Kapitel 6

 

6

 

Tony Perelli dachte sehr viel über seinen neuen Mann nach. Jimmy war ihm irgendwie sympathisch, soweit ihm überhaupt irgend jemand sympathisch sein konnte. Dauernd überlegte er, welchen Platz er ihm in seiner Organisation anweisen könnte; leider schien vorerst keine Stellung für ihn zu passen. Für einen Unterhändler besaß er nicht die nötigen Kenntnisse und auch nicht die nötige Ruhe. Sicher würde er nie etwas verraten, aber ebensowenig war er wohl dazu fähig, jemand aus dem Weg zu räumen.

 

Am besten schien Jimmy am Platz zu sein, wenn er in Tonys Wohnung Minn Lee aufmerksam zuhörte. Offensichtlich war er in sie verliebt, aber Tony kümmerte sich nicht viel darum. Er sah es fast als ein Kompliment an, daß ein Mann mit Universitätsbildung den gleichen Geschmack hatte wie er selbst.

 

Auch Kelly interessierte sich für den jungen Mann, und das war in gewisser Weise nicht angenehm. Tony unterschätzte diesen klugen Beamten durchaus nicht, der kaltblütig, schlau und rücksichtslos vorgehen konnte. Daß Kelly eigentlich einen sehr menschenfreundlichen Charakter hatte, ahnten nur wenige Menschen.

 

Meistens erschien er unerwartet auf der Bildfläche. So kam er auch eines Nachmittags in Tonys Wohnung und unterhielt sich dort mit dem Hausherrn und mit Minn Lee, die er recht gern hatte.

 

»Sie führen jetzt ein recht glückliches Leben, Minn Lee?« fragte er.

 

Tony grinste.

 

»Und ob! Ihr Leben hat ja erst begonnen, als sie zu mir kam!«

 

»Und wann wird sie sterben?« entgegnete Kelly, der Minn Lee unverwandt ansah.

 

Tony verzog das Gesicht. Er, dessen Leben ständig bedroht war, fand es sehr unbehaglich, wenn über den Tod einer ihm nahestehenden Person geredet wurde.

 

»Wer ist denn eigentlich dieser junge Mann, den man jetzt dauernd in Begleitung Ihrer Leute sieht?« wechselte Kelly das Thema.

 

Tony spielte den Überraschten.

 

»Ich verstehe nicht …«

 

»Sie verstehen sehr gut – ich meine Mr. McGrath.«

 

»Ach so, Jimmy!« Tony lächelte nachsichtig. »Er ist ein Freund von einem Bekannten und kommt aus New York, um sich unsere Stadt anzusehen.«

 

»Wäre es nicht einfacher gewesen, wenn er in New York geblieben wäre und brieflichen Fernunterricht genommen hätte, wie man einen Mord begeht?«

 

Tony schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

 

»Ein gräßliches Wort – Mord! Manchmal könnte ich fast Angst bekommen; aber dann fällt mir wieder ein, daß ja mein guter Freund Mr. Kelly im Polizeipräsidium sitzt und dafür sorgt, daß alle Verbrecher auf den elektrischen Stuhl kommen.«

 

»Ein beruhigendes Gefühl für mich, für Ihren ruhigen Schlaf zu sorgen«, erwiderte Kelly und wiederholte dann seine Frage nach Jimmys Tun und Treiben.

 

»Ich weiß selbst nicht, was ich mit ihm tun soll. Er stammt aus einer vornehmen Familie und eignet sich eigentlich nicht richtig für unsere Organisation. Vielleicht kann ich ihm einen Posten in Kanada geben.«

 

»Ist er der Nachfolger Vinsettis?« Kelly nahm kein Blatt vor den Mund. »Ich war schon neugierig, wen Sie als Ersatz wählen würden, nachdem Sie Vinsetti erschossen haben.«

 

Mr. Perelli war empört.

 

»Nachdem ich Vinsetti erschossen habe?« wiederholte er aufgebracht. »Wie kommen Sie denn darauf? Ich werde doch nicht Vinsetti, meinen besten Freund, erschießen! Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, dann kann ich Ihnen nur sagen, daß ihn Tom Feeneys Leute auf dem Gewissen haben. Und vor allem dieser verdammte Shaun O’Donnell steckte dahinter!«

 

Kelly wußte längst, daß die Rivalität der beiden Schmuggelorganisationen sich in der letzten Zeit erheblich verstärkt hatte. Er vermutete auch, daß es noch zu bösen Zwischenfällen kommen würde. Feeney war der einzige Bandenführer, der es noch einigermaßen mit Perelli aufnehmen konnte, und es war klar, daß Perelli das ein Dorn im Auge war.

 

Perelli versuchte, mit Shaun O’Donnell Verbindung aufzunehmen, denn zu seinen Gunsten muß gesagt werden, daß er Frieden haben wollte. Sinnloses Blutvergießen war ihm zuwider, und er hätte gern einen hohen Preis dafür gezahlt, wenn ihn seine Gegner in Ruhe hätten arbeiten lassen. Verbindung mit Shaun herzustellen gelang ihm allerdings vorerst nicht. Dem war zu gut bekannt, daß Tony eines Abends Emilio Moretti mit der einen Hand begrüßt und mit der anderen rücksichtslos niedergeknallt hatte.

 

Gegen kleinere Banden war Tony von jeher ohne Hemmungen vorgegangen. Er hatte sie weggewischt, wie die Fliegen von der Wand. Tom Feeney aber war ein Brocken, mit dem auch er nicht so schnell fertig wurde.

 

Perelli bemühte sich also, zu unterhandeln. Jimmy erhielt den Auftrag, mit Shaun O’Donnell zu reden, und traf sich mit ihm beim Mittagessen. Shaun mochte den Jungen recht gern, wenn er auch heimlich über seine Naivität lachte. Keinesfalls sah er eine Gefahr in ihm.

 

Er hörte ernst zu, als Jimmy möglichst diplomatisch das Terrain zu sondieren versuchte. Dann schüttelte er den Kopf.

 

»Unmöglich, mein Junge. Tony und mich bringen Sie nicht unter einen Hut.«

 

»Aber ich versichere Ihnen, daß Tony die Schwierigkeiten zwischen den beiden Organisationen aus der Welt schaffen will.«

 

Shaun sah ihn von der Seite an.

 

»Wenn Sie damit zum Ausdruck bringen wollen, daß er mich auf möglichst gefahrlose Weise umbringen will, können Sie recht haben. Nein, nein, kümmern Sie sich nicht weiter um die Sache. Sie passen sowieso nicht richtig hierher. – Übrigens können Sie Con O’Hara ausrichten, daß er seine Frau von Tony Perelli fernhalten soll. Abgesehen davon ist Con sowieso der nächste, der ins Gras beißen muß, wir haben schon ein Kreuz hinter seinen Namen gemacht.«

 

Er sah Jimmy fast mitleidig an.

 

»Verschwinden Sie doch aus Chicago«, fuhr er dann fort. »Es wäre viel besser, wenn Sie wieder zu Mama gingen.«

 

Jimmy schüttelte den Kopf. Was auch sein Schicksal sein mochte, Minn Lee war das Risiko wert, hierzubleiben. Von Tag zu Tag machte sie tieferen Eindruck auf ihn und beeinflußte ihn immer mehr.

 

*

 

Als Jimmy eines Tages in einem der vornehmsten Hotels in Chicago Tee trank, kam Con O’Hara strahlend auf ihn zu. Er war ein lauter, brutaler Mensch, der viel prahlte, aber trotzdem einen gewissen Sinn für Humor besaß.

 

»Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen, Jimmy …?«

 

Der junge Mann sah Mrs. O’Hara erstaunt an. Sie war verhältnismäßig groß, blond und schlank, mit klaren braunen Kinderaugen in einem Madonnengesicht. Ihre Lippen waren sehr rot, und sie wirkte äußerst attraktiv.

 

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. McGrath«, sagte sie. »Habe schon viel von Ihnen gehört.«

 

Er wünschte fast, daß sie nicht gesprochen hätte, denn ihre sehr gewöhnliche, nachlässige Redeweise paßte ganz und gar nicht zu ihrem Aussehen.

 

Mary betrachtete Jimmy eingehend und mit offensichtlichem Wohlwollen. Er merkte, daß er ihr gefiel, ohne daß sie sich deshalb besonders für ihn interessierte. Von Con hatte sie schon viel über Jimmy gehört und begegnete ihm deshalb auch nicht mit dem Respekt, den sie ihm entgegengebracht hätte, wenn sie ihn für ein wichtiges Mitglied der Organisation gehalten hätte. Auf jeden Fall trug ihr Benehmen dazu bei, daß Jimmy bald bezahlte und sich verabschiedete.

 

Als er das Hotel verließ, stieß er unerwartet auf Tony Perelli, der zum Michigan Boulevard ging. Er hatte vier seiner Leute bei sich; zwei gingen vor und zwei hinter ihm. Jimmy vermutete mit Recht, daß auf der anderen Straßenseite ebenfalls vier seiner Leute sich in gleicher Höhe mit ihm hielten. Perelli machte häufig derartige Exkursionen zu Fuß; meistens um irgendwelche kleineren Besorgungen zu erledigen und sich dabei die nötige körperliche Bewegung zu verschaffen.

 

Jimmy wußte, daß Perelli es nicht liebte, wenn man ihn auf der Straße begrüßte; er folgte deshalb dem großen Mann in respektvollem Abstand. Als sie in den breiten Boulevard einbogen, schoben sich die vier Begleiter näher an Perelli heran. Sie waren noch keine fünfzig Meter weitergekommen, als plötzlich ein geschlossener Wagen an das Trottoir heranfuhr und kurz vor Tony und seinen Leuten stoppte …

 

Bevor Jimmy überlegen konnte, ratterte eine Garbe aus dem Seitenfenster der Limousine. Ein Geschoß pfiff so dicht an Jimmys Gesicht vorbei, daß es ihn fast gestreift hätte.

 

Als er wieder richtig zur Besinnung kam, lag schon einer von Perellis Begleitern auf dem Pflaster. Die drei anderen leerten die Magazine ihrer Pistolen auf den Wagen, der mit einem scharfen Ruck anfuhr, ins Schlingern geriet und sich plötzlich quer auf die Straße stellte.

 

Der lebhafte Verkehr kam zum Stillstand. Die Sirene eines Streifenwagens heulte auf, und in Sekundenschnelle hatten Polizisten das Auto umringt. Einer riß den Wagenschlag auf und zog den Fahrer heraus; er war bewußtlos, sein Gesicht blutüberströmt.

 

Die beiden anderen Leute lagen zusammengesunken auf dem Rücksitz. Tonys Begleiter hatten ihrer Fertigkeit im Schießen alle Ehre gemacht.

 

Eine Stunde später kam Perelli zornig und wütend vom Polizeipräsidium nach Hause. Es kam nicht häufig vor, daß er seine Haltung verlor – aber einer seiner besten Leute war tot, und es bot ihm keine große Genugtuung, daß zwei seiner Gegner im Schauhaus lagen.

 

»Selbstverständlich waren es Tom Feeneys Leute, und Shaun O’Donnell hatte sie dirigiert!«

 

Minn Lee legte ihm vorsichtig einen neuen Verband um eine blutige Schramme an seiner Hand.

 

»Ja, so geht es, Jimmy«, fuhr er etwas ruhiger fort. »Heute morgen schickte mir Shaun eine Nachricht, daß er die Absicht hätte, sich mit mir in aller Ruhe über die Beilegung unserer Streitigkeiten zu unterhalten. Und heute nachmittag versucht er, mich umlegen zu lassen … Das Schlimmste aber ist, daß der Kerl Minn Lee schlechtgemacht hat. Und Sie glauben gar nicht, auf welch üble Weise, Jimmy!«

 

Der junge Mann starrte ihn an.

 

»Aber warum denn?« fragte er aufgebracht. »Minn Lee hat ihm doch nichts getan …«

 

»Ich weiß es aber ganz genau«, wiederholte Perelli. »Werde Ihnen das später erklären – jetzt möchte ich einmal mit Ihnen sprechen.« Er zog Jimmy auf den Dachgarten hinaus.

 

»Sie müssen noch einmal mit O’Donnell reden, Jimmy. Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, daß Sie ihm einen Vorschlag zu machen hätten. Erklären Sie ihm, daß ich nichts von Ihrem Anruf weiß, daß Sie aber ein Mittel gefunden hätten, alles wieder ins richtige Lot zu bringen.«

 

Es dauerte fast zwei Stunden, bevor Jimmy endlich O’Donnell telefonisch erreichen konnte. Shaun war in den letzten Tagen übervorsichtig geworden, und seine ersten Worte klangen nicht gerade ermutigend.

 

»Wenn Sie es nicht wären, Jimmy, würde ich offen sagen, Sie sollen sich zum Teufel scheren.«

 

»Können wir uns nicht irgendwo treffen? Ich glaube, daß ich Ihnen etwas recht Interessantes mitteilen kann.«

 

Ein kurzes Schweigen folgte.

 

»Glaubt Perelli etwa, daß ich etwas mit der heutigen Schießerei zu tun habe?« fragte Shaun dann. In seiner Stimme lag ein ungewöhnlich ängstlicher Ton.

 

»Wieso?« erwiderte Jimmy zögernd. »Ich glaube schon.«

 

Diese unerwartete Offenheit verblüffte Shaun O’Donnell und machte ihn neugierig und unvorsichtig.

 

»Schön, treffen wir uns. Kommen Sie heute abend um zehn an die Ecke der Michigan Avenue und der Achtundvierzigsten Straße. Bringen Sie niemand mit, Jimmy – ich traue Ihnen. Viel wird bei unserer Unterhaltung allerdings wohl nicht herauskommen.«

 

Jimmy berichtete über den Inhalt des Gesprächs, und Tony klopfte ihm auf die Schulter.

 

»Das haben Sie gar nicht übel gemacht. Also, nehmen Sie den kleinen Sportwagen und warten Sie an der vereinbarten Stelle. Con kann sich auf den Boden des Wagens kauern, so daß ihn keiner sieht. Wahrscheinlich werden Sie ihn aber gar nicht brauchen.«

 

Jimmy schaute ihn verständnislos an.

 

»Ich verstehe nicht recht – was soll ich denn tun?«

 

Perelli sah ihn kalt an, zog einen Browning aus der Tasche und gab ihn Jimmy.

 

»Stecken Sie ihn in die Brusttasche Ihres Jacketts, Jimmy, und schießen Sie ohne Zögern.«

 

Tiefes Schweigen. Jimmys Gesicht wurde weiß.

 

»Was soll ich tun?« brachte er schließlich kaum verständlich hervor.

 

»Sie sollen Shaun O’Donnell über den Haufen schießen!«

 

Kapitel 7

 

7

 

Jimmy McGrath kam erst wieder zu sich, als er die Tür zu seinem Zimmer aufschloß. Er wußte nicht, wie er nach Hause gekommen war, und auch jetzt bewegte er sich noch wie im Traum.

 

Er sollte einen Menschen ermorden, und zwar kaltblütig und mit voller Überlegung. Einen Mann, der ihm vertraute!

 

Verzweifelt ließ er sich auf einen Stuhl fallen, stützte den Kopf in die Hände und grübelte. Die Situation kam ihm völlig unwahrscheinlich vor – aber so sehr er sich auch bemühte, Klarheit in seine Gedanken zu bringen, ließ sich doch an der Tatsache nicht rütteln, daß er vielleicht bald ein Mörder war. Sollte er Shaun warnen? Das wäre einfach genug gewesen. Aber was dann? Tony Perelli würde es doch herausbekommen, und dann gab es nur eine Strafe.

 

Aber es war nicht die Furcht vor Strafe, die Jimmy zurückhielt, sondern das Gefühl, daß er Tony Perelli verpflichtet war. Er wußte gut genug, daß er sich völlig in seine Hand gegeben hatte, und wenn sich auch alles in ihm gegen eine solche Tat aufbäumte, sah er sich doch zu absolutem Gehorsam gezwungen.

 

So weit war es also jetzt mit ihm gekommen. Nun, wenn es ihm gelang, Shaun O’Donnell zu töten, würden Feeneys Leute ein schwarzes Kreuz hinter seinen Namen machen. Er lachte gequält bei diesem Gedanken; auch das flößte ihm keine Furcht mehr ein. Wenn er Shaun tötete, hatte auch er den Tod verdient.

 

Es klopfte an seiner Tür; er sprang auf, ging in die kleine Diele und öffnete.

 

Draußen stand O’Hara. Er trug einen neuen grauen Anzug; den Hut hatte er aus der Stirn geschoben; im Mund hing seine Zigarre.

 

»Beschäftigt?« fragte er.

 

Jimmy öffnete die Tür ganz und ließ ihn herein.

 

»Was, hier wohnen Sie?« Er sah sich kopfschüttelnd, in dem einfachen Raum um. »Nein, das ist wirklich nichts für einen Mann, der zu Perellis Organisation gehört. Na, ich denke, daß Ihnen Tony bald eine schönere Wohnung einrichten wird.«

 

Nachlässig setzte er sich auf den Tisch und betrachtete Jimmy neugierig. »Fertig für heute abend?«

 

Jimmy nickte. Er wollte gleichgültig erscheinen und riß sich zusammen.

 

»Natürlich, ich bin bereit.«

 

»Wenn Sie nachher zu unserer Garage gehen und in den kleinen Sportwagen steigen, dann kümmern Sie sich nicht um den Mann, der auf dem Boden sitzt – das bin nur ich. Feeneys Spitzel haben verdammt scharfe Augen. Die Burschen sind natürlich da, wenn der Wagen aus der Garage fährt, und wenn ich dann neben Ihnen säße, wäre die Geschichte schon verraten.«

 

Con O’Hara war auf seine Art ein kluger Mann, der die Lage genau überschaute. Das kommende Abenteuer bedeutete nichts Besonderes für ihn, er betrachtete es als Arbeit, die erledigt werden mußte wie jede andere.

 

Nachdenklich sah er Jimmy an. Es war nicht das erstemal, daß er einen Anfänger zu begleiten hatte.

 

»Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte er schließlich gutmütig, nahm die Zigarre aus dem Mund und blies den Rauch zur Decke. »Denken Sie nur an die vielen Kollegen, die Shaun O’Donnell schon auf dem Gewissen hat!«

 

Jimmy machte eine ungeduldige Bewegung.

 

»Ich möchte möglichst wenig über die Sache nachdenken.«

 

»Ganz recht, möglichst wenig nachdenken!« stimmte Con bei.

 

Er gab Jimmy noch einige Instruktionen, diktierte ihm einen genauen Zeitplan und ging dann wieder fort, um Tony Perelli über den Erfolg seines Besuches zu unterrichten.

 

Tony war aber nicht zu Hause; wahrscheinlich fuhr er irgendwo mit Minn Lee spazieren. Er benützte dazu einen gepanzerten Wagen; selbstverständlich hielt er keine bestimmten Zeiten für seine Spazierfahrten ein und fuhr auch immer wieder woanders hin.

 

In der Wohnung war wie gewöhnlich Angelo Verona, der Frachtlisten und andere Schriftstücke durchsah, die aus Kanada gekommen waren. Als rechte Hand Tony Perellis wurde er von allen als sein Nachfolger angesehen. Merkwürdigerweise stammte er nicht aus Sizilien; seinen eigentlichen Namen kannte niemand. Er war klug, geschäftstüchtig und besaß großes Organisationstalent.

 

Feeneys und O’Donnells Leute respektierten und fürchteten ihn. Shaun pflegte zu sagen, daß Angelo das gefährlichste Mitglied von Perellis Bande sei; zu dieser Meinung trug die Tatsache bei, daß Angelo ein ausgezeichneter Pistolenschütze war, ein Experte für Maschinengewehre und eine Autorität auf dem Gebiet des Alkoholschmuggels.

 

Der Respekt, den Shaun O’Donnell vor Angelo hatte, war übrigens nicht gegenseitig. Angelo konnte keine Iren leiden, und aus diesem Grund war ihm auch Con O’Hara unsympathisch.

 

»Ist der Chef zu Hause?« fragte Con, ließ sich in dem bequemsten Sessel nieder und steckte sich eine neue Zigarre an.

 

Angelo sah von seiner Arbeit auf und schüttelte den Kopf.

 

»Ich war eben bei Jimmy McGrath«, erklärte Con. »Aus dem wird niemals ein richtiger Kerl – nicht in einer Million Jahren.«

 

»So, meinen Sie?« erkundigte sich Verona höflich.

 

In diesem Augenblick trat Tony ein. Er nickte Con nachlässig zu, ging zu Angelo und unterhielt sich mit ihm auf italienisch.

 

Con, der diese Sprache nicht verstand, fühlte sich zurückgesetzt.

 

»Könnt ihr euch nicht vernünftig unterhalten?« fragte er.

 

Perelli drehte sich um und sah ihn scharf an.

 

»Wer hat Sie eigentlich aufgefordert, in meine Wohnung zu kommen?«

 

»Ich wollte mit Ihnen über Jimmy sprechen«, erwiderte Con ärgerlich. »Wäre mir lieber, ich könnte den Auftrag ohne ihn erledigen. Der Junge sieht so aus, als ob er beim ersten Schuß umkippte.«

 

Perelli ging langsam zu ihm hinüber, blieb vor ihm stehen und stützte die Hände in die Hüften.

 

»Habe ich gefragt, was Sie möchten? Diesmal ist Jimmy an der Reihe. Sie gehen nur mit, um ihm zu helfen, falls er nervös wird und Shaun Zeit hat, sein Schießeisen zu ziehen. Es handelt sich nicht darum, daß Sie ihn mitnehmen – er nimmt Sie mit. Vergessen Sie das nicht, Con O’Hara!«

 

Das Gesicht des Iren verfinsterte sich noch mehr.

 

»Hab‘ schon verstanden«, knurrte er.

 

Er versuchte noch eine Zeitlang, mit Perelli eine freundlichere Unterhaltung in Gang zu bringen, als ihm das aber nicht gelang, ging er beleidigt fort.

 

Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sahen sich beide schweigend an.

 

»Es ist nicht recht, daß du dem Jungen diesen Auftrag gibst«, sagte Angelo schließlich. »Wenn er Erfahrungen sammeln soll, so gib ihm eine weniger wichtige Aufgabe.«

 

Tony schüttelte den Kopf.

 

»Er gehört immer noch nicht richtig zu uns – und solange er sich nicht auf Schritt und Tritt in acht nehmen muß und weiß, daß Feeneys Leute nur auf ihn warten, kann ich ihm nicht ganz vertrauen.«

 

*

 

Tony fuhr häufig in die Stadt, um in verschiedenen Schwarzbrennereien und Lokalen persönlich nach dem Rechten zu sehen. Für gewöhnlich tat er dies abends, und so waren die Stunden zwischen sechs und neun für Minn Lee sehr langweilig. Jimmys Besuch brachte ihr eine angenehme Zerstreuung.

 

Er war in der letzten Zeit seltener gekommen, obwohl sie ihn merken ließ, daß sie ihn gern hatte. Tatsächlich war er ihr sehr sympathisch; schon deswegen, weil er aus einem Milieu stammte, das sie fast vergessen hatte, seitdem sie die Universität verlassen hatte.

 

»Nett von Ihnen, Jimmy, daß Sie mich wieder einmal besuchen«, begrüßte sie ihn freundlich. »Ich dachte schon, Sie hätten etwas gegen mich …«, erschrocken brach sie ab, als sie den sonderbaren Ausdruck in seinen Zügen sah.

 

»Geht es Ihnen nicht gut?«

 

»Doch, doch – ich wollte nur ein wenig mit Ihnen plaudern …«

 

Sie lächelte und zeigte auf einen Stuhl.

 

»Machen Sie es sich bequem, Jimmy. Tony kommt erst um zehn wieder nach Hause.«

 

Er holte tief Atem. Um zehn Uhr würde sich viel ereignet haben.

 

Es fiel ihm schwer, einen Anfang zu finden, aber schließlich sprach er doch.

 

»Ich wollte Ihnen nur etwas sagen … Kann sein, daß mir etwas zustößt, und dann sollten Sie wissen, daß ich Sie sehr gern gehabt habe. Das klingt so banal – aber es ist so, Sie haben mir sehr viel bedeutet!«

 

»Was meinen Sie damit, daß Ihnen etwas zustoßen könnte, Jimmy?« fragte sie nach einiger Zeit ruhig und zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Nun, Sie wissen ja, was das Leben in Perellis Nähe bedeutet …«

 

»Aber warum sollte Ihnen denn etwas passieren, Jimmy?« Sie verbarg mühsam einen Schrecken, der so groß war, daß sie selbst darüber staunte. »Ist heute abend irgend etwas los …?«

 

Er wollte ihr schon antworten, besann sich dann aber und schüttelte den Kopf.

 

»Nein, nein. Reden wir nicht weiter davon … Ich bin nur ein wenig nervös.«

 

Er stand auf.

 

»Sie wollen schon wieder gehen?« fragte sie verwundert.

 

Er nickte und sah ihr einen Moment lang in die Augen. Dann trat er schnell auf sie zu, nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen. In der, nächsten Sekunde hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen.

 

*

 

Die Garage lag nicht weit entfernt. Er ging zu Fuß dorthin, öffnete mit einem Schlüssel, trat ein und flüsterte Cons Namen.

 

»Leise, Sie Idiot«, zischte eine Stimme.

 

In dem offenen Sportwagen kauerte bereits O’Hara, der eine alte Plane über sich gezogen hatte.

 

Ohne ein weiteres Wort setzte sich Jimmy ans Steuer, fuhr den Wagen aus der Garage, bog nach links ein und erreichte fünf Minuten später die Michigan Avenue.

 

Ein Wagen überholte ihn, hielt sich einen Augenblick auf gleicher Höhe, und einer der Insassen leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht.

 

»Nun, was habe ich gesagt, Jimmy?« Con O’Hara hatte die Plane ein wenig gelüftet und den Vorgang beobachtet. »Sie halten Ausschau nach mir.«

 

»Warum denn gerade nach Ihnen?« Es war das erste Wort, das Jimmy an seinen Begleiter richtete, seitdem sie weggefahren waren.

 

»Nach mir oder nach sonst jemand«, entgegnete Con ungeduldig. »Wenn ich offen an Ihrer Seite gesessen hätte, wäre das der Abschied von Chicago und dem Leben gewesen.«

 

Als sie die Randbezirke der Stadt erreichten, wurden sie noch einmal kontrolliert. Ein zweiter Wagen kam langsam mit aufgeblendeten Scheinwerfern auf sie zu. Jimmy schloß einen Augenblick die Augen.

 

»Jetzt wären wir bald soweit«, flüsterte Con. »Immer ruhig Blut, Jimmy.«

 

Sie kamen zu der verabredeten Stelle, einer verlassenen kleinen Nebenstraße. Das Eckgrundstück war nicht bebaut, und von einem einfachen Bretterzaun umgeben. Jimmy hielt zwanzig Meter weiter. Sein Herz schlug so wild, daß er kaum atmen konnte. Er zog die Pistole aus der Tasche und entsicherte; dann legte er die Waffe neben sich auf den Sitz.

 

Niemand war zu sehen, nur einige Wagen fuhren stadteinwärts.

 

»Können Sie etwas sehen?« fragte Con unter seiner Plane.

 

»Nichts.«

 

Jimmy schaute nach rückwärts. Eine Frau kam auf sie zu, die einen schweren Korb trug. Offenbar war sie eine Hausangestellte. Gleich darauf ging sie vorüber. Und dann sah Jimmy eine Gestalt, die sich im Schatten der Häuser schnell näherte. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er Shaun erkannte.

 

Obwohl seine Beine den Dienst zu versagen drohten, stieg er aus. Seine Rechte umklammerte hinter seinem Rücken die Waffe.

 

»Na, Jimmy, was gibt’s?« Shaun O’Donnell kam auf ihn zu. »Ich habe nur ein paar Minuten für Sie übrig, mein Junge. Es gibt Schwierigkeiten in der Stadt, und …«

 

Jimmy flimmerte es vor den Augen. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, ohne überhaupt zu wissen, was er tat, riß er plötzlich die Pistole hoch und feuerte. Als der erste Schuß vorbeiging, drückte er noch einmal ab. Shaun O’Donnell griff in die Tasche nach seinem Revolver und taumelte zur Seite.

 

»Sie …!«

 

Drei Schüsse donnerten in schneller Folge an Jimmys Ohr vorbei. Con O’Hara zielte kühn, ruhig und sicher. Shaun brach zusammen. Irgendwo hörte man den schrillen Pfiff eines Polizisten.

 

»Schnell zurück!« rief Con und zerrte Jimmy zum Wagen.

 

Er warf sich hinter das Steuer, Jimmy kauerte neben ihm. Er könnte sich nicht mehr rühren und war immer noch keines Gedankens fähig.

 

Shaun O’Donnell war tot – und er hatte ihn auf dem Gewissen. Er stöhnte verzweifelt.

 

Der Wagen nahm mit kreischenden Reifen die Kurven. Con O’Hara war früher Berufsfahrer gewesen und hatte an Rennen teilgenommen.

 

»Ich habe ihn erwischt«, sagte er. »Sie haben natürlich vorbeigeknallt – na, ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus. Meine Erfahrung und meine Nerven hat nicht jeder. Wenn ich einmal jemanden aufs Korn nehme, dann ist’s vorbei! Nehmen Sie doch einen Schluck aus der Flasche …«

 

Jimmy starrte durch die Windschutzscheibe. So oder so – auch er war zum Mörder geworden.

 

Kapitel 2

 

2

 

Von dem Dachgarten mit der venezianischen Balustrade konnte Tony Perelli die ganze Stadt überblicken, in der er der ungekrönte König der Alkoholschmuggler war. Und er liebte sein Königreich Chicago. Endlose Reihen von Autos brachten seine Untertanen täglich zur Arbeit; denn jeder, der an irgendeinem versteckten Plätzchen seiner Wohnung Alkohol lagerte, gehörte zu seinen Untertanen.

 

Es verstieß gegen das Prohibitionsgesetz, In den Vereinigten Staaten war es von 1917-1933 verboten, Alkohol herzustellen oder zu verkaufen. Alkohol herzustellen oder zu verkaufen; jede heimlich in den Keller geschmuggelte Weinkiste oder Schnapsflasche konnte zu Konflikten führen. Im Preis für Alkohol waren die Prozente des Schmugglers ebenso inbegriffen wie die des Pistolenschützen, der die Transporte begleitete. Seitdem es verboten war, hatten die Leute erst recht ihre Vorliebe für hochprozentige Getränke entdeckt. Sie nahmen achselzuckend davon Kenntnis, daß jeder, der den Alkoholschmuggel störte, damit rechnen mußte, erschossen und vom fahrenden Auto aus auf die Straße geworfen zu werden. Wahrscheinlich wären sie aber doch erschrocken, wenn man ihnen gesagt hätte, daß in dem Alkoholpreis auch die Munition der Mörder und die Blumenkränze für die Gräber der Opfer eingerechnet waren.

 

Perelli trat eben in den supervornehm eingerichteten Raum, der zugleich als Frühstücks- und Arbeitszimmer diente. Der japanische Diener hatte gerade den Kaffee gebracht. Nach der Hausordnung, die Perelli festgesetzt hatte, würde Minn Lee erst am Nachmittag erscheinen, und auch Angelo, der vor kurzem eine vornehme Wohnung gemietet hatte, kam erst später.

 

Perelli sah auf die Uhr. Es war erst acht, aber trotzdem erwartete er bereits einen Besucher. Im gleichen Augenblick wurde er durch das leichte Surren eines Summers auf seinem Schreibtisch angemeldet.

 

Red Gallway war die luxuriöse Umgebung nicht sympathisch, und an diesem Morgen fühlte er sich hier noch weniger wohl als sonst, weil er einen beträchtlichen Groll gegen Perelli aufgespeichert hatte. Die ganze Nacht über hatte er sich in seinen Zorn hineingesteigert, aber jetzt, im hellen Tageslicht, fiel es ihm schwer, diese Stimmung aufrechtzuerhalten.

 

»Setz dich, Red, und erzähle, was es im Westen Neues gibt.«

 

»Ich muß etwas wissen, Perelli – und wenn ich es nicht sofort erfahre, dann ist der Teufel los. Verstehst du?«

 

Tony sah ihn neugierig und ziemlich von oben herab an.

 

»Mach dich doch nicht lächerlich. Wirklich zu komisch, wenn du dich aufspielen willst … Aber schön, schieß los!«

 

Red rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her.

 

»Du kennst Leeson – Mike Leeson. Das war mein Freund, Perelli. Und jetzt hat ihn einer über den Haufen geknallt. Ich möchte den Kerl sehen, der das getan hat!«

 

Antonio Perelli lächelte.

 

»Ich habe ihn umgelegt«, sagte er fast gemütlich.

 

Tiefes Schweigen folgte.

 

»Hast du vielleicht etwas dagegen?« erkundigte sich Perelli dann freundlich.

 

Red biß sich auf die Lippen.

 

»Aber das ist doch keine Art, einen so netten Kerl einfach mir nichts, dir nichts … Einen Freund von mir! Mike und ich waren wie Brüder …«

 

»Dann solltest du eigentlich Trauer tragen«, erklärte Perelli gelassen, »denn dein Bruder ist tot.«

 

»Warum hast du das getan?« fragte Red verbissen.

 

Perelli hielt es für nicht der Mühe wert zu antworten.

 

»Sag doch, warum du es getan hast? Mike war ein netter Kerl und hat mir viel geholfen.«

 

»Ich habe es eben für richtig gehalten.«

 

Tony lehnte sich nachlässig auf seinem Stuhl zurück, griff nach der Kaffeetasse, die vor ihm stand, und nahm einen Schluck.

 

»Ja – ich habe es für richtig gehalten. Und wenn ich erst einmal etwas für richtig halte, dann tue ich es auch.«

 

Red nagte an seiner Unterlippe. Er fürchtete Perelli, aber innerlich kochte er vor Wut.

 

»Du hast dich nicht besonders liebenswürdig mir gegenüber verhalten!«

 

Tony nickte.

 

»Na, wenn du willst, kondoliere ich dir. Warst du übrigens im Krankenhaus? Nein? Da liegt gerade ein anderer Freund von dir, der Grieche Ontropolos. Es geht ihm ziemlich schlecht – gestern abend hat ihm jemand mit dem Gummiknüppel eins übergezogen. Möchtest du wissen, warum? Er hat einem meiner Leute Koks verkauft.«

 

Red schwieg.

 

»Und ich will nicht, daß meine Leute trinken oder irgendwelche Rauschgifte nehmen!«

 

»Das brauchst du mir nicht zu sagen. Für mich selber kann ich allein sorgen …«, begann Red.

 

»Sicher kannst du das. Übrigens liegt niemand etwas daran, wenn du es nicht tust. Vor allem aber wirst du nicht dafür bezahlt, daß du für dich selbst sorgst, sondern daß du dich um mich und meine Leute kümmerst. Wenn deine Hände zittern und wenn du nicht ganz klar im Kopf bist, dann ist das schlimm. Wenn du trinkst und die Klappe nicht halten kannst, ist es noch viel schlimmer – denn ich weiß nur zu genau, daß ein Kokainsüchtiger jedes Geheimnis gegen eine entsprechende Menge Koks verkauft. So, nun weißt du es. Und das ist mein letztes Wort – laß die Finger von dem weißen Pulver oder mach, daß du fortkommst.«

 

Red erhob sich.

 

»Schön, in Ordnung, ich gehe!«

 

Ein rätselhaftes Lächeln spielte um Perellis Mundwinkel.

 

»Gut – wie du meinst!«

 

Wenn Red im allgemeinen auch nicht sehr sensibel veranlagt war, so fühlte er doch jetzt fast körperlich die Drohung, die in diesen Worten lag.

 

»Tony, ich bin kein Schuljunge, der sich in jede Ecke stoßen läßt! Und wenn sich zwei Partner nicht mehr miteinander vertragen, dann müssen sie sich eben trennen.«

 

»Da hast du recht«, entgegnete Tony und nickte.

 

Red ging. In seinem Kopf schwirrte es von Plänen. Er hatte verschiedene Tricks des Alkoholgeschäfts gelernt, von denen er nie etwas erfahren hätte, wenn Tony Perelli nicht etwas zu mitteilsam gewesen wäre.

 

Als nächstes ging er zu einem guten Bekannten, der auch der Schmugglerbande angehörte, und lud ihn zum Mittagessen bei Bellini ein. Dort erzählte er ihm alles, was ihm durch den Kopf ging.

 

Victor Vinsetti war ein gutgekleideter junger Mann mit merkwürdig ruhelosen Augen. Bezeichnend für ihn war, daß er immer den Verdacht zu haben schien, daß jemand hinter ihm stände. Nur sehr selten äußerte er eigene Ansichten, verstand dafür aber ausgezeichnet zuzuhören.

 

Er erfuhr, was Red Gallway bedrückte und was mit Mike Leeson passiert war. Red versuchte ihm klarzumachen, wie leicht es sein würde, ein eigenes Schmuggelunternehmen zu starten, Stoff über die Grenze zu bringen und neue Absatzgebiete zu finden. Wenn man nur ein paar tüchtige, smarte Jungen fand, die in den geheimen Kneipen als Vertreter fungierten, konnte man in lächerlich kurzer Zeit ein Vermögen verdienen.

 

Vinsetti hörte interessiert zu, weil er selbst auch schon ähnliche Gedanken gehabt hatte. Seit einiger Zeit befaßte er sich allerdings mit anderen Plänen.

 

»Habe ich recht oder nicht, Vic?« fragte Red am Schluß seiner langen Ausführung.

 

»Natürlich hast du recht – und ich verstehe dich durchaus. Aber die Sache ist doch nicht so einfach, wie du es dir vorstellst. Und auf jeden Fall bist du sehr unvorsichtig, wenn du so viel darüber sprichst.«

 

»Mike Leeson war ein tüchtiger Kerl …«

 

»Mike war gar nichts, höchstens eine große Null«, unterbrach ihn Vinsetti ruhig. »Er ist tot, und es ist auch nicht weiter schade um ihn – ich möchte nur wissen, wie Perelli darüber denkt …«

 

Er dachte intensiv nach, während Red ihn neugierig betrachtete. Vinsetti war selbst ein gefürchteter Pistolenschütze, wenn er auch nicht zu den ganz großen Leuten gehörte. Alle wußten, daß er reich war. Die Pläne, die ihn beschäftigten, bestanden einfach darin, daß er sich vom Alkoholschmuggel zurückziehen wollte – obwohl man sagte, daß dies selten jemand gelänge, der einmal daran beteiligt gewesen war. Auf der ›Empress of Australia‹ war eine Kabine für ihn belegt. Er wollte über Kanada reisen; alles, was wertvoll war, hatte er bereits zu Geld gemacht und stand auch schon wegen einer Villa an der Küste von San Remo in Unterhandlungen. Reds Offenheit war ihm peinlich; besonders weil er wußte, daß jeder zweite Kellner bei Bellini ein Spion war.

 

Noch am gleichen Abend ging er zu Perelli.

 

»Red ist wütend«, erzählte er. »Ich war mit ihm bei Bellini, und er hat mir dauernd etwas vorgejammert.«

 

»Ich möchte keine Schwierigkeiten mit ihm haben«, erwiderte Tony. Dies war zugleich seine Kampfansage und sein Alibi.

 

Immer wenn Red getrunken hatte, verwickelte er sich in Schwierigkeiten. Diesmal versuchte er, durch einen Mittelsmann in Verbindung mit Tom Feeney zu kommen, der den Alkoholschmuggel im südlichen Bezirk kontrollierte. Aber es gelang ihm nur, mit O’Donnell zu sprechen, der Toms Personalchef und Schwager war.

 

In Wirklichkeit war O’Donnell der leitende Kopf der Bande, und das war nach Perellis Ansicht der schwächste Punkt der Tom Feeney-Gesellschaft. O’Donnell war klein, hager und leicht erregbar. Zu schnell mit der Pistole bei der Hand, wie die einen sagten, und unverschämt frech mit seinem Mundwerk, wie andere wissen wollten.

 

Er hörte sich Reds Vorschläge sehr kühl und gelassen an.

 

»Red, Sie haben eigentlich für uns ebensowenig Wert wie für sonst jemand«, erklärte er schließlich sachlich. »Sie nehmen Koks, und Sie saufen. Bei unserem Geschäft kann man solche Leute nicht brauchen. Für Perelli habe ich durchaus nicht viel übrig – aber Schwierigkeiten will ich keine mit ihm haben. Wenn Sie allerdings in seinem Bezirk verkaufen wollen, stellen wir Ihnen genügend Alkohol zur Verfügung.«

 

Am nächsten Tag ereignete sich nichts Besonderes, außer daß Red Gallway nach anderer Richtung hin Anschluß suchte. In der frühen Dämmerung des Winternachmittags stand er im Polizeipräsidium und bat um eine Unterredung mit Kommissar Kelly. Er wollte sich über einen Polizeibeamten beschweren, erklärte er möglichst laut. Das Polizeipräsidium lag in Perellis Bezirk, und Spitzel berichteten ihm alles Wissenswerte.

 

Niemand außer Red wäre in dieser Lage zum Polizeipräsidium gegangen. Schließlich hätte er ja auch die Möglichkeit gehabt, anzurufen und einen Treffpunkt für eine geheime Zusammenkunft zu vereinbaren. Aber wenn Red Gallway Kokain genommen hatte, überlegte er nie lange. Eine Viertelstunde später saß er schon dem Chef der Kriminalpolizei gegenüber.

 

Er wollte seine Geschichte möglichst schlau erzählen und vor allem keine Namen nennen. Offen gab er nur zu, daß er in Lebensgefahr schwebe, und nachdem sich Kommissar Kelly einige Zeit mit ihm unterhalten hatte, war er auch davon überzeugt.

 

Red erzählte Kelly nichts, was Kelly nicht schon wußte; bittere Erfahrungen hatten den Beamten im übrigen gelehrt, daß es völlig sinnlos gewesen wäre, Red beim Wort zu nehmen und ihn als Zeugen in einem Prozeß auftreten zu lassen.

 

Kelly wußte ganz genau, wie und warum Mike Leeson ums Leben gekommen war. Er kannte die Namen der Leute, die den Abtransport der Leiche durchgeführt hatten, genauso wie die Nummer ihres Wagens.

 

Red hätte wahrscheinlich noch einige Stunden geredet, aber Kelly hatte viel zu tun, und an einseitigen Unterhaltungen, bei denen er nichts Neues erfuhr, lag ihm nicht viel.

 

»Wollen Sie bei uns bleiben?« fragte er.

 

Red sah ihn entrüstet an.

 

»Soll das heißen, daß Sie mich in Schutzhaft nehmen wollen? Ich bin groß genug, um auf mich selber aufzupassen. Nein, ich werde mich um den ganzen Laden hier nicht mehr kümmern. Chicago kann mir gestohlen werden – ich habe in andern Städten genug Freunde, die mir weiterhelfen.«

 

Als Red wieder auf die Straße trat, wurde er von drei Leuten beobachtet. Aber nur zwei davon waren Polizeibeamte.

 

»Verliert den Kerl bloß nicht aus den Augen«, hatte der Chef kurz vorher zu ihnen gesagt.

 

An der nächsten Straßenecke begrüßten zwei Männer freudig Gallway und nahmen ihn in die Mitte.

 

»Was fällt Ihnen denn ein?« fragte Red, als sie ihm liebenswürdig auf die Schulter schlugen und sich bei ihm einhängten.

 

»Wenn Sie den Mund aufmachen, knallt’s«, erwiderte der eine in herzlichstem Ton und preßte ihm die Mündung einer Pistole in die Seite.

 

»Sind Sie verrückt, Sie …!«

 

Die Beamten, die Red beschatten sollten, waren noch Neulinge. Sie sahen nur, daß zwei gute Freunde Red begrüßten und mit ihm in ein Auto einstiegen. Es fiel ihnen nichts Besseres ein, als schnell ein Taxi zu nehmen, aber noch bevor sie einen Wagen gefunden hatten, war das andere Auto schon abgefahren und außer Sicht.

 

Red überschaute die Lage nicht sofort. Er war sich nur darüber klar, daß der Mann, der direkt hinter ihm saß, einen harten, kühlen Gegenstand gegen sein Genick drückte. Dabei unterhielt sich dieser Mensch intensiv mit dem Chauffeur über ein Baseball-Match. Die beiden stritten miteinander, ob Südkalifornien oder Columbia gewinnen würde. Der Chauffeur war für Columbia.

 

»Dafür bin ich auch«, versuchte sich Red ängstlich einzuschalten.

 

»Halten Sie bloß die Klappe«, entgegnete der Chauffeur. »Ich kann mich nur wundern, daß Sie nicht heiser sind – Sie haben doch wirklich lange genug mit dem Polypen gequatscht! Möchte wissen, wen Sie alles verpfiffen haben.«

 

»Ich – verpfeifen?« protestierte Red ärgerlich.

 

Die Pistolenmündung preßte sich unbarmherzig gegen sein Genick.

 

»Schnauze!«

 

Sie ließen jetzt die Stadt hinter sich und kamen durch eine verlassene Gegend, in der nur einzelne Baracken standen. Schließlich hielt der Wagen bei einem kleinen Gehölz, das direkt neben der holperigen Straße lag.

 

»Raus mit Ihnen!« befahl der Mann hinter Red. Gallway gehorchte. Das Kokain wirkte jetzt nicht mehr, und er zitterte am ganzen Körper.

 

»Was wollen Sie denn eigentlich von mir?« stieß er mühsam hervor. »Ich habe der Polizei bestimmt nichts verraten! Fahren Sie mich sofort zu Tony. Er wird Ihnen sagen …«

 

Die beiden nahmen ihn wieder zwischen sich und schleppten ihn in das Gehölz.

 

»Wollen Sie mich etwa kaltblütig abknallen?« keuchte Red. »Hören Sie doch …«

 

Die Sicherung einer Pistole klickte. Gleichzeitig mit dem Schuß fiel Red auf die Knie und schwankte. Er hörte weder den ersten noch den zweiten Knall. Der Mann hinter ihm ließ die Pistole in die Tasche gleiten und steckte sich eine Zigarette an. Seine Hand zitterte nicht im geringsten.

 

»Los, fahren wir zurück«, sagte er zu seinem Begleiter. Schon als sie am Stadtrand waren, stritten sie sich wieder herum, ob Kalifornien oder Columbia gewinnen würde.

 

Der Fahrer sah das Polizeiauto als erster. Sowie er das Heulen der Sirene hörte, gab er Gas, daß ihr eigener Wagen einen Satz nach vorn machte.

 

»Nimm das Maschinengewehr – unter dem Sitz!«

 

Der Mann neben ihm kroch nach hinten, um seinem Freund zu helfen. Zusammen stießen sie die Mündung durch das hintere Fenster.

 

»Die beiden Polypen müssen Kelly verständigt und die Beschreibung unseres Wagens durchgegeben haben«, knurrte der Mann, der Red erschossen hatte, und klemmte sich hinter das Maschinengewehr.

 

Der Polizeiwagen kam näher.

 

»Los! Gib’s ihnen!«

 

Rat-a-tat-a-tat-a-tat!

 

Die Windschutzscheibe des anderen Wagens wurde zertrümmert. Er geriet leicht ins Schlingern, fing sich dann aber wieder und folgte ihnen in immer kürzerem Abstand. Die Polizeibeamten erwiderten jetzt das Feuer.

 

Der Mann am Maschinengewehr stieß einen unartikulierten Laut aus und glitt zu Boden. Der andere packte die Waffe und drückte auf den Abzug. Gleich darauf gab es einen scharfen Knall, das Polizeiauto rutschte quer über die Fahrbahn und kam an einem Laternenmast zum Stehen. Ein Reifen war getroffen worden.

 

»Sie sitzen fest!« rief der zweite Mann dem Chauffeur zu. »Ab jetzt, Joe!«

 

Mit einem Blick streifte er die zusammengekrümmte Gestalt am Boden. »Kopfschuß«, knurrte er und kletterte auf seinen Sitz neben dem Fahrer zurück.

 

Einige Zeit darauf waren sie schon wieder bei ihrem Baseballspiel, während der Tote hinter ihnen von einer Seite zur andern rollte.

 

Kapitel 20

 

20

 

Etwas fiel zu Boden – Tony war der Brieföffner, mit dem er gespielt hatte, aus der Hand geglitten. Was sollte das bedeuten? O’Hara war nicht dabei. Er wollte seinen Ohren nicht trauen.

 

»Ich bin sofort bei Ihnen, lassen Sie alles, wie es ist!« rief Kelly noch in den Hörer und donnerte ihn dann auf den Apparat.

 

»Morgen früh um neun erwarte ich Sie im Polizeipräsidium, Perelli«, sagte er und knallte die Tür hinter sich zu.

 

Tony wandte sich rasend vor Wut an Minn Lee.

 

»Hast du gehört, wie er mit mir umspringt? Mit mir – Tony Perelli! Als ob ich ein Hund wäre!«

 

Sie hörte ihn nicht. Sie sah in die Ferne, ihre Lippen waren leicht geöffnet.

 

»Jimmy! O Jimmy!«

 

»Er ist jetzt in der Hölle!«

 

»Vielleicht war er vorher noch im Himmel«, sagte sie leise.

 

»Du warst wohl in ihn verliebt?« fragte er höhnisch.

 

In Wirklichkeit zog er diese Möglichkeit eigentlich nicht ernsthaft in Betracht. Es war doch undenkbar, daß Minn Lee …

 

»Ich liebte immer nur dich, nicht ihn. Doch daß ich ihn glücklich gemacht habe, macht mich selbst glücklich. Wenn mein ganzes Leben verpfuscht war – für ihn bedeutete ich wenigstens etwas!«

 

Er wich vor ihr zurück.

 

»Was soll das alles heißen?«

 

»Er wußte, daß er in den Tod ging, und er war froh darüber«, sagte sie leise.

 

Tony wischte seine feuchte Stirn ab.

 

»Er wußte, daß er in den Tod ging? Wer hat ihm denn das gesagt?«

 

»Ich.« Aus ihrer Stimme klang weder Furcht noch Trotz, sie stellte nur eine Tatsache fest. »Er wollte nicht mehr leben, seine Schuld lastete zu schwer auf ihm. Vielleicht interessiert es dich noch, daß er so furchtlos in den Tod ging, weil ich ihm gesagt hatte, daß ich ihn liebe …«

 

»Du hast ihn geliebt?« Tony war starr vor Entsetzen. »Ich denke, du liebst mich. Weißt du nicht mehr, wem du gehörst? Mir!«

 

»Jetzt gehöre ich ihm.«

 

Er konnte nicht mehr reden vor Wut. Plötzlich sprang er auf sie los und packte sie an der Kehle.

 

»Überlege dir lieber, wo Con O’Hara ist …«, keuchte sie atemlos.

 

Diese Frage brachte ihn wieder zur Vernunft.

 

Con O’Hara – die Polizei hatte ihn nicht gefunden, er mußte noch am Leben sein. Und wenn Jimmy es gewußt hatte, dann wußte er es auch. Das bedeutete Gefahr, höchste Gefahr für Tony selbst, denn trotz mancher Schwächen war Con ein Mann, vor dem sich jeder hüten mußte. Ausgerechnet er war nicht in die Falle gegangen …

 

»Ich gehe in mein Zimmer«, sagte Minn Lee.

 

»Scher dich zum Teufel …« Plötzlich fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf. »Du hast doch mit Kelly gesprochen – hast du ihm etwas gesagt?«

 

Sie lehnte an der Wand, und er packte sie wild an den Schultern.

 

»Hast du ihm etwas gesagt? Vielleicht willst du mich verpfeifen, wie …?«

 

Seine Finger krampften sich wieder um ihre Kehle und erstickten ihre Worte.

 

»Du lügst, du schmutzige kleine …!«

 

Perellis Gesicht hatte sich verzerrt; sein wahrer Charakter, die ganze Gemeinheit und Hemmungslosigkeit seiner eigentlichen Natur kamen jetzt zum Vorschein.

 

»Du weißt wohl verdammt viel, was?«

 

Mit einer geschickten Drehung machte sie sich aus seinem Griff frei.

 

»Du hast recht. Ich weiß, daß du Vinsetti erschossen hast.«

 

»So? Woher willst du denn das wissen?«

 

»Du redest im Schlaf – manchmal läßt dir dein Gewissen anscheinend doch keine Ruhe.«

 

Er schleuderte sie über den Tisch und packte rasend vor Wut die schwere Bronzefigur, die neben ihm stand. Auch jetzt verlor sie noch nicht die Beherrschung.

 

»Besser, du bringst mich nicht um. Nicht wegen mir – aber Kelly sagte, daß man in Chicago zum Tod verurteilt wird, wenn man eine Frau ermordet. Ich sollte ihm alles erzählen, und er versprach mir hunderttausend Dollar Belohnung, aber ich sagte ihm – daß ich dich liebe.«

 

Perelli hörte ein schwaches Geräusch und warf einen Blick über die Schulter. Angelo lehnte an der Tür, die Hände leicht auf die Hüften gestemmt. In dem Augenblick, als Tony die Bronzefigur hob, war er dem Tod sehr nahe gewesen, denn Angelo Veronas Finger hatten sich bereits um den Griff seiner schweren Pistole geschlossen.

 

»Das hast du ihm gesagt?« fragte Tony heiser. Er sah sie an, dann wanderten seine Blicke zu Angelo. »Gut, Minn Lee. Es ist alles in Ordnung …« Er verabschiedete sie mit einer leichten Geste.

 

»Was gibt es hier?«

 

Perelli hörte die metallene Härte in Angelos Stimme.

 

»Schick alles fort, was nicht unmittelbar zu uns gehört, Angelo. Ist Tomasino oben? Ja? Wer noch?«

 

»Toni Ramano, Jake French, Al Mario …«

 

»Schicke sie sofort los! Sie sollen mit dem Wagen die Stadt absuchen und Con O’Hara auftreiben.«

 

»Aber …«

 

»Er ist ein Verräter. Er hat den Jungen allein gehen lassen. Jimmy ist tot. Keinesfalls will ich eine Schießerei hier in der Nähe haben, verstanden? Stelle einen Mann an die Haustür, der mir ein Signal gibt, wenn er von selber herkommen sollte. Ich möchte ihn dann persönlich erledigen.«

 

»Con hat doch nicht etwa gewußt, daß er in den Tod geschickt wurde?« fragte Angelo entsetzt.

 

»Du Schwachkopf – natürlich muß er es gewußt haben.«

 

»Soll ich alle Leute, die noch hier sind, fortschicken?«

 

»Ja – das heißt, O’Haras Frau bleibt hier.«

 

»Soll ich auch mit den anderen in die Stadt fahren?«

 

»Nein. Halte zwei oder drei Mann hier bereit. Die Couch muß hereingeschafft werden. Los jetzt – tausend Dollar Belohnung für den, der O’Hara erwischt.«

 

Angelo machte sich auf den Weg, und Tony Perelli traf seine Vorbereitungen. Er hatte schon öfters solche Krisen erlebt. Im Fall Vinsetti war es ähnlich gewesen, und die günstige Gelegenheit hatte sich ganz unerwartet geboten. Minn Lee hatte die ganze Zeit davon gewußt, das ging ihm jetzt wieder durch den Kopf. Doch sie würde nichts verraten, seltsamerweise war er davon fest überzeugt. Trotzdem, sie würde ihn verlassen müssen, und es war ihm sogar lieb, daß sie ihm durch ihr Verhalten einen Grund gegeben hatte. Das erleichterte die Trennung.

 

Bis auf eine Stehlampe schaltete er alle Lampen in dem Zimmer aus. Dann nahm er eine Pistole aus einer Schublade, zog das Magazin heraus und überzeugte sich, daß es gefüllt war. Er schob es wieder in den Griff der Waffe, lud durch und legte die Pistole unter seinen Hut, den er auf das Klavier geworfen hatte.

 

Als Angelo mit der Meldung zurückkam, daß Tonys Befehle ausgeführt wurden, traf Tony weitere Vorkehrungen. Vor allem mußte er wegen Mary zu einer Entscheidung kommen. Während er noch über sie nachdachte, kam sie ziemlich schlechter Laune ins Zimmer.

 

»Alles geht nach Hause – das ist mir ein netter Abend!«

 

»Sie müssen das verstehen, Mary; die Leute haben noch zu tun! Und wenn die andern auch gehen, so können Sie doch hierbleiben!«

 

Er war nicht in der Stimmung, sich auf lange Diskussionen mit ihr einzulassen, und sie erschrak über seinen herrischen Ton. Rasch erhob sie sich von der Couch, auf der sie sich malerisch niedergelassen hatte. »Ist denn etwas passiert?«

 

»Ja – etwas Entsetzliches. Jimmy, dieser nette Kerl, ist erschossen worden!«

 

»Jimmy McGrath?« rief sie und fuhr zusammen. »Er ist doch gemeinsam mit Con fortgegangen! Was ist los? Sagen Sie es mir!«

 

»Tom Feeneys Leute haben es getan.«

 

Ihre Knie zitterten, obwohl das wirklich nicht der erste Mord war, der in ihrer näheren Umgebung passierte.

 

»Was ist mit Con!« rief sie schrill. »So antworten Sie doch!«

 

»Es ist ja alles in Ordnung, Con ist nichts passiert.«

 

»Wo ist er? Lassen Sie mich gehen!«

 

Sie sprang auf, aber er hielt sie fest. Unter keinen Umständen durfte sie jetzt mit Con O’Hara zusammenkommen. Wenn sie schwatzte, konnte es schlimm ausgehen.

 

»Sie möchten wohl, daß er gleich wieder hier aufkreuzt?« fragte er wütend. »Vor einer Stunde dachten Sie noch anders darüber. Er wird wahrscheinlich die ganze Nacht wegbleiben, denn die Polizei ist hinter ihm her. Er steht im Verdacht, Jimmy erschossen zu haben.«

 

Er war stolz auf diese Ausrede, die ihm gerade im richtigen Moment eingefallen war.

 

»Ich gehe nach Hause und warte dort auf ihn«, erklärte sie.

 

»Sie haben hier doch alles, was Sie brauchen. Wozu wollen Sie also heimgehen? Es ist bestimmt viel besser, wenn Sie hierbleiben. Dort haben Sie doch nur die ganze Nacht die Polizei auf dem Hals. Also – Sie bleiben.«

 

»Das fällt mir gar nicht ein!«

 

Sie versuchte vergeblich, davonzulaufen. Tony Perelli war stärker als sie. Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küßte sie …

 

»Con wird dich erschießen«, stöhnte sie.

 

»Bleibst du jetzt bei mir?«

 

Statt einer Antwort schmiegte sie sich an ihn.

 

Kapitel 21

 

21

 

Später führte sie Tony höflich bis vor eine Tür im ersten Stock.

 

»Dies ist dein Zimmer – ich habe es für dich ausgesucht. Con ist mit dem Zug nach Indiana gefahren«, versuchte er sie zu trösten. »Er kommt vor morgen früh nicht zurück.«

 

»Wird ihm auch nichts passieren?«

 

»Bestimmt nicht.«

 

Er ging noch eine Weile auf dem Gang hin und her, als sie in ihrem Zimmer verschwunden war. Die Tür wurde von innen verschlossen, und er lächelte. Auch jetzt noch versuchte sie, die anständige Dame zu spielen.

 

Angelo erwartete ihn schon mit zwei Leuten. Als Tony zurückkam, stand eine große rote Couch auf dem Teppich. Vor der Couch lag eine Brücke in derselben Farbe.

 

Tony mußte plötzlich an Vinsetti denken. Er sprach auch mit Angelo darüber, der allein bei ihm blieb, nachdem die Vorbereitungen getroffen waren.

 

»Romano wird Con unter allen Umständen erledigen«, sagte Angelo.

 

»Ist der Alarm eingeschaltet?«

 

Angelo sah zu dem kleinen Schalter hinüber und nickte.

 

»Alles in Ordnung, aber ich glaube nicht, daß O’Hara hierherkommt. Wer hat es ihm eigentlich gesteckt?« Er stand an der Tür und horchte auf die Geräusche des Aufzugs.

 

»Jimmy.«

 

Angelo war aufs höchste überrascht.

 

»Was? Aber Jimmy hatte doch keine Ahnung, daß er in den Tod geschickt werden sollte. Sonst wäre er doch niemals gegangen!«

 

»Er wußte es.«

 

Die Spannung wurde allmählich unerträglich, und die beiden schauten bei jedem leisen Geräusch zur Tür.

 

»Das ist ja nicht zu glauben! Aber wer sollte ihm denn das verraten haben?«

 

»Minn Lee«, erwiderte Tony schroff. »Sie nahm ihn mit in ihr Zimmer, während wir alle hier waren.« Seine Stimme zitterte. »Verstehst du das? – Aber dafür wird sie mir noch büßen!«

 

Das schwache Lächeln, das um Angelo Veronas Mund spielte, war schwer zu deuten.

 

»Es wird besser sein, du hütest dich ein wenig vor ihr. Sie weiß sehr viel …«

 

In diesem Augenblick summte eine elektrische Klingel; es war das Signal, daß man Con O’Hara gesehen hatte.

 

Angelo zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe.

 

»Donnerwetter, hätte nicht gedacht, daß er herkommt! Ich nehme an, sie werden ihn gleich unten erledigen.«

 

»Ich will keinen Skandal hier haben«, erklärte Tony scharf.

 

Wieder ein Warnungssignal; Con O’Hara war jetzt im Haus. Perelli machte eine Handbewegung.

 

»Geh hinaus«, flüsterte er. »Wenn ich ihn verfehlen sollte, schieß du auf ihn. Verhalte dich ruhig!«

 

Angelo verließ den Raum. Tony stand an das Klavier gelehnt und wartete. Langsam öffnete sich die Tür, eine Hand mit einem Revolver schob sich durch den Spalt. Die Mündung zeigte auf ihn. Mit einem entschlossenen Ruck wurde die Tür aufgestoßen, und Con O’Hara kam furchtlos herein. Er hatte den Hut ins Genick geschoben, sein Gesicht war von äußerster Entschlossenheit.

 

Tony hatte nachlässig seinen Hut in die Hand genommen, als wäre er gerade im Begriff, fortzugehen.

 

»Hallo, Con«, sagte er in freundlichstem Ton. »Sind Sie schon wieder zurück? Die Gesellschaft hat sich schon in alle Winde zerstreut. Ich möchte noch einen kleinen Spaziergang machen – kommen Sie mit?«

 

Ohne Zögern ging Con O’Hara bis zu der roten Couch.

 

»Einer von uns beiden wird nicht weit gehen«, sagte er verbissen. Eine fast hemmungslose Wut hatte ihn gepackt; nur eines hielt ihn noch zurück: das unweigerliche Mißtrauen, das jeder Verbrecher Geschichten entgegensetzt, die ihm von seinesgleichen erzählt werden. Aber Jimmy mußte die Wahrheit gesprochen haben – er war gestorben, um sie zu beweisen.

 

Tony lächelte.

 

»Haben Sie sich auf dem Weg hierher einen genehmigt? Oder ist sonst etwas mit Ihnen los? Hat Jimmy dem Captain meinen Brief übergeben?«

 

O’Hara atmete schwer; er hatte Mühe, die Herrschaft über seine Stimme zu behalten.

 

»Tot ist er, wenn Sie das meinen! Ich habe ihm zuerst nicht geglaubt – aber er sagte, daß Sie uns ans Messer liefern wollten. Ich habe genau beobachtet, was geschah – ein Auto fuhr vorbei, und sie haben ihn mit einem Maschinengewehr umgelegt …, dann warteten sie noch eine Weile. Sie sahen sich nach noch jemand um – nämlich nach mir!«

 

Bestürzung spiegelte sich in Perellis Gesicht.

 

»Ich verstehe Sie nicht – was meinen Sie denn damit, Con? Sie glauben doch nicht etwa, daß ich, Antonio Perelli, Sie in den Tod …«

 

»Allerdings, das glaube ich«, entgegnete O’Hara grimmig.

 

»Sie sind verrückt – meinen besten Mann und meinen besten Freund!«

 

»Wo ist meine Frau?«

 

»Sie ist nach Hause gegangen.« Tony wischte ein Stäubchen von seiner Schulter.

 

»Nach Hause gegangen? – Sie ist hier!«

 

»Wirklich, Sie benehmen sich wie ein Idiot. Seien Sie doch vernünftig, Con. Würde ich vielleicht ausgehen, wenn Ihre Frau hier wäre?«

 

»Sie gehen nicht aus!« zischte O’Hara. »Her mit Ihrem Hut!«

 

Mit der Linken riß er Tony den Hut aus der Hand, doch im gleichen Augenblick drückte Perelli die Pistole ab, die er darunter verborgen gehalten hatte. Es gab keinen lauten Knall, der Schalldämpfer funktionierte ausgezeichnet, und außerhalb des Raumes hatte man wahrscheinlich gar nichts gehört. Cons Revolver fiel zu Boden – er griff sich mit beiden Händen an die Seite und drehte sich einmal um sich selbst. Perelli feuerte ein zweites Mal, und dieses Mal traf er ihn tödlich. Mit einem Stoß schleuderte er den schwankenden Mann auf die Couch, wo er regungslos liegenblieb.

 

Kapitel 22

 

22

 

Perelli spielte Klavier, und Mary ging hinunter, um ihm zuzuhören. Die große rote Couch war inzwischen wieder weggebracht worden, und sie hatte keine Ahnung, daß die Leiche ihres Mannes im anstoßenden Zimmer lag.

 

Nach einer angeregten Unterhaltung mit Tony sagte sie gute Nacht. Ihr Schlaf war sehr unruhig, und gegen Morgen lief sie nach Hause, um nachzusehen, ob ihr Mann nicht inzwischen zurückgekommen sei. Aufgeregt und nervös erschien sie wieder in Perellis Wohnung.

 

Angelo Verona saß in Hemdsärmeln am Eßtisch im Salon und war damit beschäftigt, Löhne abzurechnen, die am nächsten Vormittag ausgezahlt werden sollten. Drei Haufen Banknoten lagen vor ihm, und er sortierte sie gerade durch, als sie ankam.

 

Sie konnte Angelo gut leiden. Er war nahe daran, eine bedeutende Stellung in der Unterwelt von Chicago einzunehmen. Eines Tages würde er der Chef einer großen Organisation sein, wenn ihn nicht vorher einer von Tom Feeneys Freunden niederknallte.

 

»Noch nichts von Con gehört?« fragte Mary ängstlich.

 

»Ich glaube, er ist mit dem Zug weggefahren«, erwiderte Angelo, ohne aufzuschauen. »Er sprach gestern abend davon, daß er nach Detroit fahren wollte. Möchte bloß wissen, warum die Jungens alle nach Detroit gehen.«

 

»Wenn ich nur wenigstens eine Nachricht von ihm hätte!«

 

Angelo legte seinen Bleistift weg. Es hatte keinen Sinn zu arbeiten, solange dieses geschwätzige Frauenzimmer hier war.

 

»Was wollen Sie denn, Mrs. O’Hara? In unserem Geschäft muß man beweglich sein. Die Leute sind manchmal wochenlang verreist. Sie wissen doch, daß wir keinen Kaugummi verkaufen.«

 

Aber sie war nicht so leicht zu beruhigen.

 

»Steht nichts Neues in der Zeitung?«

 

Angelo fuhr sich mit der Hand durch das Haar und sah sie ärgerlich an.

 

»Über Jimmy können Sie eine ganze Menge lesen.«

 

Er selbst bedauerte es sehr, daß der junge Mann hatte dran glauben müssen. Jimmy war ein netter Kerl gewesen, der niemals seine Kameraden bei der Polizei verpfiffen hätte. Aber Angelo hielt es für klüger, zu schweigen.

 

»Ja, der arme Junge. Ich habe schon alles gelesen. Weil Con mit ihm weggegangen ist, bin ich so in Sorge. Sie verstehen das doch, Angelo, nicht wahr?«

 

Er nickte.

 

»Irgend etwas stimmt da nicht«, erklärte sie hartnäckig.

 

Angelo begann nervös zu werden.

 

»Also, hören Sie zu, Mrs. O’Hara. Ich muß Ihnen etwas anvertrauen. Con ist heute nacht zurückgekommen.«

 

Sie stand erregt auf.

 

»Was – er ist hier gewesen? Hat er nach mir gefragt?« rief sie atemlos. »War er zu Hause?«

 

»Nein.« Angelo konnte für gewöhnlich geschickte Ausreden erfinden, aber hier schien es Komplikationen zu geben.

 

»Ich sagte ihm, daß Sie bei Minn Lee schliefen und daß Tony ausgegangen sei.«

 

»Wollte er denn nicht heraufkommen?« fragte sie ängstlich.

 

Er lächelte.

 

»Nein. Das hätte ich auch nicht zugelassen.«

 

Sie atmete auf und schaute ihn dankbar an.

 

»Das war sehr nett von Ihnen – ich weiß nicht, was er getan hätte, wenn …«

 

»Jemand hätte wahrscheinlich ins Gras beißen müssen«, erwiderte Angelo trocken.

 

»Hat er denn gar keine Nachricht für mich hinterlassen?«

 

Er erinnerte sich an gewisse Anweisungen, die er am Morgen erhalten hatte.

 

»Ihr Mann läßt Ihnen bestellen, daß Sie bei Minn Lee bleiben sollen, bis Sie wieder von ihm hören.«

 

Sie wußte nicht recht, ob sie ihm glauben sollte oder nicht.

 

»Aber er hat doch kein Geld!«

 

»Ich habe ihm welches gegeben. Tony war wütend, als er davon erfuhr.«

 

Er legte seine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht hoch.

 

»Wie gefällt’s Ihnen hier?«

 

Diese Frage lenkte sie ab, und sie dachte an die Stellung, die sie vielleicht bald in diesem Haus einnehmen würde.

 

»Finger weg«, sagte sie und stieß ihn zurück. »Wo ist Mr. Perelli?«

 

»Sie meinen Tony«, erwiderte Angelo lächelnd. »Er ist jetzt gerade im Polizeipräsidium – zusammen mit seinem Rechtsanwalt. Ich glaube, Sie werden es hier sehr schön haben, Mary. Vergessen Sie nicht, daß Sie sich bald jeden Wunsch erfüllen können – ah, guten Morgen, Minn Lee.«

 

Die Chinesin sah strahlend und frisch aus wie eine Frau, die noch nie gewußt hat, was Sorgen sind. Sie nickte freundlich und setzte sich an einen kleinen Tisch; mit einem langen Dolch schnitt sie die Seiten eines französischen Romans auf, den sie mitgebracht hatte.

 

Mary sah sie einen Augenblick verwirrt an.

 

»Ach, Mrs. Perelli – ich habe Sie heute morgen ja noch gar nicht gesehen. Hoffentlich hat es Ihnen nichts ausgemacht, daß ich hier geschlafen habe – es war mir so unangenehm, aber mein Mann ist doch nicht zurückgekommen.«

 

»Minn Lee, müssen Sie ausgerechnet diesen Dolch benutzen? Er ist unheimlich scharf«, warnte Angelo.

 

»Tony hat gestern abend den Brieföffner zerbrochen.« Sie fuhr prüfend mit dem Daumen über die Klinge. »Glauben Sie, ich würde jemand damit erstechen?«

 

Mary ließ sich nicht von ihrem Thema abbringen.

 

»Ich bin so beunruhigt wegen Con – er hätte doch wenigstens aus Detroit anrufen können!«

 

»Tony weiß ganz bestimmt, wo er sich aufhält«, sagte Minn Lee. »Warum haben Sie ihn nicht gefragt?«

 

Mary zuckte die Schultern und warf den Kopf zurück.

 

»Ich möchte Mr. Perelli nicht dauernd belästigen – er hat so viel zu tun … Warum lachen Sie denn, Mrs. Perelli?«

 

»Ich lache durchaus nicht, ich fühle mich heute nur so glücklich – Sie auch?«

 

Angelo hörte interessiert zu und beobachtete Minn Lee scharf; ihr Blick war weder spöttisch noch boshaft, und auch ihre Stimme klang ganz normal. Mary sah sie verblüfft an.

 

»Glücklich? Haben Sie denn kein Herz? Denken Sie doch daran, daß der arme Jimmy erschossen wurde!«

 

Minn Lee lachte leise, nahm ihr Buch und ging auf den Balkon. Gleich darauf kam sie aber wieder zurück.

 

»Ich habe noch vergessen, Ihnen zu sagen, daß Tony in allem, was Geld betrifft, sehr großzügig ist. Stellen Sie sich vor, er hat zweihundert seidene Hemden!«

 

Das machte Eindruck auf Mary.

 

»Ich mag es sehr, wenn sich ein Mann gut anzieht.«

 

Die Haustür wurde zugeschlagen, und kurze Zeit später trat Tony ein. Er warf Mantel und Hut einem seiner wartenden Angestellten zu.

 

»Ah; Mr. Perelli«, sagte Mary, »da sind Sie ja.«

 

Er kümmerte sich nicht um sie, ging schnell auf den Balkon und schaute hinunter. Dann kam er zurück und ließ sich in einen Sessel fallen.

 

»Bist du müde?« fragte Minn Lee.

 

»Ich habe einen verdammt anstrengenden Tag hinter mir. Seit heute morgen um neun war ich im Polizeipräsidium.«

 

»Du hast dich wohl gut mit Mr. Kelly unterhalten?« bemerkte Angelo.

 

»Ich werde dir nachher schon erzählen, wie sich die Unterhaltung abgespielt hat. Verbinde mich sofort mit Oberrichter Raminski. Ich will diesem Polypen mal die Hölle heiß machen!«

 

Mary sah ihn verblüfft an. Oberrichter Raminski nahm eine hohe gesellschaftliche Stellung ein und gehörte zu den einflußreichsten Persönlichkeiten in Chicago.

 

»Ich bin völlig erledigt«, sagte Tony. »Sie haben mich durch halb Chicago gefahren, bis ich fast verrückt wurde. Von der Polizei zum Rathaus, vom Rathaus zur Polizei, dann zum Leichenschauhaus und schließlich zu der Stelle, wo Jimmy gefunden wurde.«

 

Angelo hatte inzwischen gewählt und reichte seinem Chef den Hörer.

 

»Ist dort Oberrichter Raminski …? Hier Perelli – Antonio Perelli. Zum Teufel, sagen Sie mal, was soll das bedeuten, daß Kelly mich durch die ganze Stadt schleifen darf?« rief Tony wütend. »Sie sind doch schließlich sein Vorgesetzter … Zwei Stadtbezirke habe ich bei der Wahl für Sie mobil gemacht, das scheinen Sie ganz vergessen zu haben, was …? Und daß ich fünfzigtausend Dollar für Ihren Wahlfonds gespendet habe, ist Ihnen auch nicht mehr bekannt …? Wie …? Also hören Sie – ich muß ganz entschieden bitten, daß bei der Polizei einmal aufgeräumt wird. Sie wollen doch Senator werden – also, sorgen Sie dafür, daß man Kelly hinauswirft! Das ist mein letztes Wort!«

 

Er warf den Hörer auf die Gabel. »Den Burschen soll es noch reuen, daß er so mit mir umgesprungen ist!«

 

Erst allmählich erkannte Mary, wieviel Macht Perelli besaß. Nur er konnte es wagen, so mit einem Richter zu sprechen,, der über Leben und Tod zu entscheiden hatte!

 

»Gib mir was zu trinken, Angelo – Chianti oder was du gerade findest.«

 

Minn Lee kam Angelo zuvor und ging aus dem Zimmer.

 

»Warst du in Cicero?« fragte Tony.

 

Angelo nickte.

 

»In der ›Skyline-Bar‹ ist überhaupt nichts passiert – Kelly hat die ganze Geschichte erfunden.«

 

Mary mischte sich ins Gespräch und machte einige abfällige Bemerkungen über Leute, die in zweifelhaften Nachtlokalen arbeiten. Als Minn Lee mit dem Wein zurückkam, wandte sich Mary an sie.

 

»Es muß doch furchtbar sein, als Animiermädchen in einem solchen Lokal zu arbeiten, Mrs. Perelli.«

 

»Von was reden Sie denn?« fragte Minn Lee.

 

»Ich meine diese Lokale in Cicero …«

 

»Ach, lassen Sie doch!« sagte Tony barsch. »Vielleicht gefällt den Mädchen dort ihr Beruf sogar!« Er sah Minn Lee mit einem ermutigenden Lächeln an. »Die Geschäftsführerin eines solchen Lokals hat das beste Leben – eine schöne Wohnung steht ihr zur Verfügung, und sie kann sich Freunde einladen, soviel sie will.«

 

Minn Lee schien ihm gar nicht zuzuhören.

 

»Hast du Jimmy noch einmal gesehen?« fragte sie so leise, daß es Mary nicht hören konnte.

 

Er wurde blaß – trotz seiner Abgebrühtheit wagte er es nicht, sie anzusehen. »Er sah ganz zufrieden aus«, flüsterte er schließlich ebenso leise mit abgewandtem Gesicht zurück. »Man hatte fast den Eindruck, daß er lächelte …«

 

»Ich dachte es mir«, erwiderte Minn Lee. »Hast du noch etwas darüber gehört, wie er starb?«

 

»Er lebte nur noch einige Sekunden, nachdem die Polizisten ihn gefunden hatten.«

 

»Der arme Junge«, warf Mary, die die letzten Sätze gehört hatte, in konventionellem Ton ein.

 

»Warum sagen Sie ›armer Junge‹?«

 

Minn Lee, die zur Tür gegangen war, blieb stehen und sah Mary mit einem so merkwürdigen Leuchten in ihrem Blick an, daß sie kein Wort mehr sprach.

 

Auch Tony war wieder nachdenklich geworden. Wie würde das Leben ohne Minn Lee sein? Könnte er es wirklich ertragen, daß eine Frau, die ihm so viel bedeutet hatte, einfach vor die Hunde ging – und daß er selbst es so wollte? Er rühmte sich zwar, ein guter Geschäftsmann zu sein, und er hatte niemals gezögert, das Glück anderer Menschen zu opfern, wenn es sich um die Durchführung seiner Pläne handelte, aber in diesem Fall fühlte er Gewissensbisse.

 

An und für sich schien alles so leicht zu gehen – alle Entschuldigungen, die er brauchte, hatte sie selbst ihm geliefert. Und trotzdem wurde er ein unbehagliches Gefühl nicht los – ein Gefühl, wie er es noch nie empfunden hatte.

 

Er sah auf die schöne Frau, die Minn Lees Nachfolgerin werden sollte. Wenigstens war Mary nicht so kompliziert; er setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.

 

»Ich habe dich den ganzen Tag noch nicht richtig gesehen, Liebling«, sagte er.

 

Sie sah ihn mit einem koketten Blick von der Seite her an.

 

»Liebst du mich auch noch?«

 

Er zog sie an sich und küßte sie; plötzlich sprang sie auf.

 

»Wenn Con zurückkommt, werde ich ihm alles sagen«, erklärte sie. »Ich halte es nicht für richtig, einen Mann zu hintergehen. Vor dem Krach, den er schlagen wird, graust mir allerdings – du wirst mir helfen müssen! – Was willst du übrigens mit ihr machen?« fragte sie und sah auf die Tür, hinter der Minn Lee verschwunden war. »Das muß doch auch in Ordnung gebracht werden.«

 

Das war durchaus auch seine Meinung, aber es war eben nicht so leicht in Ordnung zu bringen, wie er gedacht hatte. Nervös zuckte er die Schultern.

 

»Ich bin mit ihr fertig. Sie liebt mich nicht mehr – hat mich sogar betrogen!« setzte er leise hinzu.

 

»Da sieht man wieder einmal, wie unzuverlässig diese Asiaten sind«, erwiderte Mary entrüstet. »Aber du mußt ihr trotz allem eine anständige Abfindung geben.«

 

Tony schaute sie lächelnd an.

 

»Ich freue mich, daß du so denkst.«

 

»Ja, ich war, schon immer dafür, daß alle Leute anständig behandelt werden.«

 

Sie sprach noch mehr von ihrer großzügigen Art, um sich bei Tony ins rechte Licht zu setzen, aber er hörte kaum zu. Mit seinen Gedanken war er schon wieder bei Kelly.

 

»Ich werde Sie demnächst besuchen, um Ihre neue Frau zu begrüßen«, hatte dieser Mann mit brutaler Offenheit gesagt.

 

Tony sprach mit Mary darüber und warnte sie.

 

»Er wird wahrscheinlich von Jimmy sprechen und auch nach Con fragen. Aber laß dich nur nicht von ihm einschüchtern. Er hat nämlich eine gewisse Art, die Leute so weit zu bringen, daß sie wütend werden, und dann reden sie gewöhnlich.«

 

»Plötzlich stand Angelo in der offenen Tür und winkte ihm.

 

»Tom Feeney ist da – willst du mit ihm sprechen?«

 

Tony schaute ihn ungläubig an.

 

»Tom Feeney? Hat er seine Leute dabei?«

 

Angelo Verona lachte. »Er ist allein gekommen. Wahrscheinlich warten sie draußen.«

 

Tony war sprachlos. Shaun O’Donnell wäre niemals so unvorsichtig gewesen.

 

»Was will er denn?« fragte er, aber plötzlich fiel ihm etwas ein, was er mit Angelo seit einigen Tagen besprechen wollte. Er schickte Mary mit einer Entschuldigung in den kleinen Salon.

 

»Angelo, ich habe erfahren, daß du eine Million Dollar nach Europa geschickt hast.«

 

Angelo nickte. Er hatte es erwartet, daß Tony hinter seine Schliche kommen würde. Das Geld gehörte zwar ihm, aber Tony wollte nicht erlauben, daß er es auf eine europäische Bank einzahlte. Er hatte sich Zeit gelassen und die Überweisung so vorsichtig wie möglich vorgenommen, aber Tonys Spitzel waren überall; wahrscheinlich hatte er es von einem Bankangestellten erfahren. Aber darauf kam es jetzt nicht an.

 

»Sicher«, erwiderte er. »Meine alte Mutter und meine Schwester sollen auch mal in besseren Verhältnissen leben.«

 

»Ich habe auch erfahren, daß du einen Platz auf einem kanadischen Schiff belegt hast?«

 

Tony sprach freundlich und liebenswürdig, aber seiner Stimme fehlte eine gewisse Sicherheit. Angelo wußte sofort, daß sein Chef nur eine Vermutung ausgesprochen hatte.

 

»Das ist nicht wahr«, erklärte er.

 

Es war unmöglich, daß Tony oder einer seiner Leute entdeckt haben konnten, daß er eine Kabine durch ein Londoner Reisebüro hatte belegen lassen.

 

Tony Perelli biß sich auf die Unterlippe und studierte aufmerksam das Teppichmuster. Dann wechselte er plötzlich das Thema. Das war ein schlechtes Zeichen. »Besetze alle Ausgänge, falls etwas passiert. Irgendwann kommt die Auseinandersetzung mit Feeney doch. Laß ihn herein.«

 

Als er allein war, nahm er einen Browning und steckte ihn in die Jackettasche. Dann ging er mit den Händen auf dem Rücken auf und ab. Tom trat ein; er begrüßte ihn freundlich.

 

»Wie geht’s Ihnen, Tom?«

 

Feeney sah sich vorsichtig um.

 

»Ausgezeichnet«, sagte er dann.

 

Sie schauten einander mißtrauisch an.

 

»Hol das Buch«, befahl Tony feierlich.

 

Angelo öffnete eine Schublade und nahm eine große Bibel heraus, die er auf den Tisch legte und aufschlug. Dann zog Tony eine Pistole aus der Hüfttasche und legte sie auf das offene Buch. »So, da ist mein Schießeisen.«

 

Feeney zögerte etwas, zog aber dann auch eine Pistole heraus und legte sie dazu. Aber dann nahm er sie wieder weg, weil er sich daran erinnerte, daß er es mit einem Sizilianer zu tun hatte, der mit allen Wassern gewaschen war.

 

»Einen Moment, Tony – ist das eine italienische oder eine irische Bibel?«

 

»Sie ist hundertprozentig amerikanisch«, erklärte Tony salbungsvoll.

 

Feeney schaute auf das reich ornamentierte Titelblatt.

 

»Das letztemal bin ich bemogelt worden. Der Lump hatte die Zehn Gebote herausgeschnitten.«

 

»Keine Sorge, hier ist noch alles drin«, entgegnete Perelli. »In einem Antiquariat haben sie mir hundert Dollar für das Buch abgeknöpft.« Brummend gab sich Feeney zufrieden und legte seine Pistole wieder auf den Tisch.

 

Dann wartete er, bis Angelo hinausging; er hatte Shaun O’Donnells Warnung nicht vergessen: »Behalte Tony Perelli gut im Auge – aber Angelo Verona gegenüber mußt du doppelt vorsichtig sein.«

 

Um das Zimmer besser überschauen zu können, lehnte er mit dem Rücken an der Wand, von wo er auch die Tür beobachten konnte.

 

»Tony, Sie haben gestern abend Ihr Versprechen nicht gehalten.« Unentwegt schaute er auf die Tür und nicht auf seinen Gesprächspartner. »Sie haben nur einen geschickt.«

 

Perelli schüttelte den Kopf.

 

»Irrtum. Es tut mir selber leid – aber Con O’Hara hat Lunte gerochen und hat sich gedrückt.«

 

Tony hatte den Eindruck, daß Feeney nur deswegen gekommen war, weil ihn seine Schwester dazu gezwungen hatte.

 

»Man sagt, daß Sie Con O’Hara einen Wink gegeben haben …«

 

»Kann mir schon denken, was für ein Blödsinn wieder geredet wird«, unterbrach ihn Tony verächtlich. »Aber sagen Sie selbst, welchen Zweck sollte es denn haben, ihn erst hinzuschicken und ihm nachher einen Tip zu geben?«

 

Tom schaute sich unablässig im Zimmer um, als ob er eine verborgene Gefahr fürchtete.

 

»Es ist wirklich niemand hier«, versicherte Tony.

 

»Das hat Vinsetti wahrscheinlich auch gedacht – und wurde doch tot hinausgetragen, obwohl er ein besserer Pistolenschütze war als ich.«

 

»Die Geschichte ist doch wirklich abgedroschen, wer denkt schon noch daran? Sie sind zu ängstlich, Tom. Ich habe ja nicht einmal ein Schießeisen.«

 

Feeney gab sich einen Ruck.

 

»Schon gut. Ich will Ihnen glauben. Entweder soll man jemandem trauen oder nicht.« Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich seinem Rivalen gegenüber.

 

»Ich würde Sie überhaupt nicht belästigen, Tony, aber meine Schwester läßt mir keine Ruhe. Sie hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß der Mord an ihrem Mann gerächt wird.«

 

»Das verstehe ich durchaus.«

 

»Was ist mit Con O’Hara? Seien Sie doch einmal offen.«

 

Tony antwortete nicht sofort. Er betrachtete aufmerksam den vierschrötigen Mann, der vor ihm saß, und wunderte sich im stillen, durch welche merkwürdigen Umstände Tom Feeney der Chef einer solch mächtigen Organisation geworden war. Schließlich waren die Mitglieder seiner Bande nicht lauter Dummköpfe.

 

»Machen Sie sich keine Sorgen mehr um O’Hara«, meinte er schließlich. »Der ist bereits erledigt.«

 

Feeney schaute ihn erstaunt an.

 

»Das ist was anderes«, sagte er dann.

 

»Ich mag Leute nicht, die sich zu viel herausnehmen.«

 

»Wohin haben Sie ihn bringen lassen?«

 

»Hören Sie mal, Tom, kümmere ich mich vielleicht um Ihre Angelegenheiten? Können Sie nicht tun und lassen, was Ihnen beliebt?«

 

Tom hob abwehrend die Hand.

 

»Ist ja gut, Tony. Ich wollte Sie nicht beleidigen und weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«

 

Die Alarmglocke summte, und im Bruchteil einer Sekunde war Feeney auf den Füßen und hielt einen Revolver in der Hand. Tony wußte nicht, woher die Waffe plötzlich kam. Aber es war ihm nun klar, weshalb Tom Feeney der Führer einer Bande war.

 

»Zum Teufel, was hat das zu bedeuten?« rief Tom. »Nehmen Sie sofort die Hände hoch!«

 

Tony seufzte.

 

»Aber Tom, weshalb diese Aufregung?«

 

»Was bedeutet dieses Summen?«

 

»Wahrscheinlich kommt Mr. Kelly. Der Portier hat mir ein Signal gegeben. Weiter nichts.«

 

»Wozu kommt Kelly denn hierher?«

 

Tony stöhnte.

 

»Ich nehme an, daß er Mrs. O’Hara ausfragen will.«

 

Feeney steckte den Revolver in die Tasche.

 

»Entschuldigen Sie …«, begann er.

 

»Sie trauen mir nicht, Tom. Das tut mir aufrichtig leid«, erklärte Tony betrübt.

 

Wieder hörte man das Summen.

 

»Ich möchte Kelly nicht begegnen«, sagte Tom.

 

»Glauben Sie vielleicht, der wüßte nicht, daß Sie da sind? Aber gehen Sie hier in den Salon. Unterhalten Sie Mrs. O’Hara ein bißchen.«

 

Er öffnete die Tür.

 

»Sie können sich nicht vorstellen, Tom, wie Sie mich eben verletzt haben.«

 

Tom verließ kleinlaut das Zimmer.

 

Kapitel 23

 

23

 

Kommissar Kelly verlor im allgemeinen nicht so schnell die Fassung. Die Lage der Polizei in Chicago war alles andere als beneidenswert. Sie mußte gegen Verbrecherbanden kämpfen, die ausgezeichnet organisiert waren und Freunde in den exklusivsten Kreisen hatten. Sie finanzierten den Wahlkampf von Politikern und konnten die ganze Stadtverwaltung nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Außerdem wurde ihre Tätigkeit von allen Bürgern gebilligt, die sich heimlich Alkohol kauften.

 

Auf wen konnte er sich stützen? Auf eine Polizeitruppe, die durch und durch korrupt war? Auf die hohen Beamten, die bei Perelli und anderen Bandenführern Anleihen machten?

 

»Die Sache ist völlig hoffnungslos«, sagte er zu seinem Assistenten, bevor er das Büro verließ. »Eben hat Oberrichter Raminski angerufen und mir Verhaltungsmaßregeln gegenüber Tony Perelli gegeben. Ich muß mich danach richten oder gleich mein Entlassungsgesuch einreichen. Aber mein Entschluß ist gefaßt«, sagte er grimmig. »Ich gehe lieber! Soll ein anderer sich die Zähne an diesem Posten ausbeißen – oder sich bestechen lassen. Was mich betrifft, so hat Perelli sein Spiel gewonnen.«

 

Er wollte gerade das Polizeipräsidium verlassen, als ihm ein Beamter nachlief. Er ging zurück und notierte sich etwas. Dann stieg er in ein Polizeiauto und fuhr zu Perelli. Harrigan begleitete ihn, blieb aber vorläufig unten.

 

Als Kelly eintrat, bemerkte er die beiden Stühle in der Mitte und wußte gleich, daß hier eine typische Konferenz zwischen zwei Bandenführern abgehalten worden war. Die offene Bibel bestätigte seine Vermutung. Von Feeney war allerdings keine Spur zu entdecken. Er betrachtete das Buch, blätterte ein wenig darin und wandte sich dann an Perelli.

 

»Hoffentlich habe ich hier keine Familienandacht gestört«, meinte er ironisch.

 

Tony lächelte. »Nein, wir sind bereits fertig«, entgegnete er mit betonter Höflichkeit.

 

»Unten habe ich Ihre Leute und Toms Leibwache gesehen; Sergeant Harrigan habe ich den Auftrag gegeben, jeden zu verhaften, der im Besitz einer Waffe ist, ohne einen Waffenschein zu haben.«

 

Er schob die Bibel zurück und stützte sich auf den Tisch, während Tony die Stühle wieder an ihren Platz stellte. Angelo sah heute in einem neuen Anzug besonders gut aus. Hemd, Krawatte und Schuhe konnte man nur als geschmackvoll bezeichnen.

 

»Direkt elegant sind Sie, Angelo. Könnten Sie mir nicht Ihren Schneider verraten?« sagte Kelly.

 

Angelo nickte.

 

»Wenn Sie unbedingt wollen, gern. Im übrigen mag ich es gar nicht, wenn Sie so zufrieden ausschauen – das bedeutet nichts Gutes für irgend jemand.«

 

Kelly strahlte.

 

»Haben Sie sich das schon gemerkt? – Wo ist denn die schöne Dame?«

 

»Im Salon«, entgegnete Tony, der genau wußte, wer gemeint war.

 

»Ausgezeichnet. Würden Sie so liebenswürdig sein, Mrs. O’Hara hierher zu bitten?«

 

Tony fühlte sich ein wenig unbehaglich.

 

»Sie spricht gerade mit einem Freund von mir …«, begann er zu erklären, aber Kelly unterbrach ihn lässig.

 

»Ich weiß, ich weiß – Mr. Feeney. Mit dem möchte ich auch ein Wörtchen reden.«

 

»Was wollen Sie denn von ihm?«

 

»Oh, ich hätte nur gern sein Autogramm gehabt; derartige Raritäten sammle ich.«

 

Er hörte den Seufzer Angelos und schaute auf.

 

»Wirklich, Sie beunruhigen mich, wenn Sie so, vergnügt sind«, sagte Tonys Adjutant. »Da finde ich es noch angenehmer, wenn Sie jemand beim Verhör scharf aufs Korn nehmen.«

 

»Nun, das können Sie auch haben!« rief Kelly Angelo nach, der zur Tür ging.

 

Dann legte der Beamte seinen Hut auf den Tisch, steckte sich eine Zigarre an und betrachtete Tony Perelli ausgesprochen unfreundlich.

 

»Ich habe Sie doch heute morgen nicht etwa beleidigt, Mr. Perelli? Wäre mir schrecklich, wenn ich Ihr empfindsames Gemüt verletzt hätte. Vielleicht haben Sie erwartet, daß ich einen Blumenstrauß mitbringe, aber ich wußte im Moment nicht mehr, welche Blumen Sie bei Ihren Beerdigungen vorziehen.«

 

»Wie amüsant Sie heute sind!« Tony verzog spöttisch den Mund.

 

»Die Hauptsache ist, daß Sie sich dabei wohl fühlen. Es scheint, daß ich in Zukunft viel höflicher mit Ihnen sein muß, Mr. Perelli. Sonst erhalte ich wieder Klagen, wie schlecht es ›meinem lieben Freund Antonio Perelli‹ geht.«

 

Tony heuchelte Erstaunen.

 

»Ich verstehe Sie nicht. Wer hat mich denn so genannt?«

 

»Oberrichter Raminski – das wissen Sie ganz genau. Er hat mich angerufen, weil er glaubte, daß wir Sie nicht richtig behandeln.«

 

Perelli zuckte die Schultern. Vielleicht war er mit seiner Beschwerde doch etwas zu voreilig gewesen.

 

»Das nächste Mal, wenn Sie zu uns kommen, werden wir ein paar Kissen für Sie besorgen«, fuhr Kelly fort. »Es wäre mir wirklich sehr unangenehm, wenn die Polizei als unhöflich verschrien würde.«

 

Er sah sich um, als Mary ins Zimmer trat. Tom Feeney, der sich offensichtlich sehr unbehaglich fühlte, folgte ihr.

 

»Welche Überraschung!« begrüßte ihn der Kommissar. »Guten Morgen.«

 

Tom grinste verlegen.

 

»Guten Tag, Mr. Kelly.«

 

»Darf Ich mir die Frage erlauben, warum Sie plötzlich lebensmüde geworden sind und hierher kommen?«

 

»Oh, Tony und ich sind jetzt Freunde.«

 

Kelly lachte schallend.

 

»Ach so, deshalb hat die ganze Michigan Avenue geflaggt!«

 

Feeney sah ihn mißtrauisch an und näherte sich langsam der Tür.

 

»Sie wollen mich doch nicht etwa verhaften?«

 

»Das möchte ich nur zu gern, aber ich kann es leider noch nicht.« Er klopfte dem Iren auf die Schulter. »Ich fürchte, daß mir jemand anders zuvorkommt; und wenn Sie erst im Schauhaus liegen, sind Sie nicht mehr viel für mich wert. Der arme Shaun ist ja diesen Weg gewandert.«

 

»Ja«, entgegnete Tom traurig.

 

»Wirklich ein schwerer Schlag.« Es gelang Kelly vortrefflich, eine Leichenbittermiene aufzusetzen. »Wieder ein Märtyrer mehr für den Alkoholschmuggel. Dafür haben dann Sie den einen Täter über den Haufen geschossen, und Tony den anderen, nicht wahr?«

 

Mary drehte sich schnell nach Tony um, aber der lächelte sie so unbekümmert an, daß ihr Verdacht für den Augenblick noch einmal beschwichtigt wurde.

 

»Kümmere dich nicht um Mr. Kelly«, sagte er. »Einer seiner Späße! – Was willst du denn hier?« fragte er Minn Lee, die in diesem Augenblick hereinkam.

 

Sie antwortete nicht, sondern sah nur neugierig Kelly an.

 

»Sie haben Jimmy McGrath erledigt und Tony Con O’Hara, stimmt’s?« fuhr der Beamte zu Tom gewandt fort.

 

Mary verfärbte sich.

 

»Das ist eine gemeine Lüge! Tony würde so etwas nie tun! Mein Mann hält sich gerade in Detroit auf.«

 

Tony sah sie scharf an, aber es gelang ihm nicht, ihr einen Wink zu geben. Er fügte sich deshalb mit philosophischer Gelassenheit in die Situation – einmal mußte es Mary ja doch erfahren.

 

»Ich glaube kaum, daß Sie wissen, wo er ist«, sagte Kelly. »Der Mann, der ihn kaltmachte, hat Ihnen einen Bären aufgebunden.«

 

»Das ist nicht wahr!« schrie sie. »Er ist in Detroit!«

 

Der Beamte sah sie kalt an und ging langsam auf sie zu.

 

»Er liegt im Leichenschauhaus in Lake Side!«

 

Sie wurde totenbleich und sank auf die Couch.

 

»Während der Nacht wurde er dort ans Ufer gelegt. Man fand ihn, kurz bevor ich mein Büro verließ.«

 

Angelo und Minn Lee führten die hysterisch schluchzende Mary aus dem Zimmer.

 

Tom Feeney schnalzte mit den Fingern. Er hatte interessiert zugehört und machte ein zufriedenes Gesicht.

 

»Das gefällt Ihnen, wie?« fragte Kelly. »Nun, wir werden schon noch sehen – fürs erste können Sie verschwinden.«

 

»Hören Sie mal, ich weiß nichts von dieser Geschichte«, protestierte Feeney.

 

»Kann schon stimmen. Dafür wissen Sie aber alles über Jimmy McGrath«, entgegnete Kelly ernst.

 

»Hab‘ den Mann niemals getroffen«, jammerte Feeney.

 

»Niemals getroffen?« Kelly musterte ihn mit einem scharfen Blick. »Natürlich, Sie sind jetzt ein großer Mann und lassen andere Leute die schmutzige Arbeit tun.«

 

Feeney hielt es für besser, das Thema zu wechseln.

 

»Darf ich die Gelegenheit gleich benützen und Sie zu meiner Geburtstagsfeier bei Bellini einladen? Es kommen lauter feine Leute – Richter Grichson, Oberrichter Aschen …«

 

»Danke bestens«, entgegnete Kelly kurz. »Ich studiere nicht Recht, ich übe es aus.«

 

Tom Feeny schnalzte mit den Fingern. Er hatte inter Zeile fehlt im Buch. Re. fühlen. Er wedelte verlegen mit der Hand, als er zur Tür ging. »Also, auf Wiedersehen …«

 

»Ich würde meine Geburtstagsfeier an Ihrer Stelle nicht bei Bellini abhalten!« rief ihm Kelly noch nach.

 

Tony und Angelo wechselten einen schnellen Blick.

 

»Warum denn nicht?« fragte Feeney bestürzt.

 

»Es gibt doch genug andere schöne Lokale in der Stadt, und wenn Sie meinem Rat folgen, haben Sie wenigstens Aussicht, nächstes Jahr wieder Geburtstag zu feiern.«

 

Feeney schaute von einem zum anderen, und plötzlich verstand er, was Kelly meinte.

 

»Ich danke Ihnen, Kommissar.«

 

»Nicht nötig – ich möchte nur haben, daß Sie einmal ganz rechtmäßig um die Ecke gebracht werden; das heißt durch das Gesetz. Sie haben doch einen große Anteil an Bellinis Restaurant, nicht wahr, Tony?«

 

Perelli antwortete nicht, und Feeney holte tief Luft.

 

»Man lernt doch nie aus«, murmelte er und ging.

 

»So, jetzt hätte ich gerne noch einmal mit Mrs. O’Hara gesprochen«, meinte Kelly.

 

»Das geht jetzt nicht.« Minn Lee war wieder hereingekommen und hatte die letzten Worte gehört. »Sie hat anscheinend einen Nervenzusammenbruch.«

 

»Was – und dann läßt du sie allein?« rief Tony heftig. »Man muß sofort einen Arzt holen …!«

 

Er stürzte aus dem Zimmer.

 

»Hat er nicht ein goldenes Herz?« sagte Kelly sarkastisch. »Eigentlich sollte er ein Kinderheim leiten.«

 

Minn Lee lächelte ihn freundlich an. Kelly überlegte einige Sekunden, ging dann zu der Tür, durch die Tony verschwunden war, öffnete sie und schaute hinaus. Leise schloß er sie dann wieder und kam zu Minn Lee zurück.

 

»Als die Polizeistreife Jimmy fand, lebte er noch einen Augenblick – das letzte, was er sagte, war Ihr Name …«

 

Ihre Augen strahlten, und als er sich zum Gehen wandte, nahm sie seine Hand und drückte sie fest. Ungeschickt klopfte er ihr auf die Schulter, drehte sich dann brüsk um und ging. Bewegungslos blieb sie stehen.

 

Nach einiger Zeit wurde die Tür aufgestoßen, und Tony führte Mary herein. Minn Lee verließ schnell das Zimmer durch die gegenüberliegende Tür. Mary war so mitgenommen, daß sie kaum laufen könnte. Sanft setzte sie Tony in einen Sessel und sprach tröstend auf sie ein.

 

»Mein armes, liebes Kind!« sagte er zärtlich. »Hier, trink ein Gläschen Cognac …« Vorsichtig strich er ihr übers Haar.

 

»Diese gemeinen Kerle!« seufzte sie unter Tränen. »Sie haben meinen Con ermordet!«

 

»Er soll ein prachtvolles Begräbnis haben, Mary. Ich werde Tom und seiner Bande einmal zeigen, was eine richtige Leichenfeier ist! Zwanzigtausend Dollar oder mehr soll sie kosten – auf Geld kommt es gar nicht an!«

 

»Und den gemeinen Kerl, der ihn erschossen hat, mußt du umbringen. Versprichst du mir das?«

 

»Aber natürlich! Im nächsten Telefonbuch wird man keinen Tom Feeney mehr finden, dafür garantiere ich dir.«

 

Angelo kam herein, und Tony wandte sich an ihn.

 

»Arrangiere alles für den armen Con«, befahl er ihm eindringlich. »Er soll das schönste Begräbnis haben, das man in Chicago je gesehen hat. Geld spielt keine Rolle! Kaufe Rosen, Lilien, Orchideen – was dir einfällt …«

 

Angelo, der sich Notizen gemacht hatte, sah auf.

 

»Es würde sich tatsächlich lohnen, wenn wir nächstens eine eigene Gärtnerei aufmachten«, meinte er.

 

»Auch einen Silbersarg soll er haben«, fuhr Tony begeistert fort. »Bestelle ihn sofort telefonisch in Philadelphia. Aber er muß besser sein als der von Shaun – viel besser, viel kostbarer!«

 

»Der hatte Engel drauf«, sagte Angelo geschäftsmäßig.

 

»Besorge einen besseren!«

 

»Gibt es denn noch etwas Besseres als Engel?« fragte Angelo verwundert.

 

»Natürlich – Erzengel!« fuhr ihn Tony an. »Also, bestelle den Sarg sofort.«

 

Kapitel 24

 

24

 

Mary ließ sich nicht beruhigen, und Tony brachte sie schließlich in ihr Zimmer. Angelo stand in der offenen Tür und sah nachdenklich hinter ihnen her.

 

Es war ihm ganz klar, daß die Zustände hier einer Krise zusteuerten. Der Wechsel von Minn Lee zu Mary würde auch noch andere entscheidende Veränderungen nach sich ziehen.

 

Lange Zeit stand Angelo, die Hand auf der Türklinke, und sah den Korridor entlang. Ganz in der Nähe stand in einer Garage ein schwerer Sportwagen. Eine Treppe, von der die Polizei keine Ahnung hatte, führte zu einem Geheimausgang. Alles war gut vorbereitet.

 

Angelo sah den Tatsachen ins Auge und machte sich keine Illusionen. Er hatte Tony in den vergangenen Jahren sehr gut kennengelernt, und einige untrügbare Anzeichen in seinem Benehmen hatten ihn gewarnt. Er wußte, daß er an der Reihe war und daß er heute abend unter einem Leichentuch liegen würde, wenn er keine Vorsichtsmaßregeln traf. Mit einem Seufzer drehte er sich um und schloß leise die Tür. Im Zimmer stand Minn Lee, die ihre Stickerei hatte holen wollen.

 

»Entsetzlich, wie Sie sich wegen Con aufführt«, sagte er.

 

Minn Lee lächelte.

 

»Wer weiß, vielleicht hat sie ihn doch geliebt.«

 

Angelo schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe genug von diesen ganzen Weibergeschichten.« Er lachte vor sich hin und ließ sich in einen Sessel fallen. »Wirklich, ein großartiges Leben hier!«

 

»Wo werden Sie einmal enden, Angelo?«

 

»Darüber dachte ich gerade auch nach. Es war Aussicht vorhanden, daß ich eines Tages die Leitung dieser ruhmvollen Organisation übernehmen würde – und ich kann Ihnen versichern, daß dann manches anders geworden wäre. Aber jetzt …« Er machte eine vielsagende Geste.

 

Dann stand er auf und ging zu Minn Lee hinüber, die an der Wand lehnte.

 

»Tony sagte mir etwas von einer neuen Geschäftsführerin, die er für eines seiner schmutzigen Lokale in Cicero braucht.«

 

»So?« fragte sie gleichgültig.

 

»Ich hoffe, daß er nicht jemand auswählt, den ich kenne.«

 

»Er wird schon die richtige Frau dafür finden – ich werde es auf jeden Fall nicht sein.«

 

»Hoffentlich nicht – um unser aller willen.«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Was soll das heißen, Angelo? Was würden Sie denn tun, wenn er …?«

 

»Nichts, was mir später leid täte.« Er setzte sich auf den Klavierstuhl und drehte sich einmal im Kreis herum.

 

»Ich denke, Sie schätzen Tony sehr.«

 

Angelo lächelte.

 

»Teils, teils. Zugegeben, er ist tüchtig – aber jetzt hat er einige Sachen gemacht, die nicht hätten vorkommen dürfen.«

 

Nur selten hatte er so offen mit ihr gesprochen.

 

»Sie müssen sehr viel Vertrauen zu mir haben, daß Sie mir das alles sagen. Wenn Tony wüßte, wie Sie denken …«

 

Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

 

»Er wäre tot, bevor er die Hand an der Pistole hätte.«

 

In diesem Augenblick trat Tony ins Zimmer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Angelo betrachtete ihn kritisch.

 

»Wie steht’s? Geht es Mutter und Kind gut?« erkundigte er sich.

 

»Werde nicht zu frech!« fuhr ihn Tony an. Hätten ihn die augenblicklichen Ereignisse nicht so stark in Anspruch genommen, dann wäre ihm die auffallende Veränderung in Angelos Wesen sicher nicht entgangen.

 

»Was wird sie tun?« fragte Minn Lee.

 

»Sie bleibt hier«, erwiderte Perelli kurz.

 

»Hat sie denn keine Freunde?«

 

»Doch – mich«, knurrte er ärgerlich. Angelo war ihm im Weg, und er wandte sich zu ihm. »Laß mich mal mit Minn Lee allein – und noch eines, Angelo: Um sechs Uhr muß ein Wagen für Minn Lee vor der Haustür stehen.«

 

Angelo nickte gleichmütig mit dem Kopf und ging hinaus. Tony sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach.

 

»Der Kerl wird zu frech«, murmelte er vor sich hin. »Na, an einem der nächsten Tage …«

 

Es fiel ihm nicht leicht, das zu erledigen, was jetzt erledigt werden mußte. Mit einer Handbewegung winkte er Minn Lee zu sich.

 

»Komm her, Liebling. Mir fällt da gerade etwas ein …« Er nahm ihre Hand und betrachtete prüfend die prachtvollen Ringe. »Es sind wertvolle Steine«, fuhr er langsam fort. »Meinst du nicht, daß sie einmal neu gefaßt werden müßten? Am besten, ich lasse das gleich morgen bei Tiffany erledigen.«

 

Er hielt die Hand auf, und ohne Widerstreben streifte sie einen Ring und ein Armband nach dem andern ab und gab sie ihm. Zufrieden schob er sie in die Tasche.

 

»Sie werden großartig aussehen, wenn sie neu gefaßt sind. Ich gebe sie dir natürlich zurück, keine Sorge! Die Arbeit wird ausgeführt, während du fort bist.«

 

Auf seinen letzten Satz hatte er besonderen Nachdruck gelegt, und sie sah ihn groß an.

 

»Während ich fort bin?«

 

»Ja, du wirst mich ein wenig verlassen müssen. Weißt du, so schnell komme ich nicht über die Sache mit Jimmy weg … Ich liebe dich zu sehr«, sagte er vorwurfsvoll. »Hoffen wir, daß ich das mit der Zeit vergessen kann …«

 

Ein langes Schweigen folgte. Minn Lee sah mit ihrem unergründlichen, rätselvollen Lächeln auf ihren nackten Arm.

 

»Wohin soll ich denn gehen?« fragte sie sanft.

 

Er nahm ihre Hände in die seinen.

 

»Ich will es dir sagen. Du möchtest mir doch gern helfen, nicht wahr? In der letzten Zeit habe ich viel Schwierigkeiten in Cicero gehabt. Diese verdammten Mädchen haben mich bestohlen, wo sie nur konnten – die Geschäftsführerin des großen Lokals mußte ich hinauswerfen. Sie taugte nichts.«

 

Er hörte, daß Minn Lee scharf die Luft einzog und erwartete einen Tränenausbruch; doch er hatte sich getäuscht.

 

»Du möchtest, daß ich ihre Stelle einnehme?« fragte sie und schüttelte den Kopf.

 

»Nur für kurze Zeit«, bat er in seinem freundlichsten Ton. »Du bist sehr gewissenhaft, Minn Lee, und könntest dort alles für mich in Ordnung halten. Natürlich erhältst du eine schöne Wohnung, Autos, was du willst …«

 

Sie schüttelte wieder den Kopf, und diesmal sah er sie scharf an und redete im Befehlston.

 

»Minn Lee, ich bin sehr gut zu dir gewesen!«

 

»Ja, du hast recht …«, sie sprach jetzt so leise, daß er sie kaum verstehen konnte.

 

»Also, sei lieb und mach mir keinen Kummer!«

 

Seine Worte klangen bestimmt; die Sache war für ihn erledigt. Mit einem vergnügten Lächeln stand er auf.

 

»Ich spiele ein wenig Klavier; du kannst mir zuhören.«

 

»Spiele nur, Tony«, sagte sie. »Ich muß meiner Schneiderin noch schreiben …«

 

»Gut.« Er setzte sich an das Instrument und sprach, während er spielte. »Natürlich werden deine Rechnungen, die noch offenstehen, alle bezahlt. Leg sie nur auf den Tisch, damit Angelo sie findet!«

 

Sie hörte ihm nicht mehr zu. Vor ihr lag ein großer Block, und sie begann schnell zu schreiben, während Tony sich seinem Spiel widmete.

 

Plötzlich fühlte er ihre Hand auf seiner Schulter und schaute auf. Ihr Gesicht war bleich.

 

»Du bist doch nicht krank?« fragte er bestürzt. Das hätte die Angelegenheit im Augenblick unangenehm kompliziert. – »Nein, nein – ich bin nicht krank.«

 

»Schön, Minn Lee, du bist ein tüchtiges Mädchen.« Er streichelte ihre Hand. »Aber du siehst so blaß aus.«

 

»Ein wenig Kopfschmerzen, Tony …«

 

»Leg dich doch hin!«

 

Er sah, wie sie sich auf die Couch legte, und begann wieder zu spielen. Angelo kam ihm in den Sinn, und er redete halb über die Schulter zu Minn Lee hin.

 

»Dieser Angelo macht mir Sorgen! Der Kerl spielt sich zu sehr auf – es ist immer dasselbe mit den kleinen Leuten, denen man eine Chance gibt. Er wird sich wundern! – Hörst du eigentlich zu, Minn Lee? Minn Lee, bist du eingeschlafen? Du wirst noch packen müssen, der Wagen ist um sechs Uhr da.«

 

Er stand auf und streckte sich. Dabei sah er den Briefbogen, den sie seitlich auf das Klavier gelegt hatte. Nachlässig nahm er ihn auf und las ihn flüchtig – aber dann fuhr er entsetzt herum. Sein Gesicht war aschgrau.

 

»Minn Lee! Minn Lee!« rief er heiser.

 

Sie lag ganz still. Ihr Gesicht war totenbleich.

 

»Minn Lee, um Himmels willen, was hast du getan!« schrie er verzweifelt und lief zu ihr. »Minn Lee …!«

 

Es klopfte scharf an die Tür, und bevor er einen klaren‘ Gedanken fassen konnte, stand Kelly vor ihm.

 

Der Beamte überflog die Szene mit einem Blick – die Tote, die friedlich und ruhig auf dem Sofa lag, den vor Schreck zitternden Perelli.

 

»Was ist …«

 

Dann sah er die Hand Perellis auf Minn Lees Brust – sie hielt den Griff des Dolches umklammert, mit dem sie sich getötet hatte.

 

»Lassen Sie das Ding los!«

 

Tony sah ihn wie betäubt an. Er öffnete seine Hand …

 

»Rühren Sie sich nicht!«

 

Kelly hatte eine Pistole gezogen und hielt Tony damit in Schach.

 

»Nein, nein! Ich habe es doch nicht getan!« stammelte Perelli. »Wirklich nicht … Es ist Selbstmord – dort liegt der Brief. Lesen Sie doch – sie hat es selbst geschrieben …«

 

Kelly nahm das Blatt und las die wenigen Worte.

 

›Leb wohl, Tony. So ist es besser für mich.

Deine Minn Lee‹

 

Es war ihre Schrift. Kelly schaute Tony an – dann holte er sein Feuerzeug heraus, knipste es an und hielt es an das Blatt Papier.

 

»Ich weiß nicht, wieviel Menschen Sie getötet haben, ohne dafür bestraft zu werden«, sagte er mit haßerfüllter Stimme und sah zu, wie das Blatt Feuer fing. »Komisch, daß Sie jetzt für eine Tat auf den elektrischen Stuhl kommen werden, die Sie nicht begangen haben – wirklich originell, wie?«

 

Diese Worte wirkten auf Perelli wie eine kalte Dusche; plötzlich gewann er seine Besinnung wieder. Er lief zum Telefon, wählte eine Nummer und sprach gleich darauf mit einem Mann, den Kelly gut kannte – es war einer der bekanntesten Rechtsanwälte Chicagos. Der Beamte zuckte hilflos die Schultern – einen Augenblick lang hatte er geglaubt, daß es nun mit Perelli aus sei, aber jetzt erkannte er, daß es überhaupt kein Ende gab. Perelli wußte zu gut Bescheid – und hatte zu viel Geld. Er würde verhaftet werden, sicher – aber bei der Verhandlung würde man ihn mangels Beweisen wieder freilassen. Welchen Zweck hatten alle seine Bemühungen noch? Perellis Worte fielen ihm ein, daß sich die Unterwelt eigene Gesetze geschaffen habe.

 

Mit einer resignierten Handbewegung drehte er sich um und ging zur Tür. Er sah nicht, daß Angelo durch die gegenüberliegende Tür hereinschaute und mit einem langen Blick die Situation erfaßte. Von Minn Lee, die er geliebt hatte, schaute er zu Perelli, den er haßte …

 

»Da haben Sie es, Kelly!« rief Tony triumphierend. »Sagte ich Ihnen nicht, daß ich selbst das Gesetz bin? Sie sind zwar sehr geschickt, aber noch lange nicht so geschickt wie ich. Ich habe meinem Rechtsanwalt alles erzählt … Na, was meinen Sie, was jetzt passiert? Gar nichts werden Sie mir anhaben können …«

 

Angelo öffnete die Tür ein wenig weiter, in der Hand hielt er eine schwere Pistole.

 

»Also, hören Sie mal zu, Kelly …« begann Tony wieder.

 

Zwei, drei Schüsse krachten. Angelo schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Dann eilte er zu dem Geheimausgang, vor dem sein Wagen wartete.

 

Kelly, der noch unter der Tür stand, war herumgefahren. Gleich darauf schaute er düster auf den Toten, der zu seinen Füßen lag.

 

»Das hatte er vergessen«, sagte er langsam, »die Strafe seines eigenen Gesetzes.«

 

Kapitel 3

 

3

 

Victor Vinsetti nahm eine recht außergewöhnliche Stellung in der Unterwelt von Chicago ein. Seit zwei Jahren war er der Unterhändler einiger großen Banden, die den Schmuggelbetrieb auf den großen Seen Kanadas aufrechterhielten. Seine Haupttätigkeit bestand außerdem darin, die vielen Streitigkeiten zu schlichten, die für gewöhnlich unter den Geschäftspartnern auszubrechen drohten.

 

Er sah gut aus und stand in dem Ruf, zu Damen besonders höflich zu sein.

 

Zu seinem Unglück machte er den Fehler, sich in Kanada mit einer jungen Dame zu verloben, die sich nicht ohne weiteres abschütteln ließ, als er ihrer überdrüssig wurde. Sie verklagte ihn wegen Bruchs des Heiratsversprechens, und obwohl er mit Hilfe eines geschickten Rechtsanwaltes die Sache durch einen Vergleich beizulegen versuchte, wurde er zur Zahlung einer beachtlich großen Schadenersatzsumme verurteilt. Er zahlte, ohne mit der Wimper zu zucken. Viel schlimmer war es für ihn, daß er durch diese Sache seinen Posten als Agent verlor, was ihn um einen großen Teil seiner Einnahmen brachte.

 

»Skandale liegen mir nicht«, erklärte ihm Tony Perelli, als die Angelegenheit zwischen ihnen zur Sprache kam. »Sie sind in Kanada jetzt bekannt wie ein bunter Hund, und das kann ich begreiflicherweise nicht gebrauchen.«

 

»Das ist doch unsinnig«, entgegnete Vinsetti, für den allerhand auf dem Spiel stand.

 

»Möglich. Das ist wenigstens Ihre Ansicht – ich denke anders darüber. Gehen Sie eine Zeitlang nach dem Osten und seien Sie froh, daß ich Ihnen nichts weiter nachtrage.«

 

Er klopfte Vinsetti liebenswürdig auf die Schulter.

 

Als er am Abend allein mit Minn Lee zusammensaß, unterhielt er sich eingehend mit ihr über den Vorfall. Sie saßen Seite an Seite auf einer breiten Couch; der Raum war matt erleuchtet vom Schimmer einiger bernsteinfarbiger Lampen.

 

»Dieser Vinsetti läuft zu sehr den Weibern nach. Unentwegt diese Liebeleien und ähnlicher Unsinn.«

 

»Ist denn Liebe Unsinn?« fragte sie lächelnd.

 

Er schmunzelte. »Die Liebe zu dir natürlich nicht! Aber wo in der Welt findet man auch eine solche Frau wie dich?«

 

Er streichelte vorsichtig ihre kleine Hand und schaute sie zärtlich an; dann ging er zum Klavier und spielte eine Stunde lang. Sie lauschte ihm hingegeben; er war ein hervorragender Pianist. Auch Geigenspielen konnte er virtuos, aber vor allem Klaviermusik war seine Leidenschaft.

 

Als Tony zu Minn Lee zurückkehrte und sich an ihrer Seite niederließ, fing er noch einmal von Vinsetti an.

 

»Der Junge ist tatsächlich ein wenig zu unbeständig – aber trotzdem war er mir sehr nützlich. Er konnte wenigstens wie ein vornehmer Mann auftreten und mit vornehmen Leuten verhandeln. Vielleicht überlege ich mir die Sache doch noch. Schließlich macht jeder einmal einen Fehler…«

 

Ein paar Tage später hatte er Victor Vinsetti schon beauftragt, mit dem Polizeichef Kelly über die Freilassung eines Bandenmitglieds zu verhandeln, das die Polizei geschnappt hatte. Es war ein Triumph für Vinsetti, daß er den Mann durch seine geschickte Verhandlungstaktik freibekam.

 

»Eigentlich hätten wir den Burschen ja hierbehalten sollen«, sagte Kelly, als er mit Harrigan die Sache besprach.

 

»Vielleicht – vielleicht auch nicht«, erwiderte Sergeant Harrigan. »Meiner Meinung nach hat Perelli nur deshalb so viel Wert darauf gelegt, daß dieser Bursche freikommt, weil er fürchtet, man könnte dem Mann noch ein anderes Verbrechen zur Last legen. Heute morgen wurde Red Gallway gefunden – er ist von hinten niedergeknallt worden.«

 

»Das war zu erwarten – der Mensch hat auch wirklich zu viel geredet. Übrigens, es ist zwar Zeitvergeudung, aber vielleicht besuche ich doch einmal Perelli.«

 

»Wissen Sie, daß er eine neue Frau im Haus hat?«

 

»Ja, ich weiß – Minn Lee, Mrs. Waite oder wie sie sonst heißt. Eines muß man Perelli schon lassen – er ist das, was es eigentlich gar nicht gibt: ein Gentleman Verbrecher. Eine nette Auswahl von Rohlingen hat er ja um sich versammelt, aber niemals hat einer seiner Bande etwas verraten.«

 

Harrigan sah ihn bedeutungsvoll an.

 

»Früher oder später wird wenigstens einer pfeifen«, meinte er leise.

 

»Denken Sie an Vinsetti? Wenn der Fall eintreten sollte, weiß Perelli früher davon als wir – und wenn erst Perelli etwas davon weiß …«

 

Er lächelte und vollendete den Satz nicht.

 

Harrigan zündete sich eine Zigarre an.

 

»Natürlich wird Vinsetti niemals als Zeuge vor Gericht zu gebrauchen sein. Immerhin will er sich aber gut mit der Polizei stellen, und ganz bestimmt wird er uns eines Tages Einzelheiten sagen, die uns Perelli vielleicht ans Messer liefern.«

 

»Glauben Sie? Dann sagen Sie ihm, wenn Sie ihn das nächstemal sehen, daß Perelli ganz genau weiß, was für ein unsicherer Kantonist er ist. Sichern Sie Vinsetti zu, daß wir ihm jeden Schutz gewähren, wenn er beichtet.«

 

Harrigan versuchte während der beiden nächsten Tage ein zufälliges Zusammentreffen mit Victor Vinsetti herbeizuführen. Er hatte keinen Erfolg, weil Vinsetti inzwischen Minn Lee getroffen und prompt Feuer gefangen hatte.

 

Minn Lee hatte zwar etwas eigenartige Begriffe von Ehrenhaftigkeit, aber man mußte ihr lassen, daß sie sich wenigstens streng danach richtete. Zum Beispiel wäre es ihr nie eingefallen, den Mann zu betrügen, dem sie angehörte. So hinterbrachte sie alles, was Vinsetti tat und was er ihr vorschlug, getreulich Tony. Ohne viel Aufhebens davon zu machen, erzählte sie ihm, was sich jeden Tag zugetragen hatte. Gerade ihre Bescheidenheit und Zurückhaltung waren es, was Tony Perelli so an ihr leiden mochte.

 

Vinsetti hatte über viele Dinge mit ihr gesprochen; vor allem natürlich über seine Liebe und über das glanzvolle und abwechslungsreiche Leben in Europa, das er ihr bieten wollte. Aber er hatte auch andere Dinge berührt, die Antonio Perelli nicht im günstigsten Licht erscheinen ließen. Zum Beispiel erzählte er ihr von einigen Gebäuden im Stadtteil Cicero, die eine ganze Reihe sehr übel beleumdeter Lokale enthielten.

 

Minn Lee war nicht sehr aufgebracht darüber. Was Tony Perelli auch tat, war für sie richtig.

 

Tony dagegen, dem sie berichtete, war ernstlich böse; als er Vinsetti am nächsten Tag traf, war er kurz angebunden.

 

»Wenn du mit Minn Lee sprechen willst«, sagte er zu ihm, »dann benütze in Zukunft am besten das Telefon. Du bist zwar brauchbar – aber auch du redest zuviel!«

 

Als Vinsetti Tony ansah, erschrak er. War er diesmal zu weit gegangen?

 

An und für sich war Tony Perelli durchaus nicht sehr nachtragend. Man konnte mit ihm streiten, und er war nicht der Mann, der sich ewig über eine solche Zwistigkeit ärgerte. Anders war es, wenn gewisse Grenzen überschritten wurden – dann konnte er erbarmungslos sein.

 

Bis jetzt war Tony Perellis Streit mit Vinsetti rein privater Natur. Man hatte ihn in den Augen seiner Frau herabgesetzt, und er fühlte sich deshalb in seiner persönlichen Ehre angegriffen. Allerdings schien er auch diese Sache noch einmal vergessen zu wollen. Doch Vinsetti hatte den Haß in Perellis Augen gesehen, und das hatte genügt, um seine Leidenschaft abkühlen zu lassen. Er wurde vorsichtig. Als geborener Diplomat wußte er, daß man seinem Gegner schmeichelte, wenn man sich vor ihm in acht nahm. Nach einer Weile schien auch wieder alles im alten Geleise zu sein, wenigstens war Perelli liebenswürdig wie immer. Vinsetti aber war trotzdem beunruhigt.

 

Er sollte recht behalten.

 

Für gewöhnlich war Tony großzügig, gleichzeitig lag aber etwas von der Hinterlist einer Katze in seinem Charakter: Ohne vorher zu warnen, schlug er rücksichtslos zu. Diesmal machte er eine Ausnahme und deutete bei Vinsettis nächstem Besuch an, was er wußte.

 

»Dein Urlaub fällt dieses Jahr ins Wasser«, sagte er. »Gib deinen Platz auf der ›Empress of Australia‹ lieber zurück. Du hättest das Geld zum Fenster hinausgeworfen, verstehst du?«

 

Mehr sagte er nicht. Er machte Vinsetti seltsamerweise keinerlei Vorhaltungen und geriet nicht in Wut über dessen unverzeihliche Handlungsweise. Unverzeihlich war sie, denn wenn ein Mann sich heimlich von seiner Bande zu drücken versucht, der er angehört, ist er für immer bei seinen früheren Freunden geächtet. Früher oder später ist ihm eine Kugel sicher.

 

Perellis Nachrichtensystem hatte auch diesmal wieder vorzüglich gearbeitet. In jeder Bank, auf jedem Reisebüro hatte er Leute sitzen, die ihn informierten, wenn ein Mitglied seiner Bande irgendeinen verdächtigen Schritt unternahm.

 

Eigentlich war es schade um Vinsetti, auch nach Angelos Meinung. In seiner Art hatte ihn niemand übertroffen. Man brauchte Leute, die sich so zu kleiden verstanden wie er und die vor allem mit den nach außen hin sehr ehrenwerten Schuften umgehen konnten, die den Rohstoff für Perellis Handel lieferten. Auch als Verbindungsmann zwischen den einzelnen Schmugglerbanden war Vinsetti unbezahlbar. Er war der einzige, der sich ohne weiteres in jedem Bezirk sehen lassen konnte. Sowohl zu dem Polen Joe als auch zu Tom Feeney und den Chefs anderer Organisationen stand er in guten Beziehungen. Schwierige Angelegenheiten behandelte er diskret; wenn er etwas versprochen hatte, konnte man sich darauf verlassen – und außerdem verstand er ausgezeichnet, mit Pistolen aller Kaliber umzugehen.

 

Perellis Tätigkeit erstreckte sich auf die verschiedensten Gebiete. Fast überall war er an erlaubten und unerlaubten Geschäften beteiligt; einen scharfen Trennungsstrich zog er aber zwischen sich und der gewöhnlichen Sorte von Gangstern. Er hatte seinen eigenen Ehrenkodex, von dem er unter keinen Umständen abwich. Das Geld der Leute, die er aus irgendwelchen Gründen hatte beseitigen lassen, fand man stets unberührt. Vor allem aber schätzten es seine Geschäftspartner, daß man sich sowohl als Käufer wie als Verkäufer unbedingt auf ihn verlassen konnte. Seinen ›Angestellten‹ zahlte er unheimliche Gehälter, aber obgleich er eine kleine Armee beschäftigte, hatte er doch alle Einzelheiten seiner vielen geschäftlichen Transaktionen selbst im Kopf.

 

Er war klug, am meisten nützte ihm aber sein sechster Sinn, der ihn fast immer rechtzeitig vor Gefahren warnte. Deshalb gehorchte er auch seinen Eingebungen blindlings. Auch Red hatte er nicht etwa erschießen lassen, weil dieser zur Polizei gegangen war, sondern weil er das Gefühl hatte, daß er für ihn in Zukunft eine große Gefahr bedeuten könne.

 

Kapitel 15

 

15

 

Tom Feeney betrat vorsichtig den Raum. Er war vor längerer Zeit schon einmal hier gewesen, aber inzwischen hatte sich sehr viel ereignet. Zum Beispiel war Vinsetti gestorben, und man hatte die näheren Umstände seines Todes in der Unterwelt eingehend besprochen.

 

In der Tür drehte sich Tom um und gab mit lauter Stimme seinen Begleitern Instruktionen – mehr um sich selbst Mut zu machen.

 

»Also, Jungs, legt eure Schießeisen fort. Das ist so abgemacht – stimmt doch, Tony?«

 

Perelli wußte genau, was in Tom vorging, und lächelte.

 

»Natürlich. Legt eure Kanonen auf den Tisch – und schenken Sie sich einen Whisky-Soda ein, Tom.«

 

Feeney holte zwei Pistolen aus seinen Schulterhalftern hervor und warf sie ostentativ auf den Tisch.

 

»Hier!«

 

Tony brachte ebenfalls zwei Pistolen zum Vorschein und legte sie daneben.

 

»Wo ist Angelo?« fragte Tom und schaute sich um.

 

»Ich habe ihn zu Schoberg geschickt.«

 

Tom war von dieser Antwort befriedigt.

 

»Eine gute Idee – Sie allein sind schon gerade genug.«

 

Tony holte eine Kiste Zigarren und bot zu rauchen an. Tom wählte und bediente sich.

 

Niemand sah Minn Lee, die von ihrem Zimmer aus auf den Balkon gegangen war und jetzt dicht neben dem geöffneten Fenster stand.

 

Tony zündete sich auch eine Zigarre an und begann das Gespräch.

 

»Hören Sie, Tom, was ich am Telefon sagte, meine ich auch so. Wir verdienen beide Geld – warum streiten wir uns denn um die paar Dollars? Hat doch eigentlich gar keinen Sinn.«

 

»Stimmt schon.« Feeneys Begeisterung wirkte nicht ganz echt. »Sie haben wirklich mehr Verstand als ein Professor!«

 

Perelli rückte zwei Sessel dicht nebeneinander, und sie nahmen Platz.

 

»Bedenken Sie vor allem eins, Tony – ich habe zwei gute Leute verloren, und bevor wir uns verständigen können, müssen wir uns erst über Shaun einigen. Wenn das erledigt ist, haben wir schon den Hauptteil der Schwierigkeiten überwunden.«

 

Tony murmelte etwas, und Tom hob die Hand.

 

»Ich weiß, ich weiß – Shaun konnte Sie nicht leiden! Er war hinter Ihnen her. Vergessen Sie aber nicht, daß ich eine Schwester habe, die mit ihm verheiratet war. Und Sie wissen ja, wie die Frauen sind. Sie jedenfalls ist jetzt darauf versessen, die beiden um die Ecke zu bringen, die ihren Mann erschossen haben – und meine Leute sind auf ihrer Seite.«

 

»Ihre Schwester ist eine sehr liebenswürdige, nette Dame«, entgegnete Perelli höflich.

 

Aber Tom ließ sich durch solche Komplimente nicht beeindrucken.

 

»Tun Sie nicht so, Perelli. Ihr Geschmack ist sie bestimmt nicht; und sie hat auch sonst noch niemals einen Mann begeistert mit Ausnahme von Shaun. Das macht die Sache eben so schwierig!«

 

»Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun?« fragte Tony geradezu.

 

Tom lehnte sich vor und sprach mit äußerstem Nachdruck.

 

»Wir wissen genau, wer Shaun umgelegt hat – es waren der junge McGrath und Con O’Hara; einer meiner Leute hat sie zurückfahren sehen. An dem jungen Studentchen verlieren Sie nicht viel. Für Con tut es mir eigentlich leid – ich habe ihn in New York gekannt –, aber er redet wirklich zu viel. Haben Sie eigentlich seine Frau schon gesehen?«

 

Tony hatte Mary nicht vergessen.

 

»Ja, ich kenne sie. Also, was soll ich tun?«

 

Tom Feeney dämpfte seine Stimme.

 

»Schicken Sie die beiden heute nacht an einen Platz, den ich Ihnen angebe, damit meine Leute sie erledigen können. Sagen wir elf Uhr, Ecke der Michigan Avenue und der Vierundneunzigsten Straße. Ein paar meiner Jungs werden dort sein – und damit wäre der Streit beigelegt.«

 

»Nein, das tue ich nicht!« fuhr Tony auf.

 

»Kann mir denken, daß Ihnen das nicht liegt, aber überlegen Sie doch mal …«

 

Perelli stützte das Kinn auf die Hand, und einige Minuten lang schwiegen sie.

 

»Die beiden haben mir schon allerhand Sorgen gemacht«, begann schließlich Perelli wieder. In seiner Stimme lag jetzt ein merkwürdiger Unterton. Als Tom sah, daß Tony angebissen hatte, stieg seine Hoffnung.

 

»Es gibt in jeder Organisation schlechte Kerle und Verräter – denken Sie nur an Vinsetti!«

 

»Das weiß ich selbst am besten …!«

 

Tony lächelte grimmig.

 

»Na also. Und hier ist es nicht anders. Wenn Sie keinen Spektakel wollen, ist dies der beste Weg.«

 

»Gut, die Sache ist in Ordnung«, sagte Tony langsam. »Ich schicke die beiden heute abend hin.«

 

Sie standen zu gleicher Zeit auf, als es an die Tür klopfte. Es war Angelo, halb verborgen hinter einem riesigen Blumenarrangement, das er vor sich hertrug und vor Tom niedersetzte.

 

Schoberg, der beste und teuerste Blumenhändler Chicagos, hatte wirklich ein Meisterwerk geliefert. Tom Feeney war gerührt.

 

»Wirklich sehr aufmerksam von Ihnen. Wunderschön – diese Blumen.«

 

Er nahm die Karte, die an dem Arrangement befestigt war und las:

 

Die Engel sahen Shaun und sangen,

ein guter Mann ist heimgegangen.

 

Tiefstes Beileid von Tony Perelli.

 

Tom war den Tränen nahe.

 

»Donnerwetter – wie schön gesagt!«