11

 

Beim Fallen griff Lois wild nach einem Halt, und ihre Finger faßten einen vorspringenden Stein in der Mauer; der Ruck riß ihr beinahe die Arme aus den Schultergelenken, aber für einen Augenblick hatte sie Halt.

 

Sie hörte den Schreckensschrei Lizzys.

 

»Wo bist du? Ach, um Gottes willen, halte dich fest, Lois! Ich hole Hilfe!«

 

Lois blickte nach oben und sah, wie Lizzy ins Zimmer stürzte. Furchtbare Sekunden vergingen. Sie fühlte einen Schmerz in den Schultern, und in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen.

 

Sie konnte sich nicht länger halten. Kam denn niemand, um sie zu retten? Ihre Sinne wollten schwinden, ihre Finger krampften sich um den Stein, aber er bröckelte ab. Sie verlor den Halt und stürzte ab, aber gerade in dem Augenblick, als ihre Finger losließen, packte sie eine große, feste Faust am Handgelenk – sie fühlte, wie sie hinaufgezogen wurde, eine andere Hand ergriff sie und zog sie ganz ins Zimmer. Sie sah in das abstoßende Gesicht des Butlers.

 

Er legte sie auf das Bett, ging dann zu dem Fenster, kniete nieder und schaute hinaus. Das abstürzende Mauerwerk hatte eine kleine Menschenmenge angelockt, wie sie sich bei jeder Gelegenheit tags und nachts in London sammelt. Braime sah einen Polizisten kommen, erhob sich, staubte seine Knie sorgfältig ab und schloß das Fenster. Er sagte kein Wort zu dem Mädchen und verließ schweigend das Zimmer.

 

Lois war dem Zusammenbruch nahe, ihr Gesicht war totenbleich. Aber ihre Angst war nichts gegen das Entsetzen Lizzys, die wie gelähmt von all diesen Ereignissen war, bis das Stöhnen ihrer Freundin sie wieder zu sich brachte.

 

Lois kam aus halber Bewußtlosigkeit wieder zu sich. Sie hatte das Gefühl, als ob sie ertränkt worden sei, dann sah sie wie durch einen Nebel die blasse Lizzy mit einem Glas Wasser in der Hand vor sich stehen.

 

»Du hast Glück gehabt, beinahe –«, stieß sie hervor.

 

Diese Worte erinnerten Lois an etwas – sie hatte sie schon früher gehört. Dann besann sie sich plötzlich auf das Auto, das sie beinahe überfahren hätte, und an die Worte Mike Dorns. Sie richtete sich auf und fand, daß ihre Vorstellung vom Ertrinken nicht ganz illusorisch war, denn Lizzy war sehr verschwenderisch im Verbrauch von Wasser gewesen.

 

Sie stand kaum auf ihren Füßen, als es an der Tür klopfte und der Butler mit einem Polizisten hereinkam.

 

»Der Beamte möchte den Balkon sehen«, sagte Braime und öffnete das Fenster zur Besichtigung.

 

Mit Hilfe seiner Lampe nahm der Polizist eine kurze Untersuchung vor und kam ins Zimmer zurück. Er sah Lois sonderbar an.

 

»Sie sind einer großen Gefahr entronnen, Fräulein«, sagte er. »In der Platte, auf die Sie traten, war ein alter Riß. Ich möchte auch die anderen Balkone sehen«, wandte er sich an den Butler und verschwand mit ihm.

 

Das war das zweite merkwürdige Ereignis in wenigen Tagen ein Schauder packte Lois. Unter welchen bösen Einflüssen stand sie? Zum erstenmal wünschte sie, daß sie wieder zu ihrem behaglichen kleinen Heim in der Charlotte Street zurückkehren könne, und verabschiedete sich mit aufrichtigem Bedauern von Lizzy. Bald darauf kam die Gräfin nach Hause und ging sofort in Lois‘ Zimmer, als sie von dem Unfall hörte. Das Mädchen war gerade dabei, sich auszukleiden.

 

»Ich wußte, daß der Balkon schadhaft war, und sagte dem Butler, daß stets das Schutzgitter festgemacht bleiben solle. Wo ist denn das Gitter?«

 

»Es war diesen Nachmittag noch da. Als ich zum Essen hinunterging, sah ich es nicht mehr«, antwortete Lois. »Ich dachte, es wäre fortgenommen worden, damit die Fenster geschlossen werden können.«

 

Die Gräfin sah nachdenklich aus.

 

»Da steckt mehr dahinter, als ich im Moment zu denken wage. Ich hoffe, Sie können schlafen, Miss Reddle. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid mir das tut. Wie wurden Sie denn gerettet?«

 

Lois erzählte es ihr, und Lady Moron nickte.

 

»Braime? Was hatte er denn um diese Zeit im dritten Stock zu tun?«

 

Sie blickte das Mädchen forschend an und ging dann in ihre eigenen Räume, ohne noch ein Wort zu sagen.

 

Erst um zwei Uhr morgens konnte Lois einschlafen; ihre Nervenkraft war zu Ende, und sie schreckte bei dem geringsten Geräusch auf. Etwas hielt sie wach – sie versuchte sich an etwas zu erinnern. Ein Gedanke arbeitete unaufhörlich in ihrem Unterbewußtsein, wollte an die Oberfläche dringen und ließ sie immer wacher werden. Schon zweimal hatte sie sich Wasser vom Waschtisch geholt, als sie jetzt zu ihrem Bett zurückkam, wußte sie es plötzlich.

 

»Sie müssen Ihre Tür geschlossen halten – selbst in dem Palais der Gräfin von Moron!«

 

Michael Dorns Warnung! Sie ging zu der Tür und suchte nach dem Schlüssel, aber sie fand keinen. Ebensowenig war ein Riegel vorhanden. Schnell drehte sie das Licht an, nahm einen der kleinen Stühle, trug ihn an die Tür und stellte ihn mit der Lehne gegen den Griff. Dann legte sie sich wieder nieder und schlief in wenigen Sekunden ein.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, schien die Sonne in ihr Zimmer. Sie hörte ein leises Klopfen an der Tür, sprang aus dem Bett und zog den Stuhl fort.

 

»Guten Morgen, Fräulein«, sagte das Mädchen liebenswürdig. Sie hätte gar zu gern den Vorfall der letzten Nacht mit ihr besprochen, aber Lois war nicht dazu aufgelegt.

 

»Die Gräfin ist sehr aufgeregt und hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie fragte mich, ob ich Sie wegen des Balkons nicht gewarnt hätte. Ich sagte natürlich, daß ich das getan hätte, aber nur für tagsüber – ich wußte nicht, daß er schadhaft war. Ich bin erst vierzehn Tage hier. Die Gräfin war so lange auf dem Land.«

 

Sie zog die Vorhänge zurück. Lois ging zum Fenster und schaute hinunter. Die ausgezackte Ecke des zerbrochenen Balkons erinnerte sie wieder daran, wie nahe sie dem Tode gewesen war. Sie schauderte zusammen, als sie sich auf die entsetzlichen Augenblicke besann, in denen sie in der Luft gehangen hatte.

 

»Es war der Fehler des Butlers«, sagte das Mädchen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn er entlassen wird.«

 

»Wenn er nicht gewesen wäre, Fräulein, wären Sie überhaupt nicht in Gefahr gekommen! Die Gräfin sagte mir, daß ich Sie heute in das Zimmer des jungen Herrn auf dem unteren Flur umquartieren soll.«

 

»Aber Lord Moron muß doch nicht meinetwegen ausziehen?« fragte Lois erschrocken.

 

Anscheinend brachten die Bediensteten dem jungen Herrn dieselbe Geringschätzung entgegen, mit der ihn seine Mutter behandelte.

 

»Ach, der!« sagte das Mädchen mit einem Achselzucken. »Es ist ganz gleich, wo der schläft, der müßte auch mit der Dachstube zufrieden sein. Er will doch nur Schauspieler werden und mit den verrückten elektrischen Apparaten spielen! Ich bin gespannt, ob die Gräfin ihm erlaubt, so kindisch weiterzuleben.«

 

So war der sonderbare Wunsch des jungen Grafen allgemein bekannt. Abgesehen von der Bestürzung, daß er ihretwegen aus seinem Zimmer ausziehen mußte, war Lois nicht traurig über ihre Umquartierung. Ihre Freude war nach dem Gespräch mit der Gräfin noch größer.

 

Lady Moron hatte eine Vorliebe für leuchtende Farben. An diesem Morgen trug sie ein hellrotes Kleid. Lois dachte, daß es sie alt mache. Sie erwähnte den Zwischenfall nicht, und während der ersten Stunde nach dem Frühstück waren sie mit Briefeschreiben beschäftigt. Lady Moron hatte viel eigene Korrespondenz, außerdem kamen stets noch die üblichen Bettelbriefe hinzu, die auch erledigt werden mußten. Als Lois ihre Arbeit beendet hatte und der Gräfin den letzten Brief zur Unterschrift brachte, sah sie auf.

 

»Spüren Sie irgendwelche bösen Folgen nach diesem schrecklichen Unglücksfall?«

 

»Nein«, lächelte Lois.

 

»Ich habe dem Mädchen gesagt, daß Sie von jetzt ab das Zimmer meines Sohnes bekommen. Selwyn benützt es fast nie, er hält sich lieber in einem kleinen Studierzimmer oben auf und schläft auch fast immer dort. Sind Sie sehr erschrocken?«

 

Lois schüttelte den Kopf.

 

»Oder nervös?«

 

Das Mädchen zögerte.

 

»Letzte Nacht war ich etwas nervös.«

 

»Ich dachte es mir, und ich überlegte, wie ich Sie am besten überreden könnte, doch zu bleiben, Sie gefallen mir, und ich brauche eine Frau im Haus, mit der ich mich einmal vertrauensvoll aussprechen kann.« Sie bewegte sich in ihrem Drehstuhl und sah in Lois‘ Gesicht. »Ich bin nicht gern allein. Ich fürchte mich, allein zu sein.«

 

»Sie fürchten sich, Lady Moron?«

 

Die Gräfin nickte. Aber ihre Stimme verriet nichts von Furcht.

 

»Ich kann Ihnen nicht erklären, warum ich Angst habe, aber ich habe sie – vor gewissen Leuten. Wenn Sie bei mir bleiben wollen, will ich Ihr Gehalt erhöhen, und ich bin auch einverstanden, wenn Ihre Freundin hier im Haus schläft.«

 

»Meine Freundin?« fragte Lois überrascht. »Meinen Sie Miss Smith?«

 

Wieder nickte die Gräfin und wandte ihre dunklen Augen nicht von dem Gesicht des Mädchens.

 

Lois zögerte. »Das würde doch sehr – lästig für Sie sein –«

 

Die Gräfin machte eine rasche Handbewegung.

 

»Ich habe die Sache von allen Seiten überlegt, und wenn es Ihnen und Ihrer Freundin recht ist, werde ich noch ein Bett in Ihr Zimmer stellen lassen. Vielleicht möchten Sie Miss Smith besuchen und ihre Meinung darüber hören? Der Wagen wird in einer Viertelstunde für Sie bereitstehen.«

 

+++

 

Lizzy Smith sah über die Spitze des Drahtgitters vor dem Fenster die vornehme Limousine ankommen und vor der Tür halten. Entgegen allen Regeln der Geschäftsordnung rannte sie aus dem Büro und traf auf halber Treppe mit ihrer Freundin zusammen.

 

In wenigen Minuten erzählte ihr Lois von dem Vorschlag der Gräfin.

 

»Lieber Gott!« sagte Lizzy verblüfft. »Das ist doch nicht dein Ernst?«

 

Sie ergriff Lois am Arm und zog sie die Treppe herauf. »Komm schnell ans Telefon und sag Ihrer Königlichen Hoheit, daß ich um sechs erscheinen werde!«