Kapitel 6

 

6

 

Lord Lebanon erhob sich, ging mit unsicheren Schritten zur Tür und versuchte, sie zu öffnen, entdeckte aber, daß sie verschlossen war. Er tastete nach dem Schlüssel, fand ihn jedoch nicht. Nur mühsam konnte er seine Gedanken ordnen. Als er wieder zu sich gekommen war, drückte er auf die Klingel neben dem Bett und wartete. Es dauerte ziemlich lange, bis Gilder die Tür aufschloß und endlich eintrat.

 

Dem Amerikaner mußte etwas zugestoßen sein. Sein eines Auge war blutunterlaufen und blau, der Kragen seines Rockes hatte gelitten, die Weste war zerrissen. Gilder sah Willie mit düsterem Blick an.

 

»Wünschen Sie etwas, Mylord?« fragte er schließlich.

 

Lebanon wußte, daß es den Diener große Überwindung kostete, ihn so höflich anzureden.

 

»Wer hat meine Tür verschlossen?«

 

»Ich«, entgegnete Gilder kühl und gelassen. »Ein Mann, der gestern abend ins Schloß kam, fing eine Schlägerei an, und ich wollte verhüten, daß Sie in die Sache verwickelt würden.«

 

Lord Lebanon schaute ihn groß an.

 

»Wer war es denn?«

 

»Sie kennen ihn nicht, Mylord«, erwiderte Gilder kurz. »Kann ich etwas für Sie tun?«

 

»Geben Sie mir etwas Kühles zu trinken, was den Durst stillt. Der Whisky gestern abend taugte nichts.«

 

Wenn der Diener auch den Argwohn des Lords spürte, gab er es doch nicht zu erkennen.

 

»Das sagte der andere Herr auch. Ich glaube, der Whisky hier in der Gegend ist überhaupt nicht besonders gut. Ich werde Mylady bitten, aus der Stadt welchen kommen zu lassen.«

 

»Wo ist meine Mutter?« fragte Willie Lebanon schnell. »War sie zugegen, als –«

 

»Nein, sie war in ihrem Zimmer.«

 

»Was ist denn passiert?« forschte der junge Mann weiter.

 

Gilder schaute ihn mit einem grimmigen Lächeln an.

 

»Vielleicht wollen Sie es sich selbst ansehen?«

 

Lord Lebanon schlüpfte in seine Pantoffeln und folgte ihm den Gang entlang, dann die breite Treppe hinunter, die zur Halle führte.

 

Unten bemerkte er Brooks, der in Hemdsärmeln war und allem Anschein nach versuchte, wieder Ordnung zu schaffen. Ein Tisch war umgestoßen, die eine Ecke des Empire-Sofas zertrümmert; eine kleine Porzellanuhr lag in Scherben auf dem Boden, und vier elektrische Kerzen in dem großen Kronleuchter hingen beschädigt zur Seite. Willie sah sich erstaunt um.

 

»Wer hat das getan?« fragte er, indem er sich bemühte, Haltung anzunehmen und den Hausherrn zu spielen.

 

»Ein Freund von Dr. Amersham«, erwiderte Gilder gehässig, aber Willie achtete nicht darauf.

 

Überall lagen Glasscherben verstreut; vermutlich war die Whiskyflasche zu Boden gestürzt und zerbrochen. Auch eins der starken Eichenpaneele war zertrümmert.

 

»Es sieht aus, als ob ein Wahnsinniger hier losgelassen worden wäre.«

 

Gilder fuhr auf, denn diese Worte erschreckten ihn.

 

»Ja, der Mann benahm sich so – ich meine, der Freund von Dr. Amersham.«

 

Es war halb vier Uhr, und im Osten graute bereits der Morgen, als sich der Lord wieder hinlegte.

 

Willie wußte, daß man ein Betäubungsmittel in den Whisky gemischt hatte, aber er fühlte sich so erschöpft, daß er keiner weiteren Nachforschungen fähig war.

 

Kapitel 7

 

7

 

Obwohl Chefinspektor Tanner in seinem Beruf praktisch und nüchtern dachte und handelte, hatte er sich den Sinn für Romantik bewahrt.

 

Im Augenblick beschäftigte er sich mit dem Kartenindex in der Registratur von Scotland Yard. Alle gewohnheitsmäßigen Verbrecher und Spezialisten blieben sich in ihren Arbeitsmethoden ziemlich gleich, so daß man sie in einem Index zusammenfassen konnte. Und in dieser Kartei suchte Mr. Tanner nun nach den Namen der Leute, die seit Gründung dieses Indexes andere erstickt oder erwürgt hatten oder wenigstens bei einem Versuch, das zu tun, ertappt worden waren. Die meisten dieser Menschen hatte man später durch den Strang hingerichtet. Einige, die ihre Mordabsichten nicht voll hatten ausführen können, saßen noch in den Gefängnissen. Aber Mr. Tanner konnte kein Verbrechen auffinden, das dem von Marks Priory ähnlich war. Es gab eine Anzahl von Männern und auch Frauen, die andere Leute mit einem Strick oder einer Schnur hatten erwürgen wollen, aber obwohl er einen nach dem anderen genauer ins Auge faßte, konnte er doch keinen Namen entdecken, der sich mit dem Verbrechen von Marks Priory irgendwie in Zusammenhang bringen ließ.

 

Er ging in sein Büro hinunter und fand dort Sergeant Totty, der gemütlich auf dem Stuhl seines Chefs saß.

 

Sergeant Totty konnte genial lügen, wenn es galt, seine eigenen Heldentaten ins rechte Licht zu setzen, und er hatte ein Vorurteil gegen gebildete Vorgesetzte, die einen gewissen Grad von Kenntnissen voraussetzten, ehe sie andere Beamte zur Beförderung zuließen.

 

Totty ging zum Fenster und blickte auf das belebte Themseufer hinaus. In der letzten Woche hatte es wenig Abwechslung im Dienst gegeben.

 

»Wer ist Amersham?« fragte Tanner plötzlich.

 

»Wie?« erwiderte Totty überrascht. »Amersham ist eine Stadt in Kent.«

 

»Amersham«, entgegnete Inspektor Tanner geduldig, »ist eine Stadt in Buckinghamshire, aber ich rede nicht über die Stadt, sondern über Dr. Amersham.«

 

Totty verzog den Mund.

 

»Ach, Sie meinen den Kerl in Marks Priory? Der ist ein Arzt.«

 

»Auch das weiß man nicht genau. Er führt zwar den Doktortitel, aber es ist nicht sicher, ob er ein Doktor der Philosophie oder der Medizin ist.«

 

Tanner nahm sein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin, bis er die Eintragung fand, die er suchte.

 

»Dr. Amersham hat eine Wohnung in der Devonshire Street, in einem großen Haus mit vielen Einzelappartements. Die Gegend ist sehr teuer und für einen Doktor reichlich vornehm, außerdem hält der Mann auch ein paar Rennpferde. Er war in Indien, und deshalb nehme ich an, daß er Doktor der Medizin ist. Ich möchte gern wissen, was er eigentlich in Marks Priory zu tun hat, und in welcher Beziehung er zu der Familie Lebanon steht.«

 

»Ist es nicht möglich, daß er den Mord begangen hat?«

 

»Ebensogut könnten Sie und eine Menge anderer Leute das Verbrechen verübt haben.«

 

»Ich muß Ihnen noch sagen, was ich mir aufgeschrieben habe, als ich dort war.« Totty sprach jetzt dienstlich, und sein Chef horchte auf. »Die haben einen Parkwächter – einen gewissen Tilling –, der macht immer ein böses, brummiges Gesicht. Ich habe ihn dort im Gasthaus getroffen. Er hatte die Hände auf den Schanktisch gelegt; so große, harte Hände habe ich noch nie gesehen. Ich sprach mit dem Wirt darüber, und der erzählte mir, daß Tilling einmal einen Hund nur mit den bloßen Händen getötet hat.«

 

»Donnerwetter, das ist allerdings ein starkes Stück!«

 

Totty lächelte und freute sich über den Eindruck, den seine Worte hervorgerufen hatten.

 

»Ja, ich halte die Ohren offen. Sie denken zwar manchmal, ich wäre nicht besonders tüchtig, aber wenn etwas im Gang ist –«

 

»Also, Sie sagten, der Mann hätte einen Hund erwürgt? Warum haben Sie mir das nicht schon früher mitgeteilt?«

 

»Ich habe leider nicht daran gedacht. Übrigens hat er auch eine Frau, die sehr hübsch sein soll. Man sagt im Dorf, daß sie zuviel nach den jungen Leuten schaut. Zwei oder drei ihrer Liebesaffären sind bekannt. Ach, da fällt mir eben etwas ein: Studd gehörte auch zu ihren Liebhabern.«

 

»Was haben Sie sonst noch gehört? Diesen Tilling habe ich übrigens gesehen. Er ist ein großer, düsterer Mensch, ich kann mich genau auf ihn besinnen.«

 

Totty sah zur Decke auf, als ob er dort etwas erfahren könnte. »Das ist alles, was ich darüber weiß. Nur noch eins: Tilling war in der Mordnacht in London. Mit dem Sohn des Gasthauswirtes war er in der Hauptstadt. Deshalb habe ich der Sache auch keine weitere Bedeutung beigelegt und mich nicht eingehender danach erkundigt.«

 

»Das können wir ja leicht nachprüfen. Ich werde einmal nach Thornton fahren und mich ein wenig mit der Frau unterhalten. Aber vorher möchte ich diesen Dr. Amersham sprechen.«

 

Er sah nach der Uhr, es war halb fünf.

 

»Soll ich Sie begleiten?« fragte Totty.

 

»Ich glaube nicht, daß das notwendig ist. Bleiben Sie ruhig hier, und überlegen Sie sich, was Sie sonst noch alles zu berichten vergessen haben. Sie wissen doch, wohin Tilling und der Sohn des Gastwirtes gegangen sind, als sie in London waren?«

 

Totty klopfte langsam mit einem Finger gegen die Stirn, dann lächelte er.

 

»Ja, ich weiß es. Alles steht in meinem Kopf. Mein Gehirn ist so gut wie eine Kartei, ich vergesse nie etwas! Die beiden besuchten den Bruder des Gasthauswirts, der auch eine Wirtschaft in London hat. Er feierte seinen Geburtstag oder sonst eine Gelegenheit. Der junge Tom fuhr mit Tilling zur Stadt, und sie brachten die Nacht dort zu.«

 

»Stellen Sie fest, ob das stimmt«, erwiderte Tanner kurz.

 

Eine halbe Stunde später suchte er Ferrington Court auf, wo sich die Wohnung Dr. Amershams befand. Es war ein modernes, großes Gebäude.

 

»Dr. Amersham zu Hause?« fragte er den Portier.

 

»Jawohl, er ist in seiner Wohnung. Erwartet er Sie?«

 

»Hoffentlich nicht«, entgegnete Tanner lächelnd.

 

Er war gerade in den Lift getreten, als ein Mann zur Haustür hereinstürzte und quer durch die Halle auf den Fahrstuhl zueilte. Er trug die Kleidung eines Geistlichen und hatte ein etwas bleiches Gesicht, das von vielem Studieren zeugte. Er lächelte dem Portier wohlwollend zu und grüßte Bill Tanner höflich durch Kopfnicken.

 

Sie fuhren beide bis zum dritten Stock, und als sich die Tür öffnete, folgte Tanner dem Geistlichen auf den Korridor hinaus. Dort sah er, daß dieser auf die Tür der Wohnung Nr. 16 zuging, die auch er aufsuchen wollte.

 

Ein junger Diener öffnete. Allem Anschein nach war der Geistliche hier kein Unbekannter. Der Angestellte glaubte, daß Mr. Tanner in dessen Begleitung gekommen wäre.

 

»Ich werde dem Doktor sagen, daß Sie hier sind, Mr. Hastings«, erklärte er und ließ sie dann allein.

 

»Ich habe es nicht sehr eilig«, sagte der Geistliche freundlich. »Ich bin der Vikar von Petersfield. Wenn es also bei Ihnen nicht zu lange dauert, will ich gern warten – mein Name ist John Hastings. Kennen Sie Petersfield?«

 

»Ja, ich habe davon gehört«, entgegnete Tanner liebenswürdig.

 

Der Vikar beugte sich zu dem Beamten vor und sprach vertraulich mit ihm.

 

»Ich fürchte, daß ich unserem Freund Amersham mit der Zeit auf die Nerven falle. Diesmal handelt es sich um den neuen Gemeindesaal für unseren Ort. Es ist schrecklich für mich – sieben Jahre bauen wir schon daran und haben ihn noch nicht fertigstellen können. Der Doktor war sehr freundlich –«

 

Er räusperte sich, denn die Tür öffnete sich, und Dr. Amersham trat herein. Das Lächeln, mit dem er den Vikar begrüßte, schwand, als er den Chefinspektor sah.

 

»Guten Abend, Mr. Tanner. Sie sind es doch?«

 

»Das ist mein Name. Sie haben ein gutes Gedächtnis.«

 

»Ja, geradezu fabelhaft«, stimmte Mr. Hastings bei. »Ich erhielt einen glänzenden Beweis dafür, als der Doktor einmal nach Petersfield kam, um eine, wenn ich so sagen darf, wichtige Sache zu erledigen –«

 

»Ich kann mich eine Viertelstunde mit Ihnen unterhalten, Mr. Tanner. Wollen Sie so liebenswürdig sein und ins Wohnzimmer kommen?«

 

Amersham hatte den Geistlichen rücksichtslos unterbrochen.

 

»Sie verzeihen einen Augenblick«, wandte er sich nachträglich an ihn.

 

Dann ging er schnell durch die offene Tür, und als der Chefinspektor eingetreten war, schloß er sie.

 

»Nun, Mr. Tanner, hat man in dieser unangenehmen Angelegenheit etwas Neues entdeckt?«

 

»Nichts Wichtiges. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir irgendwie helfen könnten.«

 

Dr. Amersham sah ihn nachdenklich an, verzog den Mund und schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube nicht, daß Sie von mir etwas erfahren können. Es war schrecklich für mich und auch für Lady Lebanon – geradezu furchtbar. Dabei war Studd nicht einmal ein besonders angenehmer Mensch. Ich hatte einige Meinungsverschiedenheiten mit ihm, weil er sich sehr unverschämt benahm. Er war auch kein guter Chauffeur.«

 

Studd war in Wirklichkeit ein ausgezeichneter Chauffeur gewesen, aber Amersham konnte es sich nicht versagen, in diesem Augenblick schlecht über ihn zu sprechen.

 

»War er nicht auch ein Schürzenjäger?«

 

Der Doktor starrte ihn an.

 

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Von seinem Privatleben wußte ich wenig. Spielte eine Frau dabei eine Rolle?«

 

Tanner lachte und schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht viel mehr als Sie, aber ich habe gehört, daß er ein Verhältnis mit der Frau des Parkwächters gehabt haben soll, einer Mrs. …« Er machte eine Pause, als ob er sich auf den Namen besinnen müßte. »Einer Mrs. Tilling – kann das stimmen?«

 

Der Doktor warf den Kopf zurück. Diese Andeutung verletzte seine Eitelkeit.

 

»Das ist unmöglich!« entgegnete er schnell. »Mrs. Tilling ist eine durchaus anständige Frau. Geradezu lächerlich, daß die ein Verhältnis mit Studd gehabt haben soll!«

 

»Sie ist wohl sehr hübsch?«

 

»Ja, ich glaube«, entgegnete Amersham kurz. »Aber Sie irren sich, wenn Sie annehmen, daß Studd in Beziehungen zu Mrs. Tilling gestanden hat. Sie ist sehr zurückhaltend. Wer hat Ihnen denn eigentlich dieses Märchen aufgebunden?«

 

Der Inspektor zuckte die breiten Schultern.

 

»Es ist ein Gerede, das man gelegentlich hört und sich merkt«, erwiderte er gut gelaunt. »Soviel ich weiß, ist ihr Mann sehr eifersüchtig. Ist Ihnen das auch bekannt?«

 

»Ihr Mann ist ein unmöglicher Mensch«, erwiderte Amersham ärgerlich. »Unvernünftig und brutal. Schon oft hat er seine Frau bedroht.«

 

Er fühlte, daß Tanner ihn interessiert ansah.

 

»Ich kenne sie natürlich nicht sehr genau«, fuhr er hastig fort. »Nur als Arzt bin ich bei ihr gewesen. Selbstverständlich hört man im Dorf allerlei, aber ich kümmere mich nicht um Klatsch.«

 

Tanner wußte, daß er hier den Hebel anzusetzen hatte. Darüber mußte er weitere Auskunft haben. Aber Amersham war bestrebt, das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen.

 

»Ich dachte, Sie kennen sie besonders gut«, sagte Tanner in aller Unschuld, »sonst hätte ich die Frau gar nicht erwähnt.«

 

»Warum sollte ich sie denn genauer kennen?« fragte Amersham kalt. »Für mich ist sie die Frau eines Angestellten der Lady Lebanon – weiter nichts. Ich interessiere mich für die Angestellten – selbstverständlich nur als Arzt.«

 

»Gewiß«, pflichtete der Beamte bei. »Ihrer Meinung nach ist also das Gerede über – sagen wir einmal die Freundschaft zwischen Studd und Mrs. Tilling nicht am Platze.«

 

»Durchaus nicht«, erklärte der Arzt mit Nachdruck. »In einem so kleinen Dorf haben die Leute natürlich weiter nichts zu tun als zu klatschen und böse Bemerkungen über ihre Mitmenschen zu machen.«

 

Er zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Eigentlich hatte ich erwartet, daß Sie mir eine Menge Neuigkeiten über den Fall erzählen könnten. In Scotland Yard weiß man doch sonst immer so gut Bescheid.«

 

»Sensationen erleben wir im allgemeinen nicht«, erwiderte der Inspektor leichthin, »denn unsere Behörde ist nur eine ganz gewöhnliche Regierungsstelle. Wenn Sie von aufregenden Abenteuern hören wollen, müssen Sie zum Geheimdienst oder zur politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes gehen. Aber ich möchte Sie jetzt nicht länger aufhalten. Ihr Freund wartet.«

 

Et reichte dem Arzt die Hand.

 

»Meinen Sie Mr. Hastings? Kennen Sie ihn?«

 

Amersham stellte die Frage ziemlich gleichgültig, aber Tanner hörte doch die Nervosität aus dem Ton heraus. Als der Beamte den Kopf schüttelte, atmete der Doktor erleichtert auf.

 

»Ein interessanter Landgeistlicher«, sagte Amersham. »Ich habe ihn manchmal unterstützt, wenn er Geld für die Gemeinde brauchte. Ist es übrigens wahr, Mr. Tanner, daß sich in der Mordnacht ein bekannter Verbrecher in Marks Thornton aufhielt? Ich habe davon gehört und dachte mir gleich, daß Sie dort eine wichtige Spur gefunden hätten.«

 

»Ich möchte Briggs nicht gerade einen bekannten Verbrecher nennen. Er ist allerdings wiederholt verurteilt worden, aber wegen anderer Dinge. Als Mörder kommt der Mann nicht in Betracht; er ist ein Fälscher. Vielleicht haben Sie ihn in Indien getroffen? Soviel ich weiß, waren Sie auch einige Zeit dort?«

 

Der Doktor hatte seine Gesichtsmuskeln in der Gewalt, aber er konnte doch nicht verhindern, daß er rot wurde.

 

»Nein, ich habe ihn niemals getroffen«, entgegnete der Arzt langsam. »Ich habe nicht einmal von ihm gehört. In Indien war ich wohl, aber das ist schon fünf oder sechs Jahre her. Damals stand ich in Regierungsdiensten, aber die Stellung war undankbar, und ich nahm meinen Abschied… die dauernde Kursänderung der Rupie… und dann die entsetzlichen Verhältnisse, unter denen man dort arbeiten mußte…«

 

Das Sprechen fiel ihm schwer, und er wußte kaum, wie er fortfahren sollte. Aber gleich darauf hatte er sich wieder in der Gewalt und zeigte lächelnd seine weißen Zähne.

 

»Wenn Sie glauben, daß ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann, rufen Sie mich doch bitte an, Mr. Tanner. Gewöhnlich bin ich hier in London, aber zwei bis drei Tage in der Woche halte ich mich in Marks Priory auf. Lady Lebanon und ich schreiben zusammen ein Buch über Heraldik. Das muß zunächst noch geheimgehalten werden, und ich hoffe, daß Sie nicht darüber sprechen, besonders nicht zu ihr, da sie sich sonst ärgern würde. Ich bin auf diesem Spezialgebiet eine Kapazität.«

 

Als Tanner die Wohnung verließ, dachte er über verschiedene Probleme nach. Der Portier saß in seiner Loge, lächelte ihn an und versuchte, die Aufmerksamkeit des Beamten auf sich zu lenken. Aber Tanner war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt. Der Vikar hatte ihm erzählt, daß Amersham bei einer wichtigen Gelegenheit zu der Dorfkirche gekommen wäre; diesen Anhaltspunkt mußte man verfolgen. Warum hatte sich der Doktor verfärbt, als Briggs erwähnt wurde? In welchen Beziehungen stand er zu diesem Verbrecher, der den größten Teil seines Lebens wegen Betrugs und Falschmünzerei im Gefängnis zugebracht hatte? Und warum hatte er mit solchem Nachdruck eine Bekanntschaft mit Mrs. Tilling abgelehnt?

 

Die Erklärung für die letzte Frage war ziemlich einfach; wahrscheinlich hatten die beiden, wie der Dorfklatsch behauptete, tatsächlich ein Verhältnis miteinander.

 

Tanner trat auf die Devonshire Street hinaus und hielt nach einem Taxi Ausschau. Im gleichen Augenblick drehte sich ein Mann, der auf der anderen Seite der Straße gestanden hatte, plötzlich um und betrachtete in einem Schaufenster interessiert die medizinischen Instrumente. Da er sich aber nicht schnell genug umgewandt hatte, konnte Tanner ihn erkennen. Es war niemand anders als Tilling, und Tanner war davon überzeugt, daß der Parkwächter die Wohnung Dr. Amershams beobachtete.

 

Kapitel 8

 

8

 

Der Chefinspektor wollte gerade die Straße überqueren und sich Tilling nähern, als dieser davonrannte. Der Mann mußte den Beamten in der Spiegelung des Schaufensters gesehen haben, denn er bog rasch in eine Seitengasse ab. Tanner folgte ihm, aber als er die Straße entlangschaute, konnte er den Parkwächter nicht mehr entdecken. Er bemerkte nur ein Taxi, das sich dem Ende der Straße näherte, und vermutete, daß Tilling in dem Wagen saß.

 

Als er nach Scotland Yard zurückkehrte, war sein Interesse an dem Mord von Marks Priory aufs neue erwacht. Während er noch in seinem Büro saß, kam Totty zurück.

 

»Ich habe diese Angaben nachgeprüft. Sie stimmen. Tilling hat die Nacht über in dem Gasthaus in New Cut geschlafen –«

 

»Sie hatten aber gar nicht Zeit genug, nach New Cut zu gehen«, entgegnete Tanner.

 

»So altmodisch bin ich auch nicht. Wozu gibt es denn Telefon?«

 

»Telefonische Anfragen sind bei polizeilichen Erkundigungen dieser Art absolut nicht am Platz«, entgegnete der Vorgesetzte streng.

 

»Ich kenne den Wirt persönlich sehr gut. Tilling hat dort in dem Gasthaus geschlafen und ist am nächsten Morgen zurückgefahren. Er ist übrigens ein großer Freund des jungen Tom.«

 

»Totty, ich gebe Ihnen jetzt einen Auftrag, wie Sie sich ihn nicht besser wünschen können. Gehen Sie nach Ferrington Court und beobachten Sie Dr. Amersham. Stellen Sie fest, ob er zu Hause ist, wann er ausgeht, wer ihn besucht und so weiter. Biedern Sie sich mit seinem Diener an – er hat einen jungen Menschen in der Wohnung. Vielleicht können Sie auch von dem Portier und den Kaufleuten brauchbare Nachrichten erhalten.«

 

Totty stöhnte.

 

»Das ist aber kaum eine Aufgabe für einen Sergeanten –«

 

»Sie haben wie immer unrecht, Totty. Ich würde keinen anderen damit beauftragen als Sie. Es wäre möglich, daß der Fall in Marks Priory eine ganz neue Wendung nimmt, und Sie sollen dabeisein. Aber wenn es Ihnen nicht paßt, kann ich Ferraby senden, den hält niemand für einen Detektiv –«

 

»Mich hält auch keiner dafür«, entgegnete Totty etwas lauter als notwendig. »Ich will nichts gegen Sergeant Ferraby oder einen jüngeren Beamten sagen, aber wenn Sie mir den Auftrag geben, werde ich ihn auch ausführen.«

 

Sergeant Ferraby war Totty ein Dorn im Auge, denn er hatte eine gute Schulbildung genossen. Außerdem konnte er sich tadellos benehmen, und alle Leute hatten ihn gern. Er hatte seine Begabung gezeigt; infolgedessen war er schnell befördert worden. Im geheimen bewunderte Totty ihn jedoch und versuchte sogar, ihn nachzuahmen.

 

Als er in die Halle des großen Wohnblocks Ferrington Court trat, hatte er nicht die geringste Hoffnung, schnell mit dem Portier oder einem der Hausangestellten bekannt zu werden.

 

Besonders der Portier machte in seiner Uniform mit den vielen Goldtressen einen unnahbaren Eindruck.

 

Hätte Tanner schärfer beobachtet, so hätte er in dem Mann mit der glänzenden Livree einen früheren Polizeibeamten erkannt, einen gewissen Bould. Totty sah das auf den ersten Blick und begrüßte Bould herzlich als einen alten Freund.

 

»Es ist doch merkwürdig, daß Tanner mich nicht wiedererkannt hat, als er heute nachmittag hier war«, meinte der Portier. »Worauf ist er denn aus? Doch nicht auf diesen Amersham?«

 

»Warum nicht? Aber wie kommen Sie denn hierher? Sie sehen aus wie ein Kinoportier.«

 

Bould betrachtete düster seine goldbetreßten Ärmel.

 

»Ich weiß nicht, warum sie in einem so vornehmen, ruhigen Haus den Portier ausputzen wie einen Weihnachtsmann. Tanner ließ sich heute zur Wohnung von Amersham hinauffahren. Ich glaube, das hat mit dem Mord zu tun, der neulich auf dem Land passiert ist.«

 

»Was ist denn dieser Amersham eigentlich für ein Kerl?«

 

Bould schüttelte den Kopf.

 

»Er behandelt seine Dienstboten, als ob Sie Hunde wären. Ein hochnäsiger Patron! Ich könnte ein paar Dinge erzählen, wenn ich wollte«, fügte er geheimnisvoll hinzu.

 

Bould hatte einen kleinen Aufenthaltsraum, nahm Totty dorthin mit und bot ihm einen Stuhl an.

 

»Wenn Sie sich hier in die Ecke setzen, kann Sie keiner sehen, der hereinkommt. Amersham hat hier eine Gesellschaft gegeben – vor etwa zwei Monaten. Alle anderen Hausbewohner haben sich beschwert… na, ich sage Ihnen: Weiber… Sekt…«

 

»Das glaube ich«, pflichtete Totty bei und fragte dann begierig nach weiteren Einzelheiten. Aber die interessanten Dinge waren alle hinter verschlossenen Türen passiert; Mr. Bould konnte nur erzählen, was er von dem Nachtportier erfahren hatte.

 

»Ist Amersham zu Hause?«

 

»Nein. Vor einer halben Stunde ist er ausgegangen. Aber er ist bald wieder hier – er hat eine Verabredung. Eine junge Dame will ihn besuchen. Er hat mir ausdrücklich gesagt, ich soll sie ins Wartezimmer führen, wenn sie früher kommt als er. Wir haben einen wunderbaren Raum dafür – haben Sie ihn schon gesehen?«

 

»Nein, der interessiert mich auch nicht«, entgegnete Totty. »Wo ist denn der Diener? Heißt er nicht Joe?«

 

Mr. Bould zwinkerte dem Sergeanten zu. »Der ist auch ausgegangen, Amersham hat ihn heute abend schon frühzeitig weggeschickt. Ein Angestellter stört doch nur bei solchen Besuchen. Ist Tanner hinter dem Doktor her? Hat der Kerl etwas ausgefressen? Ich würde mich nicht wundern, wenn er verschiedenes auf dem Kerbholz hätte. Verdächtig ist er mir schon immer vorgekommen… Erstens hat er unglaublich viel Geld – das muß er von jemand auf dem Land bekommen, soviel ich erfahren habe. Außerdem schläft er nur etwa drei Nächte in der Woche hier in der Wohnung. Er gibt Gesellschaften, geht ins Theater und verjubelt Zeit und Geld.«

 

»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Totty und nickte.

 

Plötzlich warf er dem Portier einen warnenden Blick zu und drückte sich in die Ecke. Schnelle Schritte ertönten auf dem Marmorboden der Vorhalle. Bould drehte das Licht aus und verließ seinen Raum. Im nächsten Augenblick sah Totty, daß Dr. Amersham vorüberging. Der Arzt fragte Bould etwas, dann wurde eine Tür zugeschlagen, und der Lift fuhr in die Höhe.

 

Gleich darauf hörte Totty andere Schritte, lugte vorsichtig um die Ecke und bemerkte eine junge Dame. Zu seinem höchsten Erstaunen erkannte er Isla Crane, die er in Marks Priory kennengelernt hatte.

 

Sie trug einen langen Mantel und einen kleinen schwarzen Hut, den sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Aber Totty vergaß kaum einen Menschen, den er einmal gesehen hatte. Sie war ein wenig bleich und machte einen nervösen Eindruck.

 

Sie schaute nach links und nach rechts und ging schon auf die Tür der Portierloge zu, aber gerade noch rechtzeitig kam der Fahrstuhl herunter, und Bould trat auf sie zu.

 

»Sie wünschen doch Dr. Amersham zu sprechen?«

 

»Ja, bitte«, erwiderte sie leise.

 

Totty wartete, bis Bould zurückkehrte.

 

»Das ist sie«, sagte der Portier. »Sie sieht gut aus, nicht wahr? Aber alle Mädels, die herkommen, haben ein hübsches Gesicht. Wenn das meine Tochter wäre –«

 

Er machte ein grimmiges Gesicht. Totty entgegnete nichts darauf, denn Islas Besuch bei Dr. Amersham erschien ihm nicht so sonderbar. Sie war die Sekretärin Lady Lebanons und brachte dem Arzt vielleicht eine Botschaft von ihrer Herrin. Ihr bleiches Gesicht und ihr nervöses Verhalten paßten allerdings wenig zu dieser Theorie.

 

»Ist es nicht möglich, daß ich in die Wohnung schauen könnte?« fragte Totty plötzlich.

 

Mr. Bould wurde ernst.

 

Als alter Polizist fand er es selbstverständlich, daß der Sergeant mit einem Nachschlüssel in die Wohnung eindringen oder sich wenigstens in der leeren Wohnung neben den Räumen von Dr. Amersham aufhalten durfte. Von dort aus konnte Totty auf den gemeinsamen Balkon hinaustreten, der auch an der Wohnung des Arztes entlangführte. Nur ein eisernes Gitter, über das man leicht hinüberklettern konnte, trennte den Balkon in zwei Abteilungen.

 

Aber jetzt war Bould hier Portier und hatte über die Hausbewohner zu wachen. Dafür erhielt er doch sein Gehalt. Er konnte seine Stellung verlieren, wenn er sich etwas zuschulden kommen ließ.

 

»Ich weiß nicht recht, Sergeant, ob das geht«, sagte er und kratzte sich das Kinn.

 

Totty redete jedoch einige Zeit auf ihn ein, und schließlich fuhren sie beide mit dem Fahrstuhl hinauf.

 

*

 

Kaum hatte Isla Crane geklingelt, als sich die Wohnungstür des Doktors auch schon öffnete.

 

»Ach, treten Sie doch näher, Miss Crane.«

 

Dr. Amersham war in der besten Laune, sprach väterlich zu ihr und war viel freundlicher, als er sich jemals in Gegenwart von Lady Lebanon gezeigt hatte.

 

»Es ist außerordentlich liebenswürdig, daß Sie gekommen sind. Wollen Sie nicht ablegen?«

 

Aber Isla war nicht gekommen, um sich unterhalten zu lassen.

 

»Nein, danke. Ich kann nur ein paar Minuten bleiben. Woher wußten Sie eigentlich, daß ich in der Stadt bin?«

 

Amersham lächelte, als er sie ins Wohnzimmer führte.

 

»Ich habe mit Mylady telefoniert, und sie sagte mir, daß Sie in London waren. Sie haben doch den Abend noch frei? Hoffentlich habe ich Ihr Programm nicht verdorben. Es ist überhaupt unverantwortlich, daß Sie soviel Zeit in dem düsteren Herrenhaus von Marks Priory zubringen müssen.«

 

»Ich fahre morgen früh nach Stevenage, um meine Mutter zu besuchen«, entgegnete sie kurz.

 

Er schob ihr einen Sessel hin, aber sie setzte sich nicht.

 

»Lady Lebanon nannte mir das Hotel, in dem Sie logieren, und es war ein glücklicher Zufall, daß ich Sie traf, bevor Sie ausgingen.«

 

»Was wollen Sie denn von mir?«

 

Der Ton ihrer Stimme klang durchaus nicht liebenswürdig.

 

»Ich wollte hier keinen Freundschaftsbesuch machen«, erklärte sie kühl, als er sich vorwurfsvoll über ihr ablehnendes Wesen äußerte. »Wenn Sie mir nicht gesagt hätten, Sie wollten mich dringend wegen Lady Lebanon sprechen, wäre ich überhaupt nicht gekommen.«

 

»Aber Isla, wie kann man nur so abweisend und kalt sein! Darf ich Ihnen jetzt Ihren Mantel abnehmen?«

 

Sie trat einen Schritt zurück.

 

»Warum wollten Sie mich sprechen?«

 

Es fiel ihm außerordentlich schwer, eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen.

 

»Willie Lebanon will Sie heiraten, ist Ihnen das bekannt?«

 

Sie antwortete nicht darauf.

 

»Was sagen Sie denn dazu? Sie werden Gräfin Lebanon werden und haben dann den Vortritt vor allen Baroninnen und Angehörigen des niederen Adels. Übrigens brauchen Sie Mylady nicht zu erzählen, daß ich Sie zu mir gebeten habe.«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu.

 

»Warum denn nicht, wenn es sie doch angeht?«

 

»Es geht sie und mich etwas an – Ihre voraussichtliche Heirat. Es wäre wirklich sehr gut für Sie, Isla. Der junge Lord wird Ihnen sofort einen Teil seines Vermögens überschreiben, vielmehr Lady Lebanon wird das tun. Ihnen scheint aber der Plan nicht zu gefallen?«

 

»Lady Lebanon hat mir das auch angedeutet, aber ich möchte mich nicht verheiraten. Das habe ich ihr auch klar gesagt.«

 

Er lachte.

 

»Ich glaube aber, sie hat sich aus Ihrer Absage nicht viel gemacht. Lady Lebanon ist eine Natur, die sich überall durchsetzt. Man kann sich ihr kaum entgegenstellen, wenn sie ihren Willen durchführen will.«

 

Er war enttäuscht, daß sie nicht antwortete, und wurde nervös. »Warum ziehen Sie nur Ihren Mantel nicht aus? Wir beide sollten doch zusammenhalten. Lady Lebanon betrachtet uns wie ein paar bessere Dienstboten. Wir bekommen unser Gehalt und müssen unsere wahren Gefühle verbergen –«

 

»Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?« fragte sie eisig. »Wenn nicht, dann gehe ich jetzt.«

 

Sie wandte sich halb um, aber bevor sie ahnte, was geschehen würde, riß er sie an sich. Er hielt sie so fest, daß sie sich nicht wehren konnte. Sie fühlte seinen Schnurrbart an ihrer Wange, und seine Augen blitzten so unheimlich, daß sie erschrak.

 

»Isla, niemand in der Welt kann sich mit dir vergleichen«, stieß er atemlos hervor. »Ich möchte dein Freund sein, ich will dir helfen.«

 

»Lassen Sie mich einen Augenblick los«, sagte sie mit erzwungener Ruhe.

 

Er ließ sich täuschen. Kaum hatte er den Griff etwas gelockert, als sie sich plötzlich von ihm frei machte, zu der Wand eilte und den Daumen auf einen kleinen Knopf legte, der unauffällig an der Wand angebracht war.

 

»Machen Sie bitte die Tür auf und gehen Sie dann in das andere Zimmer.«

 

Amersham atmete schnell. Er sagte nichts; er wußte, daß er im Augenblick geschlagen war. Wütend riß er die Zimmertür auf, trat in den Vorraum und schloß die Wohnungstür auf.

 

»Sie können gehen. Es war töricht von mir, daß ich Ihnen helfen wollte.«

 

Sie zeigte auf die andere Tür am Ende des Wohnzimmers.

 

»Aber machen Sie doch nicht solche Geschichten. Sie sind vollkommen sicher –«

 

»Ich bin so lange sicher, wie ich den Daumen auf dem Knopf für Feueralarm habe«, entgegnete sie ruhig. »Und Sie wollen sich doch wohl nicht blamieren? Sie würden eine lächerliche Figur machen, wenn die Feuerwehr hierherkommt!«

 

Auf dem Balkon stand Sergeant Totty im Dunkeln und nickte befriedigt.

 

Er sah, daß sich die Wohnungstür hinter Isla schloß, und beobachtete dann die Rückkehr des Doktors in das Wohnzimmer.

 

»Großartig«, murmelte Sergeant Totty beifällig.

 

Einige Zeit ging Amersham nervös auf und ab. Dann hörte Totty, daß das Telefon klingelte. Amersham ging zum Apparat und nahm den Hörer ab. Gleich darauf runzelte er ärgerlich die Stirn, sagte etwas, was Totty nicht verstehen konnte, drehte das Licht aus und ging ins Schlafzimmer.

 

Totty schlich sich auf dem Balkon entlang; die Vorhänge waren von innen vorgezogen, aber es gelang ihm doch, durch einen Spalt an der Seite zu sehen. Auf diese Weise konnte er den Bewegungen Amershams folgen, der eine Schublade aufzog, einen Gegenstand herausnahm und in die Tasche steckte. Was es war, konnte Totty nicht erkennen, aber er vermutete, daß es sich um einen Browning handelte.

 

Im Schlafzimmer befand sich auch ein Telefonapparat. Der Doktor benützte ihn und sprach etwa zwei Minuten lang. Allem Anschein nach war es ein Haustelefon.

 

Der Arzt nahm seinen Mantel aus dem Kleiderschrank und legte ein weißes Seidentuch um den Hals, während Totty zu der leeren Wohnung zurückschlich. Der Sergeant war schon in der Eingangshalle, als Amersham herunterkam.

 

»Der Doktor geht aus«, sagte Bould. »Eben hat er mit seinem Chauffeur telefoniert. Der Wagen steht auch schon draußen. Warten Sie einen Augenblick!«

 

Bould ging hinaus und sprach mit dem Chauffeur.

 

»Amersham fährt nach Marks Priory«, flüsterte der Portier dem Sergeanten zu, als er zurückkam. »Sie sollten einmal mit dem Chauffeur sprechen – was der nicht alles von seinem Herrn erzählt! Dabei hat er den Posten noch nicht lange. Er ist in diesem Monat schon der zweite.«

 

Die Klingel vom Fahrstuhl unterbrach ihn. Er eilte hin und kam bald darauf mit Dr. Amersham zurück, der schnell auf die Straße trat.

 

Erst als das Auto abfuhr, kam Sergeant Totty aus seinem Versteck heraus.

 

»Ein merkwürdiger Kerl.«

 

»Haben Sie etwas gesehen?« fragte Bould neugierig.

 

»Ja, allerhand«, entgegnete Totty geheimnisvoll.

 

Er ging zur nächsten Telefonzelle, um seinem Chef zu berichten.

 

»Ich möchte nur wissen, warum er nach Marks Priory gefahren ist«, sagte Tanner nachdenklich. »Allem Anschein nach hatte er vorher nicht diese Absicht. Wo wohnt die junge Dame?«

 

Totty seufzte.

 

»Ich kann doch nicht alles wissen«, erwiderte er dann vorwurfsvoll.

 

»Ein trauriges Eingeständnis«, sagte Tanner und hängte ein.

 

Die Telefonzelle war kaum hundert Meter von Ferrington Court entfernt. Als Totty hinaustrat, sah er einen Mann, der ihn aufmerksam beobachtete. Zuerst dachte er an einen Geheimpolizisten, aber dann erkannte er ihn plötzlich. Der Mann schien mit ihm sprechen zu wollen, denn er kam auf ihn zu.

 

»Sie sind doch Tilling?« fragte Totty.

 

»Ja, so heiße ich«, entgegnete der Parkwächter mit tiefer Stimme. »Sind Sie nicht eben aus dem Haus dort gekommen?« Er zeigte auf Ferrington Court. »Haben Sie Dr. Amersham besucht?«

 

»Hören Sie mal«, erwiderte der Sergeant mit ausgesuchter Höflichkeit, »Sie wissen doch, daß ich ein Beamter der Geheimpolizei bin. Was soll das heißen, daß Sie derartige Fragen an mich richten?«

 

»Wer war denn die junge Dame, die ins Haus ging? Haben Sie sie gesehen?«

 

»Ja.«

 

»Und erkannt? Haben Sie sie auch in Marks Priory bemerkt? Sie ist doch nicht mit ihm fortgegangen? Ich habe nicht gesehen, wie sie das Haus verließ. Ich wollte vor allem auf den Doktor aufpassen.«

 

»Wer sollte denn Ihrer Meinung nach die Dame gewesen sein?« fragte Totty diplomatisch.

 

»Sie kann es auf keinen Fall gewesen sein, sie ist nicht so groß, und außerdem kleidet sie sich anders. Wer war es denn?«

 

»Meine Tante«, entgegnete Totty kurz. »Wer soll es sonst gewesen sein?«

 

Plötzlich wurde Totty klar, warum Tilling all diese Fragen an ihn richtete.

 

»Ich werde Ihnen sagen, wer es nicht war, wenn Sie es durchaus wissen wollen – es war nicht Ihre Frau.«

 

»Wer hat behauptet, daß sie es gewesen sein soll? Meine Frau ist in Marks Thornton. Wohin ist er denn gefahren?«

 

»Meinen Sie Dr. Amersham? Nach Marks Thornton. – Jetzt erklären Sie mir aber, mein Freund, was das alles zu bedeuten hat. Warum spionieren Sie Dr. Amersham nach?«

 

»Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten«, fuhr ihn Tilling an.

 

Als er sich abwandte, packte ihn Totty am Arm und drehte ihn um.

 

»Höflich können Sie wenigstens zu mir sein, das kostet nichts.«

 

Tilling war allem Anschein nach erstaunt über die Stärke des Sergeanten, der einen Kopf kleiner war als er selbst.

 

»Ich bitte um Verzeihung«, lenkte er ein, »aber ich habe häusliche Sorgen und Ärger.«

 

»Wer hätte das nicht«, sagte Totty großzügig und ließ ihn gehen.

 

Er beobachtete den Parkwächter, bis er außer Sicht kam, dann ging er zu seinem Freund Bould zurück.

 

»Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wohin die junge Dame gefahren ist?«

 

»Nach Treen’s Hotel am Tavistock Square«, entgegnete der Portier. »Wenigstens hat sie dem Chauffeur diese Adresse genannt.«

 

Totty hatte eigentlich nicht den Wunsch, Isla Crane aufzusuchen und auszufragen, aber er hatte weiter nichts zu tun. So ging er die Straße entlang, bis er einen Autobus fand, der ihn in die Nähe von Tavistock Square brachte. Treen’s Hotel war ein preiswertes, aber achtbares Haus in einer ruhigen Gegend.

 

Er erfuhr, daß sich Isla noch nicht zurückgezogen hatte. Sie saß im Schreibzimmer, das zugleich als Empfangssalon diente. Als Totty eintrat, schrieb sie gerade einen Brief.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie störe, Miss Crane, aber vielleicht können Sie sich auf mich besinnen. Mein Name ist Totty, ich war kürzlich in Marks Priory tätig.«

 

Sie sah sich nach ihm um und zuckte zusammen.

 

»Ach ja, ich erinnere mich«, erwiderte sie verstört. »Wollen Sie mich aus einem bestimmten Grund sprechen?«

 

Totty lächelte schwach, setzte sich auf einen Stuhl und legte seinen steifen Hut auf das Knie.

 

»Ich sah Sie zufällig, als Sie aus einem Wagen ausstiegen, glaubte dann aber; ich hätte mich getäuscht. Es kam mir merkwürdig vor, daß Sie sich in London aufhalten sollten.«

 

Während sie ihm zuhörte, beruhigte sie sich etwas.

 

»Wie geht es denn jetzt in Marks Priory?«

 

»Immer noch wie früher.«

 

»Und was macht Dr. Amersham?« fragte er kühn.

 

Sie holte tief Atem.

 

»Den habe ich seit langer Zeit nicht mehr gesehen.«

 

Er lächelte sie wohlwollend an.

 

»Das ist aber komisch. Ich hätte einen Eid darauf leisten mögen, daß ich Sie heute aus Ferrington Court kommen sah.«

 

Sie richtete sich plötzlich auf.

 

»Ja, ich habe ihn heute abend getroffen, aber ich dachte nicht, daß Sie das etwas anginge, Mr. Totty. Haben Sie mich beobachtet?«

 

Er nickte.

 

»Ich habe Sie ins Haus und auch wieder herauskommen sehen. Soweit ich es beurteilen kann, ist Dr. Amersham seinem Charakter nach kein Mann, den man nach dem Abendessen noch aufsucht, besonders wenn er alle seine Diener fortgeschickt hat.«

 

Sie sah ihn bestürzt an.

 

»Ich danke Ihnen, Sergeant Totty. Sie haben also heute gleichsam den Schutzengel gespielt?«

 

Er grinste vergnügt.

 

»Dafür bin ich bekannt. Auch wenn Sie nicht den Feueralarm gefunden hätten, so hätte ich doch dafür gesorgt, daß Ihnen nichts geschehen wäre.«

 

Sie sah ihn verwundert an.

 

»Ich stand nämlich draußen auf dem Balkon vor dem Fenster«, erklärte er. »Wissen Sie Näheres über Dr. Amersham?«

 

Sie zögerte und schüttelte dann den Kopf; aber er fühlte, daß sie ihm doch Auskunft hätte geben können.

 

»Nein, ich kann Ihnen nichts Besonderes erzählen – höchstens, daß er mit Lady Lebanon eng befreundet ist.«

 

»Ist er nicht ein bißchen vergnügungssüchtig? Man spricht so allerhand über ihn in Marks Thornton – da ist doch die Frau des Parkwächters –«

 

Er beobachtete sie genau. Allem Anschein nach war aber dieser Klatsch noch nicht zu ihren Ohren gekommen, denn sie schaute ihn ehrlich erstaunt an.

 

»Sie meinen doch nicht etwa Mrs. Tilling …? Nein, das ist unmöglich!«

 

Wieviel Totty von ihrer Unterhaltung mit Amersham hatte belauschen können, hätte sie zu gern gewußt. Hatte der Doktor so laut gesprochen, daß der Sergeant auch die Bemerkung über ihre Heirat gehört hatte? Jedenfalls ließ sich Totty nichts merken.

 

»Der Doktor ist heute abend nach Marks Priory gefahren«, sagte er schließlich nach einer anscheinend harmlosen Unterhaltung.

 

Sie war offenbar erstaunt. Unschlüssig warf sie einen Blick auf den Brief, den sie halb beendet hatte.

 

Totty verabschiedete sich und ging nach Scotland Yard zurück. Zu seiner Überraschung hörte er von dem Polizeibeamten am Eingang, daß Tanner noch in seinem Büro wäre und nach ihm gefragt hätte.

 

»Schlafen Sie denn nie?« erkundigte er sich, als er ohne weiteres in das Zimmer seines Vorgesetzten eintrat.

 

»Nun, was haben Sie herausbekommen? Setzen Sie sich dorthin, nehmen Sie Ihren Hut ab, lassen Sie die Hände von dem Zigarrenkasten und berichten Sie möglichst nur Tatsachen ohne Ausschmückungen.«

 

»Wir haben Glück, denn Bould ist drüben als Portier angestellt.«

 

»Ich kann mich noch auf ihn besinnen«, meinte Tanner, nachdem der Sergeant seinen Bericht beendet hatte. »Er mag uns in Zukunft vielleicht nützlich sein. Sie haben allerdings kaum etwas entdeckt, was ich nicht schon gewußt hätte, mit Ausnahme der geplanten Hochzeit, die aber weder Sie noch mich interessiert. Tilling war also vor dem Haus? Ich habe ihn heute nachmittag auch gesehen.«

 

»Der Kerl ist eifersüchtig.«

 

»Er hat auch allen Grund dazu. Ich glaube, wir müssen den Doktor warnen. Setzen Sie sich doch mit Bould in Verbindung und bitten Sie ihn, mir mitzuteilen, wann Amersham zurückkehrt. Ich will den Mann dann aufsuchen und mit ihm sprechen. Er muß wissen, daß er von dem eifersüchtigen Tilling bewacht wird. Der Mann soll einmal einen Hund mit den bloßen Händen erwürgt haben.«

 

»Er hat auch Studd erwürgt«, ergänzte Totty, aber Tanner schüttelte den Kopf.

 

»Das bezweifle ich. Studd wurde mit einem Tuch erwürgt, das aus Indien stammte. Wäre Tilling der Mörder gewesen, so hätte er die Tat mit seinen Händen vollbracht. Nein, unsere Untersuchungen haben uns auf eine andere Spur geführt, und zwar auf Amersham, der in Indien gelebt hat.«

 

Der Chefinspektor klingelte.

 

»Was wünschen Sie? Kann ich es für Sie besorgen?« fragte Totty.

 

»Ich möchte Sergeant Ferraby sprechen. Er muß noch im Hause sein.«

 

»Was wollen Sie denn von ihm?« sagte Totty vorwurfsvoll.

 

»Er soll Miss Crane beobachten. Wenn Sie die Sache machen wollen, können Sie es meinetwegen auch tun. Ferraby kann ihr nach Marks Thornton folgen und sehen, was er dabei beobachtet. Gleichzeitig kann er auch auf Mr. und Mrs. Tilling achten.«

 

Ferraby kam kurz darauf ins Zimmer. Er war groß und immer in guter Stimmung. Als er hörte, welche Aufgabe man ihm zugedacht hatte, freute er sich darüber.

 

»Kennen Sie denn die junge Dame?« fragte Tanner überrascht.

 

»Ich sah sie das letztemal, als wir in Marks Priory waren«, erklärte der Sergeant und wurde rot. »Sie ist außerordentlich hübsch.«

 

Totty schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

 

»Ihre Gedanken sind nicht bei der Arbeit, mein Junge.« Das stimmte mehr, als er ahnte, denn Sergeant Ferraby hatte sich heute in seinen Gedanken ausschließlich mit Isla Crane beschäftigt. Er war jung, und auch Detektive sind Menschen.

 

Kapitel 9

 

9

 

Zwei Tage später begleitete Ferraby seine Schutzbefohlene nach Marks Thornton, und nur widerwillig trennte er sich an dem Parktor von ihr. Sie hatte natürlich keine Ahnung, daß sie bewacht und beschützt wurde; nicht einen Augenblick vermutete sie, daß sich ein Beamter von Scotland Yard in ihrer Nähe befand und jeder ihrer Bewegungen scharf beobachtete.

 

Ferrabys Aufgabe war schwierig, weil Isla ihn bereits kannte und schon mit ihm gesprochen hatte. Er wartete, bis ihr Auto außer Sicht kam; erst dann fuhr er zu dem Dorfgasthaus zurück und entließ den Wagen, den er vom Bahnhof aus benützt hatte.

 

Als er eintrat, sah er in der sonst leeren Gaststube einen jungen Mann hinter dem Schanktisch und benützte diese gute Gelegenheit, um Tottys Bericht nachzuprüfen. Er nahm an, daß er Tom, den Sohn des Gastwirts, vor sich hatte. Aber als er ihn vorsichtig auszufragen begann, unterbrach ihn dieser plötzlich.

 

»Sind Sie nicht ein Beamter von Scotland Yard? Sie kamen doch mit Mr. Tanner hierher? Haben Sie inzwischen etwas Neues über den Mordfall Studd herausgebracht?«

 

»Nein«, erwiderte Ferraby kurz; er ärgerte sich, daß man ihn wiedererkannte.

 

Tom wischte mit einem Tuch mechanisch die Tischplatte ab.

 

»An dem Abend war ich nicht hier – ich fuhr zum Geburtstag meines Onkels nach London und blieb die Nacht dort.«

 

»Tilling hat Sie doch begleitet?«

 

Der junge Mann grinste.

 

»So, das wissen Sie? Ja, wir sind zusammen zur Stadt gefahren, aber Tilling ist früher zurückgekommen.«

 

»Er ist die Nacht nicht im Gasthaus Ihres Onkels geblieben?«

 

»Nein. Es war kein Platz für ihn da, und außerdem ist er immer ungemütlich, wenn er getrunken hat. Mit dem letzten Zug ist er nach Hause gefahren. Der hat zuviel nachzudenken; in der letzten Zeit hat er überhaupt kein freundliches Wort für andere Leute übrig. Heute abend war er hier, aber ich konnte nichts aus ihm herausbringen. Er brummte nur mürrisch vor sich hin. Haben Sie neue Anhaltspunkte, Mr. Ferraby?«

 

Der Sergeant lächelte.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß. Außerdem bin ich nicht beruflich nach Marks Thornton gekommen. Ich möchte mich etwas erholen.«

 

Tom sah ihn argwöhnisch von der Seite an. Es erschien ihm unglaubwürdig, daß ein Detektiv von Scotland Yard seinen Urlaub in Marks Thornton verbringen wollte.

 

»Dann sind Sie vielleicht wegen der anderen Geschichte hier ich meine die Sache mit den gefälschten Banknoten. Wie hieß der Kerl doch gleich? Wenn ich mich nicht sehr irre, war es Briggs. Der wohnte hier, als der Mord begangen wurde. In derselben Nacht hat er hier logiert. Vater und ich haben uns oft darüber unterhalten, ob er vielleicht etwas mit der Geschichte zu tun haben könnte. Er sah allerdings nicht sehr gefährlich aus. Aber wenn man die Bilder der Schwerverbrecher in der Zeitung sieht, unterscheiden sie sich eigentlich gar nicht so sehr von anderen Leuten.«

 

Ferraby grinste.

 

»Ich glaube, wir müssen Sie nächstens noch als Detektiv anstellen«, erwiderte er und fragte dann vorsichtig, warum Tilling denn so schlechter Laune wäre.

 

»Die Frau würde jeden Mann zum Trinken bringen«, erklärte Tom mit Nachdruck. »Ich kann dem armen Kerl wirklich keinen Vorwurf machen; er muß ein schreckliches Leben haben! Die Frau ist sehr hübsch. Sie war Zofe, als Tilling sie kennenlernte. Natürlich laufen ihr die Männer nach. Man sagt auch, daß der Doktor –«

 

Er hielt inne.

 

»Meinen Sie Dr. Amersham?«

 

Tom schnitt ein Gesicht und machte sich wieder mit großem Eifer daran, den Schanktisch abzuwischen.

 

»Namen nenne ich nicht. Welchen Zweck hat es auch, all den Klatsch aufzuwärmen? Die Leute in Marks Thornton haben ein böses Mundwerk.«

 

Am Abend berichtete der Sergeant an Chefinspektor Tanner, und am nächsten Morgen machte er einen weiten Spaziergang, der ihn in die Nähe des Tillingschen Hauses führte.

 

In etwa hundert Meter Entfernung hielt er an, setzte sich auf einen niedrigen Zaun und rauchte seine Pfeife. Nachdem er ungefähr eine Stunde gewartet hatte, wurde seine Geduld belohnt. Eine Frau verließ das Haus, ging den Fußpfad entlang und trat dann auf die Straße hinaus.

 

Sie trug einen kleinen Korb und wollte allem Anschein nach ins Dorf gehen, um dort einzukaufen. Als sie an Ferraby vorbeikam, warf sie ihm einen schnellen Blick zu. Auf jeden Fall war sie sehr hübsch; sie kleidete sich gut und vorteilhaft, trug elegante Schuhe, seidene Strümpfe und einen entzückenden Hut. Ferraby bemerkte sogar eine kleine diamantenbesetzte Uhr an ihrem Handgelenk.

 

»Ach, entschuldigen Sie«, sprach er sie an. »Ist das große Gebäude dort drüben Marks Priory?«

 

Sie drehte sich sofort um, und Ferraby hatte den Eindruck, daß sie bestimmt erwartet hatte, von ihm angesprochen zu werden.

 

»Ja, das ist Marks Priory.«

 

Ihre Stimme klang etwas gewöhnlich, aber ihre Augen waren schön und leuchteten.

 

»Das ist aber nicht der Haupteingang«, sagte sie und wies mit dem Kopf auf das Tor. »Der liegt in der Nähe des Dorfes. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?«

 

Sie sah ihn halb furchtsam von der Seite an.

 

»Das würde mir das größte Vergnügen machen.«

 

Er fühlte, daß er durch Höflichkeit hier viel erreichen konnte, ging neben ihr her und unterhielt sich zuvorkommend und freundlich mit ihr.

 

Ein- oder zweimal sah sie sich um, als ob sie erwartete, daß ihr jemand folgte. Beim zweitenmal wandte sich auch Ferraby um.

 

»Hat jemand gerufen?« fragte er.

 

»Ach nein«, erwiderte sie und zog die linke Schulter hoch. »Es ist nur wegen meinem Mann – ich dachte, es könnte ihm einfallen, hinter mir herzukommen. Kennen Sie das Schloß schon?«

 

»O ja, ich kenne dort zwei Leute.«

 

»Etwa Mylady?«

 

Sie schaute ihn argwöhnisch an, denn sie konnte sich eine Bekanntschaft zwischen einem Mann und einer Frau nicht anders vorstellen, als daß Liebe oder Zuneigung eine Rolle dabei spielten. Sosehr Lady Lebanon von allen andern Bewohnern im Dorf geachtet wurde, für Mrs. Tilling war sie auch nur eine Frau.

 

»Ja, ich habe Mylady getroffen.«

 

»Kennen Sie den jungen Lord auch?«

 

»Heute morgen sah ich ihn den Fahrweg entlanggehen.«

 

Sie warf ihm einen sonderbaren Blick zu. »Wenn Sie die Zufahrtsstraße kennen, warum fragen Sie dann nach dem Weg?«

 

Ferraby machte nun einen kühnen Schachzug.

 

»Sie wissen ganz genau, daß man einen Vorwand sucht, um eine Dame anzusprechen, die man gern kennenlernen möchte.«

 

Er hatte seinen Zweck vollkommen erreicht, denn sie lachte leise vor sich hin.

 

»Ich hatte mir das auch schon gedacht. Aber Sie bringen mich in schlechten Ruf. Die Leute reden zwar schon so viel über mich, daß es nicht mehr darauf ankommt. Kennen Sie eigentlich Dr. Amersham?« fragte sie gleichgültig, aber er merkte sofort die Absicht und ließ sich nicht täuschen.

 

»Ich habe ihn einmal flüchtig gesehen.«

 

»Er ist ein sehr liebenswürdiger Herr und außerordentlich klug. Ich bewundere solche Leute.«

 

Sie sprach schnell, und obwohl sie allgemeine Redensarten gebrauchte, klangen sie aus ihrem Mund doch originell.

 

»Klugheit und Verstand machen immer großen Eindruck auf mich«, fuhr sie fort. »Mir liegt mehr daran, daß ein Mann einen klugen Kopf hat, als daß er gut aussieht. Was Dr. Amersham nicht alles weiß … Ich bin immer wieder erstaunt darüber. Er ist auch viel im Ausland gewesen, und ein Arzt weiß sowieso mehr als andere Leute. Meinen Sie nicht auch, Mr. –?«

 

»Mein Name ist Ferraby. Ist Ihr Mann denn nicht auch klug?«

 

»Ach, der!« erwiderte sie verächtlich. »Er ist ganz nett, aber er fällt mir auf die Nerven.«

 

Sie sprach rückhaltlos, und es war leicht zu erkennen, wie sie auf Personen und Ereignisse reagierte. Nach einer Weile blieb sie stehen.

 

»Hier ist der Fahrweg zum Herrenhaus, aber ich glaube, das wissen Sie ebensogut wie ich. Bleiben Sie lange hier?«

 

Ferraby, eine schlanke, große Erscheinung, war ausgesprochen ihr Typ, wenn er es auch nicht wußte.

 

»Ein oder zwei Tage«, erwiderte er und wurde plötzlich rot.

 

Isla Crane kam den Weg herunter. Als sie vorüberkam, warf sie ihm einen schnellen, erstaunten Blick zu und ging weiter, ohne zu grüßen. Dieser Blick sagte ihm zweierlei: erstens, daß sie sich an ihn erinnerte; zweitens, daß sie überrascht war, ihn in einer Unterhaltung mit der Frau des Parkwächters zu finden. Am liebsten wäre er ihr nachgeeilt und hätte ihr alles erklärt. Aber was hätte sie wohl zu einer solchen Unverschämtheit gesagt?

 

»Das ist Miss Crane«, erklärte Mrs. Tilling, die seine Verlegenheit nicht bemerkte, »die Sekretärin von Mylady. Sie ist furchtbar hochnäsig, und dabei sagen die Leute, daß sie kein Vermögen hat und nur von dem lebt, was sie hier auf dem Schloß verdient. Wenn man sie so daherkommen sieht, könnte man glauben, sie wäre eine Königin.«

 

Mrs. Tilling hatte so hart und böse gesprochen, daß sich Ferraby wunderte.

 

Plötzlich reichte sie ihm ihre kleine Hand, die in einem eleganten Handschuh steckte, und verabschiedete sich.

 

Er hatte die Empfindung, daß jemand am Fenster des Wirtshauses stand und sie beobachtete. Sicher war es Tom, denn als er ins Gasthaus eintrat, begrüßte ihn der junge Mann grinsend.

 

»Die hat sich also auch schon an Sie herangemacht? Wie die es bloß immer anstellt, daß sie sofort mit allen Leuten bekannt wird! Ich halte mich von ihr fern; ich bin verlobt, und mit meiner Braut ist in der Beziehung nicht zu spaßen.«

 

Tom trat hinter den Schanktisch.

 

»Ist es Ihnen noch zu früh für ein Glas Bier?«

 

»Nein, ich trinke immer ganz gern ein Glas«, log Ferraby.

 

Plötzlich hörte er Schritte hinter sich, und eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.

 

»Kennen Sie meine Frau?« fragte jemand.

 

Ferraby drehte sich gelassen um und schaute in das dunkle Gesicht des Parkwächters, dessen Augen zornig aufblitzten.

 

»Wenn Sie noch einmal Ihre Hand auf meine Schulter legen«, sagte er mit Nachdruck, »dann schlage ich Ihnen mit der Faust unters Kinn. Ich kenne Ihre Frau nicht – wenn Sie Mr. Tilling sind. Ich bin nur mit ihr die Straße zum Dorf entlanggegangen. Wenn Sie sonst noch etwas wissen wollen, dann fragen Sie schnell, bevor ich Sie hier hinauswerfe.«

 

»Ich habe ein Recht zu fragen, oder wollen Sie das bestreiten? Es soll nicht jeder Fremde meine Frau anquatschen –«

 

»Ich bin hier kein Fremder.« Ferraby nahm die Sache nicht mehr tragisch. »Ich bin ein Detektiv von Scotland Yard und habe ein Interesse daran, mich mit allen Leuten gutzustellen.«

 

Tilling erschrak und sah den jungen Beamten von der Seite an.

 

»Von Scotland Yard?« stotterte er. »Das wußte ich nicht. Was wollten Sie denn von meiner Frau wissen?«

 

Kapitel 25

 

25

 

Nachdem Tanner in der Halle seine Patience zu Ende gelegt hatte, stand er auf und trat zu Totty.

 

»Ein Mann, der sich selbst bei der Patience bemogelt, ist zu allen Schandtaten fähig«, sagte er, nachdem er dem Sergeanten eine Weile zugesehen hatte.

 

»Aber ein Mann, der nicht sein eigenes Glück im Auge hat, ist ein Narr.«

 

Totty mischte die Karten, legte sie auf den Tisch und gähnte.

 

»Ferraby sagte vorhin, daß er nächstens anfinge, sich zu fürchten. Übrigens hat dieser Brooks eine Pistole bei sich. Als er sich bewegte, sah ich die Umrisse der Waffe in seiner Hüfttasche. Der Kerl wird uns noch zu schaffen machen.«

 

»Das wird ihm aber schlechter bekommen als uns«, meinte der Chefinspektor.

 

Im nächsten Augenblick hörten sie einen dumpfen Fall.

 

»Gehen Sie schnell und sehen Sie nach, was da los ist.«

 

Totty erhob sich langsam.

 

»Wo war das? Soll ich die Treppe hinaufgehen?«

 

»Ja! Fürchten Sie sich etwa?«

 

»Allerdings«, erwiderte Totty, ohne sich im mindesten zu schämen. »Sie hatten wohl nicht erwartet, daß ich das zugebe?«

 

Trotzdem eilte er die Treppe hinauf. Tanner blieb unten, er hörte kein Geräusch, bis sein Name gerufen wurde.

 

»Kommen Sie rasch her!« rief Totty aufgeregt. Tanner und Gilder, der eben in die Halle gekommen war, liefen zum Zimmer des alten Lords hinauf. Brooks lag auf dem Rücken, und Totty gab sich die größte Mühe, ein Seidentuch aufzuknoten, das um die Kehle des Mannes geschlungen war.

 

»Mit dem ist es wohl vorbei«, stöhnte der Sergeant.

 

»Lassen Sie mich das aufknoten«, sagte Gilder und kniete neben seinem Kameraden nieder. Ein paar Sekunden später hatte er das Tuch entfernt und Kragen und Hemd des Halberstickten aufgerissen. Er massierte den Hals, und vor Anstrengung und Aufregung trat Schweiß auf seine Stirn. Zum erstenmal sah Tanner, daß der Amerikaner seine Ruhe verloren hatte.

 

»Er ist nicht tot.« Gilder wandte sich um. »Holen Sie mir doch schnell einen Kognak.«

 

Totty eilte nach unten und brachte eine volle Flasche. Vorsichtig flößten sie Brooks etwas von dem Stärkungsmittel ein, und nach und nach gab er Lebenszeichen von sich. Die Augenlider hoben sich, und die Hände zuckten krampfhaft.

 

»Er kommt bald wieder zu sich«, sagte Gilder, immer noch atemlos. »Helfen Sie mir, wir wollen ihn in sein Zimmer tragen. Beinahe wäre es um ihn geschehen gewesen. Selbst seine Pistole hätte ihm nichts helfen können, wenn er sie bei sich gehabt hätte.«

 

Gilder war um das Leben seines Freundes sehr besorgt; im übrigen hatte er seine Ruhe zurückgewonnen.

 

Sie trugen Brooks in sein Schlafzimmer und legten ihn aufs Bett. Plötzlich fiel Tanner ein, daß der Raum, in dem sie den Mann halbtot aufgefunden hatten, doch eigentlich Islas Schlafzimmer war.

 

»Wo ist Miss Crane?« fragte er schnell.

 

Gilder sah auf, senkte den Blick aber sofort wieder.

 

»Ich weiß es nicht«, entgegnete er etwas gezwungen. »Sie muß irgendwo im Hause sein.« Es war ein letzter vergeblicher Versuch, die Situation zu retten.

 

»Und wo ist Ferraby?«

 

Totty traf seinen Kollegen halbwegs auf der Treppe und erklärte ihm, was geschehen war. Als Ferraby begriffen hatte, verlor er die Fassung.

 

»Nun hören Sie aber endlich mit den dummen Fragen auf, und reißen Sie sich zusammen«, fuhr ihn Tanner schließlich an. »Wir sind doch hier nicht in einer Kleinkinderbewahranstalt! Machen Sie sich sofort auf und durchsuchen Sie das ganze Haus, bis Sie Miss Crane finden – dann haben Sie wenigstens etwas zu tun. Totty, Sie brauchen auch nicht bei Brooks zu bleiben, der kommt schon von selbst wieder zu sich. Wo ist eigentlich Gilder?«

 

Der amerikanische Diener hatte sich unbemerkt davongeschlichen, als Ferraby auf der Bildfläche erschienen war.

 

»Soll ich ihn suchen?« fragte Totty und trat einen Schritt auf die Tür zu. Im selben Augenblick ging das Licht aus. Totty und Tanner tasteten sich auf den Gang hinaus, wo es auch stockdunkel war.

 

»Jemand muß an dem Hauptschalter gedreht haben. Totty, Sie wissen doch, wo der ist?«

 

»Ja, das habe ich sofort nach meiner Ankunft hier festgestellt. Ich werde ihn auch wiederfinden.«

 

»Haben Sie eine Taschenlampe? Gut! Aber halten Sie Ihren Gummiknüppel bereit. Sie werden ihn wahrscheinlich brauchen. Ich gehe in die Halle zurück.«

 

Der Sergeant schlich sich vorsichtig den Gang entlang und tastete sich an der Wand die Treppe hinunter.

 

Der Hauptschalter lag in einem kleinen Kellerraum, zu dem man durch die Küche gelangte. Als Totty dort hinkam, fand er die Tür weit offen. Er leuchtete die Steinstufen hinunter und packte den Gummiknüppel fester. Vorsichtig und langsam stieg er dann abwärts und lauschte. Er glaubte, jemand schwer atmen zu hören, und suchte mit der Lampe, ob er nicht jemand entdecken könnte. Aber es war kein Mensch zu sehen. Allerdings bemerkte er verschiedene Nischen, in denen man sich gut verbergen konnte.

 

»Kommen Sie heraus aus Ihrem Versteck!« befahl er.

 

Niemand antwortete.

 

Zunächst war es seine Aufgabe, wieder Licht zu schaffen. Er konnte auch den Hauptschalter sehen, aber gerade, als er die Hand ausstreckte, um ihn zu drehen, erhielt er einen so heftigen Schlag auf den Kopf, daß er die Lampe fallen ließ. Im nächsten Augenblick fuhr er herum, um den Unbekannten zu packen, aber der Schlag hatte ihn stark mitgenommen. Er schlug mit der Faust aufs Geratewohl und traf ins Leere. Dann flog etwas an seinem Kopf vorbei und polterte gegen die Wand. Das Wurfgeschoß zerbrach und fiel in einzelnen Teilen zu Boden. Es mußte ein großes Stück Kohle gewesen sein.

 

Wieder stieß Totty zu, ohne zu treffen. Dann eilte jemand die Treppe hinauf, warf die Tür zu und riegelte sie von außen ab.

 

Mit philosophischer Ruhe ergab sich Totty in sein Schicksal. Zuerst tastete er sich bis zum Hauptschalter und drehte ihn wieder an. Sofort flammte eine Lampe in dem kleinen Raum auf, in dem er sich befand, und nun bemerkte er auf der einen Seite einen Kohlenhaufen. Bald darauf fand er auch seine Taschenlampe wieder, die glücklicherweise nicht beschädigt worden war. Dann zog er ein Stück starke Schnur aus der Tasche und befestigte damit den Griff des Hauptschalters, so daß dieser nicht so schnell wieder gedreht werden konnte. Erst dann sah er sich nach einer Möglichkeit um, die Tür zu öffnen.

 

Er brauchte jedoch keine Gewalt anzuwenden, denn er hörte Ferraby, der in die Küche gekommen war. Gleich darauf riegelte dieser die Tür auf, so daß Totty heraus konnte. Der Sergeant war noch etwas benommen von dem Schlag, den er erhalten hatte.

 

»Haben Sie Miss Crane gefunden?« fragte er schnell. Ferraby hatte sich inzwischen etwas gefaßt.

 

»Nein. Sie muß aber irgendwo im Haus stecken. Tanner ist auch nicht mehr so besorgt um sie.«

 

Er wartete nicht auf Tottys Antwort, sondern eilte wieder davon.

 

Bevor Totty wegging, schenkte er sich erst ein Glas kaltes Wasser ein und trank es langsam aus. Als er dann in die Halle zurückkehrte, stellte ihm Tanner viele Fragen.

 

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen, aber ich habe seine Nähe zu spüren bekommen«, erwiderte der Sergeant grimmig. »Der Kerl war so schnell, daß ich ihn nicht packen konnte.«

 

»Mit einem Stück Kohle hat er Sie also bombardiert? Sie haben Glück gehabt, das muß ich sagen. Er hatte wohl vergessen, daß er ein Schießeisen in der Tasche hatte. Nachdem Sie gegangen waren, fiel es mir ein, und wenn ich offen sein soll – ich habe nicht erwartet, Sie noch einmal lebend wiederzusehen.«

 

Totty schluckte.

 

»Ich danke Ihnen für diese Sympathiekundgebung«, brummte er. »Woher hat der Kerl denn die Waffe?«

 

»Die hat er Brooks heute abend abgenommen. Das war das erste, was der Diener berichtete, als er wieder zu sich kam. Er hat alles eingestanden, aber ich wußte ja schon Bescheid.«

 

»Wissen Sie denn, wer es ist?«

 

Tanner nickte.

 

»Ja. Als mir Lord Lebanon erzählte, daß sie ihm ein Schlafmittel in den Whisky geschüttet hätten, lag der Fall für mich klar. Zufällig kannte ich auch das Schlafmittel, das sie benützten.«

 

Der Chefinspektor legte Totty die Hand auf die Schulter.

 

»Wenn wir heute ohne weiteren Zwischenfall durchkommen, bitte ich morgen den Polizeipräsidenten, Sie zu befördern. Es geht mir zwar gegen den Strich, daß Sie Inspektor werden sollen, aber schließlich muß es doch einmal geschehen.«

 

Totty lächelte bescheiden.

 

»Lady Lebanon ist in ihrem Zimmer«, fuhr Tanner fort, »und will nicht herunterkommen. Ich glaube, ihr Widerstand ist bald gebrochen. Früher oder später muß das ja eintreten – hallo, Ferraby, was machen Sie denn?«

 

Der junge Sergeant kam aufgeregt näher.

 

»Ich kann sie nirgends finden –«

 

»Geben Sie sich weiter keine Mühe. Miss Crane ist in Gilders Zimmer und schläft. Vor ein paar Minuten habe ich sie selbst dort gesehen. Hier ist der Schlüssel zu dem Raum.«

 

»Was, in Gilders Zimmer?« fragte Ferraby atemlos. »Und Sie haben den Schlüssel abgezogen?«

 

Tanner nickte.

 

»Sie ist nicht in unmittelbarer Gefahr, und ich hoffe, es wird ihr nichts geschehen.«

 

»Gott sei Dank!« erwiderte Ferraby. »Das waren die schlimmsten Augenblicke meines Lebens. Lord Lebanon wollte übrigens wissen, was das alles zu bedeuten hätte, aber ich habe es ihm nicht gesagt. Ich traf ihn vor der Tür zu dem Zimmer seiner Mutter. Nachher sagte er mir, daß sie ihn nicht hineingelassen hätte.«

 

»Lady Lebanon hat auch allen Grund, allein zu bleiben. Wo ist der Lord?«

 

Kaum hatte er diese Frage geäußert, als der junge Mann selbst mit wirren Haaren die Treppe heruntereilte. Allem Anschein nach war er aus dem Schlaf geweckt worden, denn er trug einen Morgenrock über dem Pyjama und erschien ohne Schuhe und Strümpfe.

 

»Sie werden sich erkälten«, meinte Tanner lächelnd. »Und das hat keinen Zweck.«

 

»Meine Mutter will nicht mit mir reden –«, begann Willie.

 

»Sie hat heute abend auch schon zuviel Aufregung gehabt«, versuchte Tanner ihn zu beruhigen. »Ich würde mir deshalb keine Sorgen machen. Totty, gehen Sie doch einmal hinauf und fragen Sie Lady Lebanon, ob sie nicht herunterkommen möchte. Sagen Sie ihr, daß ich es wünsche. Ferraby, beruhigen Sie die Dienerschaft und schicken Sie die Leute zu Bett.«

 

Der Chefinspektor blieb mit dem jungen Lord allein, wie er es beabsichtigt hatte.

 

»Wo ist denn Isla? Ich war in ihrem Zimmer, fand sie aber nicht. Um Himmels willen, die Sache wird immer schlimmer!«

 

»Ja, das ist wahrscheinlich der Höhepunkt.«

 

Tanner glaubte in Wirklichkeit aber, daß der Höhepunkt erst kommen würde, wenn sich Lady Lebanon zeigte. Welchen Ausweg würde sie suchen? Würde sie sich das Leben nehmen?

 

»Was hat das alles eigentlich zu bedeuten?« fragte der junge Lord ungewöhnlich entschieden. »Vergessen Sie bitte, daß ich ein ziemlich weicher, leicht zu beeinflussender Mensch war und allen Leuten erlaubte, mich zu leiten und mein Leben zu lenken. Ich habe mich jetzt endlich entschlossen, die Führung selbst in die Hand zu nehmen und von diesem abscheulichen Schloß wegzugehen. Marks Priory fällt mir tatsächlich auf die Nerven. Wissen Sie auch, wer in dem Zimmer ist, das sie nicht öffnen wollte? – Meinen Vater hält sie dort gefangen! Ich bin gar nicht Lord Lebanon.«

 

Tanner starrte ihn verblüfft an. Diese Enthüllung hatte er nicht erwartet. Aber dann unterdrückte er sein Erstaunen.

 

»Er war der Mann, der all diese Unruhe verursacht hat«, fuhr Willie Lebanon fort. »Jetzt ist er fort – ich wette, daß er viele Meilen entfernt ist. Er konnte ins Haus kommen und gehen, wann er wollte. Da staunen Sie, was?«

 

»Das muß ich zugeben«, entgegnete Tanner ruhig. Willie saß im Stuhl seiner Mutter und hatte die Hände gefaltet.

 

Tanner schob einen Sessel an die andere Seite des Tisches und setzte sich ihm gegenüber.

 

»Immer hat sie von der Familie geredet und von den Ahnen – ich mag kein Wort mehr davon hören!« Willie lehnte sich vor. »Meinen Sie nicht auch, daß es jetzt Zeit ist, ein Ende zu machen? Erst Studd – dann Amersham – und nun der arme Brooks!«

 

Tanner schüttelte den Kopf. »Sie urteilen ein wenig zu früh – Brooks ist nicht tot.«

 

»So? Es hat mir aber doch jemand gesagt, daß er tot wäre … Nun, dann freue ich mich. Er ist wirklich kein schlechter Mensch. Aber denken Sie nicht auch wie ich? Diese ganze Familie sollte ausgerottet werden!«

 

»Ich verstehe nicht recht, wie Sie das meinen.«

 

Lebanon bewegte sich unruhig in seinem Sessel.

 

»Die Geschichte geht nun schon seit vielen Jahren. Die Lebanons waren immer so – wußten Sie das nicht?«

 

Er sprach leise und vertraulich weiter.

 

»Mein Vater war auch so … fünfzehn Jahre hat er im Zimmer des alten Lords gelebt – er war vollständig verrückt und hatte den Verstand verloren!« Willie Lebanon lachte vor sich hin. »Und die beiden Amerikaner mußten nach ihm sehen – sie waren seine Wärter!«

 

»Das habe ich vermutet!«

 

Lord Lebanon stützte den Kopf in die Hand.

 

»Aber niemals hat er einen Menschen erwürgt!« Seine Stimme zitterte vor Erregung und Stolz. »Der alte Lord war immer eine Gefahr, aber heimlich hinter jemand herschleichen und ihm die Kehle zuschnüren – das konnte er nicht!«

 

Langsam wandte sich der Lord Tanner zu.

 

»Mein Vater ist tot – das wissen Sie. Er war wirklich vollkommen wahnsinnig. Habe ich Ihnen nicht vorhin erzählt, daß er oben in dem Zimmer wäre? Nun, da habe ich Sie angelogen. Ich kann nämlich sehr leicht lügen. Ich habe eine unglaubliche Erfindungsgabe und kann schnell handeln. Ich hörte doch, wie Sie sagten: ›Das war schnelle Arbeit!‹« Er lachte unheimlich auf. »In Puna habe ich das erstemal beobachtet, wie es gemacht wird. Ich sah, wie ein kleiner, schmutziger Kerl plötzlich hinter einem großen, kräftigen Mann herschlich und ihm ein Tuch um den Hals warf. Gleich darauf war der andere tot. Es war einfach toll!«

 

Tanner sagte nichts.

 

»Ich habe es dann an einem jungen Mädchen versucht, einer Eingeborenen. Die war auch im Handumdrehen erledigt.« Er schnappte mit den Fingern, und seine Augen leuchteten auf.

 

Das war also das Geheimnis von Marks Priory. Tanner ahnte es seit einiger Zeit. Dieser junge Lord hatte die ganze Welt hinters Licht geführt, hatte den Polizeibeamten Sand in die Augen gestreut und alle Menschen getäuscht. Nur seine eigene Mutter wußte alles. Sie litt schwer darunter, setzte aber alles daran, ihn zu beschützen – den Letzten der Lebanons.

 

»Es ist merkwürdig, wie schnell Menschen sterben können.«

 

Willie steckte die Hand in die Tasche seines Morgenrocks, zog ein langes rotes Seidentuch heraus und lachte vor Vergnügen, als er es ansah.

 

»Schauen Sie einmal her. Ich habe eine ganze Menge von diesen Tüchern aus Indien mitgebracht. Amersham hat mir einmal einige fortgenommen, aber er wußte nicht, wo ich die anderen aufbewahrte. Sie sind erstaunt? Ich bin nicht gerade groß, aber ich habe unheimliche Kräfte. Fühlen Sie einmal meine Muskeln.«

 

Er bog den Arm, und Tanner umspannte den oberen Teil. Niemals hätte er geglaubt, daß Willie Lebanon so stark sein könnte.

 

»Mir hat es furchtbar viel Spaß gemacht«, fuhr Willie fort. »Die Leute sagten immer: ›Ach, seht doch mal den schwächlichen jungen Kerl!‹«

 

Aber dann wurde er wieder ernst und kehrte zu seiner Geschichte zurück.

 

»Sie machten damals viel Aufhebens von dem indischen Mädchen. Die Leute beim Regiment trauten es mir gar nicht zu; die wußten nicht, daß ich so viel Kraft besaß, und als es herauskam, war es eine Überraschung für sie.«

 

»Ist es dasselbe Mädchen, von dem Sie mir in Scotland Yard erzählten?«

 

Der junge Lord lachte.

 

»Ja. Amersham hätte nie den Mut gehabt, das zu tun. Ich habe Sie damals nur aufgezogen, ich wollte Sie hinters Licht führen. Das hat mir von jeher das größte Vergnügen bereitet.«

 

»Die Sache wirbelte also damals viel Staub auf?« fragte Tanner.

 

Er sprach so ruhig, daß man hätte glauben können, die beiden unterhielten sich über ein alltägliches Thema. Auf diese Enthüllung hatte er schon den ganzen Abend gewartet und deshalb seine beiden Assistenten fortgeschickt. Er wußte, daß Lord Lebanon in ihrer Gegenwart nichts gesagt hätte. Nur unter vier Augen würde ihm der junge Mann die Wahrheit anvertrauen.

 

»Ja, es gab einen unheimlichen Krach. Meine Mutter schickte Amersham nach Indien, damit er mich nach Hause bringen sollte. Er war ein ganz gemeiner Kerl, ein Mensch, der eigentlich nichts mit unserer Familie zu tun hatte. Es kam ihm gar nicht darauf an, Dokumente zu fälschen und anderer Leute Namen zu mißbrauchen. Schrecklich war das! Lassen Sie sich mit dem Menschen nicht ein!« sagte er mit Nachdruck.

 

Für ihn schien Amersham im Augenblick noch zu leben.

 

»Nachdem er mich nach England zurückgebracht hatte, ließ meine Mutter die beiden Leute wiederkommen, die auch nach meinem Vater gesehen hatten … Gilder und Brooks. Sie sind in Wirklichkeit keine Diener, sie sollten sich nur um mich kümmern. Sie verstehen, was ich meine?«

 

»Ja, vollkommen.«

 

Plötzlich kam dem jungen Lord ein Gedanke, der ihn belustigte.

 

»Sie erinnern sich doch an den Raum, den meine Mutter Ihnen nicht zeigen wollte? Ich kann Ihnen sagen, was darin ist. Alle Wände sind ausgepolstert, und überall sehen Sie Gummikissen. Ich mußte immer hineingehen, wenn mir die Dinge klarwurden.«

 

»Sie meinen, wenn Sie den anderen unangenehm wurden?« erwiderte Tanner lächelnd.

 

»Nein, wenn mir die Dinge klarwurden«, entgegnete der Lord ärgerlich. »Ich weiß genau, was ich sage. Wenn ich alles deutlich sehe, wie es wirklich ist, dann ist es schrecklich, und nur wenn ich in große Erregung komme, kann ich klar denken.«

 

Tanner lehnte sich über den Tisch, und Lebanon wich schnell zurück.

 

»Rühren Sie mich nicht an!« Er legte die Hand auf die Brust.

 

»Ich brauche nur Feuer – seien Sie einmal der höfliche Gastgeber.«

 

Als Willie das hörte, wurde er wieder freundlich.

 

»Es tut mir leid – außerordentlich leid.«

 

Er steckte ein Streichholz an und hielt es Tanner mit ruhiger Hand hin, während der an seiner Zigarre zog. Dann blies er es aus und legte es sorgfältig auf den Aschenbecher.

 

»Sind Sie nun Freund oder Feind?« fragte er.

 

»Wie können Sie so etwas fragen? Ich bin doch Ihr Freund.«

 

»Sie haben aber nach Scotland Yard telefoniert, daß man drei Ärzte schicken soll, um mich für verrückt zu erklären. Ich habe es selbst gehört, daß Sie das am Apparat sagten.«

 

»Die besuchen mich doch nur«, protestierte Tanner.

 

»Das ist nicht wahr. Sie kommen meinetwegen.« Willies Züge verhärteten sich. »Aber ich kann ihnen schon etwas vorlügen, genau wie Ihnen und all den anderen. Meine Mutter war leider von diesem verdammten Amersham abhängig. Der hatte sie in seiner Gewalt. Ich werde Ihnen auch sagen, warum. Sie verwaltete das Vermögen meines Vaters, was eigentlich durch das Vormundschaftsgericht hätte geschehen müssen. Natürlich wäre sie in Teufels Küche gekommen, wenn man das erfahren hätte. Amersham drohte ihr immer, daß er zur Polizei gehen würde, deshalb hat sie ihm viel Schweigegeld gegeben.«

 

»Warum waren Sie aber so unfreundlich zu Ihrem Chauffeur?«

 

Der junge Lord wurde traurig.

 

»Das tut mir entsetzlich leid. Er war ein so guter Kerl, aber ich fürchtete mich nun einmal vor Indern. Die haben einmal versucht, mich umzubringen; sie waren damals so aufgebracht wegen des jungen Mädchens.

 

Ich wußte nicht, daß dieser Maskenball im Dorf abgehalten wurde, und als ich den Inder auf dem Weg durch den Park sah, bekam ich Angst vor ihm – und dann ist es eben geschehen …«

 

Tanner sah, daß Willie Lebanon die Tat aufrichtig bereute.

 

Tränen standen in den Augen des Lords, denn er hatte Studd wirklich gern gehabt.

 

»Ich habe noch eine Woche hinterher geweint. Meine Mutter und die Dienstboten werden Ihnen das bestätigen. Zu seiner Beerdigung habe ich kostbare Blumen geschickt, und seine Schwester hat zweihundert Pfund von mir bekommen. Sie war seine einzige Verwandte. Das Geld habe ich aus der Kassette meiner Mutter gestohlen. In Wirklichkeit gehört mir doch alles, aber meine Mutter war damals, wie immer, sehr ärgerlich.«

 

Er sah nach der Treppe, dann nach der Tür.

 

»Soll ich Ihnen einmal etwas zeigen?« fragte er lächelnd. »Aber Sie müssen mir vorher versprechen, niemand etwas davon zu sagen.«

 

»Ich gebe Ihnen mein Wort.«

 

Lebanon zog eine Pistole aus der Tasche.

 

»Die habe ich Brooks abgenommen«, sagte er befriedigt. »Und ich habe es sehr geschickt gemacht. Ich wollte schon immer eine Schußwaffe haben.«

 

Er sah Tanner plötzlich wieder ernst an.

 

»Man kann sich selbst erwürgen, aber es ist sehr schwer, und die Leute sehen auch so häßlich aus.« Schaudernd schloß er die Augen. Als er sie wieder öffnete, war sein Gesicht verzerrt und eingefallen. »Manchmal ist mir schon der Gedanke gekommen, daß diese ganze Familie aufhören muß zu existieren, mit all ihren Wappen und Wahlsprüchen. Meine Mutter sagt zwar immer, die Linie müßte fortgepflanzt werden, aber das ist doch einfach lächerlich!«

 

»Mein armer, lieber Junge«, sagte Tanner nach einer Weile freundlich und weich.

 

Lebanon kniff die Augen zusammen.

 

»Sie meinen doch nicht etwa mich – warum sagen Sie das?«

 

»Ich hatte einen jungen Bruder – etwa in Ihrem Alter.«

 

Der Lord schaute ihn argwöhnisch von der Seite an.

 

»Sie können mich nicht leiden.«

 

»Doch, ich habe Sie gern, ich bin doch immer Ihr Freund gewesen. In Scotland Yard war ich doch sehr nett zu Ihnen.«

 

Willies Gesicht hellte sich wieder auf.

 

»Das stimmt. Sie müssen aber zugeben, daß es sehr schlau von mir war, Sie dort zu besuchen. Das war wohl das letzte, was Sie erwartet hätten. Bedenken Sie, daß ich Amersham in der Nacht umgebracht hatte. Als der Spektakel hier im Gange war, machte ich mich auf und davon. Meine Mutter hatte dann Gilder im Auto hinter mir hergeschickt. Der wußte, wohin ich gegangen war, denn ich hatte ihm am Morgen gesagt, ich würde nach Scotland Yard fahren, um mich einmal mit Ihnen zu unterhalten.«

 

Tanner streifte die Asche seiner Zigarre in eine Schale, während sich Lord Lebanon zurücklehnte und die Pistole mit beiden Händen umfaßte.

 

»Das war allerdings ein toller Streich«, meinte Tanner.

 

Dann saßen sie sich eine Minute lang schweigend gegenüber.

 

»Ich möchte nur wissen, wo er sie hingebracht hat?« fragte Lebanon plötzlich. »Ich meine Isla.«

 

»Wer soll sie denn fortgebracht haben? Etwa Gilder?«

 

Lebanon nickte.

 

»Heute abend sah sie doch dem indischen Mädchen verdammt ähnlich. Ich trat hinter sie und legte meine Arme um sie. Haben Sie nicht gehört, wie sie geschrien hat? Sie lief die Treppe hinunter, und dann war Totty da, sonst wäre ich hinter ihr hergekommen. Im nächsten Augenblick sah ich auch Gilder; der ist ja immer in der Nähe. Haben Sie das nicht auch bemerkt? Wo Sie hinschauen, sehen Sie den Kerl. Am häufigsten hält er sich in der Halle auf. Ich glaube, der würde mich umbringen, wenn ich Isla etwas täte. Sie halten Gilder für einen gemeinen Menschen, aber das ist er in Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil, er ist sehr freundlich, besonders zu Isla. Kein Mensch paßt so gut auf sie auf wie er, besonders seit sie es weiß.

 

Deshalb fürchtete sie sich auch so sehr. Sie kam an dem Abend die Treppe herunter, als ich hier alles kurz und klein schlug.« Er sah sich interessiert um. »Ich kann mich zwar nicht darauf besinnen, daß ich es getan habe, aber wer soll es sonst gewesen sein? An jenem Abend hätte ich Amersham beinahe geschnappt. Die beiden Amerikaner packten mich von hinten, aber sie hatten große Mühe, mich zu überwältigen. Donnerwetter, hat sich Amersham damals gefürchtet! Isla sah den Kampf von der Treppe aus, und seit der Zeit ängstigt sie sich sehr.

 

Merkwürdig, als ich gestern Amersham erwischte, hat sie mich wieder gesehen. Ich trat gerade mit dem roten Tuch in der Hand in die Tür. Meine Mutter nahm es mir weg und schickte mich zu Bett. Und ich bin doch furchtbar stark – Sie glauben es wohl nicht?«

 

»Doch, ich habe immer angenommen, daß Sie große Kraft besitzen.«

 

Tanner konnte die dauernde Spannung kaum noch ertragen. Er wandte den Blick nicht von der Waffe, über die der junge Lord beide Hände gelegt hatte. Diese Lösung hatte er nicht beabsichtigt. Er hoffte jedoch, daß der Anfall nach einiger Zeit vorübergehen würde, wenn er Willie in guter Laune hielt und ihn beruhigte.

 

Früher hatte er schon einmal mit einem Wahnsinnigen zu tun gehabt. Er kannte die Anzeichen, und was er hier sah, war nicht gerade ermutigend. Der Höhepunkt des Anfalls war noch nicht erreicht. Das schlimmste war, daß der junge Lord die geladene Pistole unter den Händen hatte. Die Mündung war auf Chefinspektor Tanner gerichtet.

 

»Heute abend haben sie sich mächtig gefürchtet, als ich den Schlaftrunk nicht nahm.« Lebanon lachte vor sich hin. »Sie wußten wohl, was in dem Glas war?«

 

»Ja, es war Bromkali. Die Wärter dachten, Sie wären etwas erregt, und wollten Sie beruhigen. Das haben sie wahrscheinlich schon öfter getan.«

 

»Sehr oft. Aber heute abend habe ich ihnen doch ein Schnippchen geschlagen.«

 

Tanner trank das Glas Whisky-Soda aus, das vor ihm auf dem Tisch stand; und erhob sich.

 

»Ich gehe jetzt zu Bett.«

 

Er schob den Sessel zurück, gähnte und streckte sich. Als er sich umschaute, stand Lebanon hinter ihm und sah ihn seltsam an.

 

»Sie gehen nicht zu Bett«, sagte der Lord leise. »Dazu fürchten. Sie sich viel zu sehr!«

 

Tanner schüttelte lächelnd den Kopf.

 

»Doch, Sie fürchten sich. Vor mir fürchten sich alle.«

 

»Aber mir können Sie keine Angst einjagen«, erwiderte Tanner freundlich. »Seien Sie jetzt vernünftig und geben Sie mir die Pistole. Warum wollen Sie eine so gefährliche Waffe bei sich tragen?«

 

»Oh, damit läßt sich allerhand anfangen.«

 

Tanner hörte einen Schreckensruf von der Treppe her. Er wandte sich nicht um, aber er wußte, daß Lady Lebanon dort stand.

 

»Damit könnte ich zum Beispiel die Familie der Lebanons ein für allemal auslöschen.«

 

»Aber Willie!«

 

Plötzlich änderte sich das Benehmen des jungen Lords. Er wich zurück und verbarg die Waffe.

 

»Was machst du da, du dummer Junge? Gib sofort die Pistole her!«

 

»Nein«, entgegnete er mit weinerlicher Stimme, »ich habe schon immer so etwas haben wollen. Mehr als ein dutzendmal habe ich darum gebeten.«

 

»Lege die Waffe dort auf den Tisch!«

 

Einen Augenblick wandte Willie Tanner den Rücken zu, und in dieser Sekunde warf sich der Chefinspektor auf ihn. Totty stürzte in den Raum und half seinem Vorgesetzten, aber mit einer unglaublichen Kraftanstrengung gelang es dem Lord, sich frei zu machen und die Treppe hinaufzueilen. In diesem Moment erschien Gilder. Eine Sekunde zögerte Lebanon noch, dann drückte er ab. In dem engen Raum hallte der Schuß unheimlich wider. Die Pistole entglitt Willies Fingern, und er sank auf die Stufen nieder.

 

Im nächsten Augenblick waren die drei Männer an seiner Seite und beugten sich über ihn, aber ein Blick sagte Tanner, daß Hilfe vergeblich war.

 

Lady Lebanon stand mit erhobenem Kopf steif an ihrem Schreibtisch. Sie hatte das Gesicht abgewandt, aber den Kopf in den Nacken geworfen.

 

»Nun, wie steht es?« fragte sie mit rauher Stimme.

 

»Er ist tot«, entgegnete Tanner heiser.

 

Sie antwortete nicht, aber ihre Hände krampften sich zusammen. Langsam ging sie zur Treppe.

 

Als sie an dem Toten vorüberkam, würdigte sie ihn keines Blickes. Sie blieb nur einen Augenblick stehen und stützte sich an der Wand.

 

»Zehn Jahrhunderte hindurch hat die Familie Lebanon bestanden, und nun ist keiner mehr übrig, um die Linie fortzusetzen«, sagte sie klagend.

 

Die Anwesenden hörten schweigend zu.

 

Mühsam stieg Lady Lebanon die letzten Stufen hinauf.

 

Kapitel 26

 

26

 

Chefinspektor Tanner berichtete dem Polizeipräsidenten über die Ereignisse in Marks Priory.

 

»Zuerst hatte ich den Eindruck, daß es sich um einen gewöhnlichen Racheakt handelte, und ich hatte zwei, vielleicht auch drei Leute in Verdacht, zunächst natürlich Amersham. Er war in der Nähe des Tatortes, als Studd ermordet wurde, und ich hatte auch ein Motiv gefunden: Beide interessierten sich für dieselbe Frau, und Amersham war entsetzlich eifersüchtig. Er stand in schlechtem Ruf, und ich muß gestehen, daß ich mich täuschen ließ, als der junge Lord Lebanon nach Scotland Yard kam und mir erzählte, Amersham hätte eine junge Inderin erwürgt. Als ich dann nach Amershams Tod ein Telegramm aus Indien erhielt, ersah ich daraus alle Einzelheiten des Verbrechens.

 

Lebanon war allem Anschein nach der Täter gewesen, damals aber schon für geisteskrank erklärt worden. Die indische Regierung war froh, daß er das Land schnell verließ, denn er hatte sich schon vorher merkwürdig benommen und bei der Jagd auf seine eigenen Treiber geschossen. Man beobachtete ihn gerade auf seinen Geisteszustand, als der Mord an dem Mädchen begangen wurde.

 

Hätte ich Lord Lebanon im Verdacht gehabt, so wäre mir auch sofort klar gewesen, daß er nur einen anderen als Täter hinstellen wollte. Aber Dr. Amersham stand in so schlechtem Ruf, und seine Beziehungen zu Lady Lebanon waren so seltsam, daß ich ihn zuerst für den Schuldigen hielt und alle meine Nachforschungen darauf richtete, ihn zu entlarven. Das änderte sich natürlich, als sein Tod bekannt wurde.

 

Amersham war ein Dieb und Erpresser; es war sein Glück, daß Lady Lebanon ihn während der Krankheit ihres Mannes zum Hausarzt und Vertrauten wählte. Der Familienarzt, der stets das Geheimnis gewahrt hatte, war gestorben, und sie hatte große Schwierigkeiten, einen Nachfolger zu finden. Jeder verantwortungsvolle Arzt hätte den Fall sofort der Behörde gemeldet, und dann wäre vom Gericht aus eine Vormundschaftsverwaltung über das Vermögen eingesetzt worden.

 

Amersham erschien in jeder Beziehung geeignet. Er war sehr klug, besaß auch genügend Kenntnisse über Geisteskrankheiten, und so erhielt er die Stelle, nachdem er sich auf eine Anzeige in der Times hin gemeldet hatte.

 

Sein Gehalt war sehr groß, und er hatte von der Zeit an keine Sorgen mehr. Aber er war eben ein verbrecherischer Charakter und nützte die Gelegenheit aus. Nach und nach kam die Familie Lebanon immer mehr unter seinen Einfluß, bis er sie schließlich vollkommen in der Gewalt hatte.«

 

Der Polizeipräsident stellte eine Frage, aber Tanner schüttelte den Kopf.

 

»Nein, es haben sich früher keine Krankheitssymptome bei dem Lord gezeigt. In Indien steht allerdings in seiner Krankengeschichte, daß er einmal einen leichten Sonnenstich hatte. Das wird die erbliche Veranlagung unterstützt und die Krankheit eher zum Ausbruch gebracht haben. Die ersten Anzeichen von Wahnsinn meldeten sich, als er auf seine eigenen Treiber schoß. Seine Vorgesetzten wußten nicht, daß sein Vater auch schon geisteskrank war. Und sein Urgroßvater ist in einem Irrenhaus gestorben. Ich habe übrigens feststellen können, daß Geisteskrankheit in beiden Teilen dieser Familie erblich ist.

 

Als der alte Lord starb, war Lady Lebanon froh, daß sie Dr. Amersham loswerden konnte, der sich immer mehr Rechte anmaßte. Drei Monate blieb er dem Schloß fern, dann kamen die traurigen Nachrichten aus Indien, und die Frau brauchte seine Hilfe aufs neue.

 

Er willigte ein, die Behandlung Willies zu übernehmen und den Skandal in Indien zu vertuschen, aber er verlangte dafür von ihr, daß sie sich mit ihm in Petersfield trauen ließ. Zuerst war ich erstaunt, daß die Trauung in dieser kleinen Ortschaft stattfand, aber dann brachte ich in Erfahrung, daß Lady Lebanon viele Ländereien in der Gegend besitzt.

 

Es ist wohl nur eine Scheinehe gewesen. Liebe hat zwischen den beiden nicht bestanden, und sie haben niemals ein gemeinsames Leben geführt. Sie forderte nur von Amersham, daß er sich nicht zu sehr gehenlassen sollte, aber er kümmerte sich nicht darum. Gilder und Brooks wurden zurückgerufen, und es ereignete sich eigentlich nichts Besonderes bis zur Ermordung Studds, die bis zu einem gewissen Grad ja einem unglücklichen Zufall zuzuschreiben ist.

 

Der junge Lord hatte leider einen geheimen Ausgang aus der Tobsuchtszelle entdeckt, in die er zeitweise eingesperrt werden mußte. Er fand die Treppe, die nach unten in den Park führte. Früher hatte man diesen Weg benützt, um den alten Lord abends in der Dunkelheit in den Park zu bringen. Dies muß noch vor Gilders Zeit gewesen sein, denn weder er noch Brooks wußten etwas von dem geheimen Gang.

 

Willie war außerordentlich geschickt und gewandt. Innerhalb einer Viertelstunde plante er zum Beispiel einen Anschlag auf den Motorradfahrer, der als Kurier nach Scotland Yard zurückgeschickt wurde. Kurz darauf hatte er sich Zugang zu Tillings Haus verschafft, wo er alles kurz und klein schlug, und wenig später war er wieder im Schloß.

 

Als er mich in Scotland Yard besuchte, hatte ich noch keine Ahnung, daß ich es mit einem Geisteskranken zu tun hatte. Er schien allerdings ein Schwächling zu sein, ein Muttersöhnchen, wie man es in aristokratischen Kreisen öfters findet.

 

Warum er damals zu mir kam, ist vollkommen klar. Er hatte Amersham in der Nacht ermordet und wollte sich bei der Polizei melden, bevor die Nachforschungen einsetzten.

 

Lady Lebanon schickte ihm sofort einen der Wärter nach, als er vermißt wurde. Gilder wußte, daß der Lord nach Scotland Yard gehen wollte, folgte ihm und ließ ihn nicht eher aus den Augen, bis er wieder sicher in Marks Priory landete. Sie kehrten in dem gleichen Auto zurück. Das hat mir Gilder später erzählt.

 

Lebanons Zerstörungswut nahm mit der Zeit zu. Kurz vorher hatte er erst einen schweren Anfall gehabt, wobei er das Wohnzimmer vollkommen zertrümmerte.

 

Die Ermordung Amershams hat er mit großer Schlauheit geplant und durchgeführt. Er wartete vor der Tür, und als er sah, daß Amersham abfahren würde, lauerte er ihm bei einer scharfen Kurve auf. Der Doktor mußte dort langsamer fahren, der Lord sprang auf den Wagen und erwürgte den Mann.

 

Damals ging er nicht sofort ins Haus zurück. Vielleicht verlor er in der Aufregung den Weg; jedenfalls befand er sich plötzlich in einer Baumallee, die parallel zur Straße läuft, und wurde von dem Parkwächter Tilling angehalten. Der Mann muß aber sofort erkannt haben, wer sein Gegner war, denn er hat nicht seine volle Kraft angewandt. Er war stark genug, um Lebanon zu bezwingen. Später sagte er ja selbst aus, daß er sich nur darauf beschränkt hatte, sich gegen den Lord zu verteidigen. Schließlich brachte er Willie zum Haus zurück.

 

Lady Lebanon befand sich in einer schwierigen Lage. Zum erstenmal war ihr Geheimnis Leuten bekanntgeworden, die nicht zu dem engen Kreis gehörten, auf den sie sich verlassen konnte. Sie wußte außerdem, daß Amersham etwas zugestoßen sein mußte, ja, sie suchte schon nach dem Toten, als Tilling mit Willie Lebanon auf der Bildfläche erschien.

 

Trotzdem konnte sie die Leiche nicht finden. Zunächst schickte Lady Lebanon nun Gilder mit Amershams Wagen fort; er ließ ihn ein paar Kilometer vom Dorf entfernt stehen.

 

Darauf mußte sie mit Tilling fertig werden. Sie wußte, daß die Polizei bald erscheinen und auch den Parkwächter einem Verhör unterwerfen würde. Das konnte gefährlich werden. Deshalb faßte sie den Entschluß, ihn zu ihrem Jagdhaus in der Nähe von Aberdeen zu schicken. Sie versorgte ihn reichlich mit Geld und schrieb ihm die Züge vor, mit denen er fahren sollte.

 

Der junge Lord hatte eine große Abneigung gegen Miss Isla Crane, wie ich später feststellen konnte. Sie selbst hatte keine Ahnung davon, aber er machte drei Versuche, sie zu ermorden. Den letzten an dem Abend, an dem er sich selbst das Leben nahm.

 

Gilder erzählte er nichts von seinem Plan, da er sehr wohl wußte, daß er seine schützende Hand über Miss Crane hielt. Trotzdem vermutete es der Diener. Er hatte den jungen Lord zu lange betreut, daß er in gewisser Weise voraussagen konnte, was dieser tun würde. Und so war es ihm möglich, Isla zur rechten Zeit in Sicherheit zu bringen.

 

Damit wäre ich am Ende meines Berichtes über den Fall von Marks Priory. – Im Anschluß daran möchte ich übrigens Sergeant Totty zur Beförderung vorschlagen.«

 

Der Polizeipräsident sah ihn erstaunt an.

 

»Warum denn?«

 

Tanner fuhr sich nachdenklich über das Kinn.

 

»Er ist nun schon so lange Sergeant, daß es vielleicht angebracht wäre, ihn zum Inspektor zu machen.«

 

Kapitel 3

 

3

 

Mr. Kelver, der Butler von Marks Priory, verbrachte abends gern eine Stunde vor dem Nebeneingang und betrachtete von dort aus die Gegend. Wie schon oft überlegte er gerade wieder, ob es mit seiner Würde vereinbar wäre, jeden Abend schon um neun Uhr von seiner Herrschaft getrennt zu werden. Genau um diese Stunde schloß Lady nebenan nämlich die große Eichentür zu, die den Nordostflügel des Herrenhauses von den anderen Räumen abgrenzte.

 

Die Quartiere der Dienerschaft waren sehr geräumig und behaglich eingerichtet, und mit Erlaubnis Mr. Kelvers konnten die Angestellten ein- und ausgehen, wann und wie sie wollten. Sie benutzten dann den Fußweg, der am Wald entlang zum Dorf hinunterführte. Aber er empfand es doch als starke Zurücksetzung, fast als Beleidigung, daß er selbst, der in hochadligen Häusern gedient hatte, auch mit den anderen Dienstboten vom Herrenhaus ausgeschlossen wurde.

 

Die Tür, vor der er stand, lag im Nordostflügel und war in gewisser Weise ein Privateingang für ihn selbst. Die anderen Angestellten gingen wie die Kaufleute und Lieferanten durch die kleine Eingangshalle.

 

Studd gegenüber sprach er sich manchmal aus, wenn er auch diesem höflichen und erfahrenen Mann niemals sein volles Vertrauen schenkte.

 

Der Chauffeur war gerade auf dem Weg zur Garage, bog um einen der beiden großen Ecktürme des Schlosses und blieb bei Kelver stehen. Da er etwas erhitzt aussah, dachte Kelver zuerst, Studd hätte zuviel getrunken.

 

»Ich habe diesem Dr. Amersham endlich einmal die Meinung gesagt«, begann Studd und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Das will nun ein großer Herr und ein Doktor sein! Wenn Mylady wüßte, was ich weiß, bliebe der Kerl keine fünf Minuten länger im Haus! Der war bei der indischen Armee! Na, ich könnte etwas erzählen, wenn man mich fragte!«

 

»Um was handelt es sich denn?« erkundigte sich Mr. Kelver höflich. Er tat immer so, als ob er Klatsch nicht hören wollte, obwohl er sehr begierig darauf war, das Neueste zu erfahren.

 

»Es ist merkwürdig. Ich habe im Dorf einen komischen Mann getroffen, der mir erzählte, daß er früher in Indien gewesen wäre. Darauf lud ich ihn zu einem Glas Bier ins Wirtshaus ein. Bei der Unterhaltung habe ich nicht viel gesagt, sondern nur zugehört, aber es ist ganz klar, daß er tatsächlich dort war.«

 

Kelver hob den ergrauten Kopf und sah den kleinen Chauffeur von oben herab an.

 

»Hat Dr. Amersham sich über etwas beklagt?« fragte er.

 

Studd wurde dadurch wieder an seinen Ärger erinnert.

 

»Es ist etwas an seiner Karre passiert, und ich sollte die Sache in fünf Minuten reparieren. Dazu braucht man aber mindestens zwei Tage. Er meint, er hätte hier alles zu sagen, aber wir wissen doch genau, daß er nicht der Herr im Schloß ist. Was meinen Sie?«

 

Der Butler lachte geheimnisvoll.

 

»Es gibt allerhand Leute auf der Welt«, entgegnete er.

 

»Ich weiß nicht, ob man mit einer so flauen Ansicht durchkommt«, erwiderte der Chauffeur etwas unsicher. »Dieser Herrensitz gehört Lord Lebanon – darüber sind wir uns doch wenigstens einig?« Er hob die Hand und zählte an den Fingern ab. »Nun hören Sie einmal zu, wer hier etwas zu sagen hat: Zuerst dieser blöde Dr. Amersham, der alles kontrollieren will. Zweitens Lady Lebanon. Drittens« – er zögerte – »nennen wir einmal Miss Crane. Aber gegen die habe ich nicht das mindeste. Und als letzter kommt Lord Lebanon!«

 

»Mylord ist noch jung«, erklärte Mr. Kelver höflich.

 

Er hatte dieselbe Meinung wie Studd, aber seine Stellung legte ihm Pflichten auf, an die er sich gebunden fühlte. Mr. Kelver hatte bei dem Herzog von Colbrooke gedient, und schon seit vielen Generationen hatten seine Vorfahren große Herren betreut. Daher wußte er genau, daß es ihm nicht zustand, seine Herrschaft zu kritisieren.

 

Plötzlich hörten die beiden schnelle Schritte auf dem Kiesweg, und gleich darauf erschien Dr. Amersham.

 

»Nun, Studd, haben Sie meinen Wagen fertiggemacht?«

 

Der Doktor hatte eine scharfe, unangenehme Stimme, und sein ganzes Auftreten reizte zum Widerspruch.

 

»Nein«, entgegnete der Chauffeur heftig. »Und ich mache ihn auch nicht fertig – ich gehe heute abend aus!«

 

Amersham wurde bleich vor Ärger.

 

»Wer hat Ihnen die Erlaubnis dazu gegeben?«

 

»Der einzige, der mir hier im Haus die Erlaubnis geben kann«, erwiderte Studd laut. »Lord Lebanon selbst.«

 

»Sie können sich eine andere Stelle suchen«, erklärte der Doktor wild.

 

»So, ich soll mir eine andere Stelle suchen?« fragte Studd wütend. »Meinen Sie vielleicht, ich würde anderer Leute Namen unter Schecks schreiben?« Dr. Amersham sah plötzlich verstört aus. »Wenn ich mir eine andere Stelle suche, wird es jedenfalls eine ehrliche Beschäftigung sein! Auf keinen Fall bestehle ich einen Kameraden – merken Sie sich das, Doktor! Und was ich auch unternehme, ich werde nicht abgefaßt und verhaftet, ich komme nicht vor Gericht, und mich stößt man auch nicht aus der Armee aus!«

 

Studd hatte drohend gesprochen, und der Arzt konnte den Blick des Mannes nicht ertragen. Er wollte ihm hart entgegnen, aber was er vorbrachte, war eigentlich keine Erwiderung auf die schweren Anklagen.

 

»Sie wissen zuviel!«

 

Amersham wandte sich rasch ab und entfernte sich.

 

Mr. Kelver hörte die Worte, konnte aber den Zusammenhang nicht verstehen. Er war bestürzt über das Benehmen Studds und fragte sich, ob er nicht hätte vermitteln sollen. Aber fast schien es ihm, als ob Dr. Amersham seine Anwesenheit gar nicht bemerkt hätte.

 

»So, dem habe ich es ordentlich gegeben«, erklärte Studd triumphierend. »Haben Sie gesehen, wie er sich verfärbte? Dabei behauptet der Kerl, er wird mich entlassen!«

 

»Ich hätte aber doch nicht in diesem Ton mit ihm geredet, Studd«, sagte der Butler mit leisem Vorwurf.

 

Aber der Chauffeur war jetzt in Fahrt und achtete nicht auf Kelvers Mahnung.

 

»Jetzt hat er wenigstens begriffen, daß ich ihn von früher her genau kenne. Ach, ich hätte ihm noch ganz andere Dinge an den Kopf werfen können!«

 

Am Abend fand im Dorf ein Maskenball zu irgendeinem wohltätigen Zweck statt, und als die Dämmerung hereingebrochen war, fuhr vom Herrenhaus ein Wagen mit einem Pierrot, einer Pierrette, einer Zigeunerin und einem Inder zu dem Fest hinunter. Das farbenprächtige indische Kostüm hatte Studd gewählt, dem Mr. Kelver vor der Abfahrt noch einen väterlichen Rat gab.

 

»An Ihrer Stelle würde ich morgen früh mit Dr. Amersham sprechen und mich entschuldigen. Wenn Sie im Recht sind, können Sie großzügig sein, und im anderen Fall ist es selbstverständlich, daß Sie sich entschuldigen.«

 

Dann ging Kelver in die Halle und machte noch einen letzten Rundgang, bevor er sich in den Teil des Hauses zurückzog, den die Angestellten bewohnten. Hier und dort rückte er ein Kissen zurecht; er nahm auch das leere Glas fort, das allem Anschein nach Dr. Amersham auf Myladys Schreibtisch hatte stehenlassen.

 

Später sah er ihn in einer der großen Fensternischen des Hauptganges bei den amerikanischen Dienern Brooks und Gilder. Sie sprachen leise miteinander und hatten die Köpfe gesenkt. Aber nicht nur Kelver sah sie, sondern auch Lord Lebanon, der in der offenen Tür seines Zimmers lehnte. Er sagte Kelver gute Nacht, als dieser vorbeiging, aber kurz darauf rief er ihn zurück.

 

»Steht da unten nicht der Doktor?« fragte er, da er ein wenig kurzsichtig war.

 

»Ja, Mylord. Er unterhält sich mit Gilder und Brooks.«

 

»Zum Teufel, worüber haben die soviel miteinander zu reden? Kelver, sind Sie nicht auch der Meinung, daß dies ein sonderbares Haus ist?«

 

Kelver war zu höflich und kannte seine Stellung zu gut, um diese Frage zu bejahen. In Wirklichkeit hielt er den ganzen Haushalt für sonderbar genug, vor allem die beiden amerikanischen Diener. Von Anfang an war ihm klargemacht worden, daß er ihnen nichts zu sagen hätte. Außerdem brauchten die beiden nach neun Uhr nicht die Wohnräume der Herrschaft zu verlassen, sondern konnten sich frei im ganzen Haus bewegen.

 

»Ich sage ja immer, daß es alle möglichen Leute auf der Welt gibt.«

 

Willie Lebanon lächelte.

 

»Das stimmt, Mr. Kelver«, erwiderte er liebenswürdig und klopfte dem alten Mann auf die Schulter.

 

Der Butler wurde ein wenig verlegen, denn so vertraulich hatte sich der Lord ihm gegenüber noch nie benommen.

 

Kapitel 4

 

4

 

Ein gewisser Zibriski hatte sich den etwas hochtrabenden Namen Mont Morency zugelegt. Im allgemeinen gaben ihm die Leute weniger gutklingende Namen, wenn sie plötzlich Geldscheine besaßen, die in einer Geheimdruckerei dieses Hochstaplers hergestellt wurden. Da die Banknoten außerordentlich gut und täuschend nachgeahmt waren, machte er ein ausgezeichnetes Geschäft.

 

Er selbst verteilte die gefälschten Scheine nicht, er betrieb das Geschäft nur im großen. Mehrere Druckereien arbeiteten für ihn, eine in Luxemburg, eine andere in den Hintergebäuden eines kleinen Hotels in Ostende.

 

Mr. Briggs, einer der Agenten Zibriskis, war schon oft verurteilt worden, weil er glaubte, man könnte sich durch unehrliche Handlungen ein sorgenfreies Leben verschaffen. Seit einer Woche hatte er sich in dem Gasthaus des Dorfes Marks Thornton einquartiert und wartete darauf, daß Zibriski mit seinem schnittigen Wagen vorfahren und ihm vier Pakete Banknoten übergeben würde. Er zahlte dafür in barem Geld und verteilte dann die Scheine an andere Leute, wobei er mehr als hundert Prozent verdiente. Hätte er den Mut gehabt, das Papiergeld direkt unters Publikum zu bringen, so hätte sich sein Gewinn vervierfacht.

 

Zur selben Zeit, als er nach Marks Thornton kam, erschienen in einem Nachbardorf zwei unauffällig aussehende Fremde, die sich weniger für Briggs als für Zibriski interessierten.

 

»Ich bin ihm bis nach Marks Thornton gefolgt«, erklärte Detektivsergeant Totty. »Meiner Meinung nach wird dort aber nichts geschehen.«

 

»Ihre Meinung«, entgegnete Chefinspektor Tanner, »ist so unwichtig und nebensächlich, daß ich sie kaum höre. Außerdem habe ich das schon selbst gesagt, Sie reden es mir nur nach.«

 

»Warum verhaften wir Briggs nicht?«

 

Totty war verhältnismäßig klein, hielt aber viel von sich und war auch mutig und tüchtig. Tanner, ein außergewöhnlich stattlicher und großer Mann, schaute seinen Assistenten mit einem Seufzer an.

 

»Welche Anklage sollen wir denn gegen ihn erheben?« fragte er. »Nicht einmal nach dem Gesetz zur Verhütung von Verbrechen könnten wir ihn in Schutzhaft nehmen. Außerdem liegt mir an Briggs gar nichts – ich will Zibriski fassen. Sooft ich ihn in den Zeitungen abgebildet sehe, wie er in Nizza schönen Frauen Rosen verehrt, bekomme ich Leibschmerzen. Er ist fast allen Polizeidirektionen der Welt als einer der größten Falschgeldhändler bekannt, und trotzdem ist er nicht ein einziges Mal verurteilt worden. Heute abend wollen wir einmal auf Erkundigung ausgehen, Totty.«

 

»Marks Thornton ist ein ganz nettes Dorf. Beinahe hätte ich ein Zimmer im Gasthaus dort genommen. Ein großes, altes Schloß liegt auch in der Nähe.«

 

Tanner nickte.

 

»Marks Priory – Lord Lebanon wohnt dort.«

 

»Sieht sehr altmodisch aus.«

 

»Das ist nicht weiter verwunderlich.«

 

Ihre Erkundungen führen nicht zum Ziel. In keinem der Dörfer, die sie besuchten, fanden sie eine Spur von Zibriski. Auch am nächsten und übernächsten Tag kam der Mann nicht, und am Ende der Woche kehrte der Chefinspektor nach London zurück. Er erhielt Nachrichten über den Verbleib der einzelnen Verbrecher und erfuhr, daß Zibriski von der Anwesenheit der Beamten auf dem Land erfahren und deshalb seinen Plan geändert hätte. Aber das war nicht richtig.

 

Gerade an dem Abend des Kostümballes traf Zibriski ein und erschien in dem Zimmer seines Agenten. In kürzester Zeit war der Handel abgeschlossen. Briggs verpackte die falschen Banknoten in seinem Koffer und ging dann noch aus.

 

Von dem Tanzvergnügen hatte er erfahren, und er hörte auch die Musik. Er stieg den Hügel hinauf, setzte sich an einem Zaundurchgang nieder, stopfte seine Pfeife und dachte vergnügt an das gute Geschäft, das er mit den Banknoten machen würde. Zibriski-Noten waren ein begehrter Artikel.

 

Plötzlich sah er einen Mann die Straße heraufkommen, der ein weites Gewand und einen Turban trug. Der Mond war inzwischen aufgegangen. Briggs stand auf und sah neugierig zu dem Fremden hinüber. Ein Inder! Was machte der denn hier? Aber dann erinnerte sich Briggs an den Maskenball.

 

Der Fremde sagte guten Abend, als er vorbeikam, und schlug dann den schmalen Pfad ein, der quer durch das Feld nach dem Herrenhaus führte. Briggs setzte sich wieder.

 

Nach einiger Zeit hörte der Agent einen furchtbaren Schrei, der sofort erstickt wurde. Entsetzt drehte er sich um und versuchte, das Halbdunkel mit den Blicken zu durchdringen, aber er konnte nichts sehen. Verstört zog er das Taschentuch und wischte sich die feuchte Stirn.

 

Kurz darauf kam jemand eilig näher, und in dem schwachen Mondlicht erkannte Briggs einen Mann mit einem braunen Spitzbart.

 

»Wer sind Sie?« fragte er heiser.

 

»Es ist alles in Ordnung! Ich bin Dr. Amersham«, erwiderte der andere kurz.

 

»Wer hat denn eben geschrien?«

 

»Niemand – höchstens eine Eule.«

 

Der Arzt wandte sich ab und verschwand im Dunkeln.

 

Briggs war zwar erschrocken, hätte aber doch gern gewußt, was vorgefallen sein mochte. Neugierde trieb ihn vorwärts. Er ging den Feldpfad entlang und leuchtete mit einer Taschenlampe den Weg ab.

 

Schon wollte er wieder umkehren, als er seitlich am Weg etwas glitzern sah. Er zögerte einen Augenblick, aber dann biß er die Zähne zusammen und ging weiter.

 

Er fand den Mann, der kurz vorher in dem indischen Kostüm an ihm vorübergekommen war. Nun lag der Fremde still und bewegungslos hier, und um seinen Hals war ein rotseidenes Tuch geschlungen… Er war tot… erwürgt!

 

Obwohl die Züge furchtbar verzerrt waren, erkannte Briggs den Chauffeur aus dem Schloß, mit dem er im Wirtshaus bekannt geworden war.

 

Er fühlte den Puls und legte die Hand auf das Herz des Mannes. Dann erhob er sich und eilte zurück. Die letzte Strecke des Weges bis zum Gasthaus ging er langsam und zwang sich zur Ruhe. Das war eine Sache, die nichts mit ihm zu tun hatte. Mochte die Polizei zusehen, wie sie den. Fall aufklärte, er wollte nicht in die Geschichte verwickelt werden. Und er hatte auch allen Grund, vorsichtig zu sein.

 

Am nächsten Morgen verließ er das Dorf in aller Frühe; eine Stunde später wurde Studd aufgefunden.

 

Kapitel 5

 

5

 

Briggs fühlte sich ziemlich sicher, als er den Victoria-Bahnhof in London erreichte, und hoffte, in der Menge untertauchen zu können. Aber als er die Sperre passierte, traten vier Herren auf ihn zu. Er wußte sofort, was das zu bedeuten hatte.

 

Sie nahmen ihn mit zur Polizeistation in der Bow Street und durchsuchten seinen Koffer. Kein Mensch kümmerte sich um die Behauptung, daß das Gepäckstück nicht ihm, sondern einem Unbekannten gehörte, einem gewissen Smith, für den er es nur mitgenommen hätte. Natürlich fand man die vier Päckchen gefälschter Banknoten.

 

»Ich habe die Scheine vorher nie gesehen«, schwor Briggs.

 

Später wurde er von Chefinspektor Tanner verhört.

 

»Daß Sie im Besitz von Falschgeld sind, ist noch das wenigste«, meinte der Beamte. »Sie waren in der vergangenen Nacht im Dorf Marks Thornton, wo ein Mord verübt wurde. Was wissen Sie davon?«

 

Briggs behauptete, daß er davon keine Ahnung habe. Er wäre erstaunt, daß in dieser friedlichen Gegend jemand ermordet werden könnte, erklärte er, und fragte dann, ob man eine Waffe gefunden hätte.

 

»Das klingt fast, als ob Sie wüßten, daß der Mann erwürgt worden ist.«

 

Der Chefinspektor hatte nicht den geringsten Zweifel, daß Briggs an dem Verbrechen unbeteiligt war. Aus den Akten ging hervor, daß sich der Mann nur mit Falschgeld befaßte. Da es sich hier um einen alten Sträfling handelte, konnte man seinen Charakter genau beurteilen.

 

Tanner ahnte natürlich nicht, daß Briggs den ermordeten Chauffeur mit eigenen Augen gesehen hatte, und er trieb das Verhör auch nicht auf die Spitze. Aber unter dem Mordverdacht gestand Briggs alles ein, was das Falschgeld betraf, und sagte auch, was er von Zibriski wußte. Der Hochstapler konnte daher noch am selben Abend verhaftet werden, als er gerade den Dampfer nach Le Havre betreten wollte.

 

Tanner kehrte nach Scotland Yard zurück, suchte seinen Vorgesetzten auf und erkundigte sich, ob man über den Mord in Marks Thornton etwas Neues erfahren hätte.

 

»Nein, die Polizei dort hat nicht um unsere Hilfe gebeten. Die Leute rufen uns natürlich erst, wenn alle Spuren so verwischt sind, daß man nichts mehr finden kann. Es scheint aber ein ziemlich gewöhnliches Verbrechen zu sein; die Polizei hält es für einen Racheakt. Studd hat anscheinend ein paar üble Bekanntschaften gemacht, wirkliche Feinde hatte er wohl nicht.« Im Lauf des Abends hörte der Chefinspektor noch weitere Einzelheiten, die ihn jedoch nicht besonders interessierten. Studd sollte einen Streit mit dem eifersüchtigen Parkwächter Tilling gehabt haben, aber dieser Verdacht stellte sich bald als unbegründet heraus.

 

Niemand erwähnte den Namen Dr. Amershams; auch in den Berichten, die Scotland Yard erhielt, erschien er nicht. Erst eine Woche später, als sich die Lokalbehörden entschlossen, die Hilfe von Scotland Yard in Anspruch zu nehmen, hörte man etwas von dem Arzt. Tanner und Totty waren nach Marks Thornton gefahren, um den Fall genauer zu untersuchen.

 

Der Chefinspektor machte einen Besuch im Herrenhaus, wurde aber kühl und mit Abwehr empfangen. Beiläufig erwähnte er Lady Lebanon gegenüber Dr. Amersham.

 

»Er kommt manchmal hierher«, erklärte sie, »aber er war an jenem Unglücksabend nicht lange hier. Soviel ich weiß, fuhr er um zehn Uhr fort.«

 

Der kurze Einblick in das Leben auf Marks Priory sagte Tanner nichts. Die große Eingangshalle wurde gerade repariert; Gerüste waren an den Wänden aufgestellt, und Kelver zeigte ihm die einzelnen Steintafeln, auf denen die Familienwappen der Lebanons und ihrer Gemahlinnen eingemeißelt waren.

 

»Mylady ist eine Autorität auf dem Gebiet der Heraldik«, erklärte der Butler. »Sie kann die Bedeutung eines Wappens lesen, als ob es eine gewöhnliche Buchseite wäre. In diesen Dingen hat sie wirklich erstaunliche Kenntnisse. Wie Sie wissen, führt die Familie Lebanon ihren Stammbaum auf die ältesten Zeiten zurück. Der erste Lebanon wurde von König Richard I. geadelt.«

 

»Interessant«, entgegnete der Chefinspektor, der darin wenig bewandert war. »Was können Sie mir nun von Studd erzählen?«

 

Kelver schüttelte den Kopf.

 

»Wegen dieses Verbrechens habe ich nächtelang nicht schlafen können. Studd war ein wirklich liebenswürdiger und freundlicher Charakter.«

 

Wenn man Kelvers Worten trauen konnte, hatte er nichts gesehen und gehört und erst von dem Tod des Chauffeurs erfahren, als ein Polizist den Mord im Schlosse meldete. Er lobte den Toten in jeder Weise und sagte, daß der Mann unmöglich einen Feind gehabt haben könnte.

 

Sergeant Totty hatte inzwischen die anderen Dienstboten vernommen, von ihnen aber nur dasselbe gehört.

 

Der Mord war bereits vor sechs Tagen geschehen, und es war schwer, neue Anhaltspunkte zu finden.

 

Tanner betrachtete die Fotografie Studds, dann untersuchte er das rotseidene Tuch, mit dem der Mann erwürgt worden war, und nahm es später mit nach Scotland Yard. In der einen Ecke des Gewebes war eine winzige Zinnplatte eingenäht, auf der einige Worte in Hindostani standen. Die Übersetzung ergab, daß es sich um den Namen des Fabrikanten handelte.

 

Der Chefinspektor sprach mit dem jungen Lord und stellte mehrere Fragen an ihn; aber Willie konnte ihm auch keine Erklärung geben. Er hatte Studd geschätzt und gern um sich gehabt, aber das hatte Tanner bereits von dem Butler erfahren. Der Tod des Chauffeurs schien Willie Lebanon sehr nahegegangen zu sein.

 

Die dritte wichtige Person traf Tanner, als er quer über die Felder nach dem Dorf ging und Isla Crane ihm mit schnellen Schritten entgegenkam. Sie wäre an ihm vorübergeeilt, wenn er sie nicht angehalten hätte.

 

»Verzeihung, Sie sind doch Miss Crane. Ich bin Chefinspektor Tanner von Scotland Yard.«

 

Zu seinem größten Erstaunen wurde sie bleich und sah ihn entsetzt an. In seiner Praxis war ihm dies schon öfters begegnet. Leute, die unerwartet mit der Polizei in Berührung kommen, benehmen sich sonderbar, ganz gleich, ob sie unschuldig oder schuldig sind. Aber er hatte nicht vermutet, daß eine junge, vornehme Dame in solche Erregung geraten würde.

 

»Ach ja, mir hat jemand gesagt, daß Sie von der Polizei sind. Sie wollen hier Nachforschungen über Studds Tod anstellen? Der arme Mann tut mir wirklich leid.«

 

»Sie wissen wahrscheinlich nichts über den Mord?«

 

»Nein.«

 

»Können Sie mir sonst irgendeine Aufklärung geben?«

 

Sie schüttelte den Kopf, noch bevor er ausgesprochen hatte, und ging schnell an ihm vorbei.

 

Sergeant Totty beobachtete sie, bis sie außer Sicht war, dann wandte er sich an seinen Vorgesetzten.

 

»Merkwürdig, was?«

 

»Das kann ich nicht finden. Ich habe schon viele Menschen gesehen, die sich in solchen Fällen ähnlich benommen haben. Für Leute ihres Standes muß es eine große Enttäuschung bedeuten, plötzlich mit einem Mord zu tun zu haben.«

 

Trotzdem war Tanner sehr nachdenklich, als er weiterging.

 

In der großen Säulenhalle vor dem Haupteingang von Marks Priory traf Isla Gilder, der auf einem Stuhl saß und Zeitung las.

 

Er stand sofort auf, als sie näher kam, und sah sie prüfend an.

 

»Haben Sie den Polizeibeamten gesehen?« fragte er streng.

 

»Meinen Sie den Detektiv?«

 

»Ja. Hat er Sie ausgehorcht?«

 

Sie verstand nicht gleich, was er wollte.

 

»Hat er Fragen an Sie gerichtet, Miss?«

 

Seine tiefe Stimme beunruhigte sie.

 

»Ja, er fragte mich, ob ich etwas von dem Mord wüßte. Das war alles.«

 

Sie wandte sich rasch um und ging ins Haus. Lady Lebanon saß in der großen Halle an ihrem Schreibtisch. Ganze Tage brachte sie damit zu, alte heraldische Inschriften zu studieren. Im Lateinischen war sie glänzend bewandert, und das Altenglische beherrschte sie vollendet wie wenige andere.

 

Als sie Isla sah, schloß sie das Buch, in dem sie gelesen hatte.

 

»Was gibt es denn?« fragte sie.

 

Isla zitterte am ganzen Körper und konnte zuerst keine Worte finden.

 

»Er hat mich verschiedenes gefragt«, sagte sie schließlich. »Ich meine Mr. Tanner.«

 

»Ach so, der Polizeibeamte. Was denn? Hat er über Amersham gesprochen?«

 

Isla schüttelte den Kopf.

 

»Was geht denn eigentlich hier im Schloß vor?«

 

»Manchmal kann ich dich überhaupt nicht verstehen, Isla«, erwiderte Lady Lebanon etwas scharf. »Was soll denn hier vorgehen?«

 

»Wenn sie es nun herausbringen?«

 

Lady Lebanon richtete sich in ihrem Sessel auf.

 

»Ich weiß wirklich nicht, was du meinst, Isla. Was soll das heißen: ›Wenn sie es nun herausbringen?‹ Ich wünschte, du würdest dich nicht um Dinge kümmern, die dich nichts angehen.«

 

Isla Crane ging an diesem Abend früh zur Ruhe. Sie schlief in einem großen Prachtgemach, das bekannt war als das »Zimmer des alten Lords«. Es war ein großer, etwas düsterer Raum mit einem mächtigen Pfostenbett.

 

»Zum Kuckuck, warum hat sie sich so früh zurückgezogen?«

 

»Mach doch nicht solchen Lärm, Willie«, entgegnete seine Mutter. »Wozu sollte sie auch länger aufbleiben? Sie hat doch nichts zu tun.« Sie sah auf ihre brillantengeschmückte Armbanduhr. »Es wäre übrigens auch für dich an der Zeit, Liebling. Hast du mit Isla gesprochen?«

 

»Nein, ich hatte noch nicht die geringste Gelegenheit dazu, seitdem dieser schreckliche Mord passierte.« Er senkte den Kopf und lauschte. »Da kommt ein Auto – ist das Amersham?«

 

»Ja.«

 

»Er war doch auch in der Mordnacht hier?«

 

Sie sah schnell auf.

 

»Nein. Er ist damals sehr früh fortgefahren – es muß ungefähr zehn Uhr gewesen sein.«

 

Er lächelte.

 

»Aber Mutter, ich habe doch gesehen, wie sein Wagen morgens um sieben abfuhr. Ich schaute gerade aus dem Fenster. Mir hat schon jemand erzählt, daß er noch am selben Abend fortgefahren wäre.«

 

»Hast du den Leuten gesagt, daß das nicht richtig ist?« fragte sie scharf.

 

»Nein – warum sollte ich das tun?« Er sah zu dem Gewölbe der Halle empor und seufzte. »Das ist ein verteufelt düsteres Haus. Es graut mir bei dem Gedanken, daß ich mein ganzes Leben hier verbringen soll. Amersham will ich nicht sehen, ich gehe auf mein Zimmer.«

 

Die Tür öffnete sich, aber nicht Amersham trat ein, sondern Gilder, der ein Tablett mit Whisky, einem Siphon und einem Glas trug. Er goß eine geringe Menge Whisky ein und füllte das Glas mit Sodawasser, während der Lord argwöhnisch zusah.

 

Dann nahm Willie das Glas aus der Hand des Mannes und trank daraus. Aber erst als er es ganz geleert hatte, bemerkte er den bitteren Nachgeschmack.

 

»Ein merkwürdiger Whisky«, sagte er.

 

Das war die letzte Bemerkung, auf die er sich besinnen konnte. Vier Stunden später erwachte er mit ziemlichen Kopfschmerzen, machte Licht und sah, daß er sich in seinem eigenen Zimmer befand. Er trug seinen Schlafanzug und lag im Bett. Stöhnend richtete er sich auf, aber es drehte sich alles um ihn. Mr. Gilder hatte etwas zuviel von dem Betäubungsmittel ins Glas geschüttet.

 

Kapitel 20

 

20

 

Ein Motorradfahrer der Polizei lieferte vor dem Abendessen ein flaches Paket an den Chefinspektor ab, das die gewünschten Listen enthielt. Tanner las sie sorgfältig durch, kreuzte dann eine Zeile an und wußte, daß er richtig gewählt hatte. Es war ein Zug, der von Horseham nach London Bridge fuhr, und Horseham lag nicht allzu weit von Marks Priory entfernt. Jedenfalls konnte man mit dem Rad hinkommen.

 

Es gab nicht viel Züge, die um zehn Uhr morgens abfuhren und am nächsten Morgen um zehn Uhr fünf ankamen, und sie fuhren nicht nach dem Kontinent. Darunter befand sich einer, der in London um zehn Uhr abging und um zehn Uhr fünf in Aberdeen eintraf. In einem Nachschlagewerk fand Tanner, daß Lady Lebanon zehn Meilen von Aberdeen entfernt ein kleines Jagdhaus besaß. Zweifellos war das Tillings Ziel.

 

Er telefonierte nach London, daß die Polizei in Aberdeen gewarnt werden sollte. Tilling hatte aber inzwischen schon auf einer Station in Schottland ein Telegramm erhalten und den Zug verlassen. Über Edinburgh war er nach Stirling zurückgekehrt.

 

Sonst erfuhr Tanner von Scotland Yard noch, daß während der fraglichen Zeit nur eine Pfeife der Marke Ursus verkauft worden war. Ein Tabakhändler, dessen Laden in der Nähe des Bahnhofs King’s Cross lag, hatte gerade sein Geschäft geöffnet, als ein Mann, der nach der Beschreibung sofort als Tilling zu erkennen war, eine solche Pfeife bei ihm verlangte.

 

*

 

Totty verbrachte den Abend in dem Zimmer Mr. Kelvers, und das Gespräch drehte sich natürlich um die aufregenden Ereignisse der letzten Zeit.

 

»Ein paar merkwürdige Diener haben Sie hier«, meinte Totty.

 

»Ja, da mögen Sie recht haben«, erwiderte der Butler ironisch. »Ich habe allerdings nur wenig mit ihnen zu tun.«

 

Kelver hatte Dr. Amersham wohl oft gesehen, konnte aber dem Sergeanten über den Charakter des Mannes nur das sagen, was er von Studd gehört hatte.

 

»Er war nicht gerade sehr freundlich und zuvorkommend nach allem, was mir der Chauffeur erzählte. Aber ich habe ja schon immer gesagt, auf dieser Welt gibt es die verschiedensten Leute.«

 

»Stimmt«, versicherte Totty. »Ist es hier eigentlich einmal zu einer Schlägerei gekommen?«

 

Als er das erstaunte Gesicht des Butlers sah, erklärte er ihm, wie er das meinte. Kelver sagte zwar zuerst, er wolle nicht über die Angelegenheiten seiner Herrschaft sprechen, aber dann tat er es doch.

 

»Eines Morgens kam ich in die Halle, und da sah es tatsächlich so aus, als ob ein Kampf stattgefunden hätte. Verschiedene der großen Spiegel waren zerbrochen, ebenso einige Stühle, und Scherben von Weingläsern lagen auf dem Boden. Außerdem hatte Gilder ein blaues Auge. Von Studd habe ich dann erfahren, daß auch Dr. Amersham etwas abbekommen hatte.«

 

Kelver ging zur Tür, öffnete sie und sah hinaus, dann schloß er sie wieder und fuhr mit leiser Stimme fort:

 

»In diesem Haus stimmt etwas nicht. Der junge Lord wird behandelt, als ob er überhaupt nichts zu sagen hätte. Wenn er einen Wunsch hat, achtet man nicht darauf, und er wird hier in seinem eigenen Hause eigentlich wie ein Gefangener gehalten.«

 

Nachdem er diese wichtige Äußerung getan hatte, trat er einige Schritte zurück, um den Eindruck seiner Worte zu beobachten.

 

Totty sah ihn überrascht an.

 

»Sie lassen ihn niemals aus den Augen«, fuhr Kelver fort. »Und ich kann Ihnen nur das eine sagen: Ich selbst habe Instruktionen von Mylady erhalten, die mir durchaus nicht recht sind. Auf jedes Telefongespräch muß ich achten, das der junge Lord führt, und, wenn möglich, ihn dabei belauschen. Wenn er irgendeinen Diener hat, dem er Vertrauen schenken kann, wird der schleunigst wieder entlassen. Soviel ich weiß, hatte er drei Kammerdiener hintereinander, und allen dreien wurde gekündigt. Der einzige, mit dem er auf freundschaftlichem Fuß stand, war Studd, und soweit ich den kannte, hätte er alles für seinen Herrn getan.«

 

Kelver machte eine Pause.

 

»Und dann wurde Studd eines Morgens ermordet aufgefunden«, fuhr er fort. »Ich habe noch nie vorher meine Meinung darüber geäußert, und ich verlasse mich auf Sie, Inspektor Totty – es ist doch richtig, wenn ich Inspektor sage?«

 

»Ja, ganz richtig«, erklärte Totty ernst.

 

»Sie dürfen aber nichts davon weitererzählen. Hier im Hause walten unheimliche, unsichtbare Kräfte. Die Zustände hier fallen mir auf die Nerven, und ich würde gern ein Monatsgehalt geben, wenn ich schon heute abend wegkönnte.«

 

Plötzlich sprang Totty auf, und auch Kelver erhob sich rasch. Beide hatten den entsetzten Schrei einer Frau gehört. Mit zwei Schritten war der Sergeant an der Tür.

 

Ein enger Gang führte weiter ins Haus hinein. Links davon befand sich eine Treppe, die für die Dienerschaft bestimmt war. Totty hörte jemand laufen; gleich darauf stürzte Isla die Treppe herunter und wäre gefallen, wenn Totty sie nicht aufgefangen hätte.

 

Sie war einem Zusammenbruch nahe.

 

»Was ist denn los, Miss Crane?«

 

Sie sah nur entsetzt die Treppe hinauf.

 

»Werden Sie verfolgt? Kelver, halten Sie die junge Dame.«

 

Der Sergeant eilte hinauf, blieb aber auf der vierten Stufe stehen. Auf dem oberen Podest zeigte sich Gilder.

 

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er mit seiner tiefen rauhen Stimme.

 

»Kommen Sie einmal her. Was ist denn mit Miss Crane?«

 

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich hörte jemand schreien und kam sofort aus meinem Zimmer, um nachzusehen, was es gäbe.«

 

Langsam stieg er die Stufen hinunter, bis er in den engen Gang kam, und starrte dann düster auf Isla, die sich inzwischen ein wenig gefaßt hatte.

 

»Ich brauche Sie nicht«, sagte sie verstört. »Gehen Sie nach oben – ich brauche Sie nicht …«

 

»Ist etwas passiert, Miss?« fragte der Diener.

 

»Nein … nichts. Ich …« Sie wandte sich an Totty. »Ich möchte in mein Zimmer zurückgehen. Bitte, begleiten Sie mich dorthin.«

 

Er ging vor ihr die Treppe hinauf. Auf dem Weg sprach sie nichts, verschwand auch stumm im Zimmer des alten Lords, machte die Tür zu und drehte den Schlüssel von innen um.

 

Gilder beobachtete den Vorgang.

 

»Die junge Dame ist ein wenig nervös geworden.«

 

»Wissen Sie, worüber sie sich aufgeregt hat? Grinsen Sie doch nicht so, die Sache ist wirklich zu ernst.«

 

»Wenn ich nicht ab und zu einmal grinsen könnte«, entgegnete Gilder kühl, »würde ich in diesem Haus verrückt werden. Mir kommt es ganz natürlich vor, daß sie aufgeregt ist. Das geht uns allen so. Brauchen Sie mich noch?«

 

Totty antwortete nicht darauf; er ging in Kelvers Zimmer zurück. Der Butler goß sich gerade ein Glas Kognak ein, aber seine Hand zitterte so sehr, daß der Flaschenhals gegen das Glas schlug.

 

»Was kann sie denn nur gesehen haben?« fragte der Sergeant, der immer noch nicht wußte, was er zu dem Vorfall sagen sollte.

 

»Ich möchte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Wollen Sie sich nicht auch einen kleinen Napoleon einschenken?«

 

Totty folgte der Aufforderung, obwohl er sonst um diese Zeit nicht zu trinken pflegte. Dann suchte er seinen Vorgesetzten und fand ihn in einem kleinen Wohnzimmer, in das man einen Schreibtisch gesetzt hatte. Außerdem war der Raum insofern von Vorteil, als sich einer der drei Telefonapparate darin befand.

 

»Die Sache kommt mir immer geheimnisvoller vor«, sagte der Sergeant. »Miss Crane muß irgend etwas gesehen haben. Natürlich kann es auch der amerikanische Diener gewesen sein, vor dem sie solche Angst hatte.«

 

Tanner schüttelte den Kopf.

 

»Übrigens will Lord Lebanon in den Ort gehen«, erwiderte er. »Ich möchte Sie bitten, ihn dorthin zu begleiten. Es wäre aber gut, wenn Sie eine Schußwaffe einsteckten. Nehmen Sie auch einen Gummiknüppel mit. Ich glaube zwar nicht, daß etwas passieren wird, aber man kann niemals etwas voraussagen.«

 

»Warum will er denn ins Dorf gehen?«

 

»Er will Mrs. Tilling aufsuchen. Sehen Sie zu, daß er den Fahrweg benützt. Der junge Lord hat eben erst gehört, daß der Parkwächter verschwunden ist, und er möchte den Fall aufklären. Also, sorgen Sie dafür, daß er den Fahrweg entlanggeht und nicht quer durch den Park. Wenn Sie sich fürchten, gebe ich Ferraby den Auftrag, ihn zu begleiten.«

 

Totty fühlte sich verletzt.

 

»Haben Sie schon jemals gehört, daß ich mich fürchte? Und wer sollte denn im Park einen Angriff auf zwei erwachsene Männer machen? Ich glaube, Sie sehen auch schon Gespenster.«

 

»Nein. Aber seien Sie nicht so selbstbewußt, Totty. Der Weg durch den Park ist ziemlich gefährlich. Machen Sie sich auf alles gefaßt!«

 

Trotz seiner langen Erfahrung im Dienst überlief den Sergeanten doch ein kalter Schauer, als er diese Worte hörte.

 

»Sie machen mir allerdings wenig Mut. Gibt es denn im Park ein Versteck? Glauben Sie, daß sich der Mörder noch dort aufhält?«

 

Tanner nickte.

 

»Ja, er ist noch in der Gegend«, erwiderte er ernst. »Ferraby kann ja mit Ihnen gehen –«

 

»Reden Sie doch keinen Unsinn«, sagte Totty brummig.

 

»Vergessen Sie nicht, daß Sie Lord Lebanon zu beschützen haben«, ermahnte ihn Tanner, als er das Zimmer verließ. »Wenn ihm etwas zustößt, sind Sie verantwortlich dafür. Nehmen Sie also vor allem eine Schußwaffe mit. Aber Sie dürfen sie erst dann benützen, wenn Ihnen jemand ein Seidentuch um die Kehle schlingt. Und dann wird es wahrscheinlich zu spät sein.«

 

»Will denn jemand dem jungen Lord etwas tun?«

 

»Das weiß ich nicht. Aber es wird keinem von Ihnen beiden etwas zustoßen, wenn Sie meine Vorschriften befolgen. Ich meine es diesmal vollkommen ernst.«

 

Willie Lebanon wartete in der Halle auf Totty. Er war noch ganz empört über die Ermahnungen, die Tanner ihm kurz vorher gegeben hatte.

 

»Ich lasse es mir nicht gefallen, daß man mich wie ein kleines Kind behandelt! Wenn jetzt auch noch Scotland Yard so tut, als ob ich eine Wärterin nötig hätte, könnte man doch wirklich aus der Haut fahren.«

 

Trotzdem war er froh, daß er Gesellschaft hatte, denn Totty gefiel ihm. Zusammen gingen sie den dunklen Fahrweg entlang, und Totty war auf der Hut. Vorsichtig betrachtete er alle Büsche und Bäume. Er hatte seine Taschenlampe angeknipst und leuchtete damit die Sträucher und die dunklen Partien des Weges ab. In seiner Aufregung sah er überall Gestalten. Einmal glaubte er sogar, leise Schritte hinter sich zu hören, blieb stehen und wandte sich um. Er hätte einen Eid darauf leisten mögen, daß eine Gestalt in den Büschen verschwand. Aber als er hinleuchtete, war nichts zu sehen.

 

Als die Sträucher dünner wurden, hörte er wieder Geräusche und richtete plötzlich den Lichtstrahl auf die Stelle. Diesmal bekam er Gewißheit, denn er sah, daß sich etwas schnell fortbewegte. Jemand schlich sich also durch den Park. Sie hatten gerade den Platz erreicht, an dem Totty Tillings Jagdgewehr und den Feldstuhl gefunden hatte. Obwohl der Sergeant ein mutiger Mann war, fühlte er doch, daß kalter Schweiß auf seine Stirn trat, und er atmete erleichtert auf; als sie vor der Gartentür des Parkwächterhauses standen.

 

Lord Lebanon dagegen schien die Sache nur sehr interessant zu finden.

 

»Sind Sie wirklich davon überzeugt, daß uns jemand nachgeschlichen ist?« fragte er und machte Miene, sich in die Hecke zu stürzen.

 

Aber Totty zog ihn am Arm zurück.

 

»Bleiben Sie ruhig hier bei mir.«

 

»Zum Teufel, ich will aber wissen, wer es ist.«

 

Totty folgte Lord Lebanon durch die Gartentür.

 

Der Besuch brachte nichts Neues zutage. Lebanon wollte nur Mrs. Tilling seine Teilnahme aussprechen. Er erkundigte sich, ob sie auch genügend Geld besäße, und stellte noch verschiedene andere Fragen über ihren Mann. Die Frau war nervös und merkwürdig zurückhaltend; allem Anschein nach kam ihr dieser Besuch unerwartet.

 

»Haben Sie denn den armen Amersham gekannt?«

 

Sie nickte.

 

»Man erzählt sich die sonderbarsten Dinge über Sie«, sagte der Lord etwas geradezu. »Ich kümmere mich natürlich wenig darum.«

 

Totty war überrascht, daß sie nicht dagegen protestierte.

 

»Wirklich eine seltsame Person«, erklärte der junge Lord, als sie nach dem Schloß zurückgingen. »Schön ist sie ja, das muß ich selbst sagen. Man hört tolle Sachen von ihr, aber ich glaube, es ist viel davon erfunden. Ich möchte nur wissen, was ihrem Mann zugestoßen ist. Es ist nicht gut, daß sie allein in dem Haus bleibt.«

 

Totty hatte seine eigenen Gedanken. Er ging nahe an die Hecke heran, denn er glaubte bestimmt, daß sich dieser Unsichtbare, der sie eben begleitet hatte, wieder neben ihnen auf der anderen Seite der Sträucher entlangschlich.

 

Einmal knackte ein trockener Zweig, auf den der Unbekannte getreten war, und Totty fuhr nervös zusammen.

 

»Drüben ist jemand«, sagte der Lord leise. »Wollen wir nicht über die Hecke springen und ihn fangen?«

 

»Nein, wir bleiben hier. Auf solche Abenteuer lassen wir uns nicht ein«, erklärte Totty prompt.

 

Er leuchtete mit seiner Taschenlampe bald nach links, bald nach rechts, während sie den Fahrweg entlanggingen. Zweifellos war jemand hinter ihnen her. Zweimal drehte er sich unerwartet um, konnte aber trotzdem nichts sehen. Um so mehr hörte er. Der Mann, der ihnen folgte, blieb auf dem Rasen; einmal mußte er jedoch einen kiesbestreuten Weg überqueren, und Totty hörte deutlich Schritte.

 

Er begleitete den jungen Lord bis zur Haustür, wartete, bis Willie verschwunden war, und ging dann den Weg zurück. Diesmal hielt er sich auch auf dem Rasen und dicht im Schatten der Bäume. Plötzlich entdeckte er eine Gestalt und zog blitzschnell seine Pistole.

 

»Halt! Bleiben Sie stehen, oder ich schieße!« rief er und leuchtete mit der Taschenlampe.

 

In dem Lichtkegel erkannte er Ferraby.

 

»Schießen Sie nicht, Totty«, erwiderte der junge Sergeant belustigt. »Hier gut Freund!«

 

»Sind Sie uns den ganzen Weg gefolgt?«

 

»Ja, in gewisser Hinsicht habe ich das getan, aber meistens war ich mit Ihnen auf gleicher Höhe.«

 

»Dann waren Sie also der unheimliche Kerl, der immer auf der anderen Seite der Hecke entlangschlich?«

 

»Ja. Aber ich habe noch gar nicht gewußt, daß Sie so nervös sind, Totty. Und warum hat Tanner Ihnen denn erlaubt, eine Pistole zu tragen? Hoffentlich ist sie nicht geladen.«

 

»Wie kommen Sie dazu, hinter mir herzuschleichen?«

 

»Ich habe nur einen Befehl ausgeführt«, entgegnete Ferraby und steckte sich eine Zigarette an. »Tanner gab mir den Auftrag, Sie beide zu beobachten.«

 

Totty war natürlich ärgerlich, aber andererseits atmete er auf, als er erfuhr, daß Ferraby der vermeintliche Verfolger gewesen war.

 

»Wenn Tanner mir nicht mehr traut –«

 

»Wem traut er überhaupt? Wenn wir der Sache weiter auf den Grund gehen, finden wir wahrscheinlich, daß ich wieder von einem anderen Beamten überwacht werde. Wie war es denn unten bei Tillings?«

 

»Es ist nichts passiert.«

 

»Ist die hübsche Frau auch so nervös? Ich möchte unter diesen Umständen allerdings nachts auch nicht allein in dem Hause sein.«

 

Als sie zurückgingen, ließ sich Totty herab, eine Zigarette von seinem Kameraden anzunehmen.

 

Der Motorradfahrer von Scotland Yard stand im Schatten der Säulenhalle. Totty sah ihn daher erst, nachdem Ferraby gegangen war.

 

Der Mann wartete noch, um einen eiligen Brief zur Stadt zurückzubringen.

 

»Es ist merkwürdig, Sergeant«, sagte er. »Wenn man in die Provinz kommt, erscheint sie einem immer vollkommen ausgestorben. Haben Sie das auch beobachtet?«

 

»Ich beobachte alles«, erklärte Totty.

 

»Wer mag nur der junge Herr gewesen sein, der mit mir sprach? Vor kurzer Zeit kamen Sie mit ihm ins Haus.«

 

»Das ist Lord Lebanon.«

 

»So? Der spricht aber sehr nett und ist gar nicht hochmütig. Ich dachte mir doch gleich, daß es jemand von Bedeutung sein müßte. Er hat mich viel gefragt über meine Tätigkeit bei der Polizei. Von Mr. Tanner scheint er allerdings nicht sehr erbaut zu sein.«

 

»Hat er meinen Namen auch erwähnt?« fragte Totty.

 

»Nein. Er war nur kurze Zeit bei mir draußen, dann ging er wieder hinein.«

 

Totty fand den Chefinspektor in seinem Zimmer. Tanner hatte seinen Bericht an die Polizeidirektion gerade beendet und steckte ihn in einen Briefumschlag.

 

»Wartet der Bote draußen? – Gut. Nun, was macht Mrs. Tilling?«

 

»Sie scheint Angst zu haben.«

 

»So?« Tanner biß sich nachdenklich auf die Lippen. »Ich möchte nur wissen …«

 

»Ich wundere mich auch«, sagte Totty. »Zweifellos ist ihr Mann der Mörder. Hoffentlich fassen sie ihn heute abend noch.«

 

»Ihr Mann ist nicht der Mörder, aber auch ich hoffe, daß wir ihn heute abend noch fassen. In diesem Bericht hier habe ich genau erklärt, wer der Täter ist.« Er hob das versiegelte Kuvert in die Höhe. »Ich glaube, ich habe alle Tatsachen richtig gedeutet. Wenn ich nicht recht hätte, wäre ich sehr erstaunt, und ich muß Ihnen sagen, Totty, dies ist der interessanteste Fall, der mir jemals vorgekommen ist.«