17

 

Mr. Smith spielte gerade Golf in Walton Heath, als nach ihm telefoniert wurde.

 

Er brach sofort auf und traf Ela beim Mittagessen im Ritz-Hotel.

 

»Jetzt ist alles verständlich«, sagte er. »Das eigenartige Verschwinden Mr. Farringtons ist aufgeklärt.«

 

»Mir ist aber die endgültige Lösung doch noch ein wenig schleierhaft«, erwiderte Ela unsicher.

 

»Dann will ich es Ihnen einmal in einfachen Worten erklären«, entgegnete Mr. Smith, als er sich eine Sardine von der Horsd’oeuvre-Platte nahm. »Farrington wußte schon lange, daß George Doughton der gesuchte Tollington-Erbe war. Er kannte dieses Geheimnis seit vielen Jahren. Aus diesem Grund ließ er sich auch in Great Bradley nieder, wo die Doughtons beheimatet waren. Offenbar waren damals die älteren Doughtons schon gestorben, und nur George Doughton, der etwas romantische und unpraktische Wissenschaftler, repräsentierte die Familie.

 

George hatte sich in die jetzige Lady Constance Dex verliebt, und da Farrington das wußte, tat er alles, um sich bei ihr beliebt zu machen. Er wußte, daß das Vermögen zu gleichen Teilen an Doughton und seine Frau fallen sollte. George Doughton war Witwer und hatte einen Sohn, der damals zur Schule ging. Es ist sehr leicht möglich, daß Farrington den Jungen, der nur in den Ferien nach Great Bradley kam, nicht kannte und keine Ahnung von seiner Existenz hatte.

 

Die Tatsache, daß dieser Knabe am Leben war, muß seine Absichten geändert haben. Immerhin schien er der Verlobung der beiden nichts in den Weg zu legen, während er einen Plan ausdachte, durch den er einen großen Teil der Tollington-Millionen für sich erwerben konnte. Aber er muß sein Vorhaben noch einmal geändert haben.

 

Während seines Aufenthalts in Great Bradley wurde ihm die Pflegschaft von Doris Gray anvertraut, und als er sich mehr und mehr für das junge Mädchen interessierte und sie liebgewann, muß er die außerordentlich günstige Chance wahrgenommen haben, die ihm das Schicksal gewissermaßen in die Hände spielte. Diese Liebe zu Doris Gray war einer seiner wenigen schönen Charakterzüge.

 

Mit teuflischer List und Genialität, mit rücksichtsloser Konsequenz, die an die unheimlichen Taten der Borgias erinnert, plante er zuerst George Doughtons Tod, um dann dessen Sohn mit seinem Mündel zu verheiraten. Er machte die beiden jungen Leute miteinander bekannt, gab ihnen Gelegenheit, sich häufig zu sehen, und hoffte, auf diese Weise das gewünschte Resultat zu erzielen.

 

Aber die Dinge entwickelten sich nicht schnell genug für ihn. Außerdem muß er, wie kürzlich die anderen Treuhänder, plötzlich erfahren haben, daß das Testament einen bestimmten Termin zur Auffindung des Erben setzte. Infolgedessen versuchte er, seine Nichte zu beeinflussen, aber er fand wenig Gegenliebe bei ihr. Er hat sogar den kühnen Trick versucht, Frank Doughton dazu anzustellen, sich selbst zu entdecken! Hiermit verband er eine doppelte Absicht. Einmal mußte der junge Mann dann dauernd mit ihm in Verbindung bleiben, zweitens wurden die anderen Treuhänder zufriedengestellt, die Farrington den Auftrag gegeben hatten, die nötigen Maßnahmen zur Auffindung des vermißten Erben zu ergreifen.

 

Aber alle Bemühungen, Doris Gray einer Heirat mit Frank Doughton geneigt zu machen, mißlangen. Der Termin näherte sich immer mehr, an dem er das Vermögen des jungen Mädchens aushändigen mußte. Seine Vormundschaft erlosch zufällig zu demselben Zeitpunkt, an dem auch die Frist zur Auffindung des Erben ablief. Farrington wurde also zu einem verzweifelten Schritt getrieben. Aber es gab natürlich auch noch andere Gründe für seine Handlungsweise.

 

Ausschlaggebend für ihn war auch die Erkenntnis, daß ich ihn verdächtigte, und die Gewißheit, daß Lady Constance ihn verraten würde, sobald sie entdeckte, daß er für den Tod ihres Geliebten verantwortlich war. Aber der Hauptgrund für sein Verschwinden war das Testament, das nach seinem angeblichen Tod eröffnet und verlesen wurde.

 

In diesem Testament setzte er unumstößlich fest, daß Doris Frank Doughton unverzüglich heiraten sollte. Vermutlich weiß sie jetzt, daß Farrington noch lebt. Wahrscheinlich enthüllte er ihr seine Pläne, soweit sie seinen angeblichen Tod betrafen, weil er von Schrecken erfaßt wurde, daß sie noch zögerte.«

 

Mr. Smith schaute durch das Fenster auf den Verkehrsstrom, der Piccadilly entlangflutete. Auf seinem Gesicht drückten sich Sorge und Zweifel aus.

 

»Ich könnte Farrington morgen fassen, wenn ich wollte«, sagte er nach einer Weile, »aber ich möchte nicht nur ihn, sondern seine ganze Organisation in die Hand bekommen.«

 

»Was halten Sie denn von dem Verschwinden der Lady Constance Dex?« fragte Ela. »Während wir warten, ist sie doch schließlich in Gefahr?«

 

Mr. Smith schüttelte den Kopf.

 

»Wenn sie in diesem Augenblick noch nicht tot ist, wird ihr nichts geschehen. Wenn Farrington sie töten wollte – denn er war es, der sie entführt hat –, hätte er es ebensogut in ihrem Hause tun können. Niemand hätte diesen Mord aufklären können. Lady Constance muß warten. Wir müssen dem Glück so lange trauen, bis ich in der Lage bin, den unterirdischen Raum zu inspizieren, wo sie gefangengehalten wird. Ich will dieser Erpresserbande ein für allemal das Handwerk legen, die direkt unter den Augen der Polizei und allen Gesetzen zum Hohn ihr Unwesen treibt. Bevor mir das nicht gelungen ist, will ich nicht mehr ruhig schlafen!«

 

»Und Poltavo?«

 

»Auch Poltavo kann noch ein wenig warten«, meinte Mr. Smith lächelnd.

 

Er zahlte die Rechnung; sie verließen das Hotel und überquerten die Straße. Ein Mann, der scheinbar die Auslagen in den Schaufenstern betrachtete, beobachtete sie, als sie herüberkamen, und folgte ihnen unauffällig. Ein anderer, der auf der entgegengesetzten Seite der Straße entlangkam und ostentativ in einer Zeitung las, kam dicht hinter ihnen her.

 

Mr. Smith und sein Begleiter erreichten die Cork Street, die verlassen dalag. Nur ein oder zwei Fußgänger waren zu sehen. Der erste der beiden Verfolger beschleunigte jetzt seine Schritte, griff nach seiner Hüfttasche und zog einen Gegenstand hervor, der in der Aprilsonne aufglänzte. Aber bevor er die Hand erheben konnte, holte der vierte Mann ihn ein, ließ seine Zeitung fallen, schlang mit außerordentlicher Geschicklichkeit einen Arm um den Hals des Mannes, drückte ihm das Knie in den Rücken und entwand ihm die Pistole.

 

Mr. Smith wandte sich bei dem Lärm des Kampfes sofort um und eilte dem Detektiv zu Hilfe. Der Gefangene war von kleiner Gestalt, hatte scharfgeschnittene Gesichtszüge und war offenbar Italiener. Ein dünner schwarzer Schnurrbart, buschige, dichte Brauen und lebhafte braune Augen, die jetzt haßerfüllt aufloderten, sprachen für seine südliche Heimat.

 

Die drei Beamten hatten ihn bald durchsucht und entwaffnet und legten ihm kräftige Handschellen an. Bevor sich die unvermeidliche Menge neugieriger Menschen ansammeln konnte, saßen sie schon in einem Auto und fuhren die Vine Street entlang.

 

Der Mann wurde sofort verhört. Man stellte die üblichen Fragen an ihn, aber er war verstockt und antwortete nicht. Niemand zweifelte daran, daß er die Absicht hatte, Mr. Smith meuchlings zu ermorden. Denn außer der Pistole, mit der er offensichtlich sein Opfer hatte niederschießen wollen, fand man noch ein langes Dolchmesser in seiner Brusttasche. Aber der wichtigste Fund, den man bei ihm machte und der das größte Interesse von Mr. Smith erregte, war ein Blatt Papier, auf dem drei Zeilen in italienischer Sprache standen. Sie wurden sofort übersetzt, und es war daraus zu ersehen, daß dem Mann genaue Instruktionen gegeben waren, wo sich Mr. Smith aufhielt.

 

»Führen Sie ihn in eine Zelle – ich glaube, wir werden noch hinter diese Sache kommen. Wenn dieser Mann nicht ein von Poltavo gedungener Meuchelmörder ist, dann habe ich mich sehr geirrt!«

 

Der Gefangene beantwortete keine Frage. Mr. Smith gab es schließlich verzweifelt auf, ihn durch weiteres Verhör zu einem Geständnis zu bringen.

 

Am nächsten Morgen weckte man den Mann bei Tagesanbruch und bedeutete ihm, sich schnell anzukleiden. Er wurde von zwei Beamten auf die Straße geführt, wo ein Auto wartete, das ihn gleich darauf in schneller Fahrt nach Dover brachte. Zwei Detektive begleiteten ihn auf einen Dampfer und fuhren mit ihm nach Calais. Dort verabschiedeten sie sich freundlich von ihm, überreichten ihm noch hundert Franc und teilten ihm in seiner eigenen Sprache mit, daß er auf Grund eines Befehls des Innenministeriums des Landes verwiesen sei.

 

Der Mann war froh, wieder auf freiem Fuß zu sein, und benützte den größten Teil des ihm übergebenen Geldes dazu, ein langes Telegramm an Poltavo zu senden.

 

Mr. Smith, der bestimmt wußte, daß dieses Telegramm kommen würde, wartete in der Empfangsstation der Londoner Hauptpost schon darauf. Man überreichte ihm eine Kopie der Depesche, und er las sie lächelnd.

 

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte er zu dem Vorstand und reichte ihm das Formular zurück. »Ich gebe es zur Bestellung frei. Ich weiß jetzt alles, was ich wissen wollte.«

 

Poltavo erhielt die Botschaft eine Stunde später und fluchte nicht wenig über die Unvorsichtigkeit seines Agenten. Das Telegramm war in offener italienischer Sprache abgefaßt, und jeder, der die Sprache beherrschte, konnte es lesen und auch verstehen, wenn er Kenntnis von den Tatsachen hatte, auf die es sich bezog.

 

Poltavo wartete den ganzen Tag auf einen Besuch der Polizei, und als Mr. Smith gegen Abend bei ihm vorsprach, war er darauf vorbereitet, alles erklären und entschuldigen zu können. Aber er war sehr erstaunt, als man ihn weder um eine Erklärung noch um eine Entschuldigung bat. Die Frage, die Mr. Smith an ihn stellte, berührte eine ganz andere Angelegenheit. Er erkundigte sich nämlich nach Mrs. Doughton und ihrem verschwundenen Vermögen.

 

»Ich hatte das Vertrauen Mr. Farringtons«, sagte Poltavo, der froh war, daß der Besuch des Detektivs nichts mit der gefürchteten Sache zu tun hatte. »Aber ich war aufs höchste erstaunt, als ich entdeckte, daß der Schrank vollständig leer war. Es war ein böser Schicksalsschlag für die arme junge Dame. Sie ist jetzt mit ihrem Gatten in Paris.«

 

Mr. Smith nickte.

 

»Würden Sie so liebenswürdig sein, mir ihre Adresse zu geben?«

 

»Mit Vergnügen.« Graf Poltavo nahm sein Notizbuch aus einer Schublade.

 

»Es ist möglich, daß ich morgen selbst nach Paris fahre«, fuhr Mr. Smith fort. »Ich habe die Absicht, das junge Paar aufzusuchen. Es ist zwar nicht sehr korrekt, Jungvermählte auf der Hochzeitsreise zu stören, aber ein Polizeibeamter besitzt Vorrechte!«

 

Die beiden lächelten sich verständnisinnig an. Poltavo fühlte sich erleichtert, daß der Besuch des Detektivs sich nicht auf seine eigene Person bezog. Er hatte vor diesem hervorragenden Beamten von Scotland Yard einen gewaltigen Respekt, der allerdings zum größten Teil aus Furcht vor ihm bestand. Er maß Mr. Smith Fähigkeiten bei, die dieser Mann vielleicht gar nicht besaß, aber auf der anderen Seite gestand er ihm gewisse Eigenschaften wie List und Schläue nicht zu, die zu den vortrefflichsten Kampfmitteln des Detektivs gehörten. Wer konnte auch annehmen, daß Mr. Smith Poltavo an diesem Abend nur besuchte, um dessen Argwohn zu zerstreuen und ihn in Sicherheit zu wiegen?

 

Nachdem die üblichen Höflichkeitsphrasen zum Abschied gewechselt waren, trennten sie sich.

 

Poltavo machte sich an die Ausarbeitung eines neues Falles, der der interessanteste aller Erpressungsversuche werden sollte, die mit Fallock in Verbindung standen.

 

Er wartete, bis die Tür sich hinter dem Detektiv geschlossen hatte, und beobachtete dann vom Fenster aus, daß er in sein Auto stieg und davonfuhr. Erst dann schloß er die unterste Schublade seines Schreibtisches auf, drückte auf eine Feder in deren Doppelboden und öffnete ein Geheimfach, dem er ein kleines Paket von Briefen entnahm.

 

Viele der Bogen, die er auf dem Tisch ausbreitete, trugen das Erdbeerblatt und das Wappen der Herzogs von Ambury. Die Briefe zeigten eine wenig flüssige Handschrift, aber sie waren alle sehr wichtig. Der Herzog hatte sich in jungen Jahren mit einer Dame in Gibraltar verheiratet. Sein Regiment lag damals in der Festung, und seine Erbfolge war zu jener Zeit nur eine entfernte Möglichkeit. Die Frau, mit der er sich, wie die Briefe bewiesen, vermutlich unter dem Namen eines Mr. Wilson verheiratet hatte (eine Abschrift der Heiratsurkunde lag auch bei den Schriftstücken), war eine typische, faszinierend schöne Spanierin, aber sie war nicht von hoher Geburt.

 

Offenbar bereute der Herzog später diesen übereilten Schritt, denn zwei Jahre, nachdem er den Titel erhalten hatte, vermählte er sich mit der dritten Tochter des Earl von Westchester, ohne – soweit Poltavo es übersehen konnte – sich von seiner ersten Frau scheiden zu lassen.

 

Hier war eine glänzende Sache, die beste, die jemals diesen Erpressern in die Hände gefallen war. Der Herzog von Ambury war einer der reichsten Leute in England, halb London gehörte ihm, und seine Güter lagen in fast allen Grafschaften des Landes verstreut. Wenn jemand in der Lage war, gut zu zahlen, so war er es.

 

Die Spanierin war gestorben, aber sie hatte einen Sohn aus ihrer Ehe mit dem jetzigen Herzog. Die ganze Frage der Erbschaft des Titels und der Nachfolge wurde von der Veröffentlichung dieser Dokumente betroffen. Alle Beweise für die Einzelheiten des Falles befanden sich in Poltavos Besitz. Eine merkwürdig steife Handschrift füllte die Seiten der Briefe, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Sogar eine Kopie der Todesurkunde hatte der verräterische Diener angefertigt. Die Sache war schon im Fluß, und Poltavo hatte unter den Annoncen in der »Times« bereits Antwort auf den Brief erhalten, den er seinem Opfer geschickt hatte.

 

Die Erwiderung lautete sehr günstig. Es stand nichts von Rechtsanwälten darin, es war auch nicht angedeutet, daß man die Sache der Polizei anzeigen würde. Der Herzog wollte tatsächlich zahlen, er wollte jedes pekuniäre Opfer bringen, um seine Ehre zu retten.

 

Es handelte sich jetzt nur noch darum, über die Bedingungen einig zu werden. Poltavo hatte die Höhe der Abstandssumme auf fünfzigtausend Pfund festgesetzt. Mit diesem Betrag konnte er England verlassen und ein Leben führen, wie er es sich wünschte, ohne sich jemals wieder in riskante und gefahrvolle Unternehmungen einlassen zu müssen. Nachdem ihm Doris Gray entgangen war, hatte auch der Verkehr in der Gesellschaft keinen Reiz mehr für ihn, und er sehnte sich nach Abwechslung und neuen Abenteuern. Die fünfzigtausend Pfund schienen ihm sicher zu sein. Er hatte zwar ein Abkommen mit Farrington getroffen, wonach er diesem zwei Drittel der Summe auszuzahlen hatte, aber er dachte überhaupt nicht an eine solche Möglichkeit.

 

Er redete sich ein, daß er Farrington in Wirklichkeit in seiner Gewalt habe. Ein Mann, der sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen durfte, war machtlos und konnte ihm nicht gefährlich werden. Er hatte jetzt alle Trümpfe in der Hand. Seine Tätigkeit in London hatte ihm schon etwa zehntausend Pfund eingebracht. Dr. Fall schrieb energische Briefe an ihn, in denen er ihn ersuchte, den Anteil, der für das »Haus« bestimmt war, sofort zu schicken. Aber Poltavo hatte diese Schreiben mit Verachtung behandelt. Er fühlte sich als Herr der Situation, da er den größten Teil des Geldes, das er in der Hand hatte und das nach dem Abkommen nicht ihm allein gehörte, auf eine Pariser Bank überwiesen hatte. Er war auf alle Möglichkeiten gefaßt – und nun stand ihm hier noch ein großer Erfolg bevor. Wenn er das Schweigegeld des Herzogs von Ambury erhalten hatte, konnte er einen Strich unter sein vergangenes Leben ziehen.

 

Er klingelte. Ein Italiener mit abstoßenden Gesichtszügen trat ein. Es war einer der Agenten, die Poltavo von Zeit zu Zeit engagierte, um Dinge zu erledigen, die unter seiner Würde lagen oder deren Ausführung ihm zu gefährlich erschien.

 

»Federigo«, sagte Poltavo auf italienisch. »Antonio ist festgenommen und von der Polizei nach Calais abgeschoben worden.«

 

»Das ist mir bekannt, mein Herr. Er hatte großes Glück. Ich fürchtete schon, daß sie ihn ins Gefängnis stecken würden.«

 

Poltavo lächelte.

 

»Das Vorgehen der englischen Polizei ist manchmal ganz unverständlich. Antonio wollte den ersten Chef des Geheimdienstes ermorden, und sie haben ihn freigelassen! Ist das nicht Wahnsinn? Aber Antonio wird auf keinen Fall wieder zurückkommen. Denn wenn die Leute auch zuweilen verrückt sind, werden sie doch nicht so dumm sein, ihn wieder hier landen zu lassen. Ich habe ihm telegrafiert, nach Paris zu gehen und mich dort zu erwarten. Wenn Sie durch einen unglücklichen Zufall jemals in eine Lage wie unser tüchtiger Antonio kommen sollten, so bitte ich mir aber vor allem aus, daß Sie mir keine Telegramme schicken!«

 

»Darauf können Sie sich verlassen, mein Herr«, erwiderte der Italiener grinsend. »Ich werde Ihnen keine schicken, denn ich kann nicht schreiben.«

 

»Ein ausgezeichnetes Manko!«

 

Poltavo nahm ein Kuvert vom Tisch.

 

»Sie geben diesen Brief einem Manne, der Sie am Branson Square treffen wird. Die genaue Stelle habe ich Ihnen ja schon erklärt.«

 

Der Italiener nickte.

 

»Dieser Mann wird Ihnen dafür einen anderen Brief einhändigen. Sie kommen nicht hierher zurück, sondern gehen zu dem Haus Ihres Bruders in der Great Saffron Street. Dort wird ein Mann vor der Tür stehen, der einen langen Mantel trägt. Sie gehen dicht an ihm vorbei und stecken dieses Kuvert in seine Tasche – haben Sie mich verstanden?«

 

»Jawohl, ich habe mir alles genau gemerkt.«

 

»Dann gehen Sie, und Gott möge Sie beschützen«, sagte Poltavo fromm, als er diesen Brief abschickte, der den Herzog von Ambury in Schrecken und Verwirrung setzen würde.

 

Es war schon spät am Abend, als Federigo Freggetti die Great Saffron Street erreichte. Er eilte durch die verlassene Straße, bis er an das Haus seines Bruders kam. In der Nähe der engen Tür stand ein Mann, der auf jemanden zu warten schien. Federigo ging an ihm vorbei, tat so, als ob er strauchelte, entschuldigte sich und ließ dabei den Brief in die Tasche des anderen gleiten. Mit raschem Blick hatte er den Fremden als den Grafen Poltavo erkannt; auf der Straße war niemand zu sehen, und in dem Halbdunkel hätte selbst das schärfste Auge die Übergabe des Briefes nicht beobachten können. Poltavo ging langsam zum Ende der Straße, sprang in ein Mietauto, das dort auf ihn wartete, und erreichte sein Haus, nachdem er den Wagen noch öfter gewechselt hatte, ohne einem der vielen wachsamen Agenten von Scotland Yard in die Arme zu laufen. In seiner Wohnung öffnete er in höchster Spannung den Brief. Würde der Herzog von Ambury die große Summe zahlen, die er von ihm gefordert hatte? Und wenn dies nicht der Fall war, welchen Betrag würde er als Schweigegeld anbieten? Aber schon bei den ersten Worten, die er las, atmete er auf.

 

*

 

Ich bin bereit, die Summe zu zahlen, die Sie von mir verlangen, obgleich ich der Ansicht bin, daß Sie sich eines schweren Verbrechens schuldig machen. Und da Sie zu fürchten scheinen, daß ich Ihnen irgendeinen Streich spielen könnte, wird Ihnen das Geld durch einen alten Landarbeiter von meinem Gut in Lancashire überbracht werden, der nichts von der Sache weiß, die er vermitteln soll. Er wird Ihnen die Summe gegen Übergabe der Trauungsurkunde aushändigen. Wenn Sie einen Treffpunkt angeben, der all Ihren Anforderungen auf Entlegenheit und Sicherheit entspricht, so werde ich den Mann zu diesem Platz schicken, zu einer Zeit, die Sie bestimmen mögen.

 

Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich auf Poltavos Zügen, als er den Brief zusammenfaltete.

 

»Nun ist es an der Zeit, daß wir uns trennen, Freund Farrington«, sagte er halblaut vor sich hin. »Ich brauche Sie nicht mehr. Der Wert Ihrer Bekanntschaft hat in dem Maße abgenommen, als mein Wunsch nach Freiheit erwacht ist. Fünfzigtausend Pfund«, wiederholte er mit Bewunderung und Freude. »Ernesto, du hast ein ungeahntes Glück! Ganz Europa steht dir offen, und du kannst dieses traurige England verlassen! Ich gratuliere dir, mein Freund!«

 

Die Frage, wo er den Boten treffen würde, war sehr wichtig. Obgleich er aus dem Brief ersah, daß sein Opfer unter allen Umständen den öffentlichen Skandal vermeiden wollte, mit dem Poltavo gedroht hatte, traute er dem Herzog doch nicht recht. Daß er einen alten Landarbeiter senden wollte, war eine gute Idee, aber wo konnte er mit ihm zusammenkommen? Als er Frank Doughton entführte, beabsichtigte er, ihn in ein kleines Haus zu bringen, das er im Osten Londons gemietet hatte. Die Fahrt zu dem »geheimnisvollen Haus« war nur ein Scheinmanöver, um den Verdacht auf Farrington zu leiten und die Polizei von der wirklichen Spur abzulenken. Das Auto sollte nach London zurückkehren, Frank Doughton, unter dem Einfluß eines Betäubungsmittels willenlos gemacht, in das kleine Haus in West-Ham gebracht und dort so lange zurückgehalten werden, bis die Frist abgelaufen war, die Farrington als Termin für die Hochzeit festgesetzt hatte.

 

Aber die Übergabe einer großen Geldsumme in diesem Haus war eine ganz andere Sache. Es war ja möglich, daß die Polizei das Haus umstellte. Um sicherzugehen, mußte er einen Platz im Freien wählen, eine Stelle, die ihm einen klaren Überblick nach jeder Seite hin ermöglichte.

 

Sollte er sich nicht noch einmal für Great Bradley entscheiden? Das wäre in doppelter Hinsicht gut. Wieder fiel dann der Verdacht auf das »geheimnisvolle Haus«, und er hatte dessen Hilfsquellen zu seiner Unterstützung, wenn die Sache im letzten Augenblick schiefgehen sollte. Er konnte ja im schlimmsten Falle erklären, daß er das Geld für Farrington kassieren wolle.

 

Ja, Great Bradley und die öde, abschüssige Gegend im Süden der Stadt wollte er wählen, und er traf alle Vorbereitungen in diesem Sinne.