Kapitel 1

 

1

 

»Gewehr ab!«

 

Einunddreißig Gewehre bewegten sich mit einem Schlag – einunddreißig weiße Hände flogen wie ein Blitz an einunddreißig Hosennähte, als ob sie gleichmäßig von einer unsichtbaren Maschine bewegt würden. Wie aus Erz gegossen stand die Linie feuerroter Uniformen, die großen Tschakos aus Bärenfell waren tadellos ausgerichtet. Die Marschmusik brach dröhnend und donnernd ab, als die letzten vier Mann der alten Wache um die Ecke des Weißen Turmes schwenkten und verschwanden.

 

»Wegtreten!«

 

Bobby Longfellow steckte die blanke Säbelklinge in die Scheide, klemmte das Monokel fester und schaute auf die kleine Kirche St. Peter ad Vincula, die im lichten Schein eines Sommermorgens vor ihm lag. Er bemerkte eine kleine, dicke Dame, die mit einem Führer in der Hand auf ihn zukam. Sein Sergeant, der in straffer Haltung neben ihm stand, beobachtete den Vorgang. Ein leises Lächeln huschte unbemerkt über sein dunkelbraunes Gesicht.

 

»Entschuldigen Sie, Sir!«

 

Bobby maß mehr als 1,83 Meter. Die Stimme drang von unten zu ihm herauf, und er blickte hinab. Die füllige Dame trug einen kleinen, altmodischen Hut und einen mit Perlen verzierten Umhang. An ihrem Ausschnitt prangte eine große Kameenbrosche. Ihr Gesicht war von der Hitze gerötet. Sie hatte intelligente Züge. Bobby betrachtete ihr dreifaches Kinn und die große, männliche Nase.

 

»Es tut mir leid – hm …«

 

»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo das Grab der Lady Jane Grey liegt?«

 

Sie sprach mit tiefer Baßstimme. Er blinzelte sie an, als ob er plötzlich aus dem Dunkeln in helles Licht gekommen wäre.

 

»Lady –?«

 

»Lady Jane Grey, Sir.«

 

Er schaute hilflos nach seinem Sergeanten hinüber, und seine weißbehandschuhten Hände spielten nervös mit dem kleinen Schnurrbart.

 

»Haben Sie sich schon auf dem Kirchhof umgeschaut?« fragte er und hoffte, sie damit loszuwerden.

 

»Auf welchem Kirchhof, Sir?«

 

Bobby sandte wieder einen Blick zu seinem Sergeanten, aber der blieb stumm.

 

»Nun – hm – auf irgendeinem Kirchhof! Kennen Sie diese tote Lady, Sergeant?«

 

»Ich habe sie bis jetzt noch nicht gesehen.«

 

Bobby räusperte sich, um den Irrtum des Sergeanten zu korrigieren.

 

»Lady – wie hieß doch der Name gleich? Grey?«

 

Die starke Dame kam ihm zu Hilfe.

 

»Ihr Grab liegt in der Nähe des Tower«, sagte sie leise.

 

Bobby zeigte mit der Rechten auf die Gebäude.

 

»Dies alles ist Tower – das stimmt doch, Sergeant?« fragte er etwas verärgert.

 

Der Sergeant bejahte.

 

»Sie fragen besser einen Beefeater, einen Aufseher, Madam.«

 

Er wollte sich gegen die Beleidigung verwahren, daß man einen Gardeoffizier in voller Galauniform mit einem Fremdenführer verwechselte. Das war ihm bisher noch nicht vorgekommen. Er war zum erstenmal wachhabender Offizier im Tower, und das war gar nicht so sehr nach seinem Geschmack. Er verfluchte die Gluthitze des heutigen Tages und war keineswegs mit dem enganliegenden feuerroten Waffenrock und dem hohen Bärenfelltschako, unter dem man so schwitzte, einverstanden. Ganz offen gesagt, hätte Leutnant Robert Longfellow im Augenblick alles andere lieber sein mögen als ein Subalternoffizier von Seiner Majestät Berwick-Garde.

 

Die starke Dame zog wieder ihren Führer zu Rate. »Wo werden die Kronjuwelen aufbewahrt?«

 

»Im Geldschrank, Madam!« sagte Bobby prompt.

 

Glücklicherweise kam gerade ein berufsmäßiger Fremdenführer dazu und brachte die Besucherin zu seiner großen Erleichterung zu dem Wakefield Tower.

 

»Wie ekelhaft solche Ausfragerei ist!« sagte Bobby. »Was, zum Henker, sollte ich ihr denn sagen, Sergeant?«

 

»Nichts«, sagte der Mann. Bobby grinste und ging in die Wachstube und dann nach seiner Privatwohnung.

 

Mrs. Ollorby aber sah sich weiter die Sehenswürdigkeiten des Tower an. In Wirklichkeit hatte sie weder an den Kronjuwelen noch an der unglücklichen Jane Interesse, die nur einige Meter von der Stelle entfernt, wo Mrs. Ollorby ihre unangebrachten Fragen gestellt hatte, enthauptet worden war.

 

Eine andere Besucherin aber nahm an demselben Morgen großen Anteil an dem tragischen Geschick Janes. Hope Joyner stand vor dem kleinen, viereckigen Stein, der durch eine Eisenkette gesichert wird, damit er nicht von Menschenschritten entweiht wird. Sie schaute auf die einfache Inschrift. Dann schweifte ihr Blick zu der kleinen Kirche, wo die sterblichen Reste der unglücklichen jungen Frau zur letzten Ruhe gebettet waren.

 

»Arme – arme Jane!« sagte sie mit weicher Stimme. Ihr Begleiter Richard Hallowell fand nicht den Mut, darüber zu lächeln.

 

Hier beklagte Jugend das Dahinscheiden der Jugend. Ein junges Mädchen beugte sich mitleidig über die Stelle, wo damals Janes langes Haar über ihr Haupt geschlungen wurde, damit das Henkerbeil ungehindert seine grauenvolle Arbeit verrichten konnte. Er konnte ihr vollendet schönes Profil sehen. In dieser trauernd geneigten Haltung sah ihre Gestalt noch viel graziöser aus als sonst. Ihre zarte, reine Gesichtsfarbe hob sich wundervoll von dem grauen Hintergrund des alten Mauerwerks ab. Die Tragödie des ehrgeizigen Somerset wirkte durch die Anwesenheit dieses schönen jungen Mädchens nur noch bitterer und schmerzlicher.

 

»War es nicht schrecklich? Sie wohnte in King’s House … Von dem Fenster aus sah sie, wie man ihren toten Gatten forttrug …«

 

»Hope, Sie machen den lachenden Morgen durch solche Betrachtungen todtraurig!«

 

Sie lächelte ihn schnell an und legte ihre Hand auf seinen Arm.

 

»Ja – es ist nicht richtig von mir, Dick! Ich will es lassen. Ist der prächtige Offizier dort nicht Bobby?«

 

Die lange, schlanke Gestalt des wachhabenden Offiziers erschien unter der Veranda des Wachthauses.

 

»Ja, das ist Bobby. Gestern abend kam er vom Urlaub zurück, und heute macht er seine erste Wache.« Dick lachte leise. »Er ist ein geborener Müßiggänger – ein klein wenig Tätigkeit befriedigt ihn vollkommen.«

 

»Das ist das erstemal, daß Sie heute gelacht haben«, hielt sie ihm vor. Er hätte ihr gern gesagt, daß er an diesem Morgen wenig Grund zum Fröhlichsein hatte, aber er schwieg.

 

Dick Hallowell sah in der schwarzen, tadellos sitzenden Offiziersuniform mit der feuerroten Binde sehr gut aus. Er war einen Kopf größer als Hope. Seine grauen Augen blickten kühn und klar in die Welt. In seinem Gang lag die Geschmeidigkeit und Biegsamkeit des trainierten Sportlers.

 

»Nun habe ich Ihnen alles gezeigt«, sagte er. »Ich hoffte, es würde den ganzen Tag dauern.«

 

Sie lachte leise.

 

»Das ist nicht wahr! Sie sind ganz unruhig geworden und möchten mich gern los sein, seitdem Ihr Bursche kam. Wartet jemand auf Sie?« Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: »Ich bin eine geborene Hellseherin – und außerdem kenne ich den Tower schon sehr gut. Aber ich wollte zu gerne einmal sehen, wie Sie eigentlich in Uniform aussehen!«

 

Als sie sprach, kam ihr mit Bedauern zum Bewußtsein, daß sie sich erst kurze Zeit kannten. Vor nicht ganz einem Monat waren sie einander begegnet. Sie hatte eine Bootsstange im schäumenden Kielwasser eines Dampfers auf der Themse verloren und sich mit ihrem Boot im Weidengestrüpp verstrickt. Er ruderte herbei, um sie zu befreien, und war sehr ausgelassen. – Jetzt gingen sie dem Löwentor zu. Unter einem Torbogen machten sie halt und schauten zusammen auf die düstere Holzschranke, hinter der der Fluß lag.

 

»Das Verrätertor!«

 

Sie schauderte, wußte aber nicht, warum.

 

»Ja – das Verrätertor«, nickte er, »ein altehrwürdiges Tor heutzutage. Man denkt kaum noch daran, daß Königinnen und Hofleute diese Stufen betraten.«

 

Sie lachte wieder, dann gingen sie weiter. Die Schildwachen salutierten. Jetzt erreichten sie die geschäftige Welt von Tower Hill. Schwere, mit Kisten hochbeladene Lastwagen ratterten an ihnen vorbei. Vom nahen Billingsgate zog Fischgeruch herüber.

 

Hopes schönes Auto hielt am Straßenrand. Dick öffnete den Schlag.

 

»Wann werde ich Sie wiedersehen?«

 

Sie lächelte bei seiner Frage.

 

»Wann Sie wollen. Mein Name steht im Telefonbuch.«

 

»Was unternehmen Sie jetzt?«

 

Sie machte kein frohes Gesicht.

 

»Ich habe eine unangenehme Unterredung vor mir«, sagte sie.

 

Er schaute sie groß an, denn auch ihm stand ähnliches bevor, aber er sagte ihr nichts davon.

 

Er sah ihrem Wagen nach, bis er außer Sicht war. Dann ging er den Hügel hinunter, über die Brücke, die den alten Festungsgraben überspannt. Er lächelte nicht mehr, und nicht einmal der stumme, aber beredte Gruß, den Bobby ihm zunickte, als er durch die Wachstube ging, konnte die bösen Wolken von seiner Stirn verscheuchen.

 

*

 

Am Eingang seiner Wohnung wartete Brill, sein Bursche, und meldete einen Besucher.

 

»Der Herr bat mich, Sie zu suchen. Er hätte eine Verabredung mit Ihnen.«

 

Dick Hallowell nickte langsam.

 

»Ich brauche Sie in der nächsten Viertelstunde nicht, Brill«, sagte er. »Sie bleiben an der Tür, und wenn jemand kommt, sagen Sie, daß ich sehr beschäftigt sei.«

 

»Jawohl, Sir Richard.«

 

»Und Brill – hat der, hm, Herr etwas gesagt – ich meine, über sich selbst?«

 

Brill zögerte.

 

»Nein, Sir. Er schien übler Laune zu sein und sagte, daß Sie sehr froh sein müßten, eine derartige Wohnung zu haben –«

 

Wieder zögerte er.

 

»Hat er sonst noch etwas gesagt?«

 

»Nein, das ist alles … Er lachte so höhnisch. Sonst ist nicht viel los mit ihm, soweit ich sehen kann.«

 

»Ja, Sie haben recht – nichts.«

 

Dick ging die Steintreppe hinauf und machte vor einer Tür halt. Mit düsterem Gesicht stieß er sie auf und ging hinein. Am Fenster des vornehm ausgestatteten Wohnzimmers stand ein Mann und schaute hinaus. Er schien das Exerzieren der Soldaten im Hof zu beobachten. Als er sich jetzt zu Dick umwandte, sah man ein hageres und unzufriedenes Gesicht. Er trug schäbige Kleidung, und seine Absätze waren abgetreten. Trotzdem glich er in seinen Zügen und in seiner Haltung auffällig dem schweigenden Offizier, der ihn aufmerksam betrachtete.

 

»Hallo!«

 

Er ging Dick einige Schritte entgegen und sah ihn forschend an. Sein Betragen war weder freundlich noch beleidigend.

 

»Hallo – Bruder!«

 

Dick sagte nichts. Als sie einander gegenüberstanden, konnte man die Familienähnlichkeit noch deutlicher sehen, und doch waren beide verschieden. Wenn Graham Hallowell nicht so rauh gesprochen hätte, wäre seine Stimme der seines Bruders vollkommen gleich gewesen. Aber er hatte die liebenswürdigen Umgangsformen von früher abgestreift und hatte vergessen, daß er einst die Ruderboote einer berühmten Schule geführt und der Stolz und die Zierde der Universität gewesen war.

 

Jetzt wußte er nur, daß er ein vom Schicksal hart mitgenommener Mann war, der niemals eine Chance gehabt hatte. Er war so verbittert, daß er sich nur noch an die Not und die bösen Erfahrungen seines Lebens erinnerte.

 

»Deine Begrüßung ist genauso begeistert wie immer«, sagte er höhnisch, »und ich will wetten, daß du mich nicht zum Essen in die Offiziersmesse einlädst! ›Hier ist mein Bruder – Graham Hallowell, der gestern von Dartmoor entlassen wurde und der Ihnen interessante Geschichten aus dieser Hölle erzählen kann!‹«

 

Seine Stimme wurde immer lauter, bis er schließlich schrie. Dick merkte, daß er getrunken hatte und in seiner bösartigsten Stimmung war. »Auch dein verdammter Bursche behandelt mich, als ob ich ein Aussätziger wäre –«

 

»Das bist du auch«, sagte Dick mit leiser, aber klarer Stimme. »Ein Aussätziger – das ist die richtige Bezeichnung für dich, Graham! An dir ist etwas Verfaultes, dem Leute, die noch Selbstachtung haben, aus dem Wege gehen. – Und schrei nicht so, wenn du mit mir sprichst, sonst packe ich dich am Kragen und werfe dich die Treppe hinunter. Hast du mich verstanden?«

 

Der andere ließ sich durch diese Drohung einschüchtern und wurde aus einem prahlenden Raufbold zu einem jammernden Bettler.

 

»Kümmere dich nicht um mich, Dick – ich habe heute morgen schon zehn Glas getrunken –, alter Junge, stell dir doch vor, wie dir zumute wäre, wenn du gestern aus dem Gefängnis entlassen worden wärest! Versetze dich einmal in meine Lage!«

 

Dick unterbrach ihn.

 

»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich fürs Gefängnis reif wäre«, sagte er kühl. »Solche Einbildungskraft besitze ich nicht. Es ist mir einfach unmöglich, mich an deine Stelle zu denken, als du einen jungen, unerfahrenen Gardeoffizier betäubtest und beraubtest. Der Mann schenkte dir sein Vertrauen, weil du mein Halbbruder bist. Noch unmöglicher erscheint es mir, mit der Frau eines angesehenen Mannes durchzubrennen und sie nachher in Wien in Hunger, Elend und Schande sitzenzulassen. – Und noch so vieles andere, dessen ich nicht fähig wäre. Aber ich will lieber nichts mehr davon erwähnen. Wenn ich mich an deine Stelle setzen und begreifen könnte, wie ein Mann so niederträchtig sein kann wie du – ja, dann würde ich deine augenblicklichen Gefühle vielleicht eher teilen können. – Was willst du von mir?«

 

Grahams unruhiger Blick irrte zum Fenster.

 

»Mein Leben ist verpfuscht«, sagte er verdrießlich. »Ich dachte daran, nach Amerika zu gehen –«

 

»Hat die amerikanische Polizei entdeckt, daß man in Amerika dringend Gesindel braucht, weil du ausgerechnet dorthin gehen willst?«

 

»Du bist hartherzig wie die Hölle, Dick.«

 

Dick Hallowell lachte – aber es war kein frohes Lachen.

 

»Wieviel willst du haben?«

 

»Den Fahrpreis nach New York –«

 

»Du wirst mit deinen Personalakten nicht in die Vereinigten Staaten kommen, das weißt du doch ganz genau.«

 

»Ich könnte ja einen anderen Namen annehmen –«

 

»Du wirst nicht fahren – du hast ja auch gar nicht die Absicht, das zu tun.« Dick setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete eine Schublade, nahm ein Scheckbuch heraus und schrieb.

 

»Ich habe dir einen Scheck über fünfzig Pfund ausgeschrieben, und ich habe ihn so ausgefüllt, daß du ihn unmöglich auf fünfhundert umändern kannst, wie du es mit meinem letzten Scheck getan hast. Außerdem werde ich diesmal meine Bank telefonisch von der Höhe der Summe verständigen.« Er riß das Blatt aus dem Heft und gab es seinem düster dreinschauenden Bruder.

 

»Das ist das letzte, was du von mir bekommst. Wenn du dir einbildest, daß du mich zwingen kannst, dir Geld zu geben, weil du hierher kommst, dann hast du etwas anderes zu erwarten. Der Oberst und meine Kameraden wissen alles von dir. Der Offizier, den du damals beschwindelt hast, ist gerade auf Wache. Wenn du mir irgendwie Schwierigkeiten machst, lasse ich dich einsperren. Verstanden?«

 

Graham Hallowell steckte den Scheck in die Tasche.

 

»Du bist zu hart«, jammerte er. »Wenn Vater das wüßte –«

 

»Gott sei Dank ist er tot!« sagte Dick düster. »Aber er wußte genug von dir und starb an gebrochenem Herzen. Das trage ich dir nach, Graham.«

 

Graham atmete schwer. Nur die Furcht hielt seine Wut in Schranken. Er haßte seinen Halbbruder. Er hätte ihn beleidigen, demütigen, peinigen können, aber es fehlte ihm der Mut dazu.

 

»Durch das Fenster sah ich, wie du mit einem schönen Mädchen sprachst.« – »Sei ruhig!« fuhr Dick auf. »Ich vertrage es nicht, dich über eine Frau reden zu hören!«

 

»Sieh mal an!« Graham verfiel wieder in seine frühere Unverschämtheit. »Ich wollte dich nur fragen – weiß Diana –?«

 

Dick ging zur Tür und riß sie weit auf.

 

»Mach, daß du hinauskommst!« sagte er kurz.

 

»Diana –«

 

»Diana bedeutet mir nichts mehr. Erinnere dich gefälligst daran. Ich liebe auch ihre Freunde nicht.«

 

»Meinst du mich damit?«

 

Dick nickte.

 

Graham zuckte die Achseln und entfernte sich hochmütig.

 

»Dieser Platz hier ist wie ein Gefängnis – aber ich werde schon meinen Weg hinausfinden.«

 

»Der beste Ausweg für dich ist, wenn du wieder hinter Schloß und Riegel sitzt.« Richard Hallowell lachte grimmig.

 

»Was ist das?« fragte Graham unten.

 

»Das Verrätertor«, sagte Dick und warf den schweren Flügel hinter ihm zu.

 

Kapitel 10

 

10

 

Er kehrte nach Greenwich zurück und fand dort seinen Wagen. Anstatt nach Cobham zu fahren, eilte er in eine Telefonzelle und wählte die Nummer des Mousetrap-Klubs. Mr. Trayne war anscheinend im Haus, denn nach auffällig kurzer Zeit war er am Apparat.

 

»Ich habe einen Freund von Ihnen getroffen«, sagte Graham vorsichtig. »Erinnern Sie sich an die Frau, die wir sahen, als wir aus dem Fenster schauten?«

 

»Mrs. O.?« war die schnelle Antwort. Als Graham dies bestätigte, fragte er: »Wo war sie?«

 

»In Canning Town. Ich glaube, sie war mir auf der Spur.«

 

Erst nach einiger Zeit sprach Trayne wieder.

 

»Kommen Sie nach dem Westen. Warten Sie in der Wardour Street auf mich. Ihr Wagen ist doch geschlossen, nicht wahr? Gut! Ich werde in zwanzig Minuten dort sein.«

 

Graham setzte seinen Weg fort. An einer einsamen Stelle der Wardour Street überholte er Trayne und fuhr so langsam, daß dieser aufspringen konnte.

 

»Regent’s Park – Außenring«, gab Trayne an und sprach nicht, ehe sie in dieser einsamen Gegend ankamen.

 

»Nun erzählen Sie mir.«

 

»Es ist nicht viel zu sagen.« Graham lachte rauh. »Ich sah sie erst, als ich auf den Autobus wartete, aber ich bin überzeugt, daß sie mich schon den ganzen Abend beobachtet hat.«

 

Wieder ein langes, nachdenkliches Schweigen.

 

»Ich bin neugierig, was sie weiß«, murmelte Trayne. »In dem Gasthaus haben Sie sie nicht gesehen?«

 

Graham schüttelte den Kopf.

 

»Ich hätte sie sofort erkannt«, sagte er. »Nein, ich glaube, sie hat mich erst gesehen, wie ich den Kapitän verließ – ich möchte darauf schwören, daß niemand in der Straße war, als ich mit Eli Boß dort ging.«

 

»Hm!« Trayne war nicht davon überzeugt. »Diese dicke Frau ist wundervoll«, sagte er mit zögernder Bewunderung. »Ich möchte beinahe wetten, daß sie Sie von dem Augenblick an unter Aufsicht hatte, als Sie Cobham verließen. Was halten Sie von Eli?« fragte er plötzlich.

 

»Dem Kapitän? Er ist kein besonders angenehmer Zeitgenosse.«

 

»Nur seine Nützlichkeit ist hier wichtig«, sagte Trayne. »Er würde, wenn es sein müßte, seinen eigenen Sohn verschachern. Er hat schon für mich gearbeitet, aber nicht in dieser Weise. Vor einem muß ich Sie warnen: er darf nicht wissen, was Sie nach Indien bringen, oder der Artikel wird niemals dort landen. Solange er glaubt, es sei Kokain, ist keine Gefahr vorhanden.«

 

»Hat er Aussicht, es zu erfahren?«

 

»Nein, wenn nicht das Schiff im Kanal angehalten wird. Er gibt an, daß er eine Ladung Radiomaterial führt, aber ich glaube, das ist nur Vorspiegelung, um die Nachforschungen des Handelsamtes zu befriedigen – er war vorher von einer englischen Firma gechartert. Wenn Sie Ihre Koffer hinschicken, wird es gut sein, daß Sie ein paar Pistolen und ein paar hundert Patronen einpacken – Sie können sie vielleicht brauchen.«

 

»Weiß der Kapitän, daß Sie Ihre Hand im Spiel haben?« fragte Graham neugierig. Zu seinem größten Erstaunen erhielt er von dem anderen ein entschiedenes Nein zur Antwort.

 

»Er denkt, daß er es einem meiner Freunde zu Gefallen tut. Eli Boß tut alles nur aus Gefallen. Es ist seine Anschauung, daß er anderen Leuten immer nur eine Gnade erweist. Er ist ein roher, leidenschaftlicher Mensch, aber die Leidenschaft, die ihn beherrscht, wird Sie nicht besonders stören.«

 

»Was ist es denn?«

 

»Frauen«, war die lakonische Erwiderung. »Er war deswegen schon dreimal vor dem Richter, und beinahe hätte er einmal eine lange Freiheitsstrafe wegen eines Mädchens in Turo bekommen. Sie werden es kaum für möglich halten, aber Eli bildet sich ein, daß er ein schöner Mann ist. Das grenzt beinahe an Verrücktheit. Seine beiden Söhne sind so schlecht und unvernünftig, daß sie den alten Teufel noch in seiner Eitelkeit bestärken. Geld ist sein Gott. Das einzige, was er noch darüberstellt, ist irgend etwas Weibliches. Glücklicherweise wird diese Frage auf Ihrer ganzen Reise nicht auftauchen, denn es ist ausdrücklich in seinem Vertrag mit mir oder vielmehr mit meinem mysteriösen Freund festgesetzt, daß eine Frau auf diese Reise nicht über das Fallreep darf. Der Preis, der ihm dafür bezahlt wird, ist so hoch, daß er sich bestimmt an seine Vereinbarung hält.«

 

Von Mrs. Ollorby sagte er nichts mehr. Kurz darauf setzte ihn Graham in Grower Street ab und kehrte nach Hause zurück. Es war schon sehr spät, als er heimkam, aber der Gärtner wartete noch auf ihn und begrüßte ihn auf der Treppe.

 

»Haben Sie einen Anruf, etwa um elf Uhr, erwartet?«

 

»Ich?« fragte Hallowell erstaunt. »Nein, warum?«

 

»Erwarten Sie eine Nachricht von Ihrer Frau?«

 

»Nein, es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie mich anruft. Ich vermute, daß sie nicht einmal die Telefonnummer kennt.«

 

»Aber jemand kennt die Nummer sehr genau«, sagte der Gärtner. »Sie wurden ungefähr um elf Uhr angerufen, und zwar von einer Dame. Sie nannte Ihren vollen Namen und fragte, wann Sie vermutlich wieder zurück sein würden.«

 

»Was haben Sie geantwortet?«

 

»Ich sagte ihr, daß ich nicht wüßte, worüber sie spräche. Sie wollte mir nicht sagen, wer sie war, aber sie diktierte mir eine Mitteilung für Sie.« Graham folgte ihm in das Arbeitszimmer. Auf dem Löschpapier lag ein Notizblatt, auf dem in unregelmäßiger kindlicher Handschrift die Nachricht stand:

 

»Kein Geldschrank ist so sicher wie Raum 79 B Ward.«

 

Graham Hallowell wurde weiß bis in die Lippen. Denn 79 war die Nummer seiner Zelle, und B Ward war die Bezeichnung für den Gefängnisblock in Dartmoor, in dem er gesessen hatte.

 

Kapitel 11

 

11

 

Der Fürst von Kisthlastan konnte Feste geben, deren Pracht und Glanz für die Öffentlichkeit bestimmt war, aber er konnte auch sehr feine intime Diners veranstalten, die einen kultivierten, persönlichen Geschmack verrieten. Rikisivi war in tadellosem Gesellschaftsanzug und unterschied sich nur durch seine dunkle Hautfarbe und weißen Turban von den anderen Herren. Er ging in den getäfelten Speisesaal seiner Privaträume und besichtigte die gedeckte Tafel.

 

Mr. Colley Warrington, der eine halbe Stunde früher ankam als der erste Gast, nickte sehr zufrieden, als er eine der Menükarten durchlas.

 

»Das wird selbst dem Oberst imponieren«, sagte er und zeigte dabei mit seinem Finger auf eine Marke in der kurzen, aber exquisiten Weinliste.

 

Der Fürst zuckte verächtlich mit den Mundwinkeln.

 

»Für mich wird die ganze Gesellschaft eine langweilige Sache werden. Man hätte Miss Joyner unbedingt einladen können, hierherzukommen, wenn man sich die nötige Mühe gegeben hätte«, sagte er vorwurfsvoll.

 

»Ich glaube, daß Hoheit die Verhältnisse falsch beurteilen«, sagte Colley mit einem überlegenen Lächeln. »Es wäre der schlechteste Schachzug gewesen, weiter mit ihr in Verbindung zu bleiben, wegen – hm – der anderen kleinen Sache.«

 

»Sie haben ihr nicht einmal geschrieben«, sagte Rikisivi schlecht gelaunt. »Sie haben den Eindruck bei ihr aufkommen lassen, daß wir – wie soll ich gleich sagen – sie als eine aussichtslose Sache aufgegeben haben – daß wir verlegen und ratlos sind wegen der Perlen und sie deswegen nicht mehr sehen möchten. Und ich hätte sie so gern hier gehabt, ich muß sie hier haben, ich brauche sie, ich bin unglücklich, wenn ich sie nicht sehe. Wenn Sie doch wenigstens geschrieben hätten –«

 

»Ich habe ihr geschrieben«, sagte Colley, dessen Aufmerksamkeit anscheinend vollständig davon in Anspruch genommen war, die Tischordnung zu prüfen. Er schaute gar nicht zu dem Fürsten hin, als er sprach. »Ich habe ihr geschrieben, daß Sie eine Abendeinladung geben und daß der Oberst Richard Hallowell auch unter den Gästen sein wird, aber ich hätte sie nicht eingeladen, da ich annähme, daß sie keinen großen Wert darauf legte.«

 

»Teufel noch einmal«, rief der Fürst. »Warum haben Sie einen solchen Unsinn geschrieben?«

 

»Weil es notwendig war«, sagte Colley kühl, »bei ihr den Anschein zu erwecken, daß Sie die größte Sorge um ihren guten Ruf haben. Ich habe nämlich noch hinzugefügt, daß Diana hier sein würde und ich wüßte, daß sie nicht gern mit ihr zusammentreffe.« – »Aber Diana brauchte doch überhaupt nicht zu kommen!« brach Riki los.

 

»Nein, sie brauchte nicht zu kommen. Aber nun antwortet Miss Joyner entweder, daß sie unter gar keinen Umständen ob Diana zugegen ist oder nicht – gekommen wäre, oder aber, wenn sie das nicht tut, muß sie meine nächste Einladung annehmen.«

 

»Und wann wollen Sie sie wieder einladen?« Kishlastan war nicht wenig erstaunt.

 

»Nachdem Eure Hoheit nach dem Osten abgefahren sind«, sagte Colley langsam. »Und Sie werden einige Tage vorher abreisen, bevor ich mit Hope Joyner diniere. Es ist absolut notwendig«, fuhr er fort, »daß Sie nicht hier sind, wenn – irgend etwas passiert. Sie müssen auf hoher See sein, mit einer ganzen Schiffsgesellschaft zusammen, auf einem P. & O.-Dampfer, damit Ihr Alibi einwandfrei ist.«

 

Das leuchtete dem Fürsten ein.

 

»Glauben Sie, daß Sie Erfolg haben?«

 

»Ich werde sicher Erfolg haben«, sagte Colley. »Außerdem möchte ich Eurer Hoheit noch einen anderen Grund für die Abreise angeben. Ich möchte mich nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen, noch suche ich weiter in die Dinge einzudringen, als ich bereits von Eurer Hoheit wohlwollend informiert worden bin betreffs einer gewissen Unternehmung, die in den Händen von einem Ihrer Freunde liegt. Aber ich muß doch betonen, daß es ratsam wäre, wenn Eure Hoheit England verließen, bevor dieser kleine Plan ausgeführt wird.«

 

»Ich werde eine Woche später fortgehen«, sagte der andere ungeduldig. »Ich kann nicht Hals über Kopf abfahren. Ich brauche viele Räume für mein großes Gefolge.«

 

»Die ich bereits auf der ›Poltan‹ belegt habe!« bemerkte Colley. »Der Dampfer geht am nächsten Sonnabend ab.«

 

Der Fürst sah ihn halb ärgerlich, halb erstaunt an.

 

»Eure Hoheit mögen das als eine Anmaßung meinerseits ansehen, aber ich habe Ihren Interessen zu dienen. Ich brachte heute den ganzen Nachmittag damit zu, eine Passage für Eure Hoheit ausfindig zu machen. Glücklicherweise wurde eine größere Reihe von Kabinen auf der ›Poltan‹ wieder frei, und ich habe sie sofort provisorisch für Eure Hoheit gebucht.«

 

Der Fürst biß sich gedankenvoll auf die Lippen.

 

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte er. »Sie sind ein sehr weitsichtiger und kluger Mann. Ich möchte diese Sache weiter mit Ihnen besprechen, wenn die andern gegangen sind.«

 

Sie waren noch keine zehn Minuten im Empfangsraum, als die ersten Gäste kamen. Diana in ihrer strahlenden Schönheit betörte Colley aufs neue. Sie trug ein grausilbernes Kleid, das ihre reife Schönheit noch hob und sie sehr jung aussehen ließ, so daß selbst der Fürst sie bewunderte. Sie ging in den Speisesaal, um sich schnell den Tisch anzusehen, wechselte zwei der Karten aus, kam zurück und erklärte es ihnen.

 

»Ich will neben dem Oberst sitzen«, sagte sie. »Wenn Sie ihm Jane Lyson zur Tischdame geben, werden Sie ihn nur ärgern. Sie ist die Todfeindin seiner Frau, und sie würde doch der Versuchung nicht widerstehen können, über Lady Cynthia etwas Unangenehmes zu sagen.«

 

»Hätte ich vielleicht Lady Cynthia einladen sollen?« fragte der Fürst zweifelnd.

 

»Sie wäre bestimmt nicht gekommen«, sagte Diana nüchtern. »Nicht, weil sie gewußt hätte, daß ich hier bin. Aber ich muß den Oberst sehen.«

 

Die Unterhaltung wurde durch die Ankunft eines indischen Beamten und seiner jungen Frau unterbrochen, die über und über von Brillanten strahlte. Gleich darauf kam auch Oberst Ruislip.

 

»Wie charmant, Diana, daß Sie hier sind«, sagte er und hielt ihre Hand lange in der seinen. Er blickte bewundernd in ihre schönen lachenden Augen. »Sie sehen jünger aus als jemals. Was war Dick Hallowell doch für ein Dummkopf.«

 

Niemand wußte besser als der Oberst, daß die Dummheit Dick Hallowells sehr wohl am Platze war. Sein Protest dagegen war nur ein Akt der Höflichkeit.

 

»Hallo, Colley! Habe Sie schon seit Jahren nicht gesehen!«

 

Er gab ihm die Hand, ohne sie herzlich zu drücken. Oberst Ruislip war im Bilde. Colley Warrington war einer der Leute, die man zwar trifft, die man aber nicht sucht. »Ich muß Sie nachher sprechen, Colley … Ich habe seit Jahren keine richtigen Skandalgeschichten mehr gehört.«

 

Wäre der Erfolg des Diners von der liebenswürdigen Laune des Gastgebers abhängig gewesen, so wäre die Stimmung des Abends eine recht gedrückte gewesen, denn der Fürst war äußerst verdrießlich und sprach kaum.

 

»Dick? O ja, ich sehe ihn manchmal.«

 

»Ein sehr brauchbarer Offizier«, sagte der Oberst, indem er den Wein mit Kennermiene austrank. »Gott sei Dank habe ich ihn wieder von den Fliegern zurückgeholt. Vermutlich wissen Sie, daß er sich zu den Fliegern versetzen ließ, damals nach – hm – nach Ihrer kleinen Auseinandersetzung. Und er ist ein ganz vorzüglicher Flieger geworden. Er hat mich in Adlershot mit auf seiner Maschine gehabt und solch waghalsige Kunststücke gemacht, daß ich zu Tode erschrocken war. Ich muß festen Boden unter den Füßen haben oder im Sattel sitzen …«

 

»Er hat sich doch wieder verlobt?«

 

Dem Oberst war nicht ganz wohl zumute.

 

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, ich kümmere mich nicht um die Verlobungen meiner jüngeren Offiziere, bis sie sich entschließen, mit mir darüber zu sprechen. Da ich den Offizieren des Regiments an Vaterstelle gegenüberstehe, müssen sie früher oder später doch alle zu mir kommen. Bis jetzt ist mir offiziell nichts davon bekanntgeworden.«

 

»Er wird zu Ihnen kommen«, sagte Diana so freundlich als möglich. »Miss Hope Joyner – kennen Sie sie?«

 

»Ja, ich habe sie getroffen«, sagte der Oberst liebenswürdig und versuchte, das Gesprächsthema zu wechseln. »Ein sehr nettes Mädel, meine Frau hat neulich gesagt…«

 

Aber Diana ließ ihn nicht ausweichen.

 

»Ich hoffe, Dick wird sehr glücklich werden«, sagte sie in dem Ton liebenswürdiger Resignation, der ihr so gut stand.

 

»Dessen bin ich sicher«, sagte der Oberst leise. Dann sprach er davon, daß Hope eine gute Akquisition für das Regiment wäre.

 

»Wird sie das sein?« fragte Diana unschuldig. Der Oberst rückte ungemütlich auf seinem Stuhl hin und her.

 

»Ja, ich denke«, sagte er schnell. »Ein sehr hübsches, äußerst liebenswürdiges und schönes …«

 

Er wollte die Unterhaltung weniger persönlich gestalten und fiel dann doch in die Falle, die Diana ihm gestellt hatte.

 

»Nebenbei bemerkt, aus welcher Familie stammt sie?« fragte er.

 

Diana Martyn konnte sich nun dem Essen widmen.

 

»Hat sie überhaupt Verwandte?« warf sie dazwischen.

 

»Sind sie tot?« meinte der Oberst. »Oh, das wäre schade.«

 

»Man weiß nicht einmal, ob sie tot sind«, sagte Diana. Da sie fürchtete, daß sein Interesse nachlassen könnte, fügte sie schnell hinzu: »Und niemand weiß weniger darüber als Hope selbst.«

 

Der alte Herr zog die Augenbrauen hoch.

 

»Das ist doch aber eine sehr ernste Sache, so etwas zu sagen.«

 

»Das ist wahr, und ich habe es ganz im Ernst gemeint.«

 

Sie berichtete ihm kurz die Geschichte Hope Joyners und, obgleich sie glaubwürdig erzählte, unterstrich sie doch die dunklen Möglichkeiten ihrer Geburt genügend.

 

»Dick könnte wirklich nicht im Regiment bleiben, wenn er sie heiratet«, fuhr sie fort. »Ich glaube auch nicht, daß er die Absicht hat. Immerhin –«

 

»Im Gegenteil, er hat bestimmt vor, im Regiment zu bleiben«, sagte der Oberst schroff. »Seine Ernennung zum Hauptmann ist nächsten Monat fällig, und ich weiß, daß es von jeher sein Wunsch war, den Befehl über das Bataillon zu führen, wie es vor ihm sein Vater tat. Stets hat ein Hallowell bei der Berwick-Garde gedient, seit diese Truppe besteht.«

 

»Dann werden Sie erleben, daß die Truppe einmal ohne einen Hallowell ist«, sagte sie heiter. »Es ist doch ganz unmöglich! Finden Sie nicht auch, Herr Oberst?« Er antwortete ihr nicht. Der Abend war ihm verdorben.

 

Als er die Unterhaltung wieder aufnahm, sprach er über eine Sache, die Diana am liebsten vermieden hätte.

 

»Dick hatte gerade genug Ärger mit seinem schrecklichen Halbbruder«, sagte er, »er braucht sich nicht auch noch davon niederdrücken zu lassen. Das Mädchen ist wirklich sehr hübsch und liebenswürdig, und ich würde absolut damit einverstanden sein, wenn Dick erklärte –«

 

Sie schaute ihn scheu von der Seite an.

 

»Ja, Sie wohl«, stimmte sie ihm bei, »aber Lady Cynthia –«

 

Sie wußte, daß dieser Pfeil getroffen hatte.

 

Als alle Gäste mit Ausnahme von Diana und Colley gegangen waren, fragte der Fürst, der im Laufe des Abends etwas mehr aufgetaut war:

 

»Sie haben doch mit dem Oberst über Hope Joyner gesprochen? Was sagten Sie von ihr?«

 

»Was hätte ich sagen sollen, als daß sie ein sehr liebenswürdiges und schönes Mädchen ist«, erwiderte sie so unschuldig wie möglich. »Ich habe aber weniger über sie als über Dick Hallowell gesprochen. Er beabsichtigt nämlich, sie zu heiraten.«

 

Sie sah, wie sich sein Gesichtsausdruck änderte.

 

»Heiraten?« Er wandte sich an Colley. »Das wußte ich ja gar nicht.«

 

»Die beiden sind miteinander bekannt«, antwortete Colley. »Ich glaube nicht einmal, daß sie verlobt sind.«

 

»Sie lieben sich«, sagte Diana leichthin, »und das ist ungefähr so viel, als ob sie verlobt wären. Sie sind beide frei und wohlauf – warum sollten sie sich nicht verloben? Dick Hallowell muß natürlich seinen Abschied vom Regiment nehmen. Die Damen des Offizierskorps werden nicht zulassen, daß ein Niemand in ihren Kreis kommt.«

 

»Was wollen Sie damit sagen – ein Niemand?« fragte Riki, indem er sie unter gesenkten Augenlidern ansah. »Ist denn Miss Joyner ein Niemand?«

 

»O lala«, Diana zeigte eine Lustigkeit, die sie gar nicht fühlte. »Wie sehr sich Eure Hoheit für Hope Joyner einsetzen, und gerade Sie müßten doch am besten wissen, wie außerordentlich wichtig Abstammung sein kann! Hoheit haben doch einen tausendjährigen Stammbaum, der keine Unterbrechung aufweist.«

 

Der Fürst war anscheinend beruhigt, da er unglaublich stolz auf seine Abstammung war.

 

»Es ist nicht klug, unfreundlich von Miss Joyner zu sprechen«, sagte er. »Ich habe viele Gründe dafür. Sie verstehen mich?«

 

Colley nickte.

 

»Es darf nicht so aussehen, als ob jemand, der irgendwie in Verbindung mit dem Fürsten von Kishlastan steht, auch nur im mindesten gegen Hope Joyner eingenommen ist.«

 

»Das ist absolut notwendig«, sagte Colley. Diana sah ihn ganz erstaunt an.

 

»Besteht denn ein besonderer Plan wegen Hope Joyner?« begann sie.

 

»Nein«, sagte Colley prompt. »Aber ich stimme vollkommen mit Seiner Hoheit überein. Wir wollen uns keine Feinde machen. Ihre Aufgabe besteht doch darin, Miss Martyn, den Freundeskreis Seiner Hoheit zu vergrößern. Selbst gegen Ihre Rivalinnen müssen Sie gütig und nachsichtig sein.«

 

Wenn er glaubte, sie dadurch irrezuführen, täuschte er sich. Sie interessierte sich zu sehr für dieses neue Problem. Ihr war es ganz klar, daß irgend etwas mit Hope Joyner im Gange war, und sie ärgerte sich, daß man sie nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Colley um weitere Informationen zu bitten, war ganz nutzlos, das wußte sie. Vielleicht war Graham mit im Spiel.

 

Schon in der Frühe des nächsten Morgens, als der Milchmann noch geräuschvoll mit seinen Kannen in den Straßen klapperte, telefonierte sie nach ihrem kleinen Wagen und fuhr nach Cobham. Als sie ankam, fand sie Graham am Tisch sitzen. Vor ihm stand ein kaltes Frühstück, das er nicht einmal angerührt hatte. Er sah erschreckt zu ihr auf, als sie eintrat.

 

»Ach, du bist es«, sagte er. »Wir sind sehr durch Euch geehrt!«

 

Sie schaute ihn verwundert an. Seine Farbe war aschgrau. Nur einmal hatte sie ihn so gesehen – am Morgen seiner Verhaftung.

 

»Was fehlt dir?« fragte sie.

 

»Nichts.« Er lehnte sich vor und zog einen Stuhl für sie heran. »Schenke mir bitte Kaffee ein, ich habe nicht die Energie dazu.«

 

Sie setzte sich ohne ein Wort nieder, füllte eine Tasse und reichte sie ihm. Sie blickte gespannt auf ihn.

 

»Sage mir doch, was du hast?«

 

»Ach, es ist nichts.« Er schaute zur Tür, und als er sah, daß sie nur angelehnt war, stand er auf und schloß sie. Dann erzählte er ihr mit leiser Stimme von der letzten Nacht. Als er zu Ende war, schüttelte sie den Kopf.

 

»Ich habe dir keine Nachricht durchs Telefon bestellt. Das war sicher diese niederträchtige Frau.«

 

»Aber sie wußte doch, daß ich in London war«, sagte er hartnäckig.

 

Diana lächelte.

 

»Natürlich wußte sie das. Ebenso wußte sie, daß ihre Mitteilung für dich aufgeschrieben und dir bei deiner Rückkehr gegeben wird. Man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß sie wirklich Detektivin ist. Aber ich glaube, daß sie nicht viel mehr versteht als ihre männlichen Kollegen.«

 

Sie zog die Augenbrauen zusammen und dachte nach. Diana war eine kluge Frau und unendlich viel beweglicher als Graham. Sie wußte sich besser zu helfen und war auch mutiger als der Mann, mit dem sie das Schicksal verbunden hatte.

 

»Wo warst du denn, als er etwas von dem Geldschrank sagte?«

 

»Trayne sprach davon. Dieser Schiffskapitän hat ihn sicher auch erwähnt, aber wir standen an einer Stelle, wo es unmöglich war, uns zu belauschen.«

 

Sie nickte langsam.

 

»Niemand konnte den Brief lesen mit Ausnahme des Gärtners.«

 

Dann lächelte sie plötzlich.

 

»Sie hat es von Trayne – sie weiß, daß er einen Geldschrank gekauft hat, der an Kapitän Boß geliefert werden soll – das ist die Erklärung.«

 

»Aber wie konnte sie wissen, daß ich etwas mit der Sache zu tun habe?«

 

»Sehr einfach«, entgegnete Diana ruhig. »Mrs. Ollorby sah dich mit Boß zusammen. Sie weiß, daß der Geldschrank an Bord der ›Pretty Anne‹ abgeliefert werden soll. Nun brauchte sie doch nur die verschiedenen Tatsachen zusammenzustellen. Möglicherweise hat sie diese Nachricht nur an dich gesandt, um eine Bestätigung zu haben. Hast du Trayne angerufen, nachdem du die Botschaft erhieltest?«

 

Er nickte.

 

»Natürlich hast du das schon wieder getan. Sie hat doch jemand im Telefonamt veranlaßt, das Gespräch abzuhören. War Trayne zu sprechen?«

 

»Er war fortgegangen.«

 

»Da hast du Glück gehabt!« sagte sie warnend zu ihm. »Ich sorge mich nicht um Mrs. Ollorby, sie beobachtet bloß. Sie mag ja richtig beobachten, aber sie weiß nicht genau, ob sie mit ihren Vermutungen recht hat. Ich möchte dir doch einen guten Rat geben. Bleibe soviel wie möglich vom Telefon fort –«

 

Es wurde an die Tür geklopft, und noch bevor Graham »Herein« rufen konnte, kam der Gärtner ins Zimmer und zog die Tür sofort hinter sich zu. »Kennen Sie eine Mrs. Ollorby?« fragte er leise.

 

Graham Hallowell war zu erstaunt, um sprechen zu können. Er nickte bloß.

 

»Wünschen Sie, daß sie hereinkommt?«

 

»Daß sie hereinkommt?« fragte Diana erstaunt. »Wieso?«

 

»Sie ist draußen.« Graham und Diana schauten einander an.

 

»Soll sie hereinkommen?« fragte der Gärtner wieder.

 

Diana erholte sich zuerst von ihrem Schrecken.

 

»Wo? Hier? Hier im Haus?« fragte Graham.

 

»Ja, hier im Haus«, sagte sie, als Graham noch starr vor Schrecken und Verwunderung dasaß. Als er Einspruch erheben wollte, brachte sie ihn mit einem Wink zur Ruhe.

 

Eine Sekunde verging, dann öffnete sie die Tür schnell, und Mrs. Ollorby trat mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen vergnügt ins Zimmer.

 

»Guten Morgen, meine Herrschaften!« Ihr Ton war herausfordernd fröhlich. Sie zeigte nichts mehr von der Unterwürfigkeit, die sie beim ersten Zusammentreffen mit Diana an den Tag gelegt hatte. Sie sprach vollkommen wie eine Gleichberechtigte. »Wie schön ist doch der Sonnenschein heute – und die vielen herrlichen Blumen und die Bäume – und wenn ich so die Blätter rauschen höre, dann fühle ich mich wieder wie ein junges Mädchen. Manche Leute lieben mehr die See und die Küste«, fuhr sie zu plaudern fort, »aber ich liebe den Aufenthalt auf dem Land, die weiten, grünen Rasenflächen und die blumigen Wiesen. Dagegen diese doppelten großen Schornsteine der Dampfer! Schiffe haben doch gewöhnlich Schornsteine böse, schwarze Dinger, von denen die Farbe abblättert. Auf Schiffen gibt es keine Bäume und Felsengärten, nicht wahr, Miss Martyn, Schiffe haben doch keine Felsengärten?«

 

Diana antwortete nicht.

 

»Das Beste an einem Schiff«, fuhr Mrs. Ollorby fort, ohne daß sie jemand dazu ermutigt hätte, »ist sein Name. Aber das will nicht viel sagen. Nehmen wir zum Beispiel die ›Pretty Anne‹ (Hübsche Anna). Was ist denn überhaupt hübsch an ihr? Nicht einmal ihr Kapitän. Ich würde mich eher entschließen, mit einem kleinen Geldkasten in dieser Villa zu wohnen, als mit einem großen Geldschrank über den Atlantischen Ozean zu fahren, besonders wenn ich ein Mann wäre, der früher so allerhand unangenehme Erfahrungen gemacht hat. Geben Sie mir nicht recht, Miss Martyn?«

 

Der Gärtner stand noch an der Tür und war wie zu Stein erstarrt. Diana fand ihre Stimme wieder und begann:

 

»Ich weiß nicht, was ich denken soll –«

 

Aber die Frau unterbrach sie.

 

»Sie verstehen nicht, was es bedeutet, daß ich in Ihre hübsche kleine Villa einbreche?« sagte Mrs. Ollorby mit einem Lächeln auf ihrem breiten Gesicht. »Wissen Sie, Miss Martyn, ich war gespannt, was Sie zuerst sagen würden: ›Ich weiß nicht, was ich denken soll‹ oder ›Wollen Sie mir bitte erklären‹ oder gar ›Wie dürfen Sie überhaupt?‹ Es gibt eigentlich wenig originelle Wendungen, die Sie gebrauchen können, wenn Sie ärgerlich sind. Wenn Sie genügend Intelligenz haben, sich etwas ganz Neues auszudenken, dann haben Sie auch genügend Intelligenz, um ruhig zu sein.«

 

Sie sah sich in dem getäfelten Speisezimmer um. Chinaporzellane mit blauen Mustern standen ringsum auf den Paneelen. Auf dem polierten Tisch dufteten Rosen aus einer schönen Vase. Hübsche Gardinen bewegten sich leicht in der Morgenbrise.

 

»Es ist ein schönes Haus«, sagte sie und nickte nachdrücklich. »Tiger Trayne vermietete es an Johnny Delboure – Sie wissen selbstverständlich, daß Tiger der Besitzer dieses Hauses ist? bevor Johnny damals den großen Bankeinbruch verübte. Sie müssen ihn doch sicher in Dartmoor getroffen haben, Mr. Hallowell – er hat dafür zwanzig Jahre bekommen. Ich wundere mich immer, warum Tiger nicht endlich den Mousetrap-Klub aufgibt und seine alten Tage hier draußen beschließt. Aber wahrscheinlich gibt es hier draußen keine Mäuse, die zu fangen sich lohnte.«

 

Sie wandte sich nach der Tür um und sah in die verstörten Augen des Gärtners, nickte ihm aber freundlich zu.

 

»Mr. Mawsey – nicht wahr? Früher hießen Sie doch Colter, dann wurden Sie Wilson – ich habe Ihre Namen im Moment vergessen, aber ich erinnere mich genau an alle Verbrechen, die Sie verübt haben. Wie geht es denn Ihrer guten Frau?« Sie sah auf seine grüne Schürze und nickte.

 

»Gärtnerarbeit, das ist eine alte Beschäftigung. Das ist besser für Mrs. Mawsey oder Wilson oder was immer Sie für einen Namen führen, als Kinder in Pflege nehmen und sie dann verschwinden lassen.«

 

Sie richtete ihre lustigen Augen auf Dianas blasses Gesicht. Mawsey schlich sich vollständig vernichtet aus der Tür und verschwand. Mrs. Ollorby wartete auf eine weitere Bemerkung ihrer unwilligen Wirtin. Aber Diana war zu klug, um zu sprechen.

 

»Ein wunderbarer Ort hier«, sagte Mrs. Ollorby und ließ ihre anerkennenden Blicke umherschweifen. »Aber wenn ich dieses ganze Gelände hätte, dann würde ich lieber eine Hühnerfarm einrichten. Es geht doch nichts über eine Liebhaberei, wenn man es sich irgend leisten kann. Ich hatte eine Vorliebe für das Sammeln von Zeitungsausschnitten, als ich ein junges Mädchen war. Meine Mutter war ganz erschrocken, als ich alle Nachrichten über Verbrechen aus den Sonntagszeitungen ausschnitt und sie in meine Schulbücher klebte. Ich habe Haufen davon, so hoch« – sie zeigte bis zur Höhe ihrer Schulter. »Ich habe immer gedacht, daß ich einen Polizisten heiraten müßte, aber es ist mir niemals in den Sinn gekommen, daß ich für Scotland Yard arbeiten würde. Hektor – das ist nämlich mein Junge –, der beste Junge, der jemals gelebt hat, obgleich er ein wenig kurzsichtig ist – sagt oft zu mir: ›Mutter, warum hebst du denn diese vielen Zeitungsausschnitte auf, wenn du sie doch alle im Kopf hast?‹ Und das ist Tatsache, wenn ich einmal etwas über ein Verbrechen gelesen habe, dann behalte ich es auch. Ich kann mich noch recht gut daran erinnern, wie ich damals in Old Bailey war und – nun, wie nennt er sich doch gleich? – Mawsey sah, der zu fünf Jahren verurteilt wurde. Er ist ein guter Geldschrankknacker, einer der besten. Man sagt, daß er ein Mittel erfunden hat, um Stahlwände auseinanderzuschneiden, das alle amerikanischen Einbrecher in Verwunderung setzt. Da können Sie stolz sein auf Ihr Vaterland, nicht wahr, Miss Martyn?«

 

»Was verschafft uns denn eigentlich das Vergnügen Ihres Besuches heute morgen?« fragte Diana, die endlich ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte.

 

»Ich brauche frische Luft«, sagte Mrs. Ollorby. »Ich habe nämlich zwei Tage lang in einem schlechten Haus gewohnt, in einer kleinen, schmutzigen Nebenstraße, und nicht einmal die Gesellschaft des Kapitäns Eli Boß war ein Ausgleich dafür. Ich habe dabei wichtige Dinge erfahren und möchte sie anderen Leuten mitteilen, da ich sonst daran ersticken würde. Ich sagte also zu Hektor, ich will nach Cobham und Miss Martyn oder Mr. Hallowell besuchen, wen ich eben treffe. Vielleicht kann ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und ihr eine große Unannehmlichkeit für die Zukunft ersparen und ebenso Mr. Hallowell.«

 

Sie lächelte sonderbar, als sie Graham anschaute, der blaß geworden war.

 

»Was erschreckt Sie so?« – sie schüttelte traurig den Kopf – »Ist es vielleicht, weil Sie nicht wissen, wieviel ich schon weiß? Ich wüßte nichts Beunruhigenderes. Sie können nicht feststellen, wieviel ich nur vermute und wieviel ich in einem Buch gelesen habe, um das alles erzählen zu können.«

 

»Wir haben von Ihnen gehört, Mrs. Ollorby«, sagte Graham.

 

»Ich fange an berühmt zu werden«, sagte sie fast schmunzelnd. »Das ist merkwürdig, da ich doch sehr selten als Zeuge auftrete. Ich glaube, Sie hätten mich überhaupt nicht kennengelernt, wenn nicht Tiger Ihnen von mir erzählt hätte. Ich sah Sie alle drei an dem Fenster und konnte Sie beobachten – und ich bin ein sehr guter Beobachter, wie ich schon sagte.«

 

»Bescheiden sind Sie nicht gerade.« Graham Hallowell hatte sich allmählich wieder erholt. »Uns macht Ihr Gerede wenig Spaß. Aber wenn Sie irgend etwas Geschäftliches hier erledigen wollen, dann sagen Sie uns das bitte. Wenn das nicht der Fall ist, dann wollen wir Sie gerne entschuldigen, wenn Sie jetzt gehen wollen.«

 

»Immer höflich«, murmelte Mrs. Ollorby. »Sie könnten beinahe der Fürst von Kishlastan sein, der niemals ein Tanzmädchen umbringt, wenn er nicht vorher den Turban abgenommen hat. Werden Sie eine lange Reise unternehmen, Mr. Hallowell?«

 

Graham stand vom Tisch auf und zeigte auf die Tür.

 

»Sie wünschen, daß ich gehen soll? Es tut mir leid, daß ich Sie gelangweilt habe – für gewöhnlich hält man mich für sehr unterhaltend. Hektor sagt, daß er mir stundenlang zuhören könnte, aber natürlich, er ist ja mein eigener Sohn. Guten Morgen, Mrs. Hallowell!« Diana antwortete nicht auf diese kleine Höflichkeit.

 

»Guten Morgen, Mr. Graham Hallowell!«

 

Er machte die Tür schnell zu. Mrs. Ollorby ging mit langen Schritten den Gartenweg entlang und summte eine kleine Melodie vor sich hin, ein wohlgefälliges Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Ein Fremder hätte sich einbilden können, daß sie gerade von einem sehr angenehmen Besuch käme. Graham und Diana beobachteten sie durch die geschlossenen Fensterläden, bis ihr alter Hut hinter der Hecke verschwand, dann sahen sie sich stumm an.

 

»Was weiß sie wirklich?« fragte Diana ruhig.

 

»Ich habe keine Ahnung. Sie weiß nicht viel, sonst wäre sie ausführlicher gewesen«, sagte er gedankenvoll. »Ihre Absicht war nicht, uns festzunehmen, sondern nur uns zu warnen.«

 

Diana nickte.

 

»Sie hat zwei oder drei lose Fäden, und sie versuchte, aus uns etwas herauszubekommen, um sie verbinden zu können. Kapitän Boß ist der Eigentümer des Schiffes. Dann hast du doch diese Frau letzte Nacht in East End gesehen. Natürlich hat sie auch telefoniert. Sicherlich, sie weiß nichts, Graham – sie vermutet nur, aber sie weiß nichts. Hast du nicht die ganze Zeit über beobachtet, wie sie wie ein Schießhund darauf wartete, daß du oder ich etwas ausplaudern sollten, das ihre Vermutungen bestätigen könnte?«

 

Es klopfte leise an der Tür, der Gärtner kam herein. Sein hageres Gesicht zuckte nervös.

 

»Ist sie fortgegangen?« fragte er heiser.

 

»Kennen Sie sie?« fragte Diana.

 

»Ich habe von ihr gehört.« Mawsey war nicht geneigt, sich selbst zu bezichtigen. »Ich kenne ihren Mann besser als sie. Er war Detektivsergeant in Scotland Yard. Er –«, der Mann zögerte, »er hat meine Frau beinahe ins Unglück gebracht, und sie war so unschuldig wie ein neugeborenes Kind.«

 

»Es scheint doch so, daß Sie ein- oder zweimal von ihr hereingelegt worden sind?«

 

»Nicht von ihr, von ihrem Mann«, verbesserte Mawsey.

 

»Stimmt das alles, was sie sagte?«

 

Er nickte, als Diana ihn fragend ansah.

 

»O ja, ich bin im Gefängnis gewesen«, sagte er, ohne dabei verlegen zu werden. »Ich bin erstaunt, was sie alles weiß. Das Beobachten ist ihre Spezialität, davon haben Sie wohl gehört? Aber die meisten hat sie nur ins Gefängnis gebracht, weil sie dumm genug waren, sich selbst zu verplappern, als sie sich das erstemal an sie heranmachte. Sie haben ihr doch hoffentlich nichts gesagt?« fragte er schnell. Als die beiden verneinten, fuhr er fort: »Ich dachte mir gleich, daß Sie das nicht tun würden. Diese alte Frau ist gefährlich wie Gift. Und vergessen Sie nicht, sie kann Dinge unternehmen, die kein männlicher Polizist wagen dürfte, ohne seinen Posten zu verlieren. Was hat sie denn alles gesagt? Ich muß es dem Direktor sagen, er wird gleich anrufen.«

 

So getreu wie möglich erzählte ihm Diana den Gang der Unterhaltung.

 

»Sie hat einiges richtig herausbekommen«, gab Mawsey zu. »Aber sie hat keine Ahnung von dem großen Plan. Sie hat nur gesehen, daß Sie sich mit Eli Boß getroffen haben, sie weiß, daß Sie den Direktor anriefen, und dann hat sie Vermutungen darüber angestellt.«

 

Der Gärtner trat zum Fenster und hielt Ausschau.

 

»Sie ist noch nicht fort«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich möchte gern wissen, weshalb sie noch wartet?«

 

Mrs. Ollorby war quer über den Weg gegangen und stand unter einem großen, überhängenden Baum. Sie schaute auf das Haus zurück. In der Hand hielt sie einen Bogen weißes Papier. Abwechselnd las sie und blickte dann wieder nach der Villa. Diana sah, wie der Gärtner eine Bewegung machte.

 

»Sie geht quer durch Rectory Field«, sagte er. Die dicke Frau war verschwunden. »Ich will der alten Katze doch einmal einen Schrecken einjagen.«

 

Wie der Blitz war er aus dem Zimmer, und nach einigen Sekunden sah ihn Graham über die Straße eilen, mit einer Büchse unter dem Arm. Während er lief, steckte er Patronen in die beiden Läufe.

 

Der Fußpfad durch Rectory Field kürzt den Weg zur Esher Road ab, aber man gewinnt nicht viel Zeit dabei. Mawsey ging einen besseren Weg bis zum Ende einer Föhrenpflanzung. Dort verlangsamte er seine Schritte. Plötzlich sah er, wie Mrs. Ollorby auf dem gelben Sandweg weit ausschritt, kaum zwanzig Meter von ihm entfernt. Grinsend hob er das Gewehr an die Schulter, und gleich darauf krachten zwei Schüsse. Sie gingen hoch, denn er wollte sie nur erschrecken. Als er sah, wie Mrs. Ollorby sich duckte, wollte er sich totlachen. Aber seine Freude dauerte nicht lange. Der große Strickbeutel, den sie unter dem Arm trug, fiel zu Boden, und sie hatte eine Waffe in der Hand.

 

Wieder krachte ein Schuß.

 

Er stand starr, als er das Mündungsfeuer aus ihrer Pistole zucken sah. Das Geschoß schlug gegen den glatten Stamm einer Föhre, prallte dort ab und surrte dicht an seinem Kopf vorbei. Er sprang sofort zurück und fuchtelte mit den Händen in der Luft.

 

»Was machen Sie da?« schrie er sie an.

 

Mrs. Ollorby kam auf ihn zu, die Pistole in der Hand. Ein heiteres Lächeln lag auf ihrem Gesicht.

 

»Erzählen Sie nur nicht, daß Sie mich mit einem Vogel verwechselt haben!« Während sie dies sagte, hob sie die Hand. »Ich bin ein Vogel in ungewöhnlichem Sinne – eine alte Krähe –, aber eine, die wiederschießt!«

 

»Was, zum Teufel, tun Sie?« stieß der Mann hervor. Er war totenbleich. »Ich wollte nur einen Scherz machen und Sie erschrecken, das ist alles…«

 

»Lache ich denn nicht?« fragte Mrs. Ollorby. Sie stand vor ihm, ihre dicke Hand auf die Hüfte gestützt. Der Lauf der Pistole stand seitlich ab wie ein gestutzter Schwanz.

 

Sie machte einen komischen, aber dennoch herausfordernden Eindruck. Ihr Hut hing auf der Seite und bedeckte fast das eine Auge; ihr Gesicht war tief rot und mit Schweiß bedeckt. Sie hatte ein vielfältiges Doppelkinn, und es schien ihm, als bekäme sie plötzlich wie ein Truthahn vor Ärger einen Fleischkragen. Aber sie lachte nur und war durchaus nicht erschreckt.

 

»Wenn ich dächte, daß es ein Mordversuch von Ihrer Seite war, würde ich Sie gleich zur Kingston-Polizeistation mitnehmen. Aber ich sehe, daß es nur Dummheit war.«

 

Sie setzte ihren Hut gerade, brachte eine Haarsträhne, die ihr über die Stirn gefallen war, wieder in Ordnung und besah ihre vom Pulver geschwärzte Hand.

 

»Seien Sie jetzt vernünftig«, sagte sie plötzlich, wandte sich um und ging wieder dorthin zurück, wo sie ihre große Tasche hatte fallen lassen.

 

Er stand wie festgewurzelt, bis sie hinter der großen Pflanzung von Sutton Holme verschwunden war. Dann erst ging er zurück und bemerkte Graham, der aufgeregt und besorgt mitten auf der Straße stand.

 

»Was haben Sie gemacht?« fragte er heftig. »Ich wollte sie nur etwas erschrecken«, brummte der Mann.

 

»Sie erschrecken! Ich hörte drei Schüsse –«

 

»Sie hatte eine Pistole«, sagte Mawsey verdrießlich. »Und, Hallowell, Sie brauchen dem Direktor nichts davon zu erzählen.« Graham versprach ihm das nicht. Er ging zu Diana ins Frühstückszimmer zurück und erzählte ihr von dem üblen Scherz des Gärtners. Sie nickte langsam.

 

»Ich werde jetzt schnell zur Stadt zurückfahren«, sagte sie. »Die alte Ansicht, daß alle Verbrecher Narren sind, scheint sich wieder einmal zu bestätigen. Soll ich die Sache Tiger erzählen, oder willst du es übernehmen?«

 

»Es ist besser, wenn du es tust«, sagte Graham. »Wenn er sich auf die Hilfe dieses Mannes verlassen will, kann er die Geschichte nicht früh genug erfahren.«

 

Diana verließ gleich darauf die Villa, und als sie ihre Wohnung erreichte, wartete der Mann, den sie dringend zu sehen wünschte, schon auf sie. Sie war trotzdem ein wenig erstaunt, daß Tiger so unvorsichtig war, sie am hellen Tag zu besuchen. Es war der erste Besuch, den er in ihrer Wohnung machte, und sie war etwas verwirrt. Er schien ihre Gedanken zu erraten, als sie in den Empfangsraum trat und ihn in einem Sessel bei der Lektüre einer illustrierten Zeitung fand.

 

»Ich habe auch eine Wohnung in diesem Häuserblock«, sagte er zu ihrer Verwunderung, »schon seit zwei Jahren. Die Polizei weiß das, aber Sie wußten es anscheinend noch nicht? Was hat Mawsey angestellt?«

 

»Wie haben Sie das schon erfahren?« fragte sie erstaunt.

 

»Ihr Gatte rief mich an – ich wünschte, er wäre nicht so schnell zur Hand mit seinem Telefon. Ich werde Mawsey dort fortnehmen. Er ist ein tüchtiger Arbeiter, aber er hat keinen Verstand. Ich glaube nicht, daß der dumme Streich, den er Mrs. Ollorby gespielt hat, irgendwelche Folgen hat, aber ich brauche ihn am Sechsundzwanzigsten, und es ist besser, ihn wohin zu bringen, wo er nicht plötzlich verhaftet werden kann.«

 

»Mr. Trayne – warum stellen Sie ihn überhaupt an?«

 

Tiger Trayne lächelte gut gelaunt.

 

»Mawsey ist ein tüchtiger Arbeiter, wie ich schon vorher sagte. Außerdem bin ich seiner Frau in gewisser Weise verpflichtet – es handelt sich um keine große Sache, und sie selbst weiß es nicht einmal. Daß ich mich verpflichtet fühle in solchen Fällen, ist eine Schwäche von mir.« Sie war tief in Gedanken versunken.

 

»Sagten Sie nicht eben etwas vom Sechsundzwanzigsten?«

 

Er nickte.

 

»Das ist aber schon sehr bald.«

 

»Ich habe erst heute morgen erfahren, daß Richard Hallowell an diesem Tag die Wache kommandiert.«

 

Sie war offensichtlich sehr erstaunt.

 

»Richard Hallowell? Was hat er damit zu tun?«

 

»Allerhand«, entgegnete er. »Haben Sie das Buch nicht gelesen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Vermutlich hat unser Freund Graham auch keine Zeit gehabt, Ihnen die Sache zu erklären. Der Sechsundzwanzigste ist in mancher Hinsicht ein guter Tag. Wir haben günstige Flutverhältnisse, der Mond geht zur rechten Zeit unter, das heißt, er wird überhaupt nicht scheinen – das Wichtigste ist, wir stehen kurz vor der Eröffnung des Parlaments, wozu man die königlichen Insignien braucht. Wie das Wetter sein wird, weiß ich natürlich nicht. Ich kann nur hoffen, daß es regnet.«

 

»Sie nehmen also den Gärtner fort?«

 

»Auf jeden Fall«, sagte er. »Ich brauche sowieso dort jetzt einen, der ein guter Schneider ist.«

 

Trotz ihrer gedrückten Stimmung mußte sie lachen.

 

»Warum brauchen Sie einen guten Schneider? Und dann noch eins, Mr. Trayne – Sie versprachen mir eine große Summe. Was habe ich dafür zu tun?«

 

Er sah sie etwas spöttisch an.

 

»Ihre Rolle ist sehr einfach. Sie sollen nur mit Lady Cynthia Ruislip dinieren.«

 

Diana schaute ihn groß an.

 

»Ich soll – mit Lady –?« Sie lachte böse. »Wissen Sie denn, was Lady Ruislip zu mir sagen würde? Nein, der Plan ist völlig unmöglich. Dabei kann ich nicht helfen.«

 

Er stand vom Sofa auf, faltete die Zeitung zusammen und legte sie wieder auf den Tisch, wo er sie gefunden hatte.

 

»Im Gegenteil, Sie können sehr viel helfen. Sie waren doch mit Graham Hallowells Bruder verlobt.«

 

Sie nickte.

 

»Er ist doch ein guter Junge?« fragte er. »Ich kenne ihn gar nicht, ich weiß nur, daß er zu den hochverehrten Leuten gehört.« »Er ist –«, begann sie, aber ein Wink seiner Hand ließ sie schweigen.

 

»Ich will nur wissen, wie er in Uniform aussieht, und das weiß ich bereits. Ich habe zwanzig Momentaufnahmen zu den verschiedensten Zeiten von ihm gemacht, ohne daß er etwas gemerkt hat. Aber in Ihrer Eigenschaft als seine Verlobte haben Sie doch Lady Cynthia kennengelernt?«

 

»Ja«, sagte Diana langsam und war gespannt, was nun kommen würde.

 

»Sie sind ihr also nicht fremd – darum allein handelt es sich. Ich sehe gar keinen Grund, warum Sie nicht am Abend des Sechsundzwanzigsten im Tower speisen sollten.«

 

Sie sagte nichts, aber er konnte deutlich ihren Widerwillen erkennen.

 

»Das ist absolut unmöglich!« entgegnete sie dann.

 

»Ich erwartete, daß Sie das sagen würden.«

 

»Vorausgesetzt, ich würde dort dinieren, von welchem Nutzen könnte es sein?« warf sie ein. »Und glauben Sie nicht, daß man auch mich in die Sache zieht, wenn man Graham verdächtigt und es bekannt wird, daß ich den Abend im Tower verbracht habe?«

 

Er nickte.

 

»Sie dürfen mir vertrauen, daß ich die Situation nach jeder Seite hin reiflich überlegt habe«, sagte er ruhig. »Wenn Sie sich zum Essen dort aufhalten, wird es genügen. Nun hören Sie, Diana – wenn ich mir diese Freiheit herausnehmen darf«, sagte er mit einer leichten Verbeugung.

 

Sie war nicht in der Stimmung, Komplimente anzunehmen, wie ihre ungeduldige Geste bewies.

 

»Es gibt gewisse Sitten und Gebräuche innerhalb des Tower, die auf mittelalterliche Zeiten zurückgehen. – Dazu gehört auch die Ausgabe einer Losung für die Nacht – diese Losung muß ich wissen.«

 

Sie lächelte ihn an.

 

»Und wer soll mir nach Ihrer Meinung diese Information geben?« fragte sie sarkastisch.

 

»Der Oberst!« sagte er. »Sie werden um sieben Uhr in Abendtoilette im Tower sein.«

 

»Und um sieben Uhr fünf Minuten werde ich wieder verschwinden! Sie kennen Lady Cynthia nicht!«

 

»Wenn Sie zur Wohnung des Obersten kommen«, fuhr er fort, ohne sich durch ihre Bemerkung stören zu lassen, »werden Sie sich selbst bei dem Diener melden, den Sie wahrscheinlich kennen, und er wird Sie bei dem Oberst melden –«

 

»Bei Lady Cynthia«, unterbrach ihn Diana.

 

»Bei dem Oberst«, sagte Tiger kühl. »Lady Cynthia wird nicht anwesend sein. Sie wird eine Stunde vorher weggerufen, um jemand zu besuchen. Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie werden Lady Cynthia Ruislip nicht im Tower treffen. Aber der Oberst ist da, und er wird erstaunt, vielleicht auch ein wenig verwirrt sein, Sie zu sehen. Sie werden ihm sagen, daß Sie jemand telefonisch zum Diner eingeladen hätte – Ihrer Meinung nach sei es Lady Cynthia gewesen. Er wird verwundert sein. Sie geben vor, daß Sie deswegen eine sehr wichtige Einladung versäumen mußten. Was kann er anderes tun, als Sie bitten, zum Diner zu bleiben und mit ihm zu speisen? Wie Sie das Paßwort aus ihm herausbringen« – er zuckte die Achseln –, »das muß ich allerdings Ihnen überlassen. Um zehn Uhr werden Sie ihn bitten, Sie nach Hause zu bringen. Er wird Kavalier sein und mitkommen, besonders da Lady Cynthia um diese Zeit anruft, daß sie nicht vor Mitternacht zurückkehren wird.«

 

»Sie sind so sicher, daß sich alles so ereignen wird«, sagte sie.

 

»Ich bin deswegen so sicher, weil ich selbst dafür sorgen werde, daß alles so vor sich geht«, sagte Mr. Trayne. »Ich denke, daß die Losung eines der vier Worte: Newport, Cardiff, Monmouth oder Bristol ist. Prägen Sie sich diese, Namen gut ein. Wenn Sie aus dem Tower herauskommen, wird sich Ihnen ein Zeitungsjunge nähern, und Sie werden sagen ›nein‹, wenn es das erste ist. ›Danke, nein‹, wenn es das zweite ist und so weiter. Und wenn der Oberst Sie nach Hause begleitet hat, was dann? Halten Sie ihn solange wie möglich auf, und wenn er Sie verläßt, gehen Sie zu Bett und träumen Sie« – er streckte seine Hand aus – »von irgend etwas Schönem.«

 

Sie trat zum Fenster und blickte stirnrunzelnd auf die Straße hinunter. Ihr Herz schlug schneller bei dem Gedanken, daß sie dieses Abenteuer nun wirklich wagen sollte. Zum erstenmal erschien ihr die Summe von fünfzigtausend Pfund nicht mehr so ungeheuer groß. Sollte sie sich noch zurückziehen? Um Graham sorgte sie sich nicht, er bedeutete ihr nichts. Ob im Gefängnis oder nicht, er war nur eine Verpflichtung und eine Last. Sie war gespannt, ob er sich scheiden lassen würde, wenn – leider würde er ihr keinen Grund geben, die Klage einzureichen.

 

»Es gefällt mir nicht sehr –«, begann sie endlich und wandte sich um.

 

Das Zimmer war leer. Tiger Trayne hatte den richtigen Augenblick gewählt, sie zu verlassen.

 

Kapitel 6

 

6

 

Lord Lebanon erhob sich, ging mit unsicheren Schritten zur Tür und versuchte, sie zu öffnen, entdeckte aber, daß sie verschlossen war. Er tastete nach dem Schlüssel, fand ihn jedoch nicht. Nur mühsam konnte er seine Gedanken ordnen. Als er wieder zu sich gekommen war, drückte er auf die Klingel neben dem Bett und wartete. Es dauerte ziemlich lange, bis Gilder die Tür aufschloß und endlich eintrat.

 

Dem Amerikaner mußte etwas zugestoßen sein. Sein eines Auge war blutunterlaufen und blau, der Kragen seines Rockes hatte gelitten, die Weste war zerrissen. Gilder sah Willie mit düsterem Blick an.

 

»Wünschen Sie etwas, Mylord?« fragte er schließlich.

 

Lebanon wußte, daß es den Diener große Überwindung kostete, ihn so höflich anzureden.

 

»Wer hat meine Tür verschlossen?«

 

»Ich«, entgegnete Gilder kühl und gelassen. »Ein Mann, der gestern abend ins Schloß kam, fing eine Schlägerei an, und ich wollte verhüten, daß Sie in die Sache verwickelt würden.«

 

Lord Lebanon schaute ihn groß an.

 

»Wer war es denn?«

 

»Sie kennen ihn nicht, Mylord«, erwiderte Gilder kurz. »Kann ich etwas für Sie tun?«

 

»Geben Sie mir etwas Kühles zu trinken, was den Durst stillt. Der Whisky gestern abend taugte nichts.«

 

Wenn der Diener auch den Argwohn des Lords spürte, gab er es doch nicht zu erkennen.

 

»Das sagte der andere Herr auch. Ich glaube, der Whisky hier in der Gegend ist überhaupt nicht besonders gut. Ich werde Mylady bitten, aus der Stadt welchen kommen zu lassen.«

 

»Wo ist meine Mutter?« fragte Willie Lebanon schnell. »War sie zugegen, als –«

 

»Nein, sie war in ihrem Zimmer.«

 

»Was ist denn passiert?« forschte der junge Mann weiter.

 

Gilder schaute ihn mit einem grimmigen Lächeln an.

 

»Vielleicht wollen Sie es sich selbst ansehen?«

 

Lord Lebanon schlüpfte in seine Pantoffeln und folgte ihm den Gang entlang, dann die breite Treppe hinunter, die zur Halle führte.

 

Unten bemerkte er Brooks, der in Hemdsärmeln war und allem Anschein nach versuchte, wieder Ordnung zu schaffen. Ein Tisch war umgestoßen, die eine Ecke des Empire-Sofas zertrümmert; eine kleine Porzellanuhr lag in Scherben auf dem Boden, und vier elektrische Kerzen in dem großen Kronleuchter hingen beschädigt zur Seite. Willie sah sich erstaunt um.

 

»Wer hat das getan?« fragte er, indem er sich bemühte, Haltung anzunehmen und den Hausherrn zu spielen.

 

»Ein Freund von Dr. Amersham«, erwiderte Gilder gehässig, aber Willie achtete nicht darauf.

 

Überall lagen Glasscherben verstreut; vermutlich war die Whiskyflasche zu Boden gestürzt und zerbrochen. Auch eins der starken Eichenpaneele war zertrümmert.

 

»Es sieht aus, als ob ein Wahnsinniger hier losgelassen worden wäre.«

 

Gilder fuhr auf, denn diese Worte erschreckten ihn.

 

»Ja, der Mann benahm sich so – ich meine, der Freund von Dr. Amersham.«

 

Es war halb vier Uhr, und im Osten graute bereits der Morgen, als sich der Lord wieder hinlegte.

 

Willie wußte, daß man ein Betäubungsmittel in den Whisky gemischt hatte, aber er fühlte sich so erschöpft, daß er keiner weiteren Nachforschungen fähig war.

 

Kapitel 7

 

7

 

Obwohl Chefinspektor Tanner in seinem Beruf praktisch und nüchtern dachte und handelte, hatte er sich den Sinn für Romantik bewahrt.

 

Im Augenblick beschäftigte er sich mit dem Kartenindex in der Registratur von Scotland Yard. Alle gewohnheitsmäßigen Verbrecher und Spezialisten blieben sich in ihren Arbeitsmethoden ziemlich gleich, so daß man sie in einem Index zusammenfassen konnte. Und in dieser Kartei suchte Mr. Tanner nun nach den Namen der Leute, die seit Gründung dieses Indexes andere erstickt oder erwürgt hatten oder wenigstens bei einem Versuch, das zu tun, ertappt worden waren. Die meisten dieser Menschen hatte man später durch den Strang hingerichtet. Einige, die ihre Mordabsichten nicht voll hatten ausführen können, saßen noch in den Gefängnissen. Aber Mr. Tanner konnte kein Verbrechen auffinden, das dem von Marks Priory ähnlich war. Es gab eine Anzahl von Männern und auch Frauen, die andere Leute mit einem Strick oder einer Schnur hatten erwürgen wollen, aber obwohl er einen nach dem anderen genauer ins Auge faßte, konnte er doch keinen Namen entdecken, der sich mit dem Verbrechen von Marks Priory irgendwie in Zusammenhang bringen ließ.

 

Er ging in sein Büro hinunter und fand dort Sergeant Totty, der gemütlich auf dem Stuhl seines Chefs saß.

 

Sergeant Totty konnte genial lügen, wenn es galt, seine eigenen Heldentaten ins rechte Licht zu setzen, und er hatte ein Vorurteil gegen gebildete Vorgesetzte, die einen gewissen Grad von Kenntnissen voraussetzten, ehe sie andere Beamte zur Beförderung zuließen.

 

Totty ging zum Fenster und blickte auf das belebte Themseufer hinaus. In der letzten Woche hatte es wenig Abwechslung im Dienst gegeben.

 

»Wer ist Amersham?« fragte Tanner plötzlich.

 

»Wie?« erwiderte Totty überrascht. »Amersham ist eine Stadt in Kent.«

 

»Amersham«, entgegnete Inspektor Tanner geduldig, »ist eine Stadt in Buckinghamshire, aber ich rede nicht über die Stadt, sondern über Dr. Amersham.«

 

Totty verzog den Mund.

 

»Ach, Sie meinen den Kerl in Marks Priory? Der ist ein Arzt.«

 

»Auch das weiß man nicht genau. Er führt zwar den Doktortitel, aber es ist nicht sicher, ob er ein Doktor der Philosophie oder der Medizin ist.«

 

Tanner nahm sein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin, bis er die Eintragung fand, die er suchte.

 

»Dr. Amersham hat eine Wohnung in der Devonshire Street, in einem großen Haus mit vielen Einzelappartements. Die Gegend ist sehr teuer und für einen Doktor reichlich vornehm, außerdem hält der Mann auch ein paar Rennpferde. Er war in Indien, und deshalb nehme ich an, daß er Doktor der Medizin ist. Ich möchte gern wissen, was er eigentlich in Marks Priory zu tun hat, und in welcher Beziehung er zu der Familie Lebanon steht.«

 

»Ist es nicht möglich, daß er den Mord begangen hat?«

 

»Ebensogut könnten Sie und eine Menge anderer Leute das Verbrechen verübt haben.«

 

»Ich muß Ihnen noch sagen, was ich mir aufgeschrieben habe, als ich dort war.« Totty sprach jetzt dienstlich, und sein Chef horchte auf. »Die haben einen Parkwächter – einen gewissen Tilling –, der macht immer ein böses, brummiges Gesicht. Ich habe ihn dort im Gasthaus getroffen. Er hatte die Hände auf den Schanktisch gelegt; so große, harte Hände habe ich noch nie gesehen. Ich sprach mit dem Wirt darüber, und der erzählte mir, daß Tilling einmal einen Hund nur mit den bloßen Händen getötet hat.«

 

»Donnerwetter, das ist allerdings ein starkes Stück!«

 

Totty lächelte und freute sich über den Eindruck, den seine Worte hervorgerufen hatten.

 

»Ja, ich halte die Ohren offen. Sie denken zwar manchmal, ich wäre nicht besonders tüchtig, aber wenn etwas im Gang ist –«

 

»Also, Sie sagten, der Mann hätte einen Hund erwürgt? Warum haben Sie mir das nicht schon früher mitgeteilt?«

 

»Ich habe leider nicht daran gedacht. Übrigens hat er auch eine Frau, die sehr hübsch sein soll. Man sagt im Dorf, daß sie zuviel nach den jungen Leuten schaut. Zwei oder drei ihrer Liebesaffären sind bekannt. Ach, da fällt mir eben etwas ein: Studd gehörte auch zu ihren Liebhabern.«

 

»Was haben Sie sonst noch gehört? Diesen Tilling habe ich übrigens gesehen. Er ist ein großer, düsterer Mensch, ich kann mich genau auf ihn besinnen.«

 

Totty sah zur Decke auf, als ob er dort etwas erfahren könnte. »Das ist alles, was ich darüber weiß. Nur noch eins: Tilling war in der Mordnacht in London. Mit dem Sohn des Gasthauswirtes war er in der Hauptstadt. Deshalb habe ich der Sache auch keine weitere Bedeutung beigelegt und mich nicht eingehender danach erkundigt.«

 

»Das können wir ja leicht nachprüfen. Ich werde einmal nach Thornton fahren und mich ein wenig mit der Frau unterhalten. Aber vorher möchte ich diesen Dr. Amersham sprechen.«

 

Er sah nach der Uhr, es war halb fünf.

 

»Soll ich Sie begleiten?« fragte Totty.

 

»Ich glaube nicht, daß das notwendig ist. Bleiben Sie ruhig hier, und überlegen Sie sich, was Sie sonst noch alles zu berichten vergessen haben. Sie wissen doch, wohin Tilling und der Sohn des Gastwirtes gegangen sind, als sie in London waren?«

 

Totty klopfte langsam mit einem Finger gegen die Stirn, dann lächelte er.

 

»Ja, ich weiß es. Alles steht in meinem Kopf. Mein Gehirn ist so gut wie eine Kartei, ich vergesse nie etwas! Die beiden besuchten den Bruder des Gasthauswirts, der auch eine Wirtschaft in London hat. Er feierte seinen Geburtstag oder sonst eine Gelegenheit. Der junge Tom fuhr mit Tilling zur Stadt, und sie brachten die Nacht dort zu.«

 

»Stellen Sie fest, ob das stimmt«, erwiderte Tanner kurz.

 

Eine halbe Stunde später suchte er Ferrington Court auf, wo sich die Wohnung Dr. Amershams befand. Es war ein modernes, großes Gebäude.

 

»Dr. Amersham zu Hause?« fragte er den Portier.

 

»Jawohl, er ist in seiner Wohnung. Erwartet er Sie?«

 

»Hoffentlich nicht«, entgegnete Tanner lächelnd.

 

Er war gerade in den Lift getreten, als ein Mann zur Haustür hereinstürzte und quer durch die Halle auf den Fahrstuhl zueilte. Er trug die Kleidung eines Geistlichen und hatte ein etwas bleiches Gesicht, das von vielem Studieren zeugte. Er lächelte dem Portier wohlwollend zu und grüßte Bill Tanner höflich durch Kopfnicken.

 

Sie fuhren beide bis zum dritten Stock, und als sich die Tür öffnete, folgte Tanner dem Geistlichen auf den Korridor hinaus. Dort sah er, daß dieser auf die Tür der Wohnung Nr. 16 zuging, die auch er aufsuchen wollte.

 

Ein junger Diener öffnete. Allem Anschein nach war der Geistliche hier kein Unbekannter. Der Angestellte glaubte, daß Mr. Tanner in dessen Begleitung gekommen wäre.

 

»Ich werde dem Doktor sagen, daß Sie hier sind, Mr. Hastings«, erklärte er und ließ sie dann allein.

 

»Ich habe es nicht sehr eilig«, sagte der Geistliche freundlich. »Ich bin der Vikar von Petersfield. Wenn es also bei Ihnen nicht zu lange dauert, will ich gern warten – mein Name ist John Hastings. Kennen Sie Petersfield?«

 

»Ja, ich habe davon gehört«, entgegnete Tanner liebenswürdig.

 

Der Vikar beugte sich zu dem Beamten vor und sprach vertraulich mit ihm.

 

»Ich fürchte, daß ich unserem Freund Amersham mit der Zeit auf die Nerven falle. Diesmal handelt es sich um den neuen Gemeindesaal für unseren Ort. Es ist schrecklich für mich – sieben Jahre bauen wir schon daran und haben ihn noch nicht fertigstellen können. Der Doktor war sehr freundlich –«

 

Er räusperte sich, denn die Tür öffnete sich, und Dr. Amersham trat herein. Das Lächeln, mit dem er den Vikar begrüßte, schwand, als er den Chefinspektor sah.

 

»Guten Abend, Mr. Tanner. Sie sind es doch?«

 

»Das ist mein Name. Sie haben ein gutes Gedächtnis.«

 

»Ja, geradezu fabelhaft«, stimmte Mr. Hastings bei. »Ich erhielt einen glänzenden Beweis dafür, als der Doktor einmal nach Petersfield kam, um eine, wenn ich so sagen darf, wichtige Sache zu erledigen –«

 

»Ich kann mich eine Viertelstunde mit Ihnen unterhalten, Mr. Tanner. Wollen Sie so liebenswürdig sein und ins Wohnzimmer kommen?«

 

Amersham hatte den Geistlichen rücksichtslos unterbrochen.

 

»Sie verzeihen einen Augenblick«, wandte er sich nachträglich an ihn.

 

Dann ging er schnell durch die offene Tür, und als der Chefinspektor eingetreten war, schloß er sie.

 

»Nun, Mr. Tanner, hat man in dieser unangenehmen Angelegenheit etwas Neues entdeckt?«

 

»Nichts Wichtiges. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir irgendwie helfen könnten.«

 

Dr. Amersham sah ihn nachdenklich an, verzog den Mund und schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube nicht, daß Sie von mir etwas erfahren können. Es war schrecklich für mich und auch für Lady Lebanon – geradezu furchtbar. Dabei war Studd nicht einmal ein besonders angenehmer Mensch. Ich hatte einige Meinungsverschiedenheiten mit ihm, weil er sich sehr unverschämt benahm. Er war auch kein guter Chauffeur.«

 

Studd war in Wirklichkeit ein ausgezeichneter Chauffeur gewesen, aber Amersham konnte es sich nicht versagen, in diesem Augenblick schlecht über ihn zu sprechen.

 

»War er nicht auch ein Schürzenjäger?«

 

Der Doktor starrte ihn an.

 

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Von seinem Privatleben wußte ich wenig. Spielte eine Frau dabei eine Rolle?«

 

Tanner lachte und schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht viel mehr als Sie, aber ich habe gehört, daß er ein Verhältnis mit der Frau des Parkwächters gehabt haben soll, einer Mrs. …« Er machte eine Pause, als ob er sich auf den Namen besinnen müßte. »Einer Mrs. Tilling – kann das stimmen?«

 

Der Doktor warf den Kopf zurück. Diese Andeutung verletzte seine Eitelkeit.

 

»Das ist unmöglich!« entgegnete er schnell. »Mrs. Tilling ist eine durchaus anständige Frau. Geradezu lächerlich, daß die ein Verhältnis mit Studd gehabt haben soll!«

 

»Sie ist wohl sehr hübsch?«

 

»Ja, ich glaube«, entgegnete Amersham kurz. »Aber Sie irren sich, wenn Sie annehmen, daß Studd in Beziehungen zu Mrs. Tilling gestanden hat. Sie ist sehr zurückhaltend. Wer hat Ihnen denn eigentlich dieses Märchen aufgebunden?«

 

Der Inspektor zuckte die breiten Schultern.

 

»Es ist ein Gerede, das man gelegentlich hört und sich merkt«, erwiderte er gut gelaunt. »Soviel ich weiß, ist ihr Mann sehr eifersüchtig. Ist Ihnen das auch bekannt?«

 

»Ihr Mann ist ein unmöglicher Mensch«, erwiderte Amersham ärgerlich. »Unvernünftig und brutal. Schon oft hat er seine Frau bedroht.«

 

Er fühlte, daß Tanner ihn interessiert ansah.

 

»Ich kenne sie natürlich nicht sehr genau«, fuhr er hastig fort. »Nur als Arzt bin ich bei ihr gewesen. Selbstverständlich hört man im Dorf allerlei, aber ich kümmere mich nicht um Klatsch.«

 

Tanner wußte, daß er hier den Hebel anzusetzen hatte. Darüber mußte er weitere Auskunft haben. Aber Amersham war bestrebt, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen.

 

»Ich dachte, Sie kennen sie besonders gut«, sagte Tanner in aller Unschuld, »sonst hätte ich die Frau gar nicht erwähnt.«

 

»Warum sollte ich sie denn genauer kennen?« fragte Amersham kalt. »Für mich ist sie die Frau eines Angestellten der Lady Lebanon – weiter nichts. Ich interessiere mich für die Angestellten – selbstverständlich nur als Arzt.«

 

»Gewiß«, pflichtete der Beamte bei. »Ihrer Meinung nach ist also das Gerede über – sagen wir einmal die Freundschaft zwischen Studd und Mrs. Tilling nicht am Platze.«

 

»Durchaus nicht«, erklärte der Arzt mit Nachdruck. »In einem so kleinen Dorf haben die Leute natürlich weiter nichts zu tun als zu klatschen und böse Bemerkungen über ihre Mitmenschen zu machen.«

 

Er zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Eigentlich hatte ich erwartet, daß Sie mir eine Menge Neuigkeiten über den Fall erzählen könnten. In Scotland Yard weiß man doch sonst immer so gut Bescheid.«

 

»Sensationen erleben wir im allgemeinen nicht«, erwiderte der Inspektor leichthin, »denn unsere Behörde ist nur eine ganz gewöhnliche Regierungsstelle. Wenn Sie von aufregenden Abenteuern hören wollen, müssen Sie zum Geheimdienst oder zur politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes gehen. Aber ich möchte Sie jetzt nicht länger aufhalten. Ihr Freund wartet.«

 

Et reichte dem Arzt die Hand.

 

»Meinen Sie Mr. Hastings? Kennen Sie ihn?«

 

Amersham stellte die Frage ziemlich gleichgültig, aber Tanner hörte doch die Nervosität aus dem Ton heraus. Als der Beamte den Kopf schüttelte, atmete der Doktor erleichtert auf.

 

»Ein interessanter Landgeistlicher«, sagte Amersham. »Ich habe ihn manchmal unterstützt, wenn er Geld für die Gemeinde brauchte. Ist es übrigens wahr, Mr. Tanner, daß sich in der Mordnacht ein bekannter Verbrecher in Marks Thornton aufhielt? Ich habe davon gehört und dachte mir gleich, daß Sie dort eine wichtige Spur gefunden hätten.«

 

»Ich möchte Briggs nicht gerade einen bekannten Verbrecher nennen. Er ist allerdings wiederholt verurteilt worden, aber wegen anderer Dinge. Als Mörder kommt der Mann nicht in Betracht; er ist ein Fälscher. Vielleicht haben Sie ihn in Indien getroffen? Soviel ich weiß, waren Sie auch einige Zeit dort?«

 

Der Doktor hatte seine Gesichtsmuskeln in der Gewalt, aber er konnte doch nicht verhindern, daß er rot wurde.

 

»Nein, ich habe ihn niemals getroffen«, entgegnete der Arzt langsam. »Ich habe nicht einmal von ihm gehört. In Indien war ich wohl, aber das ist schon fünf oder sechs Jahre her. Damals stand ich in Regierungsdiensten, aber die Stellung war undankbar, und ich nahm meinen Abschied… die dauernde Kursänderung der Rupie… und dann die entsetzlichen Verhältnisse, unter denen man dort arbeiten mußte…«

 

Das Sprechen fiel ihm schwer, und er wußte kaum, wie er fortfahren sollte. Aber gleich darauf hatte er sich wieder in der Gewalt und zeigte lächelnd seine weißen Zähne.

 

»Wenn Sie glauben, daß ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann, rufen Sie mich doch bitte an, Mr. Tanner. Gewöhnlich bin ich hier in London, aber zwei bis drei Tage in der Woche halte ich mich in Marks Priory auf. Lady Lebanon und ich schreiben zusammen ein Buch über Heraldik. Das muß zunächst noch geheimgehalten werden, und ich hoffe, daß Sie nicht darüber sprechen, besonders nicht zu ihr, da sie sich sonst ärgern würde. Ich bin auf diesem Spezialgebiet eine Kapazität.«

 

Als Tanner die Wohnung verließ, dachte er über verschiedene Probleme nach. Der Portier saß in seiner Loge, lächelte ihn an und versuchte, die Aufmerksamkeit des Beamten auf sich zu lenken. Aber Tanner war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt. Der Vikar hatte ihm erzählt, daß Amersham bei einer wichtigen Gelegenheit zu der Dorfkirche gekommen wäre; diesen Anhaltspunkt mußte man verfolgen. Warum hatte sich der Doktor verfärbt, als Briggs erwähnt wurde? In welchen Beziehungen stand er zu diesem Verbrecher, der den größten Teil seines Lebens wegen Betrugs und Falschmünzerei im Gefängnis zugebracht hatte? Und warum hatte er mit solchem Nachdruck eine Bekanntschaft mit Mrs. Tilling abgelehnt?

 

Die Erklärung für die letzte Frage war ziemlich einfach; wahrscheinlich hatten die beiden, wie der Dorfklatsch behauptete, tatsächlich ein Verhältnis miteinander.

 

Tanner trat auf die Devonshire Street hinaus und hielt nach einem Taxi Ausschau. Im gleichen Augenblick drehte sich ein Mann, der auf der anderen Seite der Straße gestanden hatte, plötzlich um und betrachtete in einem Schaufenster interessiert die medizinischen Instrumente. Da er sich aber nicht schnell genug umgewandt hatte, konnte Tanner ihn erkennen. Es war niemand anders als Tilling, und Tanner war davon überzeugt, daß der Parkwächter die Wohnung Dr. Amershams beobachtete.

 

Kapitel 8

 

8

 

Der Chefinspektor wollte gerade die Straße überqueren und sich Tilling nähern, als dieser davonrannte. Der Mann mußte den Beamten in der Spiegelung des Schaufensters gesehen haben, denn er bog rasch in eine Seitengasse ab. Tanner folgte ihm, aber als er die Straße entlangschaute, konnte er den Parkwächter nicht mehr entdecken. Er bemerkte nur ein Taxi, das sich dem Ende der Straße näherte, und vermutete, daß Tilling in dem Wagen saß.

 

Als er nach Scotland Yard zurückkehrte, war sein Interesse an dem Mord von Marks Priory aufs neue erwacht. Während er noch in seinem Büro saß, kam Totty zurück.

 

»Ich habe diese Angaben nachgeprüft. Sie stimmen. Tilling hat die Nacht über in dem Gasthaus in New Cut geschlafen –«

 

»Sie hatten aber gar nicht Zeit genug, nach New Cut zu gehen«, entgegnete Tanner.

 

»So altmodisch bin ich auch nicht. Wozu gibt es denn Telefon?«

 

»Telefonische Anfragen sind bei polizeilichen Erkundigungen dieser Art absolut nicht am Platz«, entgegnete der Vorgesetzte streng.

 

»Ich kenne den Wirt persönlich sehr gut. Tilling hat dort in dem Gasthaus geschlafen und ist am nächsten Morgen zurückgefahren. Er ist übrigens ein großer Freund des jungen Tom.«

 

»Totty, ich gebe Ihnen jetzt einen Auftrag, wie Sie sich ihn nicht besser wünschen können. Gehen Sie nach Ferrington Court und beobachten Sie Dr. Amersham. Stellen Sie fest, ob er zu Hause ist, wann er ausgeht, wer ihn besucht und so weiter. Biedern Sie sich mit seinem Diener an – er hat einen jungen Menschen in der Wohnung. Vielleicht können Sie auch von dem Portier und den Kaufleuten brauchbare Nachrichten erhalten.«

 

Totty stöhnte.

 

»Das ist aber kaum eine Aufgabe für einen Sergeanten –«

 

»Sie haben wie immer unrecht, Totty. Ich würde keinen anderen damit beauftragen als Sie. Es wäre möglich, daß der Fall in Marks Priory eine ganz neue Wendung nimmt, und Sie sollen dabeisein. Aber wenn es Ihnen nicht paßt, kann ich Ferraby senden, den hält niemand für einen Detektiv –«

 

»Mich hält auch keiner dafür«, entgegnete Totty etwas lauter als notwendig. »Ich will nichts gegen Sergeant Ferraby oder einen jüngeren Beamten sagen, aber wenn Sie mir den Auftrag geben, werde ich ihn auch ausführen.«

 

Sergeant Ferraby war Totty ein Dorn im Auge, denn er hatte eine gute Schulbildung genossen. Außerdem konnte er sich tadellos benehmen, und alle Leute hatten ihn gern. Er hatte seine Begabung gezeigt; infolgedessen war er schnell befördert worden. Im geheimen bewunderte Totty ihn jedoch und versuchte sogar, ihn nachzuahmen.

 

Als er in die Halle des großen Wohnblocks Ferrington Court trat, hatte er nicht die geringste Hoffnung, schnell mit dem Portier oder einem der Hausangestellten bekannt zu werden.

 

Besonders der Portier machte in seiner Uniform mit den vielen Goldtressen einen unnahbaren Eindruck.

 

Hätte Tanner schärfer beobachtet, so hätte er in dem Mann mit der glänzenden Livree einen früheren Polizeibeamten erkannt, einen gewissen Bould. Totty sah das auf den ersten Blick und begrüßte Bould herzlich als einen alten Freund.

 

»Es ist doch merkwürdig, daß Tanner mich nicht wiedererkannt hat, als er heute nachmittag hier war«, meinte der Portier. »Worauf ist er denn aus? Doch nicht auf diesen Amersham?«

 

»Warum nicht? Aber wie kommen Sie denn hierher? Sie sehen aus wie ein Kinoportier.«

 

Bould betrachtete düster seine goldbetreßten Ärmel.

 

»Ich weiß nicht, warum sie in einem so vornehmen, ruhigen Haus den Portier ausputzen wie einen Weihnachtsmann. Tanner ließ sich heute zur Wohnung von Amersham hinauffahren. Ich glaube, das hat mit dem Mord zu tun, der neulich auf dem Land passiert ist.«

 

»Was ist denn dieser Amersham eigentlich für ein Kerl?«

 

Bould schüttelte den Kopf.

 

»Er behandelt seine Dienstboten, als ob Sie Hunde wären. Ein hochnäsiger Patron! Ich könnte ein paar Dinge erzählen, wenn ich wollte«, fügte er geheimnisvoll hinzu.

 

Bould hatte einen kleinen Aufenthaltsraum, nahm Totty dorthin mit und bot ihm einen Stuhl an.

 

»Wenn Sie sich hier in die Ecke setzen, kann Sie keiner sehen, der hereinkommt. Amersham hat hier eine Gesellschaft gegeben – vor etwa zwei Monaten. Alle anderen Hausbewohner haben sich beschwert… na, ich sage Ihnen: Weiber… Sekt…«

 

»Das glaube ich«, pflichtete Totty bei und fragte dann begierig nach weiteren Einzelheiten. Aber die interessanten Dinge waren alle hinter verschlossenen Türen passiert; Mr. Bould konnte nur erzählen, was er von dem Nachtportier erfahren hatte.

 

»Ist Amersham zu Hause?«

 

»Nein. Vor einer halben Stunde ist er ausgegangen. Aber er ist bald wieder hier – er hat eine Verabredung. Eine junge Dame will ihn besuchen. Er hat mir ausdrücklich gesagt, ich soll sie ins Wartezimmer führen, wenn sie früher kommt als er. Wir haben einen wunderbaren Raum dafür – haben Sie ihn schon gesehen?«

 

»Nein, der interessiert mich auch nicht«, entgegnete Totty. »Wo ist denn der Diener? Heißt er nicht Joe?«

 

Mr. Bould zwinkerte dem Sergeanten zu. »Der ist auch ausgegangen, Amersham hat ihn heute abend schon frühzeitig weggeschickt. Ein Angestellter stört doch nur bei solchen Besuchen. Ist Tanner hinter dem Doktor her? Hat der Kerl etwas ausgefressen? Ich würde mich nicht wundern, wenn er verschiedenes auf dem Kerbholz hätte. Verdächtig ist er mir schon immer vorgekommen… Erstens hat er unglaublich viel Geld – das muß er von jemand auf dem Land bekommen, soviel ich erfahren habe. Außerdem schläft er nur etwa drei Nächte in der Woche hier in der Wohnung. Er gibt Gesellschaften, geht ins Theater und verjubelt Zeit und Geld.«

 

»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Totty und nickte.

 

Plötzlich warf er dem Portier einen warnenden Blick zu und drückte sich in die Ecke. Schnelle Schritte ertönten auf dem Marmorboden der Vorhalle. Bould drehte das Licht aus und verließ seinen Raum. Im nächsten Augenblick sah Totty, daß Dr. Amersham vorüberging. Der Arzt fragte Bould etwas, dann wurde eine Tür zugeschlagen, und der Lift fuhr in die Höhe.

 

Gleich darauf hörte Totty andere Schritte, lugte vorsichtig um die Ecke und bemerkte eine junge Dame. Zu seinem höchsten Erstaunen erkannte er Isla Crane, die er in Marks Priory kennengelernt hatte.

 

Sie trug einen langen Mantel und einen kleinen schwarzen Hut, den sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Aber Totty vergaß kaum einen Menschen, den er einmal gesehen hatte. Sie war ein wenig bleich und machte einen nervösen Eindruck.

 

Sie schaute nach links und nach rechts und ging schon auf die Tür der Portierloge zu, aber gerade noch rechtzeitig kam der Fahrstuhl herunter, und Bould trat auf sie zu.

 

»Sie wünschen doch Dr. Amersham zu sprechen?«

 

»Ja, bitte«, erwiderte sie leise.

 

Totty wartete, bis Bould zurückkehrte.

 

»Das ist sie«, sagte der Portier. »Sie sieht gut aus, nicht wahr? Aber alle Mädels, die herkommen, haben ein hübsches Gesicht. Wenn das meine Tochter wäre –«

 

Er machte ein grimmiges Gesicht. Totty entgegnete nichts darauf, denn Islas Besuch bei Dr. Amersham erschien ihm nicht so sonderbar. Sie war die Sekretärin Lady Lebanons und brachte dem Arzt vielleicht eine Botschaft von ihrer Herrin. Ihr bleiches Gesicht und ihr nervöses Verhalten paßten allerdings wenig zu dieser Theorie.

 

»Ist es nicht möglich, daß ich in die Wohnung schauen könnte?« fragte Totty plötzlich.

 

Mr. Bould wurde ernst.

 

Als alter Polizist fand er es selbstverständlich, daß der Sergeant mit einem Nachschlüssel in die Wohnung eindringen oder sich wenigstens in der leeren Wohnung neben den Räumen von Dr. Amersham aufhalten durfte. Von dort aus konnte Totty auf den gemeinsamen Balkon hinaustreten, der auch an der Wohnung des Arztes entlangführte. Nur ein eisernes Gitter, über das man leicht hinüberklettern konnte, trennte den Balkon in zwei Abteilungen.

 

Aber jetzt war Bould hier Portier und hatte über die Hausbewohner zu wachen. Dafür erhielt er doch sein Gehalt. Er konnte seine Stellung verlieren, wenn er sich etwas zuschulden kommen ließ.

 

»Ich weiß nicht recht, Sergeant, ob das geht«, sagte er und kratzte sich das Kinn.

 

Totty redete jedoch einige Zeit auf ihn ein, und schließlich fuhren sie beide mit dem Fahrstuhl hinauf.

 

*

 

Kaum hatte Isla Crane geklingelt, als sich die Wohnungstür des Doktors auch schon öffnete.

 

»Ach, treten Sie doch näher, Miss Crane.«

 

Dr. Amersham war in der besten Laune, sprach väterlich zu ihr und war viel freundlicher, als er sich jemals in Gegenwart von Lady Lebanon gezeigt hatte.

 

»Es ist außerordentlich liebenswürdig, daß Sie gekommen sind. Wollen Sie nicht ablegen?«

 

Aber Isla war nicht gekommen, um sich unterhalten zu lassen.

 

»Nein, danke. Ich kann nur ein paar Minuten bleiben. Woher wußten Sie eigentlich, daß ich in der Stadt bin?«

 

Amersham lächelte, als er sie ins Wohnzimmer führte.

 

»Ich habe mit Mylady telefoniert, und sie sagte mir, daß Sie in London waren. Sie haben doch den Abend noch frei? Hoffentlich habe ich Ihr Programm nicht verdorben. Es ist überhaupt unverantwortlich, daß Sie soviel Zeit in dem düsteren Herrenhaus von Marks Priory zubringen müssen.«

 

»Ich fahre morgen früh nach Stevenage, um meine Mutter zu besuchen«, entgegnete sie kurz.

 

Er schob ihr einen Sessel hin, aber sie setzte sich nicht.

 

»Lady Lebanon nannte mir das Hotel, in dem Sie logieren, und es war ein glücklicher Zufall, daß ich Sie traf, bevor Sie ausgingen.«

 

»Was wollen Sie denn von mir?«

 

Der Ton ihrer Stimme klang durchaus nicht liebenswürdig.

 

»Ich wollte hier keinen Freundschaftsbesuch machen«, erklärte sie kühl, als er sich vorwurfsvoll über ihr ablehnendes Wesen äußerte. »Wenn Sie mir nicht gesagt hätten, Sie wollten mich dringend wegen Lady Lebanon sprechen, wäre ich überhaupt nicht gekommen.«

 

»Aber Isla, wie kann man nur so abweisend und kalt sein! Darf ich Ihnen jetzt Ihren Mantel abnehmen?«

 

Sie trat einen Schritt zurück.

 

»Warum wollten Sie mich sprechen?«

 

Es fiel ihm außerordentlich schwer, eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen.

 

»Willie Lebanon will Sie heiraten, ist Ihnen das bekannt?«

 

Sie antwortete nicht darauf.

 

»Was sagen Sie denn dazu? Sie werden Gräfin Lebanon werden und haben dann den Vortritt vor allen Baroninnen und Angehörigen des niederen Adels. Übrigens brauchen Sie Mylady nicht zu erzählen, daß ich Sie zu mir gebeten habe.«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Warum denn nicht, wenn es sie doch angeht?«

 

»Es geht sie und mich etwas an – Ihre voraussichtliche Heirat. Es wäre wirklich sehr gut für Sie, Isla. Der junge Lord wird Ihnen sofort einen Teil seines Vermögens überschreiben, vielmehr Lady Lebanon wird das tun. Ihnen scheint aber der Plan nicht zu gefallen?«

 

»Lady Lebanon hat mir das auch angedeutet, aber ich möchte mich nicht verheiraten. Das habe ich ihr auch klar gesagt.«

 

Er lachte.

 

»Ich glaube aber, sie hat sich aus Ihrer Absage nicht viel gemacht. Lady Lebanon ist eine Natur, die sich überall durchsetzt. Man kann sich ihr kaum entgegenstellen, wenn sie ihren Willen durchführen will.«

 

Er war enttäuscht, daß sie nicht antwortete, und wurde nervös. »Warum ziehen Sie nur Ihren Mantel nicht aus? Wir beide sollten doch zusammenhalten. Lady Lebanon betrachtet uns wie ein paar bessere Dienstboten. Wir bekommen unser Gehalt und müssen unsere wahren Gefühle verbergen –«

 

»Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?« fragte sie eisig. »Wenn nicht, dann gehe ich jetzt.«

 

Sie wandte sich halb um, aber bevor sie ahnte, was geschehen würde, riß er sie an sich. Er hielt sie so fest, daß sie sich nicht wehren konnte. Sie fühlte seinen Schnurrbart an ihrer Wange, und seine Augen blitzten so unheimlich, daß sie erschrak.

 

»Isla, niemand in der Welt kann sich mit dir vergleichen«, stieß er atemlos hervor. »Ich möchte dein Freund sein, ich will dir helfen.«

 

»Lassen Sie mich einen Augenblick los«, sagte sie mit erzwungener Ruhe.

 

Er ließ sich täuschen. Kaum hatte er den Griff etwas gelockert, als sie sich plötzlich von ihm frei machte, zu der Wand eilte und den Daumen auf einen kleinen Knopf legte, der unauffällig an der Wand angebracht war.

 

»Machen Sie bitte die Tür auf und gehen Sie dann in das andere Zimmer.«

 

Amersham atmete schnell. Er sagte nichts; er wußte, daß er im Augenblick geschlagen war. Wütend riß er die Zimmertür auf, trat in den Vorraum und schloß die Wohnungstür auf.

 

»Sie können gehen. Es war töricht von mir, daß ich Ihnen helfen wollte.«

 

Sie zeigte auf die andere Tür am Ende des Wohnzimmers.

 

»Aber machen Sie doch nicht solche Geschichten. Sie sind vollkommen sicher –«

 

»Ich bin so lange sicher, wie ich den Daumen auf dem Knopf für Feueralarm habe«, entgegnete sie ruhig. »Und Sie wollen sich doch wohl nicht blamieren? Sie würden eine lächerliche Figur machen, wenn die Feuerwehr hierherkommt!«

 

Auf dem Balkon stand Sergeant Totty im Dunkeln und nickte befriedigt.

 

Er sah, daß sich die Wohnungstür hinter Isla schloß, und beobachtete dann die Rückkehr des Doktors in das Wohnzimmer.

 

»Großartig«, murmelte Sergeant Totty beifällig.

 

Einige Zeit ging Amersham nervös auf und ab. Dann hörte Totty, daß das Telefon klingelte. Amersham ging zum Apparat und nahm den Hörer ab. Gleich darauf runzelte er ärgerlich die Stirn, sagte etwas, was Totty nicht verstehen konnte, drehte das Licht aus und ging ins Schlafzimmer.

 

Totty schlich sich auf dem Balkon entlang; die Vorhänge waren von innen vorgezogen, aber es gelang ihm doch, durch einen Spalt an der Seite zu sehen. Auf diese Weise konnte er den Bewegungen Amershams folgen, der eine Schublade aufzog, einen Gegenstand herausnahm und in die Tasche steckte. Was es war, konnte Totty nicht erkennen, aber er vermutete, daß es sich um einen Browning handelte.

 

Im Schlafzimmer befand sich auch ein Telefonapparat. Der Doktor benützte ihn und sprach etwa zwei Minuten lang. Allem Anschein nach war es ein Haustelefon.

 

Der Arzt nahm seinen Mantel aus dem Kleiderschrank und legte ein weißes Seidentuch um den Hals, während Totty zu der leeren Wohnung zurückschlich. Der Sergeant war schon in der Eingangshalle, als Amersham herunterkam.

 

»Der Doktor geht aus«, sagte Bould. »Eben hat er mit seinem Chauffeur telefoniert. Der Wagen steht auch schon draußen. Warten Sie einen Augenblick!«

 

Bould ging hinaus und sprach mit dem Chauffeur.

 

»Amersham fährt nach Marks Priory«, flüsterte der Portier dem Sergeanten zu, als er zurückkam. »Sie sollten einmal mit dem Chauffeur sprechen – was der nicht alles von seinem Herrn erzählt! Dabei hat er den Posten noch nicht lange. Er ist in diesem Monat schon der zweite.«

 

Die Klingel vom Fahrstuhl unterbrach ihn. Er eilte hin und kam bald darauf mit Dr. Amersham zurück, der schnell auf die Straße trat.

 

Erst als das Auto abfuhr, kam Sergeant Totty aus seinem Versteck heraus.

 

»Ein merkwürdiger Kerl.«

 

»Haben Sie etwas gesehen?« fragte Bould neugierig.

 

»Ja, allerhand«, entgegnete Totty geheimnisvoll.

 

Er ging zur nächsten Telefonzelle, um seinem Chef zu berichten.

 

»Ich möchte nur wissen, warum er nach Marks Priory gefahren ist«, sagte Tanner nachdenklich. »Allem Anschein nach hatte er vorher nicht diese Absicht. Wo wohnt die junge Dame?«

 

Totty seufzte.

 

»Ich kann doch nicht alles wissen«, erwiderte er dann vorwurfsvoll.

 

»Ein trauriges Eingeständnis«, sagte Tanner und hängte ein.

 

Die Telefonzelle war kaum hundert Meter von Ferrington Court entfernt. Als Totty hinaustrat, sah er einen Mann, der ihn aufmerksam beobachtete. Zuerst dachte er an einen Geheimpolizisten, aber dann erkannte er ihn plötzlich. Der Mann schien mit ihm sprechen zu wollen, denn er kam auf ihn zu.

 

»Sie sind doch Tilling?« fragte Totty.

 

»Ja, so heiße ich«, entgegnete der Parkwächter mit tiefer Stimme. »Sind Sie nicht eben aus dem Haus dort gekommen?« Er zeigte auf Ferrington Court. »Haben Sie Dr. Amersham besucht?«

 

»Hören Sie mal«, erwiderte der Sergeant mit ausgesuchter Höflichkeit, »Sie wissen doch, daß ich ein Beamter der Geheimpolizei bin. Was soll das heißen, daß Sie derartige Fragen an mich richten?«

 

»Wer war denn die junge Dame, die ins Haus ging? Haben Sie sie gesehen?«

 

»Ja.«

 

»Und erkannt? Haben Sie sie auch in Marks Priory bemerkt? Sie ist doch nicht mit ihm fortgegangen? Ich habe nicht gesehen, wie sie das Haus verließ. Ich wollte vor allem auf den Doktor aufpassen.«

 

»Wer sollte denn Ihrer Meinung nach die Dame gewesen sein?« fragte Totty diplomatisch.

 

»Sie kann es auf keinen Fall gewesen sein, sie ist nicht so groß, und außerdem kleidet sie sich anders. Wer war es denn?«

 

»Meine Tante«, entgegnete Totty kurz. »Wer soll es sonst gewesen sein?«

 

Plötzlich wurde Totty klar, warum Tilling all diese Fragen an ihn richtete.

 

»Ich werde Ihnen sagen, wer es nicht war, wenn Sie es durchaus wissen wollen – es war nicht Ihre Frau.«

 

»Wer hat behauptet, daß sie es gewesen sein soll? Meine Frau ist in Marks Thornton. Wohin ist er denn gefahren?«

 

»Meinen Sie Dr. Amersham? Nach Marks Thornton. – Jetzt erklären Sie mir aber, mein Freund, was das alles zu bedeuten hat. Warum spionieren Sie Dr. Amersham nach?«

 

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, fuhr ihn Tilling an.

 

Als er sich abwandte, packte ihn Totty am Arm und drehte ihn um.

 

»Höflich können Sie wenigstens zu mir sein, das kostet nichts.«

 

Tilling war allem Anschein nach erstaunt über die Stärke des Sergeanten, der einen Kopf kleiner war als er selbst.

 

»Ich bitte um Verzeihung«, lenkte er ein, »aber ich habe häusliche Sorgen und Ärger.«

 

»Wer hätte das nicht«, sagte Totty großzügig und ließ ihn gehen.

 

Er beobachtete den Parkwächter, bis er außer Sicht kam, dann ging er zu seinem Freund Bould zurück.

 

»Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wohin die junge Dame gefahren ist?«

 

»Nach Treen’s Hotel am Tavistock Square«, entgegnete der Portier. »Wenigstens hat sie dem Chauffeur diese Adresse genannt.«

 

Totty hatte eigentlich nicht den Wunsch, Isla Crane aufzusuchen und auszufragen, aber er hatte weiter nichts zu tun. So ging er die Straße entlang, bis er einen Autobus fand, der ihn in die Nähe von Tavistock Square brachte. Treen’s Hotel war ein preiswertes, aber achtbares Haus in einer ruhigen Gegend.

 

Er erfuhr, daß sich Isla noch nicht zurückgezogen hatte. Sie saß im Schreibzimmer, das zugleich als Empfangssalon diente. Als Totty eintrat, schrieb sie gerade einen Brief.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie störe, Miss Crane, aber vielleicht können Sie sich auf mich besinnen. Mein Name ist Totty, ich war kürzlich in Marks Priory tätig.«

 

Sie sah sich nach ihm um und zuckte zusammen.

 

»Ach ja, ich erinnere mich«, erwiderte sie verstört. »Wollen Sie mich aus einem bestimmten Grund sprechen?«

 

Totty lächelte schwach, setzte sich auf einen Stuhl und legte seinen steifen Hut auf das Knie.

 

»Ich sah Sie zufällig, als Sie aus einem Wagen ausstiegen, glaubte dann aber; ich hätte mich getäuscht. Es kam mir merkwürdig vor, daß Sie sich in London aufhalten sollten.«

 

Während sie ihm zuhörte, beruhigte sie sich etwas.

 

»Wie geht es denn jetzt in Marks Priory?«

 

»Immer noch wie früher.«

 

»Und was macht Dr. Amersham?« fragte er kühn.

 

Sie holte tief Atem.

 

»Den habe ich seit langer Zeit nicht mehr gesehen.«

 

Er lächelte sie wohlwollend an.

 

»Das ist aber komisch. Ich hätte einen Eid darauf leisten mögen, daß ich Sie heute aus Ferrington Court kommen sah.«

 

Sie richtete sich plötzlich auf.

 

»Ja, ich habe ihn heute abend getroffen, aber ich dachte nicht, daß Sie das etwas anginge, Mr. Totty. Haben Sie mich beobachtet?«

 

Er nickte.

 

»Ich habe Sie ins Haus und auch wieder herauskommen sehen. Soweit ich es beurteilen kann, ist Dr. Amersham seinem Charakter nach kein Mann, den man nach dem Abendessen noch aufsucht, besonders wenn er alle seine Diener fortgeschickt hat.«

 

Sie sah ihn bestürzt an.

 

»Ich danke Ihnen, Sergeant Totty. Sie haben also heute gleichsam den Schutzengel gespielt?«

 

Er grinste vergnügt.

 

»Dafür bin ich bekannt. Auch wenn Sie nicht den Feueralarm gefunden hätten, so hätte ich doch dafür gesorgt, daß Ihnen nichts geschehen wäre.«

 

Sie sah ihn verwundert an.

 

»Ich stand nämlich draußen auf dem Balkon vor dem Fenster«, erklärte er. »Wissen Sie Näheres über Dr. Amersham?«

 

Sie zögerte und schüttelte dann den Kopf; aber er fühlte, daß sie ihm doch Auskunft hätte geben können.

 

»Nein, ich kann Ihnen nichts Besonderes erzählen – höchstens, daß er mit Lady Lebanon eng befreundet ist.«

 

»Ist er nicht ein bißchen vergnügungssüchtig? Man spricht so allerhand über ihn in Marks Thornton – da ist doch die Frau des Parkwächters –«

 

Er beobachtete sie genau. Allem Anschein nach war aber dieser Klatsch noch nicht zu ihren Ohren gekommen, denn sie schaute ihn ehrlich erstaunt an.

 

»Sie meinen doch nicht etwa Mrs. Tilling …? Nein, das ist unmöglich!«

 

Wieviel Totty von ihrer Unterhaltung mit Amersham hatte belauschen können, hätte sie zu gern gewußt. Hatte der Doktor so laut gesprochen, daß der Sergeant auch die Bemerkung über ihre Heirat gehört hatte? Jedenfalls ließ sich Totty nichts merken.

 

»Der Doktor ist heute abend nach Marks Priory gefahren«, sagte er schließlich nach einer anscheinend harmlosen Unterhaltung.

 

Sie war offenbar erstaunt. Unschlüssig warf sie einen Blick auf den Brief, den sie halb beendet hatte.

 

Totty verabschiedete sich und ging nach Scotland Yard zurück. Zu seiner Überraschung hörte er von dem Polizeibeamten am Eingang, daß Tanner noch in seinem Büro wäre und nach ihm gefragt hätte.

 

»Schlafen Sie denn nie?« erkundigte er sich, als er ohne weiteres in das Zimmer seines Vorgesetzten eintrat.

 

»Nun, was haben Sie herausbekommen? Setzen Sie sich dorthin, nehmen Sie Ihren Hut ab, lassen Sie die Hände von dem Zigarrenkasten und berichten Sie möglichst nur Tatsachen ohne Ausschmückungen.«

 

»Wir haben Glück, denn Bould ist drüben als Portier angestellt.«

 

»Ich kann mich noch auf ihn besinnen«, meinte Tanner, nachdem der Sergeant seinen Bericht beendet hatte. »Er mag uns in Zukunft vielleicht nützlich sein. Sie haben allerdings kaum etwas entdeckt, was ich nicht schon gewußt hätte, mit Ausnahme der geplanten Hochzeit, die aber weder Sie noch mich interessiert. Tilling war also vor dem Haus? Ich habe ihn heute nachmittag auch gesehen.«

 

»Der Kerl ist eifersüchtig.«

 

»Er hat auch allen Grund dazu. Ich glaube, wir müssen den Doktor warnen. Setzen Sie sich doch mit Bould in Verbindung und bitten Sie ihn, mir mitzuteilen, wann Amersham zurückkehrt. Ich will den Mann dann aufsuchen und mit ihm sprechen. Er muß wissen, daß er von dem eifersüchtigen Tilling bewacht wird. Der Mann soll einmal einen Hund mit den bloßen Händen erwürgt haben.«

 

»Er hat auch Studd erwürgt«, ergänzte Totty, aber Tanner schüttelte den Kopf.

 

»Das bezweifle ich. Studd wurde mit einem Tuch erwürgt, das aus Indien stammte. Wäre Tilling der Mörder gewesen, so hätte er die Tat mit seinen Händen vollbracht. Nein, unsere Untersuchungen haben uns auf eine andere Spur geführt, und zwar auf Amersham, der in Indien gelebt hat.«

 

Der Chefinspektor klingelte.

 

»Was wünschen Sie? Kann ich es für Sie besorgen?« fragte Totty.

 

»Ich möchte Sergeant Ferraby sprechen. Er muß noch im Hause sein.«

 

»Was wollen Sie denn von ihm?« sagte Totty vorwurfsvoll.

 

»Er soll Miss Crane beobachten. Wenn Sie die Sache machen wollen, können Sie es meinetwegen auch tun. Ferraby kann ihr nach Marks Thornton folgen und sehen, was er dabei beobachtet. Gleichzeitig kann er auch auf Mr. und Mrs. Tilling achten.«

 

Ferraby kam kurz darauf ins Zimmer. Er war groß und immer in guter Stimmung. Als er hörte, welche Aufgabe man ihm zugedacht hatte, freute er sich darüber.

 

»Kennen Sie denn die junge Dame?« fragte Tanner überrascht.

 

»Ich sah sie das letztemal, als wir in Marks Priory waren«, erklärte der Sergeant und wurde rot. »Sie ist außerordentlich hübsch.«

 

Totty schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

 

»Ihre Gedanken sind nicht bei der Arbeit, mein Junge.« Das stimmte mehr, als er ahnte, denn Sergeant Ferraby hatte sich heute in seinen Gedanken ausschließlich mit Isla Crane beschäftigt. Er war jung, und auch Detektive sind Menschen.

 

Kapitel 9

 

9

 

Zwei Tage später begleitete Ferraby seine Schutzbefohlene nach Marks Thornton, und nur widerwillig trennte er sich an dem Parktor von ihr. Sie hatte natürlich keine Ahnung, daß sie bewacht und beschützt wurde; nicht einen Augenblick vermutete sie, daß sich ein Beamter von Scotland Yard in ihrer Nähe befand und jeder ihrer Bewegungen scharf beobachtete.

 

Ferrabys Aufgabe war schwierig, weil Isla ihn bereits kannte und schon mit ihm gesprochen hatte. Er wartete, bis ihr Auto außer Sicht kam; erst dann fuhr er zu dem Dorfgasthaus zurück und entließ den Wagen, den er vom Bahnhof aus benützt hatte.

 

Als er eintrat, sah er in der sonst leeren Gaststube einen jungen Mann hinter dem Schanktisch und benützte diese gute Gelegenheit, um Tottys Bericht nachzuprüfen. Er nahm an, daß er Tom, den Sohn des Gastwirts, vor sich hatte. Aber als er ihn vorsichtig auszufragen begann, unterbrach ihn dieser plötzlich.

 

»Sind Sie nicht ein Beamter von Scotland Yard? Sie kamen doch mit Mr. Tanner hierher? Haben Sie inzwischen etwas Neues über den Mordfall Studd herausgebracht?«

 

»Nein«, erwiderte Ferraby kurz; er ärgerte sich, daß man ihn wiedererkannte.

 

Tom wischte mit einem Tuch mechanisch die Tischplatte ab.

 

»An dem Abend war ich nicht hier – ich fuhr zum Geburtstag meines Onkels nach London und blieb die Nacht dort.«

 

»Tilling hat Sie doch begleitet?«

 

Der junge Mann grinste.

 

»So, das wissen Sie? Ja, wir sind zusammen zur Stadt gefahren, aber Tilling ist früher zurückgekommen.«

 

»Er ist die Nacht nicht im Gasthaus Ihres Onkels geblieben?«

 

»Nein. Es war kein Platz für ihn da, und außerdem ist er immer ungemütlich, wenn er getrunken hat. Mit dem letzten Zug ist er nach Hause gefahren. Der hat zuviel nachzudenken; in der letzten Zeit hat er überhaupt kein freundliches Wort für andere Leute übrig. Heute abend war er hier, aber ich konnte nichts aus ihm herausbringen. Er brummte nur mürrisch vor sich hin. Haben Sie neue Anhaltspunkte, Mr. Ferraby?«

 

Der Sergeant lächelte.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß. Außerdem bin ich nicht beruflich nach Marks Thornton gekommen. Ich möchte mich etwas erholen.«

 

Tom sah ihn argwöhnisch von der Seite an. Es erschien ihm unglaubwürdig, daß ein Detektiv von Scotland Yard seinen Urlaub in Marks Thornton verbringen wollte.

 

»Dann sind Sie vielleicht wegen der anderen Geschichte hier ich meine die Sache mit den gefälschten Banknoten. Wie hieß der Kerl doch gleich? Wenn ich mich nicht sehr irre, war es Briggs. Der wohnte hier, als der Mord begangen wurde. In derselben Nacht hat er hier logiert. Vater und ich haben uns oft darüber unterhalten, ob er vielleicht etwas mit der Geschichte zu tun haben könnte. Er sah allerdings nicht sehr gefährlich aus. Aber wenn man die Bilder der Schwerverbrecher in der Zeitung sieht, unterscheiden sie sich eigentlich gar nicht so sehr von anderen Leuten.«

 

Ferraby grinste.

 

»Ich glaube, wir müssen Sie nächstens noch als Detektiv anstellen«, erwiderte er und fragte dann vorsichtig, warum Tilling denn so schlechter Laune wäre.

 

»Die Frau würde jeden Mann zum Trinken bringen«, erklärte Tom mit Nachdruck. »Ich kann dem armen Kerl wirklich keinen Vorwurf machen; er muß ein schreckliches Leben haben! Die Frau ist sehr hübsch. Sie war Zofe, als Tilling sie kennenlernte. Natürlich laufen ihr die Männer nach. Man sagt auch, daß der Doktor –«

 

Er hielt inne.

 

»Meinen Sie Dr. Amersham?«

 

Tom schnitt ein Gesicht und machte sich wieder mit großem Eifer daran, den Schanktisch abzuwischen.

 

»Namen nenne ich nicht. Welchen Zweck hat es auch, all den Klatsch aufzuwärmen? Die Leute in Marks Thornton haben ein böses Mundwerk.«

 

Am Abend berichtete der Sergeant an Chefinspektor Tanner, und am nächsten Morgen machte er einen weiten Spaziergang, der ihn in die Nähe des Tillingschen Hauses führte.

 

In etwa hundert Meter Entfernung hielt er an, setzte sich auf einen niedrigen Zaun und rauchte seine Pfeife. Nachdem er ungefähr eine Stunde gewartet hatte, wurde seine Geduld belohnt. Eine Frau verließ das Haus, ging den Fußpfad entlang und trat dann auf die Straße hinaus.

 

Sie trug einen kleinen Korb und wollte allem Anschein nach ins Dorf gehen, um dort einzukaufen. Als sie an Ferraby vorbeikam, warf sie ihm einen schnellen Blick zu. Auf jeden Fall war sie sehr hübsch; sie kleidete sich gut und vorteilhaft, trug elegante Schuhe, seidene Strümpfe und einen entzückenden Hut. Ferraby bemerkte sogar eine kleine diamantenbesetzte Uhr an ihrem Handgelenk.

 

»Ach, entschuldigen Sie«, sprach er sie an. »Ist das große Gebäude dort drüben Marks Priory?«

 

Sie drehte sich sofort um, und Ferraby hatte den Eindruck, daß sie bestimmt erwartet hatte, von ihm angesprochen zu werden.

 

»Ja, das ist Marks Priory.«

 

Ihre Stimme klang etwas gewöhnlich, aber ihre Augen waren schön und leuchteten.

 

»Das ist aber nicht der Haupteingang«, sagte sie und wies mit dem Kopf auf das Tor. »Der liegt in der Nähe des Dorfes. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?«

 

Sie sah ihn halb furchtsam von der Seite an.

 

»Das würde mir das größte Vergnügen machen.«

 

Er fühlte, daß er durch Höflichkeit hier viel erreichen konnte, ging neben ihr her und unterhielt sich zuvorkommend und freundlich mit ihr.

 

Ein- oder zweimal sah sie sich um, als ob sie erwartete, daß ihr jemand folgte. Beim zweitenmal wandte sich auch Ferraby um.

 

»Hat jemand gerufen?« fragte er.

 

»Ach nein«, erwiderte sie und zog die linke Schulter hoch. »Es ist nur wegen meinem Mann – ich dachte, es könnte ihm einfallen, hinter mir herzukommen. Kennen Sie das Schloß schon?«

 

»O ja, ich kenne dort zwei Leute.«

 

»Etwa Mylady?«

 

Sie schaute ihn argwöhnisch an, denn sie konnte sich eine Bekanntschaft zwischen einem Mann und einer Frau nicht anders vorstellen, als daß Liebe oder Zuneigung eine Rolle dabei spielten. Sosehr Lady Lebanon von allen andern Bewohnern im Dorf geachtet wurde, für Mrs. Tilling war sie auch nur eine Frau.

 

»Ja, ich habe Mylady getroffen.«

 

»Kennen Sie den jungen Lord auch?«

 

»Heute morgen sah ich ihn den Fahrweg entlanggehen.«

 

Sie warf ihm einen sonderbaren Blick zu. »Wenn Sie die Zufahrtsstraße kennen, warum fragen Sie dann nach dem Weg?«

 

Ferraby machte nun einen kühnen Schachzug.

 

»Sie wissen ganz genau, daß man einen Vorwand sucht, um eine Dame anzusprechen, die man gern kennenlernen möchte.«

 

Er hatte seinen Zweck vollkommen erreicht, denn sie lachte leise vor sich hin.

 

»Ich hatte mir das auch schon gedacht. Aber Sie bringen mich in schlechten Ruf. Die Leute reden zwar schon so viel über mich, daß es nicht mehr darauf ankommt. Kennen Sie eigentlich Dr. Amersham?« fragte sie gleichgültig, aber er merkte sofort die Absicht und ließ sich nicht täuschen.

 

»Ich habe ihn einmal flüchtig gesehen.«

 

»Er ist ein sehr liebenswürdiger Herr und außerordentlich klug. Ich bewundere solche Leute.«

 

Sie sprach schnell, und obwohl sie allgemeine Redensarten gebrauchte, klangen sie aus ihrem Mund doch originell.

 

»Klugheit und Verstand machen immer großen Eindruck auf mich«, fuhr sie fort. »Mir liegt mehr daran, daß ein Mann einen klugen Kopf hat, als daß er gut aussieht. Was Dr. Amersham nicht alles weiß … Ich bin immer wieder erstaunt darüber. Er ist auch viel im Ausland gewesen, und ein Arzt weiß sowieso mehr als andere Leute. Meinen Sie nicht auch, Mr. –?«

 

»Mein Name ist Ferraby. Ist Ihr Mann denn nicht auch klug?«

 

»Ach, der!« erwiderte sie verächtlich. »Er ist ganz nett, aber er fällt mir auf die Nerven.«

 

Sie sprach rückhaltlos, und es war leicht zu erkennen, wie sie auf Personen und Ereignisse reagierte. Nach einer Weile blieb sie stehen.

 

»Hier ist der Fahrweg zum Herrenhaus, aber ich glaube, das wissen Sie ebensogut wie ich. Bleiben Sie lange hier?«

 

Ferraby, eine schlanke, große Erscheinung, war ausgesprochen ihr Typ, wenn er es auch nicht wußte.

 

»Ein oder zwei Tage«, erwiderte er und wurde plötzlich rot.

 

Isla Crane kam den Weg herunter. Als sie vorüberkam, warf sie ihm einen schnellen, erstaunten Blick zu und ging weiter, ohne zu grüßen. Dieser Blick sagte ihm zweierlei: erstens, daß sie sich an ihn erinnerte; zweitens, daß sie überrascht war, ihn in einer Unterhaltung mit der Frau des Parkwächters zu finden. Am liebsten wäre er ihr nachgeeilt und hätte ihr alles erklärt. Aber was hätte sie wohl zu einer solchen Unverschämtheit gesagt?

 

»Das ist Miss Crane«, erklärte Mrs. Tilling, die seine Verlegenheit nicht bemerkte, »die Sekretärin von Mylady. Sie ist furchtbar hochnäsig, und dabei sagen die Leute, daß sie kein Vermögen hat und nur von dem lebt, was sie hier auf dem Schloß verdient. Wenn man sie so daherkommen sieht, könnte man glauben, sie wäre eine Königin.«

 

Mrs. Tilling hatte so hart und böse gesprochen, daß sich Ferraby wunderte.

 

Plötzlich reichte sie ihm ihre kleine Hand, die in einem eleganten Handschuh steckte, und verabschiedete sich.

 

Er hatte die Empfindung, daß jemand am Fenster des Wirtshauses stand und sie beobachtete. Sicher war es Tom, denn als er ins Gasthaus eintrat, begrüßte ihn der junge Mann grinsend.

 

»Die hat sich also auch schon an Sie herangemacht? Wie die es bloß immer anstellt, daß sie sofort mit allen Leuten bekannt wird! Ich halte mich von ihr fern; ich bin verlobt, und mit meiner Braut ist in der Beziehung nicht zu spaßen.«

 

Tom trat hinter den Schanktisch.

 

»Ist es Ihnen noch zu früh für ein Glas Bier?«

 

»Nein, ich trinke immer ganz gern ein Glas«, log Ferraby.

 

Plötzlich hörte er Schritte hinter sich, und eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.

 

»Kennen Sie meine Frau?« fragte jemand.

 

Ferraby drehte sich gelassen um und schaute in das dunkle Gesicht des Parkwächters, dessen Augen zornig aufblitzten.

 

»Wenn Sie noch einmal Ihre Hand auf meine Schulter legen«, sagte er mit Nachdruck, »dann schlage ich Ihnen mit der Faust unters Kinn. Ich kenne Ihre Frau nicht – wenn Sie Mr. Tilling sind. Ich bin nur mit ihr die Straße zum Dorf entlanggegangen. Wenn Sie sonst noch etwas wissen wollen, dann fragen Sie schnell, bevor ich Sie hier hinauswerfe.«

 

»Ich habe ein Recht zu fragen, oder wollen Sie das bestreiten? Es soll nicht jeder Fremde meine Frau anquatschen –«

 

»Ich bin hier kein Fremder.« Ferraby nahm die Sache nicht mehr tragisch. »Ich bin ein Detektiv von Scotland Yard und habe ein Interesse daran, mich mit allen Leuten gutzustellen.«

 

Tilling erschrak und sah den jungen Beamten von der Seite an.

 

»Von Scotland Yard?« stotterte er. »Das wußte ich nicht. Was wollten Sie denn von meiner Frau wissen?«

 

Kapitel 25

 

25

 

Nachdem Tanner in der Halle seine Patience zu Ende gelegt hatte, stand er auf und trat zu Totty.

 

»Ein Mann, der sich selbst bei der Patience bemogelt, ist zu allen Schandtaten fähig«, sagte er, nachdem er dem Sergeanten eine Weile zugesehen hatte.

 

»Aber ein Mann, der nicht sein eigenes Glück im Auge hat, ist ein Narr.«

 

Totty mischte die Karten, legte sie auf den Tisch und gähnte.

 

»Ferraby sagte vorhin, daß er nächstens anfinge, sich zu fürchten. Übrigens hat dieser Brooks eine Pistole bei sich. Als er sich bewegte, sah ich die Umrisse der Waffe in seiner Hüfttasche. Der Kerl wird uns noch zu schaffen machen.«

 

»Das wird ihm aber schlechter bekommen als uns«, meinte der Chefinspektor.

 

Im nächsten Augenblick hörten sie einen dumpfen Fall.

 

»Gehen Sie schnell und sehen Sie nach, was da los ist.«

 

Totty erhob sich langsam.

 

»Wo war das? Soll ich die Treppe hinaufgehen?«

 

»Ja! Fürchten Sie sich etwa?«

 

»Allerdings«, erwiderte Totty, ohne sich im mindesten zu schämen. »Sie hatten wohl nicht erwartet, daß ich das zugebe?«

 

Trotzdem eilte er die Treppe hinauf. Tanner blieb unten, er hörte kein Geräusch, bis sein Name gerufen wurde.

 

»Kommen Sie rasch her!« rief Totty aufgeregt. Tanner und Gilder, der eben in die Halle gekommen war, liefen zum Zimmer des alten Lords hinauf. Brooks lag auf dem Rücken, und Totty gab sich die größte Mühe, ein Seidentuch aufzuknoten, das um die Kehle des Mannes geschlungen war.

 

»Mit dem ist es wohl vorbei«, stöhnte der Sergeant.

 

»Lassen Sie mich das aufknoten«, sagte Gilder und kniete neben seinem Kameraden nieder. Ein paar Sekunden später hatte er das Tuch entfernt und Kragen und Hemd des Halberstickten aufgerissen. Er massierte den Hals, und vor Anstrengung und Aufregung trat Schweiß auf seine Stirn. Zum erstenmal sah Tanner, daß der Amerikaner seine Ruhe verloren hatte.

 

»Er ist nicht tot.« Gilder wandte sich um. »Holen Sie mir doch schnell einen Kognak.«

 

Totty eilte nach unten und brachte eine volle Flasche. Vorsichtig flößten sie Brooks etwas von dem Stärkungsmittel ein, und nach und nach gab er Lebenszeichen von sich. Die Augenlider hoben sich, und die Hände zuckten krampfhaft.

 

»Er kommt bald wieder zu sich«, sagte Gilder, immer noch atemlos. »Helfen Sie mir, wir wollen ihn in sein Zimmer tragen. Beinahe wäre es um ihn geschehen gewesen. Selbst seine Pistole hätte ihm nichts helfen können, wenn er sie bei sich gehabt hätte.«

 

Gilder war um das Leben seines Freundes sehr besorgt; im übrigen hatte er seine Ruhe zurückgewonnen.

 

Sie trugen Brooks in sein Schlafzimmer und legten ihn aufs Bett. Plötzlich fiel Tanner ein, daß der Raum, in dem sie den Mann halbtot aufgefunden hatten, doch eigentlich Islas Schlafzimmer war.

 

»Wo ist Miss Crane?« fragte er schnell.

 

Gilder sah auf, senkte den Blick aber sofort wieder.

 

»Ich weiß es nicht«, entgegnete er etwas gezwungen. »Sie muß irgendwo im Hause sein.« Es war ein letzter vergeblicher Versuch, die Situation zu retten.

 

»Und wo ist Ferraby?«

 

Totty traf seinen Kollegen halbwegs auf der Treppe und erklärte ihm, was geschehen war. Als Ferraby begriffen hatte, verlor er die Fassung.

 

»Nun hören Sie aber endlich mit den dummen Fragen auf, und reißen Sie sich zusammen«, fuhr ihn Tanner schließlich an. »Wir sind doch hier nicht in einer Kleinkinderbewahranstalt! Machen Sie sich sofort auf und durchsuchen Sie das ganze Haus, bis Sie Miss Crane finden – dann haben Sie wenigstens etwas zu tun. Totty, Sie brauchen auch nicht bei Brooks zu bleiben, der kommt schon von selbst wieder zu sich. Wo ist eigentlich Gilder?«

 

Der amerikanische Diener hatte sich unbemerkt davongeschlichen, als Ferraby auf der Bildfläche erschienen war.

 

»Soll ich ihn suchen?« fragte Totty und trat einen Schritt auf die Tür zu. Im selben Augenblick ging das Licht aus. Totty und Tanner tasteten sich auf den Gang hinaus, wo es auch stockdunkel war.

 

»Jemand muß an dem Hauptschalter gedreht haben. Totty, Sie wissen doch, wo der ist?«

 

»Ja, das habe ich sofort nach meiner Ankunft hier festgestellt. Ich werde ihn auch wiederfinden.«

 

»Haben Sie eine Taschenlampe? Gut! Aber halten Sie Ihren Gummiknüppel bereit. Sie werden ihn wahrscheinlich brauchen. Ich gehe in die Halle zurück.«

 

Der Sergeant schlich sich vorsichtig den Gang entlang und tastete sich an der Wand die Treppe hinunter.

 

Der Hauptschalter lag in einem kleinen Kellerraum, zu dem man durch die Küche gelangte. Als Totty dort hinkam, fand er die Tür weit offen. Er leuchtete die Steinstufen hinunter und packte den Gummiknüppel fester. Vorsichtig und langsam stieg er dann abwärts und lauschte. Er glaubte, jemand schwer atmen zu hören, und suchte mit der Lampe, ob er nicht jemand entdecken könnte. Aber es war kein Mensch zu sehen. Allerdings bemerkte er verschiedene Nischen, in denen man sich gut verbergen konnte.

 

»Kommen Sie heraus aus Ihrem Versteck!« befahl er.

 

Niemand antwortete.

 

Zunächst war es seine Aufgabe, wieder Licht zu schaffen. Er konnte auch den Hauptschalter sehen, aber gerade, als er die Hand ausstreckte, um ihn zu drehen, erhielt er einen so heftigen Schlag auf den Kopf, daß er die Lampe fallen ließ. Im nächsten Augenblick fuhr er herum, um den Unbekannten zu packen, aber der Schlag hatte ihn stark mitgenommen. Er schlug mit der Faust aufs Geratewohl und traf ins Leere. Dann flog etwas an seinem Kopf vorbei und polterte gegen die Wand. Das Wurfgeschoß zerbrach und fiel in einzelnen Teilen zu Boden. Es mußte ein großes Stück Kohle gewesen sein.

 

Wieder stieß Totty zu, ohne zu treffen. Dann eilte jemand die Treppe hinauf, warf die Tür zu und riegelte sie von außen ab.

 

Mit philosophischer Ruhe ergab sich Totty in sein Schicksal. Zuerst tastete er sich bis zum Hauptschalter und drehte ihn wieder an. Sofort flammte eine Lampe in dem kleinen Raum auf, in dem er sich befand, und nun bemerkte er auf der einen Seite einen Kohlenhaufen. Bald darauf fand er auch seine Taschenlampe wieder, die glücklicherweise nicht beschädigt worden war. Dann zog er ein Stück starke Schnur aus der Tasche und befestigte damit den Griff des Hauptschalters, so daß dieser nicht so schnell wieder gedreht werden konnte. Erst dann sah er sich nach einer Möglichkeit um, die Tür zu öffnen.

 

Er brauchte jedoch keine Gewalt anzuwenden, denn er hörte Ferraby, der in die Küche gekommen war. Gleich darauf riegelte dieser die Tür auf, so daß Totty heraus konnte. Der Sergeant war noch etwas benommen von dem Schlag, den er erhalten hatte.

 

»Haben Sie Miss Crane gefunden?« fragte er schnell. Ferraby hatte sich inzwischen etwas gefaßt.

 

»Nein. Sie muß aber irgendwo im Haus stecken. Tanner ist auch nicht mehr so besorgt um sie.«

 

Er wartete nicht auf Tottys Antwort, sondern eilte wieder davon.

 

Bevor Totty wegging, schenkte er sich erst ein Glas kaltes Wasser ein und trank es langsam aus. Als er dann in die Halle zurückkehrte, stellte ihm Tanner viele Fragen.

 

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen, aber ich habe seine Nähe zu spüren bekommen«, erwiderte der Sergeant grimmig. »Der Kerl war so schnell, daß ich ihn nicht packen konnte.«

 

»Mit einem Stück Kohle hat er Sie also bombardiert? Sie haben Glück gehabt, das muß ich sagen. Er hatte wohl vergessen, daß er ein Schießeisen in der Tasche hatte. Nachdem Sie gegangen waren, fiel es mir ein, und wenn ich offen sein soll – ich habe nicht erwartet, Sie noch einmal lebend wiederzusehen.«

 

Totty schluckte.

 

»Ich danke Ihnen für diese Sympathiekundgebung«, brummte er. »Woher hat der Kerl denn die Waffe?«

 

»Die hat er Brooks heute abend abgenommen. Das war das erste, was der Diener berichtete, als er wieder zu sich kam. Er hat alles eingestanden, aber ich wußte ja schon Bescheid.«

 

»Wissen Sie denn, wer es ist?«

 

Tanner nickte.

 

»Ja. Als mir Lord Lebanon erzählte, daß sie ihm ein Schlafmittel in den Whisky geschüttet hätten, lag der Fall für mich klar. Zufällig kannte ich auch das Schlafmittel, das sie benützten.«

 

Der Chefinspektor legte Totty die Hand auf die Schulter.

 

»Wenn wir heute ohne weiteren Zwischenfall durchkommen, bitte ich morgen den Polizeipräsidenten, Sie zu befördern. Es geht mir zwar gegen den Strich, daß Sie Inspektor werden sollen, aber schließlich muß es doch einmal geschehen.«

 

Totty lächelte bescheiden.

 

»Lady Lebanon ist in ihrem Zimmer«, fuhr Tanner fort, »und will nicht herunterkommen. Ich glaube, ihr Widerstand ist bald gebrochen. Früher oder später muß das ja eintreten – hallo, Ferraby, was machen Sie denn?«

 

Der junge Sergeant kam aufgeregt näher.

 

»Ich kann sie nirgends finden –«

 

»Geben Sie sich weiter keine Mühe. Miss Crane ist in Gilders Zimmer und schläft. Vor ein paar Minuten habe ich sie selbst dort gesehen. Hier ist der Schlüssel zu dem Raum.«

 

»Was, in Gilders Zimmer?« fragte Ferraby atemlos. »Und Sie haben den Schlüssel abgezogen?«

 

Tanner nickte.

 

»Sie ist nicht in unmittelbarer Gefahr, und ich hoffe, es wird ihr nichts geschehen.«

 

»Gott sei Dank!« erwiderte Ferraby. »Das waren die schlimmsten Augenblicke meines Lebens. Lord Lebanon wollte übrigens wissen, was das alles zu bedeuten hätte, aber ich habe es ihm nicht gesagt. Ich traf ihn vor der Tür zu dem Zimmer seiner Mutter. Nachher sagte er mir, daß sie ihn nicht hineingelassen hätte.«

 

»Lady Lebanon hat auch allen Grund, allein zu bleiben. Wo ist der Lord?«

 

Kaum hatte er diese Frage geäußert, als der junge Mann selbst mit wirren Haaren die Treppe heruntereilte. Allem Anschein nach war er aus dem Schlaf geweckt worden, denn er trug einen Morgenrock über dem Pyjama und erschien ohne Schuhe und Strümpfe.

 

»Sie werden sich erkälten«, meinte Tanner lächelnd. »Und das hat keinen Zweck.«

 

»Meine Mutter will nicht mit mir reden –«, begann Willie.

 

»Sie hat heute abend auch schon zuviel Aufregung gehabt«, versuchte Tanner ihn zu beruhigen. »Ich würde mir deshalb keine Sorgen machen. Totty, gehen Sie doch einmal hinauf und fragen Sie Lady Lebanon, ob sie nicht herunterkommen möchte. Sagen Sie ihr, daß ich es wünsche. Ferraby, beruhigen Sie die Dienerschaft und schicken Sie die Leute zu Bett.«

 

Der Chefinspektor blieb mit dem jungen Lord allein, wie er es beabsichtigt hatte.

 

»Wo ist denn Isla? Ich war in ihrem Zimmer, fand sie aber nicht. Um Himmels willen, die Sache wird immer schlimmer!«

 

»Ja, das ist wahrscheinlich der Höhepunkt.«

 

Tanner glaubte in Wirklichkeit aber, daß der Höhepunkt erst kommen würde, wenn sich Lady Lebanon zeigte. Welchen Ausweg würde sie suchen? Würde sie sich das Leben nehmen?

 

»Was hat das alles eigentlich zu bedeuten?« fragte der junge Lord ungewöhnlich entschieden. »Vergessen Sie bitte, daß ich ein ziemlich weicher, leicht zu beeinflussender Mensch war und allen Leuten erlaubte, mich zu leiten und mein Leben zu lenken. Ich habe mich jetzt endlich entschlossen, die Führung selbst in die Hand zu nehmen und von diesem abscheulichen Schloß wegzugehen. Marks Priory fällt mir tatsächlich auf die Nerven. Wissen Sie auch, wer in dem Zimmer ist, das sie nicht öffnen wollte? – Meinen Vater hält sie dort gefangen! Ich bin gar nicht Lord Lebanon.«

 

Tanner starrte ihn verblüfft an. Diese Enthüllung hatte er nicht erwartet. Aber dann unterdrückte er sein Erstaunen.

 

»Er war der Mann, der all diese Unruhe verursacht hat«, fuhr Willie Lebanon fort. »Jetzt ist er fort – ich wette, daß er viele Meilen entfernt ist. Er konnte ins Haus kommen und gehen, wann er wollte. Da staunen Sie, was?«

 

»Das muß ich zugeben«, entgegnete Tanner ruhig. Willie saß im Stuhl seiner Mutter und hatte die Hände gefaltet.

 

Tanner schob einen Sessel an die andere Seite des Tisches und setzte sich ihm gegenüber.

 

»Immer hat sie von der Familie geredet und von den Ahnen – ich mag kein Wort mehr davon hören!« Willie lehnte sich vor. »Meinen Sie nicht auch, daß es jetzt Zeit ist, ein Ende zu machen? Erst Studd – dann Amersham – und nun der arme Brooks!«

 

Tanner schüttelte den Kopf. »Sie urteilen ein wenig zu früh – Brooks ist nicht tot.«

 

»So? Es hat mir aber doch jemand gesagt, daß er tot wäre … Nun, dann freue ich mich. Er ist wirklich kein schlechter Mensch. Aber denken Sie nicht auch wie ich? Diese ganze Familie sollte ausgerottet werden!«

 

»Ich verstehe nicht recht, wie Sie das meinen.«

 

Lebanon bewegte sich unruhig in seinem Sessel.

 

»Die Geschichte geht nun schon seit vielen Jahren. Die Lebanons waren immer so – wußten Sie das nicht?«

 

Er sprach leise und vertraulich weiter.

 

»Mein Vater war auch so … fünfzehn Jahre hat er im Zimmer des alten Lords gelebt – er war vollständig verrückt und hatte den Verstand verloren!« Willie Lebanon lachte vor sich hin. »Und die beiden Amerikaner mußten nach ihm sehen – sie waren seine Wärter!«

 

»Das habe ich vermutet!«

 

Lord Lebanon stützte den Kopf in die Hand.

 

»Aber niemals hat er einen Menschen erwürgt!« Seine Stimme zitterte vor Erregung und Stolz. »Der alte Lord war immer eine Gefahr, aber heimlich hinter jemand herschleichen und ihm die Kehle zuschnüren – das konnte er nicht!«

 

Langsam wandte sich der Lord Tanner zu.

 

»Mein Vater ist tot – das wissen Sie. Er war wirklich vollkommen wahnsinnig. Habe ich Ihnen nicht vorhin erzählt, daß er oben in dem Zimmer wäre? Nun, da habe ich Sie angelogen. Ich kann nämlich sehr leicht lügen. Ich habe eine unglaubliche Erfindungsgabe und kann schnell handeln. Ich hörte doch, wie Sie sagten: ›Das war schnelle Arbeit!‹« Er lachte unheimlich auf. »In Puna habe ich das erstemal beobachtet, wie es gemacht wird. Ich sah, wie ein kleiner, schmutziger Kerl plötzlich hinter einem großen, kräftigen Mann herschlich und ihm ein Tuch um den Hals warf. Gleich darauf war der andere tot. Es war einfach toll!«

 

Tanner sagte nichts.

 

»Ich habe es dann an einem jungen Mädchen versucht, einer Eingeborenen. Die war auch im Handumdrehen erledigt.« Er schnappte mit den Fingern, und seine Augen leuchteten auf.

 

Das war also das Geheimnis von Marks Priory. Tanner ahnte es seit einiger Zeit. Dieser junge Lord hatte die ganze Welt hinters Licht geführt, hatte den Polizeibeamten Sand in die Augen gestreut und alle Menschen getäuscht. Nur seine eigene Mutter wußte alles. Sie litt schwer darunter, setzte aber alles daran, ihn zu beschützen – den Letzten der Lebanons.

 

»Es ist merkwürdig, wie schnell Menschen sterben können.«

 

Willie steckte die Hand in die Tasche seines Morgenrocks, zog ein langes rotes Seidentuch heraus und lachte vor Vergnügen, als er es ansah.

 

»Schauen Sie einmal her. Ich habe eine ganze Menge von diesen Tüchern aus Indien mitgebracht. Amersham hat mir einmal einige fortgenommen, aber er wußte nicht, wo ich die anderen aufbewahrte. Sie sind erstaunt? Ich bin nicht gerade groß, aber ich habe unheimliche Kräfte. Fühlen Sie einmal meine Muskeln.«

 

Er bog den Arm, und Tanner umspannte den oberen Teil. Niemals hätte er geglaubt, daß Willie Lebanon so stark sein könnte.

 

»Mir hat es furchtbar viel Spaß gemacht«, fuhr Willie fort. »Die Leute sagten immer: ›Ach, seht doch mal den schwächlichen jungen Kerl!‹«

 

Aber dann wurde er wieder ernst und kehrte zu seiner Geschichte zurück.

 

»Sie machten damals viel Aufhebens von dem indischen Mädchen. Die Leute beim Regiment trauten es mir gar nicht zu; die wußten nicht, daß ich so viel Kraft besaß, und als es herauskam, war es eine Überraschung für sie.«

 

»Ist es dasselbe Mädchen, von dem Sie mir in Scotland Yard erzählten?«

 

Der junge Lord lachte.

 

»Ja. Amersham hätte nie den Mut gehabt, das zu tun. Ich habe Sie damals nur aufgezogen, ich wollte Sie hinters Licht führen. Das hat mir von jeher das größte Vergnügen bereitet.«

 

»Die Sache wirbelte also damals viel Staub auf?« fragte Tanner.

 

Er sprach so ruhig, daß man hätte glauben können, die beiden unterhielten sich über ein alltägliches Thema. Auf diese Enthüllung hatte er schon den ganzen Abend gewartet und deshalb seine beiden Assistenten fortgeschickt. Er wußte, daß Lord Lebanon in ihrer Gegenwart nichts gesagt hätte. Nur unter vier Augen würde ihm der junge Mann die Wahrheit anvertrauen.

 

»Ja, es gab einen unheimlichen Krach. Meine Mutter schickte Amersham nach Indien, damit er mich nach Hause bringen sollte. Er war ein ganz gemeiner Kerl, ein Mensch, der eigentlich nichts mit unserer Familie zu tun hatte. Es kam ihm gar nicht darauf an, Dokumente zu fälschen und anderer Leute Namen zu mißbrauchen. Schrecklich war das! Lassen Sie sich mit dem Menschen nicht ein!« sagte er mit Nachdruck.

 

Für ihn schien Amersham im Augenblick noch zu leben.

 

»Nachdem er mich nach England zurückgebracht hatte, ließ meine Mutter die beiden Leute wiederkommen, die auch nach meinem Vater gesehen hatten … Gilder und Brooks. Sie sind in Wirklichkeit keine Diener, sie sollten sich nur um mich kümmern. Sie verstehen, was ich meine?«

 

»Ja, vollkommen.«

 

Plötzlich kam dem jungen Lord ein Gedanke, der ihn belustigte.

 

»Sie erinnern sich doch an den Raum, den meine Mutter Ihnen nicht zeigen wollte? Ich kann Ihnen sagen, was darin ist. Alle Wände sind ausgepolstert, und überall sehen Sie Gummikissen. Ich mußte immer hineingehen, wenn mir die Dinge klarwurden.«

 

»Sie meinen, wenn Sie den anderen unangenehm wurden?« erwiderte Tanner lächelnd.

 

»Nein, wenn mir die Dinge klarwurden«, entgegnete der Lord ärgerlich. »Ich weiß genau, was ich sage. Wenn ich alles deutlich sehe, wie es wirklich ist, dann ist es schrecklich, und nur wenn ich in große Erregung komme, kann ich klar denken.«

 

Tanner lehnte sich über den Tisch, und Lebanon wich schnell zurück.

 

»Rühren Sie mich nicht an!« Er legte die Hand auf die Brust.

 

»Ich brauche nur Feuer – seien Sie einmal der höfliche Gastgeber.«

 

Als Willie das hörte, wurde er wieder freundlich.

 

»Es tut mir leid – außerordentlich leid.«

 

Er steckte ein Streichholz an und hielt es Tanner mit ruhiger Hand hin, während der an seiner Zigarre zog. Dann blies er es aus und legte es sorgfältig auf den Aschenbecher.

 

»Sind Sie nun Freund oder Feind?« fragte er.

 

»Wie können Sie so etwas fragen? Ich bin doch Ihr Freund.«

 

»Sie haben aber nach Scotland Yard telefoniert, daß man drei Ärzte schicken soll, um mich für verrückt zu erklären. Ich habe es selbst gehört, daß Sie das am Apparat sagten.«

 

»Die besuchen mich doch nur«, protestierte Tanner.

 

»Das ist nicht wahr. Sie kommen meinetwegen.« Willies Züge verhärteten sich. »Aber ich kann ihnen schon etwas vorlügen, genau wie Ihnen und all den anderen. Meine Mutter war leider von diesem verdammten Amersham abhängig. Der hatte sie in seiner Gewalt. Ich werde Ihnen auch sagen, warum. Sie verwaltete das Vermögen meines Vaters, was eigentlich durch das Vormundschaftsgericht hätte geschehen müssen. Natürlich wäre sie in Teufels Küche gekommen, wenn man das erfahren hätte. Amersham drohte ihr immer, daß er zur Polizei gehen würde, deshalb hat sie ihm viel Schweigegeld gegeben.«

 

»Warum waren Sie aber so unfreundlich zu Ihrem Chauffeur?«

 

Der junge Lord wurde traurig.

 

»Das tut mir entsetzlich leid. Er war ein so guter Kerl, aber ich fürchtete mich nun einmal vor Indern. Die haben einmal versucht, mich umzubringen; sie waren damals so aufgebracht wegen des jungen Mädchens.

 

Ich wußte nicht, daß dieser Maskenball im Dorf abgehalten wurde, und als ich den Inder auf dem Weg durch den Park sah, bekam ich Angst vor ihm – und dann ist es eben geschehen …«

 

Tanner sah, daß Willie Lebanon die Tat aufrichtig bereute.

 

Tränen standen in den Augen des Lords, denn er hatte Studd wirklich gern gehabt.

 

»Ich habe noch eine Woche hinterher geweint. Meine Mutter und die Dienstboten werden Ihnen das bestätigen. Zu seiner Beerdigung habe ich kostbare Blumen geschickt, und seine Schwester hat zweihundert Pfund von mir bekommen. Sie war seine einzige Verwandte. Das Geld habe ich aus der Kassette meiner Mutter gestohlen. In Wirklichkeit gehört mir doch alles, aber meine Mutter war damals, wie immer, sehr ärgerlich.«

 

Er sah nach der Treppe, dann nach der Tür.

 

»Soll ich Ihnen einmal etwas zeigen?« fragte er lächelnd. »Aber Sie müssen mir vorher versprechen, niemand etwas davon zu sagen.«

 

»Ich gebe Ihnen mein Wort.«

 

Lebanon zog eine Pistole aus der Tasche.

 

»Die habe ich Brooks abgenommen«, sagte er befriedigt. »Und ich habe es sehr geschickt gemacht. Ich wollte schon immer eine Schußwaffe haben.«

 

Er sah Tanner plötzlich wieder ernst an.

 

»Man kann sich selbst erwürgen, aber es ist sehr schwer, und die Leute sehen auch so häßlich aus.« Schaudernd schloß er die Augen. Als er sie wieder öffnete, war sein Gesicht verzerrt und eingefallen. »Manchmal ist mir schon der Gedanke gekommen, daß diese ganze Familie aufhören muß zu existieren, mit all ihren Wappen und Wahlsprüchen. Meine Mutter sagt zwar immer, die Linie müßte fortgepflanzt werden, aber das ist doch einfach lächerlich!«

 

»Mein armer, lieber Junge«, sagte Tanner nach einer Weile freundlich und weich.

 

Lebanon kniff die Augen zusammen.

 

»Sie meinen doch nicht etwa mich – warum sagen Sie das?«

 

»Ich hatte einen jungen Bruder – etwa in Ihrem Alter.«

 

Der Lord schaute ihn argwöhnisch von der Seite an.

 

»Sie können mich nicht leiden.«

 

»Doch, ich habe Sie gern, ich bin doch immer Ihr Freund gewesen. In Scotland Yard war ich doch sehr nett zu Ihnen.«

 

Willies Gesicht hellte sich wieder auf.

 

»Das stimmt. Sie müssen aber zugeben, daß es sehr schlau von mir war, Sie dort zu besuchen. Das war wohl das letzte, was Sie erwartet hätten. Bedenken Sie, daß ich Amersham in der Nacht umgebracht hatte. Als der Spektakel hier im Gange war, machte ich mich auf und davon. Meine Mutter hatte dann Gilder im Auto hinter mir hergeschickt. Der wußte, wohin ich gegangen war, denn ich hatte ihm am Morgen gesagt, ich würde nach Scotland Yard fahren, um mich einmal mit Ihnen zu unterhalten.«

 

Tanner streifte die Asche seiner Zigarre in eine Schale, während sich Lord Lebanon zurücklehnte und die Pistole mit beiden Händen umfaßte.

 

»Das war allerdings ein toller Streich«, meinte Tanner.

 

Dann saßen sie sich eine Minute lang schweigend gegenüber.

 

»Ich möchte nur wissen, wo er sie hingebracht hat?« fragte Lebanon plötzlich. »Ich meine Isla.«

 

»Wer soll sie denn fortgebracht haben? Etwa Gilder?«

 

Lebanon nickte.

 

»Heute abend sah sie doch dem indischen Mädchen verdammt ähnlich. Ich trat hinter sie und legte meine Arme um sie. Haben Sie nicht gehört, wie sie geschrien hat? Sie lief die Treppe hinunter, und dann war Totty da, sonst wäre ich hinter ihr hergekommen. Im nächsten Augenblick sah ich auch Gilder; der ist ja immer in der Nähe. Haben Sie das nicht auch bemerkt? Wo Sie hinschauen, sehen Sie den Kerl. Am häufigsten hält er sich in der Halle auf. Ich glaube, der würde mich umbringen, wenn ich Isla etwas täte. Sie halten Gilder für einen gemeinen Menschen, aber das ist er in Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil, er ist sehr freundlich, besonders zu Isla. Kein Mensch paßt so gut auf sie auf wie er, besonders seit sie es weiß.

 

Deshalb fürchtete sie sich auch so sehr. Sie kam an dem Abend die Treppe herunter, als ich hier alles kurz und klein schlug.« Er sah sich interessiert um. »Ich kann mich zwar nicht darauf besinnen, daß ich es getan habe, aber wer soll es sonst gewesen sein? An jenem Abend hätte ich Amersham beinahe geschnappt. Die beiden Amerikaner packten mich von hinten, aber sie hatten große Mühe, mich zu überwältigen. Donnerwetter, hat sich Amersham damals gefürchtet! Isla sah den Kampf von der Treppe aus, und seit der Zeit ängstigt sie sich sehr.

 

Merkwürdig, als ich gestern Amersham erwischte, hat sie mich wieder gesehen. Ich trat gerade mit dem roten Tuch in der Hand in die Tür. Meine Mutter nahm es mir weg und schickte mich zu Bett. Und ich bin doch furchtbar stark – Sie glauben es wohl nicht?«

 

»Doch, ich habe immer angenommen, daß Sie große Kraft besitzen.«

 

Tanner konnte die dauernde Spannung kaum noch ertragen. Er wandte den Blick nicht von der Waffe, über die der junge Lord beide Hände gelegt hatte. Diese Lösung hatte er nicht beabsichtigt. Er hoffte jedoch, daß der Anfall nach einiger Zeit vorübergehen würde, wenn er Willie in guter Laune hielt und ihn beruhigte.

 

Früher hatte er schon einmal mit einem Wahnsinnigen zu tun gehabt. Er kannte die Anzeichen, und was er hier sah, war nicht gerade ermutigend. Der Höhepunkt des Anfalls war noch nicht erreicht. Das schlimmste war, daß der junge Lord die geladene Pistole unter den Händen hatte. Die Mündung war auf Chefinspektor Tanner gerichtet.

 

»Heute abend haben sie sich mächtig gefürchtet, als ich den Schlaftrunk nicht nahm.« Lebanon lachte vor sich hin. »Sie wußten wohl, was in dem Glas war?«

 

»Ja, es war Bromkali. Die Wärter dachten, Sie wären etwas erregt, und wollten Sie beruhigen. Das haben sie wahrscheinlich schon öfter getan.«

 

»Sehr oft. Aber heute abend habe ich ihnen doch ein Schnippchen geschlagen.«

 

Tanner trank das Glas Whisky-Soda aus, das vor ihm auf dem Tisch stand; und erhob sich.

 

»Ich gehe jetzt zu Bett.«

 

Er schob den Sessel zurück, gähnte und streckte sich. Als er sich umschaute, stand Lebanon hinter ihm und sah ihn seltsam an.

 

»Sie gehen nicht zu Bett«, sagte der Lord leise. »Dazu fürchten. Sie sich viel zu sehr!«

 

Tanner schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Doch, Sie fürchten sich. Vor mir fürchten sich alle.«

 

»Aber mir können Sie keine Angst einjagen«, erwiderte Tanner freundlich. »Seien Sie jetzt vernünftig und geben Sie mir die Pistole. Warum wollen Sie eine so gefährliche Waffe bei sich tragen?«

 

»Oh, damit läßt sich allerhand anfangen.«

 

Tanner hörte einen Schreckensruf von der Treppe her. Er wandte sich nicht um, aber er wußte, daß Lady Lebanon dort stand.

 

»Damit könnte ich zum Beispiel die Familie der Lebanons ein für allemal auslöschen.«

 

»Aber Willie!«

 

Plötzlich änderte sich das Benehmen des jungen Lords. Er wich zurück und verbarg die Waffe.

 

»Was machst du da, du dummer Junge? Gib sofort die Pistole her!«

 

»Nein«, entgegnete er mit weinerlicher Stimme, »ich habe schon immer so etwas haben wollen. Mehr als ein dutzendmal habe ich darum gebeten.«

 

»Lege die Waffe dort auf den Tisch!«

 

Einen Augenblick wandte Willie Tanner den Rücken zu, und in dieser Sekunde warf sich der Chefinspektor auf ihn. Totty stürzte in den Raum und half seinem Vorgesetzten, aber mit einer unglaublichen Kraftanstrengung gelang es dem Lord, sich frei zu machen und die Treppe hinaufzueilen. In diesem Moment erschien Gilder. Eine Sekunde zögerte Lebanon noch, dann drückte er ab. In dem engen Raum hallte der Schuß unheimlich wider. Die Pistole entglitt Willies Fingern, und er sank auf die Stufen nieder.

 

Im nächsten Augenblick waren die drei Männer an seiner Seite und beugten sich über ihn, aber ein Blick sagte Tanner, daß Hilfe vergeblich war.

 

Lady Lebanon stand mit erhobenem Kopf steif an ihrem Schreibtisch. Sie hatte das Gesicht abgewandt, aber den Kopf in den Nacken geworfen.

 

»Nun, wie steht es?« fragte sie mit rauher Stimme.

 

»Er ist tot«, entgegnete Tanner heiser.

 

Sie antwortete nicht, aber ihre Hände krampften sich zusammen. Langsam ging sie zur Treppe.

 

Als sie an dem Toten vorüberkam, würdigte sie ihn keines Blickes. Sie blieb nur einen Augenblick stehen und stützte sich an der Wand.

 

»Zehn Jahrhunderte hindurch hat die Familie Lebanon bestanden, und nun ist keiner mehr übrig, um die Linie fortzusetzen«, sagte sie klagend.

 

Die Anwesenden hörten schweigend zu.

 

Mühsam stieg Lady Lebanon die letzten Stufen hinauf.

 

Kapitel 26

 

26

 

Chefinspektor Tanner berichtete dem Polizeipräsidenten über die Ereignisse in Marks Priory.

 

»Zuerst hatte ich den Eindruck, daß es sich um einen gewöhnlichen Racheakt handelte, und ich hatte zwei, vielleicht auch drei Leute in Verdacht, zunächst natürlich Amersham. Er war in der Nähe des Tatortes, als Studd ermordet wurde, und ich hatte auch ein Motiv gefunden: Beide interessierten sich für dieselbe Frau, und Amersham war entsetzlich eifersüchtig. Er stand in schlechtem Ruf, und ich muß gestehen, daß ich mich täuschen ließ, als der junge Lord Lebanon nach Scotland Yard kam und mir erzählte, Amersham hätte eine junge Inderin erwürgt. Als ich dann nach Amershams Tod ein Telegramm aus Indien erhielt, ersah ich daraus alle Einzelheiten des Verbrechens.

 

Lebanon war allem Anschein nach der Täter gewesen, damals aber schon für geisteskrank erklärt worden. Die indische Regierung war froh, daß er das Land schnell verließ, denn er hatte sich schon vorher merkwürdig benommen und bei der Jagd auf seine eigenen Treiber geschossen. Man beobachtete ihn gerade auf seinen Geisteszustand, als der Mord an dem Mädchen begangen wurde.

 

Hätte ich Lord Lebanon im Verdacht gehabt, so wäre mir auch sofort klar gewesen, daß er nur einen anderen als Täter hinstellen wollte. Aber Dr. Amersham stand in so schlechtem Ruf, und seine Beziehungen zu Lady Lebanon waren so seltsam, daß ich ihn zuerst für den Schuldigen hielt und alle meine Nachforschungen darauf richtete, ihn zu entlarven. Das änderte sich natürlich, als sein Tod bekannt wurde.

 

Amersham war ein Dieb und Erpresser; es war sein Glück, daß Lady Lebanon ihn während der Krankheit ihres Mannes zum Hausarzt und Vertrauten wählte. Der Familienarzt, der stets das Geheimnis gewahrt hatte, war gestorben, und sie hatte große Schwierigkeiten, einen Nachfolger zu finden. Jeder verantwortungsvolle Arzt hätte den Fall sofort der Behörde gemeldet, und dann wäre vom Gericht aus eine Vormundschaftsverwaltung über das Vermögen eingesetzt worden.

 

Amersham erschien in jeder Beziehung geeignet. Er war sehr klug, besaß auch genügend Kenntnisse über Geisteskrankheiten, und so erhielt er die Stelle, nachdem er sich auf eine Anzeige in der Times hin gemeldet hatte.

 

Sein Gehalt war sehr groß, und er hatte von der Zeit an keine Sorgen mehr. Aber er war eben ein verbrecherischer Charakter und nützte die Gelegenheit aus. Nach und nach kam die Familie Lebanon immer mehr unter seinen Einfluß, bis er sie schließlich vollkommen in der Gewalt hatte.«

 

Der Polizeipräsident stellte eine Frage, aber Tanner schüttelte den Kopf.

 

»Nein, es haben sich früher keine Krankheitssymptome bei dem Lord gezeigt. In Indien steht allerdings in seiner Krankengeschichte, daß er einmal einen leichten Sonnenstich hatte. Das wird die erbliche Veranlagung unterstützt und die Krankheit eher zum Ausbruch gebracht haben. Die ersten Anzeichen von Wahnsinn meldeten sich, als er auf seine eigenen Treiber schoß. Seine Vorgesetzten wußten nicht, daß sein Vater auch schon geisteskrank war. Und sein Urgroßvater ist in einem Irrenhaus gestorben. Ich habe übrigens feststellen können, daß Geisteskrankheit in beiden Teilen dieser Familie erblich ist.

 

Als der alte Lord starb, war Lady Lebanon froh, daß sie Dr. Amersham loswerden konnte, der sich immer mehr Rechte anmaßte. Drei Monate blieb er dem Schloß fern, dann kamen die traurigen Nachrichten aus Indien, und die Frau brauchte seine Hilfe aufs neue.

 

Er willigte ein, die Behandlung Willies zu übernehmen und den Skandal in Indien zu vertuschen, aber er verlangte dafür von ihr, daß sie sich mit ihm in Petersfield trauen ließ. Zuerst war ich erstaunt, daß die Trauung in dieser kleinen Ortschaft stattfand, aber dann brachte ich in Erfahrung, daß Lady Lebanon viele Ländereien in der Gegend besitzt.

 

Es ist wohl nur eine Scheinehe gewesen. Liebe hat zwischen den beiden nicht bestanden, und sie haben niemals ein gemeinsames Leben geführt. Sie forderte nur von Amersham, daß er sich nicht zu sehr gehenlassen sollte, aber er kümmerte sich nicht darum. Gilder und Brooks wurden zurückgerufen, und es ereignete sich eigentlich nichts Besonderes bis zur Ermordung Studds, die bis zu einem gewissen Grad ja einem unglücklichen Zufall zuzuschreiben ist.

 

Der junge Lord hatte leider einen geheimen Ausgang aus der Tobsuchtszelle entdeckt, in die er zeitweise eingesperrt werden mußte. Er fand die Treppe, die nach unten in den Park führte. Früher hatte man diesen Weg benützt, um den alten Lord abends in der Dunkelheit in den Park zu bringen. Dies muß noch vor Gilders Zeit gewesen sein, denn weder er noch Brooks wußten etwas von dem geheimen Gang.

 

Willie war außerordentlich geschickt und gewandt. Innerhalb einer Viertelstunde plante er zum Beispiel einen Anschlag auf den Motorradfahrer, der als Kurier nach Scotland Yard zurückgeschickt wurde. Kurz darauf hatte er sich Zugang zu Tillings Haus verschafft, wo er alles kurz und klein schlug, und wenig später war er wieder im Schloß.

 

Als er mich in Scotland Yard besuchte, hatte ich noch keine Ahnung, daß ich es mit einem Geisteskranken zu tun hatte. Er schien allerdings ein Schwächling zu sein, ein Muttersöhnchen, wie man es in aristokratischen Kreisen öfters findet.

 

Warum er damals zu mir kam, ist vollkommen klar. Er hatte Amersham in der Nacht ermordet und wollte sich bei der Polizei melden, bevor die Nachforschungen einsetzten.

 

Lady Lebanon schickte ihm sofort einen der Wärter nach, als er vermißt wurde. Gilder wußte, daß der Lord nach Scotland Yard gehen wollte, folgte ihm und ließ ihn nicht eher aus den Augen, bis er wieder sicher in Marks Priory landete. Sie kehrten in dem gleichen Auto zurück. Das hat mir Gilder später erzählt.

 

Lebanons Zerstörungswut nahm mit der Zeit zu. Kurz vorher hatte er erst einen schweren Anfall gehabt, wobei er das Wohnzimmer vollkommen zertrümmerte.

 

Die Ermordung Amershams hat er mit großer Schlauheit geplant und durchgeführt. Er wartete vor der Tür, und als er sah, daß Amersham abfahren würde, lauerte er ihm bei einer scharfen Kurve auf. Der Doktor mußte dort langsamer fahren, der Lord sprang auf den Wagen und erwürgte den Mann.

 

Damals ging er nicht sofort ins Haus zurück. Vielleicht verlor er in der Aufregung den Weg; jedenfalls befand er sich plötzlich in einer Baumallee, die parallel zur Straße läuft, und wurde von dem Parkwächter Tilling angehalten. Der Mann muß aber sofort erkannt haben, wer sein Gegner war, denn er hat nicht seine volle Kraft angewandt. Er war stark genug, um Lebanon zu bezwingen. Später sagte er ja selbst aus, daß er sich nur darauf beschränkt hatte, sich gegen den Lord zu verteidigen. Schließlich brachte er Willie zum Haus zurück.

 

Lady Lebanon befand sich in einer schwierigen Lage. Zum erstenmal war ihr Geheimnis Leuten bekanntgeworden, die nicht zu dem engen Kreis gehörten, auf den sie sich verlassen konnte. Sie wußte außerdem, daß Amersham etwas zugestoßen sein mußte, ja, sie suchte schon nach dem Toten, als Tilling mit Willie Lebanon auf der Bildfläche erschien.

 

Trotzdem konnte sie die Leiche nicht finden. Zunächst schickte Lady Lebanon nun Gilder mit Amershams Wagen fort; er ließ ihn ein paar Kilometer vom Dorf entfernt stehen.

 

Darauf mußte sie mit Tilling fertig werden. Sie wußte, daß die Polizei bald erscheinen und auch den Parkwächter einem Verhör unterwerfen würde. Das konnte gefährlich werden. Deshalb faßte sie den Entschluß, ihn zu ihrem Jagdhaus in der Nähe von Aberdeen zu schicken. Sie versorgte ihn reichlich mit Geld und schrieb ihm die Züge vor, mit denen er fahren sollte.

 

Der junge Lord hatte eine große Abneigung gegen Miss Isla Crane, wie ich später feststellen konnte. Sie selbst hatte keine Ahnung davon, aber er machte drei Versuche, sie zu ermorden. Den letzten an dem Abend, an dem er sich selbst das Leben nahm.

 

Gilder erzählte er nichts von seinem Plan, da er sehr wohl wußte, daß er seine schützende Hand über Miss Crane hielt. Trotzdem vermutete es der Diener. Er hatte den jungen Lord zu lange betreut, daß er in gewisser Weise voraussagen konnte, was dieser tun würde. Und so war es ihm möglich, Isla zur rechten Zeit in Sicherheit zu bringen.

 

Damit wäre ich am Ende meines Berichtes über den Fall von Marks Priory. – Im Anschluß daran möchte ich übrigens Sergeant Totty zur Beförderung vorschlagen.«

 

Der Polizeipräsident sah ihn erstaunt an.

 

»Warum denn?«

 

Tanner fuhr sich nachdenklich über das Kinn.

 

»Er ist nun schon so lange Sergeant, daß es vielleicht angebracht wäre, ihn zum Inspektor zu machen.«

 

Kapitel 3

 

3

 

Mr. Kelver, der Butler von Marks Priory, verbrachte abends gern eine Stunde vor dem Nebeneingang und betrachtete von dort aus die Gegend. Wie schon oft überlegte er gerade wieder, ob es mit seiner Würde vereinbar wäre, jeden Abend schon um neun Uhr von seiner Herrschaft getrennt zu werden. Genau um diese Stunde schloß Lady nebenan nämlich die große Eichentür zu, die den Nordostflügel des Herrenhauses von den anderen Räumen abgrenzte.

 

Die Quartiere der Dienerschaft waren sehr geräumig und behaglich eingerichtet, und mit Erlaubnis Mr. Kelvers konnten die Angestellten ein- und ausgehen, wann und wie sie wollten. Sie benutzten dann den Fußweg, der am Wald entlang zum Dorf hinunterführte. Aber er empfand es doch als starke Zurücksetzung, fast als Beleidigung, daß er selbst, der in hochadligen Häusern gedient hatte, auch mit den anderen Dienstboten vom Herrenhaus ausgeschlossen wurde.

 

Die Tür, vor der er stand, lag im Nordostflügel und war in gewisser Weise ein Privateingang für ihn selbst. Die anderen Angestellten gingen wie die Kaufleute und Lieferanten durch die kleine Eingangshalle.

 

Studd gegenüber sprach er sich manchmal aus, wenn er auch diesem höflichen und erfahrenen Mann niemals sein volles Vertrauen schenkte.

 

Der Chauffeur war gerade auf dem Weg zur Garage, bog um einen der beiden großen Ecktürme des Schlosses und blieb bei Kelver stehen. Da er etwas erhitzt aussah, dachte Kelver zuerst, Studd hätte zuviel getrunken.

 

»Ich habe diesem Dr. Amersham endlich einmal die Meinung gesagt«, begann Studd und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Das will nun ein großer Herr und ein Doktor sein! Wenn Mylady wüßte, was ich weiß, bliebe der Kerl keine fünf Minuten länger im Haus! Der war bei der indischen Armee! Na, ich könnte etwas erzählen, wenn man mich fragte!«

 

»Um was handelt es sich denn?« erkundigte sich Mr. Kelver höflich. Er tat immer so, als ob er Klatsch nicht hören wollte, obwohl er sehr begierig darauf war, das Neueste zu erfahren.

 

»Es ist merkwürdig. Ich habe im Dorf einen komischen Mann getroffen, der mir erzählte, daß er früher in Indien gewesen wäre. Darauf lud ich ihn zu einem Glas Bier ins Wirtshaus ein. Bei der Unterhaltung habe ich nicht viel gesagt, sondern nur zugehört, aber es ist ganz klar, daß er tatsächlich dort war.«

 

Kelver hob den ergrauten Kopf und sah den kleinen Chauffeur von oben herab an.

 

»Hat Dr. Amersham sich über etwas beklagt?« fragte er.

 

Studd wurde dadurch wieder an seinen Ärger erinnert.

 

»Es ist etwas an seiner Karre passiert, und ich sollte die Sache in fünf Minuten reparieren. Dazu braucht man aber mindestens zwei Tage. Er meint, er hätte hier alles zu sagen, aber wir wissen doch genau, daß er nicht der Herr im Schloß ist. Was meinen Sie?«

 

Der Butler lachte geheimnisvoll.

 

»Es gibt allerhand Leute auf der Welt«, entgegnete er.

 

»Ich weiß nicht, ob man mit einer so flauen Ansicht durchkommt«, erwiderte der Chauffeur etwas unsicher. »Dieser Herrensitz gehört Lord Lebanon – darüber sind wir uns doch wenigstens einig?« Er hob die Hand und zählte an den Fingern ab. »Nun hören Sie einmal zu, wer hier etwas zu sagen hat: Zuerst dieser blöde Dr. Amersham, der alles kontrollieren will. Zweitens Lady Lebanon. Drittens« – er zögerte – »nennen wir einmal Miss Crane. Aber gegen die habe ich nicht das mindeste. Und als letzter kommt Lord Lebanon!«

 

»Mylord ist noch jung«, erklärte Mr. Kelver höflich.

 

Er hatte dieselbe Meinung wie Studd, aber seine Stellung legte ihm Pflichten auf, an die er sich gebunden fühlte. Mr. Kelver hatte bei dem Herzog von Colbrooke gedient, und schon seit vielen Generationen hatten seine Vorfahren große Herren betreut. Daher wußte er genau, daß es ihm nicht zustand, seine Herrschaft zu kritisieren.

 

Plötzlich hörten die beiden schnelle Schritte auf dem Kiesweg, und gleich darauf erschien Dr. Amersham.

 

»Nun, Studd, haben Sie meinen Wagen fertiggemacht?«

 

Der Doktor hatte eine scharfe, unangenehme Stimme, und sein ganzes Auftreten reizte zum Widerspruch.

 

»Nein«, entgegnete der Chauffeur heftig. »Und ich mache ihn auch nicht fertig – ich gehe heute abend aus!«

 

Amersham wurde bleich vor Ärger.

 

»Wer hat Ihnen die Erlaubnis dazu gegeben?«

 

»Der einzige, der mir hier im Haus die Erlaubnis geben kann«, erwiderte Studd laut. »Lord Lebanon selbst.«

 

»Sie können sich eine andere Stelle suchen«, erklärte der Doktor wild.

 

»So, ich soll mir eine andere Stelle suchen?« fragte Studd wütend. »Meinen Sie vielleicht, ich würde anderer Leute Namen unter Schecks schreiben?« Dr. Amersham sah plötzlich verstört aus. »Wenn ich mir eine andere Stelle suche, wird es jedenfalls eine ehrliche Beschäftigung sein! Auf keinen Fall bestehle ich einen Kameraden – merken Sie sich das, Doktor! Und was ich auch unternehme, ich werde nicht abgefaßt und verhaftet, ich komme nicht vor Gericht, und mich stößt man auch nicht aus der Armee aus!«

 

Studd hatte drohend gesprochen, und der Arzt konnte den Blick des Mannes nicht ertragen. Er wollte ihm hart entgegnen, aber was er vorbrachte, war eigentlich keine Erwiderung auf die schweren Anklagen.

 

»Sie wissen zuviel!«

 

Amersham wandte sich rasch ab und entfernte sich.

 

Mr. Kelver hörte die Worte, konnte aber den Zusammenhang nicht verstehen. Er war bestürzt über das Benehmen Studds und fragte sich, ob er nicht hätte vermitteln sollen. Aber fast schien es ihm, als ob Dr. Amersham seine Anwesenheit gar nicht bemerkt hätte.

 

»So, dem habe ich es ordentlich gegeben«, erklärte Studd triumphierend. »Haben Sie gesehen, wie er sich verfärbte? Dabei behauptet der Kerl, er wird mich entlassen!«

 

»Ich hätte aber doch nicht in diesem Ton mit ihm geredet, Studd«, sagte der Butler mit leisem Vorwurf.

 

Aber der Chauffeur war jetzt in Fahrt und achtete nicht auf Kelvers Mahnung.

 

»Jetzt hat er wenigstens begriffen, daß ich ihn von früher her genau kenne. Ach, ich hätte ihm noch ganz andere Dinge an den Kopf werfen können!«

 

Am Abend fand im Dorf ein Maskenball zu irgendeinem wohltätigen Zweck statt, und als die Dämmerung hereingebrochen war, fuhr vom Herrenhaus ein Wagen mit einem Pierrot, einer Pierrette, einer Zigeunerin und einem Inder zu dem Fest hinunter. Das farbenprächtige indische Kostüm hatte Studd gewählt, dem Mr. Kelver vor der Abfahrt noch einen väterlichen Rat gab.

 

»An Ihrer Stelle würde ich morgen früh mit Dr. Amersham sprechen und mich entschuldigen. Wenn Sie im Recht sind, können Sie großzügig sein, und im anderen Fall ist es selbstverständlich, daß Sie sich entschuldigen.«

 

Dann ging Kelver in die Halle und machte noch einen letzten Rundgang, bevor er sich in den Teil des Hauses zurückzog, den die Angestellten bewohnten. Hier und dort rückte er ein Kissen zurecht; er nahm auch das leere Glas fort, das allem Anschein nach Dr. Amersham auf Myladys Schreibtisch hatte stehenlassen.

 

Später sah er ihn in einer der großen Fensternischen des Hauptganges bei den amerikanischen Dienern Brooks und Gilder. Sie sprachen leise miteinander und hatten die Köpfe gesenkt. Aber nicht nur Kelver sah sie, sondern auch Lord Lebanon, der in der offenen Tür seines Zimmers lehnte. Er sagte Kelver gute Nacht, als dieser vorbeiging, aber kurz darauf rief er ihn zurück.

 

»Steht da unten nicht der Doktor?« fragte er, da er ein wenig kurzsichtig war.

 

»Ja, Mylord. Er unterhält sich mit Gilder und Brooks.«

 

»Zum Teufel, worüber haben die soviel miteinander zu reden? Kelver, sind Sie nicht auch der Meinung, daß dies ein sonderbares Haus ist?«

 

Kelver war zu höflich und kannte seine Stellung zu gut, um diese Frage zu bejahen. In Wirklichkeit hielt er den ganzen Haushalt für sonderbar genug, vor allem die beiden amerikanischen Diener. Von Anfang an war ihm klargemacht worden, daß er ihnen nichts zu sagen hätte. Außerdem brauchten die beiden nach neun Uhr nicht die Wohnräume der Herrschaft zu verlassen, sondern konnten sich frei im ganzen Haus bewegen.

 

»Ich sage ja immer, daß es alle möglichen Leute auf der Welt gibt.«

 

Willie Lebanon lächelte.

 

»Das stimmt, Mr. Kelver«, erwiderte er liebenswürdig und klopfte dem alten Mann auf die Schulter.

 

Der Butler wurde ein wenig verlegen, denn so vertraulich hatte sich der Lord ihm gegenüber noch nie benommen.