Kapitel 31

III

Der Vorfall in dem Vauxhall hatte die Mutter und die Töchter arg erschreckt. In ihrer Unruhe und Aufregung legten Lisaweta Prokofjewna und die Töchter den ganzen Weg vom Vauxhall nach ihrem Hause geradezu laufend Aber seine Gattin ging mit drohender Miene an ihm vorbei, ohne ihm zu antworten und ohne ihn auch nur anzusehen. An den Augen seiner Töchter und des Fürsten Schtsch. erkannte er sogleich, daß es in seiner Familie gewitterte. Aber auch ohne das prägte sich auf seinem eigenen Gesicht eine ungewöhnliche Unruhe aus. Er faßte den Fürsten Schtsch. sogleich unter, hielt ihn am Hauseingang zurück und wechselte fast flüsternd einige Worte mit ihm. An den aufgeregten Mienen beider, als sie dann in die Veranda kamen und sich weiter zu Lisaweta Prokofjewna begaben, konnte man merken, daß sie beide eine ganz ungewöhnliche Nachricht erhalten hatten. Allmählich fanden sich alle oben bei Lisaweta Prokofjewna zusammen, und in der Veranda blieb schließlich nur der Fürst zurück. Er saß in einer Ecke, als wartete er auf etwas, ohne jedoch selbst zu wissen warum; angesichts der im Hause herrschenden Unruhe wegzugehen, das kam ihm gar nicht in den Sinn; es schien, als habe er die ganze Welt vergessen und sei bereit, auch zwei Jahre hintereinander da zu sitzen, wo man ihn hinsetzen würde. Von oben hörte er mitunter einzelne Laute eines aufgeregten Gesprächs. Er hätte selbst nicht sagen können, wie lange er da schon so gesessen hatte. Es war spät geworden und schon ganz dunkel. Auf einmal kam Aglaja nach der Veranda heraus; sie war äußerlich ruhig, wenn auch etwas blaß. Als sie den Fürsten erblickte, den sie hier in der Ecke auf einem Stuhl zu treffen anscheinend nicht erwartet hatte, lächelte sie wie erstaunt.

»Was machen Sie denn hier?« fragte sie, an ihn herantretend.

Der Fürst murmelte verlegen eine Antwort und sprang vom Stuhl auf; aber Aglaja setzte sich sogleich neben ihn, und so ließ auch er sich wieder nieder. Sie blickte ihn aufmerksam an, dann sah sie wie gedankenlos durch das Fenster, dann wieder nach ihm hin. ›Vielleicht will sie sich über mich lustig machen‹, dachte der Fürst, ›aber nein, dann hätte sie es ja schon getan.‹

»Vielleicht möchten Sie Tee trinken, dann werde ich welchen bringen lassen«, sagte sie nach einigem Schweigen.

»N-nein … Ich weiß nicht…«

»Aber wie kann man denn so etwas nicht wissen? Ach ja, hören Sie: wenn Sie jemand zum Duell forderte, was würden Sie dann machen? Ich wollte Sie schon vorhin danach fragen.«

»Aber… wer sollte… es fordert mich ja niemand zum Duell.«

»Nun, aber wenn Sie gefordert würden? Würden Sie große Angst haben?«

»Ich glaube, ich würde mich sehr… fürchten.«

»Im Ernst? Also sind Sie feige?«

»N-nein; das vielleicht nicht. Feige ist derjenige, der sich fürchtet und davonläuft, aber wer sich fürchtet und nicht davonläuft, der braucht noch nicht feige zu sein«, erwiderte der Fürst nach kurzem Nachdenken lächelnd.

»Und Sie würden nicht weglaufen?«

»Vielleicht würde ich das nicht tun«, antwortete er, schließlich auflachend, auf Aglajas Fragen.

»Ich bin zwar ein Weib, aber ich würde unter keinen Umständen weglaufen«, bemerkte sie empfindlich. »Aber Sie machen sich über mich lustig und reden nach Ihrer Gewohnheit wunderliches Zeug, um sich interessant zu machen. Sagen Sie mal: die Duellanten schießen ja wohl gewöhnlich auf zwölf Schritte, manche auch auf zehn Schritte; also wird man sicher erschossen oder verwundet?«

»Beim Duell fällt wohl selten jemand.«

»Selten? Puschkin ist doch im Duell erschossen.«

»Das war vielleicht ein Zufall.«

»Ganz und gar kein Zufall; es war ein Duell auf Leben und Tod, und da wurde er erschossen.«

»Die Kugel traf ihn so weit unten, daß man annehmen muß, Dantès habe auf eine höhere Körperstelle gezielt, auf die Brust oder auf den Kopf. So weit nach unten zielt niemand, somit hat die Kugel Puschkin aller Wahrscheinlichkeit nach zufällig getroffen, durch einen Fehlschuß. Das ist mir von kompetenten Leuten gesagt worden.«

»Aber mir hat ein Soldat, mit dem ich einmal sprach, gesagt, sie seien, wenn sie sich in Schützenschwärme auflösten, durch das Reglement ausdrücklich angewiesen, auf die Mitte des Menschen zu zielen; so lautet der Ausdruck bei ihnen: ›auf die Mitte des Menschen‹. Also die werden angewiesen, nicht nach der Brust oder nach dem Kopf, sondern absichtlich nach der Mitte des Körpers zu schießen. Ich fragte später einen Offizier danach, und der sagte mir, daß es sich genau so verhalte.«

»Das ist gewiß so angeordnet, weil da auf weite Entfernung geschossen wird.«

»Können Sie schießen?«

»Ich habe noch nie geschossen.«

»Können Sie wirklich nicht einmal eine Pistole laden?«

»Nein, das kann ich nicht. Das heißt, ich weiß, wie es gemacht wird, aber ich habe noch nie selbst eine geladen.«

»Nun, dann können Sie es auch nicht; denn dazu gehört praktische Erfahrung! Hören Sie mal zu und prägen Sie es sich gut ein: erstens kaufen Sie sich gutes Pistolenpulver, nicht feuchtes (es darf nicht feucht sein, sage ich, es muß ganz trocken sein), recht feines; solches müssen Sie gleich fordern, nicht solches, mit dem man aus Kanonen schießt. Die Kugel gießt man sich irgendwie selbst. Haben Sie Pistolen?«

»Nein, ich brauche auch keine«, versetzte der Fürst lachend.

»Ach, dummes Zeug! Kaufen Sie sich unter allen Umständen eine: eine gute französische oder englische; das sind die besten, sage ich Ihnen. Dann nehmen Sie Pulver, etwa einen Fingerhut voll oder vielleicht zwei, und schütten Sie es hinein! Lieber ein bißchen mehr. Drücken Sie es mit Filz fest (Filz ist unbedingt nötig, sage ich Ihnen); den können Sie sich leicht irgendwoher beschaffen, von einer Matratze; auch die Türen werden manchmal mit Filz beschlagen. Dann, wenn Sie den Filz hineingestopft haben, legen Sie die Kugel darauf; hören Sie wohl: die Kugel nachher, das Pulver zuerst, sonst schießt es nicht. Warum lachen Sie? Ich will, daß Sie täglich ein paarmal schießen und unbedingt ein Ziel treffen lernen. Werden Sie das auch tun?«

Der Fürst lachte; Aglaja stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Ihre ernste Miene bei einem solchen Gespräch setzte den Fürsten einigermaßen in Erstaunen. Er hatte die unklare Empfindung, daß er hier etwas in Erfahrung bringen, nach etwas fragen müsse, und zwar jedenfalls nach etwas Ernsthafterem, als es das Laden einer Pistole war. Aber all das war ihm aus dem Sinn entschwunden, und er fühlte nur das eine, daß sie vor ihm saß und er sie ansah; worüber sie redete, das war ihm in diesem Augenblick so gut wie gleichgültig.

Endlich kam Iwan Fjodorowitsch selbst von oben nach der Veranda herunter; er hatte noch einen Gang vor; seine Miene war finster und sorgenvoll, zeigte aber feste Entschlossenheit.

»Ah, Lew Nikolajitsch, du bist hier… Wo willst du denn jetzt hin?« fragte er, obwohl dieser gar nicht daran dachte, sich von seinem Platz zu rühren. »Komm mit, ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«

»Auf Wiedersehen!« sagte Aglaja und reichte dem Fürsten die Hand.

In der Veranda war es schon recht dunkel, und der Fürst konnte jetzt ihren Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen. Gleich darauf, als er bereits mit dem General das Landhaus verließ, errötete er plötzlich stark und preßte seine rechte Hand fest zusammen.

Es stellte sich heraus, daß Iwan Fjodorowitsch mit ihm den gleichen Weg hatte; der General ging trotz der späten Stunde noch eilig fort, um mit jemand etwas zu besprechen. Zunächst aber begann er jetzt mit dem Fürsten zu reden, Hastig, aufgeregt, unzusammenhängend, und erwähnte in dem Gespräch häufig Lisaweta Prokofjewna. Hätte der Fürst in diesem Augenblick aufmerksamer sein können, so würde er vielleicht gemerkt haben, daß Iwan Fjodorowitsch unter anderm auch von ihm etwas herauszubringen oder, richtiger ausgedrückt, ihn offen und geradezu nach etwas zu fragen wünschte, es aber immer nicht fertigbrachte, den Hauptpunkt zu berühren. Zu seiner Schande war aber der Fürst in einem Maße zerstreut, daß er gleich von vornherein nichts hörte und, als der General mit einer eifrigen Frage vor ihm stehenblieb, bekennen mußte, daß er nichts verstanden habe.

Der General zuckte mit den Achseln.

»Was seid ihr alle für sonderbare Menschen geworden«, begann er dann von neuem. »Ich sage dir, ich begreife gar nicht, was Lisaweta Prokofjewna sich für Gedanken macht und warum sie sich so aufregt. Sie ist furchtbar nervös und weint und sagt, wir seien beschimpft und an den Pranger gestellt worden. Wer hätte das getan? Wie? Wodurch? Wann und warum? Ich gestehe, daß ich einen Teil der Schuld trage (das gebe ich zu), einen großen Teil der Schuld, aber den Zudringlichkeiten dieses… dieses unruhigen Weibes (obendrein ist auch ihr Benehmen schlecht) muß schließlich durch die Polizei ein Ende gemacht werden, und ich beabsichtige gleich heute, zu diesem Zweck mit jemand zu sprechen und der Sache einen Riegel vorzuschieben. Man kann all dergleichen im stillen, im guten, sogar in freundlicher Weise, durch gute Bekannte und ohne alles Aufsehen abmachen. Ich gebe auch zu, daß die Zukunft noch manche Überraschungen in ihrem Schoß birgt und daß vieles noch unaufgeklärt ist; es steckt eine Intrige dahinter; aber wenn man hier nichts weiß und dort nichts zu erklären vermag und wenn ich nichts gehört habe und du nichts gehört hast und jener nichts gehört hat und ein vierter ebenfalls nichts gehört hat: wer hat denn schließlich etwas davon gehört, frage ich dich? Wie soll man das deiner Ansicht nach erklären, wenn man nicht sagen will, die Sache sei zur Hälfte eine Luftspiegelung, etwas nicht Existierendes, in der Art wie das Mondlicht… oder andere Visionen?«

»Sie ist geisteskrank«, murmelte der Fürst, der sich plötzlich mit Schmerz an den ganzen Vorfall von vorhin erinnerte.

»Das habe ich auch geglaubt, wenn du damit dieses Weib meinst. Auch mir war dieser Gedanke gekommen, und dann schlief ich ruhig ein. Aber jetzt sehe ich, daß sie doch sehr folgerichtig denkt, und glaube nicht mehr an ihre Geisteskrankheit. Ein launisches Weib, gewiß, dabei aber scharfsinnig und ganz und gar nicht verrückt. Ihre heutigen Ausfälle gegen Kapiton Alexejitsch beweisen das deutlich. Es liegt ihrerseits ein gaunerisches, das heißt mindestens ein jesuitisches Verfahren vor, bei dem sie bestimmte Ziele verfolgt.«

»Was ist das für ein Kapiton Alexejitsch?«

»Ach, mein Gott, Lew Nikolajitsch, du hörst ja gar nicht zu! Ich habe ja damit angefangen, dir von Kapiton Alexejitsch zu erzählen; ich bin so erschüttert, daß mir noch jetzt Arme und Beine zittern. Darum bin ich ja auch heute so lange in der Stadt geblieben. Es handelt sich um Kapiton Alexejitsch Radomskij, den Onkel Jewgenij Pawlowitschs.«

»Nun, was ist mit ihm?« rief der Fürst.

»Er hat sich erschossen, heute morgen um sieben Uhr. Ein allgemein geachteter Greis, siebzigjährig, ein Epikureer. Und ganz wie sie gesagt hat: es fehlen Staatsgelder, eine bedeutende Summe!«

»Woher hat sie denn…«

»Woher sie das erfahren hat? Haha! Es hat sich ja um sie schon ein ganzer Stab gebildet, sobald sie nur hier erschienen ist. Weißt du nicht, was für Leute sie jetzt besuchen und sich um die ›Ehre ihrer Bekanntschaft‹ bemühen? Sie konnte das heute auf die einfachste Weise von Leuten, die aus der Stadt gekommen waren, erfahren, denn jetzt weiß es schon ganz Petersburg und hier halb Pawlowsk oder auch schon ganz Pawlowsk. Aber wie fein war ihre Bemerkung über die Uniform – sie ist mir wiedererzählt worden –, das heißt in bezug darauf, daß Jewgenij Pawlytsch rechtzeitig den Abschied genommen habe! Das war eine teuflische Anspielung! Nein, das weist nicht auf Geisteskrankheit hin. Ich kann natürlich nicht glauben, daß Jewgenij Pawlytsch von der Katastrophe etwas im voraus wissen konnte, das heißt, daß am Soundsovielten, um sieben Uhr morgens und so weiter. Aber er konnte all das wenigstens ahnen. Und ich und wir alle, auch Fürst Schtsch., rechneten damit, daß der Onkel ihm noch eine hübsche Erbschaft hinterlassen würde! Es ist furchtbar! Geradezu furchtbar! Versteh mich übrigens recht: ich spreche gegen Jewgenij Pawlytsch keinerlei Beschuldigung aus und beeile mich, dir das ausdrücklich zu erklären, aber verdächtig ist die Sache trotz alledem. Fürst Schtsch. ist tief erschüttert. Das alles ist so seltsam über uns hereingebrochen.«

»Aber was ist denn an Jewgenij Pawlytschs Benehmen verdächtig?«

»Gar nichts! Er hat sich durchaus anständig benommen. Ich habe ja auch nichts Derartiges angedeutet. Sein eigenes Vermögen, denke ich, ist unversehrt. Lisaweta Prokofjewna will davon natürlich nichts hören… Aber die Hauptsache sind all diese Familienkatastrophen oder, richtiger gesagt, all diese Zänkereien – man weiß gar nicht, wie man es nennen soll… Du bist ja, das muß man wirklich sagen, ein Freund unseres Hauses, Lew Nikolajitsch; nun denk dir einmal, eben kommt zur Sprache, wenn auch nicht in genauer, zuverlässiger Form, daß Jewgenij Pawlytsch schon vor mehr als einem Monat Aglaja einen Heiratsantrag gemacht und von ihr in aller Form einen Korb erhalten hat.«

»Das ist nicht möglich!« rief der Fürst lebhaft.

»Aber weißt du denn vielleicht etwas darüber? Siehst du, Teuerster«, sagte der General, indem er erschrocken zusammenfuhr und wie angenagelt auf dem Fleck stehenblieb, »ich habe dir vielleicht unpassenderweise mehr gesagt, als ich hätte sagen sollen, aber das ist mir so entschlüpft, weil du… weil du… man kann sagen, weil du ein solcher Mensch bist. Vielleicht weißt du irgend etwas Besonderes?«

»Ich weiß nichts… von Jewgenij Pawlytsch«, murmelte der Fürst.

»Auch ich weiß nichts! Mich… mich, mein Lieber, behandeln alle geradezu, als ob ich schon tot und begraben wäre und von nichts mehr zu wissen brauchte, und können dabei gar nicht verstehen, daß das für einen Menschen peinlich ist und daß ich das nicht ertragen kann. Eben habe ich da eine Szene erlebt, es war schrecklich! Ich rede mit dir, als wärst du mein Sohn. Die Hauptsache ist: Aglaja macht sich geradezu über ihre Mutter lustig. Daß sie anscheinend vor einem Monat Jewgenij Pawlytsch einen Korb gegeben und daß zwischen ihnen eine ziemlich formelle Auseinandersetzung stattgefunden hat, haben uns die Schwestern als Vermutung mitgeteilt… übrigens als sichere Vermutung. Aber sie ist ja ein so eigenwilliges, phantastisches Wesen, daß es gar nicht zu sagen ist! Sie besitzt die prächtigsten, glänzendsten Eigenschaften des Geistes und Herzens, gewiß, zugegeben, aber dabei ist sie launisch und spottlustig, kurz, ein reiner Kobold, und hat immer phantastische Einfälle. Über ihre Mutter hat sie sich jetzt eben gerade ins Gesicht lustig gemacht, ebenso über ihre Schwestern und den Fürsten Schtsch. Von mir brauche ich erst gar nicht zu reden; über mich macht sie sich eigentlich fortwährend lustig, aber, weißt du, ich liebe sie doch und habe es sogar gern, daß sie sich über unsereinen lustig macht, – und wie es scheint, liebt mich dieser Kobold deswegen ganz besonders, das heißt mehr, als sie alle andern liebt. Ich möchte darauf wetten, daß sie sich auch über dich schon lustig gemacht hat. Ich fand euch hier eben im Gespräch begriffen, als ich von der erregten Szene oben herunterkam; sie saß da mit dir zusammen, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre.«

Der Fürst wurde furchtbar rot und preßte seine rechte Hand zusammen, aber er schwieg.

»Mein lieber, guter Lew Nikolajitsch!« sagte der General auf einmal mit warmer Empfindung. »Ich… und sogar Lisaweta Prokofjewna selbst (die übrigens wieder angefangen hat, auf dich zu schimpfen und zugleich in zweiter Linie auch auf mich, ich weiß nicht, weswegen eigentlich), wir lieben dich trotz alledem, wir lieben und achten dich aufrichtig, trotz aller Äußerlichkeiten. Du mußt aber selbst zugeben, lieber Freund, du mußt selbst zugeben: was ist das auf einmal für ein Rätsel und für ein Ärger, wenn man hört, wie dieser kaltblütige Kobold (denn sie stand vor ihrer Mutter mit dem Ausdruck tiefster Verachtung für all unsere Fragen und namentlich für die meinigen, weil ich, hol’s der Teufel, die Dummheit begangen hatte, streng zu sein, wo ich doch das Oberhaupt der Familie bin, – na, das war eben eine Dummheit), wie dieser kaltblütige Kobold auf einmal lächelnd erklärt, daß diese ›Geisteskranke‹ (so drückte sie sich aus, und es kommt mir merkwürdig vor, daß sie sich desselben Wortes bediente wie du: ›Habt ihr denn das noch nicht gemerkt?‹ sagte sie), daß diese Geisteskranke ›es sich in den Kopf gesetzt hat, mich um jeden Preis mit Lew Nikolajitsch zu verheiraten, und zu diesem Zwecke Jewgenij Pawlytsch aus unserm Haus herausschaffen möchte‹… Mehr sagte sie nicht, sie gab keine weiteren Erklärungen, lachte für sich, wir rissen erstaunt den Mund auf, sie ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Dann erzählten mir die Meinigen von der Szene, die sich vorhin zwischen ihr und dir abgespielt hat… und… und… hör mal, lieber Fürst, du bist ein sehr verständiger Mensch und nicht empfindlich, das habe ich an dir wahrgenommen, aber… werde nicht böse: sie macht sich, weiß Gott, über dich lustig. Wie ein Kind macht sie sich über andere Leute lustig, und darum sei ihr nicht böse, aber es verhält sich bestimmt so. Mach dir darüber weiter keine Gedanken – sie hält dich und uns alle einfach zum Narren, so zum Zeitvertreib. Aber nun leb wohl! Du kennst doch unsere Gesinnung? Unsere herzliche Zuneigung zu dir? Die ist unwandelbar, für alle Zeit und in jeder Hinsicht… aber… ich muß jetzt hier abbiegen, auf Wiedersehn! Selten in meinem Leben habe ich mich so unbehaglich gefühlt wie jetzt… O weh, ist das eine Sommerfrische!«

Als der Fürst an der Straßenkreuzung allein geblieben war, blickte er sich nach allen Seiten um, ging schnell über die Straße, trat nahe an das erleuchtete Fenster eines Landhauses heran, faltete einen kleinen Zettel auseinander, den er während des ganzen Gespräches mit Iwan Fjodorowitsch fest in der rechten Hand zusammengedrückt hatte, und las unter Benutzung des schwachen Lichtschimmers:

»Morgen früh um sieben Uhr werde ich auf der grünen Bank im Park sitzen und Sie erwarten. Ich will mit Ihnen über eine sehr wichtige Angelegenheit reden, die Sie direkt angeht.

PS. Ich hoffe, Sie werden diesen Zettel niemand zeigen. Ich schäme mich zwar, Ihnen eine solche Instruktion zu geben, habe mir aber gesagt, daß sie bei Ihnen nötig ist, und sie darum hergesetzt, wobei ich vor Scham über Ihren komischen Charakter errötete.

PP. SS. Es ist dieselbe grüne Bank, die ich Ihnen vorhin gezeigt habe. Schämen Sie sich! Ich sah mich genötigt, auch das erst noch herzuschreiben.«

Der Zettel war eilig geschrieben und ohne Sorgfalt zusammengefaltet, aller Wahrscheinlichkeit nach kurz bevor Aglaja nach der Veranda herausgekommen war. In einer unsagbaren Aufregung, die mit Angst Ähnlichkeit hatte, drückte der Fürst den Zettel wieder in der Hand zusammen und sprang schnell wie ein erschreckter Dieb vom Fenster und vom Licht zurück, aber bei dieser Bewegung stieß er auf einmal heftig mit einem Herrn zusammen, der unmittelbar hinter ihm stand.

»Ich bin Ihnen gefolgt, Fürst«, sagte der Herr.

»Sie sind es, Keller?« rief der Fürst erstaunt.

»Ich möchte mit Ihnen reden, Fürst. Ich habe bei dem Jepantschinschen Landhaus auf Sie gewartet; hineingehen konnte ich natürlich nicht. Ich bin hinter Ihnen hergegangen, während Sie mit dem General gingen. Ich stehe zu Ihren Diensten, Fürst; verfügen Sie über Keller. Ich bin bereit, für Sie jedes Opfer zu bringen und, wenn es sein muß, sogar zu sterben.«

»Aber… weshalb denn?«

»Nun, es wird jetzt jedenfalls eine Herausforderung zum Duell erfolgen. Dieser Leutnant Molowzow, ich kenne ihn, das heißt nicht persönlich… er wird die Beleidigung nicht so hinnehmen. Unsereinen, das heißt mich und Rogoshin, hält er natürlich für Pack, und vielleicht verdientermaßen; auf diese Weise fällt die Verantwortung allein Ihnen zu. Sie werden die Zeche bezahlen müssen, Fürst. Er hat sich, wie ich gehört habe, nach Ihnen erkundigt, und es wird sich gewiß morgen einer seiner Freunde bei Ihnen einfinden, vielleicht wartet er auch jetzt schon auf Sie. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, mich als Sekundanten zu nehmen, so bin ich bereit, alles auf mich zu nehmen; darum habe ich Sie aufgesucht, Fürst.«

»Also auch Sie reden von einem Duell!« rief der Fürst lachend zu Kellers größtem Erstaunen. Er lachte gewaltig. Keller, der wirklich von Unruhe gepeinigt worden war, bis er es zu seiner Beruhigung fertiggebracht hatte, sich als Sekundanten anzubieten, fühlte sich beinah beleidigt, als er den Fürsten so heiter lachen sah.

»Sie haben ihn aber vorhin bei den Armen gepackt, Fürst. Das kann sich ein anständiger Mensch vor den Augen des Publikums schwerlich gefallen lassen.«

»Und er hat mich vor die Brust gestoßen!« rief der Fürst lachend. »Wir haben keinen Grund, uns zu duellieren! Ich werde ihn um Verzeihung bitten, und damit ist die Sache erledigt. Wenn es aber zum Duell kommen soll, mir ist’s recht! Mag er schießen; ich wünsche es sogar. Haha! Ich verstehe jetzt eine Pistole zu laden! Verstehen Sie eine Pistole zu laden, Keller? Zuerst muß man Pulver kaufen, Pistolenpulver, nicht feuchtes und nicht so grobes wie das, womit man aus Kanonen schießt; dann muß man zuerst das Pulver hineintun, darauf Filz, den man von einer Tür abreißt, und dann schiebt man die Kugel hinein, aber nicht die Kugel vor dem Pulver, weil es sonst nicht schießt. Hören Sie wohl, Keller: weil es sonst nicht schießt. Haha! Ist das nicht eine ausgezeichnete Begründung, Freund Keller? Ach, Keller, wissen Sie, ich werde Sie gleich umarmen und küssen. Hahaha! Wie ging das nur zu, daß Sie vorhin in dem Vauxhall so plötzlich vor ihm standen? Kommen Sie möglichst bald einmal zu mir Champagner trinken! Wir wollen uns alle gehörig bezechen! Wissen Sie, daß ich zwölf Flaschen Champagner in Lebedews Keller liegen habe? Lebedew hat sie mir vorgestern als Gelegenheitskauf angeboten, gleich am andern Tag, nachdem ich zu ihm gezogen war, ich habe sie alle gekauft! Ich werde die ganze Gesellschaft zusammen einladen! Wie ist’s, werden Sie heute nacht schlafen?«

»Wie jede Nacht, Fürst.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen angenehme Träume! Haha!«

Der Fürst ging quer über die Straße und verschwand im Park; Keller blieb sehr verwundert und nachdenklich stehen. Er hatte den Fürsten noch nie in einem so sonderbaren Zustand gesehen und ihn sich bisher auch nicht so vorstellen können.

›Vielleicht fiebert er, denn er ist ein nervöser Mensch, und das alles hat eine starke Wirkung auf ihn ausgeübt, aber feige ist er gewiß nicht. Gerade solche Leute sind nicht feige, weiß Gott!‹ dachte Keller bei sich. ›Hm! Champagner! Das ist doch eine sehr interessante Mitteilung. Zwölf Flaschen, ein Dutzend; das läßt sich hören: eine ordentliche Batterie! Ich möchte wetten, daß Lebedew den Champagner von irgend jemand als Pfand bekommen hat. Hm!… Er ist aber doch recht liebenswürdig, dieser Fürst; wirklich, ich habe solche Menschen gern, aber es ist keine Zeit zu verlieren, und… wenn Champagner da ist, so ist das gerade die richtige Zeit…‹

Daß der Fürst sich in einem fieberhaften Zustand befand, war natürlich ganz richtig.

Er schweifte lange im dunklen Park umher und kam endlich zu sich, als er in einer Allee auf und ab ging. In seinem Bewußtsein haftete die Erinnerung, daß er in dieser Allee, von einer Bank angefangen bis zu einem alten, hohen, auffallenden, nur hundert Schritte von ihr entfernten Baum, bereits etwa dreißig- bis vierzigmal hin und her gegangen war. Sich zu erinnern, was er in dieser Zeit von mindestens einer ganzen Stunde im Park gedacht hatte, war er außerstande, selbst wenn er es gewollt hätte. Er ertappte sich übrigens bei einem Gedanken, der ihn veranlaßte, plötzlich in ein lautes Gelächter auszubrechen; es war zwar eigentlich kein Grund zum Lachen vorhanden, aber er hatte jetzt immer Lust zu lachen. Es war ihm eingefallen, daß die Idee von einem bevorstehenden Duell auch noch in einem andern Kopf als nur in dem Kellers hatte entstehen können und daß daher die Geschichte vom Pistolenladen vielleicht nicht zufällig gewesen war… ›Ah!‹ dachte er und blieb, von einem andern Gedanken überrascht, stehen, ›vorhin kam sie nach der Veranda herunter, als ich in der Ecke saß, und wunderte sich gewaltig, mich dort zu finden, und lachte so … und fing an, vom Teetrinken zu reden, und doch hatte sie in diesem Augenblick schon den Zettel in der Hand; folglich wußte sie unbedingt, daß ich in der Veranda saß. Warum tat sie dann also so erstaunt? Hahaha!‹

Er zog den Zettel aus der Tasche und küßte ihn, blieb dann aber sogleich stehen und versank in Gedanken.

»Wie sonderbar das ist! Wie sonderbar das ist!« sagte er ein Weilchen darauf beinahe traurig. In Augenblicken einer starken Freude wurde er stets traurig, er wußte selbst nicht warum. Er schaute aufmerksam um sich und wunderte sich, daß er hierhergeraten war. Er war sehr müde, ging zu der Bank und setzte sich darauf. Ringsum herrschte tiefe Stille. Die Musik im Vauxhall hatte schon aufgehört. Im Park war vielleicht keine Menschenseele mehr; es war ja auch schon mindestens halb zwölf. Es war eine stille, warme, helle Nacht, so eine echte Petersburger Nacht zu Anfang Juni, aber in dem dichten, schattigen Park und in der Allee, in der er sich befand, war es schon fast ganz dunkel.

Wenn ihm jemand in diesem Augenblick gesagt hätte, daß er verliebt, leidenschaftlich verliebt sei, so würde er diesen Gedanken erstaunt und vielleicht sogar entrüstet zurückgewiesen haben. Und wenn jemand hinzugefügt hätte, daß Aglajas Zettelchen ein Liebesbrief sei, die Aufforderung zu einem Rendezvous, so würde er sich für ihn in tiefster Seele geschämt und ihn vielleicht zum Duell gefordert haben. Diese seine ganze Anschauung war völlig aufrichtig und durch keinerlei Zweifel getrübt, und er lehnte jede Spur eines »doppelten« Gedankens an die Möglichkeit der Liebe eines solchen Mädchens zu ihm oder gar an die Möglichkeit seiner Liebe zu diesem Mädchen entschieden ab. Eines solchen Gedankens hätte er sich geschämt: die Annahme, daß sie ihn, »einen solchen Menschen«, lieben könne, hätte er für ungeheuerlich gehalten. Seiner Vorstellung nach handelte es sich von ihrer Seite einfach um Mutwillen, wenn überhaupt etwas dahintersteckte, aber er fand diesen Mutwillen ganz natürlich und regte sich darüber nicht auf; etwas ganz anderes war es, was ihn beschäftigte und seine Gedanken in Anspruch nahm. Die Bemerkung, die kurz vorher dem General in seiner Erregung entschlüpft war, daß sie sich über alle und namentlich über ihn, den Fürsten, lustig mache, hielt er für vollkommen richtig. Er fühlte sich dadurch auch nicht im geringsten verletzt, seiner Meinung nach mußte es so sein. Die Hauptsache war für ihn, daß er sie am nächsten Tage frühmorgens wiedersehen, neben ihr auf der grünen Bank sitzen, die Belehrung über das Laden von Pistolen anhören und sie ansehen würde. Weiter hatte er keinen Wunsch. Die Frage, was sie ihm eigentlich sagen wollte und was das für eine wichtige, ihn direkt angehende Angelegenheit war, tauchte ebenfalls ein- oder zweimal in seinem Kopf auf. An der tatsächlichen Existenz dieser »wichtigen Angelegenheit«, um derentwillen er zum Rendezvous bestellt war, zweifelte er übrigens keinen Augenblick, aber er dachte an diese wichtige Angelegenheit jetzt fast gar nicht, so wenig, daß er nicht einmal den geringsten Drang verspürte, daran zu denken.

Das Knirschen leiser Schritte auf dem Sand der Allee veranlaßte ihn, den Kopf zu heben. Ein Mensch, dessen Gesicht in der Dunkelheit schwer zu erkennen war, näherte sich der Bank und setzte sich neben ihn. Der Fürst rückte schnell nahe an ihn heran und erkannte das bleiche Gesicht Rogoshins.

»Das habe ich doch gewußt, daß du hier irgendwo umherschweifst, ich habe auch nicht lange zu suchen brauchen«, murmelte Rogoshin durch die Zähne.

Es war das erstemal seit ihrer Begegnung auf der Treppe des Gasthauses, daß sie miteinander zusammentrafen. Überrascht durch Rogoshins plötzliches Erscheinen, konnte der Fürst eine Weile nicht seine Gedanken sammeln, und eine qualvolle Empfindung wurde in seinem Herzen wieder wach. Rogoshin hatte offenbar Verständnis für den Eindruck, den er hervorrief; aber obgleich er anfänglich verwirrt zu sein und mit einer Art gekünstelter Ungezwungenheit zu reden schien, schien es dem Fürsten doch bald, daß sein Benehmen ungekünstelt und nicht einmal besonders verlegen war: wenn eine gewisse Ungeschicklichkeit in seinen Gesten und seiner Redeweise zutage trat, so war das nur äußerlich; im Herzen konnte sich dieser Mensch nicht verändern.

»Wie hast du… mich denn hier gefunden?« fragte der Fürst, um etwas zu sagen.

»Ich hatte von Keller gehört (ich war nämlich in deiner Wohnung), du wärest in den Park gegangen; na, dachte ich, dann ist die Sache richtig.«

»Was heißt das: ›die Sache ist richtig‹?« fragte der Fürst, indem er aufgeregt den Ausdruck aufgriff, der dem andern entschlüpft war.

Rogoshin lächelte, gab aber keine Erklärung.

»Ich habe deinen Brief erhalten, Lew Nikolajitsch; du hast dir unnütze Mühe gemacht…, wozu tust du das nur!… Jetzt aber komme ich zu dir in ihrem Auftrag: du sollst unbedingt zu ihr kommen; sie hat dir etwas zu sagen. Sie läßt dich bitten, noch heute hinzukommen.«

»Ich werde morgen kommen. Ich gehe jetzt gleich nach Hause. Willst du nicht… zu mir kommen?«

»Wozu? Ich habe dir alles Nötige gesagt. Leb wohl!«

»Willst du nicht doch mitgehen?« fragte ihn der Fürst leise.

»Du bist ein sonderbarer Mensch, Lew Nikolajitsch; man muß sich über dich wundern.«

Rogoshin lächelte spöttisch.

»Warum? Weshalb hast du jetzt einen solchen Groll gegen mich?« fragte ihn der Fürst traurig und mit leidenschaftlicher Empfindung. »Du weißt ja jetzt selbst, daß alles, was du gedacht hast, unwahr ist. Übrigens habe ich es mir auch gedacht, daß dein Groll gegen mich noch nicht vergangen sein würde, und weißt du weshalb? Weil du mir nach dem Leben getrachtet hast, darum vergeht dein Groll nicht. Ich sage dir, ich erinnere mich nur an jenen Parfen Rogoshin, mit dem ich an jenem Tag das Kreuz gewechselt habe; ich habe dir das in meinem gestrigen Brief geschrieben, damit du diesen ganzen Fieberwahn vergessen und nicht mit mir davon zu reden anfangen möchtest. Warum rückst du von mir weg? Warum versteckst du deine Hand vor mir? Ich sage dir, daß ich alles damals Geschehene nur für einen Fieberwahn halte: ich kenne dich, wie du an jenem ganzen Tage warst, durch und durch, wie mich selbst. Das, was du dir einbildest, hat nicht existiert und konnte nicht existieren. Warum soll unser Groll fortdauern?«

»Was kannst du denn für Groll empfinden?« erwiderte Rogoshin, wieder lachend, auf die warmen Worte des Fürsten. Er stand wirklich etwas von ihm entfernt, da er ein paar Schritte zurückgewichen war, und hielt seine Hände versteckt.

»Es schickt sich jetzt für mich überhaupt nicht, zu dir zu kommen, Lew Nikolajitsch«, fügte er langsam und bedeutsam zum Schluß hinzu.

»So sehr haßt du mich also? Wie?«

»Ich liebe dich nicht, Lew Nikolajitsch, also warum sollte ich zu dir kommen? Ach, Fürst, du bist ganz wie ein kleines Kind: du möchtest ein Spielzeug haben; ›gib her, gib her!‹ heißt es, aber du verstehst von der Sache gar nichts. Was du jetzt sagst, hast du mir alles ganz ebenso in deinem Brief geschrieben; meinst du denn, daß ich dir nicht glaube? Ich glaube jedes Wort, das du sagst, und weiß, daß du mich nie getäuscht hast und nie täuschen wirst; aber ich liebe dich trotzdem nicht. Du schreibst mir, du hättest alles vergessen und erinnerst dich nur an deinen Kreuzbruder Rogoshin, aber nicht an jenen Rogoshin, der damals das Messer gegen dich gezückt habe. Aber woher kennst du denn meine Gefühle?« Rogoshin lächelte wieder.) »Ich habe das vielleicht seitdem noch nie bereut, und du hast mir schon deine brüderliche Verzeihung geschickt. Vielleicht habe ich gleich an jenem selben Abend schon an etwas ganz anderes gedacht und diese Geschichte…«

»Und diese Geschichte vergessen!« fiel der Fürst ein.

»Wie könnte es auch anders sein! Ich möchte wetten, daß jedesmal, wenn sie den Betreffenden ansieht, denkt: Jetzt quäle ich ihn halbtot, aber nachher werde ich durch meine Liebe alles wiedergutmachen›…«

Rogoshin lachte, als er den Fürsten das sagen hörte.

»Hör mal, Fürst, du bist wohl selbst an so eine geraten? Ich habe so etwas über dich gehört, wenn’s wahr ist.«

»Was kannst du gehört haben? Was?« fragte der Fürst, der plötzlich zusammenfuhr und in großer Bestürzung stehenblieb.

Rogoshin fuhr fort zu lachen. Er hatte mit Interesse und vielleicht nicht ohne Vergnügen dem Fürsten zugehört; die freudige, warme Begeisterung des Fürsten imponierte ihm und ermutigte ihn.

»Und ich habe nicht nur etwas gehört, sondern ich sehe jetzt auch selbst, daß es wahr ist«, fügte er hinzu. »Wann hättest du denn jemals so geredet wie jetzt? Deine Reden klingen ja gar nicht, als ob sie von dir kämen. Hätte ich nicht so etwas über dich gehört, so würde ich nicht zu dir gekommen sein, noch dazu in den Park, um Mitternacht.«

»Ich verstehe dich absolut nicht, Parfen Semjonytsch.«

»Sie hat mir das schon vor längerer Zeit von dir gesagt, und vorhin habe ich es mit eigenen Augen gesehen, als du mit der andern bei der Musik saßest. Sie hat mir geschworen, gestern und heute hat sie mir geschworen, daß du in Aglaja Jepantschina wie ein Kater verliebt seist. Mir ist das ganz gleichgültig, Fürst, das geht mich nichts an: wenn du sie auch nicht mehr liebst, so liebt doch sie dich noch immer. Du weißt ja, daß sie aus dir und jener andern unter allen Umständen ein Paar machen will, das hat sie sich nun einmal in den Kopf gesetzt, hehe! Sie sagt zu mir: ›Sonst heirate ich dich nicht; wenn die beiden zum Traualtar gehen, dann wollen wir es auch tun.‹ Was das zu bedeuten hat, habe ich nie begriffen und begreife ich auch jetzt nicht: entweder liebt sie dich grenzenlos oder… wenn sie dich liebt, wie kann sie dann wünschen, daß du eine andere heiratest? Sie sagt: ›Ich will ihn glücklich sehen‹, also liebt sie dich.«

»Ich habe dir gesagt und geschrieben, daß sie… nicht bei Sinnen ist«, sagte der Fürst, der Rogoshin mit innerer Qual angehört hatte.

»Gott mag’s wissen! Vielleicht irrst du dich auch… Übrigens hat sie heute, als ich sie von der Musik nach Hause brachte, unsern Hochzeitstag bestimmt: ›In drei Wochen‹, sagt sie, ›vielleicht auch schon früher, wollen wir uns bestimmt trauen lassen.‹ Sie hat es geschworen, hat das Heiligenbild von der Wand genommen und geküßt. Also hängt die Sache jetzt von dir ab, Fürst, hehe!«

»Das ist lauter irres Gerede! Das, was du da von mir sagst, kann nie geschehen! Ich werde morgen zu euch kommen…«

»Wie soll sie denn geisteskrank sein?« bemerkte Rogoshin. »Allen andern scheint sie bei Verstand zu sein, und nur du hältst sie für verrückt. Wie könnte sie denn Briefe dorthin schreiben? Wenn sie geisteskrank wäre, dann würde es doch auch dort an den Briefen gemerkt werden.«

»Was für Briefe?« fragte der Fürst erschrocken.

»Sie schreibt dorthin, an jene, und die liest es. Weißt du das denn nicht? Na, dann wirst du es schon noch erfahren; sie wird dir die Briefe schon selbst zeigen.«

»Das kann ich nicht glauben!« rief der Fürst.

»O weh! Du, Lew Nikolajitsch, hast, wie ich sehe, auf diesem Gebiet noch nicht viel Erfahrung, sondern bist noch ein Anfänger. Warte nur ein bißchen: du wirst dir deine eigene Polizei halten und selbst Tag und Nacht auf dem Posten sein und jeden Schritt von dort in Erfahrung bringen, wenn du nur erst…«

»Laß das und rede nie wieder davon!« rief der Fürst. »Höre, Parfen, ich bin hier soeben, bevor du kamst, umhergegangen und fing auf einmal an zu lachen, worüber, weiß ich selbst nicht, aber der äußere Anlaß war, daß mir einfiel, daß gerade morgen mein Geburtstag ist. Jetzt ist es bald zwölf Uhr. Komm mit, wir wollen den Tag zusammen begrüßen! Ich habe Wein zu Hause, den wollen wir trinken, wünsche du mir das, was ich mir selbst jetzt nicht zu wünschen weiß, ich lege Wert darauf, daß gerade du es mir wünschst, und ich werde dir wünschen, daß du vollkommen glücklich wirst. Sonst mußt du mir das Kreuz zurückgeben! Du hast mir das Kreuz damals doch nicht am nächsten Tag zurückgeschickt! Du trägst es doch noch? Trägst du es auch in diesem Augenblick?«

»Ja, ich trage es«, antwortete Rogoshin.

»Nun, dann wollen wir gehen! Ich will mein neues Leben nicht ohne dich antreten, denn es hat allerdings ein neues Leben für mich begonnen! Weißt du es nicht, Parfen, daß heute für mich ein neues Leben begonnen hat?«

»Jetzt sehe ich selbst und weiß selbst, daß das der Fall ist; ich werde es auch ihr berichten. Du bist ja ganz außer dir, Lew Nikolajitsch!«

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Kapitel 32

IV

Mit großem Vergnügen bemerkte der Fürst, als er sich mit Rogoshin seinem Landhause näherte, daß in seiner hell erleuchteten Veranda eine zahlreiche, lärmende Gesellschaft versammelt war. Es wurde lustig gelacht und geredet, anscheinend sogar unter Geschrei debattiert; man erkannte auf den ersten Blick, daß diese Leute die Zeit höchst heiter verbrachten. Und wirklich sah er, als er zur Veranda hinaufgestiegen war, daß alle tranken, und zwar Champagner tranken und dies, wie es schien, schon ziemlich lange getan hatten, so daß viele der Zechenden sich bereits in einem sehr angenehmen, angeregten Zustand befanden. Die Gäste waren lauter Bekannte des Fürsten, aber es war merkwürdig, daß sie sich alle auf einmal wie auf eine Einladung zusammengefunden hatten, obwohl der Fürst in Wirklichkeit niemand eingeladen und sich an seinen Geburtstag selbst soeben nur zufällig erinnert hatte.

»Du hast gewiß jemand mitgeteilt, daß du Champagner spendierst, und da sind sie zusammengelaufen«, murmelte Rogoshin, als er hinter dem Fürsten die Veranda betrat. »Das kenne ich; solchen Leuten braucht man nur zu pfeifen…«, fügte er ingrimmig hinzu, offenbar in Erinnerung an seine eigene, noch nicht weit zurückliegende Vergangenheit.

Alle begrüßten den Fürsten mit Freudenrufen und Glückwünschen und umringten ihn. Manche machten dabei viel Lärm, andere benahmen sich ruhiger, aber alle beeilten sich, ihm zu gratulieren, da sie von seinem Geburtstag gehört hatten, und jeder wartete auf den Augenblick, wo er an die Reihe kommen würde. Die Anwesenheit mancher Persönlichkeiten, so zum Beispiel Burdowskijs, war dem Fürsten interessant, aber am erstaunlichsten war es ihm, daß sich auch Jewgenij Pawlowitsch in dieser Gesellschaft befand; der Fürst traute kaum seinen Augen und bekam beinah einen Schreck, als er ihn erblickte.

Unterdessen kam auch Lebedew, mit gerötetem Gesicht und sehr enthusiasmiert, herbeigelaufen und erklärte den Hergang; er war schon in hohem Grade fertig. Aus seinem Geschwätz war zu entnehmen, daß alle sich ganz natürlich, ja zufällig zusammengefunden hatten. Am frühesten von allen, noch vor Abend, war Ippolit gekommen und hatte, da er sich weit besser fühlte, den Fürsten in der Veranda zu erwarten gewünscht. Er hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht; dann war Lebedew hinzugekommen, hierauf dessen ganze Familie, das heißt General Iwolgin und die Töchter. Burdowskij war zugleich mit Ippolit angekommen, den er herbegleitet hatte. Ganja und Ptizyn waren erst vor kurzem, als sie gerade vorübergingen, eingetreten ihr Erscheinen fiel mit den Vorgängen im Vauxhall zusammen); darauf war Keller erschienen, hatte von dem Geburtstag Mitteilung gemacht und Champagner verlangt. Jewgenij Pawlowitsch hatte sich erst vor einer halben Stunde eingefunden. Auf das Champagnertrinken und die Veranstaltung eines Festes hatte auch Kolja mit aller Energie gedrungen. Lebedew hatte bereitwillig Wein aufgetragen.

»Aber von meinem eigenen, von meinem eigenen!« beteuerte er dem Fürsten lallend. »Auf meine eigenen Kosten, um Ihren Geburtstag festlich zu begehen und Ihnen zu gratulieren; es wird auch etwas zu essen geben, einen Imbiß; meine Tochter ist schon dabei, das zu besorgen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, über welches Thema wir gerade debattieren! Erinnern Sie sich an die Stelle im Hamlet: ›Sein oder Nichtsein‹? Das ist ein zeitgemäßes Thema, ein sehr zeitgemäßes Thema! Wir werfen Fragen auf und beantworten sie… Auch Herr Terentjew ist im höchsten Grade… er ist gar nicht müde! Von dem Champagner hat er nur genippt, nur genippt; das kann ihm nicht schaden… Treten Sie näher, Fürst, und entscheiden Sie! Alle haben wir nur auf Sie gewartet und auf Ihren glücklichen Verstand …«

Der Blick des Fürsten begegnete dem lieben, freundlichen Blicke Wera Lebedewas, die sich ebenfalls eilig bemühte, durch den Schwarm zu ihm vorzudringen. Unter Übergehung aller andern streckte er ihr zuerst die Hand hin; sie errötete vor Freude und wünschte ihm, daß er von diesem Tage an immer glücklich leben möge. Dann lief sie schleunigst in die Küche, wo sie den Imbiß herrichtete; aber auch vor der Ankunft des Fürsten war sie mehrmals, sowie sie sich nur für ein Weilchen von ihrer Arbeit hatte losmachen können, in der Veranda erschienen und hatte eifrig zugehört, wie die angetrunkenen Gäste unausgesetzt über ganz abstrakte und ihr ganz fernliegende Gegenstände debattierten. Ihre jüngere Schwester war mit offenem Mund im Nebenzimmer auf einem Koffer eingeschlafen, der Knabe aber, Lebedews Sohn, stand neben Kolja und Ippolit, und schon sein begeisterter Gesichtsausdruck zeigte, daß er bereit war, hier noch lange in genußreichem Zuhören auf einem Fleck stehenzubleiben, selbst zehn Stunden hintereinander.

»Ich habe speziell auf Sie gewartet und freue mich außerordentlich, daß Sie in so glücklicher Stimmung gekommen sind«, sagte Ippolit, als der Fürst unmittelbar nach Begrüßung Weras zu ihm trat, um ihm die Hand zu drücken.

»Aber woher wissen Sie, daß ich mich ›in so glücklicher Stimmung‹ befinde?«

»Das sieht man Ihnen am Gesicht an. Begrüßen Sie die Herren, und setzen Sie sich so bald wie möglich hierher zu mir! Ich habe speziell auf Sie gewartet«, fügte er hinzu, indem er einen bedeutsamen Nachdruck darauf legte, daß er gewartet habe. Auf die Bemerkung des Fürsten, ob ihm das lange Aufbleiben auch nicht schädlich sein würde, erwiderte er, er wundere sich selbst darüber, daß er vor drei Tagen habe sterben wollen, er habe sich nie wohler gefühlt als an diesem Abend.

Burdowskij sprang auf und murmelte, er sei »nur so« … er habe Ippolit »herbegleitet« und freue sich ebenfalls; in dem Brief habe er »allerlei Unsinn geschrieben«, aber jetzt empfinde er »einfach« Freude… Er sprach nicht zu Ende, drückte dem Fürsten kräftig die Hand und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

Nach Begrüßung aller andern trat der Fürst auch zu Jewgenij Pawlowitsch. Dieser faßte ihn sogleich unter den Arm.

»Ich möchte Ihnen nur ein paar Worte sagen«, flüsterte er ihm zu, »und zwar in einer überaus wichtigen Angelegenheit. Lassen Sie uns einen Augenblick beiseite treten.«

»Nur ein paar Worte!« flüsterte eine andere Stimme dem Fürsten in das andere Ohr, und eine andere Hand faßte ihn von der anderen Seite unter den Arm. Der Fürst erblickte mit Erstaunen eine Gestalt mit gerötetem, blinzelndem, lachendem Gesicht und wirrem Haar und erkannte im gleichen Augenblick Ferdyschtschenko, der sich, Gott weiß woher, hier wieder angefunden hatte.

»Erinnern Sie sich noch an Ferdyschtschenko?« fragte dieser.

»Wo kommen Sie denn her?« rief der Fürst.

»Er bereut!« rief der herbeilaufende Keller. »Er hatte sich versteckt und wollte sich nicht sehen lassen, er hatte sich dahinten in einem Winkel versteckt; er bereut, Fürst, er fühlt sich schuldig.«

»Schuldig? Wieso?«

»Ich habe ihn getroffen, Fürst, ich habe ihn vorhin eben getroffen und mit hergebracht; er ist einer meiner besten Freunde, aber er bereut.«

»Ich freue mich sehr, meine Herren, gehen Sie nur, und setzen Sie sich dort zu den andern; ich komme auch gleich«, sagte der Fürst, indem er sich endlich losmachte und zu Jewgenij Pawlowitsch eilte.

»Es ist ja hier bei Ihnen sehr amüsant«, bemerkte dieser, »und ich habe mit Vergnügen eine halbe Stunde lang auf Sie gewartet. Was ich sagen wollte, liebster Lew Nikolajewitsch: ich habe alles mit Kurmyschew geordnet und kam her, um Sie zu beruhigen; Sie brauchen sich nicht darüber aufzuregen, er hat die Sache sehr, sehr vernünftig aufgefaßt, was auch um so näherlag, als er meiner Ansicht nach selbst die meiste Schuld hatte.«

»Mit was für einem Kurmyschew?«

»Nun, mit dem, den Sie vorhin an den Armen gepackt haben… Er war so wütend, daß er schon beabsichtigte, morgen zu Ihnen zu schicken und Genugtuung zu fordern.«

»Ich bitte Sie, was für ein Unsinn!«

»Natürlich ist es ein Unsinn, und die Sache wäre auch sicher harmlos erledigt worden, aber diese Leute sind bei uns hier…«

»Sie sind vielleicht auch noch zu einem andern Zweck hergekommen, Jewgenij Pawlytsch?«

»Oh, natürlich noch zu einem andern Zweck!« versetzte dieser lachend. »Lieber Fürst, ich fahre morgen bei Tagesanbruch in dieser unglücklichen Angelegenheit (nun ja, ich meine die Sache mit meinem Onkel) nach Petersburg. Denken Sie sich nur: es ist alles wahr, und alle Leute wissen davon mehr als ich. Mich hat die Sache so mitgenommen, daß ich heute nicht mehr dazu gekommen bin, dorthin zu gehen (zu Jepantschins), und morgen werde ich es ebenfalls nicht können, weil ich in Petersburg sein werde, Sie verstehen. Vielleicht werde ich ungefähr drei Tage von hier abwesend sein – kurz gesagt, meine Sache kommt nicht voran. Obwohl es eine Sache von allergrößter Wichtigkeit ist, habe ich es doch für das richtige gehalten, mich Ihnen gegenüber in der offenherzigsten Weise und unverzüglich, das heißt noch vor meiner Abreise, auszusprechen. Ich werde jetzt, wenn es Ihnen recht ist, noch ein Weilchen hier sitzenbleiben und warten, bis die Gesellschaft auseinandergeht; überdies wüßte ich auch nicht, was ich sonst anfangen sollte: ich bin so aufgeregt, daß ich mich gar nicht schlafen legen werde. Endlich möchte ich Ihnen noch eins geradeheraus sagen: obwohl es gewissenlos und unschicklich ist, sich jemandem so geradezu aufzudrängen, so bin ich doch hergekommen, um Ihre Freundschaft zu gewinnen, mein lieber Fürst; Sie sind ein unvergleichlicher Mensch, das heißt, Sie lügen nicht auf Schritt und Tritt und vielleicht überhaupt nicht, und ich bedarf in einer gewissen Angelegenheit eines Freundes und Ratgebers, weil ich jetzt tatsächlich ein unglücklicher Mensch bin…«

Er lachte wieder auf.

»Das Schlimme ist nur«, sagte der Fürst, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, »Sie wollen warten, bis diese Leute auseinandergehen, aber weiß Gott, wann das geschehen wird. Wäre es nicht das beste, wenn wir jetzt in den Park gingen? Gewiß werden sie ein Weilchen warten, ich werde mich entschuldigen.«

»Nein, nein, ich möchte aus bestimmten Gründen nicht den Verdacht aufkommen lassen, als führten wir ein Gespräch mit besonderen Absichten; es sind hier Leute darunter, die sich sehr für unsere Beziehungen interessieren, wissen Sie das nicht, Fürst? Es wird weit besser sein, wenn sie sehen, daß wir auch ohnehin in sehr freundschaftlichen Beziehungen stehen, von allen Sonderfällen abgesehen, verstehen Sie wohl? Sie werden in etwa zwei Stunden auseinandergehen, dann möchte ich Sie zwanzig Minuten in Anspruch nehmen – nun, oder eine halbe Stunde…«

»Aber ich bitte sehr, mit Vergnügen; ich freue mich darüber auch ohne alle Erklärungen, und für Ihre liebenswürdigen Worte über unsere freundschaftlichen Beziehungen danke ich Ihnen herzlich. Sie entschuldigen, daß ich heute zerstreut bin; wissen Sie, ich kann mich augenblicklich gar nicht zur Aufmerksamkeit zwingen.«

»Ich sehe, ich sehe«, murmelte Jewgenij Pawlowitsch mit einem leisen Lächeln! Er war an diesem Abend überhaupt sehr zum Lachen aufgelegt.

»Was sehen Sie denn?« fragte der Fürst erschrocken.

»Hegen Sie denn gar keinen Verdacht, lieber Fürst«, sagte Jewgenij Pawlowitsch, immer noch lächelnd, ohne auf die direkte Frage zu antworten, »hegen Sie denn gar keinen Verdacht, daß ich einfach hergekommen bin, um Sie hinters Licht zu führen und so nebenbei etwas von Ihnen herauszubekommen, wie?«

»Daß Sie hergekommen sind, um etwas von mir herauszubekommen, daran ist kein Zweifel«, antwortete der Fürst lachend, »und vielleicht haben Sie sich auch vorgenommen, mich ein bißchen zu betrügen. Aber nur zu! Ich fürchte mich vor Ihnen nicht, und außerdem ist es mir jetzt ganz gleichgültig, wollen Sie mir das glauben? Und… und… und da ich vor allem überzeugt bin, daß Sie trotzdem ein vortrefflicher Mensch sind, so werden wir möglicherweise wirklich am Ende Freundschaft miteinander schließen. Sie haben mir sehr gefallen, Jewgenij Pawlytsch; Sie… sind meiner Ansicht nach ein sehr anständiger Mensch!«

»Nun, jedenfalls ist es sehr angenehm, mit Ihnen etwas zu tun zu haben, mag es sein, was es will«, schloß Jewgenij Pawlowitsch. »Kommen Sie, ich will ein Glas auf Ihre Gesundheit trinken; ich bin sehr zufrieden, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe. Ah!« unterbrach er sich plötzlich. »Ist dieser Herr Ippolit vollständig zu Ihnen übergesiedelt?«

»Ja.«

»Ich meine, er wird nicht so bald sterben.«

»Wieso meinen Sie das?«

»Ich denke es mir so; ich habe hier eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft verbracht…«

Ippolit wartete diese ganze Zeit auf den Fürsten und blickte ununterbrochen nach ihm und Jewgenij Pawlowitsch hin, während die beiden abseits standen und miteinander redeten. Er zeigte eine krankhafte Lebhaftigkeit, als sie an den Tisch traten. Er war unruhig und aufgeregt; der Schweiß trat ihm auf die Stirn. In seinen funkelnden Augen kam außer einer dauernden unsteten Unruhe auch eine unbestimmte Ungeduld zum Ausdruck, sein Blick irrte ziellos von einem Gegenstand zum andern, von einer Person zur andern. Er hatte sich zwar an dem gemeinsamen lärmenden Gespräch bisher stark beteiligt, aber sein Eifer hatte etwas Fieberhaftes; im Grunde schenkte er dem Gespräch wenig Aufmerksamkeit; was er in der Debatte vorbrachte, war unzusammenhängend und klang spöttisch, geringschätzig warf er paradoxe Bemerkungen hin; er sprach seine Gedanken nicht bis zu Ende aus und ließ ein Thema, über das er eine Minute vorher selbst mit glühendem Eifer zu sprechen begonnen hatte, schnell wieder fallen. Der Fürst erfuhr mit Verwunderung und Bedauern, daß man ihn an diesem Abend ungehindert schon zwei volle Gläser Champagner hatte trinken lassen und daß das vor ihm stehende angefangene Glas schon das dritte war. Aber er erfuhr dies erst später; im Augenblick war er nicht imstande, seine Umgebung genau zu beobachten.

»Wissen Sie, ich freue mich außerordentlich darüber, daß gerade heute Ihr Geburtstag ist!« rief Ippolit.

»Warum denn?«

»Das werden Sie bald sehen; setzen Sie sich nur schnell her! Erstens schon deswegen, weil hier alle unsere Leute zusammengekommen sind. Ich hatte damit gerechnet, daß Leute hier sein würden; zum erstenmal in meinem Leben hat sich eine Rechnung von mir als richtig erwiesen! Aber schade, daß ich von Ihrem Geburtstag nichts gewußt habe, sonst hätte ich ein Geschenk mitgebracht… Haha! Ja, vielleicht habe ich aber wirklich eins mitgebracht! Dauert es noch lange, bis es Tag wird?«

»Bis zum Morgengrauen sind es nicht mehr ganz zwei Stunden«, sagte Ptizyn nach einem Blick auf die Uhr.

»Wozu braucht es jetzt erst noch Tag zu werden, wo man draußen auch ohne das lesen kann?« bemerkte jemand.

»Damit ich ein Stückchen von der Sonne sehen kann. Kann man auf die Gesundheit der Sonne trinken, Fürst? Wie denken Sie darüber?«

Ippolit stellte seine Fragen in scharfem Ton und wendete sich ungeniert, als kommandierte er, an alle, schien sich aber dessen selbst nicht bewußt zu sein.

»Trinken wir darauf, meinetwegen! Nur sollten Sie sich beruhigen, Ippolit, nicht?«

»Sie reden immer von Schlafen, Sie sind meine Kinderfrau, Fürst! Sobald die Sonne erscheint und am Himmel ertönt (wer hat das doch in einem Gedicht gesagt: ›Die Sonne tönt nach alter Weise‹? Es ist sinnlos, aber schön!) dann will ich mich schlafen legen. Lebedew! Die Sonne ist ja wohl die Quelle des Lebens? Was bedeuten die ›Quellen des Lebens‹ in der Apokalypse? Sie haben wohl von dem ›Wermutstern‹ gehört, Fürst?«

»Ich habe gehört, daß Lebedew diesen ›Wermutstern‹ für das Eisenbahnnetz hält, das Europa überzieht.«

»Nein, erlauben Sie, das ist nicht gestattet!« schrie Lebedew, indem er aufsprang und lebhaft mit den Armen gestikulierte, als wollte er das allgemeine Gelächter, das sich erhob, hemmen. »Erlauben Sie! Mit diesen Herren… all diese Herren«, wandte er sich plötzlich an den Fürsten, »das ist in mehreren Punkten gegen die Verabredung, hören Sie nur…« Und er schlug sehr ungezwungen zweimal auf den Tisch, wodurch das Gelächter noch stärker wurde.

Lebedew befand sich nicht nur in seinem gewöhnlichen »Abendzustand«, sondern es kam diesmal auch noch hinzu, daß er durch die vorhergehende lange »gelehrte« Debatte besonders aufgeregt und gereizt war; in solchen Fällen benahm er sich gegen seine Opponenten mit grenzenloser und im höchsten Grade offenherziger Geringschätzung.

»Das ist nicht gestattet! Fürst, vor einer halben Stunde haben wir eine Verabredung getroffen: es darf niemand unterbrochen werden, es darf nicht gelacht werden, solange jemand spricht, es soll jeder alles freiheraus sagen dürfen. Nachher können ja auch die Atheisten, wenn sie wollen, ihre Erwiderungen vorbringen. Wir haben den General als Vorsitzenden eingesetzt, jawohl! Denn wie soll es anders gehen? Man könnte jeden, der eine hohe Idee, eine tiefsinnige Idee vorbringt, konfus machen…«

»Reden Sie doch, reden Sie doch! Niemand wird Sie stören!« riefen mehrere.

»Reden Sie, aber reden Sie nicht zuviel Unsinn!«

»Was ist das für ein ›Wermutstern‹?« erkundigte sich jemand.

»Ich habe keine Ahnung!« antwortete General Iwolgin und nahm mit wichtiger Miene den ihm vorhin zuerkannten Platz als Vorsitzender ein.

»Ich liebe all diese gereizten Debatten außerordentlich, Fürst, natürlich nur Debatten über gelehrte Themen«, murmelte unterdessen Keller, der in höchster Begeisterung und Ungeduld auf seinem Stuhl hin und her rückte, »über gelehrte und politische Themen«, wandte er sich plötzlich und unerwartet an Jewgenij Pawlowitsch, der in seiner Nähe saß. »Wissen Sie, ich lese furchtbar gern in den Zeitungen die Berichte über die Sitzungen des englischen Parlaments, das heißt, mich interessieren dabei nicht die Gegenstände, über die sie beraten (wissen Sie, ich bin kein Politiker), sondern die Art, wie sie miteinander reden und sich sozusagen wie Staatsmänner benehmen: ›der sehr ehrenwerte Vicomte, der mir gegenübersitzt‹, ›der sehr ehrenwerte Graf, der meine Ansicht teilt‹, ›mein sehr ehrenwerter Gegner, der durch seinen Antrag Europa in Erstaunen versetzt hat‹, das heißt diese ganze Ausdrucksweise, dieser ganze Parlamentarismus eines freien Volkes – das hat für unsereinen etwas Verlockendes. Dafür begeistere ich mich, Fürst. Ich bin immer in tiefster Seele ein Künstler gewesen, das schwöre ich Ihnen, Jewgenij Pawlytsch.«

»Und was ist nun das Resultat von alledem?« ereiferte sich Ganja an einer anderen Ecke des Tisches. »Ihrer Meinung nach ergibt sich daraus, daß die Eisenbahnen verflucht sind, daß sie das Verderben der Menschheit sind, daß sie eine Pest sind, die die Erde befallen hat, um die ›Quellen des Lebens‹ zu trüben?«

Gawrila Ardalionowitsch befand sich, wie es dem Fürsten schien, an diesem Abend in einer besonders angeregten, heiteren und beinah triumphierenden Stimmung. Mit Lebedew trieb er offenbar Scherz, indem er ihn aufstachelte, aber er wurde dabei bald selbst hitzig.

»Nicht die Eisenbahnen, nein!« versetzte Lebedew, der außer sich geriet und zugleich einen maßlosen Genuß empfand. »Was die Quellen des Lebens trübt, das sind nicht speziell die Eisenbahnen, sondern all diese verdammten Dinge zusammen sind verflucht; diese ganze Tendenz der letzten Jahrhunderte mit ihren gesamten wissenschaftlichen und praktischen Zielen ist vielleicht tatsächlich verflucht.«

»Tatsächlich verflucht oder nur vielleicht verflucht? Das zu wissen ist wichtig«, fragte Jewgenij Pawlowitsch.

»Verflucht, verflucht, tatsächlich verflucht!« versicherte Lebedew hitzig.

»Übereilen Sie sich nicht, Lebedew, Sie sind morgens immer viel gutmütiger«, bemerkte Ptizyn lächelnd.

»Aber dafür bin ich abends offenherziger! Abends bin ich vertraulicher und offenherziger!« rief Lebedew, sich mit Lebhaftigkeit zu ihm wendend. »Aufrichtiger und bestimmter, ehrlicher und achtbarer; und wenn ich euch auch allen damit ins Gesicht schlage, das ist mir ganz gleichgültig. Jetzt fordere ich euch alle heraus, euch Atheisten alle: wodurch werdet ihr die Welt retten, und wodurch habt ihr für die Welt den rechten Weg gefunden, ihr Männer der Wissenschaft, der Industrie, der Assoziationen, Arbeitslöhne und so weiter? Wodurch? Durch den Kredit? Was ist das für ein Ding, der Kredit? Wohin wird euch der Kredit führen?«

»Sind Sie aber mal neugierig!« bemerkte Jewgenij Pawlowitsch.

»Meiner Ansicht nach ist jeder, der sich für solche religiösen Fragen nicht interessiert, ein geckenhafter Hohlkopf!«

»Aber der Kredit bewirkt doch die allgemeine Solidarität und das Gleichgewicht der Interessen«, bemerkte Ptizyn.

»Weiter aber auch nichts, weiter nichts! Von irgendwelcher sittlichen Grundlage ist dabei nicht die Rede, sondern nur von einer Befriedigung des persönlichen Egoismus und des materiellen Bedürfnisses. Der allgemeine Friede, das allgemeine Glück sollte durch die Befriedigung des Bedürfnisses herbeigeführt werden? Wenn ich mir die Frage erlauben darf: verstehe ich Sie da auch recht, mein Herr?«

»Aber es ist doch ein allgemeines Bedürfnis, zu leben, zu essen und zu trinken, und die wissenschaftlich völlig feststehende Überzeugung, daß dieses Bedürfnis nur durch einen allgemeinen Zusammenschluß und eine Solidarität der Interessen befriedigt werden kann, ist, wie mir scheint, ein Gedanke von hinreichender Kraft, um als Stützpunkt und ›Quelle des Lebens‹ für künftige Jahrhunderte der Menschheit zu dienen«, bemerkte Ganja, der jetzt ernstlich erregt wurde.

»Das Bedürfnis zu essen und zu trinken, das heißt also nur der Selbsterhaltungstrieb…«

»Genügt etwa der bloße Selbsterhaltungstrieb nicht? Der Selbsterhaltungstrieb ist doch das Fundamentalgesetz der Menschheit…«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« rief auf einmal Jewgenij Pawlowitsch. »Daß er ein Gesetz ist, das ist richtig, aber fundamental ist dieses Gesetz nicht mehr als das Gesetz des Vernichtungstriebes und vielleicht auch des Selbstvernichtungstriebes. Besteht denn etwa das ganze Fundamentalgesetz der Menschheit einzig und allein im Selbsterhaltungstrieb?«

»Ah!« rief Ippolit, indem er sich schnell zu Jewgenij Pawlowitsch hinwandte und ihn mit scheuer Neugier betrachtete; aber als er sah, daß dieser lachte, lachte er ebenfalls, stieß den neben ihm stehenden Kolja an und fragte ihn wieder, wie spät es sei; ja er zog sogar Koljas silberne Taschenuhr selbst zu sich heran und blickte eifrig nach den Zeigern. Dann streckte er sich, als hätte er alles vergessen, auf dem Sofa aus, legte die Hände hinter den Kopf und sah nach der Decke, aber eine halbe Minute darauf saß er schon wieder aufrecht am Tisch und hörte das Geschwätz Lebedews mit an, der im höchsten Grade hitzig geworden war.

»Das ist ein heimtückischer, spöttischer, aufstachelnder Gedanke!« erwiderte Lebedew eifrig auf Jewgenij Pawlowitschs paradoxe Behauptung. »Ein Gedanke, den Sie nur mit der Absicht ausgesprochen haben, die Gegner zum Kampf aufzuhetzen, – aber ein richtiger Gedanke! Denn Sie als weltlich gesinnter Spötter und Kavallerist (obwohl Sie nicht ohne Fähigkeiten sind) wissen selbst nicht, ein wie tiefsinniger, wahrer Gedanke Ihr Gedanke ist! Jawohl! Das Gesetz der Selbstvernichtung und das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark! Wie Gott, so beherrscht in gleicher Weise der Teufel die Menschheit bis zu einem uns noch unbekannten Zeitpunkt. Sie lachen? Sie glauben nicht an den Teufel? Der Unglaube an den Teufel ist ein französischer Gedanke, ein leichtfertiger Gedanke. Wissen Sie, wer der Teufel ist? Kennen Sie seinen Namen? Und obgleich Sie nicht einmal seinen Namen kennen, lachen Sie nach Voltaires Vorbild über seine Gestalt, über seine Hufe, seinen Schwanz und seine Hörner, die Sie doch selbst erfunden haben, denn der böse Geist ist ein großer, furchtbarer Geist und hat keine Hufe und Hörner, die Sie ihm andichten. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!…«

»Woher wissen Sie, daß es sich jetzt nicht um ihn handelt?« rief Ippolit plötzlich und lachte wie in einem krampfhaften Anfall.

»Das ist ein geschickter Gedanke, der eine feine Andeutung enthält!« lobte Lebedew. »Aber dennoch handelt es sich nicht darum, sondern wir beschäftigen uns mit der Frage, ob nicht die ›Quellen des Lebens‹ abnehmen infolge des Erstarkens…«

»Der Eisenbahnen?!« rief Kolja.

»Nicht der Eisenbahnverbindungen, Sie junger Hitzkopf, sondern jener ganzen Richtung, für die die Eisenbahnen sozusagen als Illustration, als künstlerischer Ausdruck dienen können. Man eilt und lärmt und pocht und hastet, wie man sagt, um die Menschheit glücklich zu machen! ›Es wird gar zu geräuschvoll und geschäftig in der Menschheit, es gibt zuwenig geistige Ruhe‹, klagt ein Denker, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat. ›Das mag sein, aber das Rasseln der Wagen, die der hungrigen Menschheit Brot zuführen, ist vielleicht noch besser als die geistige Ruhe‹, erwidert ihm siegesgewiß ein anderer Denker, einer, der überall geschäftig umherreist, und entfernt sich eitel und selbstgefällig. Aber ich, der schändliche Lebedew, glaube nicht an die Wagen, die der Menschheit Brot zuführen! Denn die Wagen, die der ganzen Menschheit Brot zuführen sollen, können, wenn es ihnen an der sittlichen Grundlage für ihr Handeln fehlt, auch ganz kaltblütig einen beträchtlichen Teil der Menschheit von dem Genuß des zugeführten Brotes ausschließen, was auch schon dagewesen ist…«

»Die Wagen können ganz kaltblütig ausschließen?« fragte jemand.

»Was auch schon dagewesen ist«, wiederholte Lebedew, ohne der Frage irgendwelche Beachtung zu schenken. »Es hat schon einen Menschenfreund wie Malthus gegeben. Aber ein Menschenfreund mit schwankender sittlicher Grundlage wird zu einem Menschenfresser, gar nicht zu reden von seiner Eitelkeit: denn man verletze die Eitelkeit irgendeines dieser zahllosen Menschenfreunde, und er wird sofort bereit sein, aus kleinlicher Rachsucht die Welt an allen vier Enden anzuzünden, – übrigens, um die Wahrheit zu sagen, genauso wie jeder von uns und auch ich, der Schändlichste von allen, es tun würde, denn ich würde vielleicht der erste sein, der Holz herbeiträgt und selbst davonläuft. Aber darum handelt es sich jetzt nicht!«

»Aber um was handelt es sich denn schließlich?«

»Langweiliges Gerede!«

»Es handelt sich um das folgende Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten, denn ich sehe mich genötigt, ein Geschichtchen aus früheren Jahrhunderten zu erzählen. In unserer Zeit wird in unserem Vaterland, das Sie, meine Herren, wie ich hoffe, ebenso lieben wie ich, denn ich meinerseits bin bereit, sogar all mein Blut dafür zu vergießen…«

»Weiter! Weiter!«

»In unserem Vaterland wird, ebenso wie im übrigen Europa, die Menschheit von allgemeinen, weite Landstrecken umfassenden Hungersnöten heimgesucht, und zwar, soweit sich das berechnen läßt und ich mich erinnern kann, jetzt nicht häufiger als einmal im Viertel Jahrhundert, mit anderen Worten einmal alle fünfundzwanzig Jahre. Über die genaue Ziffer will ich mich in keinen Streit einlassen, aber es kommt verhältnismäßig selten vor.«

»Im Verhältnis wozu?«

»Im Verhältnis zum zwölften Jahrhundert und den beiderseits anschließenden. Denn damals suchten, wie die Schriftsteller berichten und versichern, allgemeine Hungersnöte die Menschheit alle zwei Jahre oder wenigstens alle drei Jahre einmal heim, so daß bei einer solchen Lage der Dinge die Menschen sogar zum Kannibalismus ihre Zuflucht nahmen, wenn auch nur im geheimen. Einer dieser Übeltäter erklärte, als er zu höherem Alter gelangt war, aus freien Stücken und ohne jeden Zwang, er habe im Laufe seines langen, ärmlichen Lebens persönlich in aller Heimlichkeit sechzig Mönche umgebracht und aufgegessen, dazu noch einige Laienkinder, vielleicht sechs Stück, aber nicht mehr, das heißt außerordentlich wenige im Vergleich zu der Zahl der von ihm verzehrten Geistlichen. An erwachsene Laien hatte er, wie sich herausstellte, sich nie zu diesem Zweck herangemacht.«

»Das ist unmöglich!« rief der den Vorsitz führende General selbst, in einem Ton, als fühlte er sich persönlich beleidigt. »Ich diskutiere und debattiere häufig mit ihm, meine Herren, und immer über ähnliche Themen, aber meistens bringt er so absurdes, unglaubliches Zeug vor, daß einem ordentlich die Ohren davon weh tun!«

»General! Denk an die Belagerung von Kars, und Sie, meine Herren, mögen wissen, daß mein Geschichtchen die reine Wahrheit ist. Meinerseits bemerke ich, daß fast jedes tatsächliche Ereignis, wenn es auch auf unabänderlichen Gesetzen beruht, doch etwas Unwahrscheinliches an sich hat. Und je tatsächlicher es ist, um so unwahrscheinlicher kommt es einem manchmal vor.«

»Aber ist es denn möglich, sechzig Mönche aufzuessen?« rief man ringsum unter Lachen.

»Er hat sie ja doch offenbar nicht auf einmal gegessen, sondern vielleicht im Laufe von fünfzehn oder zwanzig Jahren, und dann erscheint die Sache schon ganz verständlich und natürlich…«

»Und natürlich?«

»Und natürlich!« wiederholte Lebedew bissig mit pedantischer Hartnäckigkeit. »Überdies ist ein katholischer Mönch schon von Natur zutraulich und neugierig und läßt sich leicht in den Wald oder an sonst einen einsamen Ort locken, wo man dann in der geschilderten Weise mit ihm verfährt, aber trotzdem will ich nicht bestreiten, daß die Anzahl der aufgegessenen Personen sehr groß erscheint und sogar auf Unmäßigkeit hinweist.«

»Vielleicht ist die Geschichte doch wahr, meine Herren«, bemerkte auf einmal der Fürst.

Bisher hatte er den Streitenden schweigend zugehört und sich nicht in das Gespräch gemischt, oft hatte er bei den allgemeinen Ausbrüchen von Heiterkeit herzlich mitgelacht. Man konnte ihm anmerken, daß er sich sehr darüber freute, daß es so lustig und lärmend zuging, und sogar darüber, daß sie soviel tranken. Vielleicht hätte er den ganzen Abend über kein Wort gesagt, aber es kam ihn auf einmal die Lust an zu reden. Und zwar redete er mit großem Ernst, so daß alle sich auf einmal neugierig zu ihm wandten.

»Ich möchte speziell darüber ein Wort sagen, meine Herren, daß damals so häufig Hungersnöte vorkamen. Davon habe auch ich gehört, obwohl ich in der Geschichte nur schlecht bewandert bin. Aber es scheint, daß es gar nicht anders sein konnte. Als ich in die Schweizer Berge verschlagen war, staunte ich sehr über die Ruinen der alten Ritterburgen, die an den Bergabhängen auf steilen Felsen gebaut sind, in einer Fallhöhe von mindestens einer halben Werst (das bedeutet einen mehrere Werst langen Anstieg auf den Saumpfaden). Es ist ja bekannt, was eine solche Burg ist: ein ganzer Berg von Steinen. Eine furchtbare, unglaubliche Arbeit! Und all diese Burgen mußten die armen Menschen, die Vasallen, bauen. Außerdem mußten sie allerlei Abgaben zahlen und die Geistlichkeit unterhalten. Wie sollten sie da die Erde bearbeiten und sich ernähren! Es gab damals von ihnen nur wenige; wahrscheinlich verhungerten sie massenhaft, und es war wohl buchstäblich nichts zu essen da. Ich dachte manchmal sogar: wie ist es nur zugegangen, daß diesem Volk damals nicht etwas ganz Schreckliches widerfuhr, daß es nicht ganz von der Erde verschwand, sondern weiterbestand und das alles ertrug? Daß es Menschenfresser gab, und vielleicht sehr viele, darin hat Lebedew ohne Zweifel recht; nur weiß ich nicht, warum er dabei gerade von Mönchen sprach, und was er damit sagen will.«

»Er meint gewiß, daß man im zwölften Jahrhundert nur Mönche essen konnte, weil nur die Mönche damals fett waren«, bemerkte Gawrila Ardalionowitsch.

»Ein ganz prächtiger, sehr richtiger Gedanke!« rief Lebedew. »Denn Laien hatte er überhaupt nicht angerührt. Nicht einen einzigen Laien auf sechzig Geistliche, das ist ein furchtbarer Gedanke, ein Gedanke von Wert für die Weltgeschichte und für die Statistik; aus solchen Tatsachen baut ein einsichtiger Mann die Weltgeschichte auf, denn es folgt daraus mit zahlenmäßiger Genauigkeit, daß die Geistlichkeit mindestens sechzigmal so glücklich und frei lebte wie die ganze übrige damalige Menschheit. Und vielleicht war sie mindestens sechzigmal so fett wie die ganze übrige Menschheit…«

»Übertreibung, Übertreibung, Lebedew!« lachte man ringsum.

»Auch ich bin der Ansicht, daß dieser Gedanke von Wert für die Weltgeschichte ist, aber was wollen Sie daraus für einen Schluß ziehen?« fragte der Fürst. (Er sprach mit solchem Ernst und so ohne jede Beimischung von Scherz und Spott gegenüber Lebedew, über den alle lachten, daß sein Ton inmitten des allgemeinen Tones der ganzen Gesellschaft unwillkürlich komisch wurde; es fehlte nicht viel, so hätten sie angefangen, auch über ihn zu lachen, aber er bemerkte das nicht.)

»Sehen Sie denn nicht, Fürst, daß der Mensch verrückt ist?« sagte Jewgenij Pawlowitsch, sich zu ihm hinunterbeugend. »Es wurde mir vorhin hier gesagt, er habe die fixe Idee, Advokat zu werden und Verteidigungsreden zu halten, und wolle zu diesem Zwecke ein Examen ablegen. Ich erwarte, daß er uns jetzt eine famose Parodie zum besten gibt.«

»Ich ziehe daraus einen höchst bedeutungsvollen Schluß«, rief unterdessen Lebedew mit schmetternder Stimme. »Aber untersuchen wir vor allen Dingen den psychologischen und juristischen Zustand des Verbrechers. Wir sehen, daß der Verbrecher oder sozusagen mein Klient trotz der Schwierigkeit, sich etwas anderes Eßbares zu beschaffen, mehrere Male Fragen der damaligen und der jetzigen Zeit enthalten ist! Der Verbrecher geht zu guter Letzt hin und denunziert sich bei der Geistlichkeit und gibt sich in die Hände der Gerechtigkeit. Man bedenke, welche Qualen ihn in damaliger Zeit erwarteten, welche Räder, Scheiterhaufen und Flammen! Was hat ihn dazu getrieben, hinzugehen und sich zu denunzieren? Warum ist er nicht einfach bei der Zahl Sechzig stehengeblieben und hat sein Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzug bewahrt? Warum hat er nicht einfach dem Verspeisen von Mönchen entsagt und büßend als Einsiedler gelebt? Warum ist er endlich nicht selbst Mönch geworden? Hier ist die Lösung! Also gab es etwas, was stärker war als alle Scheiterhaufen und Flammen, stärker selbst als eine zwanzigjährige Gewohnheit! Also gab es eine Idee, stärker als alle Leiden, Mißernten, Foltern, Pest, Aussatz und all diese Höllenqualen, die die Menschheit ohne jene allumfassende Idee, welche den Seelen die Richtung gab und die Lebensquellen befruchtete, nicht hätte ertragen können! Zeigen Sie mir etwas Ähnliches, gleich Starkes in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen… das heißt, ich sollte eigentlich sagen: in unserem Jahrhundert der Dampfschiffe und der Eisenbahnen, aber ich sage: in unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen, denn ich bin betrunken, aber gerecht! Zeigen Sie mir eine die jetzige Menschheit umfassende Idee, die auch nur halb so stark wäre wie die jener Jahrhunderte! Wagen Sie schließlich zu sagen, daß die Quellen des Lebens unter diesem ›Stern‹, diesem Netz, das die Menschen umstrickt, nicht schwächer fließen, nicht trübe geworden sind! Suchen Sie mich nicht durch Ihre Reden von der Wohlhabenheit, vom Reichtum, von der Seltenheit des Hungers und von der Schnelligkeit der Verkehrsmittel zu schrecken! Der Reichtum ist größer geworden, aber die sittliche Kraft geringer; die allumfassende Idee fehlt, alles ist schlaff geworden, alles ist ausgekocht, alle Menschen sind ausgekocht! Wir alle, alle, alle sind ausgekocht!… Aber genug davon, darum handelt es sich jetzt nicht, sondern darum, ob wir nicht den für die Gäste hergerichteten Imbiß auftragen lassen sollen, hochverehrter Fürst?«

Lebedew, der einige seiner Zuhörer schon wirklich unwillig gemacht hatte (es muß übrigens bemerkt werden, daß während der ganzen Zeit ununterbrochen neue Flaschen entkorkt wurden), versöhnte durch den unerwarteten Schluß seiner Rede, durch den Hinweis auf den Imbiß, sogleich alle seine Gegner. Er selbst nannte einen solchen Schluß einen »geschickten Advokatenkniff«. Es erhob sich wieder heiteres Gelächter, die Gäste wurden wieder lebendig; alle standen vom Tisch auf, um die Glieder zu recken und in der Veranda umherzugehen. Nur Keller fühlte sich durch Lebedews Rede nicht befriedigt und befand sich in starker Aufregung.

»Er greift die Aufklärung an, predigt den Fanatismus des zwölften Jahrhunderts, spielt den Tugendhaften, ohne doch im Herzen unschuldig zu sein: möchten Sie ihn nicht einmal fragen, auf welche Weise er selbst sich ein Haus erworben hat?« sagte er laut, indem er alle und jeden anhielt.

»Ich habe einen echten Erklärer der Apokalypse gekannt«, sagte der General in einer andern Ecke zu andern Zuhörern, unter denen sich auch Ptizyn befand, den er an einem Knopf gefaßt hatte, »den verstorbenen Grigorij Semjonowitsch Burmistrow: der verstand es, die Herzen sozusagen zu entflammen. Zuerst setzte er sich die Brille auf und schlug ein großes, altes Buch in schwarzem Ledereinband auf, na, und dazu der graue Bart und zwei Tapferkeitsmedaillen! Er begann seine Auslegung mit finsterer, strenger Miene, selbst Generale beugten sich vor ihm, und Damen fielen in Ohnmacht. Na, und dieser hier schließt mit einem Imbiß. Ein ganz tolles Benehmen!«

Ptizyn lächelte, während er dem General zuhörte, und hatte anscheinend die Absicht, nach seinem Hut zu greifen; aber entweder konnte er sich nicht dazu entschließen oder er vergaß sein Vorhaben ständig wieder. Ganja hatte schon vor dem Augenblick, wo alle vom Tisch aufgestanden waren, auf einmal aufgehört zu trinken und sein Glas von sich fortgeschoben; ein düsterer Ausdruck war über sein Gesicht hinweggezogen. Als man sich vom Tisch erhob, trat er zu Rogoshin und setzte sich neben ihn. Man konnte denken, daß sie in den freundschaftlichsten Beziehungen zueinander standen. Rogoshin, der anfangs ebenfalls mehrere Male vorgehabt hatte, sachte wegzugehen, saß jetzt regungslos da, mit gesenktem Kopf, und als ob auch er vergessen hätte, daß er hatte weggehen wollen. Er hatte den ganzen Abend über keinen Tropfen Wein getrunken und war sehr nachdenklich gewesen; nur selten hatte er die Augen aufgeschlagen und jeden einzelnen angeblickt. Jetzt aber konnte man denken, daß er hier auf etwas für ihn sehr Wichtiges wartete und vorher nicht weggehen wollte.

Der Fürst hatte nicht mehr als zwei oder drei Gläser getrunken und war nur lustig. Als er vom Tisch aufstand, begegneten sich sein und Jewgenij Pawlowitschs Blick; er erinnerte sich an die bevorstehende Unterredung und lächelte freundlich. Jewgenij Pawlowitsch nickte ihm zu und zeigte auf Ippolit, den er soeben aufmerksam betrachtet hatte. Ippolit lag auf dem Sofa ausgestreckt und schlief.

»Sagen Sie, Fürst, warum hat sich dieser Junge wie eine Klette an Sie gehängt?« fragte er mit so offensichtlichem Ärger und sogar in so grimmigem Ton, daß der Fürst erstaunt war. »Ich möchte darauf wetten, daß er nichts Gutes im Schilde führt!«

»Ich habe bemerkt«, antwortete der Fürst, »oder es ist mir wenigstens so vorgekommen, als interessierte er Sie heute ganz besonders, Jewgenij Pawlytsch, ist das richtig?«

»Sie können noch hinzufügen, daß ich eigentlich mit meinen eigenen Angelegenheiten Stoff genug zum Nachdenken hätte; und ich wundere mich selbst darüber, daß ich meine Augen den ganzen Abend nicht von dieser widerwärtigen Visage losreißen kann.«

»Er hat ein hübsches Gesicht…«

»Da, da, sehen Sie nur!« rief Jewgenij Pawlowitsch, indem er den Fürsten am Arm faßte. »Sehen Sie!«

Der Fürst blickte Jewgenij Pawlowitsch noch einmal verwundert an.

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Kapitel 20

IV

Sie gingen durch dieselben Zimmer, die der Fürst schon vorher passiert hatte. Rogoshin ging ein wenig voraus, der Fürst hinter ihm her. Sie kamen in den großen Salon. Hier befanden sich an den Wänden einige Gemälde, lauter Porträts von Bischöfen und Landschaften, von denen nichts zu erkennen war. Über der Tür nach dem nächsten Zimmer hing ein Bild von recht auffälligem Format: Zweieinhalb lang und nicht mehr als sechs Werschok hoch. Es stellte den soeben vom Kreuze abgenommenen Heiland dar. Der Fürst blickte es flüchtig an, als käme ihm eine Erinnerung, wollte aber, ohne stehenzubleiben, durch die Tür hindurchgehen. Er fühlte sich sehr bedrückt, und es verlangte ihn, möglichst schnell aus diesem Haus herauszukommen. Aber Rogoshin blieb plötzlich vor dem Bild stehen.

»All diese Bilder hier«, sagte er, »hat mein verstorbener Vater auf Auktionen gekauft, das Stück zu einem oder zwei Rubel, er liebte so etwas. Ein Sachverständiger hat sie alle hier besichtigt, er sagte, es sei Schund; aber dieses hier, das Bild über der Tür, das ebenfalls für zwei Rubel gekauft ist, von dem sagte er, es sei kein Schund. Noch zu Lebzeiten meines Vaters fand sich jemand, der ihm dafür dreihundertundfünfzig Rubel bot, und Iwan Dmitrijewitsch Saweljew, ein Kaufmann, der ein großer Liebhaber solcher Dinge ist, der ist bis auf vierhundert hinaufgegangen und hat in der vorigen Woche meinem Bruder Semjon Semjonytsch schon fünfhundert geboten. Aber ich habe es für mich behalten.«

»Das ist ja… das ist ja eine Kopie nach Hans Holbein«, sagte der Fürst, der nun Zeit gehabt hatte, das Bild genauer zu betrachten, »und obwohl ich kein großer Kenner bin, scheint es mir doch eine vorzügliche Kopie zu sein. Ich habe dieses Bild im Ausland gesehen und kann es nicht vergessen. Aber… was hast du denn? …«

Rogoshin kümmerte sich auf einmal nicht weiter um das Bild, sondern ging auf dem bisherigen Wege weiter. Allerdings ließ sich dieses sprunghafte Wesen durch seine Zerstreutheit und durch die besondere, seltsam reizbare Stimmung, die bei ihm so plötzlich hervorgetreten war, vielleicht erklären; aber trotzdem erschien es dem Fürsten wunderlich, daß Rogoshin ein von ihm selbst begonnenes Gespräch so plötzlich abbrach und ihm nicht einmal antwortete.

»Hör mal, Lew Nikolajewitsch«, fing Rogoshin wieder an, nachdem er einige Schritte gemacht hatte, »ich wollte dich schon längst fragen: glaubst du an Gott oder nicht?«

»Wie sonderbar du fragst, und… was du für ein sonderbares Gesicht machst!« äußerte der Fürst unwillkürlich.

»Dieses Bild betrachte ich immer gern«, murmelte Rogoshin nach kurzem Stillschweigen, als hätte er seine Frage wieder vergessen.

»Dieses Bild betrachtest du gern?« rief der Fürst, von einem plötzlichen Gedanken überrascht. »Dieses Bild? Aber beim Anblick dieses Bildes kann ja mancher Mensch seinen Glauben verlieren!«

»Ich verliere ihn auch«, war Rogoshins überraschende, bestätigende Antwort.

Sie waren bereits zur Ausgangstür gelangt.

»Wie?« sagte der Fürst, stehenbleibend. »Was redest du da? Ich habe eigentlich nur im Scherz gesprochen, und du sagst das so ernst! Und warum hast du mich gefragt, ob ich an Gott glaube?«

»Einen besonderen Grund hatte ich nicht dazu. Ich wollte dich schon früher danach fragen. Heutzutage glauben ja viele nicht an ihn. Ob das wohl wahr ist (du hast ja im Ausland gelebt), mir hat einmal so ein Trunkenbold gesagt, bei uns in Rußland gebe es mehr Leute, die nicht an Gott glauben, als in allen andern Ländern? ›Uns‹, sagte er, ›wird es leichter, zum Unglauben zu gelangen, als ihnen, weil wir weiter fortgeschritten sind‹…«

Rogoshin lächelte spöttisch; als er seine Frage ausgesprochen hatte, öffnete er die Tür und wartete mit der Klinke in der Hand darauf, daß der Fürst hinausging. Der Fürst wunderte sich, trat aber hinaus. Der andere folgte ihm in den Treppenflur und machte die Tür hinter sich zu. Sie standen einander mit solchen Gesichtern gegenüber, daß es schien, als hätten sie beide vergessen, wo sie waren und was sie nun zu tun hatten.

»Leb wohl!« sagte der Fürst und reichte Rogoshin die Hand.

»Leb wohl!« erwiderte dieser und drückte fest, aber ganz mechanisch die ihm hingestreckte Hand.

Der Fürst stieg eine Stufe hinab und drehte sich um. umgedreht hatte, vorsichtig von hinten an ihn heran, faßte die richtige Stelle ins Auge, richtete den Blick gen Himmel, bekreuzigte sich, und nachdem er im stillen inbrünstig gebetet hatte: ›O Gott, verzeih mir um Christi willen!‹, schnitt er seinem Freund mit einem einzigen Schnitt wie einem Hammel die Kehle durch und nahm ihm die Uhr weg.«

Rogoshin schüttelte sich vor Lachen. Er lachte so heftig, als hätte er einen Anfall bekommen. Es machte einen ganz seltsamen Eindruck, dieses Lachen zu sehen, nachdem er sich noch kurz vorher in so düsterer Stimmung befunden hatte.

»Das gefällt mir! Nein, das ist ja ganz vorzüglich!« schrie er krampfhaft und fast außer Atem. »Der eine glaubt überhaupt nicht an Gott, und der andere glaubt so sehr an ihn, daß er sogar bei der Ermordung eines Menschen betet… Nein, Bruder, das ist ja gar nicht auszudenken! Hahaha! Nein, das ist köstlich!«

»Am andern Morgen schlenderte ich durch die Stadt«, fuhr der Fürst fort, sobald Rogoshin sich einigermaßen beruhigt hatte, obwohl das Lachen immer noch nach Art eines Krampfanfalles auf seinen Lippen zuckte, »da sah ich, wie ein betrunkener Soldat in ganz wüstem Zustand auf dem hölzernen Gehsteig umherschwankte. Er kam auf mich zu und sagte: ›Herr, kauf mir dieses silberne Kreuz ab, ich lasse es dir für zwanzig Kopeken; es ist von Silber!‹ Ich sah, daß er in der Hand ein Kreuz hielt, das er sich jedenfalls eben erst abgenommen hatte; es saß an einem himmelblauen, stark abgenutzten Band, war aber, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, nur von Zinn, von großem Format, mit acht Enden, nach einem echt byzantinischen Muster. Ich nahm ein Zwanzigkopekenstück aus der Tasche und gab es ihm, das Kreuz aber band ich mir sogleich um; dem Soldaten konnte man am Gesicht ansehen, wie er sich freute, den dummen Herrn geprellt zu haben; er ging schleunigst davon, um den Erlös für sein Kreuz zu vertrinken. Auf mich, Bruder, machte damals all das, was in Rußland massenhaft auf mich eindrang, einen sehr starken Eindruck; ich hatte in meinem Heimatland vorher für nichts Verständnis gehabt, war wie ein Blinder aufgewachsen, und meine Erinnerungen an Rußland während der fünf Jahre meines Aufenthaltes im Ausland waren höchst phantastischer Und ich hatte gar nicht vorgehabt, jetzt hierher zurückzukehren! Ich hatte mir die Wiederbegegnung mit dir ganz, ganz anders ausgemalt! Na, was hilft’s… Leb wohl, auf Wiedersehen! Gott behüte dich!«

Er wendete sich um und stieg die Treppe hinunter.

»Lew Nikolajewitsch!« rief Parfen dem Fürsten von oben nach, als dieser zum ersten Treppenabsatz gelangt war, »hast du das Kreuz, das du von dem Soldaten gekauft hast, bei dir?«

»Ja.«

Der Fürst blieb wieder stehen.

»Zeig es doch einmal her!«

Wieder eine neue Absonderlichkeit! Der Fürst überlegte einen Augenblick, stieg dann wieder hinauf, zog das Kreuz heraus und zeigte es ihm, ohne es vom Hals abzunehmen.

»Gib es mir!« sagte Rogoshin.

»Wozu? Hast du denn…«

Der Fürst wollte sich nicht gern von dem Kreuz trennen.

»Ich will es tragen, und meines will ich dir geben, das trage du dann!«

»Du willst, daß wir die Kreuze tauschen? Schön, Parfen, wenn du es so meinst, dann freue ich mich; wir werden jetzt Brüder sein!«

Der Fürst nahm sein Zinnkreuz ab, Parfen sein goldenes, und sie tauschten miteinander. Parfen schwieg. Erstaunt und betrübt bemerkte der Fürst, daß das frühere Mißtrauen und das bittere, spöttische Lächeln immer noch nicht von dem Gesicht seines Kreuzbruders geschwunden waren, sondern zumindest in einzelnen Augenblicken wieder stark sichtbar wurden. Schweigend ergriff Rogoshin endlich die Hand des Fürsten und stand eine Weile da, als ob er sich zu etwas nicht entschließen könnte; endlich zog er ihn auf einmal hinter sich her, indem er kaum hörbar sagte: »Komm!« Sie gingen quer über den Treppenflur und klingelten an einer Tür, die derjenigen, aus welcher sie herausgekommen waren, gerade gegenüberlag. Es wurde ihnen bald geöffnet. Eine alte, ganz zusammengekrümmte Frau in schwarzem Kleid, mit einem Tuch um den Kopf, verbeugte sich schweigend tief vor Rogoshin; dieser sagte schnell ein paar Worte zu ihr und führte, ohne stehenzubleiben und eine Antwort abzuwarten, den Fürsten in die Wohnung hinein. Wieder durchschritten sie dunkle Zimmer von einer außerordentlichen, sozusagen kalten Sauberkeit; auch die altertümlichen Möbel in ihren weißen, reinen Überzügen machten einen kalten, trüben Eindruck. Ohne Anmeldung führte Rogoshin den Fürsten geradewegs in ein kleines, salonartiges Zimmer; eine Hälfte desselben war durch eine niedrige Zwischenwand von glänzendem Mahagoniholz mit zwei Türen an den Enden abgeteilt; der dahinter liegende Raum diente wahrscheinlich als Schlafzimmer. In einer Ecke des Salons, am Ofen, saß in einem Lehnstuhl eine kleine ältere Frau, dem Anschein nach noch nicht allzu bejahrt, sogar mit einem recht gesunden, angenehmen runden Gesicht, aber schon vollständig ergraut und (was man schon beim ersten Blick erkennen konnte) ganz kindisch geworden. Sie trug ein schwarzwollenes Kleid, ein großes schwarzes Tuch um den Hals und eine reine, weiße Haube mit schwarzen Bändern. Die Füße ruhten auf einem Fußbänkchen. Neben ihr saß eine andere sauber gekleidete alte Frau, älter als sie, gleichfalls in Trauer und gleichfalls mit einer weißen Haube, wahrscheinlich eine arme Person, die aus Gnade in das Haus aufgenommen war, und strickte schweigend einen Strumpf. Sie schienen beide die ganze Zeit geschwiegen zu haben. Als die erste Alte Rogoshin und den Fürsten erblickte, lächelte sie ihnen zu und nickte zum Zeichen ihres Vergnügens mehrmals freundlich mit dem Kopfe.

»Mütterchen«, sagte Rogoshin, ihr die Hand küssend, »hier ist ein guter Freund von mir, Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin; er und ich haben miteinander die Kreuze getauscht; er ist eine Zeitlang in Moskau wie ein Bruder zu mir gewesen und hat viel für mich getan. Segne ihn, Mütterchen, wie du deinen eigenen Sohn segnen würdest! Warte, liebe Alte! So! Laß mich dir die Hand zurechtlegen…«

Aber noch ehe Parfen Zeit hatte, dies auszuführen, hob die alte Frau ihre rechte Hand in die Höhe, legte drei Finger derselben zusammen und bekreuzigte den Fürsten dreimal andächtig, Darauf nickte sie ihm noch einmal freundlich und zärtlich mit dem Kopfe zu.

»Nun wollen wir wieder gehen, Lew Nikolajewitsch!« sagte Parfen. »Ich hatte dich nur zu diesem Zweck hergeführt…«

Als sie wieder auf die Treppe hinaustraten, fügte er hinzu:

»Sie versteht ja nichts, was man zu ihr sagt, und hat auch von meinen Worten nichts verstanden; aber sie hat dich doch gesegnet, da muß es ihr eigener Wunsch gewesen sein… Nun aber leb wohl, wir haben beide keine Zeit mehr.«

Damit öffnete er die Wohnungstür.

»So laß dich doch wenigstens zum Abschied umarmen, du wunderlicher Mensch!« rief der Fürst, indem er ihn mit zärtlichem Vorwurf anblickte, und wollte ihn umarmen. Aber Parfen hatte kaum die Arme erhoben, als er sie auch sogleich wieder sinken ließ. Er konnte sich nicht dazu entschließen; er wandte sich ab, um den Fürsten nicht anzusehen. Er wollte ihn nicht umarmen.

»Hab keine Angst! Ich habe dir zwar dein Kreuz weggenommen, werde dich aber nicht um einer Uhr willen ermorden!« murmelte er undeutlich und lachte auf einmal seltsam auf. Aber plötzlich verwandelte sich sein ganzes Gesicht: er wurde schrecklich blaß, seine Lippen fingen an zu zittern, seine Augen flammten auf. Er hob die Arme in die Höhe, umarmte den Fürsten mit festem Druck und sagte keuchend:

»So nimm sie, wenn das Schicksal es einmal so will! Sie sei dein! Ich trete zurück!… Vergiß Rogoshin nicht!«

Und er wandte sich von dem Fürsten ab, ging, ohne noch einmal nach ihm hinzublicken, in seine Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.

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Kapitel 21

V

Es war schon spät, fast halb drei, und der Fürst traf den General Jepantschin nicht mehr zu Hause. Er ließ seine Karte zurück und entschied sich dafür, nach dem Gasthaus »Zur Waage« zu gehen und dort nach Kolja zu fragen und, wenn er nicht dort war, ihm ein Briefchen zurückzulassen. In der »Waage« wurde ihm gesagt, Nikolai Ardalionowitsch sei schon am Morgen weggegangen, habe aber beim Weggehen die Weisung hinterlassen, wenn etwa jemand nach ihm frage, solle man sagen, daß er gegen drei Uhr zurück sein werde. Wenn er um halb vier noch nicht wieder da sei, sei er mit der Bahn nach Pawlowsk gefahren, nach dem Landhause der Generalin Jepantschina, und werde dort auch zum Essen bleiben. Der Fürst setzte sich hin, um auf ihn zu warten, und benutzte die Zeit, um sich Mittagessen geben zu lassen.

Um halb vier und sogar um vier Uhr war Kolja noch nicht erschienen. Der Fürst ging hinaus und wanderte mechanisch umher, wohin ihn die Füße trugen. Zu Anfang des Sommers gibt es in Petersburg manchmal wunderschöne Tage, helle, warme, stille Tage. Es traf sich, daß dieser Tag gerade einer von jenen seltenen Tagen war. Eine Zeitlang schweifte der Fürst ziellos umher. Die Stadt war ihm nur wenig bekannt. Er blieb manchmal an Straßenkreuzungen, vor diesem oder jenem Haus, auf Plätzen und Brücken stehen; einmal ging er auch, um sich auszuruhen, in eine Konditorei. Mitunter begann er mit größtem Interesse die Passanten zu betrachten, aber meist achtete er weder auf die Passanten noch darauf, wo er ging. Er befand sich in einem Zustand peinlicher Spannung und Unruhe und fühlte gleichzeitig ein ungewöhnlich starkes Verlangen nach Einsamkeit. Er wollte gern allein sein und sich dieser qualvollen Spannung ganz passiv überlassen, ohne im geringsten nach einem Ausweg zu suchen. Er empfand einen Widerwillen dagegen, sich an die Lösung der Fragen heranzumachen, die auf seine Seele und sein Herz eindrangen. »Aber bin ich denn etwa an all dem schuld?« murmelte er vor sich hin, fast ohne sich seiner Worte bewußt zu werden.

Um sechs Uhr fand er sich auf dem Bahnhof der Bahn nach Zarskoje Selo. Das Alleinsein war ihm bald unerträglich geworden; ein neues Verlangen ergriff mit heißer Glut sein Herz, und das Dunkel, in dem seine Seele sich härmte, wurde für einen Augenblick von einem hellen Schein erleuchtet. Er nahm ein Billett nach Pawlowsk und wartete ungeduldig auf den Zeitpunkt der Abfahrt; aber er hatte immerzu das Gefühl, als verfolge ihn etwas, und dies war Wirklichkeit, nicht etwa ein Phantasiegebilde, wie er vielleicht zu denken geneigt war. Als er eben im Zug Platz nehmen wollte, warf er plötzlich das gerade gekaufte Billett auf den Boden und ging, verwirrt und in Gedanken versunken, wieder aus dem Bahnhof hinaus. Eine Weile darauf fiel ihm auf der Straße plötzlich etwas ein; es war, als ob ihm auf einmal etwas sehr Seltsames, was ihn schon lange beunruhigt hatte, klar würde. Er ertappte sich mit Bewußtsein bei einer Beschäftigung, die er schon lange fortgesetzt, aber bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte: schon seit mehreren Stunden, schon als er noch in der »Waage« war, vielleicht sogar schon, ehe er dorthin kam, hatte er von Zeit zu Zeit angefangen, gewissermaßen etwas um sich herum zu suchen. Er hatte diese Tätigkeit mitunter wieder vergessen, sogar auf längere Zeit, auf eine halbe Stunde, dann aber auf einmal von neuem sich unruhig umzusehen und ringsumher zu suchen begonnen.

Aber kaum hatte er an sich dieses krankhafte und bisher ganz unbewußte Verlangen bemerkt, das ihn schon so lange beherrschte, als plötzlich vor seinem geistigen Auge noch eine andere Erinnerung auftauchte, die ihn außerordentlich interessierte; er erinnerte sich, daß er in dem Augenblick, als er sich dieses beständigen Suchens bewußt wurde, auf dem Gehsteig vor einem Schaufenster gestanden und mit großem Interesse die dort ausgelegten Waren betrachtet hatte. Jetzt lag ihm sehr daran, unter allen Umständen festzustellen, ob er wirklich soeben, vor vielleicht nur fünf Minuten, vor diesem Schaufenster gestanden hatte und ihm das nicht etwa nur so vorgekommen war und er irgend etwas verwechselt hatte. Existierten dieser Laden und diese Waren wirklich? Er hatte ja heute tatsächlich das Gefühl, daß er sich in einem besonders krankhaften Zustand befand, fast in demselben Zustand, der sich damals zu Beginn der Anfälle seiner früheren Krankheit bei ihm einzustellen pflegte. Er wußte, daß er in der Zeit, wo sich die Anfälle vorbereiteten, außerordentlich zerstreut war und oft sogar Gegenstände und Personen verwechselte, wenn er sie ohne besonders gespannte Aufmerksamkeit ansah. Aber es war auch noch ein spezieller Grund vorhanden, weshalb ihm jetzt so sehr daran gelegen war, festzustellen, ob er vorhin vor einem Laden gestanden hatte; unter den im Schaufenster von Haschisch, Opium oder Alkohol sind, unnatürliche, wesenlose Visionen, die die Denktätigkeit herabsetzen und den Geist schädigen. Das konnte er nach Beendigung des krankhaften Zustandes klar beurteilen. Diese Augenblicke waren vielmehr gerade eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewußtseins (wenn man diesen Zustand mit einem Wort bezeichnen soll), des Selbstbewußtseins und gleichzeitig eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt in dem letzten Augenblicke des Bewußtseins vor dem Anfall, manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich selbst klar und mit Bewußtsein zu sagen: ›Ja, für diesen Augenblick könnte man das ganze Leben hingeben!‹, so war dieser Augenblick sicherlich das ganze Leben wert. Übrigens wollte er für die logische Richtigkeit seines Schlusses nicht einstehen; der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie als deutliche Folge jener höchsten Augenblicke standen ihm nur zu klar vor Augen. Er würde darüber natürlich nicht im Ernst disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in der Wertschätzung dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft ein Fehler, aber die Realität des Gefühls verwirrte ihn doch einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie existierte doch, er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit gefunden, zu sich zu sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glückes willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze Leben wert sein könne. »In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoshin in Moskau zur Zeit ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß hinfort keine Zeit mehr sein soll. Wahrscheinlich«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit fand auszufließen, während Mohammed in derselben Sekunde alle Wohnungen Allahs beschaute.« Ja, er war in Moskau häufig mit Rogoshin zusammengekommen und hatte mit ihm noch über viele andere Gegenstände gesprochen. ›Rogoshin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt‹, dachte der Fürst bei sich.

Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war leer, ein dunkles Gewölk umhüllte für einen Augenblick die untergehende Sonne. Es war schwül, als ob von ferne ein Gewitter aufzöge. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und seinem Denken an jeden äußeren Gegenstand, und dies gefiel ihm, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte, aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er sich so sehr loszumachen wünschte. Er versuchte sich daran zu erinnern, daß er vorhin in dem Restaurant beim Mittagessen mit dem Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete.

Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug wie eine dämonische Versuchung auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in Richtung der Petersburger Seite. Er hatte vorhin am Newa-Kai einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der Petersburger Seite zu zeigen; das hatte dieser auch getan, aber der Fürst war vorhin nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos, hinzugehen, das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedews leicht finden; aber er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. ›Sie ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren, sonst hätte Kolja verabredungsgemäß etwas in der »Waage« hinterlassen.‹ Wenn er also jetzt hinging, so tat er das sicherlich nicht, um sie zu sehen. Eine andere, trübe, qualvolle Wißbegierde lockte ihn dorthin. Ein neuer, plötzlicher Gedanke war ihm gekommen …

Aber es genügte ihm vollkommen, daß er ging und wußte, wohin er ging: einen Augenblick nach dem Entschluß war er bereits in Bewegung, fast ohne auf den Weg zu achten. Seinen »plötzlichen Gedanken« länger zu überlegen, wurde ihm sofort furchtbar widerwärtig und beinah unmöglich. Mit qualvoll angestrengter Aufmerksamkeit betrachtete er alles, was ihm vor die Augen kam, den Himmel, die Newa. Er fing ein Gespräch mit einem ihm begegnenden kleinen Kind an. Vielleicht steigerte sich auch sein epileptischer Zustand immer mehr und mehr. Das Gewitter schien wirklich heraufzuziehen, wenn auch nur langsam. In der Ferne begann es schon zu donnern. Es wurde sehr schwül…

Wie einem manchmal eine Melodie nicht aus dem Kopf geht, obwohl sie einem zum Ekel geworden ist, so mußte er jetzt aus einem nicht recht verständlichen Grund fortwährend an Lebedews Neffen denken, den er vor einigen Stunden kennengelernt hatte. Seltsam war, daß dieser ihm immer in der Gestalt jenes Mörders ins Gedächtnis kam, dessen damals Lebedew selbst Erwähnung getan hatte, als er ihm seinen Neffen vorstellte. Ja, von diesem Mörder hatte er noch vor ganz kurzer Zeit in der Zeitung gelesen. Über derartige Dinge hatte er seit seiner Rückkehr nach Rußland vieles gelesen und gehört und all diese Geschichten eifrig verfolgt. So hatte er vor einer Weile auch in dem Gespräch mit dem Kellner gerade für diesen Mörder der Familie Shemarin lebhaftes Interesse bekundet. Der Kellner war mit ihm gleicher Meinung gewesen, daran erinnerte er sich. Er erinnerte sich auch an den Kellner, es war ein kluger, junger Bursche von ernstem, vorsichtigem Wesen. ›Aber‹, sagte sich der Fürst, ›Gott mag wissen, was er für ein Mensch ist; es ist schwer, in einem neuen Land neue Menschen zu durchschauen.‹ An die russische Seele begann er übrigens leidenschaftlich zu glauben. Oh, viel, viel ihm ganz Neues, Ungeahntes, Unerwartetes hatte er in diesen sechs Monaten kennengelernt. Aber eine fremde Seele ist ein dunkles Rätsel; auch die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, wenigstens für viele Menschen. Da hatte er nun lange mit Rogoshin verkehrt, nahe verkehrt, brüderlich verkehrt, aber kannte er Rogoshin etwa? Welch ein Wirrwarr und wieviel Häßliches war manchmal in einer Menschenseele, diesem Chaos, enthalten! Und was für ein garstiger, selbstzufriedener Patron war dieser Lebedewsche Neffe von vorhin! ›Aber was mache ich denn?‹ fuhr der Fürst in seinen Träumereien fort. ›Ist er es etwa gewesen, der diese sechs Menschen ermordet hat? Ich scheine da etwas zu verwechseln… wie sonderbar! Der Kopf ist mir etwas schwindlig… Aber was für ein sympathisches, liebes Gesicht hat Lebedews älteste Tochter, die, welche mit dem Kind auf dem Arm dastand, was für einen unschuldigen, kindlichen Ausdruck und was für ein kindliches Lachen!‹ Seltsam, daß er dieses Gesicht bisher vergessen hatte und es ihm erst jetzt wieder einfiel! Lebedew, der die Seinigen durch Trampeln mit den Füßen einschüchtern möchte, liebt sie wahrscheinlich alle sehr. Und so sicher, wie zweimal zwei vier ist, liebt Lebedew auch seinen Neffen von Herzen!

Wie kam er übrigens dazu, über diese Leute so endgültig zu urteilen, er, der doch erst heute angekommen war? Wie konnte er solche Urteile fällen? Da hat ihm gleich heute Lebedew so ein Problem geliefert: hat er denn etwa erwartet, in Lebedew einen solchen Menschen zu finden? Hat er etwa Lebedew früher von dieser Seite gekannt? Lebedew und die Gräfin Dubarry – o Gott! Wenn übrigens Rogoshin einen Mord begehen sollte, so wird er das wenigstens nicht in so widerwärtiger Weise tun. Ein solches seelisches Chaos wird es da nicht geben. Ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument und sechs in völliges Delirium versetzte Menschen! Besitzt etwa Rogoshin ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument?… ›Aber… ist es denn bereits ausgemachte Sache, daß Rogoshin einen Mord begehen wird?‹ dachte der Fürst und zuckte dabei zusammen. »Ist es meinerseits nicht ein Verbrechen und eine Gemeinheit, dies mit solcher zynischen Offenheit anzunehmen?« rief er, und Schamröte ergoß sich über sein Gesicht. Er war ganz bestürzt und blieb wie angewurzelt auf dem Weg stehen. Er erinnerte sich an das, was ihm vor einem Weilchen auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof und am Morgen auf dem Nikolai-Bahnhof begegnet war, und daran, wie er Rogoshin gerade ins Gesicht nach den Augen gefragt hatte, und an Rogoshins Kreuz, das er jetzt selbst trug, und wie ihn Rogoshins Mutter gesegnet hatte, zu der er von diesem selbst hingeführt worden war, und an die letzte krampfhafte Umarmung und den schließlichen Verzicht Rogoshins auf der Treppe – und nach alledem ertappte er sich nun dabei, wie er fortwährend um sich herum etwas suchte, und dann dieser Laden und dieser Gegenstand… was für eine Gemeinheit! Und nach alledem ging er jetzt »mit einer besonderen Absicht, mit einem besonderen plötzlichen Gedanken« dorthin! Verzweiflung und Leid ergriffen seine ganze Seele. Der Fürst wollte unverzüglich umkehren und nach seinem Gasthaus zurückgehen; er machte auch wirklich kehrt und schlug diese Richtung ein, aber nach einer Minute blieb er wieder stehen, überlegte, wendete um und setzte seinen früheren Weg fort.

Und jetzt befand er sich schon auf der Petersburger Seite und war nahe bei dem betreffenden Haus; jetzt ging er ja nicht mit der früheren Absicht dorthin und nicht »mit dem besonderen Gedanken«! Wie wäre das auch möglich! Ja, seine Krankheit kehrte wieder, das war unzweifelhaft; vielleicht bekam er noch heute einen Anfall. Der bevorstehende Anfall war auch die Ursache dieser ganzen seelischen Dunkelheit und dieses »Gedankens«! Jetzt war die Dunkelheit zerstreut, der Dämon vertrieben; es gab keine Zweifel mehr, in seinem Herzen herrschte Freude! Und… er hatte sie so lange nicht gesehen; es war ihm Bedürfnis, sie wiederzusehen, und… ja, jetzt würde er wünschen, Rogoshin zu treffen; er würde ihn bei der Hand nehmen, und sie würden zusammen hingehen … Sein Herz war rein, war er denn etwa Rogoshins Nebenbuhler? Morgen wird er selbst zu Rogoshin gehen und ihm sagen, daß er sie gesehen hat. Er ist ja, wie Rogoshin vorhin gesagt hat, nur, um sie zu sehen, hierhergeeilt! Möglicherweise trifft er sie zu Hause; es ist ja doch nicht sicher, daß sie sich in Pawlowsk befindet!

Ja, das alles muß jetzt klargestellt werden, damit ein jeder deutlich in dem Herzen des andern lesen konnte und es keine düsteren, leidenschaftlichen Verzichte mehr gab, wie vorhin Rogoshins Verzicht; nein, alles mußte sich frei und im Hellen vollziehen. War denn Rogoshin nicht fähig, ein Leben im Hellen zu führen? Er sagt, er liebe sie in anderer Weise, er habe mit ihr keinerlei derartiges Mitleid. Allerdings fügte er dann noch hinzu: »Dein Mitleid ist vielleicht noch größer als meine Liebe«, aber damit verleumdet er sich selbst. Hm!… Rogoshin über einem Buch… ist das nicht schon Mitleid, nicht ein Anfang von Mitleid? Beweist nicht schon das Vorhandensein dieses Buches in seinem Besitz, daß er sich seines Verhältnisses zu ihr voll bewußt ist? Und seine Erzählung von vorhin? Nein, das ist ein tieferes Gefühl als bloße Leidenschaft. Und flößt denn ihr Gesicht nur Leidenschaft ein? Und kann dieses Gesicht jetzt überhaupt Leidenschaft einflößen? Es erweckt Schmerz, es ergreift die ganze Seele, es… und eine brennende, qualvolle Erinnerung zog dem Fürsten plötzlich das Herz zusammen.

Ja, eine qualvolle Erinnerung! Er erinnerte sich daran, welche Qual es kürzlich für ihn gewesen war, als er an ihr zum erstenmal Anzeichen einer geistigen Störung wahrgenommen hatte. Er war damals beinah in Verzweiflung geraten. Und wie hatte er sie nur allein weglassen können, als sie damals von ihm zu Rogoshin geflüchtet war! Er hätte ihr selbst nacheilen müssen, statt nur auf Nachrichten zu warten. Aber… hat denn Rogoshin an ihr bisher noch nichts von geistiger Störung bemerkt? Hm!… Rogoshin sieht in allem andere Ursachen, vermutet als Ursachen immer Leidenschaften! Und was für eine sinnlose Eifersucht! Was wollte er vorhin mit seiner Vermutung sagen? (Der Fürst errötete plötzlich, und sein Herz zuckte zusammen.)

Aber welchen Zweck hatte es, sich an all dies zu erinnern? Sie waren beide so gut wie irrsinnig, er und Rogoshin. Aber für ihn, den Fürsten, wäre es beinah ein Ding der Unmöglichkeit, diese Frau leidenschaftlich zu lieben; es wäre beinah eine Grausamkeit, eine Unmenschlichkeit. Ja, ja! Nein, Rogoshin verleumdet sich selbst; er hat ein großes Herz, das leiden und Mitleid empfinden kann. Wenn er die ganze Wahrheit erkennt und sich überzeugt, was für ein bemitleidenswertes Geschöpf diese geistig gestörte, halbirre Frau ist, wird er ihr dann nicht alles Vergangene, alle seine Qualen verzeihen? Wird er nicht ihr Diener, ihr Bruder, ihr Freund, ihre Vorsehung werden? Das Mitleid wird ihn zur Einsicht bringen, ihn belehren. Das Mitleid ist das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz für die Existenz der ganzen Menschheit. Oh, in welcher unverzeihlichen, ehrlosen Weise hat er sich Rogoshin gegenüber schuldig gemacht! Nein, nicht die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, sondern in seiner eigenen Seele muß ein dunkles Rätsel sein, wenn er sich etwas so Schreckliches vorstellen kann. Wegen einiger warmer, herzlicher Worte in Moskau nennt ihn Rogoshin schon seinen Bruder, und er… Aber das war alles Krankheit und Fieber! Das wird sich alles lösen!… Wie finster hat Rogoshin vorhin gesagt, daß er »seinen Glauben verliert«! Dieser Mensch leidet gewiß furchtbar. Er sagt, daß er »dieses Bild gern betrachtet«; aber gern tut er es wohl nicht, sondern er empfindet ein Bedürfnis danach. Rogoshin ist nicht nur eine leidenschaftliche Natur, er ist auch ein Kämpfer: er will seinen verlorenen Glauben mit Gewalt wiedergewinnen. Er bedarf dieses Glaubens jetzt dringend und vermißt ihn qualvoll… Ja, nur an etwas glauben! Nur an jemand glauben! Aber wie seltsam doch dieses Holbeinsche Bild ist… Ah, da ist ja die Straße! Und da ist gewiß auch das Haus; ja, es stimmt, Nr. 16, »Haus der Kollegiensekretärin Filissowa«. Hier! Der Fürst klingelte und fragte nach Nastasja Filippowna.

Die Hauswirtin, die selbst geöffnet hatte, antwortete ihm, Nastasja Filippowna sei schon am Morgen nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna gefahren, und es könne sogar sein, daß sie einige Tage dort bleibe. Frau Filissowa war eine kleine Person mit scharfen Augen und spitzem Gesicht, etwa vierzig Jahre alt; sie blickte ihn schlau und prüfend an. Auf ihre Frage nach seinem Namen, die sie absichtlich in geheimnisvollem Ton stellte, wollte ihr der Fürst zuerst keine Antwort geben; aber er drehte sich dann doch sofort wieder um und bat sie eindringlich um Mitteilung seines Namens an Nastasja Filippowna. Frau Filissowa nahm dieses dringende Verlangen mit gesteigerter Aufmerksamkeit und außerordentlich diskreter Miene entgegen, wodurch sie offenbar zum Ausdruck bringen wollte: ›Seien Sie unbesorgt, ich weiß Bescheid!‹ Der Name des Fürsten machte auf sie augenscheinlich einen sehr starken Eindruck. Der Fürst blickte sie zerstreut an, wendete sich um und machte sich auf den Rückweg nach seinem Gasthaus. Aber er bot beim Hinausgehen nicht mehr dasselbe Bild wie in dem Augenblick, als er bei Frau Filissowa geklingelt hatte. Es war mit ihm wieder, und zwar ganz plötzlich, eine sehr große Veränderung vorgegangen: er war wieder blaß und schwach geworden, befand sich in starker Aufregung und schritt wie ein schwer Leidender einher; die Knie zitterten ihm, und ein mattes, verlorenes Lächeln spielte um seine bläulich gewordenen Lippen: sein »plötzlicher Gedanke« hatte seine Bestätigung gefunden und sich als richtig erwiesen, und – er glaubte wieder an seinen Dämon!

Aber hatte er seine Bestätigung gefunden? Hatte er sich als richtig erwiesen? Wodurch kam wieder dieses Zittern, dieser kalte Schweiß, diese seelische Finsternis und Kälte? Dadurch, daß er soeben wieder diese Augen gesehen hatte? Aber er war ja aus dem Sommergarten einzig und allein in der Absicht dorthin gegangen, sie wiederzusehen! Darin hatte ja sein »plötzlicher Gedanke« bestanden. Er hatte ein dringendes Verlangen verspürt, diese »Augen von vorhin« wiederzusehen und festzustellen, ob er ihnen dort, bei diesem Hause, wiederbegegnen werde. Das war ein krampfhaftes Verlangen bei ihm gewesen; warum war er also jetzt so bestürzt und niedergeschlagen darüber, daß er sie wirklich soeben gesehen hatte? Als ob er es nicht erwartet hätte! Ja, das waren dieselben Augen (und daran, daß es dieselben waren, konnte jetzt nicht mehr der geringste Zweifel bestehen), die ihn am Morgen aus der Menschenmenge angefunkelt hatten, als er aus dem Wagen der Nikolai-Bahn ausgestiegen war; dieselben (ganz dieselben!), deren von hinten auf ihn gerichteten Blick er nachher aufgefangen hatte, als er sich in Rogoshins Wohnung auf einen Stuhl setzte. Rogoshin hatte es vorhin abgestritten. »Wessen Augen waren denn das?« hatte er mit einem verzerrten, eisigen Lächeln gefragt. Und noch vorhin auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof, als er in den Wagen stieg, um zu Aglaja zu fahren, und auf einmal wieder, schon zum drittenmal an diesem Tage, diese Augen erblickte, hatte der Fürst die größte Lust gehabt, zu Rogoshin heranzutreten und ihm zu sagen, »wessen Augen« es gewesen seien! Aber er war aus dem Bahnhof weggelaufen und erst vor dem Laden eines Messerschmiedes wieder zur Besinnung gekommen, in dem Augenblick, als er dort stand und einen Gegenstand mit einem Hirschhorngriff auf sechzig Kopeken taxierte. Ein seltsamer, schrecklicher Dämon hatte ihn endgültig gepackt und wollte ihn nicht mehr loslassen. Dieser Dämon hatte ihm im Sommergarten, als er selbstvergessen unter einer Linde saß, zugeflüstert, wenn Rogoshin es für so nötig halte, ihn vom frühen Morgen an zu verfolgen und auf Schritt und Tritt zu beobachten, so werde er, nun er gesehen habe, daß der Fürst nicht nach Pawlowsk fahre (was natürlich für Rogoshin eine Erkenntnis von ausschlaggebender Bedeutung war), jedenfalls dorthin gehen, zu jenem Hause auf der Petersburger Seite, und ihm, dem Fürsten, auflauern, der ihm noch am Morgen sein Ehrenwort darauf gegeben habe, daß er sie nicht aufsuchen wolle und daß er nicht zu diesem Zwecke nach Petersburg gekommen sei. Und nun hatte es den Fürsten krampfhaft nach jenem Hause hingezogen; was war schon Auffälliges dabei, daß er tatsächlich dort Rogoshin getroffen hatte? Er hatte nur einen unglücklichen Menschen gesehen, dessen Seelenstimmung düster, aber sehr begreiflich war. Dieser unglückliche Mensch suchte sich jetzt auch gar nicht mehr zu verbergen. Ja, Rogoshin hatte es vorhin in seiner Wohnung aus irgendeinem Grund abgestritten und geleugnet; aber auf dem Zarskoje-Selo-Bahnhof hatte er, fast ohne sich zu verstecken, dagestanden. Derjenige, der sich verbarg, hatte dort eher der Fürst zu sein geschienen als Rogoshin. Aber jetzt bei dem Haus hatte er auf der andern Seite der Straße schräg gegenüber in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten mit verschränkten Armen auf dem Gehsteig gestanden und gewartet. Hier war er schon vollständig sichtbar gewesen und hatte dies anscheinend auch absichtlich gewollt. Er hatte dagestanden wie ein Ankläger und ein Richter, und nicht wie… ja, nicht wie wer?

Aber warum war denn er, der Fürst, jetzt nicht selbst an ihn herangegangen, sondern hatte sich von ihm abgewandt, als hätte er nichts bemerkt, obwohl doch ihre Blicke einander begegnet waren? (Ja, ihre Blicke waren einander begegnet, und sie hatten sich angesehen.) Er hatte ja selbst vorhin beabsichtigt, ihn bei der Hand zu nehmen und mit ihm zusammen dorthin zu gehen. Er hatte ja selbst morgen zu ihm gehen und ihm sagen wollen, daß er bei ihr gewesen sei. Er hatte sich ja, während er noch dorthin ging, auf halbem Weg, als auf einmal die Freude seine Seele erfüllte, selbst von seinem Dämon losgemacht. Oder lag in Rogoshin, das heißt in der ganzen heutigen Erscheinung dieses Menschen, in der Gesamtheit seiner Worte, Bewegungen, Handlungen und Blicke, wirklich etwas, was die schrecklichen Ahnungen des Fürsten und die aufregenden Einflüsterungen seines Dämons rechtfertigen konnte? Etwas, was sich von selbst dem Auge aufdrängt, aber schwer zu definieren und darzulegen und unmöglich mit hinreichenden Gründen zu beweisen ist, aber doch trotz all dieser Schwierigkeit und Unmöglichkeit einen starken, unwiderstehlichen Eindruck macht, der unwillkürlich in volle Überzeugung übergeht?…

Eine Überzeugung wovon? (Oh, wie quälte den Fürsten das Ungeheuerliche, »das Unwürdige« dieser Überzeugung, »dieser unwürdigen Ahnung«, und wie klagte er sich selbst an!) ›Sage doch, wenn du es wagst, wovon du überzeugt bist‹, sagte er fortwährend vorwurfsvoll und herausfordernd zu sich selbst. ›Formuliere es; wage es, deinen Gedanken vollständig auszusprechen, deutlich, genau, ohne Schwanken! Oh, ich bin ein Ehrloser!‹ so schalt er sich immer wieder voll Unwillen und mit Schamröte im Gesicht. ›Mit welchen Augen werde ich jetzt mein ganzes Leben lang diesen Menschen ansehen! Oh, was ist das für ein Tag! O Gott, welch ein beklemmendes Gefühl.‹

Am Ende dieses langen, qualvollen Weges von der Petersburger Seite gab es einen Augenblick, wo den Fürsten auf einmal ein unbezwingliches Verlangen ergriff, sofort nach Rogoshins Wohnung zu gehen, ihn dort zu erwarten, ihn voller Scham mit Tränen zu umarmen, ihm alles zu sagen und die ganze Sache mit einemmal zu Ende zu bringen. Aber er stand schon vor seinem Gasthof… Wie sehr hatte ihm heute früh auf den ersten Blick dieser Gasthof mißfallen, diese Korridore, dieses ganze Haus, sein eigenes Zimmer; mehrmals im Laufe des Tages hatte er sich mit besonderem Widerwillen daran erinnert, daß er wieder dahin zurückkehren müsse… ›Aber was ist denn nur mit mir? Ich glaube ja heute wie ein krankes Weib an jede Ahnung!‹ dachte er nervös und spöttisch, während er im Tor stehenblieb. Ein neuer, unerträglicher Anfall von Schamgefühl, ja fast von Verzweiflung hielt ihn auf seinem Platz direkt am Eingang in den Torweg festgebannt. Er blieb einen Augenblick stehen. Das ist eine nicht seltene Erscheinung: unerträgliche, plötzliche Erinnerungen, besonders wenn sie mit dem Gefühl der Scham verknüpft sind, zwingen die Menschen, einen Augenblick auf demselben Fleck stehenzubleiben. ›Ja, ich bin ein herzloser Mensch und ein Feigling!‹ sagte er sich mit düsterer Miene und setzte sich mit einem Ruck wieder in Bewegung, um weiterzugehen, aber… er blieb von neuem stehen.

In dem ohnehin sehr dunklen Torweg war es jetzt ganz finster; die herauf gezogene Gewitterwolke hatte die Abendhelle verschlungen, und gerade zu der Zeit, da der Fürst sich dem Hause näherte, öffnete sich die Wolke auf einmal und schüttete ihren Regen herab. In dem Augenblick, als der Fürst sich nach kurzem Stehenbleiben ruckartig wieder in Bewegung setzte, befand er sich am Anfang des Torwegs, da, wo man von der Straße aus in den Torweg eintrat. Und plötzlich erblickte er in der Tiefe des Durchgangs im Halbdunkel, dort, wo es die Treppe hinaufging, einen Mann. Dieser Mann schien auf etwas zu warten, huschte aber schnell davon und war verschwunden. Diesen Menschen hatte der Fürst nicht deutlich sehen können und hätte nicht mit Sicherheit sagen können, wer es gewesen war. Zudem kamen hier so viele Menschen vorbei; es war eben ein Gasthaus, und auf den Korridoren war ein ewiges Kommen und Gehen. Aber er fühlte auf einmal die volle und unwiderlegliche Überzeugung, daß er diesen Menschen erkannt hatte und daß dieser Mensch bestimmt Rogoshin war. Einen Augenblick darauf eilte der Fürst ihm nach, die Treppe hinauf. Das Herz stand ihm still. ›Jetzt wird sich sogleich alles entscheiden!‹ sagte er bei sich selbst mit seltsamer Sicherheit.

Die Treppe, die der Fürst vom Torweg aus hinauflief, führte zu den Korridoren des ersten und zweiten Stockwerks, an denen die Zimmer der Hotelgäste lagen. Diese Treppe war, wie in allen alten Häusern, von Stein, dunkel, eng, und wand sich um eine dicke, steinerne Säule herum. Auf dem ersten Absatz befand sich in der Säule eine nischenartige Vertiefung, nicht mehr als einen Schritt breit und einen halben Schritt tief. Ein Mensch konnte jedoch darin Platz finden. Wie dunkel es auch war, so unterschied der Fürst doch sogleich, als er den Absatz erreichte, daß sich in dieser Nische ein Mensch versteckt hatte. In dem Fürsten wurde plötzlich der Wunsch wach, vorbeizugehen und nicht nach rechts zu blicken. Er tat noch einen Schritt, konnte sich aber doch nicht beherrschen und wandte sich um.

Die zwei Augen von vorhin, dieselben Augen, begegneten auf einmal seinem Blick. Der Mensch, der in der Nische verborgen gewesen war, war inzwischen ebenfalls einen Schritt aus ihr herausgetreten. Eine Sekunde lang standen die beiden einander ganz dicht gegenüber. Plötzlich faßte der Fürst den andern an den Schultern und drehte ihn um, nach der Treppe zu, mehr nach dem Licht hin: er wollte sein Gesicht deutlicher sehen.

Rogoshins Augen funkelten auf, und ein wahnsinniges Lächeln entstellte sein Gesicht. Seine rechte Hand fuhr in die Höhe, und es blitzte etwas in ihr; dem Fürsten kam es nicht in den Sinn, sie aufzuhalten. Er erinnerte sich später nur, daß er gerufen hatte:

»Parfen, ich kann es nicht glauben!…«

Dann war es, als ob sich auf einmal etwas vor ihm öffnete: ein ungewöhnliches inneres Licht erhellte seine Seele. Dies dauerte vielleicht eine halbe Sekunde; aber er erinnerte sich doch deutlich und bewußt an den Anfang, an den ersten Laut eines furchtbaren Schreies, der sich von selbst seiner Brust entrang und den er mit keiner Anstrengung hätte zurückhalten können. Dann erlosch sein Bewußtsein, und es trat völlige Finsternis ein.

Er hatte einen epileptischen Anfall bekommen, nachdem diese Krankheit ihn schon so lange Zeit nicht mehr heimgesucht hatte. Bekanntlich treten die epileptischen Anfälle, namentlich die eigentliche Fallsucht, ganz plötzlich ein. In diesem Augenblicke verzerrt sich auf einmal das Gesicht außerordentlich, und besonders der Blick wird entstellt. Krämpfe und Zuckungen ergreifen den ganzen Körper und alle Gesichtsmuskeln. Ein furchtbarer, unbeschreiblicher und mit nichts zu vergleichender Schrei ringt sich aus der Brust; in diesem Schrei verschwindet sozusagen alles Menschliche, und es ist für einen Beobachter unmöglich oder wenigstens sehr schwer, sich vorzustellen und zu glauben, daß derjenige, der da schreit, wirklich noch der gleiche Mensch ist. Man kann sich dabei sogar einbilden, daß ein anderer schreie, der sich im Innern dieses Menschen befinde. Wenigstens haben viele den empfangenen Eindruck so geschildert; bei vielen ruft der Anblick eines Menschen, der einen epileptischen Anfall durchmacht, unerträgliches Entsetzen hervor, das sogar etwas Mystisches an sich hat. Man muß annehmen, daß ein solches Gefühl plötzlichen Entsetzens, im Verein mit allen andern schrecklichen Empfindungen dieses Augenblicks, Rogoshin plötzlich auf der Stelle erstarren ließ und dadurch den Fürsten vor dem sonst unvermeidlichen Stoß des bereits auf ihn herabfahrenden Messers rettete. Als dann Rogoshin sah, daß der Fürst zurücktaumelte und plötzlich hintenüberfiel, gerade die Treppe hinunter, wobei er mit voller Wucht mit dem Hinterkopf gegen eine Steinstufe schlug, da stürzte er, ehe er noch Zeit gefunden hatte, über den Anfall Klarheit zu gewinnen, nach unten, lief um den Daliegenden herum und rannte fast ohne Besinnung aus dem Gasthaus hinaus.

Infolge der Krämpfe, Zuckungen und des Umsichschlagens rutschte der Körper des Kranken die Stufen hinab, deren nicht mehr als fünfzehn waren, bis ganz zum Fuß der Treppe. Sehr bald, kaum fünf Minuten nachher, wurde der Daliegende bemerkt, und es sammelte sich um ihn eine Menge Menschen. Die große Blutlache, die sich um den Kopf gebildet hatte, erweckte Zweifel, ob dieser Mensch sich selbst verletzt habe oder »etwas Schlimmes geschehen« sei. Bald jedoch durchschauten einige, daß es ein Fall von Epilepsie war, und einer der Kellner erkannte in dem Fürsten den kürzlich eingetroffenen Gast. Die Aufregung kam endlich infolge eines sehr glücklichen Umstandes zur Ruhe.

Kolja Iwolgin, der in der »Waage« hinterlassen hatte, er werde um vier Uhr zurück sein, und statt dessen nach Pawlowsk gefahren war, hatte es infolge einer Überlegung, die ihm plötzlich gekommen war, abgelehnt, bei der Generalin Jepantschina zu speisen, war nach Petersburg zurückgefahren und nach der »Waage« geeilt, wo er gegen sieben Uhr abends eintraf. Nachdem er aus dem für ihn hinterlassenen Billett ersehen hatte, daß der Fürst sich in der Stadt befand, eilte er zu der ihm in dem Billett mitgeteilten Adresse. Als er in dem Gasthaus erfuhr, daß der Fürst ausgegangen war, ging er nach unten in die Restaurationsräume, um dort zu warten, ließ sich Tee geben und hörte dem Spiel des Orchestrions zu. Zufällig hörte er ein Gespräch über einen Anfall, den soeben jemand bekommen habe, stürzte, von einer richtigen Ahnung erfüllt, nach der Stelle hin und erkannte den Fürsten. Sogleich wurden alle erforderlichen Maßregeln ergriffen. Der Fürst wurde in sein Zimmer getragen; obgleich er wieder zu sich gekommen war, dauerte es doch sehr lange, bis er das volle Bewußtsein zurückerlangte. Ein Arzt, der herbeigerufen war, um den zerschlagenen Kopf zu untersuchen, verordnete ein Wundwasser und erklärte, daß die Verletzungen in keiner Weise gefährlich seien. Als der Fürst nach einer Stunde endlich anfing, seine Umgebung ordentlich zu erkennen, schaffte Kolja ihn in einem Wagen aus dem Gasthaus zu Lebedew. Dieser nahm den Kranken mit großer Freundlichkeit und vielen Verbeugungen auf. Es wurde um seinetwillen auch der Umzug nach dem Landhaus beschleunigt, und am dritten Tag befanden sich alle schon in Pawlowsk.

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Kapitel 22

VI

Lebedews Landhaus war nicht groß, aber bequem und sogar hübsch. Der zum Vermieten bestimmte Teil war besonders schön ausgestattet. Auf der ziemlich geräumigen Veranda beim Eingang von der Straße in die Wohnung waren mehrere Orangen- und Zitronenbäume und Jasminsträucher in großen grünen Holzkübeln aufgestellt, was nach Lebedews Ansicht einen überaus reizvollen Anblick bot. Einige dieser Gewächse hatte er zugleich mit dem Landhaus erworben und war von dem Effekt, den sie in der Veranda hervorbrachten, so entzückt gewesen, daß er unter Benutzung einer sich bietenden Gelegenheit beschloß, zur Vervollständigung noch eine Anzahl ebensolcher Gewächse in Kübeln auf einer Auktion zu erstehen. Als endlich alle diese Gewächse nach dem Landhaus geschafft und aufgestellt waren, lief Lebedew mehrmals am Tage die Stufen der Veranda hinab auf die Straße und bewunderte von dort aus sein Besitztum, wobei er jedesmal im stillen die Summe erhöhte, die er dem künftigen Mieter seines Landhauses abzuverlangen gedachte. Dem Fürsten, der infolge der seelischen Leiden und der physischen Abgespanntheit sehr schwach war, gefiel das Landhaus ausnehmend. Übrigens sah der Fürst am Tage des Umzuges nach Pawlowsk, das heißt am dritten Tage nach dem Anfall, äußerlich bereits fast wieder wie ein gesunder Mensch aus, obwohl er sich innerlich immer noch nicht genesen fühlte. Er freute sich über jeden, den er in diesen drei Tagen um sich sah: über Kolja, der fast nicht von seiner Seite wich, über die ganze Familie Lebedew (ohne den Neffen, der verschwunden war, man wußte nicht wohin), über Lebedew selbst; sogar den General Iwolgin, der ihn noch in der Stadt besuchte, empfing er mit Vergnügen. Am Tag des Umzuges selbst, der erst gegen Abend sein Ende erreicht hatte, war um ihn in der Veranda ziemlich viel Besuch versammelt: zuerst war Ganja gekommen, den der Fürst kaum wiedererkannte, so hatte er sich in dieser ganzen Zeit verändert und war abgemagert. Darauf waren Warja und Ptizyn erschienen, die ebenfalls in Pawlowsk zur Sommerfrische wohnten. Der General Iwolgin, der sich bei Lebedew fast für immer einquartiert hatte, schien sogar mit ihm zusammen umgezogen zu sein. Lebedew bemühte sich, ihm den Zutritt zu dem Fürsten zu verwehren und ihn bei sich festzuhalten; er verkehrte mit ihm freundschaftlich: sie waren anscheinend schon lange miteinander bekannt. Der Fürst bemerkte, daß sie an diesen ganzen drei Tagen manchmal miteinander lange Gespräche führten, nicht selten schrien und stritten, sogar, wie es schien, über wissenschaftliche Gegenstände, was offenbar Lebedew großes Vergnügen machte. Man konnte meinen, daß ihm der General für diese Disputationen unentbehrlich war. Aber Lebedew dehnte die Vorsichtsmaßregeln, die er auf den General anwandte, seit der Übersiedlung nach dem Landhaus auch auf seine Familie aus; mit der Begründung, der Fürst dürfe nicht gestört werden, ließ er niemand zu ihm; sobald er nur im entferntesten Verdacht schöpfte, daß seine Töchter, Wera mit dem Kind nicht ausgenommen, nach der Veranda gehen wollten, wo sich der Fürst befand, stürzte er sofort auf sie los, trampelte mit den Füßen und jagte sie fort, trotz aller Bitten des Fürsten, jedermann zu ihm zu lassen.

»Erstens hört sonst aller Respekt auf, wenn man ihnen dergleichen gestattet, und zweitens schickt es sich auch nicht für sie…«, erklärte er schließlich auf eine direkte Frage des Fürsten.

»Aber warum denn?« erwiderte der Fürst. »Wirklich, Sie quälen mich mit all dieser Beaufsichtigung und Bewachung. Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, daß es mir langweilig ist, allein zu sein, und Sie selbst machen mich durch Ihr beständiges Gestikulieren und Umhergehen auf den Zehen noch schwermütiger.«

Der Fürst spielte darauf an, daß Lebedew, obwohl er alle seine Angehörigen wegen der angeblichen Ruhebedürftigkeit des Kranken wegtrieb, doch selbst während dieser ganzen drei Tage alle Augenblicke zum Fürsten hereinkam und jedesmal zunächst die Tür öffnete, den Kopf hereinsteckte, sich im Zimmer umsah, als ob er feststellen wollte, ob der Fürst auch noch da sei und nicht davongelaufen wäre, und dann auf den Zehen, langsam, mit schleichenden Schritten, sich dessen Lehnstuhl näherte, so daß er seinen Mieter manchmal unversehens erschreckte. Fortwährend erkundigte er sich, ob der Fürst etwas brauche, und wenn der Fürst ihm endlich bemerkte, er möge ihn in Ruhe lassen, so machte er gehorsam, und ohne ein Wort zu erwidern, kehrt, ging wieder auf den Zehen zur Tür zurück und gestikulierte, während er ging, die ganze Zeit, als wollte er zu verstehen geben, er sei nur so ohne besondere Absicht hereingekommen, werde kein Wort weiter reden, gehe ja schon wieder hinaus und werde nicht mehr wiederkommen; aber nichtsdestoweniger erschien er nach zehn Minuten oder höchstens einer Viertelstunde von neuem. Kolja, der freien Zutritt zum Fürsten hatte, erregte dadurch Lebedews höchstes Mißfallen, ja dieser fühlte sich sogar schwer gekränkt. Kolja merkte, daß Lebedew manchmal eine halbe Stunde lang an der Tür stand und horchte, was er mit dem Fürsten sprach, und teilte diese seine Beobachtung natürlich dem Fürsten mit.

»Aber Sie halten mich ja hinter Schloß und Riegel, wie wenn Sie mich als Ihr Eigentum erworben hätten«, protestierte der Fürst. »Wenigstens auf dem Lande möchte ich es anders haben; lassen Sie es sich gesagt sein, daß ich empfangen werde, wen ich will, und gehen werde, wohin es mir beliebt.«

»Ohne den allergeringsten Zweifel«, versetzte Lebedew, lebhaft gestikulierend.

Der Fürst betrachtete ihn aufmerksam vom Kopf bis zu den Füßen.

»Wie ist das, Lukjan Timofejewitsch? Haben Sie Ihr Schränkchen, das in Ihrer Wohnung über dem Kopfende Ihres Bettes an der Wand befestigt war, hierher mitgebracht?«

»Nein, das habe ich nicht getan.«

»Haben Sie es wirklich dort gelassen?«

»Es war nicht möglich, es mitzunehmen; ich hätte es aus der Wand herausbrechen müssen… Es sitzt ganz fest.«

»Aber vielleicht haben Sie hier ein ebensolches?«

»Sogar ein besseres, sogar ein besseres; ich habe es mit dem Landhaus gekauft.«

»Ach so! Wem haben Sie denn vorhin den Zutritt zu mir verwehrt? So etwa vor einer Stunde?«

»Das… das war der General. Ich habe ihn allerdings nicht hereingelassen, und er paßt auch wirklich nicht zu Ihnen. Ich schätze diesen Mann sehr hoch, Fürst; er… er ist ein bedeutender Mensch, glauben Sie es etwa nicht? Na, sehen Sie, aber trotzdem… trotzdem wäre es das beste, durchlauchtigster Fürst, wenn Sie ihn nicht empfangen wollten.«

»Aber warum denn nicht, möchte ich doch fragen. Und warum stehen Sie denn jetzt auf den Zehen, Lebedew, und kommen immer zu mir, als wollten Sie mir ein Geheimnis ins Ohr sagen?«

»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch, das fühle ich«, antwortete Lebedew ziemlich unmotiviert und schlug sich affektvoll auf die Brust. »Aber wird der General für Sie nicht gar zu gastfreundlich sein?«

»Wieso gar zu gastfreundlich?«

»Er ist sehr für Gastfreundschaft. Erstens richtet er sich bei mir schon ganz häuslich ein; nun, das mag noch angehen; aber er ist unternehmend und dringt gleich in die Verwandtschaft ein. Er und ich, wir haben schon mehrmals unsere Familienverhältnisse untersucht, und es hat sich herausgestellt, daß wir miteinander verwandt sind. Und noch gestern hat er mir auseinandergesetzt, es lasse sich auch beweisen, daß Sie mütterlicherseits ein entfernter Neffe von ihm seien. Wenn also Sie sein Neffe sind, dann sind auch wir beide, Sie und ich, miteinander verwandt, durchlauchtigster Fürst. Das ist ja nun noch nichts Schlimmes, eine kleine Schwäche; aber soeben hat er mir versichert, daß er sein ganzes Leben lang, von der Zeit an, wo er noch Fähnrich war, bis zum elften Juni vorigen Jahres, täglich nicht weniger als zweihundert Personen an seinem Tisch sitzen gehabt habe. Es sei schließlich so weit gekommen, daß sie gar nicht mehr aufgestanden seien, sondern täglich fünfzehn Stunden lang zu Mittag und zu Abend gespeist und Tee getrunken hätten, und das alles dreißig Jahre lang ohne die geringste Unterbrechung, es sei kaum Zeit gewesen, das Tischtuch zu wechseln. Der eine sei aufgestanden und weggegangen und ein anderer gekommen, und an den patriotischen Festtagen sei die Zahl seiner Gäste auf dreihundert gestiegen. Und bei der tausendjährigen Jubiläumsfeier Rußlands habe er siebenhundert gezählt. Das ist ja schrecklich, solche Erzählungen sind ein sehr übles Symptom; so gastfreundliche Herren auch nur zu empfangen, ist bedenklich, und da habe ich mir gedacht, ob er nicht für Sie und für mich doch gar zu gastfreundlich ist.«

»Aber Sie stehen, wie es scheint, mit ihm auf sehr gutem Fuß?«

»Wir verkehren miteinander wie Brüder, und ich fasse alles als Scherz auf. Mögen wir miteinander verwandt sein, was schadet es mir? Das kann mir nur zur Ehre gereichen. Ich halte ihn für einen höchst interessanten Menschen, trotz der zweihundert Tischgäste und der noch größeren Zahl bei der Tausendjahrfeier Rußlands. Ich rede zu Ihnen ganz aufrichtig. Sie sprachen soeben von Geheimnissen, Fürst, und sagten, ich träte immer zu Ihnen heran, als wollte ich Ihnen ein Geheimnis mitteilen; nun, es trifft sich, daß wirklich ein Geheimnis vorliegt: eine gewisse Person hat mir soeben mitgeteilt, daß sie sehr wünsche, mit Ihnen eine geheime Zusammenkunft zu haben.«

»Warum denn eine geheime? Der Heimlichkeit bedarf es nicht. Ich werde selbst zu ihr hingehen, womöglich gleich heute.«

»Gewiß, der Heimlichkeit bedarf es gar nicht«, versetzte Lebedew gestikulierend. »Auch fürchtet sie gar nicht das, was Sie vermuten. Übrigens, der Unmensch kommt jeden Tag her, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen; ist Ihnen das bekannt?«

»Sie nennen ihn so oft einen Unmenschen; das ist mir sehr verdächtig.«

»Sie brauchen gar keinen Verdacht zu haben, nicht den geringsten Verdacht«, wehrte Lebedew eilig ab. »Ich wollte Ihnen nur bemerken, daß die betreffende Person sich nicht vor ihm, sondern vor einem ganz andern fürchtet.«

»Aber vor wem denn? Sagen Sie es doch schnell!« rief der Fürst ungeduldig angesichts der geheimnisvollen Grimassen Lebedews.

»Das ist eben das Geheimnis.«

Dabei lächelte Lebedew.

»Wessen Geheimnis?«

»Das ist Ihr Geheimnis. Sie selbst haben mir verboten, durchlauchtigster Fürst, in Ihrer Gegenwart davon zu sprechen…«, murmelte Lebedew, und nachdem er sich genug daran geweidet hatte, daß es ihm gelungen war, die Neugier seines Zuhörers bis zu peinlicher Ungeduld zu steigern, schloß er plötzlich: »Sie fürchtet sich vor Aglaja Iwanowna.«

Der Fürst machte ein finsteres Gesicht und schwieg einen Augenblick.

»Bei Gott, Lebedew, ich werde Ihr Landhaus verlassen«, sagte er plötzlich. »Wo sind Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyns? Bei Ihnen? Auch die haben Sie in Ihre eigenen Zimmer herübergelockt.«

»Sie werden kommen, sie werden kommen! Sogar der General wird mitkommen. Alle Türen werde ich aufmachen, auch meine Töchter werde ich herrufen, alle, alle, sofort, sofort«, flüsterte Lebedew erschrocken unter lebhaften Handbewegungen und rannte dabei von einer Tür zur andern.

In diesem Augenblick erschien Kolja, von der Straße kommend, in der Veranda und meldete, daß hinter ihm Besuch folge: Lisaweta Prokofjewna mit ihren drei Töchtern.

»Soll ich Ptizyns und Gawrila Ardalionowitsch hereinlassen oder nicht? Soll ich den General hereinlassen oder nicht?« fragte Lebedew hastig, durch diese Nachricht aufs höchste überrascht.

»Warum denn nicht? Lassen Sie jeden ein, der zu mir will! Ich kann Ihnen sagen, Lebedew, daß Sie mein Verhältnis zu den Menschen gleich von Anfang an falsch beurteilt haben; Sie sind da fortwährend in einem Irrtum befangen. Ich habe nicht den geringsten Grund, mich vor irgend jemand zu verstecken und zu verbergen«, bemerkte der Fürst lachend.

Als Lebedew ihn lachen sah, hielt er es für seine Pflicht, dies ebenfalls zu tun. Trotz seiner großen Aufregung war er offenbar sehr zufrieden.

Die von Kolja gebrachte Nachricht erwies sich als zutreffend; er war den Jepantschins nur ein paar Schritte vorausgelaufen, um sie anzumelden, und die Besucher erschienen nun plötzlich von beiden Seiten: von der Straße her Jepantschins und aus den Zimmern das Ptizynsche Ehepaar, Ganja und General Iwolgin.

Jepantschins hatten von der Krankheit des Fürsten und seiner Anwesenheit in Pawlowsk erst soeben durch Kolja erfahren; bis dahin hatte die Generalin schwere Zweifel gehegt. Schon vor drei Tagen hatte der General seiner Familie die Visitenkarte des Fürsten gezeigt; diese Karte rief bei Lisaweta Prokofjewna die bestimmte Überzeugung hervor, daß der Fürst selbst unmittelbar nach dieser Karte nach Pawlowsk kommen werde, um ihnen einen Besuch zu machen. Vergebens hielten ihr die Töchter entgegen, daß jemand, der ein halbes Jahr lang nicht geschrieben habe, es auch jetzt vielleicht gar nicht so eilig haben werde und daß er vielleicht, auch abgesehen von den Beziehungen zu ihrer Familie, in Petersburg viel zu tun haben möge; woher könnten sie denn von seinen Geschäften Kenntnis haben? Die Generalin wurde über diese Bemerkungen geradezu böse und bot eine Wette darauf an, daß der Fürst spätestens am folgenden Tag erscheinen werde, wiewohl auch das schon sehr spät sei. Am folgenden Tag wartete sie den ganzen Vormittag; dann erwartete sie ihn zum Mittagessen, zum Abend, und als es schon ganz dunkel geworden war, ärgerte sich Lisaweta Prokofjewna über alles und jedes und zankte sich mit allen, selbstverständlich ohne unter den Gründen des Streites den Fürsten auch nur mit einem Worte zu erwähnen. Auch am dritten Tag wurde seiner keinerlei Erwähnung getan. Als Aglaja sich beim Mittagessen unversehens die Bemerkung entschlüpfen ließ, maman sei ärgerlich, weil der Fürst nicht komme, worauf der General sofort einschaltete, er für seine Person könne nichts dafür, stand Lisaweta Prokofjewna auf und ging zornig hinaus. Endlich, am Abend, erschien Kolja mit einer Menge von Nachrichten und erzählte ihnen alle Erlebnisse des Fürsten, soweit sie ihm bekannt waren. Das Resultat war, daß Lisaweta Prokofjewna triumphierte; Kolja wurde aber gehörig ausgescholten: »Sonst hockt er hier tagelang bei uns und ist nicht loszuwerden, und jetzt hat er uns nicht einmal eine Mitteilung zugehen lassen, wenn er schon selbst nicht herkommen mochte.« Kolja wollte eigentlich sofort wegen des Ausdrucks »nicht loszuwerden« aufbegehren, verschob dies aber doch auf ein anderes Mal, und wenn der Ausdruck nicht gar zu beleidigend gewesen wäre, hätte er ihn vielleicht ganz entschuldigt, soviel Vergnügen machte ihm Lisaweta Prokofjewnas Aufregung und Unruhe bei der Nachricht von der Krankheit des Fürsten. Sie bestand eine ganze Weile darauf, man müsse unverzüglich einen expressen Boten nach Petersburg schicken, um eine ärztliche Kapazität ersten Ranges aufzusuchen und mit dem ersten Zug herbeizuschaffen. Aber die Töchter redeten ihr das aus; indes wollten sie hinter ihrer Mama nicht zurückstehen, als diese sich sofort anschickte, den Kranken zu besuchen.

»Er liegt auf dem Sterbebett«, sagte sie, sich eilig zurechtmachend, »wie werden wir uns da um Vorschriften der Etikette kümmern! Ist er ein Freund unseres Hauses oder nicht?«

»Andererseits ist es auch nicht passend, sich jemandem so ohne weiteres aufzudrängen«, wollte Aglaja einwenden.

»Na, dann komm nicht mit! Das wird sogar ganz gut sein; sonst ist niemand hier, um Jewgenij Pawlytsch zu empfangen, wenn er kommen sollte.«

Nach diesen Worten schloß sich Aglaja natürlich sofort den andern an, was sie übrigens ohnehin beabsichtigt hatte. Fürst Schtsch., der sich mit Adelaida unterhielt, erklärte sich auf deren Bitte unverzüglich bereit, die Damen zu begleiten. Er hatte schon früher, zu Anfang seiner Bekanntschaft mit Jepantschins, großes Interesse bekundet, als er von ihnen etwas über den Fürsten gehört hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß er mit diesem bereits bekannt war, und zwar hatten sie einander vor nicht allzu langer Zeit irgendwo kennengelernt und dann ungefähr vierzehn Tage lang zusammen in irgendeinem kleinen Städtchen gelebt. Das war vor drei Monaten gewesen. Fürst Schtsch. hatte ihnen sogar viel von dem Fürsten erzählt und sich überhaupt sehr sympathisch über ihn ausgesprochen, so daß er jetzt mit aufrichtigem Vergnügen hinging, um einen alten Bekannten zu besuchen. Der General Iwan Fjodorowitsch war diesmal nicht zu Hause. Jewgenij Pawlowitsch war ebenfalls noch nicht gekommen.

Von dem Jepantschinschen Landhause bis zu dem Lebedewschen waren es nur dreihundert Schritte. Der erste unangenehme Eindruck, den Lisaweta Prokofjewna beim Fürsten empfing, wurde dadurch hervorgerufen, daß sie eine ganze Gesellschaft um ihn versammelt fand, ganz zu schweigen von dem Umstand, daß ihr in dieser Gesellschaft zwei oder drei Personen entschieden zuwider waren; und zweitens war sie unangenehm berührt, als ihnen statt eines Verscheidenden auf dem Sterbebett, den sie zu finden erwartet hatte, ein anscheinend völlig gesunder, elegant gekleideter junger Mann mit lächelnder Miene entgegentrat. Sie blieb ganz verwundert stehen, zum größten Vergnügen Koljas, der ihr natürlich, noch ehe sie von ihrem Landhaus aufbrach, sehr wohl hätte mitteilen können, daß niemand im Sterben liege und von einem Totenbett nicht die Rede sei, dies aber absichtlich unterlassen hatte in schlauer Voraussicht des komischen Zornes der Generalin, die nach seiner Spekulation sich jedenfalls darüber ärgern würde, wenn sie den Fürsten, dem sie herzlich zugetan war, gesund anträfe. Kolja war sogar so taktlos, seine Vermutung laut auszusprechen, um Lisaweta Prokofjewna noch mehr zu reizen, mit der er trotz der zwischen ihnen angeknüpften Freundschaft ständig und manchmal in recht scharfer Form stichelte.

»Wart nur, mein Lieber, kräh nicht zu früh!« antwortete Lisaweta Prokofjewna und setzte sich auf den Lehnstuhl, den ihr der Fürst zurechtrückte.

Lebedew, Ptizyn und General Iwolgin beeilten sich, den jungen Damen Stühle zu bringen. Aglaja wurde vom General ein Stuhl angeboten. Lebedew stellte auch dem Fürsten Schtsch. einen Stuhl hin, wobei er es fertigbrachte, durch die Krümmung seines Rückens eine außerordentliche Ehrerbietung auszudrücken. Warja begrüßte die jungen Damen mit dem gewöhnlichen Entzücken im Flüsterton.

»Ich hatte allerdings geglaubt, dich im Bett zu finden, Fürst, so schwarzseherisch hatte mich die Angst gemacht, und ich leugne keineswegs, daß ich mich soeben furchtbar über dein glückliches Gesicht ärgerte; aber ich schwöre dir, das dauerte nur einen Augenblick, nur so lange, als ich noch nicht nachgedacht hatte. Sobald ich nachgedacht habe, handle und rede ich immer verständiger; ich denke, es wird dir ebenso gehen. In Wirklichkeit aber könnte ich mich über die Genesung meines eigenen Sohnes, wenn ich einen hätte, kaum mehr freuen als über die deinige; und wenn du es mir nicht glaubst, so ist das eine Schande für dich, nicht für mich. Dieser unartige Junge aber erlaubt sich mit mir ganz ungehörige Spaße. Du bist ja wohl sein Gönner; darum möchte ich dir ankündigen, daß ich eines schönen Tages auf die Ehre und das Vergnügen seiner weiteren Bekanntschaft verzichten werde, das kannst du mir glauben.«

»Was kann ich denn dafür?« rief Kolja. »Wenn ich Ihnen auch hoch und heilig beteuert hätte, daß der Fürst schon beinah gesund sei, so hätten Sie mir doch nicht geglaubt, weil es viel interessanter war, ihn sich auf dem Sterbebette vorzustellen.«

»Bleibst du lange hier bei uns in Pawlowsk?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an den Fürsten.

»Den ganzen Sommer und vielleicht noch länger.«

»Du bist ja allein hier. Bist du denn nicht verheiratet?«

»Nein, ich bin nicht verheiratet«, erwiderte der Fürst, der über die Naivität dieser gegen ihn gerichteten Stichelei lächeln mußte.

»Zum Lächeln ist kein Anlaß, so etwas kommt doch vor. Ich sagte es wegen des Landhauses; warum bist du nicht zu uns gezogen? Wir haben ein ganzes Nebengebäude leer stehen. Übrigens, ganz wie du willst. Wohnst du denn hier als Untermieter? Bei dem da?« fügte sie halblaut hinzu, indem sie mit einer Kopfbewegung auf Lebedew hindeutete. »Warum schneidet er eigentlich fortwährend Gesichter?«

In diesem Augenblick kam Wera, wie gewöhnlich mit dem Kind auf dem Arm, aus dem Innern des Hauses auf die Veranda. Lebedew, der sich bei den Stühlen umherwand und nicht wußte, wo er bleiben sollte, aber durchaus nicht weggehen wollte, stürzte plötzlich auf Wera los und wollte sie mit heftigen Armbewegungen aus der Veranda hinausjagen; er vergaß sich sogar so weit, daß er mit den Füßen trampelte.

»Ist er verrückt?« fügte die Generalin hinzu.

»Nein, er…«

»Vielleicht ist er betrunken? Deine Gesellschaft hier ist nicht schön«, sagte sie in entschiedenem Ton, indem sie auch die übrigen Gäste mit ihrem Blick maß. »Ah, was für ein nettes Mädchen! Wer ist das?«

»Das ist Wera Lukjanowna, die Tochter dieses Herrn Lebedew.«

»Ah!… Ein sehr nettes Mädchen. Ich möchte ihre Bekanntschaft machen.«

Lebedew aber, der Lisaweta Prokofjewnas lobendes Urteil gehört hatte, zog bereits selbst seine Tochter herbei, um sie vorzustellen.

»Meine Kinder sind mutterlos, mutterlos!« jammerte er, während er näher trat. »Auch dieses Kind, das sie auf dem Arm hat, ist mutterlos; es ist ihre Schwester, meine Tochter Ljubow, in rechtmäßiger Ehe von meiner Frau Jelena geboren, die vor sechs Wochen nach Gottes Willen im Wochenbett gestorben ist…ja… Sie vertritt an ihr Mutterstelle, obgleich sie nur ihre Schwester ist, nichts weiter als ihre Schwester… nichts weiter, nichts weiter…«

»Und du, Väterchen, bist nichts weiter als ein Dummkopf, nimm mir’s nicht übel. Na, nun genug, jetzt wirst du es wohl selbst wissen, denke ich«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna sehr ungehalten.

»Vollkommen richtig!« erwiderte Lebedew sehr respektvoll mit einer tiefen Verbeugung.

»Hören Sie mal, Herr Lebedew, ist das wahr, was man von Ihnen sagt: Sie legen die Apokalypse aus?« fragte Aglaja.

»Vollkommen wahr… Seit fünfzehn Jahren.«

»Ich habe von Ihnen gehört. Es hat ja wohl auch in den Zeitungen etwas über Sie gestanden?«

»Nein, das bezog sich auf einen andern Erklärer, einen andern; der ist gestorben, und ich bin jetzt sein Nachfolger«, versetzte Lebedew, ganz außer sich vor Freude.

»Tun Sie mir den Gefallen und erklären Sie sie mir einmal in diesen Tagen als guter Nachbar. Ich verstehe in der Apokalypse kein Wort.«

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Aglaja Iwanowna, daß das von ihm nur Scharlatanerie ist; glauben Sie mir!« mischte sich eilig General Iwolgin in das Gespräch ein, der schon wie auf Kohlen gesessen und auf das lebhafteste gewünscht hatte, irgendwie eine Unterhaltung anzuknüpfen; er setzte sich bei diesen Worten neben Aglaja Iwanowna. »Gewiß«, fuhr er fort, »der Aufenthalt auf dem Lande hat ja seine besonderen Reize und seine besonderen Vergnügungen, und der Verkehr mit jemandem, der es so keck unternimmt, die Apokalypse zu erklären, ist ein Zeitvertreib wie jeder andere und sogar ein solcher, der in interessanter Weise den Verstand in Anspruch nimmt, aber ich… Sie scheinen mich erstaunt anzusehen? Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: General Iwolgin. Ich habe Sie auf den Armen getragen, Aglaja Iwanowna.«

»Sehr erfreut. Ich bin mit Warwara Ardalionowna und Nina Alexandrowna bekannt«, murmelte Aglaja, die sich die größte Mühe gab, nicht loszulachen.

Lisaweta Prokofjewna wurde dunkelrot. Der Ärger, der sich schon lange in ihrer Seele angesammelt hatte, verlangte auf einmal nach einem Ausweg. Sie konnte den General Iwolgin, mit dem sie früher einmal, vor sehr langer Zeit, bekannt gewesen war, nicht ausstehen.

»Du lügst, Väterchen, wie das deine Gewohnheit ist; du hast sie nie auf den Armen getragen«, sagte sie scharf und unwillig zu ihm.

»Sie haben es vergessen, maman, er hat mich wirklich auf den Armen getragen«, bestätigte Aglaja plötzlich die Angabe des Generals. »Wir wohnten damals in Twer. Ich war sechs Jahre alt; ich erinnere mich an alles. Er machte mir einen Bogen und einen Pfeil und lehrte mich damit schießen, und ich schoß eine Taube tot. Erinnern Sie sich, daß wir beide zusammen eine Taube totgeschossen haben?«

»Und mir brachte er damals einen Helm aus Pappe und einen hölzernen Degen, ich entsinne mich auch!« rief Adelaida.

»Auch ich erinnere mich daran«, fügte Alexandra bekräftigend hinzu. »Ihr zanktet euch damals noch wegen der verwundeten Taube und wurdet in die Ecken gestellt; Adelaida stand so da: mit dem Helm und dem Degen.«

Der General, der zu Aglaja gesagt hatte, er habe sie auf den Armen getragen, hatte das nur so hingeredet, um ein Gespräch in Gang zu bringen, und einzig und allein, weil er fast immer eine Unterhaltung mit jungen Leuten in dieser Weise begann, wenn er mit ihnen bekannt zu werden wünschte. Diesmal aber hatte es sich ganz zufällig getroffen, daß er die Wahrheit gesagt hatte, und ebenso war es ein Zufall gewesen, daß er selbst dieses wahre Faktum vergessen hatte. Als nun Aglaja unerwarteterweise zur Bestätigung erzählte, daß sie mit ihm zusammen eine Taube totgeschossen habe, erhellte sich sein Gedächtnis auf einmal, und er erinnerte sich selbst an diesen Vorfall bis in die kleinsten Einzelheiten, wie man sich in höheren Jahren nicht selten an etwas aus der fernen Vergangenheit erinnert. Es ist schwer zu sagen, was eigentlich an dieser Erinnerung so stark auf den armen und wie gewöhnlich etwas angetrunkenen General wirken konnte, aber er wurde auf einmal ganz gerührt.

»Ich erinnere mich, ich erinnere mich an alles!« rief er. »Ich war damals Hauptmann. Sie waren so ein kleines, allerliebstes Ding. Nina Alexandrowna … Ganja … Ich verkehrte in Ihrem Hause. Iwan Fjodorowitsch …«

»Und nun sieh mal, wie weit du jetzt heruntergekommen bist!« fiel die Generalin ein. »Na, wenigstens hast du noch nicht alle anständigen Gefühle in dir durch den Trunk erstickt, wenn das so auf dich hat wirken können! Aber deine Frau hast du halb zu Tode gequält. Statt deinen Kindern den Weg durchs Leben zu zeigen, sitzt du im Schuldgefängnis. Mach, daß du von hier wegkommst, Väterchen; geh woandershin, stell dich hinter einer Tür in die Ecke und weine; denk an deine früheren unschuldigen Tage; vielleicht verzeiht dir dann Gott. Geh nur, geh; ich rede ganz im Ernst. Nichts ist zur Besserung nützlicher, als reuig der Vergangenheit zu gedenken.«

Aber es bedurfte keiner wiederholten Versicherung, daß sie ganz im Ernst rede: der General war wie alle Trinker sehr gefühlvoll und konnte wie alle heruntergekommenen Trinker die Erinnerung an die glückliche Vergangenheit nicht ertragen. Er stand auf und begab sich gehorsam nach der Tür, so daß Lisaweta Prokofjewna sogleich wieder Mitleid mit ihm empfand.

»Ardalion Alexandrytsch! Väterchen!« rief sie ihm nach. »Bleib noch einen Augenblick hier! Wir sind allzumal Sünder. Wenn du fühlen wirst, daß dein Gewissen dir nicht mehr soviel Vorwürfe macht, dann komm zu mir; dann wollen wir uns zusammensetzen und von alten Zeiten plaudern. Ich bin ja vielleicht noch fünfzigmal sündhafter als du. Aber jetzt leb wohl, geh, du hast hier nichts zu suchen!« fügte sie hinzu, in Angst, daß er wieder umkehren könnte.

»Sie täten gut, wenn Sie ihm vorläufig nicht nachgingen«, sagte der Fürst, um Kolja aufzuhalten, der seinem Vater schnell folgen wollte. »Sonst wird er nach einer Minute ärgerlich werden, und der ganze segensreiche Augenblick ist dann verdorben.«

»Das ist richtig, laß ihn jetzt in Ruhe, geh erst in einer halben Stunde hin!« sagte Lisaweta Prokofjewna befehlend.

»Da sieht man, was es zu bedeuten hat, wenn man wenigstens einmal im Leben die Wahrheit sagt. Zum Weinen hat es ihn gebracht!« wagte Lebedew hinterdrein zu bemerken.

»Na, und du mußt auch ein netter Patron sein, Väterchen, wenn das wahr ist, was ich über dich gehört habe«, kanzelte ihn Lisaweta Prokofjewna sogleich ab.

Das gegenseitige Verhältnis aller bei dem Fürsten versammelten Besucher klärte sich allmählich. Der Fürst wußte die ihm von der Generalin und ihren Töchtern bewiesene Teilnahme selbstverständlich in ihrem ganzen Wert zu würdigen und sagte ihnen aufrichtig, er habe gerade heute, noch vor ihrem Besuche, die bestimmte Absicht gehabt, zu ihnen zu kommen, trotz seiner Krankheit und trotz der späten Stunde. Lisaweta Prokofjewna erwiderte ihm mit einem Blick auf seine Gäste, das könne er auch jetzt noch sogleich zur Ausführung bringen. Ptizyn, ein höflicher und sehr friedfertiger Mensch, stand sehr bald auf und zog sich nach dem Nebengebäude in Lebedews Wohnung zurück; sehr gern hätte er dabei auch Lebedew selbst mitgenommen. Dieser versprach ihm, bald nachzukommen; unterdessen war Warja mit den jungen Mädchen in ein lebhaftes Gespräch hineingekommen und blieb infolgedessen. Sie und Ganja waren sehr froh über die Abwesenheit des Generals; Ganja selbst folgte bald Ptizyn nach. Während der kurzen Zeit, die er in der Veranda in Gegenwart der Jepantschinschen Damen zugebracht hatte, hatte er sich bescheiden und würdig benommen und unter Lisaweta Prokofjewnas strengem Blicke, die ihn zweimal vom Kopf bis zu den Füßen musterte, nicht die Fassung verloren. Wer ihn früher gekannt hatte, mußte in der Tat finden, daß er sich sehr verändert habe. Auf Aglaja machte dies einen guten Eindruck.

»War das nicht Gawrila Ardalionowitsch, der eben wegging?« fragte sie auf einmal in ihrer beliebten Art: laut, in scharfem Ton, ohne Rücksicht auf das Gespräch der andern, das sie mit ihrer Frage unterbrach, und ohne sich an irgendeinen einzelnen zu wenden.

»Jawohl«, antwortete der Fürst.

»Ich hatte ihn kaum erkannt. Er hat sich sehr verändert, und… sehr zu seinem Vorteil.«

»Das ist mir sehr lieb zu hören«, erwiderte der Fürst.

»Er war sehr krank«, fügte Warja, zugleich erfreut und bedauernd, hinzu.

»Inwiefern soll er sich denn zu seinem Vorteil verändert haben?« fragte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich und erstaunt und beinah erschrocken. »Wie kommst du darauf? Ich bemerke an ihm nichts, was besser geworden wäre. Was scheint dir denn eigentlich besser?«

»Etwas Besseres als den ›armen Ritter‹ kann es überhaupt nicht geben!« rief plötzlich Kolja, der die ganze Zeit über neben Lisaweta Prokofjewnas Stuhl gestanden hatte.

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Fürst Schtsch. lachend.

»Ich bin ganz derselben Ansicht«, erklärte Adelaida ernst.

»Was ist denn das für ein ›armer Ritter‹?« fragte die Generalin, indem sie alle Redenden verständnislos und ärgerlich anblickte. Aber als sie sah, daß Aglaja rot geworden war, fügte sie zornig hinzu: »Gewiß wieder irgendein Unsinn! Was für ein ›armer Ritter‹?«

»Als ob es das erstemal wäre, daß dieser freche Junge, Ihr Liebling, anderer Leute Worte verdreht!« antwortete Aglaja hochmütig und unwillig.

Fast jedesmal, wenn Aglaja zornig wurde (und das geschah ziemlich oft), blickte aus ihrer anscheinend ernsten, unerbittlichen Miene doch so viel von dem schlecht verhehlten, ungeduldigen Wesen eines Schulkindes hervor, daß es manchmal unmöglich war, bei ihrem Anblick das Lachen zu unterdrücken, worüber sich Aglaja übrigens gewaltig ärgerte, da sie nicht begriff, worüber die Leute lachten, und »wie jemand da überhaupt lachen könne und zu lachen wage«. Auch jetzt lachten die Schwestern und Fürst Schtsch.; sogar Fürst Lew Nikolajewitsch, der aus irgendeinem Grund ebenfalls errötet war, lächelte. Kolja jubelte und triumphierte. Aglaja wurde nun ernstlich böse und dadurch noch einmal so schön. Ihre Verlegenheit stand ihr außerordentlich gut, und nicht minder gleichzeitig ihr Ärger über sich selbst wegen dieser Verlegenheit.

»Auch Ihre eigenen Worte hat er oft genug verdreht!« fügte sie hinzu.

»Ich wiederhole nur Ihren eigenen Ausspruch!« rief Kolja. »Vor einem Monat blätterten Sie im Don Quijote und riefen dabei aus, es gebe doch nichts Besseres als den ›armen Ritter‹. Ich weiß nicht, auf wen sich das damals beziehen sollte: ob auf Don Quijote oder auf Jewgenij Pawlowitsch oder auf noch jemand anders, aber jedenfalls meinten Sie damit irgend jemand, und es entspann sich darüber ein langes Gespräch…«

»Ich sehe, daß du dir mit deinen Vermutungen doch gar zu viel herausnimmst, mein Lieber!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna ärgerlich.

»Aber bin ich denn der einzige, der davon spricht?« versetzte Kolja, der sich nicht den Mund verbieten ließ. »Alle haben damals davon gesprochen und sprechen auch jetzt noch davon. Hier Fürst Schtsch. und Adelaida Iwanowna und überhaupt alle haben erklärt, daß sie auf seiten des ›armen Ritters‹ stehen; also muß doch der ›arme Ritter‹ existieren und existiert jedenfalls, und wenn nur Adelaida Iwanowna wollte, so würden wir meiner Ansicht nach alle schon längst wissen, wer der ›arme Ritter‹ ist.«

»Inwiefern soll ich denn daran schuld sein?« fragte Adelaida lachend.

»Sie wollten sein Porträt nicht zeichnen, insofern sind Sie daran schuld! Aglaja Iwanowna bat Sie damals, das Porträt des ›armen Ritters‹ zu zeichnen, und setzte Ihnen den ganzen Vorwurf zu dem Bild auseinander, den sie sich selbst ausgedacht hatte; erinnern Sie sich noch an diesen Vorwurf? Aber Sie wollten es nicht…«

»Wie hätte ich den Betreffenden denn zeichnen sollen? In der Beschreibung wird doch von diesem ›armen Ritter‹ gesagt:

›Niemals in die Höhe schlug er
Vorm Gesichte das Visier.‹

Was konnte dabei also für ein Gesicht herauskommen? Was sollte ich zeichnen? Ein Visier? Einen Anonymus?«

»Ich verstehe von alledem nichts; was ist das nun wieder für ein Visier?« ereiferte sich die Generalin, die im stillen sehr wohl zu begreifen anfing, wer mit der wahrscheinlich schon lange geläufigen Benennung »der arme Ritter« gemeint war.

Aber ganz besonders ärgerte sie sich darüber, daß Fürst Lew Nikolajewitsch ebenfalls verlegen geworden war und schließlich eine Befangenheit bekundete wie ein zehnjähriger Junge.

»Nun also, wird diese Dummheit endlich ein Ende nehmen? Wird mir nun erläutert werden, was dieser ›arme Ritter‹ bedeutet? Ist das etwa ein so furchtbares Geheimnis, daß man gar nicht daran rühren darf?«

Aber alle lachten nur weiter.

»Es ist ganz einfach ein merkwürdiges russisches Gedicht«, ergriff endlich Fürst Schtsch. das Wort, offenbar in dem Wunsch, die Sache möglichst schnell zu erledigen und dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, »ein Gedicht über einen ›armen Ritter‹, ein Fragment ohne Anfang und Schluß. Vor einem Monat scherzten wir einmal alle nach Tisch und suchten wie gewöhnlich nach einem Vorwurf für ein künftiges Bild Adelaida Iwanownas. Sie wissen, daß es bereits zu einer Art von Familiensport geworden ist, Vorwürfe für Adelaida Iwanownas Bilder ausfindig zu machen. Da verfielen wir auch auf den ›armen Ritter‹; wer zuerst auf diesen Einfall kam, weiß ich nicht mehr …«

»Aglaja Iwanowna war es!« rief Kolja.

»Mag sein; ich will es nicht bestreiten, obwohl ich mich nicht erinnere«, fuhr Fürst Schtsch. fort. »Die einen spotteten über dieses Sujet, die anderen dagegen meinten, man könne sich gar nichts Höheres ausdenken. Aber um den ›armen Ritter‹ darzustellen, dazu war unter allen Umständen ein Gesicht als Modell erforderlich; so musterten wir denn die Gesichter aller unserer Bekannten, aber kein einziges taugte dazu; daran scheiterte die Sache. Das ist alles. Es ist mir unverständlich, warum Nikolai Ardalionowitsch es hier hat erwähnen und erörtern können. Was früher und bei bestimmtem Anlaß komisch war, hat jetzt alles Interesse verloren.«

»Er hat es eben getan, weil da wieder irgendeine neue Dummheit dahintersteckt, eine boshafte, verletzende Dummheit«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna scharf.

»Es steckt gar keine Dummheit dahinter, sondern vielmehr die größte Hochachtung«, sagte Aglaja mit ganz unerwartetem Ernst und Nachdruck. Es war ihr inzwischen gelungen, sich wieder vollständig in die Gewalt zu bekommen und ihre frühere Verlegenheit zu unterdrücken.

Ja, auf Grund gewisser Anzeichen konnte man, wenn man sie ansah, meinen, daß sie sich jetzt selbst darüber freute, daß der Spaß sich immer länger und länger ausdehnte, und diese ganze Umwandlung ging bei ihr gerade in dem Augenblick vor, als die immer zunehmende und schon sehr hoch gestiegene Verlegenheit des Fürsten ganz deutlich wurde.

»Erst lachen sie wie die Unsinnigen, und dann wird auf einmal von der größten Hochachtung gesprochen! Verrücktes Volk! Was soll hier die Hochachtung? Sag mal sofort, warum du so mir nichts dir nichts auf einmal von der größten Hochachtung redest!«

»Von der größten Hochachtung«, erwiderte Aglaja ebenso ernst und nachdrücklich auf die ärgerliche Frage der Mutter, »von der größten Hochachtung rede ich deshalb, weil in diesen Versen ein Mensch geschildert wird, der fähig ist, erstens ein Ideal zu haben und zweitens, nachdem er sich einmal ein solches Ideal geschaffen hat, an dasselbe zu glauben und ihm blind sein ganzes Leben zu weihen. So etwas kommt in unserer Zeit nicht alle Tage vor. Dort, in diesen Versen, ist nicht gesagt, worin eigentlich das Ideal des ›armen Ritters‹ bestand; aber man sieht, daß es eben ein leuchtendes Ideal war, ›das Ideal der reinen Schönheit‹, und daß der verliebte Ritter sich sogar statt der Schärpe einen Rosenkranz um den Hals band. Allerdings ist da noch von einer dunklen, nur andeutenden Devise die Rede, den Buchstaben A. N. B., die er auf seinen Schild geschrieben hatte…«

»A. M. D.«, verbesserte Kolja.

»Ich sage aber A. N. B. und will dabei bleiben«, unterbrach ihn Aglaja ärgerlich. »Wie es sich damit auch verhalten mag, so viel ist klar, daß es diesem ›armen Ritter‹ nun ganz gleichgültig war, wer seine Dame war und was sie tat. Ihm genügte es, sie sich ausgewählt zu haben und an ihre ›reine Schönheit‹ zu glauben, und nun verehrt er sie sein ganzes Leben lang; gerade darin besteht sein Verdienst, daß er, selbst wenn sie später zur Diebin würde, doch an sie glauben und für ihre reine Schönheit eine Lanze brechen müßte. Der Dichter scheint beabsichtigt zu haben, in der auffallenden Gestalt eines reinen, hochgesinnten Ritters den ganzen gewaltigen Begriff der mittelalterlichen, ritterlichen, platonischen Liebe zur zusammenfassenden Darstellung zu bringen; selbstverständlich ist das alles ein Ideal. In dem ›armen Ritter‹ hat dieses Gefühl schon die höchste Stufe erreicht, die Askese; man muß gestehen, daß die Fähigkeit zu einem solchen Gefühl einen hohen Wert hat und daß solche Gefühle einen bedeutsamen und unter Umständen sehr löblichen Charakterzug bilden, wobei ich nicht gerade Don Quijote meine. Der ›arme Ritter‹ ist eine Art Don Quijote, aber ein ernster, nicht ein komischer. Ich habe ihn am Anfang nicht verstanden und über ihn gelacht, aber jetzt liebe ich den ›armen Ritter‹, und vor allen Dingen schätze ich seine Taten hoch.«

Damit schloß Aglaja, und wenn man sie ansah, konnte man schwer daraus klug werden, ob sie im Ernst sprach oder scherzte.

»Na, ein Dummkopf ist er, er und seine Taten!« urteilte die Generalin kurz. »Aber du, liebes Kind, bist ganz ins Schwatzen hineingekommen, das war ja eine ordentliche Vorlesung; aber meiner Ansicht nach steht dir das gar nicht gut, jedenfalls ist es unpassend. Was sind das für Verse? Sag sie mal auf, du kannst sie doch sicher auswendig! Ich will diese Verse unbedingt kennenlernen. Mein ganzes Leben habe ich Verse nicht leiden können, als hätte ich eine Ahnung gehabt, daß ich mich bloß darüber ärgern würde. Um Gottes willen, Fürst, werd nicht böse! Wir beide, du und ich, müssen, wie es scheint, es zusammen ertragen«, sagte sie, zu dem Fürsten Lew Nikolajewitsch gewendet.

Sie war sehr aufgebracht.

Fürst Lew Nikolajewitsch wollte schon etwas sagen, konnte aber wegen seiner immer noch andauernden Verlegenheit nichts herausbringen. Aglaja hingegen, die sich in ihrer »Vorlesung« soviel herausgenommen hatte, zeigte keine Spur von Verlegenheit mehr, sondern schien sich im Gegenteil zu freuen. Sie stand sofort auf, mit derselben ernsten, bedeutsamen Miene wie vorhin; es machte den Eindruck, als hätte sie sich vorher darauf vorbereitet und nur auf eine Aufforderung gewartet. In die Mitte der Veranda tretend, stellte sie sich gerade vor den Fürsten hin, der auf seinem Lehnstuhl sitzen blieb. Alle blickten sie einigermaßen erstaunt an, und fast alle, Fürst Schtsch., die Schwestern und die Mutter, sahen mit einem unangenehmen Gefühl dem neuen, in Vorbereitung befindlichen Schelmenstreich entgegen, der jedenfalls etwas weit zu gehen drohte. Aber Aglaja fand offenbar ihr Vergnügen an dem affektierten Benehmen, mit dem sie sich zu der Deklamation der Verse anschickte. Lisaweta Prokofjewna war schon nahe daran, sie mit energischen Worten von dort wegzurufen und auf ihren Platz zurückzuschicken; aber gerade in dem Augenblick, als Aglaja die bekannte Ballade Zu deklamieren begann, traten zwei neue Gäste, die in lautem Gespräch begriffen waren, von der Straße in die Veranda. Dies waren der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin und hinter ihm ein junger Mann. Ihr Erscheinen rief bei den bereits Anwesenden eine kleine Aufregung hervor.

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Kapitel 23

VII

Der junge Mann, der den General begleitete, war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, schlank, mit einem schönen, verständigen Gesicht und großen schwarzen, klug und spöttisch blickenden Augen. Aglaja sah sich gar nicht nach ihm um und deklamierte ruhig das Gedicht weiter, indem sie fortfuhr, nur den Fürsten anzusehen, und sich nur an ihn allein wandte. Dem Fürsten war klar, daß sie dies alles mit irgendeiner besonderen Absicht tat. Aber wenigstens trugen die neuen Gäste einigermaßen zur Verbesserung seiner unbehaglichen Situation bei. Als er sie erblickte, erhob er sich, nickte dem General von weitem freundlich zu und machte ein Zeichen, daß sie die Deklamation nicht unterbrechen möchten; er selbst aber retirierte hinter seinen Lehnstuhl, wo er, mit dem linken Arm auf die Lehne gestützt, die Ballade weiter mit anhörte, sozusagen in gesicherter und nicht so komischer Stellung wie vorher, als er auf dem Lehnstuhl saß. Lisaweta Prokofjewna winkte ihrerseits den Ankömmlingen gebieterisch zu, sie möchten stehenbleiben. Der Fürst interessierte sich übrigens sehr für seinen neuen Gast, der mit dem General gekommen war; er vermutete mit Bestimmtheit in ihm Jewgenij Pawlowitsch Radomskij, von dem er bereits viel gehört und an den er schon oft gedacht hatte. Nur machte ihn dessen Zivilanzug stutzig, da er gehört hatte, daß Jewgenij Pawlowitsch Offizier sei. Ein spöttisches Lächeln spielte während der ganzen Dauer der Deklamation um die Lippen des neuen Gastes, als hätte er bereits etwas von dem »armen Ritter« gehört.

›Vielleicht rührt der ganze Gedanke von ihm her‹, dachte der Fürst im stillen.

Aber mit Aglaja war eine große Veränderung vorgegangen. Statt der ursprünglichen Affektiertheit und Wichtigtuerei, mit der sie zum Deklamieren vorgetreten war, zeigte sie einen solchen Ernst und ein so tiefes Eindringen in den Geist und Sinn des dichterischen Werkes, sie sprach jedes Wort des Gedichtes mit solchem Verständnis, sie trug die Verse mit so vollendeter Schlichtheit vor, daß sie, als die Deklamation beendet war, nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit gefesselt, sondern auch durch die Wiedergabe des hohen geistigen Gehaltes der Ballade jene besondere, affektierte Feierlichkeit, mit der sie so triumphierend in die Mitte der Veranda getreten war, nachträglich gewissermaßen zum Teil gerechtfertigt hatte. In diesem feierlichen Benehmen konnte man jetzt nur ihre grenzenlose und vielleicht naive Hochachtung vor demjenigen sehen, was sie wiederzugeben unternommen hatte. Ihre Augen leuchteten, und ein leiser, kaum bemerkbarer Schauer der Begeisterung und des Entzückens lief einigemal über ihr schönes Gesicht. Sie deklamierte:

»Einstmals lebt‘ ein armer Ritter,
Schweigsam, herzensgut und schlicht;
Kühn mit jedem Feinde stritt er,
Ernst und blaß war sein Gesicht.

In Verzückung war erschienen
Ihm ein himmlisch Frauenbild,
Nie vergaß er dessen Mienen,
Hehr und edel, hold und mild.

Ganz der Heiligen ergeben,
Mied er alle Frau’n hinfort,
Gönnt‘ in seinem ganzen Leben
Keinem ird’schen Weib ein Wort.

Und ein Paternoster trug er
Um den Hals als sondre Zier;
Niemals in die Höhe schlug er
Vorm Gesichte das Visier.

Dieser Rittersmann, getrieben
Von des Herzens reiner Glut,
Hatt‘ auf seinen Schild geschrieben
N. F. B. mit seinem Blut.

Als ins heil’ge Land sie kamen,
Rief ein jeder Christenheld
Seiner edlen Dame Namen
In der Schlacht auf blut’gem Feld.

›‹
Rief jedoch mit wildem Blick
Unser Ritter, und sein Droh’n sah
Scheu der Feind und wich zurück.

Heimgekehrt zur Burg der Väter,
Lebt‘ er fort, ein trüber Tropf,
Immer einsam, bis er später
Starb, nicht ganz normal im Kopf.«

Wenn der Fürst später sich an diesen ganzen Vorgang erinnerte, so quälte er sich lange ratlos mit einer für ihn unlösbaren Frage ab: wie es möglich war, eine so echte, schöne Empfindung mit so offenbarem, boshaftem Spott zu vereinigen. Denn daß wirklich Spott dahintersteckte, daran zweifelte er nicht; das fühlte er deutlich, und er hatte zu seiner Auffassung seine guten Gründe: beim Deklamieren hatte sich Aglaja erlaubt, die Buchstaben mit den Buchstaben N. F. B. zu vertauschen. Daß hier kein Irrtum und kein Verhören seinerseits vorlag, daran konnte er nicht zweifeln (die Folgezeit lieferte den Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht). Jedenfalls war Aglajas Ausschreitung (die sicherlich nur als Scherz gemeint, aber doch gar zu keck und leichtsinnig war) vorher überlegt gewesen. Von dem »armen Ritter« hatten alle gesprochen und sich darüber amüsiert, schon vor einem Monat. Und trotzdem mußte der Fürst, wie sehr er auch später sein Gedächtnis anstrengte, zugeben, daß Aglaja jene Buchstaben nicht nur ohne jeden scherzhaften oder spöttischen Beiklang, nicht nur ohne eine besondere Betonung, die ihren geheimen Sinn stärker hervorgehoben hätte, sondern im Gegenteil mit so unverändertem Ernst, mit einer solchen unschuldigen, naiven Einfachheit gesprochen hatte, daß man hätte denken können, eben jene Buchstaben hätten in dem Gedicht gestanden und es wäre so in dem Buch gedruckt gewesen. Es lag in ihrem Verhalten etwas, was den Fürsten peinlich verletzte. Lisaweta Prokofjewna hatte es natürlich nicht verstanden und weder die Vertauschung der Buchstaben noch die Anspielung bemerkt. General Iwan Fjodorowitsch begriff weiter nichts, als daß da eine Gedicht deklamiert wurde. Von den übrigen Zuhörern hatten sehr viele die Ausschreitung gemerkt und sich über deren Kühnheit und Tendenz gewundert, aber sie schwiegen und bemühten sich, harmlose Gesichter zu machen. Jewgenij Pawlowitsch jedoch hatte (darauf hätte der Fürst wetten mögen) nicht nur verstanden, sondern war auch bestrebt, dies durch seine Miene zu zeigen: er lächelte überaus spöttisch.

»Ein reizendes Gedicht«, rief die Generalin in aufrichtigem Entzücken, sobald die Deklamation zu Ende war.

»Von wem ist es denn?«

»Von Puschkin, maman. Machen Sie uns doch nicht solche Schande, man muß sich ja schämen!« rief Adelaida.

»Ihr stellt einen aber auch immer als Dummkopf hin!« erwiderte Lisaweta Prokofjewna gekränkt. »Schämt euch! Sowie wir nach Hause kommen, müßt ihr mir dieses Puschkinsche Gedicht geben.«

»Ich glaube, wir besitzen überhaupt keinen Puschkin.«

»Seit wer weiß wie langer Zeit liegen bei uns zwei ramponierte Bände herum«, fügte Alexandra hinzu.

»Dann schickt sofort jemanden in die Stadt, um ein Exemplar zu kaufen, Fjodor oder Alexej, gleich mit dem nächsten Zug, am besten Alexej. Aglaja, komm einmal her! Gib mir einen Kuß, du hast sehr schön deklamiert; aber wenn du es ernst gemeint hast«, fügte sie beinah flüsternd hinzu, »so tust du mir leid, und wenn du ihn hast verspotten wollen, dann billige ich dein Benehmen nicht; dann wäre es jedenfalls besser gewesen, die Deklamation ganz zu unterlassen. Verstanden? Geh, mein Kind, ich werde noch mit dir darüber reden; aber wir haben hier schon zu lange gesessen.«

Unterdessen hatte der Fürst den General Iwan Fjodorowitsch begrüßt, und der General hatte ihm Jewgenij Pawlowitsch Radomskij vorgestellt.

»Ich habe ihn in Petersburg unterwegs getroffen, und wir sind beide eben erst mit dem Zug angekommen. Er hörte, daß ich hierherginge und daß auch alle meine Angehörigen…«

»Ich hörte, daß auch Sie hier in Pawlowsk seien«, unterbrach ihn Jewgenij Pawlowitsch, »und da ich mir schon längst vorgenommen hatte, nicht nur Ihre Bekanntschaft, sondern auch Ihre Freundschaft zu suchen, so wollte ich keine Zeit verlieren. Sie sind nicht wohl? Ich habe es eben erst gehört…«

»Ich bin ganz gesund und freue mich sehr, Sie kennenzulernen; Fürst Schtsch. hat mir viel von Ihnen erzählt, und ich habe sogar viel mit ihm von Ihnen gesprochen«, antwortete Lew Nikolajewitsch, indem er ihm die Hand reichte.

Sie wechselten einige höfliche Worte, drückten einander die Hände und blickten sich gegenseitig prüfend in die Augen. Es entspann sich sofort eine allgemeine Unterhaltung. Der Fürst bemerkte (und er bemerkte jetzt alles rasch und eifrig, vielleicht sogar Dinge, die gar nicht existierten), daß Jewgenij Pawlowitschs Zivilanzug allgemeines und ungewöhnlich starkes Aufsehen erregte, wodurch sogar alles, was die Gesellschaft bisher interessiert hatte, in den Hintergrund trat und vergessen wurde. Es machte den Eindruck, als messe man diesem Kostümwechsel besondere Wichtigkeit bei. Adelaida und Alexandra fragten den jungen Mann verwundert, was das zu bedeuten habe; Fürst Schtsch., sein Verwandter, redete darüber in großer Unruhe, der General sogar beinah in Aufregung. Nur Aglaja musterte Jewgenij Pawlowitsch einen Augenblick zwar neugierig, aber doch mit vollkommener Seelenruhe, als wolle sie lediglich durch Vergleichung feststellen, ob ihm der Militär- oder der Zivilanzug besser stehe, wandte sich dann aber gleich wieder von ihm ab und sah ihn nachher nicht weiter an. Auch Lisaweta Prokofjewna hatte keine Lust, Fragen an ihn zu richten, obgleich sie vielleicht ebenfalls einigermaßen beunruhigt war. Es schien dem Fürsten, daß Jewgenij Pawlowitsch bei ihr in Ungnade stand.

»Ich war ganz verwundert, höchst erstaunt«, erwiderte Iwan Fjodorowitsch auf alle Fragen. »Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihm vorhin in Petersburg begegnete. Und warum so plötzlich? Das ist mir ein Rätsel. Er selbst proklamiert es als seinen Grundsatz, man müsse sich stets vor Heftigkeit hüten.«

Bei dem sich nunmehr entwickelnden Gespräch ergab sich, daß Jewgenij Pawlowitsch sich seinen Bekannten gegenüber schon lange dahin geäußert hatte, daß er den Abschied zu nehmen gedenke; aber er hatte jedesmal in so wenig ernstem Ton darüber gesprochen, daß es unmöglich war, ihm zu glauben. Er sprach nämlich auch von ernsthaften Dingen immer mit so scherzhafter Miene, daß man gar nicht aus ihm klug werden konnte, besonders wenn er es selbst nicht wünschte.

»Ich bin ja nur zeitweilig, auf einige Monate, höchstens auf ein Jahr, ausgetreten«, sagte Radomskij lachend.

»Aber soweit ich wenigstens Ihre Verhältnisse kenne, war es doch gar nicht notwendig«, ereiferte sich der General immer noch.

»Muß ich denn nicht auch einmal meine Güter besichtigen? Sie haben es mir ja selbst geraten. Und außerdem möchte ich auch ins Ausland reisen…«

Das Gespräch wendete sich übrigens bald anderen Gegenständen zu, aber die eigenartige und immer noch fortdauernde Unruhe überschritt doch nach Meinung des alles beobachtenden Fürsten die Grenzen des Gewöhnlichen, und es mußte wohl etwas Besonderes dahinterstecken.

»Also der ›arme Ritter‹ ist auch wieder aufs Tapet gebracht?« fragte Jewgenij Pawlowitsch, indem er an Aglaja herantrat.

Zur Verwunderung des Fürsten blickte diese ihn erstaunt und fragend an, als wollte sie ihm zu verstehen geben, daß zwischen ihnen beiden von dem »armen Ritter« nicht die Rede gewesen sein könne und daß sie die Frage überhaupt nicht verstehe.

»Aber es ist zu spät, viel zu spät, jetzt noch in die Stadt zu schicken und einen Puschkin holen zu lassen, viel zu spät!« stritt Kolja hitzig mit Lisaweta Prokofjewna. »Zum dreitausendstenmal sage ich Ihnen: es ist zu spät!«

»Ja, es dürfte vielleicht zu spät dazu sein, um jetzt noch in die Stadt zu schicken«, mischte sich unvermutet Jewgenij Pawlowitsch ein, der möglichst schnell von Aglaja loszukommen suchte. »Ich glaube, die Läden werden in Petersburg schon geschlossen sein, es ist ja bald neun Uhr«, sagte er, die Uhr herausziehend.

»Sind wir so lange ohne einen Puschkin ausgekommen, dann können wir auch noch bis morgen warten«, meinte Adelaida.

»Und für vornehme Leute ist es nicht einmal schicklich, sich für die Literatur besonders zu interessieren«, fügte Kolja hinzu. »Fragen Sie nur Jewgenij Pawlowitsch! Weit passender interessieren sich solche Leute für einen gelben mit roten Rädern.«

»Das haben Sie gewiß wieder aus einem Buch, Kolja!« bemerkte Adelaida.

»Alles, was er sagt, hat er aus Büchern«, stimmte Jewgenij Pawlowitsch bei. »Er reproduziert ganze Sätze aus den kritischen Revuen. Ich habe schon lange das Vergnügen, Nikolai Ardalionowitschs Redeweise zu kennen, aber diesmal hat er nun doch nicht aus einem Buche zitiert. Nikolai Ardalionowitsch macht eine deutliche Anspielung auf meinen gelben char à banc mit roten Rädern. Nur habe ich diesen Wagen bereits vertauscht, so daß Sie mit Ihrer Bemerkung zu spät kommen.«

Der Fürst hörte das, was Radomskij sagte, mit an. Er hatte den Eindruck, daß dessen Benehmen recht nett, bescheiden und heiter sei; ganz besonders gefiel es ihm, daß er mit Kolja, der ihn fortwährend neckte, auf völlig gleichem Fuß verkehrte und mit ihm durchaus freundschaftlich sprach.

»Was ist das?« Mit dieser Frage wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Wera, die Tochter Lebedews, die mit einigen Büchern in den Händen vor ihr stand. Die Bücher hatten ein großes Format, waren vorzüglich gebunden und fast neu.

»Puschkin«, antwortete Wera. »Unser Puschkin. Papa hat mir befohlen, ihn Ihnen zu bringen.«

»Wie ist das gemeint? Wie ist das möglich?« fragte Lisaweta Prokofjewna erstaunt.

»Nicht als Geschenk, nicht als Geschenk! Das würde ich nicht wagen!« kam Lebedew hinter der Schulter seiner Tochter hervorgesprungen. »Ich überlasse Ihnen die Bücher zum Selbstkostenpreis. Dies ist unser Familien-Puschkin, die Annenkowsche Ausgabe, die jetzt nirgends mehr aufzutreiben ist, – zum Selbstkostenpreis. Ich bringe ihn Ihnen mit Ehrerbietung dar, in dem Wunsch, ihn Ihnen zu verkaufen und dadurch die edle Ungeduld des höchst edlen literarischen Interesses Euer Exzellenz zu befriedigen.«

»Ah, du willst ihn verkaufen! Nun, dann danke ich schön. Du sollst nicht um dein Geld kommen, hab keine Bange; schneide nur keine Gesichter, Väterchen, sei so gut! Ich habe von dir gehört, du sollst ja ein sehr belesener Mann sein; wir plaudern schon noch einmal miteinander. Wie ist’s? Willst du die Bücher selbst zu mir bringen?«

»Mit Ehrerbietung und… größtem Respekt!« versetzte Lebedew höchst zufrieden unter starkem Gesichterschneiden und nahm seiner Tochter die Bücher ab.

»Na, verliere sie nur nicht, wenn du sie hinbringst; Ehrerbietung ist dabei nicht vonnöten. Aber ich sage dir vorher«, fügte sie, ihn fest anblickend, hinzu, »über die Schwelle lasse ich dich nicht; dich heute zu empfangen, das liegt nicht in meiner Absicht. Deine Tochter Wera kannst du mir aber gleich hinschicken, die hat mir sehr gefallen.«

»Warum sagen Sie denn nichts von jenen Leuten?« wandte sich Wera ungeduldig an ihren Vater. »Sonst werden sie noch unaufgefordert hereinkommen, sie haben schon angefangen, Lärm zu machen. Lew Nikolajewitsch«, wandte sie sich an den Fürsten, der bereits nach seinem Hut gegriffen hatte, »da sind schon vor längerer Zeit vier Menschen gekommen, die zu Ihnen wollen. Sie warten in unserer Wohnung und schimpfen, aber Papa will sie nicht zu Ihnen hereinlassen.«

»Was sind das für Besucher?« fragte der Fürst.

»Sie sagen, sie kämen in einer geschäftlichen Angelegenheit«, erwiderte Wera. »Aber es sind Menschen von solcher Art, daß sie, wenn sie jetzt nicht vorgelassen werden, sich nicht scheuen werden, Sie einmal auf der Straße anzuhalten. Es wird das beste sein, wenn Sie sie vorlassen, Lew Nikolajewitsch, und sie dann ein für allemal abschütteln. Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyn reden dort auf sie ein, aber sie hören nicht darauf.«

»Es ist Pawlischtschews Sohn, es ist Pawlischtschews Sohn! Er ist es nicht wert, er ist es nicht wert!« rief Lebedew mit lebhaftem Armschwenken. »Die Leute sind nicht wert, daß man sie anhört, und es schickt sich gar nicht, daß Sie, durchlauchtigster Fürst, sich ihretwegen stören lassen. So ist es. Die Menschen verdienen es nicht…«

»Pawlischtschews Sohn! Mein Gott!« rief der Fürst in größter Verlegenheit. »Ich weiß… aber ich hatte ja… ich hatte ja Gawrila Ardalionowitsch mit der Erledigung dieser Sache beauftragt. Eben hat mir noch Gawrila Ardalionowitsch gesagt…«

Aber Gawrila Ardalionowitsch kam bereits aus den Zimmern auf die Veranda heraus; ihm folgte Ptizyn. In dem nächsten Zimmer hörte man Lärm und die laute Stimme des Generals Iwolgin, der, wie es schien, einige andere Stimmen zu überschreien suchte. Kolja lief sogleich dahin, wo der Lärm war.

»Das ist sehr interessant«, bemerkte Jewgenij Pawlowitsch laut.

›Also ist er orientiert!‹ dachte der Fürst.

»Was für ein Sohn Pawlischtschews? Und… was kann das für ein Sohn Pawlischtschews sein?« fragte der General Iwan Fjodorowitsch erstaunt, der neugierig seinen Blick über alle Gesichter schweifen ließ und mit Verwunderung bemerkte, daß diese neue Geschichte nur ihm allein unbekannt war.

In der Tat, die Aufregung und Spannung war allgemein. Der Fürst war höchst verwundert, daß diese seine rein persönliche Angelegenheit bereits das Interesse aller Anwesenden in so hohem Grad erregt hatte.

»Es wird sehr gut sein, wenn Sie diese Angelegenheit sogleich und persönlich erledigen«, sagte Aglaja, die mit besonders ernster Miene zum Fürsten hintrat. »Und uns allen wollen Sie bitte erlauben, Ihre Zeugen zu sein. Man will Sie mit Schmutz bewerfen, Fürst, sie müssen sich feierlich rechtfertigen, und ich freue mich schon im voraus herzlich für Sie.«

»Auch ich würde wünschen, daß diese garstige Prätention endlich einmal zu Ende käme!« rief die Generalin. »Gib es ihnen ordentlich, Fürst, schone sie nicht! Ich habe schon soviel von dieser Affäre hören müssen, und es ist mir oft genug die Galle übergelaufen. Aber es wird interessant sein, diese Menschen einmal anzusehen. Rufe sie herein, und wir wollen uns wieder hinsetzen. Aglajas Rat war gut. Haben Sie von dieser Angelegenheit etwas gehört, Fürst?« wandte sie sich an Fürst Schtsch.

»Gewiß, ich habe davon gehört, und zwar bei Ihnen. Aber es reizt mich ganz besonders, mir diese jungen Leute anzusehen«, erwiderte Fürst Schtsch.

»Es sind wohl Nihilisten, nicht wahr?«

»Nein, Nihilisten sind sie eigentlich nicht«, sagte Lebedew vortretend; auch er zitterte vor Aufregung, »es ist eine andere, besondere Sorte. Mein Neffe hat mir gesagt, sie gingen weiter als die Nihilisten. Wenn Euer Exzellenz etwa meinen, diese Leute durch Ihre Gegenwart verlegen zu machen, so würde das ein Irrtum sein; die werden nicht verlegen. Die Nihilisten sind doch manchmal kenntnisreiche Leute, sogar gelehrte Leute; aber diese hier gehen weiter, weil sie vor allem materielle Interessen im Auge haben. Es ist das eigentlich eine Folgeerscheinung des Nihilismus, wenn auch keine unmittelbare, sondern nur eine indirekte: sie kennen den Nihilismus nur vom Hörensagen. Diese Leute sprechen sich nicht in einem Zeitungsartikel aus, sondern schreiten sofort zur Tat; es ist zum Beispiel nicht davon die Rede, ob Puschkin sinnlos ist oder ob Rußland in seine Teile zerfallen muß; nein, diese Menschen betrachten es jetzt geradezu als ihr Recht, wenn sie nach etwas Verlangen tragen, vor keinem Hindernis haltzumachen, und wenn sie acht Personen dabei abmurksen müßten. Aber ich würde Ihnen doch nicht raten, Fürst…«

Aber der Fürst ging schon zur Tür, um sie den Besuchern zu öffnen.

»Sie verleumden die Leute, Lebedew«, sagte er lächelnd, »Sie haben sich zu sehr über Ihren Neffen geärgert. Glauben Sie ihm nicht, Lisaweta Prokofjewna! Ich versichere Ihnen: Leute wie Gorskij und Danilow sind nur seltene Ausnahmen; diese Leute hier sind nur… in einem Irrtum befangen. Aber es wäre mir nicht lieb, wenn die Sache hier in Gegenwart aller verhandelt würde. Verzeihen Sie also, Lisaweta Prokofjewna; sie werden hereinkommen, ich werde sie Ihnen zeigen und dann wegführen. Treten Sie näher, meine Herren!«

Was ihn beunruhigte, war mehr ein anderer, ihm peinlicher Gedanke. In seinem Kopf war die Frage aufgetaucht: war nicht vielleicht diese ganze Sache von jemandem künstlich im voraus arrangiert, gerade zu dieser Zeit und Stunde, wo diese Zeugen zugegen waren, und zwar vielleicht arrangiert in der Erwartung, daß sie nicht mit seinem Triumph, sondern mit seiner Beschämung enden werde? Aber er war ganz betrübt über diesen »ungeheuerlichen, schändlichen Argwohn«. Er müßte ja, meinte er, vor Scham in die Erde sinken, wenn jemand erführe, daß er so etwas denke, und in dem Augenblick, als die neuen Besucher eintraten, war er aufrichtig bereit, zu glauben, daß er sittlich auf einem weit niedrigeren Standpunkte stehe als irgendeiner der übrigen Anwesenden.

Es traten fünf Personen ein; vier davon waren die neuen Gäste, und als fünfter folgte ihnen General Iwolgin, ganz ereifert, in Aufregung und in einem starken Anfall von Redelust. ›Der wenigstens ist auf meiner Seite!‹ dachte der Fürst lächelnd. Kolja schlüpfte mit den andern zusammen herein. Er sprach eifrig mit Ippolit, der zu den Ankömmlingen gehörte; Ippolit hörte ihn an und lächelte.

Der Fürst bat die Besucher, Platz zu nehmen. Es waren fast alle noch so jugendliche und sogar minderjährige Leute, daß man sich über den ganzen Vorfall und die dadurch hervorgerufene Aufregung wundern konnte. Namentlich war Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, der von dieser »neuen Affäre« nichts wußte und nichts verstand, geradezu empört, als er diese junge Gesellschaft erblickte, und hätte sicherlich irgendwie Einspruch erhoben, wenn ihn nicht der ihm merkwürdig erscheinende Umstand davon zurückgehalten hätte, daß seine Gattin an den Privatangelegenheiten des Fürsten so warmen Anteil nahm. Er blieb übrigens teils aus Neugier, teils aus Gutherzigkeit, sogar in der Hoffnung, helfen und jedenfalls durch seine Autorität von Nutzen sein zu können; aber die Verbeugung, die ihm der eintretende General Iwolgin machte, verstimmte ihn von neuem; er runzelte die Stirn und nahm sich vor, hartnäckig zu schweigen.

Unter den vier Besuchern war übrigens einer der dreißigjährige »Leutnant a. D., der Boxer aus der Rogoshinschen Rotte, der früher selbst jedem Bittsteller fünfzehn Rubel gegeben hatte«. Es lag die Vermutung nahe, daß er die übrigen in der Eigenschaft eines aufrichtigen Freundes begleitete, um ihnen Mut zu machen und nötigenfalls zu unterstützen. Unter den übrigen nahm jener die erste Stelle ein und spielte ganz die erste Rolle, der als »Pawlischtschews Sohn« bezeichnet wurde, obwohl er sich mit dem Namen Antip Burdowskij vorstellte. Es war dies ein junger Mann, ärmlich und schlampig gekleidet, in einem Oberrock, dessen Ärmel so fettig waren, daß sie spiegelten, mit einer unsauberen, bis oben zugeknöpften Weste, ohne alle sichtbare Wäsche, mit einem schwarzseidenen, unglaublich speckigen, zu einem Strick zusammengedrehten Halstuch, ungewaschenen Händen, einem Gesicht, das ganz mit Pickeln besät war, blondem Haar und, wenn man sich so ausdrücken kann, unschuldig-frechem Blick. Er war von kleiner Statur, mager und ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt. Auf seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Ironie oder überhaupt von Denktätigkeit ausgeprägt, sondern nur eine vollständige stumpfe Berauschtheit von dem Bewußtsein, sich im Recht zu befinden, und gleichzeitig ein sonderbarerweise zum steten Bedürfnis gewordenes Gefühl, als sei er beleidigt worden. Er sprach in erregtem Ton, heftig und stockend, einzelne Worte nicht ganz zu Ende bringend, als wäre er ein Stotterer oder gar ein Ausländer, obgleich er übrigens rein russischer Abkunft war.

Es begleiteten ihn erstens der den Lesern bereits bekannte Neffe Lebedews und zweitens Ippolit. Ippolit war ein sehr junger Mensch, etwa siebzehn, vielleicht auch achtzehn Jahre alt, mit einem klugen Gesicht, das aber beständig den Ausdruck der Gereiztheit trug und die schrecklichen Spuren seiner Krankheit zeigte. Er war mager wie ein Skelett, mit blaßgelber Haut; seine Augen funkelten, und auf seinen Backen brannten zwei rote Flecken. Er hustete beständig; jedes Wort, fast jeder Atemzug war von einem Röcheln begleitet. Er befand sich offenbar im höchsten Stadium der Schwindsucht. Es schien, daß er nur noch zwei bis drei Wochen zu leben habe. Er war sehr müde und ließ sich früher als alle andern auf einem Stuhl nieder. Die übrigen genierten sich beim Eintritt ein wenig und waren sogar verlegen; sie blickten jedoch wichtigtuerisch drein und fürchteten offenbar, sich etwas von ihrer Würde zu vergeben. Das stand in seltsamem Widerstreit zu ihrem Ruf als Gegner aller nutzlosen gesellschaftlichen Konventionen, Vorurteile und überhaupt fast aller Dinge auf der Welt mit Ausnahme ihrer eigenen Interessen.

»Antip Burdowskij«, sagte der »Sohn Pawlischtschews« hastig und stockend.

»Wladimir Doktorenko«, stellte sich mit klarer, deutlicher Aussprache Lebedews Neffe vor; es klang, als brüste er sich mit seinem Namen.

»Keller«, murmelte der Leutnant a. D.

»Ippolit Terentjew«, sagte der letzte mit einer Stimme, deren kreischender Ton etwas Überraschendes hatte. Alle hatten endlich in einer Reihe auf Stühlen dem Fürsten gegenüber Platz genommen, zeigten, nachdem sie sich vorgestellt hatten, sofort finstere Gesichter und schoben, um sich Mut zu machen, ihre Mützen von einer Hand in die andere; alle bereiteten sich darauf vor, zu reden, schwiegen aber trotzdem sämtlich; sie schienen auf etwas mit herausfordernder Miene zu warten, in der gleichsam zu lesen war: ›Nein, Bruder, da irrst du dich; du wirst mich nicht übers Ohr hauen!‹ Man hatte das Gefühl, daß jemand zu Anfang nur das erste Wort, nur ein einziges Wort zu sagen brauche, dann würden sie sofort alle zusammen, sich gegenseitig unterbrechend und einander zuvorkommend, zu reden beginnen.

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Kapitel 24

VIII

»Meine Herren, ich habe niemand von Ihnen erwartet«, begann der Fürst, »ich selbst bin bis heute krank gewesen; Ihre Angelegenheit aber« (er wandte sich an Antip Burdowskij) »hatte ich schon vor einem Monat Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin zur Erledigung übergeben, wovon ich Sie gleich damals benachrichtigt habe. Übrigens will ich einer persönlichen Aussprache nicht ausweichen; nur werden Sie selbst zugeben, daß es dazu schon etwas spät am Tage ist… Ich möchte Ihnen vorschlagen, mit mir in ein Zimmer zu gehen, wenn es nicht zu lange dauert… Hier sind jetzt meine Freunde, und seien Sie überzeugt…«

»Freunde… können dabeisein, soviel Sie wollen; aber erlauben Sie«, unterbrach ihn plötzlich in sehr anmaßendem Ton, freilich ohne noch die Stimme besonders zu erheben, Lebedews Neffe, »erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie uns hätten höflicher behandeln können und uns nicht zwei Stunden lang in Ihrer Gesindestube hätten warten zu lassen brauchen…«

»Gewiß… auch ich… Das ist so recht fürstenmäßig! Sie freilich… spielen sich als General auf, aber ich bin nicht Ihr Lakai! Und ich… ich…«, murmelte Antip Burdowskij in großer Aufregung, mit bebenden Lippen; Speicheltröpfchen flogen ihm aus dem Munde; es war, als wenn er jeden Augenblick bersten und platzen wollte. Aber er überhastete sich so, daß nach einem Dutzend Worte nichts mehr zu verstehen war.

»Das war so recht fürstenmäßig!« schrie Ippolit mit seiner kreischenden, rissigen Stimme.

»Wenn mir das passiert wäre«, brummte der Boxer, »das heißt, wenn sich dieses Benehmen direkt gegen mich als anständigen Menschen richtete, dann hätte ich an Burdowskijs Stelle… ja, dann hätte ich…«

»Meine Herren, ich habe erst diesen Augenblick erfahren, daß Sie hier sind, bei Gott!« erwiderte der Fürst.

»Wir fürchten uns nicht vor Ihren Freunden, Fürst, wer es auch immer sein mag, weil wir in unserm Recht sind«, erklärte wieder Lebedews Neffe.

»Gestatten Sie indessen die Frage«, kreischte wieder Ippolit, der aber jetzt schon sehr hitzig geworden war, »welches Recht haben Sie, Burdowskijs Angelegenheit dem Urteil Ihrer Freunde zu unterbreiten? Wir wünschen vielleicht gar nicht, daß Ihre Freunde darüber urteilen; es ist nur zu klar, was das Urteil ihrer Freunde für einen Wert hat!…«

»Aber wenn Sie, Herr Burdowskij, hier nicht zu sprechen wünschen«, sagte der Fürst, als es ihm endlich gelang, zu Worte zu kommen – er war über diesen Anfang des Gespräches außerordentlich erstaunt –, »so lassen Sie uns, wie schon gesagt, gleich in ein Zimmer gehen. Davon aber, daß Sie alle hier sind, habe ich, wie ich Ihnen nochmals bemerke, erst in diesem Augenblick gehört…«

»Aber Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht!… Ihre Freunde… Da!…« stotterte Burdowskij von neuem. Er sah scheu und ängstlich um sich und ereiferte sich immer mehr, je mehr sein Selbstvertrauen sank und seine Furcht wuchs. »Sie haben kein Recht.« Nachdem er das gesagt hatte, brach er ganz plötzlich ab, als ob er nichts weiter wüßte, und stumm seine kurzsichtigen, stark hervorstehenden, mit dicken, roten Äderchen durchzogenen Augen aufreißend, starrte er, mit dem ganzen Oberkörper vornübergebeugt, den Fürsten an. Diesmal war der Fürst so verwundert, daß auch er verstummte und ihn gleichfalls mit weitgeöffneten Augen, ohne ein Wort zu sagen, ansah.

»Lew Nikolajewitsch!« rief auf einmal Lisaweta Prokofjewna. »Lies doch dies hier gleich einmal vor, augenblicklich! Das hat auf deine Angelegenheit unmittelbaren Bezug!«

Sie hielt ihm eilig eine humoristische Wochenschrift hin und wies mit dem Finger auf einen Artikel. Lebedew war in dem Augenblick, als die neuen Gäste noch im Hereinkommen begriffen waren, von der Seite zu Lisaweta Prokofjewna herangesprungen, um deren Gunst er sich sehr bemühte, hatte, ohne ein Wort zu sagen, aus der Seitentasche seines Rockes diese Zeitschrift herausgezogen, sie ihr gerade vor die Augen gehalten und auf eine angestrichene Spalte hingezeigt. Durch das, was Lisaweta Prokofjewna bereits davon gelesen hatte, war sie in gewaltige Verwunderung und Entrüstung versetzt worden.

»Wäre es aber nicht besser, es nicht laut zu lesen«, stammelte der Fürst sehr verlegen, »ich würde es lieber für mich allein lesen … später…«

»Dann lies du es lieber vor, sofort, laut! Laut!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Kolja und riß dem Fürsten die Zeitschrift, die er noch kaum berührt hatte, ungeduldig aus den Händen. »Lies es allen laut vor, damit es jeder hört!«

Lisaweta Prokofjewna war eine heißblütige, leidenschaftliche Dame, so daß sie manchmal plötzlich, ohne lange zu überlegen, alle Anker lichtete und, unbekümmert um das Wetter, aufs hohe Meer hinausfuhr. Iwan Fjodorowitsch bewegte sich unruhig hin und her. Aber während alle im ersten Augenblick unwillkürlich starr waren und verwundert warteten, was da kommen werde, hatte Kolja die Zeitschrift auseinandergeschlagen und begann nun, laut von der Stelle an zu lesen, die ihm der hinzuspringende Lebedew zeigte:

»Proletarier und Nachfahren. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit!

Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor, im Zeitalter der Reformen und unternehmungslustigen Aktiengesellschaften, im Zeitalter des Nationalgefühls und der jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, im Zeitalter der Förderung der Industrie und der Lähmung der Arbeiterhände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen, meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine sonderbare Geschichte zugetragen mit einem der Sprößlinge unseres ehemaligen Gutsherrnstandes (de profundis!), einem jener Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, deren Väter sich daher genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen, und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits bei den Staatsgeldern starben und deren Kinder dann wie der Held unserer Erzählung entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in Kriminaläffären hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich schon hinreichend schmählichen Verwandter seiner Mutter (die natürlich aus dem Kaufmannsstand stammte), ein alter, kinderloser, alleinstehender, langbärtiger Kaufmann und Sektierer, und hinterließ eine Erbschaft von mehreren Millionen, unanfechtbar, abgerundet, alles in bar, die (ja, das wäre etwas für mich und Sie, lieber Leser!) in ihrem ganzen Betrag unserem jungen Adelssprößling zufiel, der sich in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen! Na, nun klang die Musik natürlich anders. Um unseren Baron in Gamaschen, der schon angefangen hatte, einer bekannten, von einem andern ausgehaltenen Schönheit den Hof zu machen, sammelte sich auf einmal ein ganzer Schwarm von Freunden; es fanden sich auch Verwandte ein und vor allem ganze Scharen vornehmer Mädchen, die danach schmachteten, mit ihm in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Und was konnte man sich auch Besseres denken: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot, also alle Vorzüge vereint; einen solchen Mann kann man nicht einmal mit der Laterne finden oder auf Bestellung geliefert bekommen!…«

»Das… das übersteigt ja alles!« rief Iwan Fjodorowitsch in höchster Entrüstung.

»Hören Sie auf, Kolja!« rief der Fürst in flehendem Tone. Von allen Seiten erschollen verschiedene Ausrufe.

»Weiterlesen! Unter allen Umständen weiterlesen!« verlangte Lisaweta Prokofjewna auf das allerbestimmteste; sie beherrschte sich augenscheinlich nur mit größter Anstrengung. »Fürst, wenn du ihm das Weiterlesen verbietest, bekommst du es mit mir zu tun!«

Es war nichts zu machen: mit heißem Gesicht, geröteten Wangen und einer Stimme, die vor Aufregung zitterte, las Kolja weiter.

»Aber während unser neugebackener Millionär sozusagen im Schoße des Glückes saß, geschah etwas von einer Seite her, von der es niemand erwartet hatte. Eines schönen Morgens erscheint bei ihm ein Besucher, mit ruhigem, ernstem Gesicht, mit höflicher, aber würdiger und rechtschaffener Redeweise, bescheiden und anständig gekleidet, in seiner Denkart offenbar der fortschrittlichen Richtung angehörend, und erklärt ihm in wenigen Worten den Grund seines Kommens: er ist ein bekannter Advokat; er folgendes gesagt hat: ›Ich habe mein ganzes Leben lang von P. alle erdenklichen Wohltaten genossen, für meinen Unterhalt und meine Erziehung, für Gouvernanten und dann in der Schweiz für die Heilung von der Idiotie sind viele, viele Tausende draufgegangen, und da besitze ich nun Millionen, während P.s edeldenkender Sohn, der an den Fehltritten seines leichtsinnigen, vergeßlichen Vaters keinerlei Schuld trägt, sich mit Privatstunden zu Tode quält. Alles, was für mich aufgewandt ist, hätte gerechterweise für ihn aufgewandt werden müssen. Die für mich ausgegebenen gewaltigen Summen kamen mir in Wirklichkeit nicht zu. Es war nur ein Irrtum der blinden Fortuna; sie gehörten eigentlich dem Sohne P.s Für ihn hätten sie verbraucht werden sollen, nicht für mich – die Ausgeburt einer phantastischen Laune des leichtsinnigen, vergeßlichen P. Wenn ich im vollen Sinne ein edler, feinfühliger, gerechter Mensch wäre, so müßte ich seinem Sohn die Hälfte meiner ganzen Erbschaft abgeben; da ich aber vor allen Dingen ein berechnender Mensch bin und recht gut weiß, daß die Sache nicht einklagbar ist, werde ich ihm die Hälfte meiner Millionen nicht geben. Aber allerdings würde es von meiner Seite gar zu gemein und schamlos sein‘ (der Adelssprößling vergaß, daß es auch nicht vorteilhaft sein würde), ›wenn ich dem Sohn P.s jetzt nicht wenigstens die Tausende zurückerstattete, die P. für die Heilung meiner Idiotie ausgegeben hat. Das ist lediglich eine Forderung des Gewissens und der Gerechtigkeit! Denn was wäre aus mir geworden, wenn P. mich nicht aufgezogen, sondern statt dessen sich um seinen Sohn bekümmert hätte?‹

Aber nein, meine Herren! Unsere Adelssprößlinge denken nicht so. Was für Vorstellungen ihm auch der Advokat machte, der die mühevolle Vertretung der Sache des jungen Mannes einzig und allein aus Freundschaft zu diesem und fast wider dessen Willen, fast gewaltsam übernommen hatte, wie sehr er ihn auch auf die Pflichten der Ehre, des Anstands und der Gerechtigkeit, ja sogar auf die Gebote der gewöhnlichen Klugheit hinwies, der Schweizer Zögling blieb unerbittlich, und was tat er? Alles Bisherige wäre noch nichts, aber nun kommt etwas, was wirklich unverzeihlich und durch keine interessante Krankheit zu entschuldigen ist: dieser Millionär, der kaum die Gamaschen seines Professors ausgezogen hatte, konnte nicht einmal so viel kapieren, daß der edeldenkende junge Mann, der sich mit Privatstunden quälte, ihn nicht um ein Almosen und eine Unterstützung bat, sondern sein Recht forderte, das verlangte, was ihm zustand, wenn auch nicht im gerichtlichen Sinne, und ebensowenig wußte der Millionär es zu würdigen, daß der junge Mann seine Ansprüche nicht persönlich erhob, sondern nur seine Freunde für ihn eintraten. Mit majestätischer Miene, berauscht von der ihm durch seine Millionen zugefallenen Macht, andere Menschen ungestraft niederzutreten, zieht unser Adelssprößling einen Fünfzigrubelschein heraus und ist frech genug, ihn dem edeldenkenden jungen Mann als Almosen zu schicken. Sie glauben es nicht, meine Herren? Sie sind empört, beleidigt und stoßen einen Schrei der Entrüstung aus: aber er hat es getan, trotz alledem! Selbstverständlich wurde ihm das Geld sogleich zurückgeschickt, sozusagen ihm ins Gesicht zurückgeschleudert. Wie soll nun die Sache geregelt werden? Gerichtlich verfolgen läßt sie sich nicht, es bleibt nur der Weg der Öffentlichkeit! Wir übergeben daher dieses Geschichtchen dem Publikum, indem wir uns für seine Richtigkeit verbürgen. Man sagt, einer unserer bekanntesten Humoristen habe darüber ein reizendes Epigramm verfaßt, das nicht nur in den provinziellen, sondern auch in den hauptstädtischen Sittenschilderungen eine Stelle zu finden verdiene:

In ’nem Mäntelchen von
Spielte fünf Jahr herum;
Unterdessen wurde leider
Nichts aus seinem Studium.
Heimgekehrt drauf in Gamaschen,
Erbt‘ er glücklich ’ne Million
Und bestahl trotz voller Taschen
Einen armen Musensohn.

Als Kolja geendet hatte, reichte er die Zeitschrift eiligst dem Fürsten hin, stürzte, ohne ein Wort zu sagen, in eine Ecke, verkroch sich ganz tief hinein und verbarg das Gesicht in den Händen. Er schämte sich unsäglich, und sein kindliches, an Schmutz noch nicht gewöhntes Empfinden war maßlos verletzt. Es schien ihm, als sei etwas ganz Ungewöhnliches vorgegangen, als sei alles Bestehende dadurch auf einmal niedergerissen und als sei er selbst beinah mit daran schuld, schon allein dadurch, daß er es laut vorgelesen hatte.

Aber auch alle übrigen schienen ähnliches zu empfinden.

Die jungen Mädchen fühlten sich sehr unbehaglich und schämten sich. Lisaweta Prokofjewna hielt ihren heftigen Zorn gewaltsam zurück und bereute es wohl bitter, sich in die Sache eingelassen zu haben; jetzt schwieg sie. Mit dem Fürsten ging das vor, was allzu schüchternen Menschen in solchen Fällen zu begegnen pflegt: er schämte sich dermaßen über das Benehmen anderer, nämlich seiner Gäste, daß er sich im ersten Augenblick fürchtete, sie auch nur anzusehen. Ptizyn, Warja, Ganja, sogar Lebedew, alle machten etwas verlegene Gesichter. Das sonderbarste war, daß Ippolit und »Pawlischtschews Sohn« ebenfalls erstaunt zu sein schienen; auch Lebedews Neffe war offenbar unzufrieden. Nur der Boxer saß ganz ruhig da und drehte mit würdevoller Miene seinen Schnurrbart; die Augen hielt er niedergeschlagen, aber nicht aus Verlegenheit; im Gegenteil, es schien, als tue er es aus edler Bescheidenheit und um sein Triumphgefühl nicht allzu sichtbar werden zu lassen. An allem konnte man merken, daß der Artikel ihm sehr gut gefiel.

»Weiß der Teufel, was das bedeuten soll«, brummte Iwan Fjodorowitsch halblaut. »Das ist ja, als hätten fünfzig Lakaien sich zusammengetan und das abgefaßt.«

»Gestatten Sie die Frage, mein Herr, wie Sie es wagen können, uns durch solche Vermutungen zu beleidigen?« fragte Ippolit, am ganzen Leibe zitternd.

»Das, das, das ist für einen anständigen Menschen… sagen Sie selbst, General, wenn ein anständiger Mensch… so ist das doch verletzend!« brummte der Boxer, der gleichfalls auf einmal zusammenfuhr, seinen Schnurrbart drehte und mit den Schultern und dem ganzen Oberkörper zuckte.

»Erstens bin ich für Sie nicht ›mein Herr‹, und zweitens beabsichtige ich Ihnen keinerlei Erklärungen zu geben«, erwiderte der höchst ergrimmte Iwan Fjodorowitsch in scharfem Ton, stand auf, ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zum Ausgang der Veranda und stellte sich dort auf die oberste Stufe hin, den Anwesenden den Rücken zuwendend. Er war höchst empört über Lisaweta Prokofjewna, die auch jetzt noch nicht daran dachte, sich vom Fleck zu rühren.

»Meine Herren, meine Herren, gestatten Sie mir doch endlich, etwas zu sagen, meine Herren!« rief der Fürst bekümmert und aufgeregt, »und tun Sie mir den Gefallen, lassen Sie uns so miteinander reden, daß wir uns gegenseitig verstehen! Auf den Artikel will ich nicht weiter eingehen, meine Herren, nur ist ja alles, was in dem Artikel gedruckt ist, unwahr, meine Herren! Ich darf Ihnen das sagen, weil Sie es selbst wissen; man muß sich geradezu schämen. Ich würde daher sehr verwundert sein, wenn einer von Ihnen das geschrieben haben sollte.«

»Ich habe von dem Artikel bis auf diesen Augenblick nichts gewußt«, erklärte Ippolit. »Ich billige ihn nicht.«

»Ich habe zwar gewußt, daß er geschrieben war, aber … ich hätte ebenfalls nicht dazu geraten, ihn zu drucken, weil es noch zu früh ist«, fügte Lebedews Neffe hinzu.

»Ich habe es gewußt, aber ich habe ein Recht… ich…«, murmelte »Pawlischtschews Sohn«.

»Wie! Sie selbst haben das alles verfaßt?« fragte der Fürst, indem er Burdowskij gespannt anblickte. »Aber das ist doch ganz unmöglich!«

»Man kann Ihnen das Recht zu solchen Fragen absprechen«, mischte sich Lebedews Neffe hinein.

»Ich habe mich ja nur gewundert, daß Herr Burdowskij das fertiggebracht hat… aber… ich möchte doch eines bemerken: wenn Sie diese Sache schon der Öffentlichkeit übergeben haben, warum fühlten Sie sich denn dann vorhin so beleidigt, als ich in Gegenwart meiner Freunde von eben dieser Sache zu reden anfing?«

»Endlich!« murmelte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich.

»Und Sie haben sogar noch vergessen, Fürst«, bemerkte, plötzlich zwischen den Stühlen hervorschlüpfend, Lebedew, der sich nicht länger beherrschen konnte und beinah fieberte, »Sie haben noch vergessen, daß nur Ihr guter Wille und Ihre beispiellose Herzensgüte Sie veranlaßt haben, diese Herren da zu empfangen und anzuhören, und daß sie keinerlei Recht haben, solche Forderungen zu stellen, um so weniger, als Sie jene Angelegenheit schon an Gawrila Ardalionowitsch zur Erledigung abgegeben haben, ebenfalls infolge Ihrer außerordentlichen Güte. Jetzt aber, durchlauchtigster Fürst, wo Sie sich inmitten Ihrer auserlesenen Freunde befinden, dürfen Sie auf diese Gesellschaft nicht um dieser Herren willen verzichten; Sie könnten allen diesen Herren ohne weiteres die Tür weisen, worüber ich als Besitzer dieses Hauses mich sogar außerordentlich freuen würde…«

»Vollkommen richtig!« erscholl auf einmal aus dem Hintergrund General Iwolgins dröhnende Stimme.

»Genug, Lebedew, genug, genug…«, begann der Fürst, aber ein ganzer Sturm unwilliger Ausrufe übertönte seine Worte.

»Nein, entschuldigen Sie, Fürst, entschuldigen Sie, jetzt darf es nicht damit genug sein!« überschrie Lebedews Neffe alle übrigen. »Jetzt muß die Sache klar und bestimmt festgestellt werden, da sie offenbar nicht richtig verstanden wird. Es sind hier juristische Finten hineingebracht worden, und auf Grund dieser Finten droht man, uns zur Tür hinauszuwerfen! Meinen Sie denn wirklich, Fürst, daß wir so dumm wären, nicht selbst zu verstehen, daß unsere Sache sich nicht gerichtlich verfolgen läßt, und daß wir vom juristischen Standpunkt aus nicht berechtigt sind, auch nur einen Rubel von Ihnen zu verlangen? Aber wir sagen uns, daß, wenn hier auch kein juristisches Recht vorliegt, dafür doch ein menschliches, natürliches Recht vorhanden ist, ein Recht des gesunden Menschenverstandes und der Stimme des Gewissens, und daß, wenn auch dieses unser Recht in keinem vermoderten menschlichen Kodex geschrieben steht, doch ein anständiger, ehrenhafter Mensch, was ganz dasselbe ist wie ein vernünftig denkender Mensch, verpflichtet ist, auch in denjenigen Fällen anständig und ehrenhaft zu bleiben, die im Kodex nicht verzeichnet stehen. Darum sind wir hierhergekommen, ohne zu fürchten, daß man (womit Sie soeben gedroht haben) uns aus der Tür werfen werde, weil wir nicht bitten, sondern fordern und weil unser Besuch zu so wagen! Sie können das tun, Sie haben die Macht dazu. Aber vergessen Sie nicht, daß wir trotzdem fordern und nicht bitten! Wir fordern, wir bitten nicht.«

Lebedews Neffe, der sehr hitzig geworden war, hielt inne.

»Wir fordern, wir fordern, wir fordern, wir bitten nicht!…«, stammelte Burdowskij und wurde rot wie ein Krebs.

Den Worten von Lebedews Neffen folgte eine gewisse allgemeine Bewegung, und es wurde sogar ein Gemurr hörbar, obwohl alle Mitglieder der Gesellschaft es offenbar vermieden, sich in die Sache einzumischen, ausgenommen vielleicht nur Lebedew, der sich wie im Fieber befand. (Es war merkwürdig: Lebedew, der doch augenscheinlich auf seiten des Fürsten stand, empfand jetzt nach der Rede seines Neffen doch eine Art befriedigten Familienstolzes; wenigstens ließ er mit einer Miene besonderer Genugtuung seinen Blick rings über die Anwesenden schweifen.)

»Meiner Ansicht nach«, begann der Fürst mit ziemlich leiser Stimme, »meiner Ansicht nach haben Sie, Herr Doktorenko, in allem, was Sie soeben gesagt haben, zur Hälfte vollkommen recht; ich will sogar zugeben, daß es die bei weitem größere Hälfte ist, und ich würde mit Ihnen vollkommen einverstanden sein, wenn Sie nicht in Ihrer Äußerung etwas weggelassen hätten. Was Sie da eigentlich weggelassen haben, das Ihnen genau anzugeben, bin ich nicht in der Lage; aber es fehlt natürlich etwas, damit Ihre Worte in vollem Umfang als gerecht gelten könnten. Aber wenden wir uns lieber zur Sache, meine Herren; sagen Sie doch: warum haben Sie diesen Artikel drucken lassen? Jedes Wort darin ist ja eine Verleumdung, so daß Sie, meine Herren, meiner Ansicht nach eine Gemeinheit begangen haben.«

»Erlauben Sie!…«

»Mein Herr!…«

»Das… das… das…«, tönte es gleichzeitig aus dem Munde der erregten Besucher.

»Was den Artikel anlangt«, erwiderte Ippolit mit seiner kreischenden Stimme, »was diesen Artikel anlangt, so habe ich Ihnen bereits gesagt, daß ich und die andern ihn nicht billigen! Geschrieben hat ihn der hier.« (Er wies auf den neben ihm sitzenden Boxer.) »Ich gebe zu, daß der Artikel in unschicklicher Form, mit mangelhafter Beherrschung der Sprache und in einem Stil geschrieben ist, wie ihn eben ehemalige Militärs von seiner Art gebrauchen. Er ist ein dummer Mensch und geht obendrein immer auf Gelderwerb aus, das gebe ich zu, das sage ich ihm alle Tage gerade ins Gesicht; aber trotzdem war er zur Hälfte im Recht: die Öffentlichkeit ist das gesetzliche Recht eines jeden, folglich auch Burdowskijs. Seine Abgeschmacktheiten aber mag er selbst verantworten. Was aber das anbetrifft, daß ich vorhin in unser aller Namen gegen die Anwesenheit Ihrer Freunde Protest einlegte, so erachte ich es für nötig, Ihnen, meine Herrschaften, zu bemerken, daß dieser Protest lediglich bezweckte, unser Recht zu wahren, daß uns aber im Grunde die Anwesenheit von Zeugen sogar erwünscht ist und daß wir vorhin, noch ehe wir hereinkamen, alle vier darin einer Meinung waren. Mögen diese Zeugen sein, wer sie wollen, sogar ihre Freunde; aber da sie nicht umhinkönnen werden, Burdowskijs Recht anzuerkennen (denn es ist so sicher wie ein mathematischer Lehrsatz), so ist es sogar am besten, wenn diese Zeugen Ihre Freunde sind; um so deutlicher wird die Wahrheit ans Licht treten.«

»Das ist richtig, wir sind damit einverstanden gewesen«, bestätigte Lebedews Neffe.

»Warum machten Sie denn dann vorhin gleich bei den ersten Worten ein solches Geschrei und einen solchen Lärm, wenn Ihnen das selbst erwünscht war?« fragte der Fürst erstaunt.

»Was diesen Artikel betrifft, Fürst«, griff nun der Boxer in die Debatte ein, der den dringenden Wunsch hatte, zu Wort zu kommen, und sich in einer angenehmen Erregung befand (man konnte vermuten, daß die Anwesenheit der Damen stark auf ihn wirkte), »was diesen Artikel betrifft, so bekenne ich, daß ich tatsächlich der Verfasser bin, obwohl mein kränklicher Freund, dem ich in Anbetracht seines Schwächezustandes vieles zugute zu halten pflege, ihn soeben scharf kritisiert hat. Aber ich habe ihn verfaßt und ihn in dem Journal eines guten Freundes in Form einer Zuschrift drucken lassen. Nur die Verse sind nicht von mir, sondern stammen tatsächlich aus der Feder eines bekannten Humoristen. Meinem Freund Burdowskij habe ich den Artikel nur vorgelesen, und zwar nicht vollständig, und habe sogleich von ihm seine Einwilligung zum Druck erhalten; indes werden Sie selbst zugeben müssen, daß ich ihn auch ohne seine Einwilligung hätte drucken lassen können. Die Öffentlichkeit ist ein allgemeines, edles, wohltätiges Recht. Ich hoffe, daß Sie selbst, Fürst, fortschrittlich genug denken, um dies nicht in Abrede zu stellen…«

»Ich werde das nicht in Abrede stellen, aber Sie müssen selbst sagen, daß in Ihrem Artikel…«

»Sie wollen sagen: er ist etwas scharf gehalten? Aber es handelt sich hier, wie Sie werden zugeben müssen, sozusagen um das Gemeinwohl, und kann man denn schließlich eine so ausgezeichnete Gelegenheit ungenutzt lassen? Schlimm für die Schuldigen, aber das Gemeinwohl geht über alles. Was einige Ungenauigkeiten, sozusagen Hyperbeln anlangt, so werden Sie auch hier zugeben müssen, daß das wichtigste der leitende Gedanke ist, der Zweck und die Absicht. Wichtig ist, daß ein Einzelfall als wohltätig wirkendes Beispiel benutzt wird; um Privatinteressen können wir uns erst in zweiter Linie kümmern. Und schließlich handelt es sich hier um den Stil; es ist dies sozusagen eine humoristische Aufgabe. Und schließlich… schreiben doch alle so, wie Sie selbst werden zugeben müssen! Haha!«

»Aber ich muß sagen: Sie haben da doch einen ganz wahrheitswidrigen Weg eingeschlagen, meine Herren!« rief der Fürst. »Sie haben den Artikel in der Voraussetzung drucken lassen, ich würde mich um keinen Preis dazu bereit finden, Herrn Burdowskij zufriedenzustellen, und Sie müßten mir darum einen Schreck einjagen und an mir Ihr Mütchen kühlen. Aber woher wußten Sie denn das? Ich habe mich vielleicht dafür entschieden, Herrn Burdowskij zufriedenzustellen. Ich sage Ihnen jetzt geradeheraus und vor all diesen Zeugen, daß ich ihn zufriedenstellen werde…«

»Nun, das ist endlich ein verständiges, edles Wort eines verständigen, edlen Menschen!« erklärte der Boxer.

»O Gott!« rief Lisaweta Prokofjewna unwillkürlich.

»Das ist nicht mehr zu ertragen«, murmelte der General.

»Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie, ich werde Ihnen die Sache auseinandersetzen«, bat der Fürst. »Vor fünf Wochen erschien bei mir in S. ein Herr Tschebarow, Ihr Bevollmächtigter und Vertreter, Herr Burdowskij. Sie haben in Ihrem Artikel eine sehr schmeichelhafte Schilderung von ihm gegeben, Herr Keller«, wandte sich der Fürst, auf einmal auflachend, an den Boxer, »aber mir gefiel er ganz und gar nicht. Mir war gleich bei der ersten Begegnung klar, daß dieser Tschebarow die Haupttriebfeder bei der ganzen Angelegenheit und wohl derjenige ist, der Sie, Herr Burdowskij, unter Ausnutzung Ihrer Naivität zu diesem ganzen Vorgehen angestiftet hat, wenn ich offen reden soll.«

»Sie haben kein Recht… ich… bin nicht naiv… das…«, stotterte Burdowskij aufgeregt.

»Sie haben keinerlei Berechtigung, solche Vermutungen auszusprechen«, fügte, für ihn eintretend, Lebedews Neffe hinzu.

»Das ist im höchsten Grade beleidigend!« kreischte Ippolit. »Eine beleidigende, lügenhafte Vermutung, die gar nicht zur Sache gehört.«

»Verzeihung, meine Herren, Verzeihung!« entschuldigte sich der Fürst eilig. »Bitte, verzeihen Sie! Ich habe es nur deswegen gesagt, weil ich meinte, es würde wohl das beste sein, wenn wir gegeneinander völlig aufrichtig wären; aber wie Sie wollen, ganz wie Sie wollen! Ich sagte zu Herrn Tschebarow, da ich nicht in Petersburg sei, so würde ich unverzüglich einem Freund zur Erledigung der Angelegenheit Vollmacht erteilen und Sie, Herr Burdowskij, davon benachrichtigen. Ich sage Ihnen geradeheraus, meine Herren, daß mir diese Sache als eine arge Gaunerei erschien, eben deshalb, weil dieser Tschebarow dabei beteiligt war… Oh, fühlen Sie sich nicht beleidigt, meine Herren! Um Gottes willen, fühlen Sie sich nicht beleidigt!« rief der Fürst erschrocken, da er sah, daß Burdowskij wieder eine gekränkte, empörte Miene machte und seine Freunde sich anschickten, aufgeregt zu protestieren. »Es kann sich doch nicht auf Sie persönlich beziehen, wenn ich sage, daß ich die Sache für eine Gaunerei hielt! Ich kannte ja damals niemand von Ihnen persönlich, nicht einmal Ihre Namen, ich urteilte nur nach dem Eindruck, den mir Tschebarow machte; ich sage das überhaupt, weil… wenn Sie wüßten, wie schrecklich ich betrogen worden bin, seitdem ich die Erbschaft gemacht habe!«

»Fürst, Sie sind furchtbar naiv«, bemerkte Lebedews Neffe spöttisch.

»Und dabei ein Fürst und ein Millionär! Trotz Ihres vielleicht wirklich guten, schlichten Herzens können Sie dem allgemeinen Gesetz natürlich doch nicht entgehen«, äußerte Ippolit.

»Möglich, sehr möglich, meine Herren«, erwiderte der Fürst rasch, »obwohl ich nicht verstehe, von welchem allgemeinen Gesetz Sie reden. Aber ich fahre fort; fühlen Sie sich nur nicht so ganz ohne Grund beleidigt; ich schwöre Ihnen, die Absicht, Sie zu kränken, liegt mir absolut fern. Und in der Tat, was soll denn das bedeuten, meine Herren: man kann ja kein einziges offenes Wort sagen, gleich fühlen Sie sich beleidigt! Erstens also war ich höchst erstaunt, daß ein ›Sohn Pawlischtschews‹ existierte, und zwar in so schrecklicher Lage, wie sie mir Tschebarow schilderte. Pawlischtschew ist mein Wohltäter gewesen und der Freund meines Vaters. (Ach, warum haben Sie in Ihrem Artikel eine solche Unwahrheit über meinen Vater geschrieben, Herr Keller? Er hat sich keine Veruntreuung von Kompaniegeldern und keine ungerechte Behandlung Untergebener zuschulden kommen lassen, davon bin ich fest überzeugt; wie vermochte Ihre Hand eine solche Verleumdung niederzuschreiben?) Und das, was Sie über Pawlischtschew geschrieben haben, ist doch geradezu unerhört: Sie nennen diesen edelsten aller Menschen einen Lüstling, einen Leichtsinnigen und tun das mit einer Kühnheit und Sicherheit, als ob Sie wirklich die Wahrheit sagten, und dabei war er der sittenreinste Mensch, der je auf der Welt gelebt hat! Er war sogar ein sehr achtbarer Gelehrter, stand mit vielen in der Wissenschaft hochangesehenen Männern in Briefwechsel und gab viel Geld zur Förderung wissenschaftlicher Zwecke aus. Was aber sein Herz und seine guten Taten anlangt, oh, da haben Sie allerdings ganz richtig geschrieben, daß ich damals beinah ein Idiot war und nichts richtig verstehen konnte (obwohl ich doch Russisch zu sprechen und zu verstehen imstande war); aber alles, woran ich mich jetzt erinnere, vermag ich doch ganz gut in seinem Wert zu beurteilen…«

»Erlauben Sie«, kreischte Ippolit, »wird das nicht allzu gefühlvoll werden? Wir sind keine Kinder. Sie wollten direkt zur Sache kommen; es ist bald zehn Uhr, vergessen Sie das nicht!«

»Schön, schön, meine Herren!« stimmte ihm der Fürst sogleich bei. »Nach der ersten Regung von Mißtrauen sagte ich mir, daß ich mich doch irren könne und daß Pawlischtschew vielleicht wirklich einen Sohn habe. Aber in großes Erstaunen versetzte mich der Umstand, daß dieser Sohn das Geheimnis seiner Geburt so leichtfertig, das heißt, ich will sagen, so öffentlich preisgibt, und vor allem, daß er seine Mutter verunglimpft. Schon damals nämlich suchte mich Tschebarow durch den Hinweis auf eine Veröffentlichung einzuschüchtern…«

»Was für eine Dummheit!« rief Lebedews Neffe.

»Sie haben kein Recht… Sie haben kein Recht!« schrie Burdowskij.

»Der Sohn ist für die Liederlichkeit seines Vaters nicht verantwortlich, und die Mutter trägt keine Schuld«, kreischte Ippolit sehr erregt.

»Um so mehr verdiente sie geschont zu werden, möchte man meinen«, erwiderte der Fürst schüchtern.

»Sie sind nicht nur naiv, Fürst, sondern vielleicht noch etwas mehr«, bemerkte Lebedews Neffe mit boshaftem Lächeln.

»Und welches Recht hatten Sie…«, kreischte Ippolit mit ganz unnatürlicher Stimme.

»Keines, keines!« unterbrach ihn der Fürst eilig. »Darin haben Sie recht, das erkenne ich an; aber jener Gedanke war mir damals ganz unwillkürlich gekommen, und ich sagte mir darauf sogleich selbst, daß meine persönlichen Gefühle keinen Einfluß auf die Behandlung der Sache haben dürften, denn wenn ich aus Dankbarkeit gegen Pawlischtschew die Verpflichtung anerkennen wolle, Herrn Burdowskijs Forderungen zu befriedigen, so müsse ich sie eben in jedem Falle befriedigen, das heißt ohne Rücksicht darauf, ob ich gegen Herrn Burdowskij von Hochachtung erfüllt sei oder nicht. Ich habe hiervon nur deswegen zu reden begonnen, meine Herren, weil es mir doch unnatürlich schien, daß ein Sohn das Geheimnis seiner Mutter so vor aller Öffentlichkeit kundgibt… Mit einem Wort: dies war der Hauptgrund, weswegen ich zu der Überzeugung gelangte, dieser Tschebarow müsse eine Kanaille sein und habe Herrn Burdowskij durch Betrug zu dieser Gaunerei aufgehetzt.«

»Aber das ist ja nicht mehr zum Aushalten!« wurde von Seiten der Gäste gerufen, von denen einige sogar von ihren Stühlen aufsprangen.

»Meine Herren! Ich sagte mir daher, der unglückliche Herr Burdowskij müsse ein einfältiger, schutzloser Mensch sein, der sich leicht einem beliebigen Gauner fügt, und ich sei mithin um so mehr verpflichtet, ihm als dem ›Sohn Pawlischtschews‹ zu helfen, und zwar erstens dadurch, daß ich Herrn Tschebarow entgegentrat, zweitens durch meine Ergebenheit und Freundschaft, indem ich ihn zu leiten suchte, und drittens durch Auszahlung von zehntausend Rubeln, das heißt der ganzen Summe, die nach meiner Berechnung Pawlischtschew für mich aufgewendet haben dürfte.«

»Wie? Nur zehntausend Rubel?« schrie Ippolit.

»Na, im Rechnen sind Sie nicht sehr stark, Fürst, oder vielleicht auch sehr stark, obwohl Sie sich so naiv und harmlos stellen!« rief Lebedews Neffe.

»Ich gehe auf zehntausend nicht ein«, sagte Burdowskij.

»Antip, nimm es an!« riet ihm der Boxer schnell, zwar flüsternd, aber doch für alle vernehmlich, indem er sich über Ippolits Stuhllehne hinweg von hinten zu ihm hinbeugte. »Nimm es an, nachher werden wir weiter sehen!«

»Hören Sie mal, Herr Myschkin«, kreischte Ippolit, »begreifen Sie doch endlich, daß wir keine Dummköpfe sind, keine gemeinen Dummköpfe, wie es wahrscheinlich alle Ihre Gäste von uns glauben, auch diese Damen, die so entrüstet über uns lächeln, und besonders dieser noble Herr« (er wies auf Jewgenij Pawlowitsch), »den ich natürlich nicht die Ehre habe zu kennen, von dem ich aber wohl schon etwas gehört habe…«

»Erlauben Sie, erlauben Sie, meine Herren, Sie haben mich wieder nicht recht verstanden!« wandte sich der Fürst erregt an sie. »Erstens haben Sie, Herr Keller, in Ihrem Artikel mein Vermögen ganz ungenau angegeben: ich habe keine Millionen erhalten, ich besitze vielleicht nur ein Achtel oder ein Zehntel dessen, was Sie bei mir voraussetzen; zweitens sind in der Schweiz gar nicht so enorme Summen für mich ausgegeben worden: Schneider erhielt sechshundert Rubel jährlich und auch das nur in den ersten drei Jahren; auch hat Pawlischtschew niemals hübsche Gouvernanten aus Paris geholt, das ist wieder Verleumdung. Meines Erachtens beträgt der für mich gemachte Aufwand erheblich weniger als zehntausend Rubel. Aber doch habe ich diese Summe angesetzt, und Sie müssen selbst zugeben: da ich eine Schuld zurückzahle, kann ich Herrn Burdowskij schlechterdings nicht mehr anbieten, selbst wenn ich ihn außerordentlich liebhätte; ich kann es schon aus Taktgefühl nicht, da ich ihm eben eine Schuld zurückzahle und ihm nicht etwa ein Almosen zuwende. Ich begreife nicht, meine Herren, wie Ihnen das unverständlich sein kann! Aber ich wollte das nachher alles durch meine Freundschaft und meine tätige Teilnahme an dem Ergehen des unglücklichen Herrn Burdowskij ausgleichen, der ohne Zweifel betrogen worden ist, da er sonst unmöglich einer solchen Gemeinheit zugestimmt hätte, wie sie Herrn Kellers heutige Äußerungen über seine Mutter in diesem Artikel darstellen… Aber warum geraten Sie denn wieder außer sich, meine Herren? Auf die Art werden wir einander schließlich überhaupt nicht mehr verstehen! Was ich gedacht hatte, hat sich ja doch als zutreffend herausgestellt! Ich habe mich jetzt mit eigenen Augen überzeugt, daß meine Vermutung richtig war«, sagte in bittendem Ton der ganz in Eifer gekommene Fürst, der die Erregung zu besänftigen wünschte und nicht merkte, daß er sie nur steigerte.

»Was? Wovon haben Sie sich überzeugt?« schrien die Gegner wütend auf ihn los.

»Aber ich bitte Sie, erstens habe ich selbst Gelegenheit gehabt, Herrn Burdowskij genau kennenzulernen, und sehe jetzt selbst, wes Geistes Kind er ist… Er ist ein unschuldiger Mensch, der von allen betrogen wird! Und er ist ein schutzloser Mensch, und darum ist es meine Pflicht, schonend mit ihm zu verfahren. Und zweitens hat Gawrila Ardalionowitsch, in dessen Hände ich diese Sache gelegt habe und von dem mir lange keine Nachricht zugegangen war, da er sich unterwegs befand und dann drei Tage lang in Petersburg krank lag, der hat plötzlich jetzt, erst vor einer Stunde, bei unserm ersten Wiedersehen, mir mitgeteilt, er habe Tschebarows Absichten sämtlich durchschaut und besitze die erforderlichen Beweise; Tschebarow sei genau der Mensch, als den ich ihn eingeschätzt hätte. Ich weiß ja, meine Herren, daß viele mich für einen Idioten halten, und da ich in dem Ruf stand, leicht Geld hinzugeben, so hielt Tschebarow es für eine sehr leichte Aufgabe, mich zu betrügen, und rechnete dabei besonders auf meine dankbaren Empfindungen gegenüber Pawlischtschew. Aber die Hauptsache ist – hören Sie zu, meine Herren, hören Sie zu! –, die Hauptsache ist, daß sich jetzt herausstellt, daß Herr Burdowskij gar nicht Pawlischtschews Sohn ist! Soeben hat mir Gawrila Ardalionowitsch dies mitgeteilt, und er versichert, er habe positive Beweise dafür erlangt. Nun, was meinen Sie jetzt? Das ist ja nach allem, was Sie schon angerichtet haben, gar nicht zu glauben! Und wohlgemerkt: positive Beweise! Ich glaube es noch nicht, ich selbst glaube es noch nicht, versichere ich Ihnen; ich zweifle noch, da Gawrila Ardalionowitsch noch keine Zeit dazu gefunden hat, mir alle Einzelheiten mitzuteilen; aber daß Tschebarow eine Kanaille ist, daran kann jetzt kein Zweifel mehr bestehen! Er hat den unglücklichen Herrn Burdowskij und Sie alle, meine Herren, die Sie Ihren Freund edelmütig unterstützen wollten (denn er bedarf augenscheinlich eines Beistandes, ich habe ja dafür Verständnis!), er hat Sie alle hinters Licht geführt und Sie alle in eine Gaunerei verwickelt, denn die ganze Sache ist in Wirklichkeit nichts anderes als Gaunerei und Betrug!«

»Wieso Gaunerei?… Wieso soll er nicht ›Pawlischtschews Sohn‹ sein? Wie ist das möglich? …«, ertönte es von allen Seiten. Burdowskijs ganzes Gefolge befand sich in unsagbarer Verwirrung und Aufregung.

»Ja, gewiß, Gaunerei! Wenn sich jetzt herausstellt, daß Herr Burdowskij nicht ›Pawlischtschews Sohn‹ ist, so erweist sich ja damit Herrn Burdowskijs Forderung geradezu als Gaunerei (das heißt selbstverständlich, wenn er die Wahrheit wüßte), aber das ist es ja eben, daß er getäuscht worden ist, und darum bemühe ich mich so energisch, ihn zu verteidigen; darum sage ich auch, daß er wegen seiner Naivität bemitleidet zu werden verdient; sonst erschiene er in dieser Sache selbst als ein Gauner. Aber ich für meine Person bin bereits überzeugt, daß er nichts davon weiß. Ich selbst habe mich vor meiner Abreise nach der Schweiz in derselben Lage befunden, habe ebenfalls unzusammenhängende Worte gestammelt – man will sich ausdrücken und ist nicht dazu imstande… Ich habe dafür Verständnis, ich kann es ihm sehr nachempfinden, weil ich selbst fast ein ebensolcher Mensch war; ich darf darüber reden! Und endlich will ich dennoch, obwohl er jetzt nicht mehr ›Pawlischtschews Sohn‹ ist und alles sich als Mystifikation erweist, ich will dennoch meinen Entschluß nicht ändern und bin bereit, ihm die zehntausend Rubel auszuzahlen, zum Andenken an Pawlischtschew. Eigentlich wollte ich ja vor Herrn Burdowskijs Auftreten diese zehntausend Rubel zum Andenken an Pawlischtschew für eine Schule verwenden; aber es ist ja jetzt ganz gleich, ob ich sie für eine Schule verwende oder sie Herrn Burdowskij gebe, weil Herr Burdowskij, wenn er auch nicht ›Pawlischtschews Sohn‹ ist, doch beinah an Stelle eines solchen steht, da man ihn selbst darüber so boshaft getäuscht hat und er selbst sich aufrichtig für Pawlischtschews Sohn gehalten hat! Hören Sie nun mit an, meine Herren, was Gawrila Ardalionowitsch uns sagen wird; bringen wir die Sache zu Ende, seien Sie nicht zornig, regen Sie sich nicht auf, setzen Sie sich hin! Gawrila Ardalionowitsch wird uns sogleich alles erklären, und ich gestehe, daß ich selbst außerordentlich begierig bin, alle Einzelheiten zu erfahren. Er sagte, er sei sogar nach Pskow zu Ihrer Mutter gefahren, Herr Budowskij, die keineswegs gestorben ist, wie man Sie in dem Artikel hat schreiben lassen… Setzen Sie sich doch, meine Herren, setzen Sie sich doch!«

Der Fürst setzte sich, und es gelang ihm, auch Herrn Burdowskijs Begleiter, die von ihren Plätzen aufgesprungen waren, wieder zum Hinsetzen zu bewegen. In den letzten zehn oder zwanzig Minuten hatte er hitzig, laut, in ungeduldiger Hast gesprochen, sich hinreißen lassen und alle andern zu überschreien gesucht; jetzt, gleich darauf, bereute er natürlich bitter einige ihm entschlüpfte Ausdrücke und die Äußerung gewisser Vermutungen. Hätte man ihn nicht so gereizt und ganz außer sich gebracht, so würde er es sich nicht gestattet haben, manche Vermutungen so unverhüllt und hastig mit unnötiger Offenherzigkeit auszusprechen. Aber kaum hatte er sich wieder auf seinen Platz gesetzt, als ein schmerzhaft brennendes Gefühl der Reue sein Herz durchdrang: er hatte Burdowskij nicht nur dadurch »beleidigt«, daß er so laut und öffentlich bei ihm dieselbe Krankheit voraussetzte, gegen die er selbst in der Schweiz eine Kur gebraucht hatte, sondern er hatte ihm auch das Angebot der eigentlich für eine Schule bestimmten zehntausend Rubel seiner Meinung nach in einer plumpen, unvorsichtigen Weise gemacht, namentlich insofern, als er es vor allen Leuten mit lauten Worten getan hatte. ›Ich hätte warten und es ihm morgen unter vier Augen anbieten müssen‹, dachte der Fürst sogleich, ›aber das ist jetzt wohl nicht mehr gutzumachen! Ja, ich bin ein Idiot, ein richtiger Idiot!‹ sagte er sich in einem Anfall von Scham und aufrichtiger Betrübnis.

Inzwischen war Gawrila Ardalionowitsch, der sich bis dahin abseits gehalten und beharrlich geschwiegen hatte, auf des Fürsten Aufforderung vorgetreten, hatte sich neben ihn gestellt und begann nun ruhig und klar über die Ausführung des ihm vom Fürsten erteilten Auftrages Bericht zu erstatten. Alle Gespräche waren augenblicklich verstummt. Alle hörten höchst gespannt zu, namentlich Burdowskijs ganzes Gefolge.

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Kapitel 25

IX

»Sie werden gewiß nicht leugnen«, begann Gawrila Ardalionowitsch, sich speziell an Burdowskij wendend, der mit größter Anstrengung zuhörte, ihn vor Erstaunen mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und sich offenbar in höchster Verwirrung befand, »Sie werden und wollen gewiß nicht ernstlich leugnen, daß Sie genau zwei Jahre nach der Verheiratung Ihrer verehrten Mutter mit dem Kollegiensekretär Herrn Burdowskij, Ihrem Vater, geboren sind. Die Zeit Ihrer Geburt läßt sich sehr leicht dokumentarisch feststellen, so daß die für Sie und Ihre Mutter so beleidigende Entstellung dieser Tatsache in Herrn Kellers Artikel sich einzig und allein als ein Spiel der eigenen Phantasie dieses Herrn darstellt, der der Meinung war, dadurch die Evidenz Ihres Rechts zu erhöhen und so Ihren Interessen zu dienen. Herr Keller sagt, er habe Ihnen den Artikel vorher vorgelesen, wenn auch nicht ganz… ohne allen Zweifel hat er ihn Ihnen nicht bis zu dieser Stelle vorgelesen…«

»Bis zu dieser Stelle allerdings nicht«, unterbrach ihn der Boxer, »aber alle Tatsachen waren mir von einer vertrauenswürdigen Persönlichkeit mitgeteilt worden, und ich…«

»Verzeihen Sie, Herr Keller«, unterbrach ihn Gawrila Ardalionowitsch, »lassen Sie mich jetzt reden! Ich versichere Ihnen, daß wir zur gegebenen Zeit auch noch auf Ihren Artikel zu sprechen kommen werden, dann können Sie Ihre Erklärungen abgeben; jetzt aber wollen wir lieber der Reihe nach fortfahren. Ganz zufällig, durch Mithilfe meiner Schwester Warwara Ardalionowna Ptizyna, erhielt ich von ihrer intimen Freundin, der verwitweten Gutsbesitzerin Wera Alexejewna Subkowa, einen Brief des verstorbenen Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew, den dieser ihr vor vierundzwanzig Jahren aus dem Ausland geschrieben hatte. Nachdem ich mich mit Wera Alexejewna in Verbindung gesetzt hatte, wandte ich mich auf ihren Rat an den Oberst a. D. Timofej Fjodorowitsch Wjasowkin, einen entfernten Verwandten und seinerzeit sehr guten Freund des Herrn Pawlischtschew. Es gelang mir, von ihm noch zwei Briefe Nikolai Andrejewitschs zu erhalten, die ebenfalls aus dem Ausland geschrieben waren. Durch diese drei Briefe, ihr Datum und die darin enthaltenen tatsächlichen Angaben läßt sich mit zwingender Sicherheit, ohne daß irgendwelche Widerlegung oder auch nur ein Zweifel möglich wäre, beweisen, daß Nikolai Andrejewitsch damals ins Ausland gereist war (wo er sich ununterbrochen drei Jahre lang aufhielt), gerade anderthalb Jahre vor Ihrer Geburt, Herr Burdowskij. Ihre Mutter hat, wie Ihnen bekannt ist, Rußland nie verlassen… Im Augenblick werde ich diese Briefe nicht vorlesen, dazu ist es schon zu spät; ich weise nur für alle Fälle auf dieses Faktum hin. Aber wenn es Ihnen angenehm ist, Herr Burdowskij, eine Zusammenkunft in meiner Wohnung, meinetwegen gleich morgen früh, festzusetzen und Ihre Zeugen (in jeder beliebigen Anzahl) sowie Sachverständige zur Vergleichung der Handschrift mitzubringen, so hege ich nicht den geringsten Zweifel, daß Sie nicht werden umhinkönnen, sich von der evidenten Wahrheit der von mir mitgeteilten Tatsache zu überzeugen. Wenn dem aber so ist, so fällt selbstverständlich die ganze Sache zusammen und ist damit von selbst erledigt.«

Wieder folgte eine allgemeine Bewegung und tiefgehende Unruhe. Burdowskij selbst stand plötzlich von seinem Stuhl auf.

»Wenn es so ist, dann bin ich betrogen worden, betrogen, aber nicht von Tschebarow, sondern schon vor sehr langer Zeit; ich will keine Sachverständigen, ich will keine Zusammenkunft; ich glaube es so schon, ich verzichte… ich nehme die zehntausend Rubel nicht an… Leben Sie wohl…«

Er griff nach seiner Mütze und schob seinen Stuhl zurück, um fortzugehen.

»Wenn es Ihnen möglich ist, Herr Burdowskij«, hielt ihn Gawrila Ardalionowitsch mit leiser Stimme und in freundlichem Ton auf, »so bleiben Sie bitte noch hier, wenn auch nur fünf Minuten! Es werden in dieser Angelegenheit noch einige außerordentlich wichtige Tatsachen zutage kommen, wichtig besonders für Sie und jedenfalls sehr interessant. Meiner Meinung nach müssen Sie dieselben kennenlernen, und es wird Ihnen vielleicht selbst angenehmer sein, wenn die Sache vollständig aufgeklärt wird…«

Burdowskij setzte sich schweigend wieder hin, ließ den Kopf ein wenig herunterhängen und schien tief in Gedanken versunken. Nach ihm setzte sich auch Lebedews Neffe wieder, der ebenfalls aufgestanden war, um ihn zu begleiten; er hatte zwar nicht den Kopf verloren und von seiner Dreistigkeit nichts eingebüßt, war aber offenbar stark betroffen. Ippolit machte ein finsteres Gesicht, war traurig und, wie es schien, sehr erstaunt. In diesem Augenblick mußte er übrigens so heftig husten, daß er sogar sein Taschentuch mit Blut befleckte. Der Boxer war ganz erschrocken.

»Ach, Antip«, rief er trübselig, »ich hatte dir ja damals… vorgestern gesagt, daß du vielleicht gar nicht Pawlischtschews Sohn bist!«

Man hörte verhaltenes Lachen, zwei oder drei der Anwesenden lachten lauter als die andern.

»Das Faktum, das Sie uns soeben mitteilten, Herr Keller«, begann Gawrila Ardalionowitsch wieder, »ist sehr wertvoll. Nichtsdestoweniger bin ich auf Grund zuverlässiger Tatsachen völlig zu der Behauptung berechtigt, daß Herrn Burdowskij zwar natürlich der Zeitpunkt seiner Geburt sehr wohl bekannt war, nicht aber der Aufenthalt Pawlischtschews im Ausland, wo dieser den größten Teil seines Lebens zubrachte und von wo er nach Rußland immer nur auf kurze Zeit zurückkehrte. Außerdem ist auch das Faktum seiner damaligen Abreise an sich so wenig auffallend, daß nach mehr als zwanzig Jahren selbst seine nahen Bekannten sich nicht daran erinnern konnten, ganz zu schweigen von Herrn Burdowskij, der damals noch gar nicht geboren war. Natürlich erwies es sich jetzt keineswegs als unmöglich, Nachforschungen anzustellen; aber ich muß bekennen, daß die Feststellungen, zu denen ich gelangte, mir nur ganz zufällig gelungen sind und ebensogut hätten mißlingen können. Für Herrn Burdowskij und sogar für Tschebarow waren diese Feststellungen tatsächlich fast unmöglich, selbst wenn es ihnen in den Sinn gekommen wäre, solche Nachforschungen anzustellen. Aber möglicherweise ist es ihnen gar nicht in den Sinn gekommen…«

»Erlauben Sie, Herr Iwolgin«, unterbrach ihn plötzlich Ippolit gereizt, »welchen Zweck soll dieser ganze Galimathias haben (verzeihen Sie den Ausdruck)? Die Sache ist jetzt aufgeklärt, wir erkennen die wichtigste Tatsache als richtig an; wozu also die peinliche, verletzende Angelegenheit noch weiter breittreten? Sie möchten vielleicht mit der Geschicklichkeit Ihrer Untersuchungen prahlen, sich uns und dem Fürsten gegenüber als tüchtiger Spion und Detektiv aufspielen? Oder beabsichtigen Sie, Herrn Burdowskij durch den Nachweis zu entschuldigen und zu rechtfertigen, daß er sich nur aus Unwissenheit auf die Sache eingelassen hat? Aber das ist eine Dreistigkeit, mein Herr! Burdowskij bedarf dessen nicht, von Ihnen gerechtfertigt und entschuldigt zu werden; das mögen Sie wissen! Er fühlt sich verletzt, die Sache ist ihm ohnehin jetzt peinlich, er befindet sich in einer unbehaglichen Lage, das sollten Sie merken und verstehen…«

»Genug, Herr Terentjew, genug!« gelang es endlich Gawrila Ardalionowitsch, ihn zu unterbrechen. »Beruhigen Sie sich, regen Sie sich nicht auf; Sie scheinen ja doch recht krank zu sein. Sie tun mir sehr leid. Wenn Sie es also wünschen, so schließe ich, das heißt, ich sehe mich genötigt, diejenigen Tatsachen, deren vollständige und auf Beweise gestützte Kenntnis meines Erachtens nicht überflüssig sein würde, nur noch in aller Kürze mitzuteilen«, fügte er hinzu, als er eine allgemeine Bewegung wahrnahm, die wie Ungeduld aussah. »Ich möchte nur allen, die sich für die Sache interessieren, zur Kenntnis bringen, daß Ihre Mutter, Herr Burdowskij, lediglich deswegen Herrn Pawlischtschews Wohlwollen und Fürsorge genoß, weil sie die Schwester jenes Gutsmädchens war, in das Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew seit seiner Jugend so verliebt war, daß er sie unzweifelhaft geheiratet hätte, wenn sie nicht frühzeitig gestorben wäre. Ich habe Beweise dafür, daß diese stille Liebe, so sicher und zuverlässig sie auch feststeht, doch sehr wenig bekannt war und bald in Vergessenheit geriet. Des weiteren könnte ich Ihnen darlegen, daß Ihre Mutter schon als zehnjähriges Kind von Herrn Pawlischtschew wie eine Verwandte zur Erziehung angenommen wurde, daß ihr eine beträchtliche Mitgift ausgesetzt wurde und daß all diese Fürsorge bei Pawlischtschews zahlreicher Verwandtschaft sehr beunruhigende Gerüchte hervorrief, man dachte sogar, er werde seine Pflegetochter heiraten; aber die Sache endete damit, daß sie aus Neigung (und das könnte ich Ihnen auf das schlagendste beweisen) im Alter von zwanzig Jahren den Feldmesser Herrn Burdowskij heiratete. Ich habe nun mehrere zuverlässige Tatsachen zusammengebracht zum Beweis, daß Ihr Vater, Herr Burdowskij, der durchaus kein erfahrener Geschäftsmann war, nach Empfang der Mitgift Ihrer Mutter im Betrage von fünfzehntausend Rubel den Dienst quittierte, sich auf kaufmännische habe sie ebenfalls darüber in Unkenntnis gelassen), daß auch Sie, ihr Sohn, sich im Bann dieses Gerüchtes befanden. Ich fand Ihre hochverehrte Mutter, Herr Burdowskij, in Pskow krank und in ärgster Armut, in die sie durch Pawlischtschews Tod geraten ist. Mit Tränen der Dankbarkeit teilte sie mir mit, daß sie nur durch Sie und Ihre Hilfe ihr Leben auf der Welt fristet; sie erwartet viel von Ihnen für die Zukunft und glaubt fest an Ihre künftigen Erfolge…«

»Das wird aber nachgerade unerträglich!« erklärte auf einmal Lebedews Neffe laut und ungeduldig. »Was soll denn hier dieser ganze Roman?«

»Ekelhaft! Ganz ungehörig!« sagte Ippolit mit heftigen Körperbewegungen. Burdowskij aber äußerte nichts und rührte sich nicht einmal.

»Was das hier soll?« sagte Gawrila Ardalionowitsch mit schlauer Miene, als wundere er sich sehr, und schickte sich boshaft an, nun seine Resultate darzulegen. »Erstens ist Herr Burdowskij jetzt vielleicht völlig davon überzeugt, daß Herr Pawlischtschew ihn aus Edelmut liebte, und nicht als seinen Sohn. Diese Tatsache mußte Herr Burdowskij erfahren, der vorhin nach dem Vorlesen des Artikels des Herrn Keller sein Einverständnis und seine Billigung aussprach. Ich sage das deswegen, Herr Burdowskij, weil ich Sie für einen anständigen Menschen halte. Zweitens ergibt sich, daß hier nicht die geringste diebische Gaunerei vorliegt, nicht einmal von Tschebarows Seite; das ist auch für mich ein wichtiger Punkt, weil der Fürst vorhin in der Erregung bemerkte, auch ich sei der Ansicht, daß es sich bei dieser Angelegenheit um eine diebische Gaunerei handle. Es bestand vielmehr auf allen Seiten eine feste Überzeugung, und obwohl Tschebarow vielleicht wirklich ein großer Schurke ist, hat er doch in diesem Fall lediglich wie ein erwerbslustiger Winkeladvokat gehandelt. Er hoffte, als Rechtsbeistand ein tüchtiges Stück Geld zu verdienen, und seine Spekulation war nicht nur fein und meisterhaft, sondern auch sehr richtig: er baute auf die Leichtigkeit, mit der der Fürst Geld ausgab, und auf das Gefühl der Dankbarkeit und Verehrung, das er für den verstorbenen Pawlischtschew hegte; er baute ferner (was das wichtigste ist) auf die bekannten ritterlichen Anschauungen des Fürsten von den Pflichten der Ehre und des Gewissens. Was nun speziell Herrn Burdowskij betrifft, so kann man sagen, daß er infolge seiner eigenen Überzeugung dermaßen der Einwirkung Tschebarows und seiner Umgebung unterlag, daß er die Sache fast gar nicht aus persönlichem Interesse unternahm, sondern in der Meinung, damit der Wahrheit, dem Fortschritt und der Menschheit einen Dienst zu erweisen. Jetzt also, nach Mitteilung dieser Tatsachen, wird es allen klar sein, daß Herr Burdowskij ein reiner Charakter ist, trotz alles gegenteiligen Scheines, und der Fürst kann ihm jetzt noch eher und lieber als vorhin seine freundliche Unterstützung und die tatkräftige Beihilfe anbieten, von der er vorhin sprach, als er von der Schule und von Pawlischtschew redete.«

»Hören Sie auf, Gawrila Ardalionowitsch, hören Sie auf!« rief der Fürst in wirklichem Schrecken. Aber es war schon zu spät.

»Ich habe gesagt, ich habe schon dreimal gesagt«, rief Burdowskij in gereiztem Ton, »daß ich kein Geld will. Ich nehme es nicht an… wozu… ich will nicht… fort von hier!«

Er wollte eilends die Veranda verlassen. Aber Lebedews Neffe bekam ihn noch am Arm zu fassen und flüsterte ihm etwas zu. Burdowskij kehrte schnell zurück, zog ein offenes Kuvert großen Formats aus der Tasche und warf es auf ein Tischchen, das neben dem Fürsten stand.

»Da ist das Geld!… Wagen Sie es nicht… wagen Sie es nicht!… Da ist das Geld!«

»Es sind die zweihundertfünfzig Rubel, die Sie ihm durch Tschebarow als Almosen zu schicken wagten«, fügte Doktorenko erläuternd hinzu.

»In dem Artikel war gesagt: fünfzig!« rief Kolja.

»Ich bitte Sie um Entschuldigung!« sagte der Fürst, indem er an Burdowskij herantrat. »Ich habe Ihnen schweres Unrecht getan, Burdowskij, aber ich habe es Ihnen nicht als Almosen geschickt, glauben Sie mir! Ich habe Ihnen auch jetzt Unrecht getan, vorhin.« (Der Fürst war sehr niedergeschlagen, er sah müde und schwach aus, und seine Worte waren unzusammenhängend.) »Ich sprach von Gaunerei… aber das bezog sich nicht auf Sie, ich habe mich geirrt. Ich sagte, daß Sie ebenso ein kranker Mensch seien wie ich. Aber Sie sind nicht ebenso wie ich; Sie geben ja Stunden und unterstützen Ihre Mutter. Ich sagte, Sie brächten Ihre Mutter in Unehre; aber Sie lieben sie, sie sagt es selbst… ich wußte das nicht… Gawrila Ardalionowitsch hatte mir vorhin noch nicht alles mitgeteilt… ich habe unrecht getan. Ich wagte es, Ihnen zehntausend Rubel anzubieten, aber das war unrecht von mir; ich hätte es in anderer Weise machen müssen, aber jetzt… geht es nicht mehr, weil Sie mich verachten…«

»Aber das ist ja das reine Irrenhaus!« rief Lisaweta Prokofjewna.

»Gewiß, es ist ein Irrenhaus!« sagte Aglaja, die sich nicht mehr beherrschen konnte, in scharfem Ton.

Aber ihre Worte gingen in dem allgemeinen Lärm unter; alle redeten jetzt laut und gaben ihr Urteil ab: der eine disputierte, der andere lachte. Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war im höchsten Grade empört und wartete mit einer Miene gekränkter Würde auf Lisaweta Prokofjewna. Lebedews Neffe gab noch ein letztes Wort hinzu:

»Ja, Fürst, man muß Ihnen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, Sie verstehen es gut, Ihre… na, sagen wir Krankheit (um es anständiger auszudrücken) auszunützen; Sie haben Ihre Freundschaft und Ihr Geld in so geschickter Form anzubieten verstanden, daß es jetzt einem anständigen Menschen absolut unmöglich ist, sie anzunehmen. Das ist entweder äußerst naiv oder äußerst raffiniert… Sie werden es übrigens am besten wissen.«

»Erlauben Sie, meine Herren«, rief Gawrila Ardalionowitsch, der mittlerweile das Kuvert mit dem Geld aufgemacht hatte, »hier sind gar nicht zweihundertfünfzig Rubel drin, sondern nur hundert. Ich sage das deshalb, Fürst, damit daraus nicht irgendein Mißverständnis entsteht.«

»Lassen Sie, lassen Sie!« wehrte der Fürst mit einer Handbewegung des Widerwillens ab.

»Nein, nicht ›Lassen Sie!‹« fiel Lebedews Neffe sofort ein. »Ihr ›Lassen Sie!‹ ist für uns beleidigend, Fürst. Wir verstecken uns nicht, wir sprechen es offen aus: ja, es sind nur hundert Rubel drin und nicht zweihundertfünfzig, aber ist das nicht ganz gleich…«

»N-nein, ganz gleich ist das nicht«, wandte Gawrila Ardalionowitsch schnell mit der Miene naiver Verwunderung ein.

»Unterbrechen Sie mich nicht! Wir sind nicht solche Dummköpfe, wie Sie glauben, Herr Advokat!« rief Lebedews Neffe boshaft und ärgerlich. »Selbstverständlich sind hundert Rubel nicht zweihundertfünfzig Rubel, und das ist nicht ganz gleich, aber das Wichtige ist dabei das Prinzip; der leitende Gedanke ist hier wichtig, und daß hundertfünfzig Rubel fehlen, ist nur ein zufälliger Begleitumstand. Wichtig ist, daß Burdowskij Ihr Almosen nicht annimmt, Durchlaucht, daß er es Ihnen ins Gesicht wirft, und bei dieser Handlungsweise ist es ganz gleich, ob es hundert oder zweihundertfünfzig Rubel sind. Burdowskij hat die zehntausend Rubel nicht angenommen, das haben Sie gesehen; er würde auch die hundert Rubel nicht wiederbringen, wenn er ein Mensch ohne Ehre wäre! Die hundertfünfzig Rubel sind für Tschebarows Reise zum Fürsten verausgabt worden. Machen Sie sich lieber über unsere Ungeschicklichkeit, über unsere unpraktische Art, die Sache anzugreifen, lustig; Sie haben sich ja ohnehin aus allen Kräften bemüht, uns lächerlich zu machen; aber wagen Sie nicht zu sagen, daß wir kein Ehrgefühl besäßen! Die fehlenden hundertfünfzig Rubel, mein Herr, werden wir alle zusammen dem Fürsten zurückerstatten, zwar vielleicht nur rubelweise, aber mit Zinsen. Burdowskij ist arm, Burdowskij besitzt keine Millionen, und Tschebarow reichte nach der Reise seine Rechnung ein. Wir hatten auf einen Gewinn gehofft… Wer hätte an seiner Stelle anders gehandelt?«

»Anders als wer?« rief Fürst Schtsch.

»Ich werde hier noch verrückt!« rief Lisaweta Prokofjewna.

»Das erinnert«, bemerkte lachend Jewgenij Pawlowitsch, der lange dagestanden und nur beobachtet hatte, »an eine berühmte Verteidigungsrede, die ein Advokat kürzlich hielt. Er betonte als Milderungsgrund die Armut seines Klienten, der sechs Menschen mit einemmal ermordet hatte, um sie auszurauben, und schloß plötzlich folgendermaßen: ›Es ist ganz natürlich, daß meinem Klienten bei seiner Armut der Gedanke kam, diese sechs Menschen zu ermorden; wem wäre an seiner Stelle nicht derselbe Gedanke gekommen?‹ Etwa in dieser Art, jedenfalls sehr amüsant.«

»Genug!« rief plötzlich, vor Zorn zitternd, Lisaweta Prokofjewna. »Es ist Zeit, diesem Galimathias ein Ende zu machen!…«

Sie befand sich in furchtbarer Aufregung, warf den Kopf drohend zurück und ließ ungeduldig, hochmütig und herausfordernd ihren funkelnden Blick über die ganze Gesellschaft hinschweifen, wobei sie in diesem Augenblick kaum Freund und Feind unterschied. Sie war auf jenem Punkt lange zurückgehaltenen, aber nun endlich losbrechenden Zornes angelangt, wo man sich zu sofortigem Kampf gedrängt fühlt und das Bedürfnis verspürt, unverzüglich über jemand herzufallen. Wer Lisaweta Prokofjewna kannte, mußte sogleich merken, daß mit ihr etwas Besonderes vorging. Iwan Fjodorowitsch sagte am nächsten Tag zum Fürsten Schtsch.: »Das kommt ja bei ihr manchmal vor, aber in dem Grade wie gestern doch nur sehr selten, so alle drei Jahre einmal, aber nicht öfter, nicht öfter!« fügte er erläuternd hinzu.

»Genug, Iwan Fjodorowitsch! Lassen Sie mich!« rief Lisaweta Prokofjewna. »Warum bieten Sie mir jetzt Ihren Arm? Vorhin verstanden Sie nicht, den richtigen Zeitpunkt wahrzunehmen, um mich wegzuführen; Sie sind der Mann, Sie sind das Oberhaupt der Familie; Sie mußten mich Närrin am Ohr wegführen, wenn ich nicht auf Sie hörte und wegging. Und wenigstens sollten Sie für Ihre Töchter sorgen! Aber jetzt werden wir auch ohne Sie den Weg finden; Anlaß, uns zu schämen, haben wir jetzt für ein ganzes Jahr genug … Warten Sie noch einen Augenblick; ich möchte mich erst noch beim Fürsten bedanken!… Ich danke dir, Fürst, für die gastliche Aufnahme! Und ich hatte mich hier behaglich hergesetzt, um die Jugend reden zu hören… Das ist eine Gemeinheit, eine Gemeinheit! Das ist ja ein Unfug, ein Wirrwarr; so etwas sieht man ja nicht einmal im Traum! Gibt es denn wirklich viele solche Menschen?… Schweig still, Aglaja! Schweig still, Alexandra! Das ist nicht eure Sache!… Drehen Sie sich nicht immer neben mir hin und her, Jewgenij Pawlowitsch, Sie sind mir ganz zuwider geworden!… Also du, mein Lieber, bittest diese Menschen noch um Verzeihung«, fuhr sie, sich wieder an den Fürsten wendend, fort. »›Verzeihen Sie‹, sagst du, ›daß ich Ihnen ein Kapital anzubieten gewagt habe!‹… Und du Schwadroneur, was hast du denn zu lachen?« fuhr sie plötzlich auf Lebedews Neffen los. »Du sagst: ›Wir verzichten auf das Kapital; wir bitten nicht, sondern wir fordern!‹ Als ob er nicht wüßte, daß dieser Idiot gleich morgen wieder zu ihnen hinlaufen wird, um ihnen seine Freundschaft und sein Geld anzubieten! Du wirst ja doch wohl hingehen? Wirst du hingehen? Ja oder nein?«

»Ja, ich werde hingehen«, antwortete der Fürst leise und demütig.

»Na, da hört ihr’s! Darauf rechnest du ja auch bloß!« wandte sie sich wieder zu Doktorenko, »jetzt hast du das Geld schon so gut wie in der Tasche, und da schwadronierst du, um uns Sand in die Augen zu streuen… Nein, Verehrtester, da mußt du dir andere suchen, die dümmer sind als ich, ich durchschaue euch durch und durch … ich verstehe euer ganzes Spiel!«

»Lisaweta Prokofjewna!« rief der Fürst.

»Kommen Sie weg von hier, Lisaweta Prokofjewna, es ist hohe Zeit; auch den Fürsten wollen wir mitnehmen«, sagte Fürst Schtsch. lächelnd in möglichst ruhigem Ton.

Die Mädchen standen ängstlich abseits, der General war ganz erschrocken, überhaupt waren alle erstaunt. Einige, die etwas weiter entfernt standen, lächelten heimlich und flüsterten untereinander; Lebedews Gesicht drückte den höchsten Grad des Entzückens aus.

»Häßlichen Wirrwarr findet man in der ganzen Welt, gnädige Frau«, sagte Lebedews Neffe, der gleichfalls nicht wenig betroffen war.

»Aber nicht einen so argen! Nicht einen so argen, lieber Freund, wie jetzt bei euch, nicht einen so argen!« rief Lisaweta Prokofjewna, gleichsam schadenfroh und wie in einem hysterischen Anfall. »So laßt mich doch in Ruhe!« schrie sie denen, die auf sie einredeten, zu. »Nein, wenn Sie schon erzählen, Jewgenij Pawlowitsch, daß sogar ein Verteidiger vor Gericht erklärt hat, es sei nichts natürlicher, als aus Gewissens Gutes getan habe. Und du hast ja doch nur auf seine Dankbarkeit gegen Pawlischtschew deine Spekulation gegründet; er hat ja doch von dir kein Geld geborgt und ist dir nichts schuldig; also worauf hast du denn sonst gerechnet als auf seine Dankbarkeit? Wie kannst du dich denn da selbst von ihr lossagen? Ihr Verrückten! Ihr nennt die menschliche Gesellschaft roh und inhuman, weil sie ein verführtes Mädchen ächtet; aber wenn ihr die menschliche Gesellschaft als inhuman bezeichnet, so erklärt ihr damit doch, daß diesem Mädchen von dieser Gesellschaft ein Schmerz zugefügt wird. Wenn das aber für sie ein Schmerz ist, wie könnt ihr sie dann selbst in den Zeitungen vor eben dieser Gesellschaft an den Pranger stellen und verlangen, daß das für sie kein Schmerz sein soll? Ihr Verrückten! Ihr eitlen Menschen! Ihr glaubt nicht an Gott, ihr glaubt nicht an Christus! Eitelkeit und Stolz haben eure Seelen so zerfressen, daß ihr schließlich noch einer den andern auffressen werdet, das sage ich euch voraus! Ist das nicht ein Unsinn, ein Wirrwarr, ein Skandal? Und trotz alledem wird dieser verdrehte Mensch noch zu ihnen hingehen und sie um Verzeihung bitten! Gibt es denn viele solche Leute wie euch? Was lächelt ihr? Weil ich mich mit euch so gemein gemacht habe? Das ist nun einmal geschehen; daran ist nichts mehr zu ändern!… Lächle du mich nicht so an, du frecher Bube!« (Sie stürzte plötzlich auf Ippolit los.) »Er kann kaum noch atmen und verdirbt andere! Du hast mir diesen Jungen hier verdorben« (sie zeigte wieder auf Kolja); »er schwärmt immer von dir; du unterweist ihn im Atheismus, du glaubst nicht an Gott; und dabei stehst du in einem Alter, daß du noch Hiebe bekommen könntest, mein Verehrter! Pfui über euch!… Also, Fürst Lew Nikolajewitsch, wirst du wirklich morgen zu ihnen hingehen, ja?« fragte sie wieder, fast atemlos, den Fürsten.

»Ja, ich werde hingehen.«

»Dann kenne ich dich nicht mehr!« Sie drehte sich schnell um, um wegzugehen, kehrte aber plötzlich wieder zurück. »Wirst du auch zu diesem Atheisten gehen?« Sie zeigte auf Ippolit. »Aber warum lächelst du denn über mich?« schrie sie mit fremdartig klingender Stimme und stürzte auf Ippolit los, dessen spöttisches Lächeln sie nicht ertragen konnte.

»Lisaweta Prokofjewna! Lisaweta Prokofjewna! Lisaweta Prokofjewna!« wurde von allen Seiten zugleich gerufen.

»Maman, das ist eine Schande!« rief Aglaja laut.

»Beunruhigen Sie sich nicht, Aglaja Iwanowna!« antwortete Ippolit ruhig; Lisaweta Prokofjewna hatte ihn am Arm gepackt und hielt diesen aus nicht recht verständlichem Grunde fest; sie stand vor ihm und durchbohrte ihn förmlich mit ihrem wütenden Blick. »Beunruhigen Sie sich nicht! Ihre Mama wird schon selbst zu der Einsicht kommen, daß man sich an einem Sterbenden nicht vergreifen darf… Ich bin bereit, eine Erklärung darüber abzugeben, warum ich gelacht habe…, und werde mich sehr freuen, wenn man es mir verstattet…«

Hier überfiel ihn plötzlich ein heftiger Husten, den er eine ganze Minute lang nicht stillen konnte.

»Er ist schon im Verscheiden und hält immer noch Reden!« rief Lisaweta Prokofjewna. Sie ließ seinen Arm los und sah erschrocken, wie er sich das Blut von den Lippen wischte. »Wozu willst du noch reden? Du mußt einfach hingehen und dich ins Bett legen…«

»Das wird auch geschehen«, erwiderte Ippolit leise, fast flüsternd, mit heiserer Stimme. »Sobald ich heute nach Hause komme, werde ich mich gleich hinlegen … binnen vierzehn Tagen werde ich sterben, das weiß ich… In der vorigen Woche hat es mir B-n selbst gesagt… Also wenn Sie gestatten, möchte ich Ihnen noch ein paar Worte zum Abschied sagen.«

»Aber hast du denn den Verstand verloren? Was? Das ist ja Unsinn! In ärztliche Behandlung mußt du; was hat es für Sinn, jetzt Gespräche zu führen! Geh, geh und leg dich ins Bett!…« rief Lisaweta Prokofjewna erschrocken.

»Wenn ich mich hinlege, so werde ich ja bis zu meinem Tode nicht wieder aufstehen«, versetzte Ippolit lächelnd. »Ich wollte mich schon gestern hinlegen, um vor dem Tode nicht wieder aufzustehen, verschob es aber um zwei Tage, solange mich die Beine noch tragen … um heute mit denen hierherzugehen… Aber ich bin sehr müde…«

»So setz dich doch, setz dich doch! Warum stehst du? Da hast du einen Stuhl!« rief Lisaweta Prokofjewna eifrig und schob ihm selbst einen Stuhl hin.

»Ich danke Ihnen«, fuhr Ippolit leise fort. »Setzen Sie sich mir gegenüber, dann wollen wir miteinander sprechen… Wir müssen unbedingt miteinander sprechen, Lisaweta Prokofjewna, jetzt bestehe ich darauf…« Er lächelte wieder. »Bedenken Sie, daß ich heute zum letztenmal in der freien Luft und unter Menschen bin und in zwei Wochen aller Wahrscheinlichkeit nach in der Erde liegen werde. Also wird das eine Art Abschied von den Menschen und von der Natur sein. Ich bin zwar nicht sehr sentimental, aber denken Sie sich: ich freue mich doch sehr, daß sich dies alles gerade hier in Pawlowsk zugetragen hat; man sieht hier doch wenigstens einen grünen Baum.«

»Aber wozu willst du denn jetzt ein Gespräch führen?« wandte Lisaweta Prokofjewna ein, die immer ängstlicher wurde. »Du fieberst ja vollständig. Vorhin kreischtest und quiektest du, und jetzt bekommst du kaum Luft und bist am Ersticken!«

»Ich werde mich gleich wieder erholen. Warum wollen Sie mir meinen letzten Wunsch abschlagen? …Wissen Sie, ich habe schon lange im stillen davon phantasiert, mit Ihnen einmal zusammenzukommen, Lisaweta Prokofjewna; ich habe viel von Ihnen gehört… durch Kolja; der ist ja fast der einzige, der mich nicht verlassen hat… Sie sind eine eigenartige Frau, eine exzentrische Frau, das habe ich jetzt selbst gesehen… Wissen Sie wohl, daß ich Sie sogar ein bißchen geliebt habe?«

»O Gott, und ich hätte ihn wahrhaftig beinah geschlagen!«

»Aglaja Iwanowna hat Sie davon zurückgehalten. Ich irre mich doch nicht? Das ist doch Ihre Tochter Aglaja Iwanowna? Sie ist so schön, daß ich vorhin gleich beim ersten Blick vermutete, sie sei es, obwohl ich sie niemals gesehen habe. Lassen Sie mich wenigstens zum letztenmal in meinem Leben eine wirkliche Schönheit sehen!« fügte Ippolit mit einem ungeschickten, schiefen Lächeln hinzu. »Es ist ja auch der Fürst hier und Ihr Gemahl und die ganze Gesellschaft. Warum wollen Sie mir meinen letzten Wunsch abschlagen?«

»Einen Stuhl!« rief Lisaweta Prokofjewna, aber sie ergriff selbst einen und setzte sich Ippolit gegenüber hin. »Kolja!« befahl sie, »brich gleich mit ihm auf und bring ihn nach Hause, und morgen werde ich bestimmt selbst…«

»Wenn Sie erlauben, würde ich den Fürsten um eine Tasse Tee bitten… Ich bin sehr müde. Wissen Sie was, Lisaweta Prokofjewna, Sie wollten ja wohl den Fürsten zum Teetrinken mit zu sich nach Hause nehmen: bleiben Sie doch hier, lassen Sie uns eine Weile zusammensein; der Fürst wird gewiß uns allen, die wir hier sind, Tee geben lassen. Verzeihen Sie, daß ich solche Anordnungen treffe!… Aber ich kenne Sie ja, Sie sind eine gute Frau, und auch der Fürst ist ein guter Mensch… wir sind sämtlich lächerlich gute Leute…«

Der Fürst geriet in geschäftige Bewegung; Lebedew stürzte Hals über Kopf davon, Wera lief hinter ihm her.

»Sei es so!« stimmte die Generalin ihm kurz bei. »Rede, aber leise, und rege dich nicht auf! Du tust mir leid!… Fürst, du verdienst nicht, daß ich bei dir Tee trinke; aber ich will meinetwegen hierbleiben, obwohl ich niemand um Verzeihung bitte, niemand! Unsinn! Übrigens, wenn ich vorhin auf dich geschimpft habe, so verzeih mir das … das heißt, wenn du willst. Übrigens will ich niemand hier zurückhalten«, wandte sie sich mit höchst zorniger Miene an ihren Mann und an ihre Töchter, als ob auch diese ihr irgendein schweres Unrecht angetan hätten. »Ich kann auch allein nach Hause zurückgehen…«

Aber man ließ sie nicht zu Ende sprechen. Alle traten heran und umringten sie dienstfertig. Der Fürst bat sofort alle, zum Tee dazubleiben, und entschuldigte sich, daß er bisher nicht daran gedacht habe. Selbst der General war so liebenswürdig, ein paar Worte zur Beruhigung zu murmeln und Lisaweta Prokofjewna freundlich zu fragen, ob es ihr auf der Veranda auch nicht zu kühl sei. Er setzte sogar schon dazu an, Ippolit zu fragen, ob er schon lange auf der Universität sei, tat es aber doch nicht. Jewgenij Pawlowitsch und Fürst Schtsch. wurden auf einmal sehr liebenswürdig und heiter, und auf Adelaidas und Alexandras Gesichtern wurde durch das fortdauernde Erstaunen hindurch sogar ein Ausdruck von Zufriedenheit sichtbar; kurz, alle waren augenscheinlich froh, daß die Krisis bei Lisaweta Prokofjewna vorüber war. Nur Aglaja machte ein finsteres Gesicht und setzte sich schweigend abseits. Auch die ganze übrige Gesellschaft blieb da; keiner wollte fortgehen, nicht einmal General Iwolgin, dem Lebedew im Vorübergehen etwas zuflüsterte, wahrscheinlich nichts sehr Angenehmes, da der General sogleich in einen Winkel verschwand. Der Fürst trat mit seiner Einladung auch an Burdowskij und dessen Begleitung heran, ohne jemand zu übergehen. Sie murmelten mit gezwungener Miene, sie würden auf Ippolit warten, und zogen sich sofort nach dem fernsten Winkel der Veranda zurück, wo sie sich wieder alle in einer Reihe hinsetzten. Wahrscheinlich war der Tee in Lebedews Wohnung schon lange für die Familie fertig, denn er wurde sofort gebracht. Es schlug elf Uhr.

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Kapitel 19

III

Es ging schon auf zwölf. Der Fürst wußte, daß er bei Jepantschins in ihrer Stadtwohnung jetzt nur den dienstlich beschäftigten General treffen konnte, und auch den kaum. Er sagte sich, daß der General ihn womöglich sogleich mit Beschlag belegen und nach Pawlowsk mitnehmen würde, und ihm lag doch sehr daran, vorher noch einen Besuch zu machen. Auf die Gefahr hin, daß es ihm für Jepantschins zu spät werden und er genötigt sein würde, seine Fahrt nach Pawlowsk bis zum nächsten Tage aufzuschieben, entschloß sich der Fürst, zunächst jenes Haus aufzusuchen, wohin es ihn sosehr verlangte.

Dieser Besuch war für ihn übrigens in gewisser Hinsicht gewagt. Er zauderte und schwankte. Er wußte von dem Haus, daß es in der Gorochowaja-Straße lag, nicht weit von der Sadowaja-Straße, und entschied sich dafür, hinzugehen, in der Hoffnung, es werde ihm noch gelingen, ehe er hinkam, einen endgültigen Beschluß zu fassen.

Als er an die Kreuzung der Gorochowaja- und Sadowaja-Straße kam, wunderte er sich selbst über seine ungewöhnliche Aufregung; er hatte nicht erwartet, daß ihm das Herz so schmerzhaft schlagen würde. Eines der Häuser zog, wahrscheinlich durch seine besondere Physiognomie, schon von weitem seine Aufmerksamkeit auf sich, und der Fürst erinnerte sich später, daß er zu sich gesagt hatte: ›Es wird gewiß dieses Haus sein!‹ Mit außerordentlicher Neugier ging er näher heran, um seine Mutmaßung auf ihre Richtigkeit zu prüfen; er fühlte, daß es ihm aus irgendeinem Grund besonders unangenehm sein würde, wenn er es sollte erraten haben. Es war dies ein großes, finsteres, dreistöckiges Haus, ohne allen architektonischen Schmuck, von schmutziggrüner Farbe. Eine allerdings nur sehr geringe Anzahl derartiger Häuser, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut sind, hat sich namentlich in diesen Straßen Petersburgs (obwohl sich doch in dieser Stadt so vieles ändert) fast unversehrt erhalten. Sie sind solide gebaut, mit dicken Mauern und sehr wenigen Fenstern; im Erdgeschoß sind die Fenster manchmal vergittert. Meist befindet sich unten ein Wechselgeschäft. Der Skopze, der in dem Wechselgeschäft sitzt, wohnt oben. Ein solches Haus macht von außen und innen einen ungastlichen, unfreundlichen Eindruck, es sucht sich gleichsam zu verstecken und zu verbergen; aber warum eigentlich schon die bloße Physiognomie des Hauses einen solchen Eindruck macht, das ist schwer zu sagen. Die architektonischen Linien müssen wohl auf geheimnisvolle Weise diese Wirkung ausüben. In diesen Häusern wohnen fast ausschließlich Kaufleute. Der Fürst näherte sich dem Tor, sah nach dem Türschild und las:

»Haus des erblichen Ehrenbürgers Rogoshin.«

Seinem Zaudern ein Ende machend, öffnete er die Glastür, die hinter ihm geräuschvoll wieder zuschlug, und begann die Haupttreppe zum zweiten Stock hinaufzusteigen. Die Treppe war dunkel, kunstlos aus Steinstufen gebaut, die Wände mit roter Farbe angestrichen. Er wußte, daß Rogoshin mit seiner Mutter und seinem Bruder das ganze zweite Stockwerk dieses düsteren Hauses bewohnte. Der Diener, der dem Fürsten öffnete, ließ ihn ohne Anmeldung hinein und führte ihn lange: sie passierten einen für Festlichkeiten bestimmten Saal mit marmorartig bemalten Wänden, eichenem Parkettfußboden und schweren, plumpen Möbeln aus den zwanziger Jahren; sie gingen auch durch einige kleine Zimmerchen, wobei sie Bogen und Zickzacke machten, ein paar Stufen hinauf- und dann wieder ebenso viele hinunterstiegen, und klopften endlich an einer Tür an. Parfen Semjonowitsch öffnete selbst; als er den Fürsten erblickte, wurde er so blaß und blieb so starr auf dem Flecke stehen, daß er mit seinem unbeweglichen, erschrockenen Blick und dem zu einem verständnislosen Lächeln schief gezogenen Mund eine Zeitlang einem steinernen Götzenbild glich; er schien in dem Besuch des Fürsten etwas Unglaubliches, ja beinah Wunderbares zu sehen. Der Fürst hatte zwar etwas Derartiges erwartet, war aber doch erstaunt.

»Vielleicht komme ich nicht gelegen, Parfen, ich kann ja wieder gehen«, sagte er schließlich verlegen.

»Nicht doch, du kommst durchaus gelegen!« erwiderte Parfen, der endlich seine Fassung wiedergewann. »Bitte, tritt näher!«

Sie duzten sich. In Moskau waren sie häufig und lange zusammen gewesen, und es hatte bei diesem Zusammensein auch Augenblicke gegeben, die auf das Herz des einen wie des andern tiefen Eindruck gemacht hatten. Jetzt hatten sie einander mehr als drei Monate nicht gesehen.

Die Blässe und ein leises, huschendes Zucken waren noch immer nicht von Rogoshins Gesicht gewichen. Er hatte zwar seinen Gast eingeladen, näher zu treten, aber seine außerordentliche Befangenheit dauerte an. Während er den Fürsten zu einem Lehnsessel führte und am Tisch Platz nehmen ließ, wandte sich dieser zufällig zu ihm hin und blieb, überrascht von seinem seltsam starren Blick, stehen. Dieser Blick schien den Fürsten zu durchbohren und erinnerte ihn zugleich an etwas Peinliches, Düsteres, das er vor wenigen Stunden gesehen hatte. Er setzte sich nicht hin, sondern blieb, ohne sich zu rühren, stehen und blickte Rogoshin eine Weile gerade in die Augen: diese Augen schienen im ersten Moment noch stärker aufzuflammen. Endlich lächelte Rogoshin, aber etwas verlegen und verwirrt.

»Warum siehst du mich denn so unverwandt an?« murmelte er. »Setz dich doch!«

Der Fürst setzte sich.

»Parfen«, sagte er, »sag mir aufrichtig: wußtest du, daß ich heute nach Petersburg kommen würde?«

»Daß du herkommen würdest, habe ich mir gedacht«, versetzte Rogoshin. »Und wie du siehst, habe ich mich nicht geirrt«, fügte er boshaft lächelnd hinzu. »Aber woher hätte ich wissen sollen, daß du gerade heute kommen würdest?«

Die schroffe Heftigkeit und der seltsam gereizte Ton der an die Antwort angeschlossenen Frage befremdeten den Fürsten noch mehr.

»Aber selbst wenn du wußtest, daß ich heute kommen würde, so brauchst du doch nicht so gereizt zu sein«, sagte der Fürst leise, nicht ohne Verlegenheit.

»Warum fragtest du denn, ob ich es gewußt habe?«

»Als ich vorhin aus dem Bahnwagen stieg, sah ich zwei ganz ebensolche Augen auf mich gerichtet wie die, mit denen du mich soeben von hinten ansahst.«

»Na so was! Wessen Augen waren denn das?« murmelte Rogoshin argwöhnisch. Es schien dem Fürsten, als sei er zusammengezuckt.

»Ich weiß es nicht, es war einer aus der Menge, ich halte sogar für möglich, daß es mir nur so vorgekommen ist, dergleichen Täuschungen begegnen mir in letzter Zeit häufiger. Ich habe beinah dieselbe Empfindung, Bruder Parfen, wie ich sie vor fünf Jahren hatte, als ich noch meine Anfälle bekam.«

»Na also, vielleicht ist es dir nur so vorgekommen, ich weiß es nicht…«, murmelte Parfen.

Das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht stand ihm in diesem Augenblick sehr schlecht; dieses Lächeln hatte sozusagen einen Sprung bekommen, und Parfen war trotz aller Bemühung nicht imstande, es wieder zusammenzukleben.

»Nun, willst du wieder ins Ausland gehen, ja?« fragte er und fügte plötzlich hinzu: »Erinnerst du dich noch, wie wir im Herbst auf der Bahn zusammen von Pskow hierherfuhren, du… im Mantel, weißt du noch, und in Gamaschen?«

Rogoshin lachte plötzlich laut auf, dieses Mal mit unverhohlener Feindseligkeit, und als freute er sich, daß es ihm gelungen war, diese Gesinnung wenigstens auf irgendeine Weise zum Ausdruck zu bringen.

»Wohnst du hier für die Dauer?« fragte der Fürst, indem er das Arbeitszimmer musterte.

»Ja, ich bin hier zu Hause. Wo sollte ich auch sonst hin?«

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich habe von dir Dinge gehört, die dir gar nicht ähnlich sehen.«

»Was reden die Leute nicht alles!« bemerkte Rogoshin trocken.

»Aber du hast doch deine ganze Leibkohorte weggejagt und wohnst nun hier im elterlichen Haus und begehst keine tollen Streiche mehr. Das ist recht schön. Gehört das Haus dir oder euch allen gemeinsam?«

»Das Haus gehört der Mutter. Zu ihr geht es auf der andern Seite des Flurs.«

»Und wo wohnt dein Bruder?«

»Bruder Semjon Semjonytsch wohnt im Nebengebäude.«

»Ist er verheiratet?«

»Witwer. Wozu willst du das wissen?«

Der Fürst blickte vor sich hin und erwiderte nichts; er war plötzlich in Gedanken versunken und schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Rogoshin drang nicht auf eine Antwort, sondern wartete ruhig. Sie schwiegen beide.

»Ich habe dein Haus, als ich näher kam, auf hundert Schritte als das deinige erkannt«, sagte der Fürst.

»Woran denn?«

»Das weiß ich nicht. Dein Haus hat die Physiognomie eurer ganzen Familie und eures ganzen Rogoshinschen Lebens; wenn du mich aber fragst, worauf sich diese meine Anschauung gründet, so kann ich dafür keine Erklärung geben. Es ist natürlich nur Einbildung. Ich bin sogar in Sorge darüber, daß mich solche Dinge so aufregen. Früher wäre mir gar nicht der Gedanke gekommen, daß du gerade in einem solchen Hause wohnen würdest, aber sowie ich es jetzt erblickte, mußte ich sofort denken: ›Ja, gerade so muß sein Haus aussehen!‹«

»Sieh mal an!« versetzte Rogoshin mit einem unbestimmten Lächeln, ohne den unklaren Gedanken des Fürsten recht zu verstehen. »Dieses Haus hat noch der Großvater gebaut«, bemerkte er. »Es haben immer Skopzen darin gewohnt, die Familie Chludjakow, die wohnen auch jetzt hier zur Miete.«

»Es ist hier so düster. Du sitzt hier so im Dunklen«, sagte der Fürst, indem er sich im Arbeitszimmer umsah.

Es war ein großes, hohes, dunkles Zimmer, mit allerlei Möbeln vollgestellt, meist großen Arbeitstischen, Schreibtischen und Schränken, in denen Geschäftsbücher und Papiere aufbewahrt wurden. Ein breites, rotes Ledersofa diente offenbar als Rogoshins Bett. Der Fürst bemerkte auf dem Tisch, an dem ihn Rogoshin hatte Platz nehmen lassen, ein paar Bücher; eines von ihnen, Solowjows Geschichte Rußlands, war aufgeschlagen und mit einem Lesezeichen versehen. An den Wänden hingen in trüben Goldrahmen einige Ölgemälde, die so dunkel geworden waren, daß sich auf ihnen schwer etwas erkennen ließ. Ein lebensgroßes Porträt zog die Aufmerksamkeit des Fürsten auf sich: es stellte einen etwa fünfzigjährigen Mann dar in einem langschößigen Rock von deutschem Schnitt, mit zwei Medaillen am Halse, einem sehr dünnen, kurzen, grauen Bart, runzligem, gelbem Gesicht und mißtrauischem, verschlossenem, finsterem Blick.

»Das ist wohl dein Vater?« fragte der Fürst.

»Ja, das ist er«, antwortete Rogoshin mit unangenehmem Lächeln, als hätte er vor, im nächsten Augenblick irgendeinen ungenierten Scherz über seinen verstorbenen Vater zu machen.

»War er ein Altgläubiger?«

»Nein, er ging in die Kirche, aber er sagte allerdings, der alte Glaube sei richtiger. Auch vor den Skopzen hat er Achtung gehabt. Dies hier war sein Arbeitszimmer. Warum fragst du danach, ob er altgläubig war?«

»Wirst du die Hochzeit hier feiern?«

»J-ja«, antwortete Rogoshin, der bei der unerwarteten Frage zusammenzuckte.

»Werdet ihr bald heiraten?«

»Du weißt ja selbst, daß das nicht von mir abhängt.«

»Parfen, ich bin nicht dein Feind und beabsichtige nicht, dir irgendwie hinderlich zu sein. Ich wiederhole dir das jetzt ebenso, wie ich es dir früher einmal in einem fast gleichen Augenblick ausgesprochen habe. Als in Moskau deine Hochzeit bevorstand, bin ich dir nicht hinderlich gewesen, das weißt du. Das erstemal kam sie selbst zu mir hingestürzt, unmittelbar vor der Trauung, und bat mich, sie vor dir zu ›retten‹. Ich wiederhole dir ihren eigenen Ausdruck. Dann ist sie auch von mir weggelaufen; du hast sie wieder ausfindig gemacht und zum Altar geführt, und da ist sie, wie es heißt, wieder von dir weggelaufen, hierher. Ist das wahr? Mir hat es Lebedew so mitgeteilt, und darum bin ich hergereist. Daß ihr euch aber hier wieder geeinigt habt, das habe ich erst gestern zum erstenmal von einem deiner früheren Freunde gehört, von Saljoshew, wenn du es wissen willst. Hierhergefahren bin ich aber in folgender Absicht: ich wollte sie endlich überreden, zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit ins Ausland zu reisen. Sie ist körperlich und seelisch sehr heruntergekommen, namentlich hat ihr Kopf stark gelitten, und sie bedarf meines Erachtens sorgsamster Pflege. Ich wollte sie nicht selbst ins Ausland begleiten, sondern hatte in Aussicht genommen, alles Nötige ohne meine persönliche Anwesenheit einzurichten. Ich sage dir die reine Wahrheit. Wenn es wirklich zutrifft, daß ihr euch wieder geeinigt habt, dann werde ich ihr gar nicht vor Augen treten und auch zu dir nie wieder kommen. Du weißt selbst, daß ich dich nicht täusche, da ich immer gegen dich aufrichtig gewesen bin. Wie ich darüber denke, daraus habe ich dir nie ein Hehl gemacht und habe dir immer gesagt, daß es ihr sicheres Verderben ist, wenn sie deine Frau wird. Und auch dein Verderben wird es sein, vielleicht in noch schlimmerem Grad als das ihre. Wenn ihr euch wieder trenntet, so wäre das für mich eine große Beruhigung; aber zwischen euch Unfrieden zu stiften und euch auseinanderzubringen ist nicht meine Absicht. Sei doch ruhig und hege keinen Argwohn gegen mich! Du weißt ja doch selbst, daß ich niemals dein wirklicher Nebenbuhler gewesen bin, selbst damals nicht, als sie sich zu mir geflüchtet hatte. Du lachtest jetzt eben, und ich weiß, warum du es tust. Aber wir haben dort getrennt gelebt, sie und ich, und dann sogar in verschiedenen Städten, und du weißt das alles doch ganz genau. Ich habe dir ja schon früher auseinandergesetzt, daß ich sie nicht aus Liebe, sondern aus Mitleid gern habe. Ich meine, ich habe das damals klar dargelegt. Du sagtest damals, du hättest diese meine Worte verstanden, nicht wahr? Hast du sie auch wirklich verstanden? Oh, wie voll Haß du mich ansiehst! Ich bin hergekommen, um dich zu beruhigen, weil auch du mir teuer bist. Ich habe dich sehr lieb, Parfen. Ich gehe jetzt und komme niemals wieder. Lebe wohl!«

Der Fürst stand auf.

»Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen!« sagte Parfen leise; er erhob sich nicht von seinem Platz und legte den Kopf in die rechte Hand. »Ich habe dich lange nicht gesehen.«

Der Fürst setzte sich wieder. Beide schwiegen.

»Wenn ich dich nicht vor mir sehe, fühle ich gleich gegen dich einen Groll, Lew Nikolajewitsch. In diesen drei Monaten, wo ich dich nicht gesehen habe, bin ich jeden Augenblick auf dich ergrimmt gewesen, bei Gott! Ich hätte dich vergiften mögen! So steht das. Und jetzt hast du nun noch nicht eine Viertelstunde bei mir gesessen, und schon ist mein ganzer Groll vergangen, und du bist mir wieder lieb und teuer wie früher. Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen!…«

»Wenn ich bei dir bin, dann glaubst du mir, und wenn ich nicht da bin, dann hörst du gleich auf, mir zu vertrauen, und hast mich wieder im Verdacht. Du schlägst ganz nach deinem Vater«, antwortete der Fürst freundlich lächelnd und bemüht, seine Rührung zu verbergen.

»Ich glaube dem Klang deiner Stimme, wenn ich bei dir sitze. Ich verstehe ja, daß wir beide, du und ich, nicht miteinander zu vergleichen sind…«

»Warum fügst du das hinzu? Und gleich bist du wieder in gereizter Stimmung«, versetzte der Fürst, der sich über Rogoshin wunderte.

»Wir werden in dieser Hinsicht nicht nach unserer Meinung gefragt«, antwortete dieser, »das wird ohne unser Zutun bestimmt. Wir beide lieben ja auch auf verschiedene Weise; es ist eben in allem ein Unterschied«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen leise fort. »Du liebst sie, wie du sagst, aus Mitleid. Von solchem Mitleid mit ihr ist bei mir nichts vorhanden. Und sie haßt mich ja auch, haßt mich mehr als irgendeinen andern Menschen. Ich träume jetzt jede Nacht von ihr, und zwar immer, daß sie sich mit einem andern über mich lustig macht. So steht die Sache, Bruder. Sie geht mit mir zum Traualtar und denkt dabei an mich mit keinem Gedanken; sie hat dabei keine andere Empfindung, als wenn sie die Schuhe wechselte. Wirst du es glauben? Fünf Tage habe ich sie nicht gesehen, weil ich nicht wage, zu ihr hinzufahren; ich fürchte, sie fragt mich: ›Warum bist du hergekommen?‹ Und wie oft hat sie mir Schimpf angetan…«

»Dir Schimpf angetan? Was redest du!«

»Als ob du es nicht wüßtest! Sie ist ja doch von mir unmittelbar vor der Trauung mit dir selbst weggelaufen; das hast du ja eben selbst gesagt.«

»Aber du wirst doch selbst nicht glauben, daß …«

»Und hat sie mich nicht mit dem Offizier, diesem Semtjushnikow, in Moskau betrogen? Ich weiß bestimmt, daß sie es getan hat, und noch dazu, nachdem sie den Tag für die Trauung selbst angesetzt hatte.«

»Das ist unmöglich!« rief der Fürst.

»Ich weiß es sicher«, erklärte Rogoshin im Ton der festesten Überzeugung. »Das liegt nicht in ihrem Wesen, willst du sagen, nicht wahr? Das ist richtig, Bruder, daß das nicht in ihrem Wesen liegt. Aber das ist doch nur leeres Gerede. Dir gegenüber wird sie sich nicht so benehmen und ein solches Betragen vielleicht selbst verabscheuen, aber mir gegenüber benimmt sie sich nun eben so. So ist es nun einmal. Sie betrachtet mich als das niedrigste Geschöpf auf Gottes Erdboden! Und mit Keller, diesem Offizier, der so gern boxt, hat sie sich lediglich in der Absicht eingelassen, sich über mich lustig zu machen… Und du weißt noch nicht, was sie mit mir in Moskau angestellt hat! Und wieviel Geld, wieviel Geld hat mich das alles gekostet…«

»Aber… wie in aller Welt kannst du sie denn unter solchen Umständen heiraten? Wie soll denn das später werden?« fragte der Fürst ganz erschrocken.

Rogoshin warf dem Fürsten einen grimmigen, furchtbaren Blick zu und antwortete nicht.

»Ich bin jetzt schon fünf Tage nicht bei ihr gewesen«, fuhr er fort, nachdem er ungefähr eine Minute lang geschwiegen hatte. »Ich fürchte immer, daß sie mich wegjagt. Sie sagt: ›Ich bin noch immer meine eigene Herrin; wenn ich will, jage ich dich ganz fort und reise selbst ins Ausland‹ (davon hat sie zu mir schon gesprochen, daß sie ins Ausland reisen will«, bemerkte er gleichsam in Klammern und sah dem Fürsten in ganz besonderer Art in die Augen). »Manchmal allerdings will sie mir damit nur Furcht einjagen, sie möchte sich immer über mich lustig machen; aber zu andern Zeiten ist sie wirklich in finsterer Stimmung, zieht die Augenbrauen zusammen und sagt kein Wort, und das ist’s, was ich am meisten fürchte. Neulich dachte ich: ›Ich will doch nicht immer mit leeren Händen zu ihr kommen‹, aber sie lachte nur spöttisch über meine Geschenke und wurde dann sogar ernstlich zornig. Ich hatte ihr einen so schönen Schal geschenkt, daß ihr, obwohl sie früher im Luxus gelebt hat, seinesgleichen wohl noch nicht vor Augen gekommen war; den hat sie ihrem Stubenmädchen Katjka geschenkt. Und von dem Termin für die Hochzeit darf ich gar nicht zu reden anfangen. Ich kann mich ja gar nicht als ihren Bräutigam ansehen, wenn ich mich fürchte, auch nur zu ihr hinzugehen. Da sitze ich nun hier, und wenn ich es nicht mehr aushalten kann, dann gehe ich heimlich und verstohlen auf der Straße an ihrem Hause vorbei oder verstecke mich irgendwo hinter einer Ecke. Neulich habe ich beinah bis zum Morgengrauen in der Nähe ihrer Haustür gelauert, ich hatte so einen Verdacht. Aber sie hatte mich wohl durch das Fenster bemerkt und sagte nachher: ›Was würdest du mit mir machen, wenn du sähest, daß ich dich betrüge?‹ Ich konnte mich nicht halten und sagte: ›Das weißt du selbst.‹«

»Was soll sie wissen?«

»Woher soll ich es denn wissen?« erwiderte Rogoshin, grimmig auflachend. »In Moskau habe ich sie damals mit keinem abfassen können, obwohl ich lange aufpaßte. Ich nahm sie mir damals einmal vor und sagte zu ihr: ›Du bist mit mir verlobt und willst in eine ehrenhafte Familie eintreten; weißt du jetzt aber auch, was du für eine bist? So eine bist du!‹ sagte ich.«

»Das hast du zu ihr gesagt?«

»Ja.«

»Nun, und sie?«

»›Ich habe jetzt vielleicht nicht einmal Lust‹, sagte sie, ›dich als Lakaien anzunehmen, geschweige denn deine Frau zu werden.‹ – ›Und ich‹, sagte ich, ›gehe mit solchem Bescheid nicht weg; die Sache muß so oder so ein Ende haben!‹ – ›Und ich‹, sagte sie, ›werde gleich Keller rufen und ihm sagen, er soll dich aus dem Haus hinauswerfen.‹ Da habe ich mich auf sie gestürzt und sie geschlagen, daß sie blaue Flecke davon bekam.«

»Es ist nicht möglich!« rief der Fürst.

»Ich sage dir: es ist so gewesen«, erwiderte Rogoshin leise, aber mit funkelnden Augen. »Sechsunddreißig Stunden lang habe ich nicht geschlafen, nicht gegessen, nicht getrunken und ihr Zimmer nicht verlassen, auf den Knien habe ich vor ihr gelegen. ›Ich sterbe hier‹, sagte ich, ›ich gehe nicht hinaus, ehe du mir nicht verzeihst, und wenn du mich hinausbringen läßt, ertränke ich mich, denn wie werde ich jetzt ohne dich leben können?‹ Sie war den ganzen Tag wie eine Wahnsinnige: bald weinte sie, bald wollte sie mich mit einem Messer töten, bald schimpfte sie auf mich. Sie rief Saljoshew, Keller, Semtjushnikow und alle andern herbei, wies vor aller Augen mit dem Finger auf mich und schmähte mich. ›Wir wollen heute alle zusammen ins Theater fahren, meine Herren‹, sagte sie, ›mag er hier sitzen bleiben, wenn er nicht weggehen will; ich brauche doch seinetwegen nicht das Haus zu hüten! Es wird Ihnen hier, während ich weg bin, Tee gereicht werden, Parfen Semjonowitsch, Sie müssen ja heute ganz hungrig geworden sein.‹ Sie kehrte allein aus dem Theater zurück. ›Das sind Feiglinge und Schufte‹, sagte sie, ›sie fürchten sich vor dir und wollen auch mir Angst machen; sie sagen: »Er wird so nicht fortgehen, er wird Sie am Ende noch ermorden!« Aber ich werde, wenn ich in mein Schlafzimmer gehe, die Tür nicht hinter mir zuschließen; so wenig fürchte ich mich vor dir! Das magst du wissen und mit eigenen Augen sehen! Hast du Tee getrunken?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›und sie mir davon und flüchtete sich zu Lebedew. Als ich herkam, sagte sie zu mir: ›Ich will dich nicht gänzlich abweisen, ich will nur noch warten, solange es mir gefällt, denn ich bin immer noch meine eigene Herrin. Warte auch du, wenn du willst!‹ So steht es jetzt bei uns … Wie denkst du über das alles, Lew Nikolajewitsch?«

»Wie denkst du selbst darüber?« fragte der Fürst zurück und blickte Rogoshin traurig an.

»Aber denke ich denn überhaupt?« rief dieser heftig und unwillkürlich. Er wollte noch etwas hinzufügen, unterdrückte es aber und schwieg in grenzenlosem Kummer.

Der Fürst erhob sich und wollte wieder fortgehen.

»Ich werde dir trotzdem nicht hinderlich sein«, sagte er leise, beinah melancholisch, als antwortete er auf einen eigenen heimlichen Gedanken.

»Weißt du, was ich dir sagen werde?« rief Rogoshin; er wurde auf einmal lebhaft, und seine Augen funkelten. »Wie du so vor mir zurücktreten kannst, dafür habe ich kein Verständnis! Liebst du sie denn gar nicht mehr? Früher schmachtetest du doch nach ihr, das habe ich recht wohl gesehen. Und warum wärst du denn jetzt Hals über Kopf hierhergereist? Aus Mitleid?« (Sein Gesicht verzerrte sich zu einem boshaften Lächeln.) »Hehe!«

»Du meinst, daß ich dich betrüge?« fragte der Fürst.

»Nein, ich glaube dir, aber ich verstehe nichts davon. Das wahrscheinlichste ist wohl, daß dein Mitleid am Ende noch größer ist als meine Liebe!«

Ein böser Gedanke, der danach drängte, sich sofort zu äußern, flammte auf seinem Gesicht auf.

»Nun, deine Liebe ist vom Haß schwer zu unterscheiden«, versetzte der Fürst lächelnd. »Wenn sie aber vergeht, wird das Unglück vielleicht noch schlimmer sein. Ich kann dir schon jetzt sagen, Bruder Parfen …«

»Daß ich sie umbringen werde?«

Der Fürst zuckte zusammen.

»Daß du sie grimmig hassen wirst für diese deine jetzige Liebe und für all die Qual, die du jetzt ausstehst. Für mich ist das allerwunderbarste, wie es zugeht, daß sie wieder bereit ist, dich zu heiraten. Als ich es gestern hörte, wollte ich es kaum glauben, und es wurde mir ganz schwer ums Herz. Sie hat sich ja schon zweimal von dir losgemacht und ist unmittelbar vor der Trauung davongelaufen; also hat sie doch ein Gefühl dafür, was ihr bevorsteht! … Was in aller Welt reizt sie jetzt an dir? Etwa dein Geld? Das ist Unsinn. Und du hast ja auch wohl von deinem Geld schon ein gut Teil vergeudet. Oder möchte sie überhaupt nur einen Mann bekommen? Aber einen Mann könnte sie doch auch von dir abgesehen mit Leichtigkeit erlangen. Und jeder andere wäre besser als du, weil du sie vielleicht geradezu umbringen wirst und sie das schon jetzt wohl nur zu gut weiß. Oder weil du sie so heftig liebst? Wirklich, das könnte der Grund sein. Ich habe mir sagen lassen, daß es Frauen gibt, die gerade so geliebt zu werden wünschen … aber …«

Der Fürst brach ab und versank in Nachdenken.

»Warum hast du wieder über das Porträt meines Vaters gelächelt?« fragte Rogoshin, der jede Veränderung in dem Gesicht des Fürsten, jede darüber hinhuschende Regung mit der größten Aufmerksamkeit beobachtete.

»Warum ich gelächelt habe? Es kam mir der Gedanke, wenn dir dieses Unglück nicht zugestoßen und diese Liebe nicht über dich gekommen wäre, dann würdest du vielleicht genauso werden wie dein Vater, und zwar in sehr kurzer Zeit. Du würdest allein und wortkarg in diesem Haus sitzen mit einer gehorsamen, schweigsamen Frau, würdest nur selten und in strengem Ton reden, keinem Menschen trauen, den freundschaftlichen Verkehr mit Menschen auch gar nicht vermissen und nur schweigend und mit finsterer Miene Geld zusammenhäufen. Höchstens würdest du gelegentlich die Bücher der Altgläubigen loben und dich für das Bekreuzigen mit zwei Fingern interessieren, und auch das vielleicht erst, wenn du alt geworden wärest …«

»Spotte nur! Ganz genau dasselbe hat sie neulich gesagt, als sie ebenfalls dieses Porträt betrachtete! Es ist erstaunlich, wie ihr in allen Dingen ein und derselben Ansicht seid …«

»Ist sie denn schon bei dir gewesen?« fragte der Fürst lebhaft interessiert.

»Ja. Sie betrachtete das Porträt lange und stellte viele Fragen über den Verstorbenen. ›Du würdest ganz genau so sein‹, sagte sie endlich lächelnd zu mir. ›Du hast starke Empfindung die Hand. ›Deine Mutter‹, sagte sie, ›hat gewiß viel Leid zu ertragen gehabt.‹ Als sie dieses Buch hier in meinem Zimmer sah, wunderte sie sich und sagte: ›Was treibst du denn hier? Du liest russische Geschichte?‹ (Sie hatte aber einmal in Moskau selbst zu mir gesagt: ›Du solltest doch ein bißchen für deine Bildung tun und wenigstens Solowjows Russische Geschichte lesen, du weißt ja rein gar nichts!‹) ›Das ist recht von dir‹, sagte sie, ›lies das nur weiter! Ich werde dir selbst ein Verzeichnis der Bücher aufstellen, die du in erster Linie lesen mußt, ist es dir recht?‹ Niemals, niemals vorher hatte sie so zu mir gesprochen, so daß ich ganz erstaunt war; zum erstenmal konnte ich wieder frei aufatmen.«

»Ich freue mich darüber sehr, Parfen«, erwiderte der Fürst mit warmem Gefühl, »sehr freue ich mich. Wer weiß, vielleicht bringt euch Gott doch noch zueinander.«

»Das wird nie geschehen!« rief Rogoshin heftig.

»Höre, Parfen, wenn du sie so liebst, möchtest du dann nicht ihre Achtung verdienen? Und wenn du das möchtest, hoffst du dann nicht, daß es dir gelingen wird? Ich habe vorhin gesagt, daß es mir ein wunderbares Rätsel ist, warum sie dich heiraten will. Aber obwohl ich dies Rätsel nicht lösen kann, so zweifle ich doch nicht daran, daß jedenfalls ein zureichender, vernünftiger Grund vorhanden sein muß. Von deiner Liebe ist sie überzeugt, aber wahrscheinlich ist sie auch davon überzeugt, daß du mancherlei gute Eigenschaften besitzt. Es kann ja nicht anders sein! Das, was du soeben gesagt hast, bestätigt es. Du sagst selbst, daß sie es möglich gefunden hat, mit dir in einem ganz andern Ton zu sprechen als dem, in dem sie früher mit dir verkehrt und geredet hat. Du bist mißtrauisch und eifersüchtig; daher übertreibst du alles, was du Schlechtes bemerkst. Sie denkt doch offenbar nicht so schlecht von dir, wie du annimmst. Sonst liefe ja, wenn sie dich heiratete, dies auf dasselbe hinaus, wie wenn sie mit Bewußtsein ins Wasser ginge oder sich ans Messer lieferte. Ist denn das möglich? Wer tut denn das mit Bewußtsein?«

Mit bitterem Lächeln hörte Parfen die warmen Worte des Fürsten an. Seine Überzeugung schien bereits unerschütterlich festzustehen.

»Mit was für schrecklichen Augen du mich jetzt ansiehst, Parfen!« rief der Fürst erschrocken.

»Ins Wasser gehen oder sich ans Messer liefern!« sagte dieser endlich. »Hehe! Eben deshalb heiratet sie mich ja, weil sie als meine Frau bestimmt mit dem Messer rechnet! Hast du denn wirklich noch nicht begriffen, Fürst, was hier vorliegt?«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Nun, vielleicht verstehst du es wirklich nicht, hehe! Man sagt ja von dir, du wärest nicht so ganz… hm. Sie liebt einen andern, begreif das doch! Geradeso, wie ich sie jetzt liebe, geradeso liebt sie jetzt einen andern. Und dieser andere, weißt du, wer das ist? Das bist du! Na, das hast du nicht gewußt, nicht wahr?«

»Ich?«

»Ja, du. Sie hat sich gleich damals an ihrem Geburtstag in dich verliebt. Aber sie denkt, sie könne dich nicht heiraten, weil sie dir Schande machen und dir dein ganzes Leben verderben würde. ›Man weiß ja‹, sagte sie, ›was ich für eine bin.‹ Und bei dieser Auffassung ist sie bis zu diesem Augenblick geblieben. Das hat sie mir alles ganz offen ins Gesicht gesagt. Sie fürchtet, dich zu entehren und ins Verderben zu bringen; aber bei mir kommt so etwas natürlich nicht in Betracht, mich kann sie heiraten. Da sieht man, wie sie mich achtet; das ist auch bemerkenswert!«

»Aber wie geht es zu, daß sie von dir zu mir geflüchtet ist, und…von mir …«

»Und von dir zu mir! Hehe! Was hat sie nicht alles für Einfälle! Sie ist jetzt ganz wie im Fieber. Sie schreit mich an: ›Ich heirate dich, gerade wie wenn ich ins Wasser gehe. Nur recht schnell Hochzeit!‹ Sie treibt selbst zur Eile, bestimmt den Tag, und wenn die Zeit heranrückt, erschrickt sie, oder es kommen ihr andere Gedanken; Gott weiß, wie’s zusammenhängt, aber du hast es ja selbst gesehen: sie weint und lacht und wird wie vom Fieber geschüttelt. Und was ist dabei Wunderbares, daß sie auch von dir weggelaufen ist? Sie ist damals von dir weggelaufen, weil es ihr selbst zum Bewußtsein kam, wie stark sie dich liebt. Bei dir zu bleiben, das ging über ihre Kraft. Du hast vorhin gesagt, ich hätte sie damals in Moskau wieder ausfindig gemacht; das ist nicht richtig, sie kam aus eigenem Antrieb von dir zu mir gelaufen: ›Bestimm einen Tag‹, sagte sie, ›ich bin bereit! Laß Champagner bringen! Wir wollen zu den Zigeunerinnen fahren!‹ schrie sie… Und wenn ich nicht gewesen wäre, so hätte sie sich schon längst ins Wasser gestürzt, das kann ich bestimmt sagen. Sie stürzt sich nur deswegen nicht hinein, weil ich ihr vielleicht noch schrecklicher bin als das Wasser. Aus purem Grimm wird sie mich heiraten … Wenn sie mich heiratet, so kann ich mit aller Sicherheit sagen, daß sie es aus Grimm tut.«

»Aber wie kannst du nur… wie kannst du nur …«, rief der Fürst, ohne den Satz zu beenden. Er blickte Rogoshin erschrocken an.

»Warum sprichst du nicht zu Ende?« fragte dieser lächelnd. »Aber wenn du willst, so werde ich dir sagen, was du in diesem Augenblick im stillen denkst: ›Wie kann sie unter solchen Umständen seine Frau werden? Wie kann man das zulassen?‹ Ich weiß, daß du das denkst…«

»Ich bin nicht deswegen hergereist, Parfen; ich sage dir, so etwas ist mir nicht in den Sinn gekommen…«

»Es ist ja möglich, daß du nicht deswegen hergereist bist und daß dir so etwas nicht in den Sinn gekommen war, aber nun wird sich der Zweck nachträglich ergeben, hehe! Nun genug! Warum bist du so bestürzt? Solltest du wirklich nichts davon gewußt haben? Du setzt mich in Erstaunen!«

»Das ist bei dir nur Eifersucht, Parfen, das ist eine Krankheit, du übertreibst das alles maßlos…«, murmelte der Fürst in größter Erregung. »Was hast du denn?«

»Laß das liegen!« sagte Parfen und riß dem Fürsten hastig ein Messer aus der Hand, das dieser vom Tische aufnahm, wo es neben dem Buch gelegen hatte, und tat es wieder auf seinen früheren Platz.

»Mir ist, als hätte ich es bei der Ankunft in Petersburg gewußt, als hätte ich eine Vorahnung gehabt…«, fuhr der Fürst fort. »Ich wollte nicht herfahren! Ich wollte diese ganze Sache vergessen und mir aus dem Herzen reißen! Nun, leb wohl… Aber was hast du denn?«

Während des Sprechens hatte der Fürst in der Zerstreutheit dasselbe Messer wieder vom Tisch genommen, und nun nahm Rogoshin es ihm zum zweitenmal aus der Hand und warf es auf den Tisch. Es war ein Messer von ganz einfacher Gestalt, mit einem Griff aus Hirschhorn, nicht zum Zusammenklappen, mit einer etwa dreieinhalb langen und entsprechend breiten Klinge.

Als Rogoshin sah, daß der Fürst stutzig darüber wurde, weil ihm dieses Messer zweimal aus der Hand gerissen ward, ergriff er es grimmig und ärgerlich, legte es in das Buch und schleuderte das Buch auf einen anderen Tisch.

»Du schneidest damit wohl die Seiten auf?« fragte der Fürst, aber zerstreut, als sei er immer noch in Gedanken versunken.

»Ja, freilich.«

»Es ist ja ein Gartenmesser!«

»Ja. Kann man denn die Seiten nicht auch mit einem Gartenmesser aufschneiden?«

»Aber es…es ist ganz neu.«

»Na, was ist denn dabei, daß es neu ist? Darf ich mir etwa nicht ein neues Messer kaufen, sobald ich will?« schrie Rogoshin endlich in einer Art Raserei; seine Gereiztheit war mit jedem Wort ärger geworden.

Der Fürst zuckte zusammen und blickte ihn aufmerksam an.

»Aber wir sind auch die Richtigen!« sagte er lachend; er war nun wieder völlig zur Besinnung gekommen. »Sei mir nicht böse, Bruder, wenn mir der Kopf so schwer ist wie jetzt, und dazu noch diese Krankheit… ich werde dann ganz zerstreut und komisch. Ich wollte überhaupt nicht danach fragen… ich weiß schon nicht mehr, um was es sich handelte. Leb wohl!«

»Nicht dort!« sagte Rogoshin.

»Ich habe vergessen, durch welche Tür ich hereingekommen bin!«

»Hier, hier, komm, ich werde dir den Weg zeigen.«

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Kapitel 2

II

Der General Jepantschin wohnte in seinem eigenen Hause, etwas seitwärts von der Litejnaja, nach der Preobrashenskij-Kathedrale zu. Außer diesem stattlichen Hause, von dem fünf Sechstel vermietet waren, besaß General Jepantschin noch ein gewaltiges Haus in der Sadowaja, das gleichfalls einen sehr hohen Ertrag brachte. Außer diesen beiden Häusern hatte er dicht bei Petersburg ein sehr bedeutendes, einträgliches Gut und ferner im Petersburger Kreise eine Fabrik. In früheren Zeiten hatte General Jepantschin, wie allgemein bekannt war, sich auch an Branntweinpachtungen beteiligt. Jetzt war er Mitglied mehrerer solider Aktiengesellschaften und hatte dort eine sehr gewichtige Stimme. Er galt als ein Mann mit großem Vermögen, ausgedehnter Tätigkeit und einflußreichen Verbindungen. darstellt, ein Lebensalter, von dem eigentlich erst das richtige Leben beginnt. Seine Gesundheit, seine frische Gesichtsfarbe, die kräftigen, wenn auch schwarzen Zähne, der stämmige, untersetzte Körperbau, der ernste Ausdruck morgens im Dienste und die heitere Miene abends beim Kartenspiel oder bei seiner Erlaucht: all dies trug zu seinen gegenwärtigen und künftigen Erfolgen bei und bestreute den Lebensweg Seiner Exzellenz mit Rosen.

Der General erfreute sich einer blühenden Familie. Allerdings gab es hier für ihn nicht lauter Rosen; aber dafür war so manches da, worauf schon seit längerer Zeit die wichtigsten Hoffnungen und Bestrebungen Seiner Exzellenz in ernster, herzlicher Empfindung gerichtet waren. Und welche Bestrebungen im Leben könnten auch wichtiger und heiliger sein als die elterlichen? Woran soll jemand sein Herz hängen, wenn nicht an die Familie? Die Familie des Generals bestand aus seiner Gattin und drei erwachsenen Töchtern. Der General hatte in sehr jugendlichem Alter geheiratet, als er noch im Range eines Leutnants stand, und zwar ein mit ihm fast gleichaltriges Mädchen, das weder Schönheit noch Bildung besaß und ihm nur fünfzig Seelen mitbrachte, die allerdings als Grundlage für die weitere günstige Entwicklung seiner Vermögensverhältnisse dienten. Aber der General murrte in der Folgezeit nie über seine frühe Heirat, betrachtete sie nie als einen unglücklichen Jugendstreich, und seine Gattin schätzte er so hoch und fürchtete sich vor ihr manchmal so sehr, daß er sie sogar liebte. Die Generalin stammte aus der fürstlichen Familie Myschkin, einer zwar nicht glänzenden, aber sehr alten Familie, und war auf ihre Herkunft sehr stolz. Eine damals einflußreiche Persönlichkeit, einer jener Gönner, welche die Gönnerschaft nichts kostet, hatte die Freundlichkeit, sich für die Ehe der jungen Prinzessin zu interessieren. Er öffnete dem jungen Offizier ein Türchen zur Karriere und gab ihm einen Stoß nach vorwärts; der aber hätte gar nicht einmal eines Stoßes, sondern nur eines einzigen Gnadenblickes bedurft – er wäre nicht zugrunde gegangen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verlebten die Gatten die ganze Zeit ihrer langen Ehe in voller Einmütigkeit. Schon in sehr jungen Jahren hatte es die Generalin verstanden, als eine geborene Prinzessin und als die Letzte ihres Geschlechts, vielleicht auch durch ihre persönlichen Eigenschaften, einige sehr hochgestellte Gönnerinnen zu finden. In der Folgezeit begann sie bei dem Reichtum und dem bedeutenden Dienstrang ihres Gatten sich in diesem hohen Kreis sogar einigermaßen einzuleben.

In diesen letzten Jahren waren die Generalstöchter alle drei herangewachsen und herangereift: Alexandra, Adelaida und Aglaja. Allerdings trugen sie alle drei nur den Namen Jepantschin; aber mütterlicherseits waren sie doch von fürstlicher Abkunft; sie hatten eine bedeutende Mitgift und einen Vater, der vielleicht Aussicht hatte, später noch eine sehr hohe Stelle zu erhalten, und, was ebenfalls sehr wichtig war, sie waren alle drei recht hübsch, auch die älteste, Alexandra, nicht ausgenommen, die bereits fünfundzwanzig Jahre alt war. Die mittlere war dreiundzwanzig, und die jüngste, Aglaja, eben erst zwanzig geworden. Diese jüngste war sogar eine wirkliche Schönheit und begann schon in der Gesellschaft großes Aufsehen zu erregen. Aber auch das war noch nicht alles: alle drei zeichneten sich durch Bildung, Verstand und Talente aus. Es war bekannt, daß sie einander innig liebten und sich gegenseitig in jeder Hinsicht behilflich waren. Man sprach sogar von gewissen Opfern, die die beiden älteren zugunsten der jüngsten, die der Abgott des ganzen Hauses war, gebracht haben sollten. In Gesellschaft neigten sie nicht dazu, sich vorzudrängen, sondern waren sogar allzu bescheiden. Niemand konnte ihnen den Vorwurf der Hoffart oder des Dünkels machen; aber doch wußte man, daß sie ihren Stolz hatten und ihren eigenen Wert kannten. Die älteste war musikalisch, die mittlere eine begabte Malerin; aber davon wußte viele Jahre lang fast niemand, und es war erst in der letzten Zeit und nur zufällig an die Öffentlichkeit gekommen. Kurz, es wurde über sie außerordentlich viel Lobendes gesprochen. Indessen fehlte es auch nicht an Übelwollenden. Mit Schrecken redeten diese davon, wie viele Bücher die jungen Damen gelesen hätten. Mit dem Heiraten hatten sie es nicht eilig; sie legten zwar Wert auf den Verkehr in einem gewissen Gesellschaftskreise, aber alles nur mit Maßen. Das war um so bemerkenswerter, als jedermann die Richtung, den Charakter, die Ziele und die Wünsche ihres Vaters kannte.

Es war schon gegen elf Uhr, als der Fürst an der Wohnung des Generals klingelte. Der General wohnte im zweiten Stockwerk und hatte eine ziemlich bescheidene, wiewohl seinem Range entsprechende Wohnung. Dem Fürsten wurde von einem Diener in Livree geöffnet, und es bedurfte langer Auseinandersetzungen mit diesem Menschen, der ihn und sein Bündelchen gleich von Anfang an mißtrauisch betrachtete. Endlich, nachdem er ihm wiederholt auf das bestimmteste erklärt hatte, daß er wirklich Fürst Myschkin sei und unbedingt den General in einer notwendigen Angelegenheit sprechen müsse, führte ihn der erstaunte Diener in ein kleines Vorzimmer vor dem eigentlichen, beim Arbeitszimmer gelegenen Empfangszimmer und übergab ihn dort einem andern Diener, der vormittags in diesem Vorzimmer den Dienst versah und dem General die Besucher anzumelden hatte. Dieser zweite Diener trug einen Frack, war über vierzig Jahre alt und hatte eine ernste, wichtige Miene; er stand Seiner Exzellenz zur speziellen Verfügung, wenn derselbe sich im Arbeitszimmer befand, und war sich infolgedessen seines Wertes bewußt.

»Warten Sie im Empfangszimmer, und lassen Sie Ihr Bündelchen hier!« sagte er, indem er sich langsam und würdevoll in seinen Lehnstuhl setzte und mit einem strengen, erstaunten Blick den Fürsten ansah, der sich ebendort mit seinem Bündelchen in der Hand neben ihm auf einen Stuhl niederließ.

»Wenn Sie erlauben«, sagte der Fürst, »möchte ich lieber hier bei Ihnen warten; was soll ich dort so ganz allein?«

»Im Vorzimmer können Sie nicht bleiben, da Sie ein Besucher, das heißt ein Gast, sind. Wollen Sie zum General selbst?«

Der Diener konnte sich offenbar nicht mit dem Gedanken befreunden, daß er einen solchen Besucher vorlassen solle, und hielt es daher für gut, ihn noch einmal zu fragen.

»Ja, ich habe ein Anliegen …«, begann der Fürst.

»Ich frage Sie nicht, von welcher Art Ihr Anliegen ist; meine Sache ist nur, Sie zu melden. Aber ohne den Sekretär kann ich nicht hingehen und Sie melden.«

Das Mißtrauen dieses Mannes schien immer mehr zu wachsen: der Fürst war doch auch dem Typ der täglichen Besucher gar zu unähnlich. Zwar kam es ziemlich oft, fast täglich, zu bestimmter Stunde vor, daß der General, namentlich in Geschäftsangelegenheiten, Gäste empfing, die manchmal sehr verschiedenartig aussahen; aber trotz dieser Gewohnheit und der recht weitherzigen Instruktion war der Kammerdiener in großem Zweifel; die Vermittlung des Sekretärs schien ihm für die Anmeldung doch unumgänglich notwendig.

»Sind Sie wirklich … aus dem Ausland gekommen?« fragte er schließlich fast unwillkürlich und wurde dabei verlegen. Er wollte vielleicht fragen: ›Sind Sie wirklich Fürst Myschkin?‹

»Ja, ich komme direkt von der Bahn. Mir scheint, Sie wollten fragen, ob ich wirklich Fürst Myschkin bin, taten dies aber aus Höflichkeit nicht.«

»Hm! …« brummte der Diener erstaunt.

»Ich versichere Ihnen, daß ich Sie nicht belogen habe, und daß Sie mit meiner Anmeldung nichts Unverantwortliches begehen. Daß ich aber in solchem Anzug und mit einem Bündelchen herkomme, dabei ist nichts zu verwundern; meine Vermögensverhältnisse sind augenblicklich nicht glänzend.«

»Hm! Ich habe in dieser Hinsicht keine Befürchtungen, sehen Sie! Ich bin verpflichtet, Sie zu melden, und dann wird der Sekretär zu Ihnen herkommen, außer wenn Sie … Aber das ist es eben: außer wenn … Wenn es gestattet ist, möchte ich mir erlauben zu fragen: Sie beabsichtigen nicht, aus Bedürftigkeit den General um eine Unterstützung zu bitten?«

»O nein, seien Sie darüber ganz beruhigt! Ich habe ein anderes Anliegen.«

»Nehmen Sie es mir nicht übel; aber ich fragte im Hinblick auf Ihr Äußeres. Warten Sie auf den Sekretär; der General selbst ist jetzt mit einem Oberst beschäftigt, und dann wird auch der Sekretär kommen … es ist der Sekretär von einer Aktiengesellschaft.«

»Wenn ich also lange werde warten müssen, so möchte ich Sie fragen: kann man hier nicht irgendwo rauchen? Eine Pfeife und Tabak habe ich bei mir.«

»Rau-chen?« versetzte der Kammerdiener, ihn geringschätzig und erstaunt anstarrend, als ob er seinen Ohren nicht traute. »Rauchen? Nein, hier können Sie nicht rauchen, und Sie sollten sich schämen, auch nur daran zu denken. Haha … Sonderbar!«

»Oh, ich meinte ja nicht in diesem Zimmer; daß das nicht geht, weiß ich ja; sondern ich würde irgendwohin gehen, wohin Sie mich weisen würden; denn ich bin daran gewöhnt und habe jetzt schon drei Stunden lang nicht geraucht. Übrigens, wie Sie es für gut halten; wissen Sie, es gibt ein Sprichwort: Kommst du in ein fremdes Kloster, so suche da nicht deine eigene Ordnung einzuführen.«

»Na, wie soll ich Sie melden, so einen eigentümlichen Besucher?« murmelte der Kammerdiener beinah unwillkürlich. »Erstens gehört es sich nicht, daß Sie sich hier aufhalten; Sie sollten im Empfangszimmer sitzen, weil Sie selbst sich als Besucher, das heißt als Gast bezeichnen; da wird Rechenschaft von mir gefordert werden … Wie ist es? Beabsichtigen Sie etwa, bei uns zu wohnen?« fügte er hinzu, noch einmal nach dem Bündel des Fürsten hinschielend, das ihm offenbar keine Ruhe ließ.

»Nein, das beabsichtige ich nicht. Selbst wenn ich dazu aufgefordert würde, würde ich nicht hierbleiben. Ich bin ganz einfach nur hergekommen, um mich mit den Herrschaften bekannt zu machen, weiter nichts.«

»Wie? Um die Bekanntschaft zu machen?« fragte der Kammerdiener erstaunt und mit verdreifachtem Mißtrauen. »Wie konnten Sie dann aber zuerst sagen, Sie kämen mit einem Anliegen?«

»Oh, ich kann kaum sagen: mit einem Anliegen! Das heißt, wenn Sie wollen, habe ich auch ein Anliegen, das aber nur darin besteht, daß ich um einen Rat bitten möchte. In der Hauptsache aber bin ich gekommen, um mich vorzustellen, da ich Fürst Myschkin bin und die Generalin Jepantschina gleichfalls die letzte Fürstentochter aus der Familie Myschkin ist und es außer mir und ihr keine Myschkins mehr gibt.«

»Also sind Sie gar noch ein Verwandter?« rief der erschrockene Diener, den ordentlich ein Schauder überlief.

»Auch das ist kaum richtig. Übrigens, wenn man es genau nimmt, gewiß, wir sind Verwandte, aber so entfernte, daß wir uns eigentlich kaum als solche betrachten können. Ich habe mich einmal vom Ausland aus brieflich an die Generalin gewandt; aber sie hat mir nicht geantwortet. Ich habe es aber doch für notwendig gehalten, bei meiner Rückkehr hier Beziehungen anzuknüpfen. Ihnen aber setze ich das alles jetzt auseinander, um Ihre Zweifel zu zerstreuen; denn ich sehe, Sie beunruhigen sich immer noch. Melden Sie nur, daß Fürst Myschkin da ist, und der Anlaß meines Besuches wird schon aus der Meldung ersichtlich sein. Empfangen sie mich – gut; empfangen sie mich nicht – auch gut, vielleicht sogar sehr gut. Aber ich glaube, sie werden nicht anders können, als mich empfangen; die Generalin wird gewiß wünschen, den einzigen noch lebenden Repräsentanten ihres Geschlechts zu sehen; denn wie ich mit Bestimmtheit gehört habe, legt sie auf ihre Herkunft großen Wert.«

Es hätte scheinen können, daß diese Mitteilungen des Fürsten höchst einfach und natürlich waren; aber je einfacher und natürlicher sie an sich waren, um so absonderlicher kamen sie im gegenwärtigen Augenblick heraus, und der erfahrene Kammerdiener konnte nicht umhin, in ihnen etwas zu finden, was, von einem Menschen zu einem andern Menschen gesagt, durchaus angemessen, aber von einem Gast zu einem Diener gesagt, völlig unangemessen war. Aber da die Diener weit verständiger sind, als die Herrschaften gewöhnlich glauben, so ging es auch dem Kammerdiener durch den Kopf, daß hier zwei Fälle möglich seien: entweder war der Fürst ein Herumtreiber und jedenfalls gekommen, um bei der Herrschaft um ein Almosen zu bitten, oder er war einfach ein Narr und ohne Ehrgefühl, da ein vernünftiger Fürst, der Ehrgefühl besitzt, nicht im Vorzimmer sitzen und mit einem Diener über seine Angelegenheiten reden würde. Hatte er sich also nicht in dem einen wie in dem andern Fall für die Anmeldung zu verantworten?

»Aber Sie sollten sich doch in das Empfangszimmer begeben«, bemerkte er möglichst energisch.

»Wenn ich da gesessen hätte, hätte ich Ihnen das alles ja nicht auseinandersetzen können«, versetzte der Fürst in heiterem Tone, »und somit würden Sie sich immer noch beim Anblick meines Mantels und meines Bündelchens beunruhigen. Aber jetzt halten Sie es vielleicht nicht einmal mehr für nötig, auf den Sekretär zu warten, sondern gehen einfach selbst hin und melden mich an.«

»Ich darf einen Besucher wie Sie ohne den Sekretär nicht anmelden, und außerdem hat der General selbst noch vorhin ausdrücklich verboten, daß er von irgend jemand gestört wird, solange der Oberst da ist; nur Gawrila Ardalionytsch geht ohne Anmeldung hinein.«

»Ist das ein Beamter?«

»Gawrila Ardalionytsch? Nein. Er ist bei einer Aktiengesellschaft angestellt. Legen Sie doch wenigstens Ihr Bündelchen hin!«

»Ich habe selbst schon daran gedacht. Wenn Sie also erlauben, tue ich es. Sagen Sie, soll ich auch den Mantel ablegen?«

»Gewiß! Sie können doch nicht im Mantel zu ihm hineingehen.«

Der Fürst erhob sich, zog sich eilig den Mantel aus und stand nun in einem ziemlich anständigen, gut gearbeiteten, wiewohl schon abgetragenen Jackett da. Über die Weste zog sich eine stählerne Uhrkette hin. An der Kette war eine silberne Genfer Uhr sichtbar.

Obgleich der Fürst ein Narr war (zu dieser Ansicht war der Diener bereits gelangt), schien es dem Kammerdiener des Generals schließlich doch unpassend, dieses Privatgespräch mit dem Besucher länger fortzusetzen, obwohl der Fürst ihm aus irgendeinem Grunde gefiel, natürlich nur so in seiner Art. Aber von einem andern Gesichtspunkte aus erweckte er bei ihm ein entschiedenes, starkes Mißfallen.

»Und wann empfängt die Generalin?« fragte der Fürst, indem er sich wieder auf seinen früheren Platz setzte.

»Das gehört nicht zu meinem Dienst. Sie empfängt zu verschiedenen Zeiten, je nach der Persönlichkeit. Die Schneiderin wird schon um elf Uhr vorgelassen. Gawrila Ardalionytsch wird ebenfalls früher empfangen als andere, sogar zum ersten Frühstück.«

»Hier bei Ihnen ist es in den Zimmern im Winter wärmer als im Ausland«, bemerkte der Fürst, »aber dafür ist es dort auf den Straßen wärmer als bei uns. So ist es einem Russen kaum möglich, im Winter dort in den Häusern zu wohnen, weil er da nicht seine gewohnte Wärme hat.«

»Wird da nicht geheizt?«

»O doch, aber die Häuser sind anders gebaut, das heißt die Öfen und die Fenster.«

»Hm! Sind Sie denn lange im Ausland gereist?«

»Vier Jahre. Übrigens habe ich fast immer an einem Orte stillgesessen, auf dem Lande.«

»Da sind Sie wohl unsere Verhältnisse nicht mehr gewöhnt?«

»Das ist richtig. Können Sie es glauben: ich wundere mich über mich selbst, daß ich das Russischsprechen nicht verlernt habe. Während ich jetzt mit Ihnen spreche, denke ich: ›Aber ich spreche ja noch ganz gut.‹ Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich soviel spreche. Wirklich, seit gestern habe ich fortwährend Lust, russisch zu sprechen.«

»Hm! Haha! Haben Sie früher in Petersburg gewohnt?« (Trotz seiner Vorsätze brachte der Diener es doch nicht fertig, ein so höflich und bescheiden geführtes Gespräch seinerseits abzubrechen.)

»In Petersburg? Fast gar nicht, nur bei Durchreisen. Auch habe ich früher hier eigentlich nichts gekannt; und jetzt gibt es hier, höre ich, so viel Neues, daß, wie man sagt, auch wer vorher alles gekannt hat, jetzt alles von neuem lernen muß. Es wird hier jetzt viel von den Gerichten geredet.«

»Hm! … Die Gerichte. Die Gerichte, ja, ja, die Gerichte. Aber wie ist es dort? Geht es da beim Gericht gerechter zu oder nicht?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe über die unsrigen viel Gutes gehört. Da ist ja nun bei uns die Todesstrafe wieder abgeschafft.«

»Aber dort finden Hinrichtungen statt?«

»Ja. Ich habe in Frankreich bei einer zugesehen, in Lyon. Schneider hatte mich mitgenommen.«

»Hängen sie die Menschen auf?«

»Nein, in Frankreich werden immer die Köpfe abgeschlagen.«

»Schreit denn der Betreffende dabei?«

»Bewahre! Es geht in einem Augenblick vor sich. Sie legen den Menschen hin, und dann fällt mittels einer Maschine (Guillotine heißt sie) so ein breites Messer mit einem schweren, kräftigen Schlag herunter … Der Kopf fliegt ab, ehe man nur mit den Augen blinken kann. Die Vorbereitungen sind allerdings peinlich. Wenn das Urteil verkündet ist, machen sie den Hinzurichtenden zurecht, binden ihn und führen ihn auf das Schafott; das ist schrecklich! Das Volk läuft zusammen, sogar die Weiber, obwohl man es dort nicht gern hat, daß Weiber dabei zusehen.«

»Die haben dabei auch nichts zu suchen.«

»Gewiß, gewiß! Solche Qualen mit anzusehen! … Der Verurteilte war ein gebildeter, unerschrockener, kräftiger Mann, schon bei Jahren. Legros war sein Name. Nun, sehen Sie, ich sage Ihnen, ob Sie es nun glauben oder nicht: als er auf das Schafott heraufkam, da weinte er und sah weiß aus wie ein Blatt Papier. Ist das möglich? Ist das nicht entsetzlich? Wer weint denn vor Angst? Ich hätte nicht gedacht, daß jemand, der kein Kind ist, vor Angst weinen könnte, ein Mann, der nie geweint hat, ein Mann von fünfundvierzig Jahren. Was mag mit der Seele in diesem Augenblick vorgehen? In was für krampfhafte Zuckungen wird sie versetzt? Es ist eine Peinigung der Seele, weiter nichts! Es gibt ein Gebot: ›Du sollst nicht töten!‹, und da tötet man nun, weil jemand getötet hat, auch ihn? Nein, das darf nicht sein! Es ist jetzt schon einen Monat her, daß ich das gesehen habe; aber es ist mir bis heute, als ob ich es vor Augen hätte. Ich habe fünfmal davon geträumt.«

Der Fürst war beim Sprechen aufgelebt, eine leichte Röte war auf sein blasses Gesicht getreten, obgleich er äußerlich so still und ruhig redete wie vorher. Der Kammerdiener hörte ihm mit teilnahmsvollem Interesse zu und wünschte, wie es schien, nicht mehr, sich von dem Gespräch loszumachen; vielleicht war auch er ein Mensch mit Einbildungskraft und einem Hange zum Nachdenken.

»Es ist wenigstens noch gut, daß nicht viel Quälerei dabei ist, wenn der Kopf abfliegt«, bemerkte er.

dem Tode nicht entgehen kann, und eine schlimmere Qual als diese gibt es auf der Welt nicht. Man führe einen Soldaten in der Schlacht einer Kanone gerade gegenüber und stelle ihn dorthin und schieße auf ihn; er wird noch immer hoffen; aber man lese diesem selben Soldaten das Urteil vor, das ihn mit Sicherheit dem Tode weiht, und er wird den Verstand verlieren oder zu weinen anfangen. Wer kann denn glauben, daß die menschliche Natur imstande sei, dies zu ertragen, ohne in Irrsinn zu geraten? Wozu eine solche gräßliche, unnütze, zwecklose Marter? Vielleicht gibt es auch einen Menschen, dem man das Todesurteil vorgelesen hat, den man sich hat quälen lassen, und zu dem man dann gesagt hat: ›Geh hin; du bist begnadigt!‹ Ein solcher Mensch könnte vielleicht erzählen. Von dieser Qual und von diesem Schrecken hat auch Christus gesprochen. Nein, so darf man mit einem Menschen nicht verfahren!«

Obgleich der Kammerdiener all dies nicht hätte so ausdrücken können wie der Fürst, verstand er doch, wenn auch nicht alles, so doch die Hauptsache, was sogar an seiner gerührten Miene wahrzunehmen war.

»Wenn Sie so sehr wünschen zu rauchen«, sagte er, »so würde das vielleicht auch gehen; nur müßten Sie es sehr bald tun. Denn er könnte auf einmal nach Ihnen fragen, und dann wären Sie nicht da. Sehen Sie, dort unter der kleinen Treppe ist eine Tür. Gehen Sie in die Tür hinein, rechts ist ein Kämmerchen; da können Sie rauchen; nur müssen Sie die Luftklappe aufmachen, denn das Rauchen ist hier doch nicht in der Ordnung.«

Aber der Fürst kam nicht mehr dazu fortzugehen und zu rauchen. In das Vorzimmer trat ein junger Mann mit Papieren in der Hand. Der Kammerdiener nahm ihm den Pelz ab. Der junge Mann schielte nach dem Fürsten hin.

»Der Herr da sagt mir, Gawrila Ardalionytsch«, begann der Kammerdiener in vertraulichem, beinah familiärem Ton, »daß er ein Fürst Myschkin und ein Verwandter der gnädigen Frau sei; er ist mit dem Zuge aus dem Ausland gekommen, mit einem Bündelchen in der Hand, aber …« Das Weitere konnte der Fürst nicht verstehen, da der Kammerdiener zu flüstern anfing. Gawrila Ardalionowitsch hörte aufmerksam zu und betrachtete den Fürsten mit großem Interesse; schließlich hörte er nicht mehr weiter zu und trat ungeduldig an ihn heran.

»Sie sind Fürst Myschkin?« fragte er sehr freundlich und höflich. Es war ein sehr schöner junger Mann, ebenfalls etwa achtundzwanzig Jahre alt, schlank, blond, von Mittelgröße, mit einem kleinen Napoleonsbärtchen und einem verständigen, sehr hübschen Gesicht. Nur war sein Lächeln bei all seiner Liebenswürdigkeit ein wenig zu schlau; die Zähne traten dabei ein wenig zu perlenartig heraus; der Blick war trotz all seiner Heiterkeit und scheinbaren Offenherzigkeit etwas zu scharf und forschend.

Der Fürst hatte die Empfindung: ›Wenn er allein ist, sieht er wahrscheinlich ganz anders aus und lacht vielleicht nie.‹

Der Fürst setzte ihm alles, was er in der Geschwindigkeit konnte, auseinander, fast dasselbe, was er schon vorher dem Kammerdiener und noch früher seinem Reisegefährten Rogoshin auseinandergesetzt hatte. Gawrila Ardalionowitsch schien unterdessen in seinem Gedächtnis etwas zu suchen.

»Haben Sie nicht«, fragte er, »vor einem Jahre oder vor noch kürzerer Zeit einen Brief, wie mir scheint, aus der Schweiz an Lisaweta Prokofjewna geschickt?«

»Ganz richtig.«

»Dann kennt man Sie hier und wird sich Ihrer sicherlich erinnern. Sie wollen zu Seiner Exzellenz? Ich werde Sie sofort melden … Er wird gleich frei sein. Nur sollten Sie … Sie sollten bis dahin ins Empfangszimmer gehen … Warum ist der Herr hier?« wandte er sich in strengem Ton an den Kammerdiener.

»Ich sagte schon, der Herr wollte selbst nicht …«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Arbeitszimmers, und ein Offizier mit einem Portefeuille unter dem Arm kam laut redend und sich verabschiedend heraus.

»Du bist hier, Ganja?« rief eine Stimme aus dem Arbeitszimmer. »So komm doch herein!«

Gawrila Ardalionowitsch nickte dem Fürsten zu und begab sich eilig in das Arbeitszimmer.

Ungefähr zwei Minuten darauf öffnete sich die Tür von neuem, und Gawrila Ardalionowitschs wohlklingende, höfliche Stimme rief:

»Bitte treten Sie näher, Fürst.«

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