Kapitel 5

 

5

 

Briggs fühlte sich ziemlich sicher, als er den Victoria-Bahnhof in London erreichte, und hoffte, in der Menge untertauchen zu können. Aber als er die Sperre passierte, traten vier Herren auf ihn zu. Er wußte sofort, was das zu bedeuten hatte.

 

Sie nahmen ihn mit zur Polizeistation in der Bow Street und durchsuchten seinen Koffer. Kein Mensch kümmerte sich um die Behauptung, daß das Gepäckstück nicht ihm, sondern einem Unbekannten gehörte, einem gewissen Smith, für den er es nur mitgenommen hätte. Natürlich fand man die vier Päckchen gefälschter Banknoten.

 

»Ich habe die Scheine vorher nie gesehen«, schwor Briggs.

 

Später wurde er von Chefinspektor Tanner verhört.

 

»Daß Sie im Besitz von Falschgeld sind, ist noch das wenigste«, meinte der Beamte. »Sie waren in der vergangenen Nacht im Dorf Marks Thornton, wo ein Mord verübt wurde. Was wissen Sie davon?«

 

Briggs behauptete, daß er davon keine Ahnung habe. Er wäre erstaunt, daß in dieser friedlichen Gegend jemand ermordet werden könnte, erklärte er, und fragte dann, ob man eine Waffe gefunden hätte.

 

»Das klingt fast, als ob Sie wüßten, daß der Mann erwürgt worden ist.«

 

Der Chefinspektor hatte nicht den geringsten Zweifel, daß Briggs an dem Verbrechen unbeteiligt war. Aus den Akten ging hervor, daß sich der Mann nur mit Falschgeld befaßte. Da es sich hier um einen alten Sträfling handelte, konnte man seinen Charakter genau beurteilen.

 

Tanner ahnte natürlich nicht, daß Briggs den ermordeten Chauffeur mit eigenen Augen gesehen hatte, und er trieb das Verhör auch nicht auf die Spitze. Aber unter dem Mordverdacht gestand Briggs alles ein, was das Falschgeld betraf, und sagte auch, was er von Zibriski wußte. Der Hochstapler konnte daher noch am selben Abend verhaftet werden, als er gerade den Dampfer nach Le Havre betreten wollte.

 

Tanner kehrte nach Scotland Yard zurück, suchte seinen Vorgesetzten auf und erkundigte sich, ob man über den Mord in Marks Thornton etwas Neues erfahren hätte.

 

»Nein, die Polizei dort hat nicht um unsere Hilfe gebeten. Die Leute rufen uns natürlich erst, wenn alle Spuren so verwischt sind, daß man nichts mehr finden kann. Es scheint aber ein ziemlich gewöhnliches Verbrechen zu sein; die Polizei hält es für einen Racheakt. Studd hat anscheinend ein paar üble Bekanntschaften gemacht, wirkliche Feinde hatte er wohl nicht.« Im Lauf des Abends hörte der Chefinspektor noch weitere Einzelheiten, die ihn jedoch nicht besonders interessierten. Studd sollte einen Streit mit dem eifersüchtigen Parkwächter Tilling gehabt haben, aber dieser Verdacht stellte sich bald als unbegründet heraus.

 

Niemand erwähnte den Namen Dr. Amershams; auch in den Berichten, die Scotland Yard erhielt, erschien er nicht. Erst eine Woche später, als sich die Lokalbehörden entschlossen, die Hilfe von Scotland Yard in Anspruch zu nehmen, hörte man etwas von dem Arzt. Tanner und Totty waren nach Marks Thornton gefahren, um den Fall genauer zu untersuchen.

 

Der Chefinspektor machte einen Besuch im Herrenhaus, wurde aber kühl und mit Abwehr empfangen. Beiläufig erwähnte er Lady Lebanon gegenüber Dr. Amersham.

 

»Er kommt manchmal hierher«, erklärte sie, »aber er war an jenem Unglücksabend nicht lange hier. Soviel ich weiß, fuhr er um zehn Uhr fort.«

 

Der kurze Einblick in das Leben auf Marks Priory sagte Tanner nichts. Die große Eingangshalle wurde gerade repariert; Gerüste waren an den Wänden aufgestellt, und Kelver zeigte ihm die einzelnen Steintafeln, auf denen die Familienwappen der Lebanons und ihrer Gemahlinnen eingemeißelt waren.

 

»Mylady ist eine Autorität auf dem Gebiet der Heraldik«, erklärte der Butler. »Sie kann die Bedeutung eines Wappens lesen, als ob es eine gewöhnliche Buchseite wäre. In diesen Dingen hat sie wirklich erstaunliche Kenntnisse. Wie Sie wissen, führt die Familie Lebanon ihren Stammbaum auf die ältesten Zeiten zurück. Der erste Lebanon wurde von König Richard I. geadelt.«

 

»Interessant«, entgegnete der Chefinspektor, der darin wenig bewandert war. »Was können Sie mir nun von Studd erzählen?«

 

Kelver schüttelte den Kopf.

 

»Wegen dieses Verbrechens habe ich nächtelang nicht schlafen können. Studd war ein wirklich liebenswürdiger und freundlicher Charakter.«

 

Wenn man Kelvers Worten trauen konnte, hatte er nichts gesehen und gehört und erst von dem Tod des Chauffeurs erfahren, als ein Polizist den Mord im Schlosse meldete. Er lobte den Toten in jeder Weise und sagte, daß der Mann unmöglich einen Feind gehabt haben könnte.

 

Sergeant Totty hatte inzwischen die anderen Dienstboten vernommen, von ihnen aber nur dasselbe gehört.

 

Der Mord war bereits vor sechs Tagen geschehen, und es war schwer, neue Anhaltspunkte zu finden.

 

Tanner betrachtete die Fotografie Studds, dann untersuchte er das rotseidene Tuch, mit dem der Mann erwürgt worden war, und nahm es später mit nach Scotland Yard. In der einen Ecke des Gewebes war eine winzige Zinnplatte eingenäht, auf der einige Worte in Hindostani standen. Die Übersetzung ergab, daß es sich um den Namen des Fabrikanten handelte.

 

Der Chefinspektor sprach mit dem jungen Lord und stellte mehrere Fragen an ihn; aber Willie konnte ihm auch keine Erklärung geben. Er hatte Studd geschätzt und gern um sich gehabt, aber das hatte Tanner bereits von dem Butler erfahren. Der Tod des Chauffeurs schien Willie Lebanon sehr nahegegangen zu sein.

 

Die dritte wichtige Person traf Tanner, als er quer über die Felder nach dem Dorf ging und Isla Crane ihm mit schnellen Schritten entgegenkam. Sie wäre an ihm vorübergeeilt, wenn er sie nicht angehalten hätte.

 

»Verzeihung, Sie sind doch Miss Crane. Ich bin Chefinspektor Tanner von Scotland Yard.«

 

Zu seinem größten Erstaunen wurde sie bleich und sah ihn entsetzt an. In seiner Praxis war ihm dies schon öfters begegnet. Leute, die unerwartet mit der Polizei in Berührung kommen, benehmen sich sonderbar, ganz gleich, ob sie unschuldig oder schuldig sind. Aber er hatte nicht vermutet, daß eine junge, vornehme Dame in solche Erregung geraten würde.

 

»Ach ja, mir hat jemand gesagt, daß Sie von der Polizei sind. Sie wollen hier Nachforschungen über Studds Tod anstellen? Der arme Mann tut mir wirklich leid.«

 

»Sie wissen wahrscheinlich nichts über den Mord?«

 

»Nein.«

 

»Können Sie mir sonst irgendeine Aufklärung geben?«

 

Sie schüttelte den Kopf, noch bevor er ausgesprochen hatte, und ging schnell an ihm vorbei.

 

Sergeant Totty beobachtete sie, bis sie außer Sicht war, dann wandte er sich an seinen Vorgesetzten.

 

»Merkwürdig, was?«

 

»Das kann ich nicht finden. Ich habe schon viele Menschen gesehen, die sich in solchen Fällen ähnlich benommen haben. Für Leute ihres Standes muß es eine große Enttäuschung bedeuten, plötzlich mit einem Mord zu tun zu haben.«

 

Trotzdem war Tanner sehr nachdenklich, als er weiterging.

 

In der großen Säulenhalle vor dem Haupteingang von Marks Priory traf Isla Gilder, der auf einem Stuhl saß und Zeitung las.

 

Er stand sofort auf, als sie näher kam, und sah sie prüfend an.

 

»Haben Sie den Polizeibeamten gesehen?« fragte er streng.

 

»Meinen Sie den Detektiv?«

 

»Ja. Hat er Sie ausgehorcht?«

 

Sie verstand nicht gleich, was er wollte.

 

»Hat er Fragen an Sie gerichtet, Miss?«

 

Seine tiefe Stimme beunruhigte sie.

 

»Ja, er fragte mich, ob ich etwas von dem Mord wüßte. Das war alles.«

 

Sie wandte sich rasch um und ging ins Haus. Lady Lebanon saß in der großen Halle an ihrem Schreibtisch. Ganze Tage brachte sie damit zu, alte heraldische Inschriften zu studieren. Im Lateinischen war sie glänzend bewandert, und das Altenglische beherrschte sie vollendet wie wenige andere.

 

Als sie Isla sah, schloß sie das Buch, in dem sie gelesen hatte.

 

»Was gibt es denn?« fragte sie.

 

Isla zitterte am ganzen Körper und konnte zuerst keine Worte finden.

 

»Er hat mich verschiedenes gefragt«, sagte sie schließlich. »Ich meine Mr. Tanner.«

 

»Ach so, der Polizeibeamte. Was denn? Hat er über Amersham gesprochen?«

 

Isla schüttelte den Kopf.

 

»Was geht denn eigentlich hier im Schloß vor?«

 

»Manchmal kann ich dich überhaupt nicht verstehen, Isla«, erwiderte Lady Lebanon etwas scharf. »Was soll denn hier vorgehen?«

 

»Wenn sie es nun herausbringen?«

 

Lady Lebanon richtete sich in ihrem Sessel auf.

 

»Ich weiß wirklich nicht, was du meinst, Isla. Was soll das heißen: ›Wenn sie es nun herausbringen?‹ Ich wünschte, du würdest dich nicht um Dinge kümmern, die dich nichts angehen.«

 

Isla Crane ging an diesem Abend früh zur Ruhe. Sie schlief in einem großen Prachtgemach, das bekannt war als das »Zimmer des alten Lords«. Es war ein großer, etwas düsterer Raum mit einem mächtigen Pfostenbett.

 

»Zum Kuckuck, warum hat sie sich so früh zurückgezogen?«

 

»Mach doch nicht solchen Lärm, Willie«, entgegnete seine Mutter. »Wozu sollte sie auch länger aufbleiben? Sie hat doch nichts zu tun.« Sie sah auf ihre brillantengeschmückte Armbanduhr. »Es wäre übrigens auch für dich an der Zeit, Liebling. Hast du mit Isla gesprochen?«

 

»Nein, ich hatte noch nicht die geringste Gelegenheit dazu, seitdem dieser schreckliche Mord passierte.« Er senkte den Kopf und lauschte. »Da kommt ein Auto – ist das Amersham?«

 

»Ja.«

 

»Er war doch auch in der Mordnacht hier?«

 

Sie sah schnell auf.

 

»Nein. Er ist damals sehr früh fortgefahren – es muß ungefähr zehn Uhr gewesen sein.«

 

Er lächelte.

 

»Aber Mutter, ich habe doch gesehen, wie sein Wagen morgens um sieben abfuhr. Ich schaute gerade aus dem Fenster. Mir hat schon jemand erzählt, daß er noch am selben Abend fortgefahren wäre.«

 

»Hast du den Leuten gesagt, daß das nicht richtig ist?« fragte sie scharf.

 

»Nein – warum sollte ich das tun?« Er sah zu dem Gewölbe der Halle empor und seufzte. »Das ist ein verteufelt düsteres Haus. Es graut mir bei dem Gedanken, daß ich mein ganzes Leben hier verbringen soll. Amersham will ich nicht sehen, ich gehe auf mein Zimmer.«

 

Die Tür öffnete sich, aber nicht Amersham trat ein, sondern Gilder, der ein Tablett mit Whisky, einem Siphon und einem Glas trug. Er goß eine geringe Menge Whisky ein und füllte das Glas mit Sodawasser, während der Lord argwöhnisch zusah.

 

Dann nahm Willie das Glas aus der Hand des Mannes und trank daraus. Aber erst als er es ganz geleert hatte, bemerkte er den bitteren Nachgeschmack.

 

»Ein merkwürdiger Whisky«, sagte er.

 

Das war die letzte Bemerkung, auf die er sich besinnen konnte. Vier Stunden später erwachte er mit ziemlichen Kopfschmerzen, machte Licht und sah, daß er sich in seinem eigenen Zimmer befand. Er trug seinen Schlafanzug und lag im Bett. Stöhnend richtete er sich auf, aber es drehte sich alles um ihn. Mr. Gilder hatte etwas zuviel von dem Betäubungsmittel ins Glas geschüttet.

 

Kapitel 25

 

25

 

Nachdem Tanner in der Halle seine Patience zu Ende gelegt hatte, stand er auf und trat zu Totty.

 

»Ein Mann, der sich selbst bei der Patience bemogelt, ist zu allen Schandtaten fähig«, sagte er, nachdem er dem Sergeanten eine Weile zugesehen hatte.

 

»Aber ein Mann, der nicht sein eigenes Glück im Auge hat, ist ein Narr.«

 

Totty mischte die Karten, legte sie auf den Tisch und gähnte.

 

»Ferraby sagte vorhin, daß er nächstens anfinge, sich zu fürchten. Übrigens hat dieser Brooks eine Pistole bei sich. Als er sich bewegte, sah ich die Umrisse der Waffe in seiner Hüfttasche. Der Kerl wird uns noch zu schaffen machen.«

 

»Das wird ihm aber schlechter bekommen als uns«, meinte der Chefinspektor.

 

Im nächsten Augenblick hörten sie einen dumpfen Fall.

 

»Gehen Sie schnell und sehen Sie nach, was da los ist.«

 

Totty erhob sich langsam.

 

»Wo war das? Soll ich die Treppe hinaufgehen?«

 

»Ja! Fürchten Sie sich etwa?«

 

»Allerdings«, erwiderte Totty, ohne sich im mindesten zu schämen. »Sie hatten wohl nicht erwartet, daß ich das zugebe?«

 

Trotzdem eilte er die Treppe hinauf. Tanner blieb unten, er hörte kein Geräusch, bis sein Name gerufen wurde.

 

»Kommen Sie rasch her!« rief Totty aufgeregt. Tanner und Gilder, der eben in die Halle gekommen war, liefen zum Zimmer des alten Lords hinauf. Brooks lag auf dem Rücken, und Totty gab sich die größte Mühe, ein Seidentuch aufzuknoten, das um die Kehle des Mannes geschlungen war.

 

»Mit dem ist es wohl vorbei«, stöhnte der Sergeant.

 

»Lassen Sie mich das aufknoten«, sagte Gilder und kniete neben seinem Kameraden nieder. Ein paar Sekunden später hatte er das Tuch entfernt und Kragen und Hemd des Halberstickten aufgerissen. Er massierte den Hals, und vor Anstrengung und Aufregung trat Schweiß auf seine Stirn. Zum erstenmal sah Tanner, daß der Amerikaner seine Ruhe verloren hatte.

 

»Er ist nicht tot.« Gilder wandte sich um. »Holen Sie mir doch schnell einen Kognak.«

 

Totty eilte nach unten und brachte eine volle Flasche. Vorsichtig flößten sie Brooks etwas von dem Stärkungsmittel ein, und nach und nach gab er Lebenszeichen von sich. Die Augenlider hoben sich, und die Hände zuckten krampfhaft.

 

»Er kommt bald wieder zu sich«, sagte Gilder, immer noch atemlos. »Helfen Sie mir, wir wollen ihn in sein Zimmer tragen. Beinahe wäre es um ihn geschehen gewesen. Selbst seine Pistole hätte ihm nichts helfen können, wenn er sie bei sich gehabt hätte.«

 

Gilder war um das Leben seines Freundes sehr besorgt; im übrigen hatte er seine Ruhe zurückgewonnen.

 

Sie trugen Brooks in sein Schlafzimmer und legten ihn aufs Bett. Plötzlich fiel Tanner ein, daß der Raum, in dem sie den Mann halbtot aufgefunden hatten, doch eigentlich Islas Schlafzimmer war.

 

»Wo ist Miss Crane?« fragte er schnell.

 

Gilder sah auf, senkte den Blick aber sofort wieder.

 

»Ich weiß es nicht«, entgegnete er etwas gezwungen. »Sie muß irgendwo im Hause sein.« Es war ein letzter vergeblicher Versuch, die Situation zu retten.

 

»Und wo ist Ferraby?«

 

Totty traf seinen Kollegen halbwegs auf der Treppe und erklärte ihm, was geschehen war. Als Ferraby begriffen hatte, verlor er die Fassung.

 

»Nun hören Sie aber endlich mit den dummen Fragen auf, und reißen Sie sich zusammen«, fuhr ihn Tanner schließlich an. »Wir sind doch hier nicht in einer Kleinkinderbewahranstalt! Machen Sie sich sofort auf und durchsuchen Sie das ganze Haus, bis Sie Miss Crane finden – dann haben Sie wenigstens etwas zu tun. Totty, Sie brauchen auch nicht bei Brooks zu bleiben, der kommt schon von selbst wieder zu sich. Wo ist eigentlich Gilder?«

 

Der amerikanische Diener hatte sich unbemerkt davongeschlichen, als Ferraby auf der Bildfläche erschienen war.

 

»Soll ich ihn suchen?« fragte Totty und trat einen Schritt auf die Tür zu. Im selben Augenblick ging das Licht aus. Totty und Tanner tasteten sich auf den Gang hinaus, wo es auch stockdunkel war.

 

»Jemand muß an dem Hauptschalter gedreht haben. Totty, Sie wissen doch, wo der ist?«

 

»Ja, das habe ich sofort nach meiner Ankunft hier festgestellt. Ich werde ihn auch wiederfinden.«

 

»Haben Sie eine Taschenlampe? Gut! Aber halten Sie Ihren Gummiknüppel bereit. Sie werden ihn wahrscheinlich brauchen. Ich gehe in die Halle zurück.«

 

Der Sergeant schlich sich vorsichtig den Gang entlang und tastete sich an der Wand die Treppe hinunter.

 

Der Hauptschalter lag in einem kleinen Kellerraum, zu dem man durch die Küche gelangte. Als Totty dort hinkam, fand er die Tür weit offen. Er leuchtete die Steinstufen hinunter und packte den Gummiknüppel fester. Vorsichtig und langsam stieg er dann abwärts und lauschte. Er glaubte, jemand schwer atmen zu hören, und suchte mit der Lampe, ob er nicht jemand entdecken könnte. Aber es war kein Mensch zu sehen. Allerdings bemerkte er verschiedene Nischen, in denen man sich gut verbergen konnte.

 

»Kommen Sie heraus aus Ihrem Versteck!« befahl er.

 

Niemand antwortete.

 

Zunächst war es seine Aufgabe, wieder Licht zu schaffen. Er konnte auch den Hauptschalter sehen, aber gerade, als er die Hand ausstreckte, um ihn zu drehen, erhielt er einen so heftigen Schlag auf den Kopf, daß er die Lampe fallen ließ. Im nächsten Augenblick fuhr er herum, um den Unbekannten zu packen, aber der Schlag hatte ihn stark mitgenommen. Er schlug mit der Faust aufs Geratewohl und traf ins Leere. Dann flog etwas an seinem Kopf vorbei und polterte gegen die Wand. Das Wurfgeschoß zerbrach und fiel in einzelnen Teilen zu Boden. Es mußte ein großes Stück Kohle gewesen sein.

 

Wieder stieß Totty zu, ohne zu treffen. Dann eilte jemand die Treppe hinauf, warf die Tür zu und riegelte sie von außen ab.

 

Mit philosophischer Ruhe ergab sich Totty in sein Schicksal. Zuerst tastete er sich bis zum Hauptschalter und drehte ihn wieder an. Sofort flammte eine Lampe in dem kleinen Raum auf, in dem er sich befand, und nun bemerkte er auf der einen Seite einen Kohlenhaufen. Bald darauf fand er auch seine Taschenlampe wieder, die glücklicherweise nicht beschädigt worden war. Dann zog er ein Stück starke Schnur aus der Tasche und befestigte damit den Griff des Hauptschalters, so daß dieser nicht so schnell wieder gedreht werden konnte. Erst dann sah er sich nach einer Möglichkeit um, die Tür zu öffnen.

 

Er brauchte jedoch keine Gewalt anzuwenden, denn er hörte Ferraby, der in die Küche gekommen war. Gleich darauf riegelte dieser die Tür auf, so daß Totty heraus konnte. Der Sergeant war noch etwas benommen von dem Schlag, den er erhalten hatte.

 

»Haben Sie Miss Crane gefunden?« fragte er schnell. Ferraby hatte sich inzwischen etwas gefaßt.

 

»Nein. Sie muß aber irgendwo im Haus stecken. Tanner ist auch nicht mehr so besorgt um sie.«

 

Er wartete nicht auf Tottys Antwort, sondern eilte wieder davon.

 

Bevor Totty wegging, schenkte er sich erst ein Glas kaltes Wasser ein und trank es langsam aus. Als er dann in die Halle zurückkehrte, stellte ihm Tanner viele Fragen.

 

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen, aber ich habe seine Nähe zu spüren bekommen«, erwiderte der Sergeant grimmig. »Der Kerl war so schnell, daß ich ihn nicht packen konnte.«

 

»Mit einem Stück Kohle hat er Sie also bombardiert? Sie haben Glück gehabt, das muß ich sagen. Er hatte wohl vergessen, daß er ein Schießeisen in der Tasche hatte. Nachdem Sie gegangen waren, fiel es mir ein, und wenn ich offen sein soll – ich habe nicht erwartet, Sie noch einmal lebend wiederzusehen.«

 

Totty schluckte.

 

»Ich danke Ihnen für diese Sympathiekundgebung«, brummte er. »Woher hat der Kerl denn die Waffe?«

 

»Die hat er Brooks heute abend abgenommen. Das war das erste, was der Diener berichtete, als er wieder zu sich kam. Er hat alles eingestanden, aber ich wußte ja schon Bescheid.«

 

»Wissen Sie denn, wer es ist?«

 

Tanner nickte.

 

»Ja. Als mir Lord Lebanon erzählte, daß sie ihm ein Schlafmittel in den Whisky geschüttet hätten, lag der Fall für mich klar. Zufällig kannte ich auch das Schlafmittel, das sie benützten.«

 

Der Chefinspektor legte Totty die Hand auf die Schulter.

 

»Wenn wir heute ohne weiteren Zwischenfall durchkommen, bitte ich morgen den Polizeipräsidenten, Sie zu befördern. Es geht mir zwar gegen den Strich, daß Sie Inspektor werden sollen, aber schließlich muß es doch einmal geschehen.«

 

Totty lächelte bescheiden.

 

»Lady Lebanon ist in ihrem Zimmer«, fuhr Tanner fort, »und will nicht herunterkommen. Ich glaube, ihr Widerstand ist bald gebrochen. Früher oder später muß das ja eintreten – hallo, Ferraby, was machen Sie denn?«

 

Der junge Sergeant kam aufgeregt näher.

 

»Ich kann sie nirgends finden –«

 

»Geben Sie sich weiter keine Mühe. Miss Crane ist in Gilders Zimmer und schläft. Vor ein paar Minuten habe ich sie selbst dort gesehen. Hier ist der Schlüssel zu dem Raum.«

 

»Was, in Gilders Zimmer?« fragte Ferraby atemlos. »Und Sie haben den Schlüssel abgezogen?«

 

Tanner nickte.

 

»Sie ist nicht in unmittelbarer Gefahr, und ich hoffe, es wird ihr nichts geschehen.«

 

»Gott sei Dank!« erwiderte Ferraby. »Das waren die schlimmsten Augenblicke meines Lebens. Lord Lebanon wollte übrigens wissen, was das alles zu bedeuten hätte, aber ich habe es ihm nicht gesagt. Ich traf ihn vor der Tür zu dem Zimmer seiner Mutter. Nachher sagte er mir, daß sie ihn nicht hineingelassen hätte.«

 

»Lady Lebanon hat auch allen Grund, allein zu bleiben. Wo ist der Lord?«

 

Kaum hatte er diese Frage geäußert, als der junge Mann selbst mit wirren Haaren die Treppe heruntereilte. Allem Anschein nach war er aus dem Schlaf geweckt worden, denn er trug einen Morgenrock über dem Pyjama und erschien ohne Schuhe und Strümpfe.

 

»Sie werden sich erkälten«, meinte Tanner lächelnd. »Und das hat keinen Zweck.«

 

»Meine Mutter will nicht mit mir reden –«, begann Willie.

 

»Sie hat heute abend auch schon zuviel Aufregung gehabt«, versuchte Tanner ihn zu beruhigen. »Ich würde mir deshalb keine Sorgen machen. Totty, gehen Sie doch einmal hinauf und fragen Sie Lady Lebanon, ob sie nicht herunterkommen möchte. Sagen Sie ihr, daß ich es wünsche. Ferraby, beruhigen Sie die Dienerschaft und schicken Sie die Leute zu Bett.«

 

Der Chefinspektor blieb mit dem jungen Lord allein, wie er es beabsichtigt hatte.

 

»Wo ist denn Isla? Ich war in ihrem Zimmer, fand sie aber nicht. Um Himmels willen, die Sache wird immer schlimmer!«

 

»Ja, das ist wahrscheinlich der Höhepunkt.«

 

Tanner glaubte in Wirklichkeit aber, daß der Höhepunkt erst kommen würde, wenn sich Lady Lebanon zeigte. Welchen Ausweg würde sie suchen? Würde sie sich das Leben nehmen?

 

»Was hat das alles eigentlich zu bedeuten?« fragte der junge Lord ungewöhnlich entschieden. »Vergessen Sie bitte, daß ich ein ziemlich weicher, leicht zu beeinflussender Mensch war und allen Leuten erlaubte, mich zu leiten und mein Leben zu lenken. Ich habe mich jetzt endlich entschlossen, die Führung selbst in die Hand zu nehmen und von diesem abscheulichen Schloß wegzugehen. Marks Priory fällt mir tatsächlich auf die Nerven. Wissen Sie auch, wer in dem Zimmer ist, das sie nicht öffnen wollte? – Meinen Vater hält sie dort gefangen! Ich bin gar nicht Lord Lebanon.«

 

Tanner starrte ihn verblüfft an. Diese Enthüllung hatte er nicht erwartet. Aber dann unterdrückte er sein Erstaunen.

 

»Er war der Mann, der all diese Unruhe verursacht hat«, fuhr Willie Lebanon fort. »Jetzt ist er fort – ich wette, daß er viele Meilen entfernt ist. Er konnte ins Haus kommen und gehen, wann er wollte. Da staunen Sie, was?«

 

»Das muß ich zugeben«, entgegnete Tanner ruhig. Willie saß im Stuhl seiner Mutter und hatte die Hände gefaltet.

 

Tanner schob einen Sessel an die andere Seite des Tisches und setzte sich ihm gegenüber.

 

»Immer hat sie von der Familie geredet und von den Ahnen – ich mag kein Wort mehr davon hören!« Willie lehnte sich vor. »Meinen Sie nicht auch, daß es jetzt Zeit ist, ein Ende zu machen? Erst Studd – dann Amersham – und nun der arme Brooks!«

 

Tanner schüttelte den Kopf. »Sie urteilen ein wenig zu früh – Brooks ist nicht tot.«

 

»So? Es hat mir aber doch jemand gesagt, daß er tot wäre … Nun, dann freue ich mich. Er ist wirklich kein schlechter Mensch. Aber denken Sie nicht auch wie ich? Diese ganze Familie sollte ausgerottet werden!«

 

»Ich verstehe nicht recht, wie Sie das meinen.«

 

Lebanon bewegte sich unruhig in seinem Sessel.

 

»Die Geschichte geht nun schon seit vielen Jahren. Die Lebanons waren immer so – wußten Sie das nicht?«

 

Er sprach leise und vertraulich weiter.

 

»Mein Vater war auch so … fünfzehn Jahre hat er im Zimmer des alten Lords gelebt – er war vollständig verrückt und hatte den Verstand verloren!« Willie Lebanon lachte vor sich hin. »Und die beiden Amerikaner mußten nach ihm sehen – sie waren seine Wärter!«

 

»Das habe ich vermutet!«

 

Lord Lebanon stützte den Kopf in die Hand.

 

»Aber niemals hat er einen Menschen erwürgt!« Seine Stimme zitterte vor Erregung und Stolz. »Der alte Lord war immer eine Gefahr, aber heimlich hinter jemand herschleichen und ihm die Kehle zuschnüren – das konnte er nicht!«

 

Langsam wandte sich der Lord Tanner zu.

 

»Mein Vater ist tot – das wissen Sie. Er war wirklich vollkommen wahnsinnig. Habe ich Ihnen nicht vorhin erzählt, daß er oben in dem Zimmer wäre? Nun, da habe ich Sie angelogen. Ich kann nämlich sehr leicht lügen. Ich habe eine unglaubliche Erfindungsgabe und kann schnell handeln. Ich hörte doch, wie Sie sagten: ›Das war schnelle Arbeit!‹« Er lachte unheimlich auf. »In Puna habe ich das erstemal beobachtet, wie es gemacht wird. Ich sah, wie ein kleiner, schmutziger Kerl plötzlich hinter einem großen, kräftigen Mann herschlich und ihm ein Tuch um den Hals warf. Gleich darauf war der andere tot. Es war einfach toll!«

 

Tanner sagte nichts.

 

»Ich habe es dann an einem jungen Mädchen versucht, einer Eingeborenen. Die war auch im Handumdrehen erledigt.« Er schnappte mit den Fingern, und seine Augen leuchteten auf.

 

Das war also das Geheimnis von Marks Priory. Tanner ahnte es seit einiger Zeit. Dieser junge Lord hatte die ganze Welt hinters Licht geführt, hatte den Polizeibeamten Sand in die Augen gestreut und alle Menschen getäuscht. Nur seine eigene Mutter wußte alles. Sie litt schwer darunter, setzte aber alles daran, ihn zu beschützen – den Letzten der Lebanons.

 

»Es ist merkwürdig, wie schnell Menschen sterben können.«

 

Willie steckte die Hand in die Tasche seines Morgenrocks, zog ein langes rotes Seidentuch heraus und lachte vor Vergnügen, als er es ansah.

 

»Schauen Sie einmal her. Ich habe eine ganze Menge von diesen Tüchern aus Indien mitgebracht. Amersham hat mir einmal einige fortgenommen, aber er wußte nicht, wo ich die anderen aufbewahrte. Sie sind erstaunt? Ich bin nicht gerade groß, aber ich habe unheimliche Kräfte. Fühlen Sie einmal meine Muskeln.«

 

Er bog den Arm, und Tanner umspannte den oberen Teil. Niemals hätte er geglaubt, daß Willie Lebanon so stark sein könnte.

 

»Mir hat es furchtbar viel Spaß gemacht«, fuhr Willie fort. »Die Leute sagten immer: ›Ach, seht doch mal den schwächlichen jungen Kerl!‹«

 

Aber dann wurde er wieder ernst und kehrte zu seiner Geschichte zurück.

 

»Sie machten damals viel Aufhebens von dem indischen Mädchen. Die Leute beim Regiment trauten es mir gar nicht zu; die wußten nicht, daß ich so viel Kraft besaß, und als es herauskam, war es eine Überraschung für sie.«

 

»Ist es dasselbe Mädchen, von dem Sie mir in Scotland Yard erzählten?«

 

Der junge Lord lachte.

 

»Ja. Amersham hätte nie den Mut gehabt, das zu tun. Ich habe Sie damals nur aufgezogen, ich wollte Sie hinters Licht führen. Das hat mir von jeher das größte Vergnügen bereitet.«

 

»Die Sache wirbelte also damals viel Staub auf?« fragte Tanner.

 

Er sprach so ruhig, daß man hätte glauben können, die beiden unterhielten sich über ein alltägliches Thema. Auf diese Enthüllung hatte er schon den ganzen Abend gewartet und deshalb seine beiden Assistenten fortgeschickt. Er wußte, daß Lord Lebanon in ihrer Gegenwart nichts gesagt hätte. Nur unter vier Augen würde ihm der junge Mann die Wahrheit anvertrauen.

 

»Ja, es gab einen unheimlichen Krach. Meine Mutter schickte Amersham nach Indien, damit er mich nach Hause bringen sollte. Er war ein ganz gemeiner Kerl, ein Mensch, der eigentlich nichts mit unserer Familie zu tun hatte. Es kam ihm gar nicht darauf an, Dokumente zu fälschen und anderer Leute Namen zu mißbrauchen. Schrecklich war das! Lassen Sie sich mit dem Menschen nicht ein!« sagte er mit Nachdruck.

 

Für ihn schien Amersham im Augenblick noch zu leben.

 

»Nachdem er mich nach England zurückgebracht hatte, ließ meine Mutter die beiden Leute wiederkommen, die auch nach meinem Vater gesehen hatten … Gilder und Brooks. Sie sind in Wirklichkeit keine Diener, sie sollten sich nur um mich kümmern. Sie verstehen, was ich meine?«

 

»Ja, vollkommen.«

 

Plötzlich kam dem jungen Lord ein Gedanke, der ihn belustigte.

 

»Sie erinnern sich doch an den Raum, den meine Mutter Ihnen nicht zeigen wollte? Ich kann Ihnen sagen, was darin ist. Alle Wände sind ausgepolstert, und überall sehen Sie Gummikissen. Ich mußte immer hineingehen, wenn mir die Dinge klarwurden.«

 

»Sie meinen, wenn Sie den anderen unangenehm wurden?« erwiderte Tanner lächelnd.

 

»Nein, wenn mir die Dinge klarwurden«, entgegnete der Lord ärgerlich. »Ich weiß genau, was ich sage. Wenn ich alles deutlich sehe, wie es wirklich ist, dann ist es schrecklich, und nur wenn ich in große Erregung komme, kann ich klar denken.«

 

Tanner lehnte sich über den Tisch, und Lebanon wich schnell zurück.

 

»Rühren Sie mich nicht an!« Er legte die Hand auf die Brust.

 

»Ich brauche nur Feuer – seien Sie einmal der höfliche Gastgeber.«

 

Als Willie das hörte, wurde er wieder freundlich.

 

»Es tut mir leid – außerordentlich leid.«

 

Er steckte ein Streichholz an und hielt es Tanner mit ruhiger Hand hin, während der an seiner Zigarre zog. Dann blies er es aus und legte es sorgfältig auf den Aschenbecher.

 

»Sind Sie nun Freund oder Feind?« fragte er.

 

»Wie können Sie so etwas fragen? Ich bin doch Ihr Freund.«

 

»Sie haben aber nach Scotland Yard telefoniert, daß man drei Ärzte schicken soll, um mich für verrückt zu erklären. Ich habe es selbst gehört, daß Sie das am Apparat sagten.«

 

»Die besuchen mich doch nur«, protestierte Tanner.

 

»Das ist nicht wahr. Sie kommen meinetwegen.« Willies Züge verhärteten sich. »Aber ich kann ihnen schon etwas vorlügen, genau wie Ihnen und all den anderen. Meine Mutter war leider von diesem verdammten Amersham abhängig. Der hatte sie in seiner Gewalt. Ich werde Ihnen auch sagen, warum. Sie verwaltete das Vermögen meines Vaters, was eigentlich durch das Vormundschaftsgericht hätte geschehen müssen. Natürlich wäre sie in Teufels Küche gekommen, wenn man das erfahren hätte. Amersham drohte ihr immer, daß er zur Polizei gehen würde, deshalb hat sie ihm viel Schweigegeld gegeben.«

 

»Warum waren Sie aber so unfreundlich zu Ihrem Chauffeur?«

 

Der junge Lord wurde traurig.

 

»Das tut mir entsetzlich leid. Er war ein so guter Kerl, aber ich fürchtete mich nun einmal vor Indern. Die haben einmal versucht, mich umzubringen; sie waren damals so aufgebracht wegen des jungen Mädchens.

 

Ich wußte nicht, daß dieser Maskenball im Dorf abgehalten wurde, und als ich den Inder auf dem Weg durch den Park sah, bekam ich Angst vor ihm – und dann ist es eben geschehen …«

 

Tanner sah, daß Willie Lebanon die Tat aufrichtig bereute.

 

Tränen standen in den Augen des Lords, denn er hatte Studd wirklich gern gehabt.

 

»Ich habe noch eine Woche hinterher geweint. Meine Mutter und die Dienstboten werden Ihnen das bestätigen. Zu seiner Beerdigung habe ich kostbare Blumen geschickt, und seine Schwester hat zweihundert Pfund von mir bekommen. Sie war seine einzige Verwandte. Das Geld habe ich aus der Kassette meiner Mutter gestohlen. In Wirklichkeit gehört mir doch alles, aber meine Mutter war damals, wie immer, sehr ärgerlich.«

 

Er sah nach der Treppe, dann nach der Tür.

 

»Soll ich Ihnen einmal etwas zeigen?« fragte er lächelnd. »Aber Sie müssen mir vorher versprechen, niemand etwas davon zu sagen.«

 

»Ich gebe Ihnen mein Wort.«

 

Lebanon zog eine Pistole aus der Tasche.

 

»Die habe ich Brooks abgenommen«, sagte er befriedigt. »Und ich habe es sehr geschickt gemacht. Ich wollte schon immer eine Schußwaffe haben.«

 

Er sah Tanner plötzlich wieder ernst an.

 

»Man kann sich selbst erwürgen, aber es ist sehr schwer, und die Leute sehen auch so häßlich aus.« Schaudernd schloß er die Augen. Als er sie wieder öffnete, war sein Gesicht verzerrt und eingefallen. »Manchmal ist mir schon der Gedanke gekommen, daß diese ganze Familie aufhören muß zu existieren, mit all ihren Wappen und Wahlsprüchen. Meine Mutter sagt zwar immer, die Linie müßte fortgepflanzt werden, aber das ist doch einfach lächerlich!«

 

»Mein armer, lieber Junge«, sagte Tanner nach einer Weile freundlich und weich.

 

Lebanon kniff die Augen zusammen.

 

»Sie meinen doch nicht etwa mich – warum sagen Sie das?«

 

»Ich hatte einen jungen Bruder – etwa in Ihrem Alter.«

 

Der Lord schaute ihn argwöhnisch von der Seite an.

 

»Sie können mich nicht leiden.«

 

»Doch, ich habe Sie gern, ich bin doch immer Ihr Freund gewesen. In Scotland Yard war ich doch sehr nett zu Ihnen.«

 

Willies Gesicht hellte sich wieder auf.

 

»Das stimmt. Sie müssen aber zugeben, daß es sehr schlau von mir war, Sie dort zu besuchen. Das war wohl das letzte, was Sie erwartet hätten. Bedenken Sie, daß ich Amersham in der Nacht umgebracht hatte. Als der Spektakel hier im Gange war, machte ich mich auf und davon. Meine Mutter hatte dann Gilder im Auto hinter mir hergeschickt. Der wußte, wohin ich gegangen war, denn ich hatte ihm am Morgen gesagt, ich würde nach Scotland Yard fahren, um mich einmal mit Ihnen zu unterhalten.«

 

Tanner streifte die Asche seiner Zigarre in eine Schale, während sich Lord Lebanon zurücklehnte und die Pistole mit beiden Händen umfaßte.

 

»Das war allerdings ein toller Streich«, meinte Tanner.

 

Dann saßen sie sich eine Minute lang schweigend gegenüber.

 

»Ich möchte nur wissen, wo er sie hingebracht hat?« fragte Lebanon plötzlich. »Ich meine Isla.«

 

»Wer soll sie denn fortgebracht haben? Etwa Gilder?«

 

Lebanon nickte.

 

»Heute abend sah sie doch dem indischen Mädchen verdammt ähnlich. Ich trat hinter sie und legte meine Arme um sie. Haben Sie nicht gehört, wie sie geschrien hat? Sie lief die Treppe hinunter, und dann war Totty da, sonst wäre ich hinter ihr hergekommen. Im nächsten Augenblick sah ich auch Gilder; der ist ja immer in der Nähe. Haben Sie das nicht auch bemerkt? Wo Sie hinschauen, sehen Sie den Kerl. Am häufigsten hält er sich in der Halle auf. Ich glaube, der würde mich umbringen, wenn ich Isla etwas täte. Sie halten Gilder für einen gemeinen Menschen, aber das ist er in Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil, er ist sehr freundlich, besonders zu Isla. Kein Mensch paßt so gut auf sie auf wie er, besonders seit sie es weiß.

 

Deshalb fürchtete sie sich auch so sehr. Sie kam an dem Abend die Treppe herunter, als ich hier alles kurz und klein schlug.« Er sah sich interessiert um. »Ich kann mich zwar nicht darauf besinnen, daß ich es getan habe, aber wer soll es sonst gewesen sein? An jenem Abend hätte ich Amersham beinahe geschnappt. Die beiden Amerikaner packten mich von hinten, aber sie hatten große Mühe, mich zu überwältigen. Donnerwetter, hat sich Amersham damals gefürchtet! Isla sah den Kampf von der Treppe aus, und seit der Zeit ängstigt sie sich sehr.

 

Merkwürdig, als ich gestern Amersham erwischte, hat sie mich wieder gesehen. Ich trat gerade mit dem roten Tuch in der Hand in die Tür. Meine Mutter nahm es mir weg und schickte mich zu Bett. Und ich bin doch furchtbar stark – Sie glauben es wohl nicht?«

 

»Doch, ich habe immer angenommen, daß Sie große Kraft besitzen.«

 

Tanner konnte die dauernde Spannung kaum noch ertragen. Er wandte den Blick nicht von der Waffe, über die der junge Lord beide Hände gelegt hatte. Diese Lösung hatte er nicht beabsichtigt. Er hoffte jedoch, daß der Anfall nach einiger Zeit vorübergehen würde, wenn er Willie in guter Laune hielt und ihn beruhigte.

 

Früher hatte er schon einmal mit einem Wahnsinnigen zu tun gehabt. Er kannte die Anzeichen, und was er hier sah, war nicht gerade ermutigend. Der Höhepunkt des Anfalls war noch nicht erreicht. Das schlimmste war, daß der junge Lord die geladene Pistole unter den Händen hatte. Die Mündung war auf Chefinspektor Tanner gerichtet.

 

»Heute abend haben sie sich mächtig gefürchtet, als ich den Schlaftrunk nicht nahm.« Lebanon lachte vor sich hin. »Sie wußten wohl, was in dem Glas war?«

 

»Ja, es war Bromkali. Die Wärter dachten, Sie wären etwas erregt, und wollten Sie beruhigen. Das haben sie wahrscheinlich schon öfter getan.«

 

»Sehr oft. Aber heute abend habe ich ihnen doch ein Schnippchen geschlagen.«

 

Tanner trank das Glas Whisky-Soda aus, das vor ihm auf dem Tisch stand; und erhob sich.

 

»Ich gehe jetzt zu Bett.«

 

Er schob den Sessel zurück, gähnte und streckte sich. Als er sich umschaute, stand Lebanon hinter ihm und sah ihn seltsam an.

 

»Sie gehen nicht zu Bett«, sagte der Lord leise. »Dazu fürchten. Sie sich viel zu sehr!«

 

Tanner schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Doch, Sie fürchten sich. Vor mir fürchten sich alle.«

 

»Aber mir können Sie keine Angst einjagen«, erwiderte Tanner freundlich. »Seien Sie jetzt vernünftig und geben Sie mir die Pistole. Warum wollen Sie eine so gefährliche Waffe bei sich tragen?«

 

»Oh, damit läßt sich allerhand anfangen.«

 

Tanner hörte einen Schreckensruf von der Treppe her. Er wandte sich nicht um, aber er wußte, daß Lady Lebanon dort stand.

 

»Damit könnte ich zum Beispiel die Familie der Lebanons ein für allemal auslöschen.«

 

»Aber Willie!«

 

Plötzlich änderte sich das Benehmen des jungen Lords. Er wich zurück und verbarg die Waffe.

 

»Was machst du da, du dummer Junge? Gib sofort die Pistole her!«

 

»Nein«, entgegnete er mit weinerlicher Stimme, »ich habe schon immer so etwas haben wollen. Mehr als ein dutzendmal habe ich darum gebeten.«

 

»Lege die Waffe dort auf den Tisch!«

 

Einen Augenblick wandte Willie Tanner den Rücken zu, und in dieser Sekunde warf sich der Chefinspektor auf ihn. Totty stürzte in den Raum und half seinem Vorgesetzten, aber mit einer unglaublichen Kraftanstrengung gelang es dem Lord, sich frei zu machen und die Treppe hinaufzueilen. In diesem Moment erschien Gilder. Eine Sekunde zögerte Lebanon noch, dann drückte er ab. In dem engen Raum hallte der Schuß unheimlich wider. Die Pistole entglitt Willies Fingern, und er sank auf die Stufen nieder.

 

Im nächsten Augenblick waren die drei Männer an seiner Seite und beugten sich über ihn, aber ein Blick sagte Tanner, daß Hilfe vergeblich war.

 

Lady Lebanon stand mit erhobenem Kopf steif an ihrem Schreibtisch. Sie hatte das Gesicht abgewandt, aber den Kopf in den Nacken geworfen.

 

»Nun, wie steht es?« fragte sie mit rauher Stimme.

 

»Er ist tot«, entgegnete Tanner heiser.

 

Sie antwortete nicht, aber ihre Hände krampften sich zusammen. Langsam ging sie zur Treppe.

 

Als sie an dem Toten vorüberkam, würdigte sie ihn keines Blickes. Sie blieb nur einen Augenblick stehen und stützte sich an der Wand.

 

»Zehn Jahrhunderte hindurch hat die Familie Lebanon bestanden, und nun ist keiner mehr übrig, um die Linie fortzusetzen«, sagte sie klagend.

 

Die Anwesenden hörten schweigend zu.

 

Mühsam stieg Lady Lebanon die letzten Stufen hinauf.

 

Kapitel 20

 

20

 

Ein Motorradfahrer der Polizei lieferte vor dem Abendessen ein flaches Paket an den Chefinspektor ab, das die gewünschten Listen enthielt. Tanner las sie sorgfältig durch, kreuzte dann eine Zeile an und wußte, daß er richtig gewählt hatte. Es war ein Zug, der von Horseham nach London Bridge fuhr, und Horseham lag nicht allzu weit von Marks Priory entfernt. Jedenfalls konnte man mit dem Rad hinkommen.

 

Es gab nicht viel Züge, die um zehn Uhr morgens abfuhren und am nächsten Morgen um zehn Uhr fünf ankamen, und sie fuhren nicht nach dem Kontinent. Darunter befand sich einer, der in London um zehn Uhr abging und um zehn Uhr fünf in Aberdeen eintraf. In einem Nachschlagewerk fand Tanner, daß Lady Lebanon zehn Meilen von Aberdeen entfernt ein kleines Jagdhaus besaß. Zweifellos war das Tillings Ziel.

 

Er telefonierte nach London, daß die Polizei in Aberdeen gewarnt werden sollte. Tilling hatte aber inzwischen schon auf einer Station in Schottland ein Telegramm erhalten und den Zug verlassen. Über Edinburgh war er nach Stirling zurückgekehrt.

 

Sonst erfuhr Tanner von Scotland Yard noch, daß während der fraglichen Zeit nur eine Pfeife der Marke Ursus verkauft worden war. Ein Tabakhändler, dessen Laden in der Nähe des Bahnhofs King’s Cross lag, hatte gerade sein Geschäft geöffnet, als ein Mann, der nach der Beschreibung sofort als Tilling zu erkennen war, eine solche Pfeife bei ihm verlangte.

 

*

 

Totty verbrachte den Abend in dem Zimmer Mr. Kelvers, und das Gespräch drehte sich natürlich um die aufregenden Ereignisse der letzten Zeit.

 

»Ein paar merkwürdige Diener haben Sie hier«, meinte Totty.

 

»Ja, da mögen Sie recht haben«, erwiderte der Butler ironisch. »Ich habe allerdings nur wenig mit ihnen zu tun.«

 

Kelver hatte Dr. Amersham wohl oft gesehen, konnte aber dem Sergeanten über den Charakter des Mannes nur das sagen, was er von Studd gehört hatte.

 

»Er war nicht gerade sehr freundlich und zuvorkommend nach allem, was mir der Chauffeur erzählte. Aber ich habe ja schon immer gesagt, auf dieser Welt gibt es die verschiedensten Leute.«

 

»Stimmt«, versicherte Totty. »Ist es hier eigentlich einmal zu einer Schlägerei gekommen?«

 

Als er das erstaunte Gesicht des Butlers sah, erklärte er ihm, wie er das meinte. Kelver sagte zwar zuerst, er wolle nicht über die Angelegenheiten seiner Herrschaft sprechen, aber dann tat er es doch.

 

»Eines Morgens kam ich in die Halle, und da sah es tatsächlich so aus, als ob ein Kampf stattgefunden hätte. Verschiedene der großen Spiegel waren zerbrochen, ebenso einige Stühle, und Scherben von Weingläsern lagen auf dem Boden. Außerdem hatte Gilder ein blaues Auge. Von Studd habe ich dann erfahren, daß auch Dr. Amersham etwas abbekommen hatte.«

 

Kelver ging zur Tür, öffnete sie und sah hinaus, dann schloß er sie wieder und fuhr mit leiser Stimme fort:

 

»In diesem Haus stimmt etwas nicht. Der junge Lord wird behandelt, als ob er überhaupt nichts zu sagen hätte. Wenn er einen Wunsch hat, achtet man nicht darauf, und er wird hier in seinem eigenen Hause eigentlich wie ein Gefangener gehalten.«

 

Nachdem er diese wichtige Äußerung getan hatte, trat er einige Schritte zurück, um den Eindruck seiner Worte zu beobachten.

 

Totty sah ihn überrascht an.

 

»Sie lassen ihn niemals aus den Augen«, fuhr Kelver fort. »Und ich kann Ihnen nur das eine sagen: Ich selbst habe Instruktionen von Mylady erhalten, die mir durchaus nicht recht sind. Auf jedes Telefongespräch muß ich achten, das der junge Lord führt, und, wenn möglich, ihn dabei belauschen. Wenn er irgendeinen Diener hat, dem er Vertrauen schenken kann, wird der schleunigst wieder entlassen. Soviel ich weiß, hatte er drei Kammerdiener hintereinander, und allen dreien wurde gekündigt. Der einzige, mit dem er auf freundschaftlichem Fuß stand, war Studd, und soweit ich den kannte, hätte er alles für seinen Herrn getan.«

 

Kelver machte eine Pause.

 

»Und dann wurde Studd eines Morgens ermordet aufgefunden«, fuhr er fort. »Ich habe noch nie vorher meine Meinung darüber geäußert, und ich verlasse mich auf Sie, Inspektor Totty – es ist doch richtig, wenn ich Inspektor sage?«

 

»Ja, ganz richtig«, erklärte Totty ernst.

 

»Sie dürfen aber nichts davon weitererzählen. Hier im Hause walten unheimliche, unsichtbare Kräfte. Die Zustände hier fallen mir auf die Nerven, und ich würde gern ein Monatsgehalt geben, wenn ich schon heute abend wegkönnte.«

 

Plötzlich sprang Totty auf, und auch Kelver erhob sich rasch. Beide hatten den entsetzten Schrei einer Frau gehört. Mit zwei Schritten war der Sergeant an der Tür.

 

Ein enger Gang führte weiter ins Haus hinein. Links davon befand sich eine Treppe, die für die Dienerschaft bestimmt war. Totty hörte jemand laufen; gleich darauf stürzte Isla die Treppe herunter und wäre gefallen, wenn Totty sie nicht aufgefangen hätte.

 

Sie war einem Zusammenbruch nahe.

 

»Was ist denn los, Miss Crane?«

 

Sie sah nur entsetzt die Treppe hinauf.

 

»Werden Sie verfolgt? Kelver, halten Sie die junge Dame.«

 

Der Sergeant eilte hinauf, blieb aber auf der vierten Stufe stehen. Auf dem oberen Podest zeigte sich Gilder.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er mit seiner tiefen rauhen Stimme.

 

»Kommen Sie einmal her. Was ist denn mit Miss Crane?«

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich hörte jemand schreien und kam sofort aus meinem Zimmer, um nachzusehen, was es gäbe.«

 

Langsam stieg er die Stufen hinunter, bis er in den engen Gang kam, und starrte dann düster auf Isla, die sich inzwischen ein wenig gefaßt hatte.

 

»Ich brauche Sie nicht«, sagte sie verstört. »Gehen Sie nach oben – ich brauche Sie nicht …«

 

»Ist etwas passiert, Miss?« fragte der Diener.

 

»Nein … nichts. Ich …« Sie wandte sich an Totty. »Ich möchte in mein Zimmer zurückgehen. Bitte, begleiten Sie mich dorthin.«

 

Er ging vor ihr die Treppe hinauf. Auf dem Weg sprach sie nichts, verschwand auch stumm im Zimmer des alten Lords, machte die Tür zu und drehte den Schlüssel von innen um.

 

Gilder beobachtete den Vorgang.

 

»Die junge Dame ist ein wenig nervös geworden.«

 

»Wissen Sie, worüber sie sich aufgeregt hat? Grinsen Sie doch nicht so, die Sache ist wirklich zu ernst.«

 

»Wenn ich nicht ab und zu einmal grinsen könnte«, entgegnete Gilder kühl, »würde ich in diesem Haus verrückt werden. Mir kommt es ganz natürlich vor, daß sie aufgeregt ist. Das geht uns allen so. Brauchen Sie mich noch?«

 

Totty antwortete nicht darauf; er ging in Kelvers Zimmer zurück. Der Butler goß sich gerade ein Glas Kognak ein, aber seine Hand zitterte so sehr, daß der Flaschenhals gegen das Glas schlug.

 

»Was kann sie denn nur gesehen haben?« fragte der Sergeant, der immer noch nicht wußte, was er zu dem Vorfall sagen sollte.

 

»Ich möchte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Wollen Sie sich nicht auch einen kleinen Napoleon einschenken?«

 

Totty folgte der Aufforderung, obwohl er sonst um diese Zeit nicht zu trinken pflegte. Dann suchte er seinen Vorgesetzten und fand ihn in einem kleinen Wohnzimmer, in das man einen Schreibtisch gesetzt hatte. Außerdem war der Raum insofern von Vorteil, als sich einer der drei Telefonapparate darin befand.

 

»Die Sache kommt mir immer geheimnisvoller vor«, sagte der Sergeant. »Miss Crane muß irgend etwas gesehen haben. Natürlich kann es auch der amerikanische Diener gewesen sein, vor dem sie solche Angst hatte.«

 

Tanner schüttelte den Kopf.

 

»Übrigens will Lord Lebanon in den Ort gehen«, erwiderte er. »Ich möchte Sie bitten, ihn dorthin zu begleiten. Es wäre aber gut, wenn Sie eine Schußwaffe einsteckten. Nehmen Sie auch einen Gummiknüppel mit. Ich glaube zwar nicht, daß etwas passieren wird, aber man kann niemals etwas voraussagen.«

 

»Warum will er denn ins Dorf gehen?«

 

»Er will Mrs. Tilling aufsuchen. Sehen Sie zu, daß er den Fahrweg benützt. Der junge Lord hat eben erst gehört, daß der Parkwächter verschwunden ist, und er möchte den Fall aufklären. Also, sorgen Sie dafür, daß er den Fahrweg entlanggeht und nicht quer durch den Park. Wenn Sie sich fürchten, gebe ich Ferraby den Auftrag, ihn zu begleiten.«

 

Totty fühlte sich verletzt.

 

»Haben Sie schon jemals gehört, daß ich mich fürchte? Und wer sollte denn im Park einen Angriff auf zwei erwachsene Männer machen? Ich glaube, Sie sehen auch schon Gespenster.«

 

»Nein. Aber seien Sie nicht so selbstbewußt, Totty. Der Weg durch den Park ist ziemlich gefährlich. Machen Sie sich auf alles gefaßt!«

 

Trotz seiner langen Erfahrung im Dienst überlief den Sergeanten doch ein kalter Schauer, als er diese Worte hörte.

 

»Sie machen mir allerdings wenig Mut. Gibt es denn im Park ein Versteck? Glauben Sie, daß sich der Mörder noch dort aufhält?«

 

Tanner nickte.

 

»Ja, er ist noch in der Gegend«, erwiderte er ernst. »Ferraby kann ja mit Ihnen gehen –«

 

»Reden Sie doch keinen Unsinn«, sagte Totty brummig.

 

»Vergessen Sie nicht, daß Sie Lord Lebanon zu beschützen haben«, ermahnte ihn Tanner, als er das Zimmer verließ. »Wenn ihm etwas zustößt, sind Sie verantwortlich dafür. Nehmen Sie also vor allem eine Schußwaffe mit. Aber Sie dürfen sie erst dann benützen, wenn Ihnen jemand ein Seidentuch um die Kehle schlingt. Und dann wird es wahrscheinlich zu spät sein.«

 

»Will denn jemand dem jungen Lord etwas tun?«

 

»Das weiß ich nicht. Aber es wird keinem von Ihnen beiden etwas zustoßen, wenn Sie meine Vorschriften befolgen. Ich meine es diesmal vollkommen ernst.«

 

Willie Lebanon wartete in der Halle auf Totty. Er war noch ganz empört über die Ermahnungen, die Tanner ihm kurz vorher gegeben hatte.

 

»Ich lasse es mir nicht gefallen, daß man mich wie ein kleines Kind behandelt! Wenn jetzt auch noch Scotland Yard so tut, als ob ich eine Wärterin nötig hätte, könnte man doch wirklich aus der Haut fahren.«

 

Trotzdem war er froh, daß er Gesellschaft hatte, denn Totty gefiel ihm. Zusammen gingen sie den dunklen Fahrweg entlang, und Totty war auf der Hut. Vorsichtig betrachtete er alle Büsche und Bäume. Er hatte seine Taschenlampe angeknipst und leuchtete damit die Sträucher und die dunklen Partien des Weges ab. In seiner Aufregung sah er überall Gestalten. Einmal glaubte er sogar, leise Schritte hinter sich zu hören, blieb stehen und wandte sich um. Er hätte einen Eid darauf leisten mögen, daß eine Gestalt in den Büschen verschwand. Aber als er hinleuchtete, war nichts zu sehen.

 

Als die Sträucher dünner wurden, hörte er wieder Geräusche und richtete plötzlich den Lichtstrahl auf die Stelle. Diesmal bekam er Gewißheit, denn er sah, daß sich etwas schnell fortbewegte. Jemand schlich sich also durch den Park. Sie hatten gerade den Platz erreicht, an dem Totty Tillings Jagdgewehr und den Feldstuhl gefunden hatte. Obwohl der Sergeant ein mutiger Mann war, fühlte er doch, daß kalter Schweiß auf seine Stirn trat, und er atmete erleichtert auf; als sie vor der Gartentür des Parkwächterhauses standen.

 

Lord Lebanon dagegen schien die Sache nur sehr interessant zu finden.

 

»Sind Sie wirklich davon überzeugt, daß uns jemand nachgeschlichen ist?« fragte er und machte Miene, sich in die Hecke zu stürzen.

 

Aber Totty zog ihn am Arm zurück.

 

»Bleiben Sie ruhig hier bei mir.«

 

»Zum Teufel, ich will aber wissen, wer es ist.«

 

Totty folgte Lord Lebanon durch die Gartentür.

 

Der Besuch brachte nichts Neues zutage. Lebanon wollte nur Mrs. Tilling seine Teilnahme aussprechen. Er erkundigte sich, ob sie auch genügend Geld besäße, und stellte noch verschiedene andere Fragen über ihren Mann. Die Frau war nervös und merkwürdig zurückhaltend; allem Anschein nach kam ihr dieser Besuch unerwartet.

 

»Haben Sie denn den armen Amersham gekannt?«

 

Sie nickte.

 

»Man erzählt sich die sonderbarsten Dinge über Sie«, sagte der Lord etwas geradezu. »Ich kümmere mich natürlich wenig darum.«

 

Totty war überrascht, daß sie nicht dagegen protestierte.

 

»Wirklich eine seltsame Person«, erklärte der junge Lord, als sie nach dem Schloß zurückgingen. »Schön ist sie ja, das muß ich selbst sagen. Man hört tolle Sachen von ihr, aber ich glaube, es ist viel davon erfunden. Ich möchte nur wissen, was ihrem Mann zugestoßen ist. Es ist nicht gut, daß sie allein in dem Haus bleibt.«

 

Totty hatte seine eigenen Gedanken. Er ging nahe an die Hecke heran, denn er glaubte bestimmt, daß sich dieser Unsichtbare, der sie eben begleitet hatte, wieder neben ihnen auf der anderen Seite der Sträucher entlangschlich.

 

Einmal knackte ein trockener Zweig, auf den der Unbekannte getreten war, und Totty fuhr nervös zusammen.

 

»Drüben ist jemand«, sagte der Lord leise. »Wollen wir nicht über die Hecke springen und ihn fangen?«

 

»Nein, wir bleiben hier. Auf solche Abenteuer lassen wir uns nicht ein«, erklärte Totty prompt.

 

Er leuchtete mit seiner Taschenlampe bald nach links, bald nach rechts, während sie den Fahrweg entlanggingen. Zweifellos war jemand hinter ihnen her. Zweimal drehte er sich unerwartet um, konnte aber trotzdem nichts sehen. Um so mehr hörte er. Der Mann, der ihnen folgte, blieb auf dem Rasen; einmal mußte er jedoch einen kiesbestreuten Weg überqueren, und Totty hörte deutlich Schritte.

 

Er begleitete den jungen Lord bis zur Haustür, wartete, bis Willie verschwunden war, und ging dann den Weg zurück. Diesmal hielt er sich auch auf dem Rasen und dicht im Schatten der Bäume. Plötzlich entdeckte er eine Gestalt und zog blitzschnell seine Pistole.

 

»Halt! Bleiben Sie stehen, oder ich schieße!« rief er und leuchtete mit der Taschenlampe.

 

In dem Lichtkegel erkannte er Ferraby.

 

»Schießen Sie nicht, Totty«, erwiderte der junge Sergeant belustigt. »Hier gut Freund!«

 

»Sind Sie uns den ganzen Weg gefolgt?«

 

»Ja, in gewisser Hinsicht habe ich das getan, aber meistens war ich mit Ihnen auf gleicher Höhe.«

 

»Dann waren Sie also der unheimliche Kerl, der immer auf der anderen Seite der Hecke entlangschlich?«

 

»Ja. Aber ich habe noch gar nicht gewußt, daß Sie so nervös sind, Totty. Und warum hat Tanner Ihnen denn erlaubt, eine Pistole zu tragen? Hoffentlich ist sie nicht geladen.«

 

»Wie kommen Sie dazu, hinter mir herzuschleichen?«

 

»Ich habe nur einen Befehl ausgeführt«, entgegnete Ferraby und steckte sich eine Zigarette an. »Tanner gab mir den Auftrag, Sie beide zu beobachten.«

 

Totty war natürlich ärgerlich, aber andererseits atmete er auf, als er erfuhr, daß Ferraby der vermeintliche Verfolger gewesen war.

 

»Wenn Tanner mir nicht mehr traut –«

 

»Wem traut er überhaupt? Wenn wir der Sache weiter auf den Grund gehen, finden wir wahrscheinlich, daß ich wieder von einem anderen Beamten überwacht werde. Wie war es denn unten bei Tillings?«

 

»Es ist nichts passiert.«

 

»Ist die hübsche Frau auch so nervös? Ich möchte unter diesen Umständen allerdings nachts auch nicht allein in dem Hause sein.«

 

Als sie zurückgingen, ließ sich Totty herab, eine Zigarette von seinem Kameraden anzunehmen.

 

Der Motorradfahrer von Scotland Yard stand im Schatten der Säulenhalle. Totty sah ihn daher erst, nachdem Ferraby gegangen war.

 

Der Mann wartete noch, um einen eiligen Brief zur Stadt zurückzubringen.

 

»Es ist merkwürdig, Sergeant«, sagte er. »Wenn man in die Provinz kommt, erscheint sie einem immer vollkommen ausgestorben. Haben Sie das auch beobachtet?«

 

»Ich beobachte alles«, erklärte Totty.

 

»Wer mag nur der junge Herr gewesen sein, der mit mir sprach? Vor kurzer Zeit kamen Sie mit ihm ins Haus.«

 

»Das ist Lord Lebanon.«

 

»So? Der spricht aber sehr nett und ist gar nicht hochmütig. Ich dachte mir doch gleich, daß es jemand von Bedeutung sein müßte. Er hat mich viel gefragt über meine Tätigkeit bei der Polizei. Von Mr. Tanner scheint er allerdings nicht sehr erbaut zu sein.«

 

»Hat er meinen Namen auch erwähnt?« fragte Totty.

 

»Nein. Er war nur kurze Zeit bei mir draußen, dann ging er wieder hinein.«

 

Totty fand den Chefinspektor in seinem Zimmer. Tanner hatte seinen Bericht an die Polizeidirektion gerade beendet und steckte ihn in einen Briefumschlag.

 

»Wartet der Bote draußen? – Gut. Nun, was macht Mrs. Tilling?«

 

»Sie scheint Angst zu haben.«

 

»So?« Tanner biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Ich möchte nur wissen …«

 

»Ich wundere mich auch«, sagte Totty. »Zweifellos ist ihr Mann der Mörder. Hoffentlich fassen sie ihn heute abend noch.«

 

»Ihr Mann ist nicht der Mörder, aber auch ich hoffe, daß wir ihn heute abend noch fassen. In diesem Bericht hier habe ich genau erklärt, wer der Täter ist.« Er hob das versiegelte Kuvert in die Höhe. »Ich glaube, ich habe alle Tatsachen richtig gedeutet. Wenn ich nicht recht hätte, wäre ich sehr erstaunt, und ich muß Ihnen sagen, Totty, dies ist der interessanteste Fall, der mir jemals vorgekommen ist.«

 

Kapitel 21

 

21

 

Tanner sah nach der Tür, trat zwei Schritte vor und riß sie auf.

 

Gilder stand auf der Schwelle. Er trug ein kleines Silbertablett mit einer Kaffeekanne und einer Tasse.

 

»Ich bringe Ihnen eine Stärkung«, sagte er ruhig.

 

»Wie lange haben Sie schon vor der Tür gewartet?«

 

»Ich bin eben erst gekommen – gerade als Sie die Tür öffneten, wollte ich klopfen.«

 

Tanner zeigte auf den Tisch.

 

»Stellen Sie das Tablett dorthin.«

 

Er schloß die Tür hinter dem Diener, öffnete sie aber noch einmal, um sich zu überzeugen, daß der Mann auch wirklich gegangen war. Schließlich machte er sie wieder zu.

 

»Lord Lebanon hatte vollkommen recht. Hier in Marks Priory wird unheimlich viel gelauscht. Die Türen sind auch nicht besonders stark.«

 

»Warum verhaften Sie den Kerl nicht?«

 

»Ich habe guten Grund, das nicht zu tun. Wenn ich ihn tatsächlich hier gefangennähme, hätte ich nur eine Menge Unannehmlichkeiten. Vorläufig bleibt es besser, wie es ist. Gilder ist übrigens viel schlauer als Brooks, deshalb gibt man ihm die meisten Aufträge.«

 

Tanner nahm den versiegelten Brief.

 

»Bringen Sie dies dem Boten – nein, ich will es ihm lieber selbst übergeben.«

 

Totty folgte seinem Vorgesetzten in die Säulenvorhalle. Der Polizist, der neben seinem Motorrad stand, warf hastig die Zigarette fort und salutierte.

 

»Stecken Sie den Brief gut weg und seien Sie sehr vorsichtig damit. Um elf Uhr können Sie in London sein. Der Polizeipräsident wartet in seinem Büro auf die Nachricht.«

 

Der Kurier ließ den Motor an und fuhr knatternd dem Parktor zu.

 

Er hatte gerade die erste Kurve genommen, als plötzlich ein lautes Krachen ertönte und sein Scheinwerfer erlosch. Im nächsten Augenblick gellte ein Schrei.

 

Tanner und Totty liefen den Fahrweg entlang. Sie hörten Rufen und Brüllen, als ob an der Unglücksstelle ein Kampf im Gang wäre. Als sie ankamen, fanden sie den Mann auf den Knien. Das Rad lag seitlich auf dem Weg. Totty leuchtete dem Motorradfahrer mit der Taschenlampe in das bleiche Gesicht. Sie halfen ihm beim Aufstehen, und Tanner untersuchte ihn schnell. Knochen waren nicht gebrochen, und mit Ausnahme von einigen schweren Abschürfungen war der Überfallene mit dem Schrecken davongekommen.

 

»Es war ein Strick über den Weg gespannt«, sagte der Mann noch ganz benommen. »Als ich mit dem Rad stürzte, sprang ein Mann auf mich zu und versuchte, mir ein Tuch um den Hals zu schlingen.«

 

Totty leuchtete sofort die Umgegend ab, aber sie konnten von dem Angreifer keine Spur mehr finden.

 

»Können Sie ihn beschreiben?«

 

»Ich konnte ihn nicht genau sehen … Aber er muß sehr stark gewesen sein, denn er hob mich vom Boden auf. Ich schlug mit der Faust nach ihm, aber ich glaube kaum, daß ich ihn richtig getroffen habe.«

 

Totty suchte nach dem Strick und fand ihn gleich darauf. Das Seil war von einem Baum zum anderen gespannt gewesen und durch den Anprall zerrissen worden.

 

»Haben Sie beobachtet, nach welcher Richtung der Mann verschwand?«

 

»Nein.«

 

Der Kurier hinkte über den Weg und hob sein Motorrad auf. Mit Tottys Hilfe untersuchte er dann die Maschine. Es war nichts daran kaputt, nur das Glas des Scheinwerfers war zertrümmert. Kurz entschlossen gab Totty dem Mann seine eigene Lampe und schnallte sie mit einem kurzen Lederriemen an der Lenkstange fest.

 

»Mir ist nichts passiert, ich kann weiterfahren, aber den Kerl möchte ich doch erwischen!«

 

»Sie sagten eben, daß er versuchte, Ihnen ein Tuch um den Hals zu schlingen? Vielleicht hat er es fallen lassen.«

 

Totty eilte nach dem Haus zurück und brachte eine neue Taschenlampe, aber nirgends entdeckten sie ein rotes Seidentuch. Auch sonst fanden sie keine Spuren.

 

»Haben Sie den Brief noch?«

 

Der Mann fühlte nach seiner Kuriertasche. Der Lederriemen war halb durchschnitten; es mußte ein sehr scharfes Messer dazu benützt worden sein.

 

»Meinen Bericht wollten sie also haben – das ist allerdings schnelle Arbeit. Na, stecken Sie den Brief in Ihre Rocktasche und erklären Sie dem Polizeipräsidenten, warum Sie ihn so zusammengefaltet haben.«

 

Der Mann verwahrte das Schreiben in seiner Hüfttasche und knöpfte die Klappe darüber. Sie begleiteten ihn noch ein Stück den Fahrweg entlang, blieben dann stehen und beobachteten ihn, bis er in die Hauptstraße einbog.

 

»Jetzt ist er sicher«, sagte Tanner. »Die haben aber aufgepaßt wie Schießhunde. Man sollte es kaum für möglich halten. Wie gut war es, daß ich Ihnen Ferraby nachschickte, es hätte sonst vielleicht doch noch einen Unfall gegeben.«

 

Totty wollte sich eigentlich beschweren, aber unter den gegebenen Umständen hielt er es für besser, zu schweigen.

 

Als sie in die Halle traten, war der große Raum vollkommen leer. Aber gleich darauf erschien Gilder. Er mußte schnell gelaufen sein, denn er war ganz außer Atem. Sein dünnes Haar, das er für gewöhnlich sauber nach hinten gebürstet hatte, hing in die Stirn, und sein Gesichtsausdruck war müde und angestrengt.

 

»Hallo!« rief Tanner. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

 

Der Mann schluckte.

 

»Ich bin in meinem Zimmer eingeschlafen – das hätte eigentlich nicht vorkommen dürfen. Ein wüster Traum hat mich aufgeschreckt.«

 

»Ist der Boden in Ihrem Zimmer eigentlich feucht?«

 

Tanner betrachtete die nassen Schuhe des Mannes und bemerkte einige Grashalme an den Absätzen. Gilder sah auch auf seine Füße, dann grinste er den Beamten an.

 

»Vor kurzer Zeit bin ich nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen.«

 

Der Diener wollte sich entfernen, aber Tanner rief ihn zurück.

 

»Haben Sie etwas von Motorrädern geträumt?«

 

Gilder schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich träumte von« – er machte eine Pause – »Erdbeben.«

 

»Ich muß den Kerl tatsächlich bewundern«, meinte Tanner, als der Amerikaner gegangen war. Er setzte sich an den Schreibtisch der Lady Lebanon, nahm einen Bleistift und klopfte nachdenklich damit gegen sein Kinn.

 

»Mrs. Tilling ist auch ein Problem. Fahren Sie mit dem Polizeiauto zu dem Haus des Parkwächters und bringen Sie die Frau ins Dorfgasthaus. Aber reden Sie nicht darüber. Zwei unserer Beamten sind dort untergebracht. Sagen Sie einem, daß er auf sie aufpassen soll.«

 

»Wenn sie aber das Haus nicht verlassen will?«

 

»Dann nehmen Sie sie in die Arme, aber vorsichtig«, fügte Tanner etwas ironisch hinzu. »Alles hat einmal ein Ende. Wir können jetzt keine Rücksicht mehr auf sie nehmen. Wenn sie nicht mitkommen will, schlagen Sie ihr eins über den Kopf, aber behutsam, und bringen sie zum Gasthaus.«

 

Tony ließ sich von dem Chauffeur des Dienstautos zu seinem Bestimmungsort fahren. Die Gartentür stand offen, obwohl er sich deutlich darauf besann, daß er sie zugeriegelt hatte, und die Haustür fand er nur angelehnt.

 

»Sergeant«, sagte der Chauffeur aufgeregt, »das Fenster dort drüben ist eingeschlagen!«

 

Totty leuchtete mit der Taschenlampe und bemerkte tatsächlich zwei zerbrochene Scheiben. Das Fenster selbst stand offen. Tottys Herz schlug schneller, als er sich vorwärtstastete.

 

Im Wohnzimmer war der Tisch umgestoßen und ein Stuhl zerbrochen. Außerdem hatte jemand alle Bilder an den Wänden beschädigt.

 

Der anstoßende Raum war ein Schlafzimmer. Auch hier sah Totty Zeichen eines Kampfes; die Betten lagen auf dem Fußboden, die Marmorplatte des Waschtisches war zertrümmert.

 

Soviel er feststellen konnte, waren nur diese beiden Zimmer in Unordnung. Aber die hintere Tür stand weit offen. Von Mrs. Tilling sahen sie im Haus keine Spur. Totty begnügte sich mit einer oberflächlichen Untersuchung. Als er gerade in den Keller gehen wollte, rief der Chauffeur:

 

»Dort drüben bei dem Apfelbaum liegt jemand!«

 

Auf der Rückseite des Hauses befand sich ein Wirtschaftsund dahinter ein kleiner Obstgarten. Totty leuchtete die Stelle ab und sah eine Gestalt auf dem Boden. Er eilte hin und beugte sich über sie. Die Frau atmete, war aber vor Schrecken halb wahnsinnig und konnte nicht sprechen. Als er sie aufhob, starrte sie ihn groß an. Ihre Lippen zitterten, aber sie brachte kein Wort heraus. Als Totty sie in den Wagen trug, stöhnte sie, aber erst kurz vor der Ankunft beim Gasthaus begann sie zusammenhanglos zu sprechen. Glücklicherweise war zu dieser Nachtstunde niemand in der Nähe. Mit Hilfe der Wirtin und eines Mädchens brachte Totty die Frau auf ein Zimmer. Gleich darauf läutete der Sergeant Tanner an.

 

»Ist sie irgendwie verletzt?« fragte der Vorgesetzte.

 

»Soweit ich sehen kann, nicht. Aber sie ist furchtbar mitgenommen. Der Überfall muß ein paar Minuten vor unserer Ankunft passiert sein.«

 

»Rufen Sie einen Arzt für die Frau.«

 

»Das habe ich bereits getan. Soweit müßten Sie mich doch kennen«, entgegnete Totty vorwurfsvoll. »Ich gehe jetzt noch einmal zu dem Haus und durchsuche alles, ob ich nicht irgendwelche Spuren finde.«

 

»Kommen Sie sofort nach Marks Priory zurück. In dem Haus finden Sie doch nichts Wichtiges. Ich werde mit der hiesigen Polizei telefonieren, damit man uns einige Beamte zur Verfügung stellt, die das Haus bewachen. Also, kommen Sie jetzt zurück.«

 

Totty setzte sich mit den Polizeibeamten von Scotland Yard in Verbindung, die im Gasthaus Quartier genommen hatten, und sagte ihnen, daß sie auf Mrs. Tilling achten sollten. Ehe er fortging, traf er Ferraby, dem er die Geschichte auch erzählte.

 

»Die arme, kleine Frau«, sagte er. »Es sieht so aus, als ob wir eine aufregende Nacht bekommen. Schauen Sie mich einmal an, ich bin der reinste Wildwest-Cowboy.«

 

Er öffnete den Rock. Von dem breiten Gürtel, den er umgeschnallt hatte, hingen zwei Pistolentaschen herunter.

 

»Das war Tanners Idee, Sie kennen ihn ja. Erst gibt er einem ein paar Schießeisen, und dann hält er eine Stunde lang Vortrag, daß man sie nicht benützen darf. Jedenfalls fühlt man sich großartig, wenn man eine ganze Batterie zur Verfügung hat. Aber warum und auf wen ich knallen soll, weiß ich wirklich nicht.«

 

»Wenn Sie überhaupt zum Schießen kommen, haben Sie Glück, mein Junge«, erwiderte Totty düster. »Sie müssen schon blitzschnell handeln, wenn Sie sich noch wehren wollen.«

 

»Ich habe nicht vergessen, wie mich der Kerl damals an dem Bettpfosten angebunden hat. Beinahe wäre es mit mir vorbei gewesen. Ich wünschte übrigens, sie wäre aus der ganzen Geschichte heraus.«

 

»Mrs. Tilling?«

 

»Nein – Miss Crane. Sie gehört nicht in diese Umgebung. Ich habe versucht, Tanner zu überreden, daß er sie in die Stadt schickt.«

 

»Und was hat er gesagt?« fragte Totty neugierig.

 

Ferraby mußte lachen. »Wenn alle Leute, die in Marks Priory in Gefahr schweben, nach London gehen sollten, meinte er, dann könnten wir einen großen Omnibus mieten. – Es muß doch etwas in dem Zimmer sein, das sie nicht öffnen wollen. Tanner hat bestimmt recht mit seiner Vermutung. Wenn ich an der Tür vorüberkomme, überläuft mich immer ein Schauder. Übrigens Habe ich heute abend ein Licht in dem Zimmer gesehen – man konnte es deutlich von draußen beobachten. Es brannte eine Minute lang, dann ging es aus. Und ich möchte einen Eid darauf leisten, daß niemand durch die Tür hineingekommen ist.«

 

»Wer wohnt denn daneben?«

 

»Der Raum wurde immer von Amersham benutzt, es ist ein Fremdenzimmer«, erklärte Ferraby, als sie zusammen zum Schloß zurückfuhren. »Die Wände sind ganz mit Eichenpaneel bedeckt, und jede einzelne Füllung kann zu gleicher Zeit eine Geheimtür sein.«

 

»Und welcher Raum liegt auf der anderen Seite?« fragte Totty interessiert.

 

»Das Zimmer des alten Lords, in dem Miss Crane schläft. Ich habe mit Kelver über die Sache gesprochen, und der kennt das Haus. Aus reiner Neugierde hat er eines Tages die Innen- und Außenmaße in den Zimmern genommen und daraus die Stärke der Mauern berechnet. Zwischen dem Raum, den Lady Lebanon nicht öffnen will, und dem Zimmer, in dem Miss Crane schläft, muß die Wand über einen Meter stark sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt ein Geheimgang in der Mauer.«

 

Ferraby lehnte sich vor und sprach zum Chauffeur.

 

»Halten Sie einen Augenblick an. Sehen Sie, dort ist das Fenster zu dem verschlossenen Raum – das vierte von links –« Ferraby brach plötzlich ab, denn das Fenster wurde hell. Die Scheiben bestanden jedoch aus Milchglas, so daß man nicht hindurchsehen konnte.

 

Ferraby sprang aus dem Wagen, Totty folgte. Sie liefen querüber den Rasen, bis sie unmittelbar unterhalb des Fensters standen. Kurz darauf sahen sie oben eine Gestalt, konnten aber nicht erkennen, wer es war. Langsam bewegte sich der unheimliche, dunkle Schatten, dann erlosch das Licht wieder.

 

Kapitel 22

 

22

 

Die beiden sahen einander verblüfft an.

 

»Das scheint ja ein ganz verhextes Haus zu sein«, sagte Totty, der vor Erregung schwer atmete.

 

»Geben Sie mir Ihre Taschenlampe.«

 

Ferraby nahm sie und beleuchtete die Mauer. Kein Fenster war unter dem geheimnisvollen Raum angebracht; die Mauer schien vollkommen massiv zu sein.

 

»Sehen Sie einmal her!« rief Ferraby plötzlich und fuhr mit einem Bleistift die Fugen zwischen den Steinen entlang. »Das ist kein Mörtel, das ist eine Stahlplatte, die nur so bemalt ist, als ob sie Mauerwerk wäre. Hier haben wir eine Tür.«

 

Er zog ein Messer aus der Tasche, öffnete es und suchte nach einer Ritze. Zunächst hatte er keinen Erfolg, aber endlich fand er eine Vertiefung. Als er das Messer hineinschob, hörten sie. ein feines Klicken, und ein kleiner Teil der Wand öffnete sich wie ein Kastendeckel. In der Öffnung entdeckten sie eine Türklinke. Ferraby drückte sie herunter und zog daran, aber sie mußte von innen verschlossen sein.

 

»Na, wollen Sie hier das Haus reparieren?«

 

Ferraby drehte sich um und sah Mr. Gilder, der ihnen geräuschlos nachgeschlichen war. Er hätte ihn im Dunkeln nicht erkannt, wenn der Mann nicht gesprochen hätte.

 

»Was haben Sie denn gefunden?« fragte Gilder interessiert und schaute Ferraby über die Schulter.

 

Als er im Schein der Taschenlampe die Türklinke sah, schrak er zusammen.

 

»Donnerwetter!« rief er, ehrlich überrascht.

 

Ferraby schob die eiserne Klappe wieder zu, und die Feder schnappte ein.

 

»Das ist ja merkwürdig«, meinte Gilder.

 

»Eben haben wir oben Licht gesehen«, erwiderte Totty. »Wer ist denn in dem bewußten Zimmer?«

 

Gilder schaute hinauf.

 

»Wahrscheinlich Brooks. Lady Lebanon verwahrt eine Menge Briefe dort, und zwar ihre Privatkorrespondenz, die die Polizei nicht sehen soll. Selbstverständlich will sie die beiseite schaffen, bevor Mr. Tanner das Zimmer durchsucht. Es kann eigentlich niemand anders als Brooks gewesen sein. Was passiert denn eigentlich unten im Dorf?«

 

»Dort ist alles ruhig. Wenn Sie etwas Neues wissen wollen, müssen Sie schon morgen die Zeitung lesen, aber die Presse erfährt auch nichts. Wo ist denn Mylady? Schon zu Bett?«

 

»Nein, als ich sie eben sah, spielte sie mit dem jungen Lord Mühle im Salon – den Raum haben Sie noch nicht gesehen. Er ist das einzige Zimmer, in dem sie zur Zeit ungestört sein können.«

 

Ferraby und Totty traten ins Haus und waren froh, als Gilder ihnen einen Whisky-Soda brachte und das Feuer anschürte, denn der Abend war ziemlich kalt und naß.

 

Tanner telefonierte nach Scotland Yard und gab ausführliche Auskünfte. Die Lage war so gefährlich geworden, daß er nicht warten konnte, bis der Kurier ankam. Er brauchte Hilfe von der Polizeidirektion.

 

Der Chefinspektor beendete seine Arbeit, drehte das Licht aus und ging zu Ferraby. Totty war inzwischen die Treppe hinaufgegangen, um die Tür zu dem geheimnisvollen Raum zu untersuchen. Gleich darauf kam er zurück und meldete, daß er nichts weiter gefunden hätte.

 

Er glaubte bei seinem Vorgesetzten eine Sensation hervorzurufen, als er die Geschichte mit dem Licht erzählte, und war enttäuscht, als Tanner die Nachricht sehr gelassen aufnahm.

 

»Ich weiß es, ich habe das Licht selbst zweimal beobachtet. Übrigens hat Ferraby mir die Sache schon gestern gemeldet. Die Tür in der Mauer ist allerdings interessant. Vermutet habe ich sie, aber ich konnte sie nicht finden. Es mußte ein Eingang in der Mauer sein, sonst wären alle meine Theorien über den Haufen geworfen worden. Totty, sehen Sie zu, daß Sie den Lord finden, und sagen Sie ihm, ich möchte mich gern etwas mit ihm unterhalten. Ich bin fest davon überzeugt, daß der junge Lord kaum die Hälfte von all dem erzählt hat, was er weiß. Und ich habe eine Ahnung, daß das, was er bisher verschwiegen hat, der interessanteste Teil ist.«

 

Totty fand Willie Lebanon, der mit sich selbst Mühle spielte.

 

»Hallo!« sagte der junge Mann, »ich dachte, Sie wären schon zu Bett gegangen. Spielen Sie eigentlich Mühle? Ich möchte Sie gern dazu einladen, aber ich sage Ihnen schon im voraus, ich spiele so gut, daß ich Sie immer schlage. Deshalb hat meine Mutter heute abend auch so frühzeitig aufgehört.«

 

»Ich habe seit Jahren nicht gespielt«, erwiderte Totty, obwohl er die Regeln überhaupt nicht kannte. »Aber der Chefinspektor läßt fragen, ob Sie zu ihm kommen und ein wenig mit ihm plaudern möchten.«

 

»Was versteht er darunter? Wenn es nur eine Privatunterhaltung sein soll, komme ich gern. Ich habe mir Gedichte hergesagt, nur um mir die Zeit zu vertreiben. Meine Mutter schreibt inzwischen Briefe.«

 

Er legte seinen Arm in den des Sergeanten.

 

»Kennen Sie Ihren Großvater, Mr. Totty? Wenn nicht, dann seien Sie von Herzen froh. Ich muß alle meine Vorfahren auswendig wissen. Mir erscheint das vollkommen überflüssig, aber meine Mutter legt größten Wert darauf, daß ich die ganze Ahnenreihe kenne. Wann wollen Sie eigentlich von hier fortfahren? Am liebsten möchte ich Sie nach Scotland Yard begleiten und mir ein Bett in Mr. Tanners Büro aufschlagen lassen. Dort würde ich mich endlich sicher fühlen.«

 

»Sie sind überall sicher, Mylord«, entgegnete Totty höflich, Dann fügte er bescheiden hinzu: »Wenn ich in der Nähe bin.«

 

»Ich glaube, daß Ihre Gegenwart auch nicht viel nützt«, sagte der Lord offen. »Persönlich würde ich mich lieber auf Tanner verlassen. Sie sind klein wie ich, daher ist die Achtung vor Ihnen nicht allzu groß. Kleine Leute respektieren Männer Ihrer Größe kaum, aber die großen, imposanten Gestalten beneiden sie im geheimen.«

 

Inzwischen waren sie in der Halle angekommen. Der Lord begrüßte Tanner mit einem Kopfnicken und wiederholte dann, daß er nach Scotland Yard ziehen wolle. Der Chefinspektor lachte gutmütig.

 

»Das könnte Ihnen so passen! Auf jeden Fall wären Sie dann in der Nähe des Oberhauses. Haben Sie übrigens schon einmal an den Sitzungen teilgenommen?«

 

Lebanon schüttelte den Kopf, nahm eine große Zigarre aus dem Kasten und steckte sie an.

 

»Nein, meine Mutter wünscht nicht, daß ich mich mit Politik beschäftige. Ich habe eine ganze Liste aufgestellt von all den Dingen, die ich nicht tun soll. Eines Tages kann man ein hübsches Buch darüber schreiben. Ich freue mich aber wirklich, daß Sie heute abend hierbleiben.« Er sah sich um und sprach leiser. »Meiner Mutter gefällt es gar nicht. Sie hat mich ausgeschimpft und mir vorgeworfen, daß ich daran schuld wäre. Aber das ist doch wirklich lächerlich.«

 

»Wo ist Miss Crane?« fragte Tanner.

 

»Soviel ich weiß, ist sie zu Bett gegangen. Sie ist nicht gerade sehr gesellig veranlagt, und es wird recht langweilig werden, wenn ich erst mit ihr verheiratet bin. Gutmütig und freundlich ist sie allerdings, aber offen gestanden haben wir eigentlich wenig gemeinsame Interessen.«

 

Ferraby gab ihm innerlich vollkommen recht.

 

Der junge Lord beugte sich vor und sprach vertraulich.

 

»Ich werde Ihnen noch etwas sagen. Wissen Sie, wer sich ärgert, daß Sie hier sind? Die beiden Diener!«

 

In dem Augenblick erschien Gilder in der Tür. Anscheinend wollte er das Feuer nachschüren, aber das war nicht notwendig, denn er hatte sich erst vor ein paar Minuten daran zu schaffen gemacht.

 

»Ich brauche Sie nicht, Gilder.«

 

»Ich wollte nur nach dem Feuer sehen, Mylord.«

 

»Wann legen Sie sich eigentlich schlafen?« fragte Tanner.

 

Der Diener antwortete nicht.

 

»Gilder, Mr. Tanner hat mit Ihnen gesprochen!«

 

Der Amerikaner tat so, als ob er die Frage überhört hätte.

 

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, ich dachte, Sie hätten sich mit Mylord unterhalten. Ich habe keine regelmäßigen Ruhestunden.«

 

»Schlafen Sie in diesem Teil des Hauses?«

 

Gilder lächelte.

 

»Ja, wenn ich schlafe, bin ich hier.«

 

Brooks kam müde die Treppe herunter.

 

»Das klingt ja fast, als ob Sie nur schwer schlafen könnten?«

 

»Im Gegenteil«, entgegnete Gilder mit ausgesuchter Höflichkeit. »Wenn ich schlafe, dann schlafe ich gesund und fest.«

 

Brooks blieb stehen und betrachtete die Gruppe interessiert.

 

»Wünschen Sie etwas?« fragte Tanner.

 

»Ich wollte nur sehen, ob Gilder nicht in Ungelegenheiten gekommen ist«, entgegnete Brooks leichthin.

 

Tanner erhob sich.

 

»Ich weiß nicht recht, was ich von Ihrem Benehmen halten soll. Tun Sie nur so, weil ich Ihrer Meinung nach ein unwichtiger Besuch bin, oder ist das Ihre gewöhnliche Art?«

 

Gilder legte sich ins Mittel.

 

»Mr. Brooks kommt aus Amerika, aus dem Land der Freiheit, wo die Männer noch Männer sind und sich nicht ohne weiteres verbeugen«, erklärte er etwas umständlich.

 

Dann wandte er sich dem Feuer zu. Mit wenigen Schritten war Tanner bei ihm und packte ihn am Arm.

 

»Wenn Leute frech zu mir werden, bekommt es ihnen meistens sehr schlecht! Ich setze sie dann hinter Schloß und Riegel.«

 

Gilder warf ihm nur einen vorwurfsvollen Blick zu.

 

»Wenn ich nun zu der Überzeugung käme, daß Sie beide bedeutend mehr über die Morde hier wissen, als Sie zugeben wollen, könnte ich Sie einfach verhaften und wegen Mittäterschaft zur Anzeige bringen. Ich würde Sie noch heute abend zur Wache bringen. Sehen Sie, jetzt lachen Sie nicht mehr so unverschämt.«

 

Das stimmte auch; die beiden sahen jetzt ungewöhnlich finster drein.

 

»Es würde Ihnen aber doch auch unangenehm sein, wenn Sie uns zur Polizeistation bringen müßten«, meinte Gilder.

 

»Das macht mir wenig aus. Es sind vierzig Polizeibeamte im Park«, sagte der Chefinspektor langsam und mit Nachdruck. »Nur ausgewählte, tüchtige Leute von Scotland Yard. Vor fünf Minuten kamen sie in Lastautos an; das Haus ist vollkommen umzingelt. In dieser Nacht soll jedenfalls kein Mord in Marks Priory passieren.«

 

Totty starrte ihn mit offenem Mund an.

 

»Es würde mir sehr leichtfallen, ein paar Beamte aus dem Park zu rufen und Sie abführen zu lassen – oder zweifeln Sie vielleicht daran?«

 

Tanner nahm eine Signalpfeife aus der Tasche und hielt sie an die Lippen. Ferraby, der Brooks beobachtete, glaubte jeden Augenblick, daß der Mann zusammenbrechen würde.

 

»Mr. Tanner, Sie haben keinen Grund, derartig drastische Maßregeln zu ergreifen«, erwiderte Gilder. »Wenn ich etwas gesagt habe, das Ihnen unangenehm war, nehme ich es zurück und bitte um Verzeihung.«

 

Er sah zu Lord Lebanon hinüber, der erstaunt von dem Chefinspektor auf den Diener schaute.

 

»Kann ich noch etwas für Sie tun, Mylord?«

 

»Ja, bringen Sie uns noch Whisky-Soda. Brooks, Sie können gehen.«

 

Die beiden Diener entfernten sich.

 

»Nanu«, sagte der Lord, »stimmt es wirklich, daß Sie vierzig Mann im Park haben?«

 

»Um ganz genau zu sein – es sind nur sechsunddreißig Beamte. Ich habe eben die Chauffeure der Transportautos mitgerechnet.«

 

Tanner ging um die Couch herum, stützte sich auf eine Sessellehne und betrachtete den jungen Lord.

 

»Als Sie mich heute morgen in Scotland Yard besuchten, machten Sie Andeutungen, daß Sie hier in Gefahr schwebten. Habe ich Sie recht verstanden? Sind Sie hier irgendwie bedroht worden, oder hat jemand versucht, Sie anzugreifen?«

 

Lebanon sah erstaunt auf.

 

»Ich weiß nicht, ob ich das angedeutet habe.« Er dachte eine Weile nach. »Es sind hier schon viele seltsame Dinge passiert, über die man kaum sprechen kann. Aber es hat wohl noch niemand einen Anschlag auf mein Leben gemacht, sonst wäre ich jetzt nicht mehr hier.«

 

Tanner versuchte, sich weitere Gewißheit zu verschaffen.

 

»Welche seltsamen Dinge sind Ihnen denn aufgefallen?«

 

»Sie wollen wohl etwas recht Unheimliches hören, wie es in Schauerromanen vorkommt? Gut, ich werde Ihnen etwas erzählen. Ich kann mich auf zwei Gelegenheiten besinnen, als Gilder mir einen Whisky-Soda brachte. Jedesmal, wenn ich das Glas austrank, schwanden meine Sinne. Das letztemal wachte ich in meinem Zimmer auf, und es war stockdunkel. Ich trug meinen Schlafanzug und hätte mich wahrscheinlich auch wieder zur Seite gedreht und weitergeschlafen, wenn ich nicht furchtbare Kopfschmerzen gehabt hätte. Ich klingelte, und als Gilder zu mit kam, erzählte er mir, daß ich ohnmächtig geworden wäre. Aber das ist geradezu lächerlich – ich bin noch niemals in meinem Leben ohnmächtig geworden.«

 

»Wie erklären Sie sich denn die Sache?«

 

»Ich weiß nicht recht, was ich dazu Sagen soll. Aber es ist zweimal passiert, nachdem ich ein Glas Whisky-Soda getrunken hatte. Und das eine Mal ist mir besonders gut in Erinnerung geblieben. Als ich am nächsten Morgen in die Halle kam, sah es recht unordentlich hier unten aus; die Möbel waren zertrümmert, als ob eine Schlägerei im Gang gewesen wäre.«

 

»Ich habe davon gehört«, erklärte Sergeant Totty.

 

»Amersham und die beiden Diener waren daran beteiligt. Ich glaube nicht, daß meine Mutter etwas davon gesehen hat. Das könnte ich mir auch nicht vorstellen.«

 

Gilder brachte auf einem Tablett die Gläser, die schon eingeschenkt waren. Zuerst reichte er dem Lord ein Glas, dann bediente er die drei Beamten.

 

»Können Sie denn nicht eine Whiskyflasche und einen Siphon bringen?« fragte Willie ärgerlich. »Man schenkt doch nicht schon draußen ein, Gilder.«

 

Der Mann schien sich nichts aus dem Vorwurf zu machen, er grinste nur liebenswürdig.

 

»Ich dachte, Sie wollten schnell trinken, Mylord. In Zukunft werde ich die Flasche und den Siphon hereinbringen.«

 

Gilder nahm das Tablett mit sich hinaus und schloß die Tür.

 

»Ich möchte nur wissen, ob Sie schon jemals einen solchen Haushalt gesehen haben«, sagte der Lord und nippte an seinem Glas.

 

Bevor der Chefinspektor antworten konnte, verzog er das Gesicht.

 

»Versuchen Sie einmal das!«

 

Tanner kostete vorsichtig und bemerkte einen bitteren, unangenehmen Geschmack.

 

»Ist Ihr Glas auch so?«

 

Der Chefinspektor nahm einen kleinen Schluck und fand das Getränk vollkommen normal.

 

»Merkwürdig, daß wir gerade darüber sprechen, was mir früher zugestoßen ist«, meinte der Lord.

 

Er sah sich im Zimmer um und entdeckte auf einem Tisch eine Vase mit Rosen. Er stand auf, goß den Inhalt seines Glases hinein und setzte dann das leere Gefäß neben sich nieder.

 

»Es schmeckt genau wie damals, als ich später bewußtlos wurde«, erklärte er.

 

Gilder stand auf der anderen Seite der Tür. Er konnte kaum hören, was drinnen gesprochen wurde, denn das Holz war dick. Er hoffte aber, daß Brooks gleichzeitig von der Treppe aus das Gespräch belauschte. Die Unterhaltung war bei einem Thema angelangt, von dem er eigentlich kein Wort überhören durfte.

 

Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Lady Lebanon kam näher.

 

»Worüber sprechen sie?« fragte sie leise.

 

Gilder trat von der Tür zurück.

 

»Ich weiß es nicht, Mylady.«

 

»Glauben Sie, daß wir diese Leute bald loswerden?« meinte sie ärgerlich.

 

»Ich fürchte, das ist nicht so einfach. Im Park sind vierzig Polizeibeamte von Scotland Yard verteilt, die vorhin in Transportautos angekommen sind. Ich habe Brooks nichts davon gesagt, damit er nicht zu nervös wird. Er redet sowieso davon, daß er den Dienst verlassen will. Die Detektive von Scotland Yard haben ihn ganz verängstigt.«

 

Sie sah ihn lächelnd an.

 

»Haben Sie auch Furcht vor ihnen?«

 

»Nein, mich kann man überhaupt nicht erschrecken. Ich bin nun einmal in der Sache drin, und ich halte auch bis zum Ende durch.«

 

»Sagen Sie Brooks, daß ich ihm tausend Pfund Belohnung gebe, wenn wir durchkommen, ohne entdeckt zu werden.«

 

Gilder schüttelte zweifelnd den Kopf.

 

»Meinen Sie, daß uns das gelingen wird? Brooks hat kalte Füße bekommen, und ich muß offen sagen, daß ich seinetwegen beunruhigt bin. Schicken Sie ihn lieber nach Amerika zurück. Wenn der erst die Nerven verliert, haben wir mehr Mühe als Hilfe durch ihn.«

 

Vorsichtig schlich er sich zur Tür zurück und lauschte, aber er konnte kein Geräusch hören, nicht einmal leises Stimmengemurmel. Er sah sich nach Lady Lebanon um, aber sie war inzwischen fortgegangen. Nun drückte er die Klinke nieder und trat kühn in den Raum. Wie er vermutet hatte, fand er niemand hier, aber er hörte Stimmen von der anderen Seite des Korridors. Der junge Lord zeigte seinen Besuchern gerade ein Ahnenbild.

 

Gilder betrachtete die Gläser. Das eine war vollkommen leer, daher schöpfte er Verdacht. Er nahm es auf und drehte es um, bis ein Tropfen des Inhalts auf seinem Fingernagel lag. Es war Lebanons Glas. Er sah es an dem roten Strich, mit dem es markiert war, und den keiner der anderen entdeckt hatte. Dann schaute er sich um, entdeckte auch die Vase mit den Rosen und roch daran.

 

Gilder ging zur Treppe und zeigte Brooks, der gerade herunterkam, das Glas.

 

»Heute abend hat er wieder nicht getrunken.«

 

Brooks atmete schwer.

 

»Wahrscheinlich hast du den Schlaftrunk zu stark gemacht. Ich habe schon längst gesagt, daß er es merken wird.«

 

»Mit der Zeit hat er sich doch aber schon daran gewöhnt«, entgegnete Gilder düster. »Hat er viel, dummes Zeug geredet?«

 

Brooks nickte. »Ja. Kelver muß über die Schlägerei neulich gesprochen haben. Tanner fragte danach. Übrigens weiß der Lord genau, daß wir ihn betäubt haben. Bist du dir auch darüber klar, was das bedeutet?«

 

»Natürlich«, entgegnete Gilder kühl.

 

»Hast du mit ihr gesprochen?« fragte Brooks ängstlich.

 

»Ja. Du brauchst dir nicht die geringsten Sorgen zu machen.«

 

Aber Brooks‘ Nerven waren schon zu überreizt.

 

»Du hast gut reden! Zum Teufel mit dieser ganzen Geschichte hier im Haus! All diese Polizisten sind im Park, und Tamier weiß, was hier gespielt wird. Wenn die Wahrheit herauskommt, sitzen wir in der Patsche – am Ende kriegen wir noch eine lange Zuchthausstrafe. Wo sind sie eigentlich geblieben?« fragte er dann und sah sich um.

 

»Sie gehen die Treppe hinauf, wahrscheinlich in das Zimmer von Lord Lebanon. Ich hörte, wie er von seinem Radioapparat sprach, und der steht doch in seinem Zimmer! Dort kommt jemand.«

 

Es war Totty. Er blieb einen Augenblick in der Tür stehen und betrachtete die beiden.

 

»Da sind ja wieder die zwei, genau wie Max und Moritz«, meinte er ironisch.

 

»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte Gilder.

 

»Ja, sehr viel. Sie bleiben wahrscheinlich die ganze Nacht auf?«

 

Gilder lächelte. »Falls Sie das vorhaben, tun wir es auch.«

 

»Haben Sie sich auch schon einmal überlegt, daß es Ihnen an den Kragen gehen kann?«

 

Brooks schaute ängstlich zu seinem Kameraden hinüber, aber Gilder lächelte nur.

 

»Alle Menschen müssen das ihnen bestimmte Mißgeschick ertragen«, erwiderte er gelassen.

 

Kapitel 23

 

23

 

Totty konnte Gilder nicht recht verstehen; ständig entdeckte er neue Seiten an ihm. Allem Anschein nach machten die Polizeibeamten wenig Eindruck auf den Mann.

 

Totty interessierte sich nicht fürs Radio, aber er war auch nicht gern allein. Für diese Nacht waren die Regeln, die sonst in Marks Priory galten, teilweise aufgehoben, zum Beispiel blieb die Tür zwischen den Dienerräumen und dem Haupthaus unverschlossen. Wahrscheinlich wachte auch Mr. Kelver. Totty wollte einmal nachsehen. Aber als er an der Tür des Salons vorbeikam, rief Lady Lebanon seinen Namen.

 

»Wollen Sie nicht einen Augenblick näher treten, Sergeant? Ist Mr. Tanner schon zu Bett gegangen?«

 

»Nein, noch nicht, Mylady.«

 

Er fühlte sich geschmeichelt durch die Aufforderung.

 

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?«

 

Im allgemeinen konnte sie Zigarrenrauch durchaus nicht vertragen, und nicht einmal Willie durfte im Salon rauchen. Aber jetzt suchte sie selbst nach einem Aschenbecher und ließ Totty in dem bequemsten, weichsten Sessel Platz nehmen.

 

In ihrem Schoß lag ein kleiner Samtkasten.

 

»Das ist meine Kasse«, sagte sie lächelnd, als sie sah, daß er sie aufmerksam betrachtete. »Ich nehme sie jeden Abend in mein Zimmer mit.«

 

»Sehr vernünftig, Mylady. Man weiß niemals, ob nicht ein Dieb in der Nähe ist.«

 

»Sie sind doch Sergeant, Mr. Totty?«

 

»Ja, zur Zeit noch.«

 

»Und welchen Titel hat Mr. Tanner?«

 

»Der ist Chefinspektor, aber darin liegt eigentlich wenig Unterschied«, erklärte Totty von oben herab.

 

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie frage, ob Sie ein großes Gehalt beziehen. Wahrscheinlich haben Sie sehr wichtige Aufträge?«

 

Totty war natürlich gern bereit, über die Wichtigkeit seiner Dienstaufgaben zu sprechen.

 

Nach einiger Zeit unterbrach sie ihn.

 

»Ich möchte zu gern wissen, was in Scotland Yard vorgeht, und was die Polizei über diesen Fall denkt. Meiner Meinung nach ändert sich die Lage von Stunde zu Stunde. Neue Tatsachen werden bekannt –«

 

»Ja, es geht unaufhaltsam weiter«, erwiderte Totty.

 

»Wenn Sie eine neue Entdeckung machen, teilen Sie die doch sofort Mr. Tanner mit. Was sagt er denn?«

 

»Gewöhnlich höre ich in diesem Fall, daß er das schon vor einer Woche gewußt hätte. Sie müssen nämlich wissen, Mylady, daß es in Scotland Yard leider viel Eifersucht und Mißgunst unter den einzelnen Beamten gibt.«

 

»Ich glaube aber, daß er großes Vertrauen zu Ihnen hat. Jemand hat mir erzählt, Sie wären seine rechte Hand.«

 

Totty grinste.

 

»Er war sehr neugierig«, fuhr Lady Lebanon langsam fort, während sie Totty genau beobachtete. »Er bestand darauf, das Innere eines Zimmers zu sehen, das ich ihm nicht zeigen wollte. Sie besinnen sich vielleicht auf den kleinen Zwischenfall.

 

Nehmen wir nun einmal an, Sie gingen zu Ihrem Vorgesetzten und sagten ihm: ›Ich habe dieses Zimmer gesehen – es ist wirklich nichts anderes drin als ein paar alte, wertlose Gemälde.‹«

 

Ihre Worte machten auf Totty großen Eindruck, aber er wurde plötzlich kühl und nüchtern.

 

»Meinen Sie nicht, daß er sich damit zufriedengäbe? Er tut doch sonst alles, was Sie ihm sagen.«

 

Totty antwortete nicht.

 

»Wenn Sie ihm erklären, daß nichts von Bedeutung in dem Raum ist, würden Sie mir damit viele Sorgen und Unannehmlichkeiten ersparen.«

 

»Das verstehe ich sehr gut«, stimmte Totty bei.

 

Sie öffnete den kleinen Kasten, und er hörte das Knistern neuer Banknoten. Vier Geldscheine nahm sie heraus, und er konnte sehen, daß es Fünfzigpfundnoten waren.

 

»Man fühlt sich so hilflos«, fuhr sie fort, »wenn man weiß, daß man gegen gutausgebildete, tüchtige Beamte von Scotland Yard ankämpfen muß. Die Leute sehen in den harmlosesten Handlungen verdächtige Verbrechen.«

 

Sie schloß den Kasten und erhob sich. Die vier Scheine ließ sie auf den Stuhl fallen, auf dem sie gesessen hatte.

 

»Gute Nacht, Sergeant Totty.«

 

»Gute Nacht, Mylady.«

 

Sie hatte die Tür noch nicht erreicht, als er ihr mit den Banknoten in der Hand nacheilte.

 

»Ach, entschuldigen Sie«, sagte er. »Sie haben Ihr Geld liegenlassen.«

 

»Ich kann mich nicht darauf besinnen«, erwiderte sie mit besonderer Betonung und schaute auch nicht auf die Scheine.

 

»Sie wissen nicht, ob Sie es nicht noch einmal dringend brauchen.«

 

Erst jetzt nahm sie die Banknoten ruhig aus seiner Hand. Sie zeigte sich nicht im mindesten verwirrt oder betreten.

 

»Ich hoffte, Sie könnten es brauchen«, meinte sie. »Sehr schade.«

 

Er folgte ihr nach draußen in den Gang und sah ihr triumphierend nach, bis sie außer Sicht kam. Gleich darauf eilte er in das Arbeitszimmer Tanners zurück, den er allein antraf.

 

»Wirklich sehr schade«, begann er.

 

Der Chefinspektor schaute auf.

 

»Was heißt das?«

 

»Daß ich nicht zweihundert Pfund gebrauchen konnte, die mir Mylady eben angeboten hat.«

 

Tanner runzelte die Stirn.

 

»Wie meinen Sie denn das?«

 

»Sie will nicht haben, daß das Zimmer geöffnet wird. Das steckt dahinter.«

 

»Was, sie hat Ihnen Geld angeboten?«

 

»Ja, sie ließ es auf dem Stuhl liegen. Das bedeutet doch ungefähr dasselbe.«

 

»Das Zimmer soll nicht geöffnet werden? Gut, dann werden wir es morgen tun.«

 

»Ich kann Ihnen auch schon sagen, was wir dort finden werden«, erklärte Totty vertraulich. »Eine Menge Alkohol, den die amerikanischen Diener dort aufgestapelt haben.«

 

Der Chefinspektor betrachtete ihn kopfschüttelnd.

 

»Sie sind der schlechteste Detektiv, der mir jemals begegnet ist. Ich werde Ihnen sagen, warum hier amerikanische Diener angestellt sind: weil sie weder eine Familie noch Freunde in England haben. Deshalb besteht wenig Gefahr, daß sie etwas ausplaudern.«

 

»Dieses Schloß ist die Zentrale einer Verbrecherbande –«

 

»Hören Sie jetzt mit dem Unsinn auf: Sie laufen viel zu oft in die Kinos, das ist Ihr Ruin. Wozu braucht man eine Verbrecherbande zu gründen, wenn es auch anders geht? Der junge Lord Lebanon hat über dreihunderttausend Pfund Erbschaftssteuer bezahlt – rechnen Sie sich aus, wie groß sein Vermögen sein muß!«

 

Totty räusperte sich und änderte das Thema.

 

»Wo ist denn Ferraby?«

 

»Ich weiß nicht. Er treibt sich irgendwo im Haus herum.«

 

»Sagen Sie mal, wie steht es denn eigentlich mit den vierzig Beamten, die Sie von Scotland Yard haben kommen lassen? Haben Sie auch schon Vorkehrungen getroffen, daß die Leute richtig verpflegt werden?«

 

Tanner trat nahe an ihn heran und sprach sehr leise.

 

»Es sind überhaupt keine vierzig Beamte im Park. Aber halten Sie den Mund. Über solche Dinge spricht man nicht.«

 

Der Sergeant nickte.

 

»Warum haben Sie dann dieses Gerücht verbreitet?« fragte er ebenfalls im Flüsterton.

 

»Wenn ein Mord geschieht, soll es hier im Hause sein.«

 

Totty lief es kalt den Rücken hinunter.

 

»Wieviel Leute werden wohl ermordet werden?«

 

»Meiner Meinung nach sind Sie der erste.«

 

*

 

Isla warf sich in ihrem Bett unruhig von einer Seite auf die andere, zog die Decke über die Schultern und streifte sie dann wieder ab. Schließlich begann sie zu träumen, aber nur von Wünschen und Gedanken, die sie in wachem Zustand zurückdrängte. Die Dinge, die sie vergessen wollte, kamen jetzt zum Vorschein. Wie töricht war es doch von Lady Lebanon, das indische Tuch in der Schublade liegenzulassen! Dieser Tanner konnte doch den Schreibtisch durchsuchen, dann mußte er es finden!

 

Das Tuch mußte verbrannt werden! Isla merkte nicht, daß sie aufstand, und als sie ihre Tür aufschloß, fühlte sie den Schlüssel nicht in ihrer Hand. Das Tuch mußte verbrannt werden, das kleine, rote Seidentuch mit dem Metallstück in der Ecke.

 

Tanner hörte das Schnappen des Schlosses, als er Ferraby gerade Instruktionen erteilte, eilte an die Treppe und sah hinauf.

 

»Ruhe!« sagte er dann leise.

 

Sie rührten sich nicht, als die helle Gestalt langsam die Treppe herunterkam. Isla starrte geradeaus; die Hände hatte sie ausgestreckt, als ob sie sich an einer unsichtbaren Mauer entlangtastete.

 

»Es muß verbrannt werden«, sagte sie dauernd vor sich hin.

 

Totty wollte gerade etwas äußern, aber Tanner brachte ihn durch einen scharfen Blick zum Schweigen.

 

Endlich hatte sie die untersten Stufen der Treppe erreicht und ging mit unsicheren Schritten auf den Schreibtisch zu.

 

»Es muß verbrannt werden«, wiederholte sie in dem gleichmäßig monotonen Ton, den alle Schlafwandler haben. »Wir müssen das Tuch verbrennen.«

 

Sie faßte nach der Schublade. Das Fach war verschlossen, aber in ihrer Einbildung hatte sie es geöffnet.

 

»Das Tuch muß verbrannt werden – sie haben ihn damit umgebracht. Ich sah es in ihrer Hand, als sie ins Haus traten. Sie haben ihn damit ermordet, es muß verschwinden.«

 

Wieder ging sie zur Treppe. Ferraby machte einen Schritt auf sie zu, aber Tanner packte ihn bei der Hand und zog ihn zurück. Langsam stieg sie die Stufen hinauf. Der Chefinspektor folgte ihr und beobachtete, daß sie wieder in ihr Zimmer ging. Die Tür fiel leise zu, und das Schloß schnappte ein.

 

Tanner konnte sich denken, mit wem sie im Traum sprach.

 

Kapitel 24

 

24

 

Der Chefinspektor hörte, daß sich eine andere Tür öffnete. Lady Lebanon trat heraus, noch vollständig angekleidet.

 

»War das nicht eben Isla?«

 

Er nickte.

 

»Ist sie wieder im Schlaf umhergegangen? Das ist doch recht traurig. Wo haben Sie das junge Mädchen gesehen?«

 

»Sie kam in die Halle herunter.«

 

Lady Lebanon holte tief Atem.

 

»Sie ist ziemlich angegriffen. Ich schicke sie wohl am besten für einen Monat aufs Land.«

 

»Haben Sie die junge Dame schon einmal in diesem Zustand gesehen?«

 

»Schon zweimal. Das schlimmste ist, daß sie dann den größten Unsinn redet. Hat sie heute auch etwas gesagt?«

 

»Nichts, was ich hätte verstehen können.«

 

Sie schien beruhigt zu sein.

 

»Gute Nacht, Mr. Tanner. Ich werde später mit Isla sprechen. Es ist nicht gut, wenn man sie sofort aufweckt. Wenn man es aber unterläßt, besteht die Möglichkeit, daß sie aufs neue umherwandelt.«

 

Tanner kehrte nachdenklich in die Halle zurück. Auf die beiden Sergeanten hatte der Vorfall großen Eindruck gemacht.

 

»Fahren Sie zum Gasthaus«, wandte sich Tanner an Totty, »und sehen Sie nach, ob sich Mrs. Tilling so weit beruhigt hat, daß man mit ihr sprechen kann.«

 

Totty ging sofort.

 

»Was sagen Sie dazu, Ferraby? Allem Anschein nach weiß sie, wer den Mord begangen hat.«

 

»Ich fürchte, Sie haben recht. Es bleibt allerdings immer noch die Möglichkeit offen, das Miss Crane träumt. Auf jeden Fall weiß sie aber, daß das rote Seidentuch heute verbrannt worden ist, und vielleicht vermutet sie, daß es vorher in der Schublade lag. Man kann Leuten keinen Vorwurf aus dem machen, was sie im Schlaf sagen.«

 

»Ich will ja auch gar nichts gegen die junge Dame sagen. In dem Punkt können Sie ganz beruhigt sein.« Tanner nahm eine Zigarre aus dem Kasten, den Gilder auf dem Tisch hatte stehenlassen. »Wenn der böse Diener sie nicht vergiftet hat, müßte sie gut sein.«

 

»Was war denn in dem Whisky, den er Lord Lebanon brachte?«

 

»Er hatte ein Schlafmittel hineingemischt. Ich glaube sogar, daß ich es kenne.«

 

»Warum hat er das getan?«

 

»Lord Lebanon war davon überzeugt, daß sie für die Nacht etwas planen. Er hat mir zwar nicht gesagt, wer die ›sie‹ sein sollen, aber das können wir ja leicht ahnen. Allem Anschein nach geben sie ihm in solchen Fällen einen Schlaftrunk, damit sie nicht gestört werden. Ich wünschte nur, er hätte ihn genommen.«

 

Ferraby sah ihn groß an.

 

»Das verstehe ich nicht. Warum denn?«

 

»Wenn er heute abend aus dem Weg wäre, würde mir das viele Unannehmlichkeiten ersparen. Morgen früh schickt der Polizeipräsident von London drei Leute, die dieses Geheimnis viel besser aufklären können als ich. Ich habe ihn darum gebeten, und ich erwarte sie morgen früh um zehn.«

 

»Sind es Beamte von Scotland Yard?«

 

»Ich möchte es Ihnen heute abend nicht sagen – aber überlegen Sie mal, welche Leute ich wohl kommen lassen könnte, dann haben Sie für die Nacht etwas zu tun.«

 

Totty kam nach einer Weile zurück und meldete, daß Mrs. Tilling eingeschlafen wäre.

 

»Das ist ja ausgezeichnet«, erwiderte Tanner. »Haben Sie noch andere Nachrichten?«

 

»Ja. Man hat Tilling in Stirling festgenommen. Er stieg in Edinburgh aus dem Zug, aber die Polizei hat ihn doch gefaßt.«

 

»Der wäre also im Augenblick versorgt und aufgehoben. Wo sind denn eigentlich die beiden Amerikaner?«

 

»In ihrem Zimmer«, entgegnete Totty. »Ich habe gehört, wie sie miteinander sprachen.«

 

»Ich möchte nur wissen, was die jetzt noch zu reden haben«, meinte Tanner lächelnd. »Wenn sie wüßten … Ich glaube, dies ist die letzte Nacht, die sie in Marks Priory zubringen.«

 

»Wollen Sie die beiden verhaften?«

 

»Ich weiß es noch nicht, das kommt darauf an«, sagte Tanner und suchte nach einem Spiel Karten, denn er legte gern Patience.

 

*

 

Gilder und sein Kollege hatten wirklich viel miteinander zu besprechen. Brooks redete am meisten. Gilder hatte sich in einen Stuhl gesetzt. Ein Glas Whisky stand vor ihm, und im Mund hatte er eine halbaufgerauchte Zigarre.

 

»Nun sei aber endlich ruhig«, brummte er schließlich. »Du machst mich krank und bringst mich auch noch ganz aus dem Häuschen. Heute abend ist sie wieder im Schlaf umhergewandelt und hat eine Menge Zeug geredet, das gerade nicht sehr vorteilhaft für uns ist. Ich gehe noch diese Nacht in ihr Zimmer und hole sie.«

 

Brooks starrte ihn entsetzt an.

 

»Das willst du tun, während alle diese Detektive hier im Haus sind?«

 

»Ja, und wenn alle Beamten von Scotland Yard hier wären! Ich will kein Risiko mehr auf mich nehmen – jedenfalls darf das nicht mehr passieren.«

 

Brooks schüttelte vor Staunen und Bewunderung den Kopf.

 

»Hast du es Lady Lebanon gesagt?«

 

»Ach, laß mich doch mit der Frau zufrieden!« schimpfte Gilder. »Um die kümmere ich mich heute abend überhaupt nicht.«

 

Er stand auf und nahm aus einer Schublade der kleinen Kommode ein flaches Lederetui, das einen Satz von Instrumenten enthielt. Daraus wählte er eine lange Flachzange, versuchte sie an einem Stück Draht und war zufrieden. Dann ging er zur Tür, nahm den Schlüssel heraus und steckte ihn von außen hinein. Vorsichtig tastete er nun mit der Spitze der Zange in das Schlüsselloch, packte das Ende des Schlüssels und drehte die Zange herum. Die Tür war abgeschlossen. Als er das Werkzeug zurückdrehte, war sie wieder geöffnet.

 

Mr. Gilder überlegte alles genau. Es gab kein Schloß im ganzen Haus, das er nicht wenigstens einmal jede Woche ölte.

 

Er schob den Schlüssel wieder von innen in die Tür und steckte die Zange in die Tasche.

 

»Wohin willst du sie denn bringen?« fragte Brooks.

 

»In mein Zimmer«, erwiderte Gilder kurz.

 

»Wenn aber Tanner –«

 

»Ach, sei doch still. Du siehst auch immer gleich alles schwarz in schwarz. Es wäre vielleicht besser, wenn du nach Hause zurückfahren würdest.«

 

»Ich glaube, wir fühlten uns beide wohler, wenn wir wieder nach Amerika gingen«, entgegnete Brooks düster.

 

»Nun hör einmal zu, mein Junge.« Gilder legte seine große Hand auf das Knie seines Kameraden. »Du hast hier eine ziemlich leichte Stellung, und du wirst gut dafür bezahlt. Du hast doch geschwindelt, als du dem Inspektor sagtest, daß du kein Geld gespart hättest. Ich will ja nicht gerade behaupten, daß du genug hast, um von den Zinsen zu leben, aber du hast immerhin ein ganz schönes Kapital zusammenbringen können. Jetzt ist es aber Zeit, daß wir vorwärtsmachen. Ich gehe noch einmal vor und sehe nach, ob sie etwas brauchen. Vielleicht legen sie sich auch hin. Selbst ein Beamter von Scotland Yard muß manchmal schlafen.«

 

Er hatte einen kleinen Spalt ins Wandpaneel geschnitten, und von diesem Beobachtungsposten aus schaute er in das Zimmer, in dem sich die anderen aufhielten. Tanner legte eine Patience auf dem Tisch, und Totty war an der anderen Ecke ebenfalls mit einem Pack Karten beschäftigt. Ferraby befand sich nicht in dem Raum.

 

Gilder ging langsam den Gang zurück und stieg die Treppe hinauf. Als er sich im Korridor umwandte, sah er, daß Lady Lebanon gerade in Islas Zimmer trat, und zog sich zurück, so daß sie ihn nicht sehen konnte.

 

Es hatte lange gedauert, bis Isla schlaftrunken fragte, wer an der Tür wäre, und es dauerte noch länger, bis sie von innen aufschloß. Lady Lebanon ging hinein und sah, daß Isla auf dem Bett saß und den Kopf gesenkt hatte.

 

»Ist etwas geschehen?« fragte das junge Mädchen halblaut.

 

Lady Lebanon schüttelte sie leicht an der Schulter. Dann bemerkte sie das kleine Nachtlicht, das Isla immer brennen ließ.

 

»Wach auf, Isla. Schläfst du immer bei dieser Beleuchtung? Das ist aber nicht gut für dich. Eigentlich hast du es hier sehr schön«, meinte Lady Lebanon und schaute sich um. »Ich bin in den letzten fünf Jahren nur zweimal durch diese Tür gegangen.«

 

Isla schauderte.

 

»Ich hasse dieses Zimmer«, erwiderte sie heftig.

 

Ein kalter Blick traf sie.

 

»Das hast du früher nie gesagt. Und ein Zimmer ist so gut wie das andere. Vor Jahren gab es hier auch Geheimtüren, aber mein Mann hat sie alle zuschrauben lassen. Der Lebanon, der diesen Raum einst bauen ließ, war ein Sonderling und wollte niemand um sich sehen. Sie mußten ihm das Essen durch eine Öffnung in der Wand hineinreichen.« Sie tastete an dem Paneel. »Und hier ist mitten in der Wand ein Geheimgang. – Der Mann hieß übrigens Courcy Lebanon und heiratete eine Hamshaw. Ihre Mutter war mit den Monmouth verwandt.« Sie seufzte. »Der Zweig der Familie ist schon ausgestorben«, sagte sie leise, aber dann nahm sie sich zusammen und kehrte zur Gegenwart zurück. »Ich würde aber wirklich nicht bei Licht schlafen, das ist nicht gut für die Nerven.«

 

Islas Kopf sank wieder tiefer.

 

»Es tut mir leid, aber du mußt jetzt aufwachen!« Lady Lebanon rüttelte wieder behutsam an Islas Schulter. »Hörst du nicht? Du mußt aufwachen!«

 

»Ach, ich bin so furchtbar müde, ich bin immer halb am Schlafen!«

 

Trotzdem hörte sie aber, daß Lady Lebanon zur Tür ging und den Schlüssel umdrehte.

 

»Warum tun Sie das?«

 

»Es sind viele Fremde im Haus und im Park.« Lady Lebanon setzte sich auf die Kante des Bettes. »Heute abend bist du wieder im Schlaf umhergewandert. Das war recht unangenehm für uns; man konnte dein Benehmen direkt als Anklage gegen mich deuten.«

 

Isla starrte sie an:

 

»Habe ich das getan? Das tut mir leid. Es ist aber auch nicht passiert vor –« Sie brach ab.

 

»Was wolltest du sagen?«

 

»Vor dieser schrecklichen Nacht.« Islas Stimme zitterte. »Damals wurden alle Möbel zertrümmert, und Dr. Amersham … Ich dachte, er wäre umgebracht worden.« In Erinnerung an die grausige Szene bedeckte sie das Gesicht mit den Händen.

 

»Wenn du nicht nach unten gekommen wärst, hättest du auch nichts gesehen«, entgegnete Lady Lebanon hart.

 

Plötzlich beugte sie sich über das junge Mädchen.

 

»Isla, es könnte in dieser Nacht etwas geschehen«, sagte sie eindringlich und erregt. »Vielleicht müßte ich –« Sie beendete den Satz nicht. »Hoffentlich kann das Schlimmste verhütet werden, aber ich muß auf alles gefaßt sein. Ich will, daß du Willie heiratest – hörst du auch, was ich sage? Du sollst Willie heiraten.«

 

Sie sprach verzweifelt und faßte Islas Arm so hart, daß er schmerzte.

 

»Ich will, daß du dich morgen früh mit ihm trauen läßt.«

 

Isla sah sich müde nach ihr um.

 

»Das ist unmöglich. Ich kann mich nicht in so kurzer Zeit entschließen, ihn zu heiraten. Ich – ich habe es mir noch nicht ernstlich überlegt.«

 

»Doch, du kannst ihn morgen früh heiraten«, erwiderte Lady Lebanon hartnäckig. »Schon vor einer Woche habe ich eine Heiratslizenz ausstellen lassen …«

 

»Aber er will doch nicht …«

 

»Darauf kommt es nicht an, ob er will.« Lady Lebanons Stimme klang jetzt ungeduldig. »Er wird das tun, was ich ihm sage. Willie ist der Letzte der Lebanons – ist das auch vollkommen klar, was das bedeutet? Das letzte Glied in der Kette. Und es ist ein schwaches Glied.

 

Schon einmal ist das in der Geschichte der Familie vorgekommen, und Geoffrey Lebanon war noch schwächer als Willie. Er heiratete seine Kusine Jane Secampre. Du kannst ihr Bild drunten in der großen Halle hängen sehen. Aber sie verließ ihn sofort nach der Trauung.«

 

Isla hörte zu und war gespannt, was folgen würde.

 

»Und trotzdem hatte sie Kinder.«

 

»Das ist aber schrecklich – entsetzlich!«

 

»Unter den gegebenen Umständen kann ich das nicht finden. Und Jane war eine der bedeutendsten Frauen der Lebanons. Es ist dir doch klar, daß du selbst eine Lebanon bist? Dein Urgroßvater war der Bruder des achtzehnten Grafen von Lebanon. Und was auch immer passieren mag, deine Kinder bleiben in der Familie, wenn du verheiratet bist. Sie führen den Namen Lebanon.«

 

Nachdem die Frau das alles gesagt hatte, schien sie sich erleichtert zu fühlen, denn sie atmete freier, und ihre Stimme klang nicht mehr so schrill.

 

»Wenn dir ein Leben an Willies Seite unmöglich erscheint, werde ich dir das größte Verständnis dafür entgegenbringen.«

 

Sie stand auf.

 

»Morgen um elf Uhr steht das Auto bereit.«

 

Nur mit Mühe konnte sich Isla zusammennehmen.

 

»Nein, ich kann es nicht tun. Es ist einfach unmöglich. Ich liebe Willie nicht. Ich – ich liebe einen anderen.«

 

Lady Lebanon warf ihr einen schnellen Blick zu.

 

»Ach, ist es der junge Ferraby? Das ahnte ich schon. Aber ich habe dir ja gesagt, daß ich in der Beziehung alles verstehen und verzeihen werde. Begreifst du denn nicht, was du dadurch tust? Du führst dem alten, kranken Stamm der Lebanons frisches Blut zu …«

 

An der Tür gab es ein Geräusch, und Lady Lebanon drehte sich schnell um.

 

»Was war das?« flüsterte Isla furchtsam.

 

»Das ist Gilder. Ein weiterer Grund, warum du bald heiraten mußt. Ich habe diese Leute nicht mehr ganz in der Hand. Nach den Vorfällen von heute abend fragt es sich, ob ich noch genügend Autorität bei ihnen besitze.« Lady Lebanon trat dicht an Isla heran. »Gilder darf nicht erfahren, daß du heiratest«, sagte sie ganz leise. »Verstehst du, was ich sage? Er darf es unter keinen Umständen wissen.«

 

Es klopfte. Schnell ging sie zur Tür und schloß sie auf. Draußen stand Gilder; Isla hörte seine tiefe Stimme. Dann wurde die Tür wieder geschlossen.

 

Der Schlaf übermannte Isla aufs neue, aber plötzlich schreckte sie auf und sah, daß Lady Lebanon die Tür offengelassen hatte. Mit größter Mühe schleppte sie sich hin und schloß sie. Dann kehrte sie zum Bett zurück, sank erschöpft darauf nieder und zog die Decke über sich.

 

Sie schlief, dennoch aber war ihr Geist wach, und ihre Gedanken arbeiteten.

 

Etwa eine Viertelstunde später versuchte jemand, von draußen die Tür zu öffnen. Sie gab nach, und Gilder trat ins Zimmer.

 

»Die Tür war überhaupt nicht zugeschlossen«, sagte er.

 

Brooks zitterte vor Furcht.

 

»Wo ist Mylady?«

 

»Ach, darauf kommt es jetzt nicht an. Gib mir die Decke.«

 

Gilder schlich auf Zehenspitzen zum Bett, faßte Isla an der Schulter und schüttelte sie leicht.

 

»Kommen Sie, Miss, kommen Sie mit mir.«

 

Sie rührte sich nicht, nur ihre Augenlider hoben und senkten sich mehrmals hintereinander.

 

»Sie ist nicht ganz bei sich«, sagte Gilder. »Brooks, lausche draußen auf dem Gang, ob jemand kommt.«

 

»Ach, laß sie doch liegen«, drängte Brooks.

 

»Das kann ich nicht. Tu, was ich dir sage.«

 

Inzwischen hatte sich Isla aufgerichtet und saß nun auf der Kante des Bettes. Ihre Augen waren weit geöffnet, und sie sprach leise mit sich selbst.

 

»Gleich steht sie auf.« Gilder hielt den Atem an. »Gib mir schnell die Decke.«

 

Er nahm sie und legte sie behutsam um Islas Schultern.

 

»Nein, ich kann nicht«, sagte Isla. »Ich muß Zeit haben, ich will noch nicht heiraten.«

 

Gilder warf Brooks einen bedeutsamen Blick zu.

 

»Zum Teufel, hast du das eben gehört?«

 

»Ich kann morgen nicht heiraten – ich will es auch nicht.«

 

Sie war aufgestanden, und Gilder leitete sie langsam zur Tür. Er wußte mit solchen Zuständen Bescheid. Sie mußte selbst nach dem Handgriff tasten, ihn finden und die Tür ohne seine Hilfe öffnen. Er war sehr vorsichtig und hütete sich, sie aufzuwecken. Nur ihre Schultern konnte er in die Richtung drehen, in der sie gehen sollte, aber das genügte ja auch.

 

Hinter der zweiten Treppe wurde der Gang enger, und dicht dahinter lagen die beiden Zimmer, in denen die zwei Amerikaner schliefen. Gilder öffnete die Tür zu seinem Raum, schlug die Bettdecken zurück und drückte Isla vorsichtig auf das Lager nieder. Mit einem Seufzer drehte sie sich auf die Seite, und Gilder breitete eine Daunendecke über sie.

 

»Jetzt wird sie wahrscheinlich schlafen. Auf jeden Fall schließe ich aber die Tür ab. Geh in ihr Zimmer zurück und hole ihren Morgenrock und ihre Pantoffeln. Aber schnell!«

 

Brooks wollte gehen, blieb aber stehen und faßte nach der Hüfttasche.

 

»Ich habe meine Waffe verloren – hast du sie nicht gesehen?«

 

Gilder schaute ihn düster an.

 

»Wozu trägst du eine Pistole bei dir? Das ist doch der größte Unsinn! Wo hast du sie denn gelassen?«

 

»Noch vor einer Stunde hatte ich sie in der Tasche.«

 

»Das ist allerdings unangenehm. Geh in dein Zimmer und sieh nach, ob du sie finden kannst. Wozu brauchst ausgerechnet du eine Schußwaffe? Man sollte annehmen, daß du schon ganz kindisch geworden bist.«

 

Brooks kam bald zurück und berichtete, daß er sie nicht entdeckt hätte.

 

»Dann vergiß das Ding«, erwiderte Gilder ungeduldig. »Morgen bei Tageslicht wirst du schon darauf kommen, wo du es gelassen hast. Bring jetzt schnell den Morgenrock und die Pantoffeln.«

 

Die Tür zu dem Zimmer des alten Lords stand offen, obwohl Brooks darauf hätte schwören mögen, daß er sie kurz vorher geschlossen hatte. Er wußte auch genau, daß er das Licht hatte brennen lassen – und jetzt lag der Raum im Dunkeln. Lady Lebanon mußte inzwischen hiergewesen sein. Er ging hinein, schloß die Tür und hob gerade die Hand, um nach dem Lichtschalter zu tasten, als sich plötzlich etwas um seinen Hals legte – ein weiches, elastisches Tuch. Blitzschnell brachte er die Hand zwischen das Tuch und seine Kehle und versuchte, sich zu befreien. Aber ein Mann packte ihn mit festem Griff von hinten. Brooks zog die Hände vom Hals zurück und tastete hinter sich, konnte aber niemand fassen. Kurz darauf stürzte er zu Boden und verlor die Besinnung.

 

Kapitel 16

 

16

 

»Wann werden die Polizeibeamten wohl das Haus wieder verlassen?« fragte Lady Lebanon den Butler, als sie allein waren.

 

»Ich habe den Eindruck, daß sie ziemlich lange bleiben«, entgegnete er. Als sie Miene machte, nach oben zu gehen, fügte er schnell hinzu: »Mylady werden verzeihen, aber ich muß noch über eine unangenehme Sache sprechen. Wirklich, es tut mir aufrichtig leid, daß ich es sagen muß. Morgen haben wir Ende des Monats, und ich möchte mit allem nötigen Respekt meinen Dienst kündigen.«

 

Sie zog die Augenbrauen hoch, obwohl sie erwartet und gefürchtet hatte, daß das kommen würde.

 

»Mylady wissen ja selbst, welche merkwürdigen Dinge hier passiert sind«, fuhr er nervös fort. »Dadurch ist Marks Priory der Öffentlichkeit leider aufgefallen.«

 

Merkwürdigerweise konnte sie seine Aufregung und seine Gründe verstehen.

 

»Aber eigentlich berührt die Sache Sie doch wenig«, erwiderte sie liebenswürdig.

 

»Verzeihen Sie, Mylady. Ich verstehe wohl, daß vor allem Mylady und der junge Lord empfindlich betroffen werden, aber in gewisser Weise habe auch ich darunter zu leiden. Während meiner langen Dienstzeit bin ich noch nie mit solchen Affären in Berührung gekommen.«

 

»Nun gut, Kelver. Es wird schwer sein, einen Ersatz für Sie zu finden, und ich lasse Sie ungern gehen.«

 

Er senkte leicht den Kopf. Er war von ihren Worten überzeugt und in gewisser Weise dankbar, daß sie seine Dienste offen anerkannte.

 

»Wo ist Lord Lebanon?« fragte sie.

 

»In seinem Zimmer, Mylady. Vor kurzem kam er aus dem Park zurück.«

 

»Sagen Sie ihm, daß ich ihn sprechen möchte.«

 

Kurz darauf kam Willie. Er war ein wenig verstört und schien sich vor seiner Mutter zu fürchten. Trotzdem versuchte er, selbstbewußt und zuversichtlich aufzutreten.

 

»Das ist doch eine ganz entsetzliche Geschichte –«, begann er.

 

»Willie, wohin bist du heute morgen gefahren?«

 

Er feuchtete die Lippen an.

 

»Zur Stadt.«

 

»Und wohin bist du dort gegangen?«

 

Er wollte lächeln, aber es gelang ihm nicht.

 

»Ich habe Scotland Yard besucht«, entgegnete er verbissen.

 

»Warum?«

 

Er konnte sie nicht ansehen, als er antwortete, und das Sprachen fiel ihm schwer.

 

»Es passieren Dinge in diesem Haus, die ich nicht verstehe; ich fürchte mich, und – verdammt noch mal, ich wollte eben hingehen!«

 

»Willie!«

 

Er sank in sich zusammen.

 

»Es tut mir leid, Mutter, aber du behandelst mich, als ob ich ein kleines Kind wäre.«

 

»Du bist nach Scotland Yard gegangen! Das war sehr unüberlegt und böse von dir. Wenn die Polizeibeamten etwas erfahren wollen, kannst du sicher sein, daß sie es herausbringen, ohne daß du dich darum kümmerst. Du hast mich sehr gekränkt. Hast du den Beamten etwas von Amersham erzählt?«

 

Das war die Frage, auf die es wirklich ankam. Sie wußte ja, daß er in Scotland Yard gewesen war, denn Gilder hatte es ihr berichtet. Aber er hatte nicht hören können, was der junge Lord den Beamten mitgeteilt hatte.

 

»Nein«, erwiderte er düster. »Ich habe nur gesagt, daß er ein seltsamer Mensch sei. Ich habe auch gesagt, daß hier auf dem Schloß viel vorgeht, was ich nicht begreifen kann. Ich verstehe diese verdammten amerikanischen Diener nicht, und vor allem weiß ich nicht, was Gilder hier soll.«

 

Ärgerlich warf er sich in einen Sessel.

 

»Ich wünschte, ich wäre nie von Indien zurückgekehrt.«

 

Sie erhob sich und trat neben ihn.

 

»Du wirst nicht wieder ohne meine Erlaubnis nach London gehen und mit der Polizei über Dinge sprechen, die in diesem Haus passieren – hast du verstanden?«

 

»Ja«, entgegnete er gereizt.

 

»Wenn du nur etwas mehr Anstand hättest«, fuhr sie fort. »Es ist nicht notwendig, daß ein Lebanon sich mit Polizeibeamten anfreundet.«

 

»Das weiß ich nicht«, sagte er mürrisch. »Sie sind doch ebensogut Menschen wie ich. All dies Gerede von der alten Familientradition ist Unsinn … Weißt du, daß dieser Gilder mich nach Scotland Yard verfolgte?«

 

»Das hat er in meinem Auftrag getan. Genügt dir das?«

 

Er lachte hilflos.

 

»Ja, Mutter.«

 

»Geh noch nicht«, sagte sie, als er aufstehen wollte. »Du mußt erst noch einige Schecks unterschreiben.«

 

Sie nahm ein schmales Heft aus der Schublade und schlug es auf. Zögernd trat er an den Schreibtisch, nahm eine Feder und tauchte sie ein. Wie gewöhnlich waren es Blankoschecks.

 

»Ach, das ist doch Unsinn, du läßt mich niemals einen Scheck unterschreiben, in dem eine Zahl eingetragen ist. Ich kann doch wohl verlangen, daß ich sehe, was ich unterschreibe.«

 

»Du mußt vier Formulare unterzeichnen«, erwiderte sie ruhig, »das genügt. Lege den Löscher hin, du weißt doch, daß Unterschriften unter Schecks nicht abgetrocknet werden sollen.«

 

Hätte er seinem augenblicklichen Impuls folgen dürfen, so hätte er am liebsten das Tintenfaß über das Heft gegossen oder das Scheckbuch in den Kamin geworfen. Aber seine Mutter sah ihn dauernd an, und unter ihrem zwingenden Blick blieb ihm nichts anderes übrig, als ihren Willen zu erfüllen, wenn es auch in seinem Innern kochte.

 

Aber schließlich kam es ja nicht darauf an, damit tröstete er sich. Er besaß ein großes Vermögen, und seine Mutter war eine tüchtige und energische Frau, die es gut zu verwalten verstand. Jetzt wollte er mit Tanner sprechen, diesem merkwürdigen Detektiv, und mit Ferraby. Als sie ihn mit einer Handbewegung entließ, lief er beinahe aus dem Zimmer.

 

Lady Lebanon war die Treppe schon halb hinaufgegangen, als sie plötzlich erschrak. Das war wirklich sehr leichtsinnig gewesen. Sie eilte die Stufen wieder hinunter, sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, trat dann an ihren Schreibtisch, schloß mit zitternden Händen eine Schublade auf und nahm ein kleines, rotes Paket heraus. Ihre Finger bebten, als sie den Anthrazitofen öffnete und das indische Tuch auf die Kohlen warf. Aber das genügte ihr noch nicht; sie nahm das Schüreisen und drückte den Stoff hinunter, damit er Feuer fangen sollte.

 

Sie sah die kleine Metallscheibe, die in der Ecke eingenäht war. Welch eine unglaubliche Sorglosigkeit, daß sie das Tuch in der Schublade aufbewahrt hatte, wo es jeder Polizeibeamte finden konnte! Erschöpft sank sie in den Sessel vor dem Schreibtisch.

 

Nach einigen Sekunden erhob sie sich jedoch wieder und ging nervös auf den Ofen zu. Sie überlegte es sich aber und kehrte zum Schreibtisch zurück. Es ließ sich nicht vermeiden, daß Tanner sie ausfragte, aber sie hatte sich die Antworten schon vorher überlegt. Sie wollte der Polizei möglichst wenig Anhaltspunkte geben. Das war schließlich für Lady Lebanon keine neue Erfahrung. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Theater spielen und irgend etwas verheimlichen müssen. Aber jetzt hatte die Krise ihren Höhepunkt erreicht: Es ging um Leben und Tod.

 

Kapitel 17

 

17

 

Totty mochte viele Fehler haben, die eigentlich ein Sergeant nicht haben sollte, aber er hatte eine gute Spürnase. Tatsächlich fand er einen Abdruck von einem hohen Absatz direkt am Rande des Fahrwegs, einen zweiten entdeckte er dicht neben der Stelle, an der das Auto gehalten hatte.

 

Etwa fünfzig Meter südlich bemerkte er auch noch eine kleine Parfümflasche mit silbernem Verschluß. In der Nähe des Gebüschs, in dem man Amersham aufgefunden hatte, konnte er jedoch weder Abdrücke von Schuhen noch sonst einen Anhaltspunkt finden. Aber auf einer kahlen Stelle des Rasens sah er nicht nur die Spur eines hohen Damenabsatzes, sondern auch den Abdruck des ganzen Schuhs.

 

Während er an der Arbeit war, drehte er sich plötzlich um und sah, daß einer der amerikanischen Diener ihn beobachtete.

 

»Nun, suchen Sie nach Anhaltspunkten, Mr. Totty? Was Sie dort gefunden haben, ist der Abdruck von Myladys Schuh. Sie war heute morgen hier im Park.«

 

»Heute morgen ist sie überhaupt nicht aus ihrem Zimmer herausgegangen«, erklärte der Sergeant mit eiserner Ruhe.

 

»So? Nun, ich bin selbst nicht hiergewesen, aber ich habe es von der Dienerschaft gehört. Die Leute haben gesehen, daß sie das Zimmer verließ, ebenso Brooks. Jedenfalls wurde es mir von mehreren Seiten berichtet.«

 

»Warum ist sie ausgerechnet hierher gegangen?« fragte Totty. Plötzlich kam ihm ein guter Gedanke. Er suchte in allen seinen Taschen und fragte dann: »Haben Sie zufällig eine Zigarette bei sich?«

 

Gilder holte aus einer Tasche ein silbernes Etui hervor, öffnete es und bot es Tony an.

 

»Das sind Chesterfields«, sagte er ruhig. »Dieselbe Sorte, die Sie heute morgen hier fanden. Kurz bevor Sie kamen, habe ich nämlich selbst im Park geraucht – ich war ganz fassungslos über den Mord.«

 

»Woher wissen Sie denn, daß ich die Zigarette aufgehoben habe?«

 

»Nicht Sie haben es getan, Mr. Ferraby hat sie aufgehoben«, entgegnete Gilder mit einem breiten Grinsen. »Übrigens würde ich auch einen guten Detektiv abgeben, Mr. Totty. Ich finde nicht nur Anhaltspunkte, ich kann sie auch deuten!«

 

Totty hielt es für unter seiner Würde, darauf zu antworten. Er setzte seine Nachforschungen fort, ging quer über die große Wiese auf ein Gehölz zu, das parallel zum Fahrweg lief, und kam zu einer Stelle, von der aus er das kleine, hübsche Haus des Parkwächters Tilling sehen konnte. Als er eben wieder gehen wollte, sah er einen kleinen Klappstuhl unter einem Baum.

 

Ringsum sah er viele Aschenhäufchen auf dem grünen Rasen. Hier mußte jemand gesessen haben, der seine Pfeife öfters ausgeklopft hatte. Totty bemerkte auch noch einen Beutel mit Tabak neben dem Stuhl und eine ausgegangene Pfeife. Jemand hatte hier Wache gehalten; auch die Abdrücke von genagelten Schuhen verrieten das deutlich genug.

 

Kurz darauf machte der Sergeant einen weiteren Fund. Das Gras hinter den Bäumen war ziemlich hoch, und dort entdeckte er eine doppelläufige Jagdflinte. Sie konnte noch nicht lange dort liegen, denn die Eisenteile der Waffe waren nicht verrostet. Beide Läufe waren geladen. Er öffnete das Gewehr und nahm die Patronen heraus, die er in die Tasche steckte. Nachdem er sich überall umgesehen hatte, ging er langsam zu der Stelle zurück, wo er Gilder gelassen hatte. Der Diener war nicht mehr zu sehen, aber kurz darauf kam er aus dem Haupteingang des Schlosses und rief Totty an:

 

»Hallo, Sergeant!« begann er, aber im selben Augenblick fiel sein Blick auf das Gewehr, und sein Gesichtsausdruck änderte sich. »Wo haben Sie denn das gefunden?«

 

Totty betrachtete die Läufe eingehender. Das Gewehr war in letzter Zeit nicht abgefeuert worden. Er sah keine Pulverspuren und konnte auch nichts von Rauchgeruch wahrnehmen.

 

»Kennen Sie das Gewehr?« fragte er den Diener.

 

»Sieht aus, als ob es dem Parkwächter gehört.«

 

»Und die Pfeife?« Totty nahm sie aus der Tasche.

 

»Ich könnte mich nicht besinnen, sie schon gesehen zu haben«, erwiderte Gilder hartnäckig. »Ich selbst rauche keine Pfeife, aber wenn Sie die Asche analysieren lassen, können Sie es vielleicht erfahren.«

 

»Wo ist Mr. Tanner?« fragte der Sergeant kurz und ärgerlich.

 

Der Chefinspektor war gerade im oberen Stockwerk. Er durchsuchte das ganze Haus, hatte aber bis jetzt nichts gefunden. Unter Brooks‘ Führung war er von einem Raum zum anderen gegangen. Das Zimmer von Lord Lebanon war verhältnismäßig klein, aber moderner eingerichtet als alle anderen. Isla schlief in dem größten Zimmer des Schlosses. Das Innere war mit dunklen Paneelen ausgestattet, und der Räum hatte auch eine hölzerne Kassettendecke. Seit zweihundert Jahren schien hier nichts geändert worden zu sein. Ein großes Bett mit vier Pfosten und Thronhimmel, ein Frisiertisch, ein Ankleidetisch, eine Couch und ein paar Stühle bildeten das ganze Mobiliar.

 

»Das ist das Zimmer des alten Lords«, erklärte Brooks. »Es wird immer noch so genannt. Hier soll es auch Geistererscheinungen geben. Es ist der einzige Raum, in dem ich mich fürchte. Wenn ich hereinkomme, läuft mir stets eine Gänsehaut den Rücken hinunter.«

 

Tanner ging die Wand entlang und klopfte ein Paneel nach dem anderen ab, während Brooks ihn beobachtete.

 

»Viele Teile der Vertäfelung klingen hohl, also muß es wohl Geheimräume in diesem Haus geben. Die meisten werden allerdings nicht mehr bekannt sein«, meinte der Amerikaner.

 

»Sie waren doch beim Theater – habe ich recht?«

 

»Ja, zwei Jahre lang. Aber woher wissen Sie das?«

 

Der Beamte ging nicht näher darauf ein, sondern erkundigte sich, wo das Zimmer der Lady Lebanon läge.

 

»Ich werde es Ihnen gleich zeigen.«

 

Brooks wartete, bis der Inspektor das Zimmer verlassen hatte, dann schloß er die Tür zu. Der Raum befand sich an der anderen Seite des Ganges und war angenehmer und heller als die Zimmer des alten Lords. Es stand auch ein Schreibtisch darin, und der Boden war mit dicken persischen Teppichen belegt. Das Bett und die anderen Möbel waren modern.

 

Tanner sah sich sehr genau um, bevor er Einzelheiten untersuchte. Auf dem Schreibtisch lag ein kleiner Fahrplan.

 

»Reist Lady Lebanon viel?«

 

»Nein, aber sie sagte Gilder, daß er zur Stadt fahren sollte. Vermutlich hat sie einen Zug für ihn aufgeschlagen.«

 

»Das stimmt nicht. Gilder fuhr mit dem Auto zur Stadt und kam auch auf die gleiche Weise zurück. Da müssen Sie sich schon eine andere Begründung ausdenken.«

 

Im Papierkorb lagen ein paar Blätter. Tanner nahm sie der Reihe nach heraus und legte sie auf den Tisch. Aber sie waren belanglos bis auf ein kleines Stück Papier, auf dem ein paar Zahlen in einer Reihe standen: 630, 83, 10, 105.

 

Zuerst wußte er nichts damit anzufangen, aber dann kam ihm der Gedanke, daß es sich vielleicht um Daten von Zügen handelte, und er steckte den Zettel in die Tasche.

 

»Hier ist ein Raum, den Sie sich eigentlich ansehen sollten«, sagte Brooks, als sie wieder den Korridor entlanggingen. »Es ist das Gastzimmer, in dem Dr. Amersham gewöhnlich schlief, wenn er die Nacht im Schloß verbrachte.«

 

Tanner blieb plötzlich stehen.

 

»Was ist das für eine Tür?«

 

»Ach, das ist ein Abstellraum.«

 

»Den möchte ich gern sehen.«

 

»Es ist aber nichts darin, was Sie interessieren könnte«, protestierte der Diener.

 

»Es ist etwas darin, was ich nicht sehen soll«, entgegnete Tanner ruhig. »Um mich abzulenken, haben Sie von Dr. Amershams Zimmer gesprochen, öffnen Sie die Tür.«

 

Aber Brooks stellte sich breitbeinig davor.

 

»Ich habe den Schlüssel nicht bei mir, und selbst wenn ich ihn hätte, wäre es zwecklos. Es stehen eine Menge alter Sachen –«

 

»Also gehen Sie sofort und holen Sie den Schlüssel.«

 

»Dann wäre es besser, wenn Sie Mylady darum fragten. Ich habe den Schlüssel nicht«, entgegnete Brooks widerwillig. »Niemand hat geglaubt, daß Sie eine Rumpelkammer besichtigen wollen.«

 

»Ich will alle Räume des Hauses sehen. Da Sie sich weigern, bestehe ich nur noch mehr darauf.«

 

Tanner klopfte an die Tür, die ihm ungewöhnlich stark erschien.

 

»Für einen Abstellraum ist doch eine derartig schwere Tür unnötig; oder fürchten Sie, daß die Möbel davonlaufen?«

 

Er senkte den Kopf und lauschte, konnte aber von drinnen nichts hören.

 

»Nun gut, wir wollen die Sache jetzt auf sich beruhen lassen, aber ich komme später darauf zurück.« Brooks öffnete die Tür zu dem Zimmer des Doktors.

 

»Vielleicht finden Sie hier etwas Interessantes.«

 

Tanner entdeckte nichts von Amershams persönlichem Eigentum. Als er wieder heraustrat, sah er Totty mit einem Gewehr unter dem Arm.

 

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« fragte der Sergeant, trat in das Gastzimmer und schloß die Tür. »Das habe ich gefunden«, fuhr er dann fort und gab einen kurzen Bericht über seine sonstigen Entdeckungen. »Es ist das Gewehr des Parkwächters, und wahrscheinlich ist das seine Pfeife.«

 

»Warum mag er nur die beiden Dinge im Stich gelassen haben?« meinte Tanner nachdenklich. »Ich möchte einmal die Patronen sehen.«

 

Nachdem er sie genau betrachtet hatte, gab er sie Totty zurück.

 

»Eine ziemlich grobe Schrotladung. Ungewöhnlich für einen Parkwächter. Die Sachen gehören natürlich Tilling. Vermutlich klärt es sich so auf: Er saß dort und beobachtete von der betreffenden Stelle aus sein Haus. Ich kann mir ja denken, nach wem er Ausschau hielt. Aber dann ist etwas passiert, was ihn veranlaßt, sein Gewehr und seine Pfeife wegzulegen. Was mag das nur gewesen sein?«

 

»Ich habe den Parkwächter holen lassen«, erklärte Totty.

 

Tanner nickte.

 

»Ich möchte wegen der Zigarette noch etwas sagen, Totty. Es ist klar, daß Gilder seine Geschichte erzählte, um Ihnen zuvorzukommen. Mit dem Mann ist nicht zu spaßen, er ist ungewöhnlich mutig und unerschrocken. Und er ist nicht allein damit zufrieden, daß er selbst ein Alibi hat, er sucht auch noch Lady Lebanon in Schutz zu nehmen. Sie muß das Haus verlassen haben, als sie von dem Mord hörte, und das war lange vor Auffindung des Toten. Aber warum ist sie nicht dort hingegangen, wo der Tote lag? Warum ging sie zu einer Stelle fünfzig Meter weiter südlich? Daraus kann man folgern, daß sie nicht wußte, wo sich die Leiche befand. Sie glaubte, sie würde den Toten weiter südlich finden.

 

Nun fragt sich nur noch, ob Gilder zur Stelle war. Ich glaube nicht, wenigstens hat sie ihn nicht getroffen. Vielleicht kam er später dazu, vielleicht war er auch dauernd in der Gegend, ohne daß sie etwas davon wußte. Ich bin sehr gespannt, was Tilling sagen wird.«

 

Es gab drei verschiedene Telefonanschlüsse in Marks Priory, während Tanner zuerst angenommen hatte, eine Zentrale mit einem Schaltbrett zu finden.

 

Ein Apparat stand in Kelvers Zimmer; dorthin ging Tanner, ließ sich mit Scotland Yard verbinden und sprach mit einem seiner Beamten.

 

»Ich brauche dringend eine Liste von allen Zügen, die um sechs Uhr dreißig abgehen und um acht Uhr drei ankommen, ferner eine List mit Zügen, die um zehn Uhr morgens abgehen und am nächsten Abend oder am nächsten Morgen um zehn Uhr fünf ankommen. Die Abgangsstationen weiß ich nicht, die müssen Sie selbst herausfinden.«

 

Was hatte Lady Lebanon nur vor? Wohin wollte sie fahren, als sie den Mord entdeckt hatte? Der Tote war erst kurz vor elf aufgefunden worden, aber die Tat mußte etwa zwölf Stunden vorher geschehen sein. Wollte sie Marks Priory verlassen? Das sah der Frau eigentlich nicht ähnlich.

 

Er war auf dem Rückweg zur Halle, um Lady Lebanon danach zu fragen, als ihm Totty etwas Erstaunliches mitteilte.

 

»Tilling ist nicht in Marks Thornton! Heute morgen ist er abgefahren, und niemand weiß, wohin.«

 

Tanner horchte auf.

 

»Weiß auch keiner der Dienstboten darüber Bescheid?«

 

»Nein. Mit dem jungen Lord habe ich gesprochen, aber der hatte ja im allgemeinen wenig mit Tilling zu tun. Ich bat ihn, seine Mutter zu fragen, aber sie kann das Verschwinden Tillings auch nicht erklären.«

 

Tanner überlegte.

 

»Wer hat Ihnen denn erzählt, daß Tilling heute morgen fortgefahren ist?«

 

»Seine Frau. Wirklich eine liebenswürdige junge Dame«, erwiderte Totty und rückte seine Krawatte gerade.

 

»Fallen Sie bloß nicht auf sie herein, wenn sie liebenswürdig wird. Ich muß sie selbst sprechen – ist sie hier?«

 

»Nein. Ich sagte ihr, sie möchte zum Schloß kommen, aber sie wollte nicht. Meiner Meinung nach weiß sie ziemlich viel. Sie ist genauso nervös und aufgeregt wie Miss Crane.«

 

»Ist die aufgeregt? Woher wissen Sie denn das?«

 

Totty verzog den Mund.

 

Ferraby tut, was er kann, um sie zu beruhigen, aber er hat nicht viel Erfolg.«

 

»Zeigen Sie mir den Weg zu Tillings Haus.«

 

Tanner konnte sich auf die Frau gut besinnen, obwohl er sie nur einmal gesehen hatte. Ihr Gesicht war bleich und eingefallen, als ob sie in der vergangenen Nacht nur wenig geschlafen hätte. Ängstlich sah sie den Chefinspektor an und zögerte einen Augenblick, aber dann bat sie ihn mit heiserer Stimme, näher zu treten. Er folgte ihr in das hübsche, kleine Wohnzimmer.

 

»Sie kommen wegen Johnny? Ich weiß nicht, wo er ist. Heute morgen ist er fortgegangen.«

 

»Wohin denn?«

 

»Ich habe keine Ahnung … Er hat mir nicht viel gesagt.«

 

»Wann kam er in der Nacht nach Hause?«

 

Sie zögerte wieder.

 

»Es war sehr früh am Morgen. Er kam und ging dann wieder, das ist alles, was ich weiß.«

 

Tanner lächelte freundlich.

 

»Also, Mrs. Tilling; sagen Sie ruhig, was. Sie wissen, und geben Sie sich nur nicht zu große Mühe, es mir zu verheimlichen. Wenn Sie nichts erzählen, ist das nicht zum Nutzen anderer Leute, im Gegenteil, Sie lenken nur den Verdacht auf sie. Wann kam Ihr Mann heim? Hatten Sie sich schon zur Ruhe gelegt?«

 

Sie nickte.

 

»Hat er Sie aufgeweckt? Wann war das?«

 

»Etwa um eins. Ich hörte, daß das Wasser in der Küche lief sie liegt direkt neben meinem Schlafzimmer –, und ich stand auf, um nachzusehen.« Plötzlich ließ sie den Kopf hängen und schluchzte heftig.

 

»Ach, es ist furchtbar, nun sind sie alle beide tot – Amersham auch!«

 

Er wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte.

 

»Mrs. Tilling, Sie tun mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir alles genau erzählen, was in der vergangenen Nacht passiert ist. Sie wissen viel, worüber Sie noch nicht gesprochen haben. Wann wird Ihr Mann denn zurückkommen?«

 

»Ich weiß es nicht«, sagte sie und unterdrückte ein Schluchzen. »Hoffentlich kommt er mir nie wieder in die Quere.«

 

»Wohin ist er denn gegangen?«

 

»Das hat er nicht gesagt.«

 

»Also, Sie hörten, daß die Wasserleitung aufgedreht wurde. Was machte er denn in der Küche? Hat er sich gewaschen?«

 

»Nein – er hatte eine Schramme«, erwiderte sie und versuchte, harmlos zu sprechen. »Er hatte sich an der Weißdornhecke gerissen.«

 

»An der Hand?«

 

»Ja, aber es war nicht schlimm.«

 

»Hat er sich an beiden Händen verletzt?«

 

Sie antwortete nicht.

 

»Sicher haben Sie ihm beim Verbinden geholfen. Erzählen Sie doch, Mrs. Tilling. Haben Sie Verbandmull benutzt?«

 

»Nein, er machte es mit dem Taschentuch. Die Schnitte waren außerdem nicht tief.«

 

»Hatte es eine Schlägerei gegeben?«

 

Sie senkte den Blick.

 

»Ja, ich glaube«, entgegnete sie nach einer längeren Pause. »Er hat ja ständig Streit.«

 

»Hat er sich auch umgezogen, bevor er fortging?«

 

Sie sah ratlos von einer Seite zur anderen, wie jemand, der in die Enge getrieben wird.

 

»Ja, er hat sich umgezogen.«

 

»Wo sind die Kleider, die er abgelegt hat?«

 

Tanner hatte seine eigene Art, Menschen auszufragen. Er besaß eine gute Einfühlungsgabe, die ihn Schritt für Schritt vorwärtsbrachte. Jeden Fehler des anderen machte er sich zunutze, und auf diese Weise ergab sich zwanglos eine Frage aus der anderen. Aber es dauerte doch noch sehr lange, bis ihm Mrs. Tilling ihre Geschichte erzählte. Seine Mühe hatte sich jedoch gelohnt.

 

Kapitel 18

 

18

 

Etwa um halb zwei – die genaue Zeit konnte sie nicht angeben hörte sie, daß ihr Mann nach Hause kam. Sie war wach und lag nicht im Bett, wie sie zuerst gesagt hatte. Tanner vermutete, daß sie jemand erwartet hatte, denn sie gab zu, daß sie im dunklen Wohnzimmer saß. Die Vorhänge waren zurückgezogen; sie konnte von drinnen sehen, wie Tilling ankam, und ging ihm langsam entgegen.

 

Er sagte ihr nicht, was geschehen war, und erzählte nur, daß es eine kleine Schlägerei gegeben hätte. Sie fragte, ob er mit Dr. Amersham aneinandergeraten wäre, aber darauf ging er nicht ein und erklärte nur, daß er Dr. Amersham nicht getroffen hätte. Sein Rock war zerrissen, der Samtkragen hing herunter, und seine beiden Hände bluteten. Sie bestrich die Wunden mit Jod und verband sie mit einem seidenen Taschentuch. Dann zog er sich um. Als er um halb vier sein Rad nahm und davonfuhr, trug er einen gesprenkelten Anzug. Sie holte die Kleider, die er abgelegt hatte, aus dem Nebenraum. Tanner fand Blutspuren an dem Rock, die aber von den Verwundungen herrührten. Zwei Knöpfe waren abgerissen, ein dritter hing lose am Stoff.

 

»Hatte er auch Wunden im Gesicht?«

 

»Ja«, gab sie schließlich zu. »Aber es waren keine offenen Wunden. Jemand mußte ihn geschlagen haben. Er war sehr aufgeregt, gab mir aber keine weiteren Erklärungen und sagte nur, daß er Wilddiebe getroffen und auch sein Gewehr verloren hätte.«

 

Bill Tanner verglich ihren Bericht mit den Tatsachen, die ihm bekannt waren, und plötzlich kam ihm ein Gedanke.

 

»Hat er Ihnen Geld gegeben, bevor er fortging?«

 

Sie wollte zuerst nicht antworten, aber endlich zeigte sie ihm vier neue Fünfpfundnoten.

 

»Ich werde mir die Nummern der Scheine notieren.«

 

Als er das tat, sah er, daß die Nummern aufeinander folgten.

 

»Hatte er noch mehr Geld?«

 

»Ja, er hatte einen ganzen Stoß Banknoten, von denen er diese vier nahm. In vier bis fünf Wochen wollte er wiederkommen. Ich schwöre, daß er Amersham nicht ermordet hat. Er ist wohl manchmal in schlechter Stimmung, aber er bringt keinen Menschen um. Auch Studd hat er nichts getan. Ich habe ihn noch gefragt, bevor er fortging. Er regte sich furchtbar auf und schwor mir, er habe Studd in der Mordnacht gar nicht gesehen.«

 

»Wie viele Tabakspfeifen hat er?«

 

Sie sah ihn erstaunt an.

 

»Nur eine. Er benützt die Pfeifen immer so lange, bis sie vollkommen ausgebrannt sind, dann kauft er eine neue. Darin ist er sehr wählerisch und nimmt nur die besten.«

 

»Um halb vier ist er also gegangen – stimmt das?«

 

Sie meinte, es könnte auch etwas später gewesen sein.

 

Als Tanner das Haus verließ, gab er Totty seine Notiz über die Nummern der Geldscheine.

 

»Gehen Sie sofort zu der Bankfiliale im Ort und fragen Sie dort nach, ob sie in Marks Thornton ausgezahlt wurden. Nehmen Sie ein Polizeiauto und kommen Sie bald wieder, denn ich brauche Sie. Und telefonieren Sie mit Scotland Yard. Die Polizei soll sich mit der Presse in Verbindung setzen. In sämtlichen Zeitungen soll eine Rundfrage an alle Tabakhändler ergehen. Wer von ihnen heute morgen zwischen acht Uhr dreißig und zehn Uhr eine Pfeife Marke Ursus verkauft hat, möchte sich melden.«

 

»Glauben Sie, daß Tilling eine solche Pfeife gekauft hat?«

 

Tanner nickte.

 

»Ein Mann, der seine Lieblingspfeife verliert, kauft sich unweigerlich wieder dieselbe Sorte. Prüfen Sie alle Antworten, die eintreffen, und sagen Sie auch noch, daß der Tabakhändler eine Beschreibung des Käufers geben soll.«

 

Tanner wußte jetzt, warum Lady Lebanon die Züge aufgeschrieben hatte. Er eilte zum Haupthaus zurück und überholte dabei Ferraby und Isla, die sich inzwischen beruhigt hatte. Ferraby schien sie sehr freundlich und liebenswürdig zu behandeln.

 

»Sie sagt, daß sie nichts weiß«, erklärte der Sergeant, als Tanner ihn beiseite nahm. »Ich bin aber davon überzeugt, daß das nicht stimmt.« Er war bekümmert, denn er sorgte sich um Miss Crane. –

 

Als Lady Lebanon in die Halle trat, saß Isla auf der Couch und hatte den Kopf in die Hände gestützt.

 

»Isla!«

 

Das junge Mädchen sprang auf.

 

»Wollen Sie etwas von mir, Lady Lebanon?«

 

Hinter ihr lachte jemand, und als sie sich umdrehte, sah sie den jungen Lord auf der Treppe stehen.

 

»Das ist doch alles Unsinn! Warum nennst du meine Mutter immer Lady Lebanon? Warum seid ihr überhaupt alle so steif? Könnt ihr denn nicht freundlicher miteinander verkehren?«

 

Als ihn ein Blick seiner Mutter traf, verstummte er.

 

»Wo warst du, Willie?«

 

»Ich habe die Polizeibeamten bei der Arbeit beobachtet«, entgegnete er gleichgültig. »Niemand scheint sich um mich zu kümmern, und dabei würde ich doch einen guten Detektiv abgeben. Sie jagen alle so eifrig hinter Schatten her –«

 

»Du brauchst die Leute nicht bei der Arbeit zu stören«, erwiderte Lady Lebanon scharf.

 

Er drehte sich halb um, änderte dann aber seine Absicht und kam zurück.

 

»Wegen Amersham bin ich eigentlich nicht traurig«, erklärte er rundweg. »Ich sage es dir geradeheraus, obwohl ich weiß, daß du wieder etwas daran auszusetzen hast. Er war ein Mann, der eigentlich nicht hierhergehörte, und ich bin froh, daß ich ihn nicht mehr sehen muß.«

 

»Willie, du kannst jetzt gehen«, sagte Lady Lebanon eisig.

 

Aber er blieb doch.

 

»Die Beamten haben mich gefragt, ob ich etwas gehört hätte. Ich sagte ja. Natürlich habe ich nichts gehört, aber ich dachte, vielleicht interessieren sie sich dann für mich. Dieser Totty hat mit ein paar Fragen alles aus mir herausgeholt.«

 

»Willie, du bist unausstehlich. Ich würde mich freuen, wenn du jetzt gingst. Ich will mit Isla allein sprechen.«

 

Gegen diese direkte Aufforderung konnte er nichts machen. Er schlich sich also aus dem Zimmer. Aber man sah ihm an, daß er sich langweilte und unzufrieden war.

 

Lady Lebanon trat in den großen Bogen, in den der Korridor mündete, und horchte einen Augenblick am Fuß der Treppe.

 

»Was ist denn mit dir?« fragte sie Isla schnell. »Sage es mir doch, bevor dieser Beamte von Scotland Yard zurückkommt.«

 

Isla sah sie unsicher an.

 

»Ach, es ist nichts – was sollte denn mit mir sein?«

 

Sie erhob sich von der Couch und ging zu dem Schreibtisch, an den sich Lady Lebanon gesetzt hatte.

 

»Ich habe nur heute morgen eine Schublade in diesem Schreibtisch geöffnet und ein rotes Tuch mit einer kleinen Metallplatte darin gesehen.«

 

Lady Lebanons Züge wurden hart.

 

»Das Tuch dürfte doch nicht in der Schublade sein! Es war gedankenlos, daß Sie es dort aufbewahrten.«

 

»Warum hast du überhaupt die Schublade aufgezogen?«

 

»Ich wollte das Scheckbuch herausnehmen«, entgegnete Isla ungeduldig. »Aber warum liegt das Seidentuch in dem Schreibtisch?«

 

Lady Lebanon verzog den Mund.

 

»Liebes Kind, du träumst. In welcher Schublade soll es denn sein?«

 

Als Isla auf ein Fach zeigte, holte Lady Lebanon den Schlüssel heraus und schloß auf.

 

»Hier ist nichts, Isla. Du mußt dich nicht derartig unterkriegen lassen. Es steht wirklich schlimm mit deinen Nerven.«

 

»Wie können Sie nur so leichtfertig sprechen! Ein Mann ist ermordet worden«, sagte Isla mit zitternder Stimme. »Ich haßte ihn, er war immer so gemein zu mir –«

 

Lady Lebanon erhob sich.

 

»Was soll das heißen? Hat er versucht, sich dir zu nähern?«

 

Isla machte eine verzweifelte Handbewegung, ging zur Couch zurück und setzte sich wieder.

 

»Ich kann nicht länger im Schloß bleiben …«

 

Lady Lebanon lächelte.

 

»Du bist nun schon so lange hier.«

 

Sie suchte nach einem Brief auf dem Schreibtisch.

 

»Ich habe deiner Mutter am Montag die vierteljährliche Rente geschickt, und sie hat mir heute morgen mit einem entzückenden Brief geantwortet. Die beiden Mädchen sind so glücklich in der Schule. Sie schreibt, es sei wunderbar, keine Sorgen mehr zu haben.«

 

Dieser Wink war deutlich genug. Isla hatte Lady Lebanon früher bemitleidet, aber jetzt haßte sie diese Frau. Es war gemein, sie daran zu erinnern. Außerdem lag eine Drohung in den Worten. Die Unterstützung für ihre Mutter und ihre Schwestern würde sofort aufhören, wenn Isla nicht mehr tat, was Lady Lebanon von ihr verlangte.

 

»Sie wissen genau, daß ich keinen Tag länger bliebe, wenn es nicht wegen meiner Mutter und meiner Schwestern wäre«, sagte Isla atemlos. »Sie ahnt ja nicht, wie schwer es mir fällt – sonst würde sie lieber hungern.«

 

Lady Lebanon lauschte, denn sie hörte Tanners Stimme.

 

»Um Himmels willen, keine Tränen! Ich will doch nur dein Bestes.« Lady Lebanon sprach jedes Wort langsam und mit besonderer Betonung. »Wenn du erst einmal Lady Lebanon bist, wirst du sehen, daß ich sehr großzügig sein kann, was dein Eheleben anbetrifft. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

 

Isla sah sie verwundert an. Nicht zum erstenmal hörte sie solche Andeutungen. Was meinte die Frau nur damit?

 

»Ich sah dich draußen mit dem jungen Polizeibeamten. Hoffentlich warst du bei ihm etwas gefaßter als hier.«

 

»Er ist sehr zuvorkommend und liebenswürdig«, entgegnete Isla müde. »Wirklich viel besser, als ich –«

 

»Viel besser, als du es verdienst. Isla, sei doch vernünftig. Ich bin sicher, daß er sich sehr gut benehmen kann. Sein Auftreten ist einwandfrei, er muß eine gute Schule besucht haben.«

 

Isla nannte die Schule, und Lady Lebanon war überrascht.

 

»Wirklich, dort ist er gewesen? Es ist zwar nicht gerade Eton, aber doch auch sehr gut. Wie ist es nur möglich, daß er bei der Polizei dient? – Wie heißt er eigentlich?«

 

Isla war nicht in der Stimmung, mit Lady Lebanon über den jungen Detektiv zu sprechen, aber er beschäftigte sie doch mehr, als sie zugeben wollte.

 

»John Ferraby«, erwiderte sie.

 

Lady Lebanons Interesse wurde noch größer.

 

»Ferraby – ist er einer der Ferrabys in Somerset? Dann gehört er ja zur Familie von Lord Lesserfield, der die Leoparden im Wappen führt.«

 

»Ja, ich glaube. In Somerset ist er zu Hause.«

 

Lady Lebanon betrachtete Isla mit einem merkwürdigen Lächeln.

 

»Es liegt kein Grund vor, warum du nicht mit ihm bekannt sein solltest, nur darfst du nicht mit ihm, über Amersham sprechen. Hat er dir übrigens schon eine Liebeserklärung gemacht?«

 

Isla wandte sich ungeduldig um.

 

»Amersham ist doch tot!«

 

»Wenn dich der junge Ferraby fragen sollte –«

 

»Er hat mich überhaupt nicht mit Fragen belästigt. Wir sprachen nur über gemeinsame Bekannte. Mr. Tanner wird mich eher ausfragen. Was soll ich dem sagen?«

 

»Nur das, was unbedingt nötig ist.«

 

In diesem Augenblick kam Ferraby herein.

 

»Ach, verzeihen Sie, Mr. Tanner wollte Sie sprechen. Ich werde ihm sagen, daß Sie hier sind.«

 

»Bleiben Sie hier, Mr. Ferraby«, entgegnete Lady Lebanon. »Ich werde Mr. Tanner rufen.«

 

Sie schob die Briefe zusammen und schloß sie in eine Schublade.

 

»Meine Nichte erzählte mir eben, daß Sie mit den Lesserfields verwandt sind.«

 

Ferraby wurde etwas verlegen.

 

»Ja – in gewisser Weise, aber doch nur sehr entfernt. Darum kümmert man sich heute nicht mehr.«

 

»Sie sollten sich aber doch darum kümmern«, erklärte Lady Lebanon energisch. »Es ist etwas Großes, Mitglied einer alten Familie zu sein. Wo ist Mr. Tanner?«

 

»Ich habe ihn eben in Mr. Kelvers Zimmer gesehen. Er telefonierte dort nach London.«

 

Sie lächelte ihm freundlich zu.

 

»Ich werde ihn holen, selbst wenn er sich im Zimmer meines Butlers aufhält.«

 

»Lieber Himmel«, sagte er halb zu sich selbst, als sie gegangen war, »die Frau gehört mit ihren Ansichten ja noch ins Mittelalter!«

 

»Aber sie lebt in der Jetztzeit«, antwortete Isla bitter.

 

»Wie merkwürdig!« Ferraby schüttelte den Kopf. »Daß ich zur Familie des Lords Lesserfield gehöre, hat großen Eindruck auf sie gemacht. Natürlich kenne ich ihn, er ist ein unintelligenter Mensch und hat Geld noch nötiger als ich.«

 

Es trat eine Pause ein. Isla schaute auf und bemerkte, daß er sie betrachtete.

 

»Darf ich Sie etwas fragen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Warum sind Sie so nervös?«

 

Isla versuchte, ihm auszuweichen.

 

»Ich habe Lady Lebanon eben gesagt, daß Sie mich nicht ausfragen.«

 

»Und nun habe ich es doch getan. Aber es geschieht nur um Ihretwillen. Warum sind Sie so unruhig?«

 

»Bin ich das wirklich?« fragte sie unschuldig.

 

»Ja, dauernd sehen Sie sich um, als ob Sie sich vor jemand fürchteten oder als ob jemand aus einer Geheimtür treten könnte. Ich bin davon überzeugt, daß es in einem so alten Haus geheime Türen und Gänge gibt – aber wovor haben Sie eigentlich Angst?«

 

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Vor der Polizei!«

 

»Das glaube ich nicht.«

 

»Sie müssen doch wissen, was vorige Nacht passierte – davor fürchte ich mich!«

 

Er war mit ihrer Antwort noch nicht zufrieden.

 

»Sie sind aber schon lange Zeit in dieser Gemütsverfassung.«

 

»Woher wissen Sie das?« fragte sie schnell.

 

Er vergaß plötzlich, daß er Polizeibeamter war.

 

»Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen helfen …!«

 

Sie sah zu ihm auf, und es lag Argwohn in ihrem Blick.

 

»Sie wollen, daß ich mich Ihnen anvertraue – wünschen Sie das in Ihrer Eigenschaft als Beamter?«

 

Er hätte mit Ja antworten müssen, denn es war seine Pflicht, alle ihre Geheimnisse zu erforschen, aber er konnte es nicht übers Herz bringen.

 

»Ich habe mir eigentlich unter einem Polizeibeamten etwas anderes vorgestellt«, sagte sie unerwartet.

 

»Das kann eine große Beleidigung, aber auch ein Kompliment sein. Sie haben doch keine Angst vor mir? Das ist unmöglich!«

 

»Warum?«

 

Auf diese Frage wußte er keine Antwort.

 

»Sie irren sich, ich fürchte mich vor nichts.« Sie sah sich schnell nach der Treppe um. »Dort drüben ist jemand«, fuhr sie leise fort. »Man belauscht uns.«

 

Er eilte sofort hin und schaute hinauf, konnte aber niemand sehen. Als er zurückkam, war er sehr nachdenklich geworden.

 

»Sind denn alle Leute hier im Schloß so ängstlich und fürchten immer, daß sie belauscht werden? Als Lord Lebanon heute morgen nach Scotland Yard kam, hatte er dieselbe Sorge. Es muß doch etwas in diesem Haus vorgehen, unter dem Sie alle leiden. Was ist das nur? Worin besteht das Geheimnis von Marks Priory?«

 

Sie lächelte gezwungen.

 

»Das klingt fast wie der Titel eines Sensationsromans, in dem Mr. Tanner die Hauptrolle spielt. Ist er eigentlich sehr klug?«

 

»Ja, er ist der bedeutendste Mann in Scotland Yard. Er hat eine Begabung dafür, die Wahrheit herauszubringen.«

 

»Wen hat er denn jetzt im Verdacht?«

 

Ferraby mußte lachen.

 

»Solange der Fall nicht geklärt ist, sind alle möglichen Leute verdächtig.«

 

Zu seinem Erstaunen trat sie plötzlich dicht zu ihm und faßte ängstlich an den Aufschlag seines Rocks. Sie war aufgeregt; er fühlte, daß sie zitterte.

 

»Ich möchte Sie etwas fragen – nehmen wir einmal an, jemand wüßte, wer die schrecklichen Morde begangen hat … Wenn er es nun nicht der Polizei sagte, wenn er es für sich behielte … wäre das ein Vergehen?«

 

»Ja, nach englischem Gesetz kann der Betreffende wegen Mittäterschaft angeklagt werden.«

 

Es tat ihm leid, daß er das gesagt hatte, als er sah, welchen Eindruck seine Worte auf sie machten.

 

»Wer etwas über ein Verbrechen weiß, muß es bekanntgeben. Vielleicht fällt es Ihnen leichter, wenn Sie es mir mitteilen?«

 

Aber im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder gefaßt.

 

»Ich weiß nicht, wie ich darauf kam. Warum sollte ich etwas über die Morde wissen? Sie meinen, weil ich so nervös bin? Sie sind natürlich an dergleichen gewöhnt, Ihnen fällt es nicht auf die Nerven, weil Sie nur mit solchen Dingen zu tun haben.«

 

»Aber dieser Fall hat eine sehr große Bedeutung für mich«, entgegnete er ruhig.

 

»Sie behandeln diese Angelegenheit doch sicher rein geschäftsmäßig. Für Sie ist das eben Fall Nr. 6 oder 7.«

 

Sie machte den Versuch, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen, aber er ließ sich nicht ablenken.

 

»Nein, für mich ist dies der Fall der verängstigten Frau.«

 

»Meinen Sie mich damit?« fragte sie und hielt den Atem an.

 

»Ja, ich meine Sie.«

 

Plötzlich hob er den Kopf und zog die Luft ein, dann betrachtete er den Boden unter dem Schreibtisch und dem Sofa.

 

»Hier ist etwas verbrannt – können Sie es nicht riechen? Vielleicht hat jemand eine Zigarette auf den Teppich fallen lassen.«

 

»Hoffentlich nicht. Wenn Lady Lebanon das erfährt, gibt es Unannehmlichkeiten«, erwiderte Isla.

 

Dann fiel ihr Blick auf den Ofen. Sie ging hinüber und hob den Deckel auf. Lady Lebanon hatte nicht, wie sie glaubte, die Lüftungsklappe geöffnet, sondern das Feuer abgedrosselt. Infolgedessen waren die Kohlen nicht durchgebrannt, und es roch im Zimmer nach Kohlengas.

 

»Jemand hat hier Stoff verbrannt«, sagte Ferraby und schaute in die Öffnung des Ofens. »Ja, das war ein Stück Stoff, ich kann es noch deutlich erkennen.«

 

Sie schloß den Ofen und ging zur Treppe, während sie die Lippen aufeinanderpreßte.

 

Totty kam gerade in die Halle, und auch ihm fiel der Geruch auf.

 

»Kommen Sie her und sehen Sie sich das an«, sagte Ferraby.

 

Totty trat an den Ofen. »Sieht wie ein Stück Stoff aus, das verbrannt ist.«

 

Als Ferraby mit dem Schüreisen hineinfahren wollte, hielt Totty ihn zurück.

 

»Lassen Sie das«, sagte er aufgeregt. »Sehen Sie nicht das Stück Metall, das in der Ecke eingenäht war? Es ist eine kleine Zinnplatte. Jetzt ist sie geschmolzen, aber Sie können das Metall noch auf der Kohle erkennen. Wo ist Chefinspektor Tanner?«

 

Er sah zu Isla hinüber. Sie wußte nur zu gut, was dieser Brandgeruch bedeutete. Im Ofen war also das rote Tuch verschwunden, das sie am Morgen noch in der Schublade gesehen hatte. Lady Lebanon mußte es bis zum letzten Augenblick vergessen haben; erst als die Polizei schon im Haus war, hatte sie daran gedacht, das verdächtige Tuch zu entfernen.

 

»Mr. Tanner ist im Zimmer Mr. Kelvers«, sagte sie endlich, drehte sich um und eilte die Treppe hinauf.