstaunen versetzt!«

»Haben Sie ihr dort auch solche… Predigten gehalten?«

»O nein«, fuhr der Fürst nachdenklich fort, ohne den Ton der Frage zu beachten, »ich habe fast immer geschwiegen. Ich wollte oft reden, aber ich wußte manchmal wirklich nicht, was ich sagen sollte. Wissen Sie, in manchen Fällen ist es das beste, wenn man gar nichts sagt. Oh, ich liebte sie, ich liebte sie sehr… aber dann… dann… dann hat sie alles erraten.«

»Was hat sie erraten?«

»Daß ich nur Mitleid mit ihr habe und daß ich… sie nicht mehr liebe.«

»Woher wissen Sie, ob sie sich nicht wirklich in jenen… Gutsbesitzer verliebt hatte, mit dem sie davonging?«

»Nein, das war nicht der Fall, ich weiß alles; sie machte sich nur über ihn lustig.«

»Und über Sie hat sie sich niemals lustig gemacht?«

»N-nein. Sie hat vor Ärger über mich gelacht; oh, sie hat mir damals im Zorn schreckliche Vorwürfe gemacht – und hat selbst furchtbar dabei gelitten! Aber… dann… oh, erinnern Sie mich nicht daran, erinnern Sie mich nicht daran!«

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Wissen Sie, daß sie fast täglich an mich Briefe schreibt?«

»Also ist das wahr!« rief der Fürst in starker Erregung. »Ich habe es gehört, wollte es aber immer noch nicht glauben.«

»Von wem haben Sie es gehört?« fragte Aglaja, erschrocken zusammenfahrend.

»Rogoshin sagte es mir gestern, nur nicht sehr deutlich.« »Gestern? Gestern morgen? Wann gestern? Vor dem Konzert oder nachher?«

»Nachher, am Abend, kurz vor Mitternacht.«

»Ah so! Nun, wenn es Rogoshin war… Aber wissen Sie, was sie mir in diesen Briefen schreibt?«

»Ich werde mich über nichts wundern; sie ist geisteskrank.«

»Da sind die Briefe.« (Aglaja zog drei in Kuverts steckende Briefe aus der Tasche und warf sie vor den Fürsten hin.) »Schon eine ganze Woche lang redet sie mir zu, bittet und beschwört mich, ich möchte Sie heiraten. Sie … nun ja, sie ist klug, obwohl sie geisteskrank ist, und Sie sagen ganz richtig, daß sie viel klüger ist als ich … sie schreibt mir, sie habe sich in mich verliebt, sie suche täglich eine Gelegenheit, mich zu sehen, wenn auch nur von weitem. Sie schreibt mir, Sie liebten mich, sie wisse das, sie habe es längst bemerkt, und Sie hätten mit ihr dort von mir gesprochen. Sie will Sie glücklich sehen; sie ist überzeugt, daß nur ich Sie glücklich machen kann… Sie schreibt so wild … so sonderbar … Ich habe die Briefe niemandem gezeigt, ich habe auf Sie gewartet; wissen Sie vielleicht, was das alles zu bedeuten hat? Erraten Sie nichts?«

»Das ist Irrsinn, ein Beweis ihrer Geisteskrankheit«, sagte der Fürst, und seine Lippen bebten.

»Sie weinen doch nicht?«

»Nein, Aglaja, nein, ich weine nicht«, erwiderte der Fürst, sie anblickend.

»Was soll ich denn tun? Wozu raten Sie mir? Ich darf doch solche Briefe nicht länger annehmen!«

»Oh, unternehmen Sie nichts gegen diese Frau, ich flehe Sie an!« rief der Fürst. »Was haben Sie mit dieser geistigen Dunkelheit zu tun; ich werde alles aufbieten, damit sie nicht mehr an Sie schreibt.«

»Wenn es so steht, dann sind Sie ein herzloser Mensch!« rief Aglaja. »Sehen Sie denn nicht, daß sie nicht in mich verliebt ist, sondern daß sie Sie liebt, einzig und allein Sie? Haben Sie wirklich alle Empfindungen ihrer Seele erkennen können, aber dieses Gefühl nicht bemerkt? Wissen Sie, was hier vorliegt, was diese Briefe bedeuten? Das ist Eifersucht, das ist mehr als Eifersucht! Diese Frau… glauben Sie etwa, daß sie wirklich Rogoshin heiraten wird, wie sie hier in den Briefen schreibt? Wenn wir uns trauen lassen, wird sie sich am nächsten Tag das Leben nehmen!«

Der Fürst fuhr zusammen; das Herz wollte ihm stillstehen. Aber er blickte Aglaja erstaunt an: es war für ihn eine sonderbare Empfindung, zu erkennen, daß dieses Kind schon längst eine Frau geworden war.

»Gott weiß es, Aglaja, daß ich mein Leben opfern würde, um ihr die Ruhe der Seele wiederzugeben und sie glücklich zu machen, aber… ich kann sie nicht mehr lieben, und sie weiß das!«

»So bringen Sie sich zum Opfer, das steht Ihnen doch so gut! Sie sind ja ein so großer Wohltäter. Und sagen Sie nicht ›Aglaja‹ zu mir… Sie haben auch vorhin schon einfach ›Aglaja‹ zu mir gesagt… Sie müssen ihr zu einem neuen Leben verhelfen. Sie sind dazu verpflichtet; Sie müssen mit ihr wieder fortreisen, um ihrem Herzen Frieden und Ruhe wiederzugeben. Und Sie lieben sie ja auch!«

»Ich konnte mich nicht in dieser Weise zum Opfer bringen, obgleich ich es einmal gewollt habe und… vielleicht auch jetzt möchte. Aber ich weiß bestimmt, daß sie mit mir zugrunde gehen würde, und deshalb verlasse ich sie. Ich sollte heute um sieben Uhr zu ihr kommen, aber ich werde jetzt vielleicht nicht hingehen. In ihrem Stolz würde sie mir meine Liebe nie verzeihen, und wir würden beide zugrunde gehen! Das ist unnatürlich, aber hier ist eben alles unnatürlich. Sie sagen, daß sie mich liebt, aber ist denn das wirklich Liebe? Kann man denn, wenn man bedenkt, was ich schon gelitten habe, das für wahre Liebe halten? Nein, das ist etwas anderes, aber nicht Liebe!«

»Wie blaß Sie geworden sind!« rief Aglaja erschrocken.

»Das macht nichts, ich habe wenig geschlafen; ich bin etwas schwach geworden, ich… Wir haben damals in der Tat von Ihnen gesprochen, Aglaja…«

»Also ist das wahr? Sie haben es wirklich fertiggebracht, mit ihr über mich zu sprechen? Und… und wie war es nur möglich, daß Sie mich liebgewonnen haben, da Sie mich doch nur ein einziges Mal gesehen hatten?«

»Ich weiß nicht, wie es hat geschehen können. In meinem damaligen verdüsterten Seelenzustand träumte ich, ahnte ich vielleicht von einer neuen Morgenröte. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß Sie die erste waren, auf die sich meine Gedanken richteten. Wenn ich Ihnen damals schrieb, ich wisse nicht, wie es zugegangen sei, so war das die Wahrheit. All das war nur ein Traum, der mir infolge meines damaligen Angstzustandes kam… Ich habe dann angefangen, mich zu beschäftigen, und wäre drei Jahre lang nicht wieder hergereist…«

»Also sind Sie um ihretwillen hergereist?«

Aglajas Stimme hatte einen zitternden Klang.

»Ja, um ihretwillen.«

Es vergingen etwa zwei Minuten in finsterem Schweigen von beiden Seiten. Aglaja stand von der Bank auf.

»Wenn Sie sagen«, begann sie mit unsicherer Stimme, »wenn Sie selbst glauben, daß diese… daß diese Frau… irrsinnig ist, dann gehen mich ihre irrsinnigen Phantasien nichts an. .. Ich bitte Sie, Lew Nikolajitsch, diese drei Briefe an sich zu nehmen und sie ihr in meinem Namen wieder zuzustellen! Und sagen Sie ihr«, rief Aglaja plötzlich mit erhobener Stimme, »wenn sie sich erdreisten sollte, mir noch einmal auch nur eine Zeile zu schicken, so würde ich mich bei meinem Vater beschweren, und sie würde in eine Besserungsanstalt gebracht werden …«

Der Fürst sprang auf und sah Aglaja, ganz erschrocken über ihre plötzliche Wut, an, und auf einmal schien sich vor seinen Augen ein Nebel zu zerteilen…

»Sie können nicht so fühlen… das ist nicht wahr!« murmelte er.

»Es ist doch wahr! Es ist doch wahr!« schrie Aglaja fast außer sich.

»Was ist wahr? Was soll wahr sein?« ertönte neben ihnen eine ängstliche Stimme.

Vor ihnen stand Lisaweta Prokofjewna.

»Es ist wahr, daß ich Gawrila Ardalionowitsch heiraten werde! Daß ich Gawrila Ardalionowitsch liebe und mit ihm gleich morgen davonlaufen werde!« rief Aglaja ihr heftig zu. »Haben Sie es gehört? Ist Ihre Neugier nun befriedigt? Sind Sie damit einverstanden?«

Und sie lief nach Hause.

Lisaweta Prokofjewna hielt den Fürsten zurück. »Nein, Väterchen«, sagte sie, »geh jetzt nicht weg, tu mir den Gefallen und komm zu mir nach Hause, um mir Aufklärung zu geben!… Was ist das nur wieder für eine neue Qual! Ich habe auch so schon die ganze Nacht nicht geschlafen.«

Der Fürst folgte ihr.

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Kapitel 37

IX

Als Lisaweta Prokofjewna in ihre Wohnung kam, blieb sie gleich im ersten Zimmer; sie war außerstande weiterzugehen und ließ sich ganz kraftlos auf eine Chaiselongue niedersinken, wobei sie sogar vergaß, den Fürsten zum Platznehmen aufzufordern. Es war dies ein ziemlich großer Saal mit einem runden Tisch in der Mitte, einem Kamin, einer Menge Blumen auf Gestellen an den Fenstern, und in der Hinterwand mit einer zweiten Glastür, die nach dem Garten führte. Sogleich kamen Adelaida und Alexandra herein und blickten den Fürsten und ihre Mutter fragend und erstaunt an.

Die jungen Mädchen standen in der Sommerfrische gewöhnlich gegen neun Uhr auf; nur Aglaja hatte es sich in den letzten zwei, drei Tagen angewöhnt, etwas früher aufzustehen und im Garten spazierenzugehen, aber nicht um sieben Uhr, sondern um acht oder noch später. Lisaweta Prokofjewna, die in der Nacht wirklich vor allerlei Sorgen nicht geschlafen hatte, war gegen acht Uhr aufgestanden in der Absicht, Aglaja im Garten aufzusuchen, da sie annahm, daß diese bereits auf sei, hatte sie aber weder im Garten noch in ihrem Schlafzimmer gefunden. Da war sie unruhig geworden und hatte ihre Töchter geweckt. Von dem Dienstmädchen hatte sie dann erfahren, Aglaja Iwanowna sei schon vor sieben Uhr in den Park gegangen. Die jungen Mädchen hatten über die neue Laune ihres romantisch veranlagten Schwesterchens gelächelt und der Mama bemerkt, Aglaja werde es am Ende noch übelnehmen, wenn diese in den Park ginge, um sie zu suchen; sie sitze jetzt gewiß mit einem Buch auf der grünen Bank, von der sie noch vor drei Tagen gesprochen und um derentwillen sie sich beinah mit dem Fürsten Schtsch. gezankt habe, weil dieser an der Lage der Bank nichts Besonderes habe finden können. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und Aglaja beim Rendezvous angetroffen und die sonderbaren Worte der letzteren gehört hatte, war sie aus vielen Ursachen sehr erschrocken gewesen, aber als sie nun den Fürsten mit nach Hause genommen hatte, tat es ihr in einer Anwandlung von Feigheit leid, daß sie die Sache angefangen hatte; was war schon dabei, wenn Aglaja sich mit dem Fürsten im Park traf und sich mit ihm unterhielt, selbst wenn es ein vorher verabredetes Rendezvous war?

»Denken Sie nicht, Väterchen Fürst«, begann sie endlich, Mut fassend, »daß ich Sie hierhergeschleppt habe, um Sie einem Verhör zu unterwerfen … Nach dem gestrigen Abend hatte ich vielleicht überhaupt für lange Zeit nicht den Wunsch, mit Ihnen zusammenzukommen, mein Täubchen…«

Sie stockte ein wenig.

»Aber doch möchten Sie gern wissen, wie es zugegangen ist, daß ich jetzt mit Aglaja Iwanowna zusammen war?« sprach der Fürst ihren Gedanken sehr ruhig zu Ende.

»Nun ja, gewiß möchte ich das!« versetzte Lisaweta Prokofjewna auffahrend. »Ich fürchte mich nicht, offen zu reden, denn ich kränke niemand und beabsichtigte, niemand zu kränken…«

»Aber ich bitte Sie, von Kränkung kann ja nicht die Rede sein, es ist ja sehr natürlich, daß Sie als Mutter das zu erfahren wünschen. Ich habe mich heute morgen Punkt sieben Uhr mit Aglaja Iwanowna bei der grünen Bank getroffen, nachdem sie mich gestern dazu aufgefordert hatte. Sie ließ mich gestern abend durch ein Billett wissen, daß sie mit mir zusammenkommen und über eine wichtige Angelegenheit sprechen müsse. Wir haben uns getroffen und eine ganze Stunde über Dinge gesprochen, die ausschließlich Aglaja Iwanowna angehen. Das ist alles.«

»Natürlich, das wird alles sein, Väterchen, ohne allen Zweifel«, erwiderte Lisaweta Prokofjewna mit würdevoller Miene.

»Sehr gut, Fürst!« sagte Aglaja, die plötzlich ins Zimmer trat.. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür, daß Sie auch mich für außerstande gehalten haben, mich durch eine Lüge zu erniedrigen. Haben Sie nun genug gehört, maman, oder beabsichtigen Sie, das Verhör noch weiter fortzusetzen?«

»Du weißt, daß ich bisher noch nie vor dir habe zu erröten brauchen, obwohl du dich vielleicht darüber freuen würdest«, antwortete Lisaweta Prokofjewna tadelnd. »Leben Sie wohl, Fürst; verzeihen Sie, daß ich Ihnen Umstände gemacht habe! Ich hoffe, Sie sind nach wie vor von meiner unveränderten Hochachtung gegen Sie überzeugt.«

Der Fürst verbeugte sich sofort nach beiden Seiten und entfernte sich schweigend. Alexandra und Adelaida lächelten und flüsterten miteinander. Lisaweta Prokofjewna warf ihnen einen strengen Blick zu.

»Wir amüsieren uns nur darüber, maman«, sagte Adelaida lachend, »daß der Fürst so wundervolle Verbeugungen machte; manchmal ist er plump wie ein Sack und nun auf einmal so gewandt wie… wie Jewgenij Pawlytsch.«

»Zartgefühl und Würde lehrt uns das Herz und nicht der Tanzmeister«, versetzte Lisaweta Prokofjewna in Form einer allgemeinen Sentenz, beendete damit das Gespräch und ging in ihr Zimmer hinauf, ohne Aglaja auch nur anzusehen.

Als der Fürst in seine Wohnung zurückkehrte – es war schon gegen neun Uhr –, fand er in der Veranda Wera Lukjanowna und das Dienstmädchen vor. Beide räumten zusammen auf und fegten nach der gestrigen Unordnung aus.

»Gott sei Dank! Wir sind noch gerade vor Ihrer Rückkehr fertig geworden!« sagte Wera erfreut.

»Guten Morgen; mir ist ein wenig schwindlig; ich habe schlecht geschlafen; ich möchte es jetzt noch ein bißchen nachholen.«

»Hier in der Veranda, wie gestern? Schön! Ich werde allen sagen, daß sie Sie nicht wecken sollen. Papa ist weggegangen.«

Das Dienstmädchen ging hinaus; Wera war schon im Begriff, ihr zu folgen, wendete sich aber noch einmal um und trat mit besorgter Miene an den Fürsten heran.

»Fürst, haben Sie Mitleid mit diesem… mit diesem Unglücklichen; jagen Sie ihn nicht heute weg!«

»Um keinen Preis werde ich ihn wegjagen, er kann bleiben, solange er will.«

»Er wird jetzt nichts anrichten, und… seien Sie nicht zu streng zu ihm!«

»O nein! Warum sollte ich?«

»Und… lachen Sie ihn nicht aus, das ist das allerwichtigste.«

»Oh, durchaus nicht!«

»Ich bin dumm, daß ich einem Mann wie Ihnen das erst noch sage«, sagte Wera errötend. »Aber obwohl Sie müde sind«, fügte sie lachend hinzu, indem sie sich halb umwandte, um fortzugehen, »haben Sie doch in diesem Augenblick so prächtige Augen… so glückliche Augen.«

»Wirklich glückliche?« fragte der Fürst lebhaft und lachte fröhlich auf.

Aber Wera, die sonst natürlich und ungeniert wie ein Knabe war, wurde auf einmal verlegen, errötete noch stärker und ging, immer noch lachend, schnell hinaus.

›Was für ein prächtiges Mädchen…‹, dachte der Fürst, vergaß sie aber im nächsten Augenblick wieder. Er ging in eine Ecke der Veranda, wo eine Chaiselongue mit einem Tischchen davor stand, setzte sich hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß so etwa zehn Minuten lang; dann fuhr er auf einmal eilig und unruhig mit der Hand in die Seitentasche und zog die drei Briefe heraus.

Aber die Tür öffnete sich von neuem, und Kolja kam herein.

Der Fürst freute sich ordentlich, daß er die Briefe wieder in die Tasche stecken und den Augenblick verschieben konnte.

»Na, das war heute nacht eine tolle Geschichte!« sagte Kolja, indem er sich auf die Chaiselongue setzte und wie alle Menschen seines Schlages ohne weiteres zur Sache kam. »Was haben Sie jetzt für ein Urteil über Ippolit? Versagen Sie ihm Ihre Achtung?«

»Warum sollte ich das tun?… Aber Kolja, ich bin müde… Außerdem ist es gar zu traurig, davon wieder anzufangen… Aber was macht er jetzt?«

»Er schläft und wird noch zwei Stunden schlafen. Ich verstehe: Sie haben zu Hause nicht geschlafen, sondern sind im Park umhergewandert… natürlich, die Aufregung … wie wäre es auch anders möglich?«

»Woher wissen Sie, daß ich im Park umhergewandert bin und nicht zu Hause geschlafen habe?«

»Wera hat es mir eben gesagt. Sie sagte, ich sollte jetzt nicht zu Ihnen hereingehen; aber ich hielt es nicht aus, nur auf ein Augenblickchen. Ich habe die letzten zwei Stunden am Bett Wache gehalten, jetzt hat mich Kostja Lebedew abgelöst. Burdowskij ist weggegangen. Also legen Sie sich nur hin, Fürst! Gute Nacht… na, oder guten Tag! Aber wissen Sie, ich bin doch sehr ergriffen!«

»Gewiß … all das …«

»Nein, Fürst, nein, was mich so ergriffen hat, war die ›Beichte‹. Namentlich die Stelle, wo er von der Vorsehung und vom zukünftigen Leben sprach. Das war ein gi – gantischer Gedanke!«

Der Fürst sah Kolja freundlich an, der natürlich nur gekommen war, um möglichst bald über den gigantischen Gedanken sprechen zu können.

»Aber die Hauptsache, die Hauptsache ist nicht der Gedanke selbst, sondern daß er unter solchen Umständen geäußert wurde! Hätte das Voltaire oder Rousseau oder Proudhon geschrieben, so würde ich es gelesen und mir eingeprägt haben, aber es hätte mir nicht in dem Grade imponiert. Aber wenn ein Mensch, der bestimmt weiß, daß er nur noch zehn Minuten zu leben hat, wenn ein solcher Mensch so redet, das ist doch großartig! Das ist doch die höchste Unabhängigkeit der eigenen Würde, das stellt doch eine direkte Herausforderung dar… Nein, das ist eine gigantische Geisteskraft! Und dann zu behaupten, er hätte es absichtlich unterlassen, ein Zündhütchen aufzusetzen, das ist eine Gemeinheit, eine Absurdität! Aber wissen Sie, er hat gestern eine listige Täuschung begangen: ich habe nie mit ihm seinen Koffer gepackt und die Pistole nie gesehen; er hat alles selbst gepackt, so daß ich bei seiner Behauptung zunächst ganz verblüfft war. Wera sagt, Sie würden ihn hierbehalten; ich verbürge mich dafür, daß keinerlei Gefahr droht, um so weniger, als wir alle unausgesetzt bei ihm Wache halten.«

»Wer von Ihnen ist denn in der Nacht bei ihm gewesen?«

»Ich, Kostja Lebedew und Burdowskij. Keller war eine Weile da und ist dann zu Lebedew gegangen, um bei dem zu schlafen, weil bei uns nichts war, worauf er hätte liegen können. Ferdyschtschenko hat ebenfalls bei Lebedew geschlafen und ist um sieben Uhr weggegangen. Der General ist ständig bei Lebedew, jetzt ist er ebenfalls weggegangen… Lebedew wird vielleicht gleich zu Ihnen kommen; er suchte Sie, ich weiß nicht weswegen, und hat schon zweimal nach Ihnen gefragt. Sollen wir ihn hereinlassen oder nicht, wenn Sie sich jetzt schlafen legen wollen? Ich will mich auch hinlegen und schlafen. Ach ja, etwas wollte ich Ihnen noch erzählen: ich habe mich vorhin über den General gewundert. Burdowskij weckte mich zwischen sechs und sieben oder genauer kurz nach sechs, damit ich die Wache übernahm. Ich ging für einen Augenblick hinaus und stieß plötzlich auf den General, der noch so betrunken war, daß er mich nicht erkannte; er stand wie ein Holzpfahl vor mir. Als er seine Gedanken einigermaßen gesammelt hatte, fuhr er ordentlich auf mich los mit der Frage: ›Was macht der Kranke? Ich bin hergekommen, um mich nach dem Kranken zu erkundigen…‹ Ich berichtete ihm. ›Das ist ja schön‹, sagte er, ›aber ich bin hauptsächlich gekommen und deswegen auch aufgestanden, um dich zu warnen; ich habe Grund zu der Vermutung, daß man in Herrn Ferdyschtschenkos Gegenwart nicht alles sagen darf und… sich vor ihm hüten muß.‹ Verstehen Sie das, Fürst?«

»Eigentümlich, übrigens… kann es uns ja ganz gleichgültig sein.«

»Ja, zweifellos kann es uns ganz gleichgültig sein, wir sind ja keine Freimaurer! Aber ich habe mich sehr darüber gewundert, daß der General ausgerechnet deswegen in der Nacht hinkam und mich wecken wollte.«

»Sie sagen, Ferdyschtschenko ist weggegangen?«

»Ja, um sieben Uhr; er kam noch für einen Augenblick zu mir; ich hatte Wache. Er sagte, er wolle zu Wilkin gehen und bei dem weiterschlafen; das ist ein arger Trunkenbold, dieser Wilkin. Na, nun will ich gehen! Da kommt auch Lukjan Timofejitsch… Der Fürst will schlafen, Lukjan Timofejitsch; also kehrt marsch!«

»Nur auf eine Minute, hochverehrter Fürst, in einer meiner Ansicht nach wichtigen Angelegenheit«, sagte der eintretende Lebedew halblaut in ernstem Ton und verbeugte sich würdevoll. Er war eben erst zurückgekehrt und noch nicht einmal in seine Wohnung gegangen, so daß er den Hut noch in der Hand hielt. Sein Gesicht war sorgenvoll und trug einen besonderen, ungewöhnlichen Ausdruck von selbstbewußter Würde. Der Fürst forderte ihn auf, Platz zu nehmen.

»Sie haben schon zweimal nach mir gefragt? Sie beunruhigen sich vielleicht immer noch wegen des gestrigen…«

»Sie meinen wegen dieses Jungen von gestern, Fürst? O nein, nein; gestern waren mir meine Gedanken in Unordnung geraten… aber heute habe ich nicht mehr vor, Ihre Anordnungen irgendwie zu konterkarieren.«

»Konterka… Wie sagten Sie?«

»Ich sagte: konterkarieren; ein französisches Wort, wie viele andere, das in den russischen Sprachschatz aufgenommen worden ist; aber ich will es nicht sonderlich verteidigen.«

»Sie benehmen sich ja heute so würdevoll und feierlich, Lebedew, und reden so bedächtig«, sagte der Fürst lächelnd.

»Nikolai Ardalionowitsch!« wandte sich Lebedew an Kolja in einem Ton, der beinah gerührt klang, »ich habe dem Fürsten eine besondere Sache mitzuteilen: sie betrifft eigentlich…«

»Nun ja, selbstverständlich, selbstverständlich, was geht es mich an? Auf Wiedersehen, Fürst!« sagte Kolja und entfernte sich sogleich.

»Ich habe den Knaben wegen seiner schnellen Auffassungsgabe gern«, bemerkte Lebedew, indem er ihm nachsah. »Ein gewandter Junge, nur etwas zudringlich. Es ist mir ein außerordentliches Unglück widerfahren, hochgeehrter Fürst: gestern abend oder heute frühmorgens … ich bin noch nicht imstande, die Zeit genau anzugeben.«

»Was ist denn geschehen?«

»Es sind mir vierhundert Rubel aus der Seitentasche abhanden gekommen, hochgeehrter Fürst, eine nette Geschichte!« fügte Lebedew mit einem sauren Lächeln hinzu.

»Sie haben vierhundert Rubel verloren? Das ist sehr bedauerlich.«

»Und besonders, wo es einen armen Menschen betroffen hat, der ehrenhaft von seiner Arbeit lebt.«

»Gewiß, gewiß, aber wie ist denn das zugegangen?«

»Es ist eine Folge des Weingenusses. Ich wende mich an Sie wie an die Vorsehung, hochgeehrter Fürst. Ich empfing gestern um fünf Uhr nachmittags eine Summe von vierhundert Rubeln von einem Schuldner und kehrte mit dem Zug hierher zurück. Die Brieftasche mit dem Geld hatte ich in der Tasche. Als ich die Uniform mit einem Zivilrock vertauschte, steckte ich das Geld in den Zivilrock, da ich es am Leib behalten wollte, weil ich damit rechnete, daß ich es noch am selben Abend einer an mich gerichteten Bitte zufolge würde auszuzahlen haben… ich erwartete den Bevollmächtigten.«

»Übrigens, Lukjan Timofejitsch, ist das wahr, daß Sie in den Zeitungen annoncieren, Sie gäben Geld gegen Verpfändung von Gold- und Silbersachen?«

»Durch eine Vertrauensperson, mein eigener Name wird dabei nicht genannt, auch meine Adresse nicht angegeben. Da ich nur ein geringfügiges Kapital besitze und auf das Heranwachsen meiner Familie Rücksicht nehmen muß, so werden Sie selbst zugeben müssen, daß ein ehrlicher Prozentsatz…«

»Nun ja, nun ja, ich wollte mich ja auch nur danach erkundigen; entschuldigen Sie die Unterbrechung.«

»Der Bevollmächtigte erschien nicht. Unterdessen wurde dieser Unglückliche hergebracht; ich befand mich schon nach dem Mittagessen in animierter Stimmung; nun kamen diese Gäste, wir tranken… Tee, und… ich war dann zu meinem Verderben etwas angeheitert. Dann – es war schon spät geworden – kam dieser Keller und brachte die Nachricht von Ihrem Geburtstag und von Ihrer Anordnung in betreff des Champagners; da ich nun, teurer und hochgeehrter Fürst, ein Herz besitze (was Sie gewiß schon bemerkt haben, denn ich verdiene es), da ich ein Herz besitze, ich will nicht sagen ein empfindsames, aber ein dankbares, worauf ich stolz bin, so kam ich zur größeren Feierlichkeit des vorbereiteten Zusammenseins und in der Erwartung, daß ich Ihnen meine Glückwünsche würde persönlich aussprechen dürfen, auf den Einfall, meinen alten Hausrock wieder mit der Uniform zu vertauschen, die ich bei meiner Heimkehr abgelegt hatte; dies tat ich denn auch, wie Sie, Fürst, wahrscheinlich bemerkt haben, da Sie mich den ganzen Abend über in Uniform gesehen haben. Bei diesem Kleiderwechsel vergaß ich in dem Zivilrock die Brieftasche… Es ist eine alte Wahrheit: wen Gott bestrafen will, dem nimmt er zuerst den Verstand. Und erst heute, als ich aufwachte – es war schon halb acht – , sprang ich wie halbverrückt auf und griff zuallererst nach dem Zivilrock: die Tasche war leer! Die Brieftasche war spurlos verschwunden!«

»Oh, das ist unangenehm!«

»Ja, wirklich unangenehm, und Sie haben mit richtigem Taktgefühl sofort den treffenden Ausdruck gefunden«, bemerkte Lebedew nicht ohne eine gewisse Tücke.

»Gewiß ist es unangenehm, aber…«, sagte der Fürst, der ein wenig nachgedacht hatte und nun in Aufregung geriet, »die Sache hat doch ihre ernste Seite.«

»Ja, sie hat wirklich ihre ernste Seite; da haben Sie wieder einen sehr passenden Ausdruck gefunden, Fürst, zur Bezeichnung …«

»Ach, hören Sie doch auf, Lukjan Timofejitsch, was soll denn das? Die Ausdrücke sind hierbei nicht von Wichtigkeit… Halten Sie es für möglich, daß Sie die Brieftasche im Zustand der Trunkenheit aus der Tasche verloren haben?«

»Möglich ist es, im Zustand der Trunkenheit, wie Sie sich mit aller Offenheit ausgedrückt haben, ist alles möglich, hochgeehrter Fürst! Aber ich bitte Sie, folgendes zu erwägen: wenn ich die Brieftasche beim Rockwechsel hätte aus der Tasche fallen lassen, so müßte der herausgefallene Gegenstand dort auf dem Fußboden liegen. Wo aber ist dieser Gegenstand?«

»Haben Sie die Brieftasche nicht vielleicht in die Kommode oder in einen Tischkasten gelegt?«

»Ich habe alles durchsucht, alles durchwühlt, obgleich ich mich genau erinnere, sie nirgends verwahrt und kein Schubfach geöffnet zu haben.«

»Haben Sie im Schränkchen nachgesehen?«

»Gleich zuerst und sogar mehrere Male… Aber wie hätte ich auch dazu kommen sollen, sie in das Schränkchen zu legen, aufrichtig verehrter Fürst?«

»Ich muß bekennen, Lebedew, daß mich die Sache aufregt. Also muß es jemand auf dem Fußboden gefunden haben?«

»Oder aus der Tasche entwendet! Das sind die zwei Alternativen.«

»Die Sache regt mich sehr auf, denn wer könnte eigentlich… Das ist die Frage!«

»Ohne allen Zweifel ist das die Hauptfrage! Sie finden mit bewundernswerter Sicherheit die richtigen Gedanken und Ausdrücke und präzisieren die Situation vortrefflich, durchlauchtigster Fürst.« »Ach, Lukjan Timofejitsch, lassen Sie doch die Spöttereien, hier…«

»Spöttereien!« rief Lebedew und schlug die Hände zusammen.

»Nun, nun, schon gut, ich bin nicht weiter böse, aber hier handelt es sich um etwas ganz anderes… Ich fürchte für die Menschen. Wen haben Sie denn im Verdacht?«

»Das ist eine schwierige und… sehr verwickelte Frage! Das Dienstmädchen kann ich nicht im Verdacht haben, die hat sich die ganze Zeit über in ihrer Küche aufgehalten. Meine eigenen Kinder ebenfalls nicht…«

»Nun, allerdings!«

»Also müßte es einer der Gäste gewesen sein.«

»Aber ist das möglich?«

»Das ist völlig unmöglich, ganz und gar unmöglich, aber es muß doch unter allen Umständen der Fall sein. Ich will jedoch zugeben und bin sogar davon überzeugt, daß, wenn ein Diebstahl stattgefunden hat, er nicht am Abend ausgeführt wurde, als alle zusammen waren, sondern erst in der Nacht oder gar erst gegen Morgen, von einem der hier Übernachtenden.«

»Ach, mein Gott!«

»Burdowskij und Nikolai Ardalionowitsch nehme ich natürlich aus, die sind überhaupt nicht zu mir hereingekommen.«

»Allerdings! Und selbst wenn sie hereingekommen wären! Wer hat bei Ihnen übernachtet?«

»Mich mitgezählt, waren wir vier Personen, die in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern übernachteten: ich, der General, Keller und Herr Ferdyschtschenko. Also muß es einer von uns vieren gewesen sein!«

»Das heißt, einer von den dreien, aber wer?«

»Um der Gerechtigkeit und Ordnung willen habe ich auch mich selbst mitgezählt, aber Sie werden zugeben müssen, Fürst, daß ich mich wohl nicht gut selbst bestehlen konnte, obgleich solche Fälle allerdings in der Welt schon vorgekommen sind…«

»Ach, Lebedew, wie langweilig das ist!« rief der Fürst ungeduldig. »Kommen Sie doch zur Sache und ziehen Sie die Vorreden nicht in die Länge…«

»Es bleiben also drei Personen übrig. Da ist erstens Herr Keller, ein Mensch ohne festen Wohnsitz, ein Trunkenbold, und in manchen Dingen ein Liberaler, das heißt, wo es darauf ankommt, aus anderer Leute Tasche zu leben, im übrigen aber sind seine Neigungen sozusagen mehr altritterlich als liberal. Er übernachtete anfangs im Zimmer des Kranken und kam erst in der Nacht zu uns herüber, mit der Begründung, es sei ihm nicht möglich, auf dem harten Fußboden zu schlafen.«

»Haben Sie ihn im Verdacht?«

»Ich hatte ihn allerdings im Verdacht. Als ich zwischen sieben und acht Uhr morgens wie ein Halbverrückter aufsprang und mich vor die Stirn schlug, da weckte ich sogleich den General, der den Schlaf der Unschuld schlief. Nachdem wir über Ferdyschtschenkos sonderbares Verschwinden unsere Betrachtungen angestellt hatten, ein Umstand, der schon an und für sich unsern Verdacht erweckte, entschlossen wir beide uns sofort, Keller zu visitieren, der wie… wie… beinah wie ein Holzklotz dalag. Wir visitierten ihn vollständig: in den Taschen fand sich kein Groschen, und nicht eine einzige Tasche war ohne Löcher. Der Inhalt war: ein baumwollenes, blaukariertes Taschentuch in unanständigem Zustand; ferner ein Liebesbrief von einem Stubenmädchen, enthaltend Geldforderungen und Drohungen, und Fetzen des Ihnen bekannten Feuilletons. Der General gab sein Urteil dahin ab, daß Keller unschuldig sei. Zum Zweck völliger Vergewisserung weckten wir ihn selbst, was uns nur mit Mühe durch viele Püffe gelang; er begriff nur schwer, um was es sich handelte, und sperrte erstaunt den Mund auf. Das betrunkene Aussehen, der alberne, unschuldige, ja dumme Gesichtsausdruck – er war es nicht gewesen!«

»Nun, da freue ich mich!« rief der Fürst, freudig aufatmend. »Ich hatte schon für ihn gefürchtet!«

»Gefürchtet? Also hatten Sie schon einen Grund dazu?« fragte Lebedew, die Augen zusammenkneifend.

»O nein, ich sagte das nur so hin!« erwiderte der Fürst hastig. »Ich habe mich furchtbar dumm ausgedrückt, wenn ich sagte, ich hätte für ihn gefürchtet. Tun Sie mir den Gefallen, Lebedew, und sagen Sie das niemandem weiter…«

»Aber Fürst, Fürst! Ihre Worte ruhen in meinem Herzen… in der Tiefe meines Herzens… wie in einem Grab!« rief Lebedew pathetisch und drückte den Hut gegen sein Herz.

»Schon gut, schon gut!… Also dann war es Ferdyschtschenko? Das heißt, ich meine, Sie haben Ferdyschtschenko im Verdacht?«

»Wen sonst?« sagte Lebedew leise, indem er den Fürsten scharf ansah.

»Nun ja, selbstverständlich … wen denn sonst… das heißt, was haben Sie für Beweise?«

»Beweise habe ich schon. Erstens das Verschwinden um sieben Uhr oder sogar noch vor sieben Uhr morgens.«

»Ich weiß, Kolja hat mir gesagt, daß er zu ihm gekommen sei und gesagt habe, er gehe weg, um den Rest der Nacht bei… bei… seinem Freund zuzubringen, ich habe den Namen vergessen.«

»Wilkin heißt er. Also Nikolai Ardalionowitsch hat Ihnen das bereits gesagt?«

»Von dem Diebstahl hat er mir nichts gesagt.«

»Davon weiß er auch noch nichts, denn ich habe die Sache bis jetzt geheimgehalten. Also er ist zu Wilkin gegangen; man könnte nun meinen: was ist denn Besonderes dabei, daß ein Trunkenbold zu einem ebensolchen Trunkenbold geht, wenn es auch am frühen Morgen und ohne allen Anlaß geschieht? Aber hier kann man doch eine Spur entdecken: er hat beim Weggehen seine Adresse zurückgelassen… Achten Sie jetzt wohl auf diese Frage, Fürst: warum hat er seine Adresse zurückgelassen?… Warum kommt er ausgerechnet zu Nikolai Ardalionowitsch, wozu er einen Umweg machen muß, und teilt ihm mit: ›Ich gehe, um den Rest der Nacht bei Wilkin zuzubringen‹? Wer kann sich denn dafür interessieren, daß er weggeht und daß er gerade zu Wilkin geht? Was hat es für einen Zweck, das hier mitzuteilen? Nein, das ist Schlauheit, die Schlauheit eines Diebes! Das bedeutet: ›Seht ihr wohl? Ich verberge meine Spuren absichtlich nicht, wie kann ich denn dann ein Dieb sein? Würde etwa ein Dieb Mitteilung davon machen, wohin er geht?‹ Er sucht da mit besonderer Sorgfalt den Verdacht von sich abzulenken und sozusagen seine Spuren im Sand zu verwischen… Haben Sie mich auch verstanden, hochgeehrter Fürst?«

»Verstanden habe ich Sie, sehr gut habe ich Sie verstanden, aber das reicht doch noch nicht aus.«

»Zweiter Beweis: die Spur erweist sich als gefälscht, und die angegebene Adresse stimmt nicht. Eine Stunde darauf, das heißt um acht Uhr, klopfte ich schon bei Wilkin; er wohnt da in der Fünften Straße, und ich bin sogar mit ihm bekannt. Aber da war kein Ferdyschtschenko vorhanden. Zwar erfuhr ich von dem sehr schwerhörigen Dienstmädchen, daß vor einer Stunde tatsächlich jemand geläutet habe, und zwar so stark, daß der Klingelzug abgerissen sei. Aber das Mädchen hatte nicht geöffnet, da sie Herrn Wilkin nicht hatte wecken mögen und vielleicht auch selbst keine Lust gehabt hatte aufzustehen. Das kommt schon vor.

»Und das sind all Ihre Beweise? Das ist wenig.«

»Aber Fürst, bedenken Sie: wen könnte man denn sonst noch in Verdacht haben?« erwiderte Lebedew in gerührtem Ton, und aus seinem Lächeln schaute eine gewisse Listigkeit heraus.

»Sie sollten noch einmal in allen Zimmern und Schubfächern nachsehen!« sagte der Fürst nach einigem Nachdenken mit sorgenvoller Miene.

»Das habe ich ja getan!« versetzte Lebedew mit noch größerer Rührung und seufzte dabei.

»Hm! … Warum mußten Sie auch den Zivilrock mit der Uniform vertauschen?« rief der Fürst und schlug ärgerlich auf den Tisch.

»Das ist eine Frage aus einem alten Lustspiel. Aber, großmütigster Fürst, Sie nehmen sich mein Unglück zu sehr zu Herzen! Ich bin so viele Teilnahme gar nicht wert. Das heißt, ich allein würde nicht wert sein, daß Sie sich so beunruhigen, aber Sie leiden ja auch um des Verbrechers willen… um dieses unbedeutenden Herrn Ferdyschtschenko willen!«

»Nun ja, ja, Sie haben mich wirklich in Unruhe versetzt«, unterbrach ihn der Fürst zerstreut und mißvergnügt. »Also was beabsichtigen Sie nun zu tun … wenn Sie so fest davon überzeugt sind, daß es Ferdyschtschenko gewesen ist?«

»Fürst, hochgeehrter Fürst, wer könnte es denn sonst gewesen sein?« wand sich Lebedew mit immer wachsender Rührung. »Das Fehlen eines andern, an den man denken könnte, und sozusagen die absolute Unmöglichkeit, jemand außer Herrn Ferdyschtschenko in Verdacht zu haben, das ist ja sozusagen noch ein Beweis gegen Herrn Ferdyschtschenko, schon der dritte Beweis! Denn ich frage noch einmal: wer könnte es sonst gewesen sein? Ich kann doch nicht Herrn Burdowskij verdächtigen, hehehe!«

»Was für ein Unsinn!«

»Oder schließlich den General, hehehe?«

»Was für dummes Zeug!« rief der Fürst, beinah zornig, und drehte sich ungeduldig auf seinem Platz hin und her.

»Natürlich ist das dummes Zeug! Hehehe! Dieser Mensch, ich wollte sagen der General, hat mich ordentlich zum Lachen gebracht! Ich ging mit ihm vorhin auf frischer Fährte zu Wilkin … ich muß Ihnen noch bemerken, daß der General noch mehr als ich selbst bestürzt war, als ich nach Entdeckung des Verlustes zuallererst ihn weckte, dermaßen bestürzt, daß er die Farbe wechselte und bald rot, bald blaß wurde und schließlich in eine so empörte, edle Aufregung geriet, wie ich sie in solchem Maße gar nicht von ihm erwartet hatte. Ein höchst edeldenkender Mensch! Fußboden geraten, so daß niemand sie habe bemerken können und sie nur durch diese Feuersbrunst wieder zutage gekommen sei. Alles die reine Lüge! Aber als er auf Nina Alexandrowna zu sprechen kam, da schluchzte er sogar. Nina Alexandrowna ist eine höchst edeldenkende Dame, obwohl sie auf mich böse ist.«

»Sind Sie mit ihr bekannt?«

»So gut wie gar nicht, aber ich würde es von ganzem Herzen wünschen, wenn auch nur, um mich vor ihr zu rechtfertigen. Nina Alexandrowna ist auf mich schlecht zu sprechen, weil sie meint, ich richte ihren Gatten durch Verführung zum Trinken zugrunde. Aber weit entfernt, ihn zu verführen, zähme ich vielmehr diese seine Leidenschaft; ich halte ihn vielleicht von verderblicherer Gesellschaft zurück. Zudem ist er mein Freund, und ich bekenne Ihnen, ich werde ihn jetzt nicht mehr verlassen, das heißt sogar im allereigentlichsten Sinn: wo er hingeht, da werde ich auch hingehen, weil man nur durch Einwirkung auf seine Gefühle etwas mit ihm anfangen kann. Jetzt besucht er sogar seine Hauptmannsfrau gar nicht mehr, obwohl es ihn im geheimen zu ihr hinzieht und er sogar manchmal nach ihr stöhnt, namentlich alle Morgen, wenn er aufsteht und sich die Stiefel anzieht, ich weiß nicht, warum gerade zu dieser Zeit. Geld besitzt er nicht, das ist das Unglück, und ohne Geld kann er sich bei dieser Frau nicht blicken lassen. Hat er Sie nicht um Geld gebeten, hochgeehrter Fürst?«

»Nein, das hat er nicht getan.«

»Er schämt sich. Er wollte es schon tun; er hat mir sogar gestanden, daß er Sie mit seiner Bitte belästigen wolle, aber er schämt sich, weil Sie ihm erst unlängst behilflich gewesen sind und er überdies glaubt, Sie würden ihm nichts geben. Er hat mir als seinem Freund sein Herz ausgeschüttet.«

»Und Sie geben ihm kein Geld?«

»Fürst! Hochgeehrter Fürst! Diesem Menschen würde ich nicht nur Geld geben, sondern ich würde für ihn sozusagen sogar mein Leben hingeben … übrigens nein, ich will nicht übertreiben, das Leben nicht, aber wenn es sich darum handelte, etwa ein Fieber oder ein Geschwür oder sogar einen Husten zu ertragen, so bin ich, weiß Gott, bereit, das zu tun, vorausgesetzt, daß es sehr nötig ist, denn ich halte ihn für einen bedeutenden, aber heruntergekommenen Menschen! So steht es; es handelt sich nicht nur um Geld!«

»Also Geld geben Sie ihm?«

»N-nein, Geld habe ich ihm nicht gegeben, und er weiß selbst, daß ich ihm keins geben werde, aber das geschieht einzig und allein, um ihn an Enthaltsamkeit zu gewöhnen und ihn zu bessern. Jetzt hat er sich an mich gehängt, um mit mir nach Petersburg zu fahren; ich fahre nämlich nach Petersburg, um Herrn Ferdyschtsdienko auf frischer Spur abzufassen, denn ich weiß sicher, daß er schon dort ist. Mein General kocht nur so vor Entrüstung, aber ich vermute, daß er sich in Petersburg von mir fortstehlen wird, um die Hauptmannsfrau zu besuchen. Ich gestehe, ich will ihn sogar absichtlich von mir weggehen lassen, und wir haben auch schon verabredet, uns gleich bei der Ankunft in Petersburg zu trennen und nach verschiedenen Seiten zu gehen, um Herrn Ferdyschtsdienko leichter zu fangen. In dieser Weise werde ich ihn also von mir weggehen lassen und ihn dann plötzlich wie ein Blitz aus heiterem Himmel bei der Hauptmannsfrau überraschen – eigentlich um ihn als Familienvater und, allgemein gesagt, als Menschen zu beschämen.«

»Führen Sie nur keinen Skandal herbei, Lebedew, um Gottes willen keinen Skandal!« sagte der Fürst halblaut in starker Unruhe.

»O nein, mein Zweck ist ja nur, ihn zu beschämen und zu sehen, was er für ein Gesicht macht, denn aus dem Gesicht kann man auf vieles schließen, hochgeehrter Fürst, und besonders bei einem solchen Menschen! Ach, Fürst! Obgleich mein eigenes Unglück groß ist, kann ich doch auch jetzt nicht umhin, an ihn und an die Besserung seiner Moral zu denken. Ich habe eine außerordentliche Bitte an Sie, hochgeehrter Fürst; ich bekenne sogar, daß ich eigentlich nur deswegen hergekommen bin: Sie sind schon mit seiner Familie bekannt und haben dort sogar schon gewohnt; wenn also Sie, hochgeehrter Fürst, sich entschließen wollten, mir hierbei zu helfen, eigentlich nur um des Generals und seines Glückes willen …«

Lebedew faltete sogar die Hände wie beim Gebet.

»Was meinen Sie denn? Wie soll ich helfen? Seien Sie überzeugt, daß mir sehr daran liegt, Sie ganz zu verstehen, Lebedew!«

»Einzig und allein in dieser Überzeugung bin ich ja auch zu Ihnen gekommen! Man könnte durch Nina Alexandrowna auf ihn einwirken, indem man Seine Exzellenz im Schoß seiner eigenen Familie ständig beobachtet und ihm sozusagen auf den Fersen bleibt. Ich selbst bin unglücklicherweise dort nicht bekannt… Außerdem könnte da auch Nikolai Ardalionowitsch vielleicht mithelfen, der Sie sozusagen mit allen Fasern seines jungen Herzens vergöttert…«

»N-ein… Nina Alexandrowna dürfen wir in diese Sache… um Gottes willen nicht! Und Kolja ebensowenig… Ich verstehe Sie übrigens vielleicht noch nicht ganz, Lebedew.«

»Aber es ist ja dabei eigentlich gar nichts zu verstehen!« rief Lebedew und sprang sogar von seinem Stuhl auf. »Gefühlvolle und zarte Behandlung, das ist die einzige Arznei für unsern Kranken. Sie erlauben mir wohl, Fürst, ihn als einen Kranken anzusehen?«

»Das zeugt sogar von Ihrem Zartgefühl und Ihrem Verstand.«

»Ich möchte es Ihnen durch ein Beispiel klarmachen, das ich der Deutlichkeit halber aus der Praxis entnehme. Sehen Sie, was das für ein Mensch ist: da hat er nun jetzt eine Schwäche für diese Hauptmannsfrau, bei der er sich ohne Geld nicht blicken lassen darf, und bei der ich ihn heute zu seinem eigenen Besten abzufassen gedenke; aber nehmen wir an, er habe nicht nur dieses Verhältnis mit der Hauptmannsfrau, sondern er begehe ein wirkliches Verbrechen, irgendeine unehrenhafte Handlung (obwohl er dazu keineswegs imstande ist), so behaupte ich, man könnte auch dann einzig und allein durch edelmütige, zarte Behandlung, um mich so auszudrücken, bei ihm alles erreichen, denn er ist ein gefühlvoller Mensch! Glauben Sie mir, er würde es nicht fünf Tage lang aushalten, sondern in Tränen ausbrechen und alles bekennen, und besonders wenn die Familie und Sie sozusagen sein ganzes Mienenspiel, seine sämtlichen Äußerungen beobachten und in geschickter, edelmütiger Weise auf ihn einwirken … Oh, hochgeehrter Fürst!« rief Lebedew und sprang in einer Art von Begeisterung vom Stuhl auf, »ich behaupte ja gar nicht, daß er es bestimmt gewesen sei… Ich bin sogar bereit, mein ganzes Blut für ihn zu vergießen, auf der Stelle, obwohl Sie zugeben müssen, daß Unenthaltsamkeit und Trunksucht und eine Hauptmannsfrau, alles zusammengenommen, einen Menschen zu allem möglichen bringen können.«

»Solche Absichten bin ich natürlich jederzeit bereit zu fördern«, erwiderte der Fürst, indem er aufstand. »Aber ich bekenne Ihnen, Lebedew, daß ich mich in furchtbarer Unruhe befinde. Sagen Sie, Sie glauben immer noch… kurz, Sie sagen ja selbst, daß Sie Herrn Ferdyschtschenko in Verdacht haben.«

»Aber wen denn sonst? Wen denn sonst, offenherzigster Fürst?« antwortete Lebedew, indem er wieder gerührt die Hände faltete und milde lächelte.

Der Fürst machte ein finsteres Gesicht.

»Sehen Sie, Lukjan Timofejitsch, ein Irrtum könnte hier die schrecklichsten Folgen haben. Dieser Ferdyschtschenko… ich möchte nichts Schlechtes von ihm sagen… aber dieser Ferdyschtschenko… ich meine, wer weiß, vielleicht ist er es doch gewesen! … Ich will sagen, vielleicht ist er wirklich einer solchen Tat eher fähig als … als der andere.«

Lebedew kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren.

»Sehen Sie«, fuhr der Fürst fort, der immer mehr in Verwirrung geriet und dessen Gesicht immer finsterer wurde, während er im Zimmer auf und ab ging und es dabei vermied, Lebedew anzusehen, »man hat mir zu verstehen gegeben… es hat mir jemand von Herrn Ferdyschtschenko gesagt, er sei, von allem anderen abgesehen, ein Mensch, in dessen Gegenwart man sich in acht nehmen müsse und nichts… Überflüssiges reden dürfe, Sie verstehen? Ich sage das in der Hinsicht, daß er vielleicht wirklich einer solchen Tat eher fähig war als der andere … damit wir uns nicht irren, – das ist doch die Hauptsache, verstehen Sie?«

»Aber wer hat Ihnen das über Herrn Ferdyschtschenko mitgeteilt?« fragte Lebedew eifrig.

»Nur so, es hat mir jemand das zugeflüstert, übrigens glaube ich es selbst nicht… ich ärgere mich sehr, daß ich genötigt war, es zu erwähnen; aber ich versichere Ihnen, ich glaube es selbst nicht… es ist törichtes Gerede… Pfui, wie dumm von mir, es nachzusprechen!«

»Sehen Sie, Fürst«, sagte Lebedew und zitterte dabei am ganzen Leib, »das ist wichtig, das ist jetzt sehr wichtig, ich meine die Art, wie diese Beurteilung zu Ihrer Kenntnis gelangt ist, das ist wichtig, wenn auch nicht in bezug auf Herrn Ferdyschtschenko.« (Während Lebedew das sagte, lief er, dem Fürsten folgend, hin und her und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.) »Da möchte auch ich Ihnen jetzt etwas mitteilen, Fürst: als ich vorhin mit dem General zu diesem Wilkin ging, da fing er, nachdem er mir schon die Geschichte von der Feuersbrunst erzählt hatte, auf einmal in höchster sittlicher Entrüstung an, mir ganz ebensolche Andeutungen über Herrn Ferdyschtschenko zumachen, aber in einer so ungereimten, einfältigen Manier, daß ich unwillkürlich ein paar Fragen darüber an ihn richtete und infolgedessen zu der bestimmten Überzeugung kam, daß diese ganze Beurteilung lediglich aus dem Gehirn Seiner Exzellenz stammte… Eigentlich war sie sozusagen ein Ausfluß seiner Herzensgüte. Denn er lügt einzig und allein, weil er seiner Rührung nicht Herr zu werden vermag. Nun belieben Sie zu erwägen: wenn er das erlogen hat, und davon bin ich überzeugt, wie ist es dann zugegangen, daß auch Sie davon gehört haben? Wohlgemerkt, Fürst, es war das nur eine momentane Eingebung; wer in aller Welt hat es Ihnen also mitgeteilt? Das ist wichtig, das… das ist sehr wichtig und… sozusagen…«

»Ich habe es soeben von Kolja gehört, und ihm hatte es kurz vorher sein Vater gesagt, den er um sechs Uhr oder bald darauf auf dem Flur traf, als er zu irgendeinem Zweck aus dem Krankenzimmer herausgegangen war.«

Und der Fürst erzählte alles eingehend.

»Nun, sehen Sie, das ist es, was man eine Spur nennt!« sagte Lebedew, sich die Hände reibend und leise lachend. »Ganz so hatte ich es mir auch gedacht! Das bedeutet, daß Seine Exzellenz absichtlich seinen unschuldigen Schlaf gegen sechs Uhr unterbrochen hat, um zu seinem geliebten Sohn hinzugehen, ihn aufzuwecken und ihm mitzuteilen, wie außerordentlich gefährlich Herrn Ferdyschtschenkos Nachbarschaft sei! Was muß, danach zu urteilen, Herr Ferdyschtschenko für ein gefährlicher Mensch sein und wie groß die väterliche Besorgnis Seiner Exzellenz, hehehe!…«

»Hören Sie, Lebedew«, sagte der Fürst, der äußerst verlegen geworden war, »hören Sie, gehen Sie sachte zu Werk! Führen Sie keinen Skandal herbei! Ich bitte Sie, Lebedew, ich beschwöre Sie!… Wenn Sie das tun, dann verspreche ich, Ihnen behilflich zu sein, aber niemand darf davon wissen, niemand darf davon wissen!«

»Seien Sie überzeugt, großmütigster, offenherzigster und edelster Fürst«, rief Lebedew geradezu begeistert, »seien Sie überzeugt, daß all dies in meinem edelgesinnten Herzen tot und begraben sein wird! Lassen Sie uns mit leisen Schritten gemeinsam vorgehen! Mit leisen Schritten und gemeinsam! Ich meinerseits bin sogar bereit, mein ganzes Blut… Durchlauchtigster Fürst, ich bin an Seele und Geist ein gemeiner Mensch, aber fragen Sie einen jeden, selbst einen Schurken, nicht nur einen gemeinen Menschen, mit wem er lieber zu tun haben mag, ob mit einem ebensolchen Schurken wie er, oder mit einem so überaus edeldenkenden Menschen wie Sie, offenherzigster Fürst. Er wird Ihnen antworten: ›Mit einem so überaus edeldenkenden Menschen‹, und das ist der Triumph der Tugend! Auf Wiedersehen, hochgeehrter Fürst! Mit leisen Schritten… mit leisen Schritten und… gemeinsam.«

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Kapitel 38

X

Endlich verstand der Fürst, warum ihn jedesmal ein kalter Schauer überlief, wenn er diese drei Briefe anrührte und warum er deren Lektüre bis zum Abend verschob. Als er noch am Vormittag, ohne daß er sich hätte entschließen können, aus einem dieser drei Kuverts einen Brief herauszunehmen, auf seiner Chaiselongue in einen schweren Schlaf gesunken war, da hatte er wieder einen beängstigenden Traum, und es kam wieder dieselbe »Verbrecherin« zu ihm. Sie sah ihn wieder mit Augen an, an deren langen Wimpern was zu unserem wirklichen Leben gehört, etwas, was in unserem Herzen existiert und immer darin existiert hat; unser Traum hat uns gewissermaßen etwas Neues, Prophetisches, von uns Erwartetes gesagt; der empfangene Eindruck ist stark, ein freudiger oder ein quälender Eindruck, je nachdem, aber worin er besteht und was uns eigentlich gesagt worden ist, das können wir nicht begreifen, und daran können wir uns nicht erinnern.

Fast dasselbe geschah nach der Lektüre dieser Briefe. Aber noch ehe der Fürst sie entfaltet hatte, hatte er gemerkt, daß schon die bloße Tatsache ihrer Existenz, die Möglichkeit ihrer Existenz auf ihn eine ähnliche Wirkung ausübte wie ein bedrückender Traum. Wie hatte sie sich dazu entschließen können, an sie zu schreiben? fragte er sich immer wieder, als er am Abend allein umherirrte (er wußte mitunter selbst nicht, wo er ging). Wie hatte sie das schreiben können, und wie hatte ein so sinnloser, phantastischer Gedanke in ihrem Kopf entstehen können? Aber dieser sinnlose Gedanke hatte bereits Gestalt gewonnen, und das verwunderlichste war für ihn, daß er während der Lektüre dieser Briefe beinahe selbst an die Möglichkeit und sogar an die Berechtigung dieses Gedankens glaubte. Ja gewiß, das war ein beängstigender Traum, ein Wahnsinn, aber es lag darin doch auch wahrhaftes Leid, echtes Märtyrertum, wodurch der beängstigende Traum und der Wahnsinn gerechtfertigt wurden. Mehrere Stunden hintereinander erging er sich in wirren Gedanken über das Gelesene, erinnerte sich alle Augenblicke an einzelne Bruchstücke, verweilte bei ihnen und dachte über sie nach. Manchmal hatte er sogar die Vorstellung, als habe er das alles schon früher geahnt und vorausgefühlt; es kam ihm sogar so vor, als habe er das alles bereits einmal vor langer, langer Zeit gelesen und als sei alles, wonach er sich seitdem gesehnt, alles, womit er sich gequält und was er gefürchtet habe, in diesen längst schon von ihm gelesenen Briefen enthalten.

»Wenn Sie diesen Brief öffnen« (so begann das erste Schreiben), »werden Sie zuallererst nach der Unterschrift blicken. Die Unterschrift wird Ihnen alles sagen und erklären, so daß ich nichts vor Ihnen zu rechtfertigen und Ihnen nichts zu erklären brauche. Wäre ich Ihnen auch nur im geringsten gleichgestellt, so könnten Sie sich durch eine solche Dreistigkeit beleidigt fühlen, aber wer bin ich, und wer sind Sie? Wir beide sind solche Gegensätze, und ich bin in Ihren Augen etwas so Ungewöhnliches, daß ich Sie in keiner Weise beleidigen kann, selbst wenn ich es wollte.«

Ferner schrieb sie an einer anderen Stelle:

»Halten Sie meine Worte nicht für den verzückten Ausbruch eines kranken Gehirns, aber Sie sind für mich die Vollkommenheit selbst! Ich habe Sie gesehen, ich sehe Sie täglich. Ich gebe ja kein Urteil über Sie ab; ich bin nicht durch den Verstand dazu gekommen, Sie für die Vollkommenheit selbst zu halten, sondern einfach durch den Glauben. Aber ich habe Ihnen gegenüber auch eine Sünde begangen: ich liebe Sie. Die Vollkommenheit kann man ja nicht lieben; die Vollkommenheit kann man eben nur als solche anschauen, nicht wahr? Und doch habe ich mich in Sie verliebt. Zwar macht die Liebe die Menschen gleich, aber Sie brauchen sich trotzdem nicht zu beunruhigen, ich stelle Sie nicht mit mir auf die gleiche Stufe, nicht einmal in meinen geheimsten Gedanken. Ich habe Ihnen geschrieben: ›Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen‹; als ob Sie sich überhaupt beunruhigen könnten! … Wenn ich könnte, würde ich die Spuren Ihrer Füße küssen. Oh, ich stelle mich Ihnen nicht gleich… Sehen Sie nach der Unterschrift, sehen Sie schnell nach der Unterschrift!«

»Ich bemerke aber« (schrieb sie in einem andern Brief), »daß ich Sie mit ihm vereinigen möchte und noch kein einziges Mal gefragt habe, ob Sie ihn auch lieben. Er hat Sie liebgewonnen, obgleich er Sie nur ein einziges Mal gesehen hat. Er gedachte Ihrer wie des ›Lichtes‹, das sind seine eigenen Worte, ich habe sie von ihm gehört. Aber auch ohne Worte ist es mir klargeworden, daß Sie für ihn das Licht sind. Ich habe einen ganzen Monat lang mit ihm gelebt und bin dabei zu der Überzeugung gekommen, daß auch Sie ihn lieben; Sie und er sind für mich eins.«

»Wie ist das?« (schrieb sie an einer andern Stelle dieses Briefes). »Gestern ging ich an Ihnen vorbei, und mir war, als erröteten Sie. Aber das ist unmöglich, das kann mir nur so vorgekommen sein. Und brächte man Sie in die schmutzigste Lasterhöhle und zeigte Ihnen dort die nackte Sünde, so dürften Sie doch nicht erröten; Sie können gar nicht über eine Beleidigung entrüstet sein. Sie können alle gemeinen, unwürdigen Menschen hassen, aber nicht um ihrer Eigenschaften willen, sondern aus Teilnahme für diejenigen, denen sie Kränkungen zufügen. Ihnen aber, Ihnen kann niemand eine Kränkung zufügen. Wissen Sie, ich meine, Sie müßten mich sogar lieben. Für mich sind Sie dasselbe wie für ihn: ein lichter Geist; ein Engel aber kann nicht hassen; er kann gar nicht anders als lieben. Kann man alle lieben, alle Menschen, alle seine Nächsten? Ich habe mir diese Frage oft vorgelegt. Gewiß nicht, das ist sogar unnatürlich. In der abstrakten Liebe zur Menschheit liebt man fast immer nur sich selbst. Aber wenn dies auch für uns unmöglich ist, so sind Sie doch ein anderes Wesen: wie könnten Sie jemand nicht lieben, da Sie sich mit niemand auf eine Stufe stellen können und da Sie über alle Kränkungen und alle persönliche Entrüstung erhaben sind? Sie allein können ohne Egoismus lieben; Sie allein können nicht um Ihrer selbst willen lieben, sondern um desjenigen willen, den Sie lieben. Oh, wie schmerzlich würde es mir sein, zu erfahren, daß Sie um meinetwillen Scham oder Zorn empfänden! Das wäre Ihr Untergang: damit stellten Sie sich auf einmal mir gleich …

Nachdem ich Ihnen gestern begegnet und nach Hause gekommen war, dachte ich mir ein Gemälde aus. Die Maler stellen Christus immer nach der Überlieferung des Evangeliums dar; ich würde ihn anders malen: ich würde ihn allein darstellen, seine Jünger haben ihn ja auch manchmal allein gelassen. Ich würde ihn nur mit einem kleinen Kind malen. Das Kind hat neben ihm gespielt, ihm vielleicht etwas in seiner kindlichen Sprache erzählt, Christus hat ihm zugehört, aber jetzt ist er in Gedanken versunken; seine Hand ist unwillkürlich, selbstvergessen auf dem blonden Köpfchen des Kindes liegengeblieben. Er blickt in die Ferne, nach dem Horizont; ein ruhiger Gedanke, groß wie die Welt, liegt in seinem Blick; sein Gesicht ist traurig. Das Kind ist verstummt;, es hat seinen Ellbogen auf das Knie des Heilands gesetzt, die eine Wange in die Hand gestützt, das Köpfchen aufgehoben und schaut ihn nun unverwandt nachdenklich an, in der Art wie Kinder manchmal nachdenklich sind. Die Sonne geht unter… Das ist mein Bild! Sie sind unschuldig, und in Ihrer Unschuld liegt Ihre ganze Vollkommenheit. Oh, vergessen Sie das nicht! Was geht Sie die Leidenschaft an, die ich für Sie empfinde? Sie gehören jetzt schon mir; ich werde mein ganzes Leben lang um Sie sein … Aber ich werde bald sterben.«

Im letzten Briefe endlich hieß es:

»Beurteilen Sie mich nur um Gottes willen nicht falsch; glauben Sie nicht etwa, daß ich mich selbst herabsetze, wenn ich so an Sie schreibe, oder daß ich zu denjenigen Wesen gehöre, denen es ein Genuß ist, sich herabzusetzen, wenn es auch aus Stolz geschieht. Nein, ich habe meinen Trost; aber es wird mir schwer, Ihnen das zu erklären. Es würde mir sogar schwer werden, mir das selbst deutlich zu sagen, obwohl ich mich damit quäle. Aber ich weiß, daß ich mich nicht einmal in einem Anfall von Stolz erniedrigen könnte. Und einer Selbstherabsetzung aus Herzensreinheit bin ich gleichfalls nicht fähig. Folglich ist eine Selbstherabsetzung bei mir überhaupt unmöglich.

Warum will ich Sie beide vereinigen: um meinetwillen oder um Ihretwillen? Natürlich um meinetwillen, darin finde ich meine ganze Absolution, das habe ich mir längst gesagt… Ich habe gehört, daß Ihre Schwester Adelaida damals von meinem Porträt gesagt hat, mit einer solchen Schönheit könne man die Welt auf den Kopf stellen. Aber ich habe der Welt entsagt. Es mag Ihnen lächerlich erscheinen, daß ich so rede, da Sie mich, mit Spitzen und Brillanten angetan, in der Gesellschaft von Trunkenbolden und Taugenichtsen sehen. Aber danach dürfen Sie nicht urteilen, ich existiere kaum noch und weiß das; weiß Gott, was statt meiner in mir lebt. Ich lese das täglich in den beiden furchtbaren Augen, die mich ständig ansehen, selbst wenn sie nicht leiblich zugegen sind. Diese Augen schweigen jetzt (sie schweigen immer), aber ich kenne ihr Geheimnis. Er hat ein finsteres, ödes Haus, und darin befindet sich das Geheimnis. Ich bin überzeugt, daß bei ihm zu Hause in einer Schublade ein Rasiermesser versteckt liegt, mit Seide umwickelt, so daß es feststeht, wie bei jenem Moskauer Mörder; dieser hat ebenfalls mit seiner Mutter in ein und demselben Hause gewohnt und ebenfalls ein Rasiermesser mit Seide umwickelt gehabt, um jemandem die Kehle durchzuschneiden. Die ganze Zeit, während ich bei ihnen in ihrem Hause wohnte, hatte ich immer die Empfindung, als ob irgendwo unter dem Dielenbelag ein vielleicht schon von seinem Vater versteckter Leichnam liege, in Wachstuch eingewickelt wie jener Moskauer Leichnam und ebenfalls rings von Gefäßen mit umgeben; ich könnte Ihnen sogar die betreffende Ecke zeigen. Er schweigt immer, aber ich weiß ja, daß er mich dermaßen liebt, daß er schon nicht anders kann, als mich hassen. Ihre Hochzeit und die meinige sollen zu gleicher Zeit stattfinden, so habe ich es mit ihm festgesetzt. Ich habe vor ihm keine Geheimnisse. Ich könnte ihn vor Angst töten… Aber er wird mich vorher töten … Er lachte soeben auf und sagte, ich schriebe irres Zeug; er weiß, daß ich an Sie schreibe.«

Und dergleichen irres Gerede stand noch sehr viel in diesen Briefen. Einer von ihnen, der zweite, füllte zwei eng beschriebene Briefbogen großen Formats.

Der Fürst verließ endlich den dunklen Park, in dem er wieder wie gestern lange umhergeirrt war. Die helle, durchsichtige Nacht schien ihm noch heller als gewöhnlich. ›Ob es denn noch so früh ist?‹ dachte er. (Er hatte vergessen, seine Uhr mitzunehmen.) Er glaubte von irgendwoher in der Ferne Musik zu hören; ›wahrscheinlich beim Vauxhall‹, dachte er wieder. ›Sie werden heute gewiß nicht dort sein.‹ Während er das überlegte, sah er, daß er ganz dicht bei ihrem Landhaus stand; er hatte es gewußt, daß er unbedingt schließlich hierhergeraten würde, und stieg mit stockendem Herzschlag zur Veranda hinauf. Es kam ihm niemand entgegen, die Veranda war leer. Er wartete einen Augenblick und öffnete dann die Tür zum Saal. ›Diese Tür pflegten sie nie zu verschließen‹, dachte er flüchtig, aber auch der Saal war leer; es war darin fast ganz dunkel. Unschlüssig blieb er mitten im Zimmer stehen. Plötzlich öffnete sich eine Tür, und Alexandra Iwanowna kam mit einem Licht in der Hand herein. Als sie den Fürsten erblickte, war sie erstaunt und blieb wie fragend vor ihm stehen. Offenbar hatte sie nur durch das Zimmer hindurchgehen wollen, von einer Tür zur andern, und nicht im entferntesten erwartet, jemand zu treffen.

»Wie kommen Sie denn hierher?« fragte sie endlich.

»Ich … bin nur so hereingekommen…«

»Maman ist nicht ganz wohl, Aglaja ebenfalls. Adelaida legt sich gerade schlafen, und ich wollte es auch tun. Wir haben heute den ganzen Abend allein zu Hause gesessen. Papa und der Fürst sind in Petersburg.«

»Ich wollte … ich wollte Ihnen jetzt… einen Besuch machen…«

»Wissen Sie, was die Uhr ist?«

»N-nein…«

»Halb eins. Wir legen uns immer um ein Uhr schlafen.«

»Ach, ich dachte, es… wäre halb zehn.«

»Nun, es macht nichts!« antwortete sie lachend. »Aber warum sind Sie nicht vorhin gekommen? Sie wurden vielleicht sogar erwartet.«

»Ich… dachte…«, stotterte er und schickte sich an, wieder fortzugehen.

»Auf Wiedersehen! Morgen werde ich alle durch diese Geschichte zum Lachen bringen.«

Er schritt auf dem Weg, der sich um den Park herumzog, seinem Landhaus zu. Das Herz pochte ihm heftig; seine Gedanken waren in arger Verwirrung, und alles um ihn herum erschien ihm wie ein Traum. Und plötzlich stand, ganz wie vor kurzem, wo er zweimal nach derselben Traumvision erwacht war, diese Vision wieder vor ihm. Dieselbe Frau trat aus dem Park heraus und blieb vor ihm stehen, als ob sie hier auf ihn gewartet hätte. Er fuhr zusammen und machte halt; sie ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. ›Nein‹, sagte er sich, ›das ist kein Traumbild!‹

So stand sie ihm denn endlich zum erstenmal seit ihrer Trennung von Angesicht zu Angesicht gegenüber; sie sagte etwas zu ihm, aber er blickte sie nur schweigend an; sein Herz war zu voll und schmerzte ihn heftig. Oh, nie konnte er in der Folgezeit diese Begegnung mit ihr vergessen und erinnerte sich ihrer immer mit gleichem Schmerz. Sie kniete mitten auf dem Weg wie eine Wahnsinnige vor ihm nieder; erschrocken trat er zurück, aber sie erhaschte seine Hand, um sie zu küssen, und ganz ebenso wie am Morgen im Traum glänzten jetzt Tränen an ihren langen Wimpern.

»Steh auf, steh auf!« flüsterte er erschrocken und versuchte, sie hochzuziehen. »Steh schnell auf!«

»Bist du glücklich? Bist du glücklich?« fragte sie. »Sag mir nur ein Wort: bist du jetzt glücklich? Heute, in diesem Augenblick? Bist du bei ihr gewesen? Was hat sie gesagt?«

Sie stand nicht auf und hörte nicht auf ihn; sie stellte ihre Fragen hastig und redete schnell, als wären Verfolger hinter ihr her.

»Ich verreise morgen, wie du befohlen hast. Ich werde nicht… Ich sehe dich zum letztenmal, zum letztenmal! Jetzt zum allerletztenmal!«

»Beruhige dich doch, steh auf!« sagte er in heller Verzweiflung.

Gierig hingen ihre Blicke an ihm, sie faßte seine beiden Hände.

»Leb wohl!« sagte sie endlich, stand auf und entfernte sich mit schnellen Schritten, fast laufend. Der Fürst sah, daß auf einmal Rogoshin neben ihr auftauchte, ihr seinen Arm gab und sie wegführte.

»Warte ein bißchen, Fürst!« rief Rogoshin. »Ich komme in fünf Minuten noch für einen Augenblick zurück.«

Nach fünf Minuten kam er wirklich; der Fürst hatte ihn auf derselben Stelle erwartet.

»Ich habe ihr in den Wagen geholfen«, sagte er. »Er hat seit zehn Uhr dort an der Ecke gewartet. Sie schien zu wissen, daß du den ganzen Abend bei diesem jungen Mädchen zubringen würdest. Was du mir vorhin geschrieben hast, habe ich ihr ganz genau mitgeteilt. Sie wird an das junge Mädchen nicht mehr schreiben, sie hat es versprochen; auch wird sie deinem Wunsch gemäß morgen von hier wegreisen. Sie wollte dich noch zum letztenmal sehen, obwohl du es ihr abgeschlagen hattest. Da haben wir hier an dieser Stelle auf deine Rückkehr gewartet, dort auf der Bank haben wir gesessen.«

»Hat sie selbst gewünscht, daß du mitkommen solltest?«

»Jawohl, jawohl!« erwiderte Rogoshin zähnefletschend. »Ich habe nur gesehen, was ich vorher wußte. Die Briefe hast du doch wohl gelesen?«

»Hast du sie denn wirklich gelesen?« fragte der Fürst, von diesem Gedanken überrascht.

»Und ob! Sie hat mir jeden Brief selbst gezeigt. Erinnerst du dich an die Stelle von dem Rasiermesser? Hehe!«

»Sie ist wahnsinnig!« rief der Fürst händeringend.

»Wer weiß, vielleicht auch nicht!« sagte Rogoshin leise, als spräche er mit sich selbst.

Der Fürst antwortete nicht.

»Nun leb wohl!« sagte Rogoshin. »Ich verreise ja morgen ebenfalls; gedenke meiner nicht im Bösen! Aber warum, Bruder«, fügte er, sich schnell noch einmal umwendend, hinzu, »warum hast du ihr auf ihre Frage, ob du glücklich seist oder nicht, keine Antwort gegeben?«

»Nein, ich bin es nicht, nein, nein!« rief der Fürst in grenzenlosem Schmerz.

»Das hätte auch noch gefehlt, daß du ja sagtest!« versetzte Rogoshin mit boshaftem Lachen und entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.

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