Kapitel 28

 

28

 

Inspektor Tetley wartete bereits an der verabredeten Stelle, als ihm gegenüber ein Wagen hielt: ein leichtes Transportauto; seitlich war mit roten Buchstaben der Name einer Firma aufgemalt.

 

»Steigen Sie ein Mr. Tetley!« hörte er eine freundliche Stimme aus dem Innern.

 

Er kletterte neben den Führersitz und von dort nach hinten. Im Hintergrund glühten zwei Zigarren. »Setzen Sie sich rechts!« Eine Tür wurde hinter ihm zugemacht, und der Wagen fuhr an. »Kerky konnte heute nicht kommen«, sagte der Mann mit der freundlichen Stimme. »Er hat mir den Auftrag gegeben, mit Ihnen zu sprechen … Wie steht es denn in Scotland Yard?«

 

Tetley hatte nicht die Absicht, im Augenblick über Scotland Yard zu sprechen; besonders, da er gar nicht wußte, wem er gegenübersaß. Vielleicht war es sogar eine Falle der Polizei?

 

»Wir müssen erst aus der Stadt heraus, bevor ich Ihnen das Geld geben kann, Mr. Tetley«, fuhr der Mann fort. Der zweite schwieg.

 

Tetley lehnte sich zurück. Er hatte es hier mit Leuten zu tun, die er nicht genau kannte, und er wollte seine jetzigen Auftraggeber bei der nächsten Gelegenheit verraten; denn nachdem er behördlicherseits aufgefordert worden war, seine Bankbücher vorzulegen, mußte er schnell handeln. Es war ihm auch alles gleichgültig; er wollte nur noch eine kleine Extrabezahlung herauspressen.

 

»Kerky ist ein tüchtiger Kerl!« sagte er zu seinen unbekannten Begleitern.

 

»Ja – da haben Sie wohl recht!«

 

Tetley steckte sich eine Zigarette an. Als das Streichholz aufleuchtete, konnte er die beiden sehen. Sie hatten breite Gesichtszüge, waren glattrasiert und trugen tadellos weiße Wäsche. Es mußte sich also doch um anständige Leute handeln. »Ich habe natürlich niemals etwas von diesen Schießereien gewußt, und ich habe auch nicht danach gefragt. Sicher hatte das seine Gründe. Von meinem Standpunkt aus ist das eigentlich nicht in Ordnung …«

 

Die beiden ließen ihn reden, soviel er wollte. Dann drehte der Chauffeur sich um und sagte etwas.

 

Als Tetley hinaussah, bemerkte er, daß sie an dem kleinen Gasthaus am Ende von Colnbrook vorbeifuhren. »Wohin geht denn die Fahrt?«

 

»Das werden Sie schon sehen. Sie sind ein feiger Hund, Tetley: Sie wollen uns verpfeifen!«

 

Die Stimme klang hart und drohend.

 

Tetley hörte, daß der Mann einen Browning entsicherte. »Was haben Sie denn vor?« rief er entsetzt.

 

»Halten Sie die Schnauze! Wir jagen Ihnen nur ein paar Kugeln durch den Schädel und zeigen der Welt mal, was man mit Polypen macht, wenn sie zu quaken anfangen!«

 

»Sie wollen mich doch nicht umbringen?« schrie Tetley außer sich.

 

Das Auto fuhr langsamer. Einer der beiden packte ihn am Kragen und zog ihn heraus. Leslie, die in die Dunkelheit zurückgetreten war, hörte ihn gellend protestieren. Dann fielen kurz hintereinander zwei Schüsse. Sie sah ihn taumeln und zu Boden stürzen …

 

»Machen wir, daß wir fortkommen«, flüsterte eine heisere Stimme. Dann fuhr das Auto davon.

 

Hätte sie die Scheinwerfer nicht ausgedreht, so wäre sie bestimmt entdeckt worden. Verstört klammerte sich Lesley an das hölzerne Tor. Wenn nur ein Wagen käme …! Sie schaute sich um: Das Lastauto war schon so weit entfernt, daß sie kaum noch das Schlußlicht erkennen konnte.

 

Dann erschienen plötzlich zwei große, helle Scheinwerfer aus der Richtung der Bath Road. Der Wagen fuhr verhältnismäßig langsam. Leslie trat in die Straßenmitte und hob beide Arme. Als das Auto hielt, sank sie vor Schwäche zusammen …

 

Gleich darauf trug sie jemand auf die Seite der Straße. »Was ist denn los? Mein Gott – das ist ja Miss Ranger!«

 

Sie erkannte Jiggs Allerman, der sich über sie beugte. »Wo waren Sie denn?«

 

»Auf dem Land …« Sie lächelte schwach.

 

»Wir haben nach Ihnen gesucht…« Jiggs hielt eine kleine Flasche an ihre Lippen. Sie schluckte und hustete; denn der Captain liebte besonders scharfen Kognak. »Das schadet Ihnen nichts!«

 

Sie erinnerte sich nun wieder an das Entsetzliche und zeigte auf den Seitenweg.

 

Er konnte nicht sehen, was sie meinte, da die Stelle im Dunkeln lag. »Was ist?« fragte er.

 

»Tetley …!« flüsterte sie.

 

»Können Sie sich aufrecht halten?« Er stellte sie auf die Füße, lehnte sie gegen die Zauntür und rief nach dem Chauffeur.

 

Dann gingen die beiden auf die Stelle zu. »Holen Sie einen Polizisten und einen Krankenwagen«, sagte Jiggs. »Ich war auf dieses Ende gefaßt.«

 

Er kam zu Leslie zurück, und sie unterrichtete ihn nun über die Ursache ihrer Panne.

 

»Ihr Wagen hat Sie also im Stich gelassen?« Jiggs ging zu seinem eigenen Auto, holte eine Kanne Benzin und goß den Inhalt in ihren Tank. »In Ordnung!« sagte er dann zu dem Chauffeur, der eben abfahren wollte. »Ich will Miss Ranger zur nächsten Polizeiwache bringen …«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich will lieber hierbleiben. Ich bin nicht so ängstlich.«

 

Jiggs trat näher an sie heran; beide stützten sich mit den Ellbogen auf den Zaun und warteten. »Wir haben nach Ihnen Ausschau gehalten«, sagte der Captain. »Als Terry hörte, daß Sie in einem Auto fortgefahren seien, wurde er wild. Das merkwürdigste ist, daß niemand erkennen konnte, wer außer Ihnen im Wagen saß. Wer war es denn?«

 

»Mrs. Smith!«

 

»Doch nicht etwa Cora?«

 

»Ja … Ich erzähle Ihnen später alles.«

 

Ein langes Schweigen folgte. Nach einiger Zeit erschienen wieder die beiden Scheinwerfer des anderen Wagens auf der Brücke.

 

»Da kommt unser Mann – und auch der Krankenwagen! Fahren Sie doch im Dienstauto zur Stadt und lassen Sie Ihren Wagen ruhig hier stehen! Ich kann mit der Garage telefonieren und die Leute veranlassen, ihn morgen abzuholen; die werden sich schon um ihr Eigentum bemühen. Ich muß einstweilen noch hierbleiben und mich um Tetley kümmern.«

 

Kapitel 29

 

29

 

Cora sprach während der ersten Pause im Theater kein Wort.

 

»Was ist denn heute mit dir los?« fragte Kerky.

 

Sie schüttelte nur den Kopf. Als aber der Vorhang zu Beginn des zweiten Aktes aufging, packte sie plötzlich seinen Arm. »Komm mit nach draußen, Kerky!«

 

Er folgte ihr ins Vestibül, das leer und verlassen war.

 

»Erinnerst du dich an das Buch?« Sie brachte die Worte kaum heraus, jede Silbe mußte sie sich abringen.

 

»Ja!« Er war auf das Kommende vorbereitet.

 

»Ich habe es nicht auf die Bank gebracht. Ich wollte es tun, habe es aber vergessen. Es liegt immer noch in meiner Handtasche – und die habe ich verloren. Ich weiß, wo sie ist … Ich habe sie liegengelassen …«

 

Schließlich erzählte sie ihm, daß sie sich an Leslie hatte rächen wollen. »Ich war so außer mir über sie …«

 

»Darüber brauchst du jetzt keine Worte zu verlieren«, sagte er ruhig. »Geh ins Hotel, Cora!«

 

Er schnalzte geistesabwesend mit den Fingern. Ein Mann, der ihn beobachtete, entfernte sich vom Eingang des Theaters, kam ein paar Minuten später mit dem Wagen wieder und setzte sich neben den Chauffeur.

 

Kerky stieg ein. »Nach Westen! Slough und Maidenhead. Scharf nach rechts – dann über die Brücke!« Dumm war Cora – das ließ sich nicht bestreiten. Aber er war ihr nicht böse. Außerdem war er selber noch viel dümmer als sie! Warum mußte er auch alle Summen, die er aus diesem neuen Geschäft erhalten hatte, in ein Notizbuch eintragen? Warum hatte er das Abkommen mit Eddie überhaupt zu Papier gebracht? Mit ihm verglichen war Cora geradezu intelligent. Allerdings würde es schwer sein, die Sache mit Leslie Ranger aus der Welt zu bringen. Dadurch wurden die Zeitungen und das Publikum auf ihn aufmerksam, und das durfte in diesem Augenblick unter keinen Umständen geschehen. Nur wenn er in das Haus gelangen konnte, bevor jemand anders Leslie gefunden hatte, ließ sich vielleicht noch alles in Ordnung bringen.

 

Als er die Chaussee entlangfuhr, begegnete er einem Krankenwagen und einem Polizeiauto und schüttelte den Kopf. Heute ging auch alles schief! Warum mußten seine Leute ausgerechnet diese Gegend wählen, wenn ihnen doch das ganze Land um London herum offenstand? Er atmete schwer.

 

Endlich erreichte er Coras Landhaus. Als er das offene Fenster sah, erschrak er … Der Schlüssel steckte noch in der Hintertür; ein andrer hing am Schlüsselring. Daran erkannte er wieder Coras Nachlässigkeit. Er machte Licht, eilte die Treppe hinauf und ging durch das Mädchenzimmer in das kleine Bad. Da lagen die Handschellen; der Schlüssel steckte noch in der einen Fessel. Die Handtasche war nirgends zu sehen. Leslie mußte beobachtet haben, daß Cora den Schlüssel dort unterbrachte.

 

Nachdem Kerky das ganze Haus durchsucht hatte, gab er es auf und ging zum Wagen zurück. »Nach Hause, James!« sagte er und grinste – wie gewöhnlich, wenn er sich in einer fatalen Lage befand. –

 

Cora hatte sich angekleidet aufs Bett geworfen und den Kopf in den Armen vergraben.

 

Kerky klopfte ihr bei seiner Rückkehr freundlich auf die Schulter. »Hör auf zu weinen. Was verloren ist, ist verloren.«

 

Sie starrte ihn enttäuscht an. »Hast du die Tasche nicht gefunden?«

 

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, die hat sie als Andenken mitgenommen!« Er legte seinen Frack ab und zog eine Hausjacke an. Eine Möglichkeit blieb ihm noch: Er ging zum Telefon und wählte Leslies Nummer. »Gott sei Dank, daß Sie wohl und munter sind!« sagte er, als er ihre Stimme hörte. »Meine Frau hat mir alles gebeichtet. Schauderhaft, was sie da gemacht hat! Ich bin sofort hinausgefahren, um Sie freizulassen …«

 

Sie war ein wenig verblüfft, aber seine Worte klangen so aufrichtig, daß sie ihm glaubte. »Ich bin eben erst zurück«, erwiderte sie. »Und, Mr. Smith, ich habe die Handtasche Ihrer Frau!«

 

»Ach, sehen Sie mal an! Hätten Sie was dagegen, wenn ich sie gleich bei Ihnen abholte?«

 

»Ich bringe sie Ihnen morgen ins Hotel.«

 

»Sie täten mir aber den größten Gefallen, Miss Ranger, wenn Sie mir erlaubten, Sie heute noch aufzusuchen und mich bei Ihnen zu entschuldigen.«

 

Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. »Schön! Dann müssen Sie aber gleich kommen!«

 

Schnell kleidete er sich wieder an und ging fort, ohne Cora zu sagen, wohin er fuhr.

 

Als er Leslies Haus erreichte, war der Fahrstuhl oben, und er mußte eine Minute warten. Sie erschien ihm wie eine Ewigkeit.

 

Vor ihrer Tür stand ein Mann …

 

»Ist Miss Ranger zu Hause? Jemand bei ihr?«

 

»Nein.«

 

»Mein Name ist Kerky Smith. Sie brauchen niemand zu sagen, daß ich hier war, wenn man danach fragt!«

 

»Ich kenne Ihren Namen!«

 

»Das glaub‘ ich schon!« Kerky lächelte. »Sie heißen Appleton und sind Detektivsergeant bei der Abteilung N. Seit drei Wochen sind Sie hier.«

 

Der Mann war erstaunt. »Ich weiß nicht, woher Sie das erfahren haben …«

 

»Durchs Radio!« grinste Smith belustigt.

 

Als sich die Tür öffnete, blieb er einen Augenblick draußen stehen. Erst als Leslie ihn einlud, folgte er ihrer Aufforderung; er benahm sich sehr zuvorkommend.

 

Die Handtasche lag auf dem Tisch. Er nahm sie und öffnete sie. Das Buch mit der Kette war noch darin … Auf den Rest kam es nicht an. Er war dankbar; aber – es war dumm von ihr, ihm die Tasche zu geben. Sie war nicht ganz so beschränkt wie Cora, aber klug war sie auch nicht. Sie hätte doch Terry anläuten können. Sie hätte doch wissen müssen, daß ein mit einer Kette verschlossenes Buch etwas bedeutete.

 

Er eilte wieder zu seinem Wagen und fuhr zum Hotel zurück. Cora fand er in derselben Stellung, in der er sie verlassen hatte. Er warf die Handtasche auf das Bett.

 

Sie schrie auf und öffnete sie. »Wo ist das Buch?« fragte sie mit zitternder Stimme.

 

»In meiner Tasche!« Er nahm es heraus. Der Verschluß war nach seinen Angaben gefertigt, und er war stolz darauf. »Morgen kommt es auf die Bank, Cora! Ich bringe es persönlich hin!«

 

Aber in der Nacht hatte er einen bösen Traum, stand auf und verbrannte es. –

 

Eddie Tanner kam unangemeldet zum Frühstück. Er kam ohne Begleitung, passierte den unsichtbaren Schutzkreis, der Kerky umgab, und trat ins Wohnzimmer.

 

Kerky wußte sofort, daß es eine böse Auseinandersetzung geben würde. »Bevor Sie irgend etwas sagen, mein Junge –: Es war nicht meine Idee … Setzen Sie sich! Und frühstücken Sie bitte mit mir!«

 

»Wessen Idee war es dann?«

 

»Cora hat die ganze Sache angerissen. Komm herein, Cora, und erzähle Eddie, wie übel du dich benommen hast!«

 

Sie erschien in einem entzückenden Negligé.

 

Aber Eddie hatte sie viele Male so gesehen, und deshalb machte das keinen Eindruck auf ihn. »Was hast du mit Leslie gemacht?«

 

Sie sah zu Kerky hinüber, der ihr zunickte. Mit stockenden Worten und düsterem Gesicht erzählte sie die Geschichte.

 

Eddies Züge glichen einer Maske. »Nun, da bist du ja gerade noch mal glücklich davongekommen, liebes Kind«, sagte er liebenswürdig. »Über Miss Ranger brauchen wir also nicht mehr zu sprechen. Der Fall ist erledigt!«

 

»Interessieren Sie sich nicht mehr für sie, Eddie?«

 

Tanner nickte. »Wissen Sie auch, was Sie angerichtet haben, Sie beide? Sie haben sie direkt in die Arme von Scotland Yard getrieben!«

 

»Nun – da könnten wir sie doch wieder herausholen«, meinte Kerky.

 

»Wer soll das tun?« Diese Worte bedeuteten eine Herausforderung und Drohung zugleich. Eddie Tanner lächelte nicht mehr, und er gab sich auch nicht die Mühe, gleichgültig zu erscheinen. »Wer soll das tun? Ich brauche nur den Namen zu wissen – dann wird er ebenso tot sein wie Tetley … Und sie weiß, daß der erschossen wurde! Weil sie es sah!«

 

Das spöttische Lächeln verschwand aus Kerkys Gesicht. »Wer sagt das?«

 

»Ich! Sie hat alles genau beobachtet, denn sie stand bei ihrem Auto abseits auf dem Feld, als Ihre Leute ihm zwei Kugeln durch den Kopf jagten.«

 

Mr. Smith schien wenig erfreut zu sein. »Wenn meine Leute sie dort gesehen hatten –«

 

»Dann wäre mindestens einer nicht mehr am Leben wahrscheinlich aber alle beide nicht. Sie hatte nämlich einen Browning – Coras Waffe.«

 

»Wo haben Sie nur all die Neuigkeiten her?« knirschte Kerky wütend. »Haben Sie etwa mit der Polizei gemeinsame Sache gemacht?«

 

Tanner hielt die Hand in der Tasche, seitdem er das Zimmer betreten hatte. Kerky hatte das beinahe vergessen, als er nach der Hüfte faßte.

 

»Wir wollen heute ruhig miteinander sprechen«, beschwichtigte ihn Eddie gelassen. »Es ist nahe daran, daß Sie sich überhaupt keine Sorgen mehr zu machen brauchen … Sie wissen es noch nicht: Ich scheide aus dem Geschäft aus!«

 

Kerkys Züge hellten sich auf, und er lächelte wieder.

 

»Dann soll ich das Baby also allein schaukeln?«

 

»Es wird kein Baby mehr da sein, das sich schaukeln läßt …«

 

Eddie ging zur Tür.

 

Kerky glaubte draußen ein Geräusch zu hören, und seine Vermutung wurde dadurch bestätigt, daß Eddie die Tür hastig aufriß. Im nächsten Augenblick war Tanner gegangen …

 

Kerky starrte ihm noch ein paar Sekunden nach, dann eilte er zu Cora ins Schlafzimmer. »Sally!« begann er. Wenn er sie so nannte, lag stets etwas in der Luft. »Der Dampfer ›Leviathan‹ fährt heute um Mitternacht ab. Ich werde Passage für dich belegen. Das Mädchen soll deine Sachen packen. Du kannst mit dem Auto nach Southampton fahren. Warte in New York, bis du von mir hörst. Und stell jetzt keine dummen Fragen! Tu, was ich dir sage!«

 

Kapitel 3

 

3

 

Am nächsten Morgen wurde Terry gleich nach seiner Ankunft im Amt zu seinem Vorgesetzten gerufen.

 

»Fahren Sie gleich zum alten Decadon nach Berkeley Square!«

 

»Was hat denn der schon wieder verloren?« fragte Terry, unangenehm beruht.

 

»Er hat nichts verloren. Es handelt sich diesmal um eine ernste Sache. Die Sekretärin hat eben telefoniert und gebeten, daß Sie kommen möchten.«

 

Terry ließ sich das nicht zweimal sagen. Er fuhr zum Berkeley Square. Leslie mußte ihn erwartet haben, denn sie öffnete selber die Haustür.

 

»Nun, hat der alte Herr wieder etwas verlegt?« fragte er.

 

»Nein. Entweder ist es eine ernste Sache, oder es handelt sich um einen üblen Scherz. Mr. Decadon hat heute morgen einen Brief erhalten. Er ist oben in seinem Zimmer und hat mir den Auftrag gegeben, Ihnen alles zu erklären.« Sie führte ihn in ihr Büro, schloß ein Schreibtischfach auf und nahm ein Formular heraus, auf dem bestimmte Worte handschriftlich eingefügt waren.

 

Terry las: »Betrifft persönlichen Schutz. Leute mit großem Besitz und Vermögen sind in der gegenwärtigen Zeit stark gefährdet und brauchen deshalb wirksamen Schutz. Die ›Gesellschaft zur Sicherung wohlhabender Bürger‹ bietet diesen Schutz Mr. …..« Hier war mit Tinte der Name »Elijah Decadon« eingesetzt. »Die Gesellschaft gewährleistet Schutz an Leben und Eigentum und verhütet alle gesetzwidrigen Anschläge gegen die Freiheit der betreffenden Person. Als Gegenleistung verlangt sie die Zahlung der Summe von fünfzigtausend Pfund. Wenn Mr. …..«, hier stand wieder in Tinte Decadons Name, »… dem zustimmt, wird er gebeten, eine Anzeige in die Mittwochausgabe der ›Times‹ zu setzen, und zwar wie folgt: Überschrift ›W.B.‹; dann das Wort ›Einverstanden‹; zum Schluß die Anfangsbuchstaben des Betreffenden, der die Annonce aufgibt.« Darunter stand, fett gedruckt: »Wenn Sie unserer Aufforderung innerhalb dreißig Tagen nicht nachkommen, oder wenn Sie die Polizei verständigen oder zu Rat ziehen, werden Sie umgebracht.« Eine Unterschrift war nicht vorhanden. Terry las die Botschaft noch einmal durch, bis er sie auswendig konnte, dann faltete er das Blatt und steckte es in die Tasche. »Haben Sie noch das Kuvert?«

 

Leslie gab ihm den Briefumschlag, ein gewöhnliches Geschäftskuvert. Die Adresse war mit einer gebrauchsüblichen Schreibmaschine geschrieben; der Poststempel stammte aus London E.C.1.

 

»Ein Scherz?« fragte Leslie ängstlich.

 

»Ich weiß nicht recht«, erwiderte Terry unsicher. »Der Brief kam mit der ersten Post? Hat sonst noch jemand davon erfahren? Zum Beispiel Mr. Tanner?«

 

»Nein, nur Mr. Decadon und ich wissen davon. Mein Chef ist sehr aufgeregt. Was sollen wir nur machen, Mr. Weston?«

 

»Sie können mich ruhig ›Terry‹ nennen, wenn Sie nichts dagegen haben! Selbstverständlich wird kein Geld an diese Kerle gezahlt, und Sie haben das einzig Richtige getan, als Sie sofort die Polizei verständigten.«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, entgegnete sie zu seinem Erstaunen. »Ich muß Ihnen sogar gestehen, daß ich Mr. Decadon überreden wollte, nicht mit Scotland Yard zu telefonieren …«

 

»Das war nun nicht gerade die Haltung einer ehrsamen Staatsbürgerin … Aber wahrscheinlich ist das Ganze nur ein Bluff. Auf jeden Fall wollen wir sehen, daß Elijah Decadon keinen Schaden leidet. Es ist doch besser, wenn ich mal mit ihm spreche.«

 

Er ging die Treppe hinauf und klopfte an die Tür von Decadons Schlafzimmer. Erst nach längerer Zeit öffnete der Alte und ließ ihn ein. Panischer Schrecken hatte den Mann gepackt.

 

Terry telefonierte ins Präsidium, und drei Beamte erhielten Befehl, Decadons Grundstück zu bewachen. »Ich habe Mr. Decadon eindringlich gebeten, nicht auszugehen«, sagte er am Apparat. »Wenn er es doch tun sollte, müssen die beiden Leute, die vorm Haus Wache halten, ihm folgen! Sie dürfen ihn nicht aus dem Auge verlieren!«

 

Terry ließ sich dann mit Jiggs Allerman verbinden und bat den Amerikaner, ihn im Präsidium aufzusuchen. Als er zu seinem Büro zurückkehrte, fand er ihn schon dort vor. »Ich habe etwas für Ihren scharfen Verstand«, sagte er und überreichte ihm das gedruckte Formular.

 

Jiggs las es mit hochgezogenen Brauen. »Wann ist das angekommen?«

 

»Heute morgen. Was halten Sie davon? Nehmen Sie die Sache ernst? Oder halten Sie sie für einen Scherz?«

 

»Das ist kein Scherz! Es handelt sich hier um eine ganz gemeine Erpressung. In Amerika ist das schon früher mit Erfolg versucht worden. Wir haben es hier mit einer organisierten Bande zu tun. Ich dachte mir schon, daß so etwas käme …«

 

»Sie glauben also, daß Decadon ernstlich bedroht ist?«

 

»Aber selbstverständlich!« entgegnete Jiggs Allerman mit Nachdruck. »Ich werde Ihnen auch sagen, warum. Die Drohungen einer solchen Bande wirken zu Anfang nicht. Deshalb müssen zunächst ein paar Leute über den Haufen geschossen werden. Damit wird der Öffentlichkeit bewiesen, daß die Drohungen verflucht ernst gemeint sind. Vielleicht haben auch schon andere Wohlhabende derartige Briefe erhalten; andererseits wäre es ebenso wahrscheinlich, daß einstweilen nur Decadon das Formular bekommen hat und daß man an ihm ein Exempel statuieren will.« Er nahm den Bogen wieder zur Hand und hielt ihn gegen das Licht, fand aber kein Wasserzeichen in dem Papier. »Die Art und Weise, wie sie es anfangen, ist allerdings neu. Gedruckte Formulare haben sie früher nicht verwendet. Aber das hat auch seine Vorteile. Auf jeden Fall meinen es die Leute wirklich ernst.«

 

Terry hatte dann eine Unterredung mit seinem Vorgesetzten und nahm Jiggs dazu mit.

 

Der Polizeipräsident interessierte sich sehr für den Fall, war aber doch etwas skeptisch. »In England dürfte dergleichen kaum passieren, Captain Allerman«, sagte er.

 

»Warum nicht? Wenn in den nächsten Tagen die Schießerei in London anfängt, werden Ihnen die Augen schon aufgehen!«

 

Kapitel 20

 

20

 

In Scotland Yard machte man sich die größten Sorgen, weil sich keiner der Bedrohten an die Polizei gewandt hatte. An einem Abend hatten die Polizisten allein acht brennende Kerzen an verschiedenen Fenstern gezählt; die Namen der Wohnungsinhaber waren sorgfältig notiert worden.

 

»Ich wünsche nur«, sagte Terry, »es käme ein Mutiger und sagte: ›Hier ist ein Brief, nun ist es Ihre Sache, mich zu beschützen!‹ Wenn ich morgen einen solchen Brief bekomme, bin ich glücklich.«

 

Am nächsten Morgen um zehn wurde sein Wunsch erfüllt, aber er fühlte sich durchaus nicht glücklich: Leslie Ranger nämlich hatte einen Drohbrief erhalten, in dem man von ihr eine Zahlung von fünfhundert Pfund verlangte …

 

Sie brachte den Brief persönlich ins Präsidium. Sie faßte die Sache mehr von der heiteren Seite auf und war keineswegs ängstlich.

 

Als Terry die blaue Formularfarbe sah, wußte er sofort, was das zu bedeuten hatte. Er wurde bleich und gab Jiggs Allerman das Schreiben.

 

»Haben Sie denn fünfhundert Pfund, Miss Ranger?« fragte Allerman stirnrunzelnd »Aber natürlich: Sie haben ja tausend Pfund geerbt! Sie brauchten also nur die Hälfte abzugeben …«

 

»Lächerlich!« erklärte Leslie. »Die Leute haben sich doch da nur einen Scherz erlaubt!«

 

Die beiden Detektive sahen sich an. »Halten Sie das für einen Scherz, Jiggs?«

 

»Nein, auf keinen Fall. Was werden Sie unternehmen, Terry?«

 

»Das weiß ich noch nicht. Vor allem werde ich dem Chef die Sache mitteilen. Miss Ranger bleibt am besten in Scotland Yard. Wir haben ein Reservezimmer, in dem man ein Bett aufschlagen kann. Ich werde mit der Frau sprechen, die dafür zu sorgen hat.« Er eilte hinaus.

 

»Ist es wirklich so ernst?« fragte sie, als sie mit Allerman allein war.

 

»Ach was, Miss Ranger!« versuchte Jiggs sie zu trösten. »Es ist nicht so schlimm. Aber man darf die Sache natürlich nicht leicht nehmen. Ich kenne einen Mann in London, der es nicht für einen Spaß hält.«

 

Er wartete, bis Terry zurückkehrte, entschuldigte sich dann und ließ sich von einem Polizeiauto zum Berkeley Square bringen.

 

Eddie Tanner wäre zu Hause und wollte ihn auch sofort empfangen, bestellte der untersetzte Diener, der ihn eingehend musterte.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie einen Augenblick habe warten lassen«, empfing ihn Tanner. »Nehmen Sie bitte Platz! Wollen Sie eine Importe rauchen?«

 

Jiggs nahm dankend an. »Gibt es was Neues?« fragte er.

 

»Im Augenblick nicht. Ich dachte schon daran, für eine Woche nach Berlin zu fahren. Man kann diese Rechtsanwälte nicht zur Eile antreiben.«

 

»In London passieren recht aufregende Dinge. Aber, ich habe bis jetzt noch nicht gewußt, daß diese Banden auch gegen Frauen arbeiten!«

 

»Wie meinen Sie das?«

 

»Die junge Dame, die früher hier war, Miss Ranger, hat heute morgen einen Drohbrief bekommen. Fünfhundert Pfund soll sie zahlen …«

 

»Leslie Ranger?« Eddie verlor einen Augenblick die Fassung. »Die hat einen Brief bekommen?« Er nahm langsam eine Zigarette aus seinem goldenen Etui und steckte sie an. »Aber ich nehme nicht an, daß das irgendwelche Folgen hat … Welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen?«

 

Jiggs grinste. »Das werden wir heute in den Abendblättern mitteilen. Achten Sie genau darauf!«

 

Eddie lachte. »Das war allerdings eine dumme Frage. Gehen Sie schon wieder?«

 

Jiggs nickte. »Ich bin bloß auf einen Sprung zu Ihnen gekommen.«

 

An diesem Abend ging Kerky Smith um Viertel nach sieben in der großen Eingangshalle seines Hotels nervös auf und ab. Er war in Abendkleidung und trug eine Gardenie im Knopfloch.

 

»Kerky, Sie sehen wirklich großartig aus!«

 

Smith ließ wie von ungefähr die Hand in die Rocktasche gleiten. »Hallo, Eddie!«

 

»Kommen Sie mit in den Palmengarten! Trinken Sie ein Glas mit mir!« Eddie winkte einem Kellner. »Wollen Sie in die Oper?«

 

»Nein, ins Schauspieltheater. Diese verdammten Frauen! Immer muß man auf sie warten … Cora hat heute nachmittag Einkäufe gemacht.« Kerky sah wieder auf die Uhr. »Sie braucht gewöhnlich eine Stunde, um sich schön zu machen.«

 

»Merkwürdig, daß die Freuen einen immer warten lassen!« Ed blies einen Rauchring in die Luft und beobachtete, wie sich dieser zerteilte. »Können Sie sich auf meine Sekretärin besinnen? Miss Leslie Ranger? Ein entzückendes Mädchen! Ich habe den ganzen Nachmittag auf sie gewartet, aber sie ist in Scotland Yard. Irgendein Spaßvogel hat ihr einen Brief geschickt, in dem es heißt: ›Geld oder Leben!‹ Soviel ich weiß, sind Jiggs und Terry Weston sehr aufgeregt darüber. Ich habe ihnen gesagt, sie brauchten sich weiter keine Sorgen zu machen.«

 

»Ganz recht!« entgegnete Kerky, der dauernd den Eingang beobachtete.

 

»Ich werde Ihnen auch mitteilen, warum ich die beiden beruhigen konnte.« Eddie sah auf seine Zigarette, als ob er dort etwas ablesen wollte. »Es wird Miss Ranger nicht mehr geschehen als einer anderen Frau – sagen wir einmal: Cora. Nehmen wir an, man würde morgen Miss Ranger tot auffinden, dann gehe ich die größte Wette ein, daß Sie zum Frühstück auch Coras Kopf in einem Fruchtkorb präsentiert bekämen.«

 

Kerky hörte plötzlich mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Er konnte nicht verhindern, daß seine Lippen zitterten. Er liebte Cora und war sehr stolz auf sie. Aber er wußte auch, daß der Mann, der ihm gegenübersaß und so nachlässig seine Zigarette rauchte, vollkommen gefühllos war. Coras Kopf bedeutete Eddie so viel wie der eines Hammels.

 

»Gut, dann ist das abgemacht, Eddie!« Kerky räusperte sich, denn seine Stimme hatte merkwürdig heiser geklungen.

 

Tanner erhob sich und sah auf die Uhr. »Es tut mir leid, daß Sie Ihr Theater versäumt haben. Ich glaube, Cora ist irgendwo bei dem regen Verkehr in der Stadt aufgehalten worden. Gegen acht wird sie sicher zurückkommen.«

 

Fünf Minuten nach acht erschien Cora wütend, aber auch ein wenig verstört im Hotel. Sie sprach aufgeregt auf Kerky ein, als sie oben in ihren Räumen waren. »Du wirst diesen gemeinen Kerl zur Strecke bringen! Das ist doch die Höhe der Unverschämtheit, mich in ein Zimmer einzusperren! Die Lumpen haben mir vorgelogen, du wärst krank, und ich sollte schnell zu dir kommen …«

 

»Mach endlich den Mund zu, Liebling!« erwiderte Kerky.

 

»Ich habe furchtbare Kopfschmerzen.«

 

Er grinste. »Sei froh, daß du noch einen Kopf hast, in dem du Schmerzen fühlst! Glaube mir, Cora: Der Kerl ist schlau! Ich wünschte nur, er wäre auf unserer Seite.« –

 

Punkt acht wurde Jiggs Allerman ans Telefon gerufen; er erkannte Eddies Stimme.

 

»Sie brauchen sich um Miss Ranger keine Sorge zu machen! Ich halte die Sache bestimmt für einen Scherz!«

 

»Großartig!« sagte Jiggs und brachte Terry die Nachricht.

 

»Man kann sich doch aber auf das Wort eines solchen Menschen nicht verlassen?«

 

»Das kann man schon – glauben Sie mir nur!« entgegnete Jiggs mit Nachdruck.

 

Terry war aber doch nicht ganz überzeugt und ließ Leslie nur ungern wieder in ihre Wohnung zurückkehren. Sie erfuhr nichts von den näheren Umständen und war eigentlich froh, daß sie sich wieder frei bewegen konnte. Sie merkte auch nichts von der Anwesenheit des Detektivs, der die ganze Nacht vor ihrer Wohnung Wache hielt. Ebensowenig wußte sie, daß während derselben Zeit ein Auto ihrer Haustür gegenüberstand, in dem ein Maschinengewehr angebracht war. Jack Summers, der bekannteste Scharfschütze von Chikago, war der Chauffeur. –

 

Am nächsten Nachmittag bekam Leslie Besuch: Jiggs Allerman und Terry Weston erschienen zum Tee. Beide wollten sich die Wohnung genau ansehen, vor allem die Zugänge. Außerdem hätten sie gern erfahren, was sie vor drei Tagen in der City gemacht hatte.

 

Jiggs kam auf die Sache zu sprechen. »Vor ein paar Tagen haben Sie einen guten Bekannten von uns in der Stadt getroffen – Inspektor Tetley?« fragte er.

 

»Ja. Ich kam von Rotherhithe zurück und mußte an einer Straßenecke warten. Er kam ans Auto und sprach mit mir. Ich kannte ihn zuerst nicht …«

 

»Nun, vermutlich wartete er auf Sie. Er hat mindestens zehn Minuten an der Straßenkreuzung gestanden und Ausschau gehalten. Als dann Ihr Wagen kam, ging er sofort auf ihn zu. Wie er allerdings das Taxi herausfand, ist mir ein Rätsel.«

 

Plötzlich dachte Leslie wieder an die weißen Papierfetzen, die an das Auto geklebt waren, und erzählte den beiden davon. »Ich vermutete, daß der Mann auf dem Motorrad das getan hat«, schloß sie ihren Bericht.

 

»Nun müssen Sie uns den Mann und das Motorrad noch genau beschreiben!« verlangte Jiggs lebhaft.

 

Sie erfüllte seinen Wunsch und erwähnte auch, daß sie die Stimme des Betreffenden wieder erkannt hätte, als er sich in Rotherhithe mit einem andern unterhielt.

 

»Sie glauben also, daß es derselbe war, der Sie an jenem Abend nach Decadons Ermordung entführte?« Jiggs rieb sein Kinn. »Und die beiden Kerle trugen Wasserstiefel und blaues Zeug und trieben sich in der Nähe einer Werft herum? Wer hat denn den Möbelspeicher gekauft? Aber das können Sie wohl nicht wissen … Das war alles, was sie sagten?«

 

»Ja, sie machten dann nur noch einen Scherz über ein paar Mädchen. Aber das ist sicher zu unwichtig …«

 

»Nichts ist zu unwichtig! Wie war das denn?«

 

Sie erzählte es ihnen.

 

»Jane und Christabel?« Jiggs runzelte die Stirn. »Das klingt allerdings nach einem Liebesabenteuer.«

 

Er fing einen Blick Terrys auf und änderte das Gesprächsthema. Als sie wieder auf der Straße waren, kam er darauf zurück. »Warum haben Sie mir eigentlich vorhin zugezwinkert?«

 

»Ach, es ist nur eine vage Vermutung«, sagte Terry schnell. »Hierzulande haben alle Schlepper Doppelnamen – gewöhnlich sind es Mädchennamen; und ich möchte behaupten, daß irgendwo auf der Themse eine ›Jane und Christabel‹ fährt, auf der die beiden Kerle beschäftigt sind.«

 

Als sie nach Scotland Yard zurückgekehrt waren, setzte sich Terry mit dem Direktor der Strompolizei in Verbindung, der ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Schiffe und Schiffsnamen hatte und alle Fahrzeuge kannte, die auf den Fluten der Themse schaukelten.

 

»Jane und Christabel? Ja, die kenne ich!« erwiderte der Beamte. »Ein großer Schlepper mit zwei Maschinen … Früher gehörte er der Calcraft-Concrete-Company, und als die Gesellschaft in Konkurs ging, wurde er verkauft. Ich werde sofort in den Listen nachschlagen.«

 

Zehn Minuten später meldete er, daß der Dampfer an einen Mister Grayshott aus Queensborough veräußert worden war und daß er gewöhnlich im Pool ankerte. Vor vierzehn Tagen hatte er eine Holzladung nach Teddington gebracht; seit der Zeit wurde ein Maschinendefekt repariert, und der Kapitän hatte infolgedessen alle Angebote zurückgewiesen.

 

»Wo liegt er jetzt?« fragte Terry.

 

»Wahrscheinlich im Pool; vielleicht aber auch bei Greenwich.«

 

Es dauerte noch drei Viertelstunden, bis die genaue Lage des Schiffes festgestellt wurde. Die ›Jane und Christabel‹ war mit eigener Kraft auf dem Strom weitergedampft und hatte bei der Isle of Dogs festgemacht. »Sie ist außerdem schon wieder verkauft und wird nach Amerika gehen«, berichtete der Direktor der Strompolizei. »Es ist auch bereits ein Teil der amerikanischen Besatzung an Bord, doch gibt es noch verschiedene Schwierigkeiten wegen der Schiffspapiere.«

 

 

Am Abend ließ sich Terry Weston in seinem Dienstwagen nach Greenwich bringen. Ein Polizeimotorboot wartete am Ufer schon auf ihn. Gleich darauf fuhr es in weitem Bogen auf den Fluß hinaus und dann stromauf.

 

»Dort ist er!« sagte plötzlich der Sergeant, der das Motorboot steuerte.

 

Terry richtete sein Nachtglas auf den großen, stattlichen Schleppdampfer mit den zwei Schornsteinen, der nahe am Ufer lag. Mit Ausnahme der Lichter, die die Vertäuung anzeigten, war alles dunkel.

 

»Wollen Sie an Bord?«

 

»Nein – ich möchte die Leute in keiner Weise beunruhigen, sie dürfen nicht wissen, daß sie beobachtet werden. Aber Sie, Sergeant, müssen das Schiff Tag und Nacht bewachen! Ich habe mit dem Direktor verabredet, daß er Ablösungsmannschaft in einem Privat-Motorboot herschickt. Wir wollen in diesem Fall alles vermeiden, was nach Polizei aussieht. Wenn etwas mit dem Schiff passiert, muß es sofort dem Präsidium gemeldet werden!«

 

Als Weston in seine Wohnung zurückkehrte, fand er dort Jiggs, der eine Abendzeitung las. Darin stand ein Artikel, der sich mit der augenblicklichen Lage befaßte und in dem die angekündigten Gesetzesvorschriften veröffentlicht wurden.

 

»Die Gangster werden wohl doch aufmerksam werden, wenn sie das lesen«, meinte Jiggs. »Todesstrafe für Bombenattentate; lebenslängliches Zuchthaus für Leute, die im Besitz von Bomben sind; fünfundzwanzig mit der neunschwänzigen Katze für Tragen geladener Feuerwaffen; sieben Jahre Zuchthaus und fünfundzwanzig Hiebe für Verschwörung zum Zweck der Erpressung … Außerdem sind fünfzigtausend Pfund Belohnung ausgesetzt für Mitteilungen, die zur Verurteilung der an den letzten Morden schuldigen Personen führen …« Er faltete die Zeitung. »Na, erst mal muß man die Schufte fangen, bevor man sie bestrafen kann! Das ist eine alte Wahrheit … Die Kerle kriegen meiner Meinung nach jeden Tag vierzigtausend Pfund herein. Überlegen Sie sich das mal, mein Junge! Die Schießerei hat sich gelohnt!«

 

Kapitel 21

 

21

 

Jiggs beschrieb Cora Smith sehr richtig als außergewöhnlich hübsch, aber etwas dumm. Wenn sie nicht so beschränkt gewesen wäre, hätte sie längst bemerkt, daß die Geduld ihres Mannes zu Ende ging. Nachdem sie ihm zum hundertstenmal vorgestöhnt hatte: »Kannst du denn nichts tun?« faltete er die Zeitung sorgfältig und warf sie in den Papierkorb.

 

»Hör zu, Cora! Es kommt nicht oft vor, daß ich über mein Geschäft mit jemand spreche. Das weißt du sehr gut. Sicher war es unangenehm für dich, daß sie dich in ein Zimmer sperrten und dir einschärften, du solltest warten. Soll ich dir sagen, warum das geschah? Jemand muß einen Drohbrief an Leslie Ranger geschickt haben. Du kennst sie, weil du mit ihr gesprochen hast. Sie sollte doch meine Sekretärin werden. Du weißt, was das bedeutet, und brauchst also keine weiteren Fragen zu stellen.«

 

»Was hat das denn mit mir zu tun?«

 

»Nun gut, ich will es dir sagen. Die Leute glaubten, daß ich Einfluß auf die Banden hätte, die hier in London an der Arbeit sind. Deshalb haben sie dich eingesperrt, bis jemand den Brief an Leslie Ranger zurückzog und erklärte, daß es ein Scherz sei. Wenn dieser Jemand den Brief nicht zurückgezogen hätte – willst du wissen, was dann geschehen wäre, Cora? Dann hätten sie dir den Kopf abgeschnitten!«

 

»Mir?« Sie sah ihn entsetzt an.

 

Er nickte ernst. »Ja. Sie wollten ihn mir zum Frühstück schicken.«

 

Sie lachte verächtlich.

 

»Hör auf zu lachen, mein Kind! Glaube mir – die hätten es wirklich getan!«

 

Sie kochte vor Wut. »Und das alles wegen dieser verdammten Stenotypistin? Was weißt du sonst noch von der Sache, Kerky? Du sitzt hier herum und tust, als ob das gar nichts wäre …«

 

»Es wird etwas geschehen – früher, als du glaubst. Das laß ich dem Jungen nicht durchgehen – darauf kannst du dich verlassen!«

 

»Und von dem Mädel darfst du dir das auch nicht gefallen lassen!« rief sie wild.

 

Kerky lächelte. – »Warte nur!« sagte er bedeutungsvoll.

 

Aber am nächsten Morgen trat ein Ereignis ein, das den Gedanken an Leslie Ranger bei ihm ausschaltete. –

 

 

Cuthbert Drood war ein Forschungsreisender von internationalem Ruf. Er galt als ein tüchtiger Jäger und hatte schon manche Expedition nach Afrika und Indien unternommen – ein Mann jedenfalls, dessen Mut über jeden Zweifel erhaben war. Außerdem gehörte er zu den wenigen Colonels, die ihren Titel nicht führten. Er war groß und schlank und hatte blonde Haare, eine verhältnismäßig helle Gesichtsfarbe, verstand ausgezeichnet zu boxen, war einer der besten Pistolenschützen und Junggeselle.

 

Cuthbert Drood wandte sich nicht sofort an die Polizei, als er eines Morgens gleich zwei Drohbriefe erhielt, einen blauen und einen grünen. Etwas Besseres konnte ihm nicht passieren: Die Sache machte ihm ungeheuren Spaß, und er rief sofort eine Nachrichtenagentur an. »In der letzten Zeit scheinen sich die Leute, die Drohbriefe erhalten, nicht mehr vorzuwagen«, sagte er. »Lieber zahlen sie. Die Polizei hat auch eine Heidenangst und sucht die Geschichte zu vertuschen. Deshalb möchte ich Ihnen, bevor ich mich an Scotland Yard wende, davon Mitteilung machen, daß ich sogar zwei Drohbriefe zu gleicher Zeit bekommen habe.«

 

Ein paar Minuten später hatte er sich mit Terry Weston verbinden lassen und erklärte dein Chefinspektor, was sich zugetragen hatte. Er verschwieg auch nicht, daß er die Presse verständigt habe. »Meiner Meinung nach kann die Öffentlichkeit gar nicht genug davon erfahren!« erklärte er.

 

Terry machte Drood später einen Besuch und wurde in die Bibliothek geführt, wo der Colonel mit einem halben Dutzend sonnengebräunter Männer von verschiedenem Alter saß. Vor jedem stand ein Glas Whisky. Terry wurde vorgestellt und erfuhr, daß die Herren Jagdgefährten des mutigen Cuthbert waren.

 

»Wir wollen diese Kerle schon in die Flucht schlagen, wenn sie ihr Geld holen kommen!« meinte Drood. »Meine Freunde werden hier schlafen. Dem Personal habe ich so lange Urlaub gegeben. Wir freuen uns schon auf eine tüchtige Schießerei!«

 

Als Terry ihn verließ, hatte er eine interessante Tatsache festgestellt. Der blaue Brief war einen Tag früher abgeschickt als der grüne. Weil er aber an eine andere Wohnung Droods adressiert war, die dieser zur Zeit vermietet hatte, wurde er gleichzeitig mit dem grünen Brief ausgetragen.

 

Terry holte Jiggs ab und erzählte ihm alles.

 

»Ich habe«, sagte Allerman, »schon in den Abendblättern davon gelesen. Es wird jetzt Komplikationen geben. Eines ist gewiß: Die Blauen und die Grünen haben ein Abkommen getroffen – vermutlich kurze Zeit nach der Ermordung Decadons. Sie haben das wohlhabende London unter sich aufgeteilt und ausgemacht, daß die eine Bande der anderen nicht in die Quere kommen darf. Die doppelte Adresse erklärt, warum Drood zwei Aufforderungen erhielt. Die Blauen haben ihren Brief in die Ebury Street geschickt, weil sie glaubten, daß er dort wohne; und die Grünen sandten ihre Drohung in die Park Street. Die Frage dreht sich jetzt nicht darum, ob Herr Drood und seine Freunde mit den Gangstern fertig werden, sondern darum, wie sich die Grünen zu den Blauen stellen und umgekehrt. Ich würde viel Geld dafür geben, wenn ich jetzt die Telefongespräche belauschen könnte, die zwischen den beiden Lagern geführt werden!«

 

Der Captain hatte nur zu recht: Kerky Smith sprach eben von seinem Hotel aus mit Eddie Tanner, der sich in Leslies früherem Büro befand. Drei sehr gut aussehende junge Leute saßen ihm gegenüber und hielten die Hüte auf dem Schoß.

 

»Ganz gewiß«, sagte Eddie gerade, »ich habe es in der Zeitung gelesen … Jemand hat Briefe von beiden Parteien bekommen.«

 

»Ja«, entgegnete Kerky freundlich. »Die Blauen haben fünftausend Pfund verlangt; der kleine Gangster, der die Grünen befehligt, wäre mit zweitausend zufrieden gewesen. Ich glaube, daß der Größere hier den Vorrang hat.«

 

Eddie lächelte. »Nein, das haben Sie falsch verstanden! Der größere Mann ist nicht derjenige, der das Maul am weitesten aufreißt!«

 

Kerky dachte eine Weile nach, bevor er antwortete: »Nun, auf jeden Fall wird keiner etwas bekommen. Dieser Drood ist ein alter Kriegsveteran, und Revolver sind für ihn nichts Außergewöhnliches.«

 

»Das stimmt!« pflichtete Eddie bei. »Vielleicht könnten sich die Blauen und die Grünen die Sache überlegen und einen geheimen Beschluß fassen?«

 

»Möglich«, meinte Kerky. »Aber ich glaube das kaum. Sie können doch nicht von weitblickenden Geschäftsleuten erwarten, daß sie sich mit kleinen Pinschern abgeben?«

 

»Betrachten Sie die Sache von dem Standpunkt, Kerky?«

 

»Ja, durchaus!« Smith legte den Hörer auf.

 

Er blieb weiterhin in schlechter Stimmung. Die Frage nach den Grenzen zwischen den Gebieten der zwei Banden war noch nicht zur Zufriedenheit gelöst. Und nun mußte vor allem Cuthbert Droods Herausforderung beantwortet werden. Alle Leute wußten, daß er gegen beide Banden kämpfen wollte, und er durfte auf keinen Fall straflos ausgehen. Es war sogar notwendig, ihn möglichst auffällig und eindringlich zu bestrafen. Beide Banden hatten sich vorbereitet, aber keine wußte etwas von den Methoden der anderen.

 

Kerky war ärgerlich. Eddie wurde, seiner Meinung nach, immer unverschämter; er hatte sich bereits unverzeihliche Übergriffe zuschulden kommen lassen. Dazu kam nun obendrein noch diese neue Geschichte mit Drood. Für zwei Banden war nicht genügend Raum in London. Entweder mußte man zu einer Verständigung kommen, oder eine Partei mußte aus, dem Geschäft ausscheiden. Und Kerky wußte, welche Partei das sein würde.

 

Schließlich besuchte er einen kleinen Friseurladen in Soho. In einem Privatsalon wurden dort bevorzugte Kunden bedient, und ein Friseur machte sich daran, Kerky die Haare zu schneiden. Dabei hatten sie aber eine sehr eingehende Unterredung.

 

Wenn Kerky die Tätigkeit in einer neuen Stadt aufnahm, so erschien zunächst jemand und kaufte einen Friseurladen. Ein Innenraum wurde dann durch eine Safetür abgeschlossen, und man stellte zwei Gehilfen an. Dieser Friseurladen diente als Zentrale für seinen Nachrichtendienst. Im oberen Stockwerk richtete er stets ein Wettbüro für Rennen ein. Es gab darin ein Dutzend Telefonapparate, die von zwei bis drei Angestellten bedient wurden.

 

Kerky hatte die Unterredung beendet, fuhr mit der Bürste noch einmal übers Haar und verließ den Laden. Sein Wagen, der in einer kleinen Seitenstraße gewartet hatte; fuhr geräuschlos vor. Kerky stieg ein, und das Auto fuhr an. Im selben Augenblick glitt ein anderes Auto vorüber.

 

Kerky witterte Gefahr und duckte sich, bevor drüben das Maschinengewehr ratterte. Er hörte, wie die Glasscheiben zerklirrten. Sein Chauffeur brach am Steuerrad zusammen.

 

Die Leute auf der Straße schrien; Signalpfeifen schrillten. Ein Polizist rannte herbei und half Kerky aus dem Wagen.

 

Er war ziemlich verstört, aber unverletzt. »Meinen Chauffeur haben sie erschossen!« knurrte er.

 

Man legte den Toten aufs Pflaster. Jemand telefonierte nach einem Krankenwagen.

 

Kerky gab die Sache zu denken: Er bekam nun doch Respekt vor einem Feind, den er unterschätzt hatte …

 

»Ein bißchen Feuerwerk mit grünen und blauen Raketen, und Kerky Smith ist nicht mehr so sicher, wie er war«, faßte Jiggs das Ergebnis zusammen. »Er wird etwas Bedeutendes unternehmen müssen, um seine Selbstachtung zurückzugewinnen.«

 

»Glaub‘ ich auch«, entgegnete Terry. »Ich bin nicht mehr so zuversichtlich wie heute nachmittag.«

 

»Denken Sie dabei an Drood?«

 

»Nun … Wer seine Nase da hineinsteckt, wird einen unangenehmen Empfang haben!«

 

Kapitel 22

 

22

 

Leslie Ranger hatte in der Zeitung auch von Droods Herausforderung gelesen. Sie interessierte sich besonders für diesen Fall, weil der Colonel ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnte und sie von ihrer hochgelegenen Wohnung aus sein Hausdach übersehen konnte.

 

Die Dunkelheit brach herein. Die Regenwolken verzogen sich, die Luft war merkwürdig klar, und man hatte eine gute, weite Sicht. Leslie saß am Fenster, als sie plötzlich drüben auf einem Dach eine Gestalt bemerkte, die vorsichtig hinter einem Schornstein hervorkam und dann wieder verschwand. Von dort aus konnte man auf das flache Dach des Droodschen Hauses gelangen. Vielleicht ein Polizist? Sie nahm an, daß die Polizei alle nur möglichen Vorsichtsmaßregeln ergriffen und überall in der Gegend Posten aufgestellt hatte. Der Mann erschien aber nicht mehr, obwohl sie noch eine Weile Ausschau hielt.

 

Sie folgte dann einer plötzlichen Eingebung und rief Terry Weston an. »Meine Frage klingt vielleicht etwas komisch – aber haben Sie irgendwelche Posten bei Mr. Droods Haus aufgestellt?«

 

»Ja, wir haben ein paar Beamte hingeschickt«, entgegnete er überrascht. »Warum fragen Sie?«

 

»Ich kann das Haus von meinem Fenster aus beobachten, auch das Dach, und es kam mir so vor, als ob ich einen Mann auf dem Hausdach gesehen hätte. Ob das ein Polizist war?«

 

Sie hörte, wie Weston mit jemand sprach, der gleich darauf fluchte. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mit Captain Allerman zu Ihnen komme?«

 

Ein halbe Stunde später stellten die beiden sich ein. »Es« muß wohl Tetley gewesen sein«, erklärte Terry. »Er ist schon den ganzen Abend hier in der Gegend, und wahrscheinlich haben Sie ihn da oben gesehen.«

 

»Hat er auch die Lichter auf dem Dach angebracht?«

 

»Was sagen Sie da?« fragte Jiggs schnell. »Lichter …?«

 

Leslie führte ihn zum Fenster. Auf dem gegenüberliegenden flachen Dach brannten drei rote Lichter.

 

»Merkwürdig!« meinte Jiggs nachdenklich. »Zum Teufel – was soll das nun wieder bedeuten?«

 

»Wahrscheinlich hat Tetley einige seiner Leute da oben und will ihnen dadurch ihre Aufgabe erleichtern. Er sagte mir, er habe in den umliegenden Gebäuden ein halbes Dutzend Scharfschützen verteilt, die Droods Behausung bewachen sollen.«

 

»Gewiß«, erwiderte Jiggs langsam, das ist eine sehr annehmbare Idee.« Plötzlich schlug er sich mit der Hand aufs Knie. »Wer sollte es wagen, in dieses Haus einzudringen und die Leute niederzuknallen? Es wimmelt da von todsicheren Schützen, und ehe sie Drood erledigen, verlieren sie bestimmt ein halbes Dutzend Leute. Kommen Sie, Terry!« Ohne sich zu verabschieden, stürmte er aus der Wohnung.

 

Terry eilte hinter ihm her. Wenige Sekunden später klopfte Jiggs an Droods Portal.

 

Zu seinem Erstaunen öffnete sich eine Füllung in der Tür, und ein Gesicht erschien dahinter. »Was wollen Sie?« Am Nachmittag hatte der unternehmungslustige Colonel das Schiebefenster anbringen lassen. »Sie können nicht herein! Herr Drood will keine Polizei im Haus! Er hat seine Freunde hier und kann sich schon selber verteidigen!«

 

»Aber es ist sehr wichtig! Ich muß aufs Dach …!«

 

»Sie können weder aufs Dach noch in den Keller! Es ist alles abgesperrt!« Krachend schloß sich die Türfüllung.

 

»Das ist allerdings verteufelt unangenehm«, meinte Terry und klopfte aufs neue.

 

Wieder öffnete sich der Schieber, und diesmal zeigte sich der Lauf eines Armeerevolvers. »Ich weiß, wer Sie sind, Mr. Weston; aber ich habe strikten Befehl, Sie abzuweisen. Sie können nicht vor morgen früh hier herein! Colonel Drood hat seine eignen Pläne und braucht keine Polizei!«

 

»Da wären wir also abgefertigt«, sagte Terry, als sie die Stufen wieder hinunterstiegen. Er war teils ärgerlich, teils belustigt und fragte einen Detektiv an der Ecke, wo Inspektor Tetly zu finden sei. Von einer Telefonzelle aus rief er ihn dann an.

 

»Geht alles in Ordnung, Weston! Ich habe Herrn Drood erlaubt, sich auf seine Weise zu verteidigen.«

 

»Sind Sie heute nachmittag oder abend auf dem Dach gewesen?«

 

Eine Pause entstand. »Nein … Wie kommen Sie darauf?«

 

»Haben Sie angeordnet, daß auf dem Dach Lampen angebracht werden?«

 

Wieder folgte ein ungewöhnlich langes Schweigen.

 

»Nein … Vielleicht ist der Colonel auf den Einfall gekommen? Er scheint sehr erfinderisch zu sein.«

 

Terry legte auf.

 

»Haben Sie was dagegen, wenn ich das Präsidium anläute und mir ein Gewehr kommen lasse?« fragte Jiggs. »An welche Abteilung muß ich mich dazu wenden?«

 

Terry gab ihm erstaunt Antwort und stand neben dem Apparat, während Jiggs mit dem Beamten sprach.

 

»Schicken Sie mir ein tadellos, genau schießendes Gewehr! Ich habe verschiedene gesehen, als mich Mr. Brown in die Waffenkammer führte … Ja: mit Zielfernrohr und Schalldämpfer. Senden Sie es sofort nach Cavendish Square 174! Großes Haus mit vielen Wohnungen … Es soll bei Miss Ranger abgegeben werden! Inspektor Terry wird dort sein … Also gut: Chefinspektor Terry – wenn Sie so pinselig mit den Titeln sind!«

 

»Was haben Sie denn vor?« fragte Terry, als sie über den Platz wieder zu Leslies Haus gingen.

 

»Ach, ich habe da nur eine Idee …«

 

Leslie war überrascht, als die beiden zurückkamen, fühlte sich aber erleichtert.

 

»Also – was wollen Sie nun machen?« fragte Terry.

 

»Ich hätte Scotland Yard noch um ein Fernglas bitten sollen«, erwiderte Jiggs unwirsch. »Mein Verstandesapparat funktioniert anscheinend nicht mehr richtig.«

 

»Ich habe ein Fernglas«, sagte Leslie. Sie ging in ihr Schlafzimmer und kehrte mit einem alten Feldstecher zurück, den sie von ihrem Vater geerbt hatte.

 

Jiggs stellte ihn auf das gegenüberliegende Dach ein. »Großartig! Nun sehe ich auch, daß ein Geländer um das Dach gezogen ist. Das konnte ich vorher nicht richtig erkennen. Schaun Sie mal, Terry, wie grell die Lichter in der Dunkelheit herauskommen! Sie wirken doppelt so hell, wenn man sie von oben sieht … Das eine an der Ecke wirft einen Schein auf das nächste Haus.« Er sah seufzend auf die Uhr. »Wie lange wird es wohl dauern, bis die Leute von Scotland Yard hier sein können?«

 

»Zwanzig Minuten … Was haben Sie denn bloß für ein Geheimnis, Mensch? Reden Sie doch endlich! Was wollen Sie mit dem Gewehr?«

 

»Ich bin ein vorzüglicher Schütze – ein verdammt tüchtiger Kerl, wenn ich so sagen darf … Ich werde die Lichter dort drüben ausblasen!«

 

»Aber Jiggs, das können Sie doch nicht mitten in London machen?«

 

»Wenn der Schalldämpfer was taugt, wird London davon nicht aufwachen!«

 

Der Bote kam, und Jiggs befestigte sachkundig den Schalldämpfer auf der Schußwaffe.

 

»Ich nehme meinen Hut ab vor der Polizei. Ich habe nicht um Patronen gebeten, aber sie haben mir freiwillig ein Paket mitgeschickt. Die Beamten von Scotland Yard haben wirklich Verstand …«

 

Er lud das Magazin und zielte. Man konnte den Schuß kaum hören, aber eins der roten Lichter ging aus.

 

Terry sah zum Fenster hinaus: Die Leute auf der Straße gingen ruhig weiter; niemand schien etwas bemerkt zu haben.

 

Jiggs zielte aufs neue, man hörte das Pfeifen des Geschosses. Prompt erlosch die zweite Lampe. »Das dritte ist am leichtesten!« Wieder hob er das Gewehr, und gleich darauf verschwand drüben die letzte Flamme. Jiggs nahm den Schalldämpfer vom Gewehr und grinste zufrieden. »Es ist gut, Miss Ranger! Sie können die Beleuchtung wieder einschalten!«

 

»Aber bereits im nächsten Augenblick verbesserte er sich: »Oder – halt: Lassen Sie es bitte noch! Terry, hören Sie nichts?«

 

Terry lehnte sich zum Fenster hinaus und lauschte.

 

»Ein Flugzeug …«

 

Jiggs atmete erregt. »Da haben wir die Lichter ja gerade noch rechtzeitig gelöscht!« Er lud aufs neue.

 

Jetzt konnte man das Geräusch der Maschine schon deutlicher hören; sie kam auf den Cavendish Square zu: ein kleines, schwarzes Flugzeug, das so niedrig flog, daß es fast die Dächer zu streifen schien. Es senkte sich noch tiefer, hielt auf die nördliche Seite des Platzes zu, flog darüber hinweg, drehte und kam zurück.

 

»Der kann seine drei roten Lichter nicht finden!« lachte Jiggs.

 

Er riß das Gewehr an die Backe. Diesmal war kein Schalldämpfer auf der Mündung. Der Schuß fiel schnell und unvermutet, und Leslie taumelte, halb betäubt, zurück. Im nächsten Augenblick hatte Jiggs durchgeladen und feuerte aufs neue.

 

Das Flugzeug war gerade über dem Cavendish Square, als es absackte. Der Schwanz senkte sich und krachte mitten in die Gartenanlagen des Platzes.

 

»Den haben wir erwischt!« rief Jiggs triumphierend.

 

Ein großer Baum milderte den Aufprall beim Sturz der Maschine. Polizeipfeifen schrillten von allen Seiten.

 

»Um Himmels willen, was haben Sie da gemacht?« fragte Terry erschrocken.

 

»Ich habe den Kerl heruntergeschossen, der, eine Bombe auf Colonel Droods Haus geworfen hätte, wenn er die Lichter hätte finden können. Die waren nur angebracht, um ein sicheres Ziel zu geben. Diese Burschen haben eben ihre besonderen Methoden; sie sind nicht nur auf ihre Revolver angewiesen!«

 

Die Polizeibeamten, die über das Geländer des Platzes geklettert waren, fanden mitten unter den Trümmern einen Verwundeten, der kläglich stöhnte. Als sie weitersuchten, entdeckten sie auch eine zentnerschwere Bombe, die mit hochexplosivem Alanit geladen war.

 

Der Verletzte wurde zum nächsten Hospital transportiert. Jiggs und Terry begleiteten ihn. Er nannte seinen Namen nicht. Ein Geschoß hatte ihm den Arm durchschlagen; außerdem hatte er ein Bein gebrochen.

 

»Es ist gleichgültig, ob Sie sagen, wer Sie sind, oder nicht«, erklärte Jiggs. »Ich kenne Sie sehr gut. Sie sind Stunts Amuta, mein Junge! Haben früher Kunstflüge gemacht und unterhielten später eine Luftverbindung von Kanada nach den Staaten. Sie flogen für Hymie Weiss. Der ist inzwischen abgekratzt; aber niemand weint ihm eine Träne nach. Sie stammen aus Indiana.«

 

Der Mann warf ihm einen bösen Blick zu, erwiderte aber nichts.

 

»Stunts, Sie stecken tief in der Patsche. Wenn Sie nur einen Funken Vernunft haben, dann gestehen Sie!«

 

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen!« stöhnte der Mann.

 

»Wollen abwarten. Vielleicht hab‘ ich die Kugel in Knoblauchsaft gekocht …«

 

Stunts‘ Züge verzerrten sich vor Entsetzen.

 

Der Arzt kam und erklärte, daß man den Verwundeten jetzt allein lassen müsse.

 

»Was haben Sie da vorhin von Knoblauchsaft geredet?« fragte Terry, als sie aus dem Hospital traten.

 

»Ich wollte ihn damit ein bißchen aufmuntern. Die Kerle haben nämlich den Aberglauben, daß man mit Knoblauch Geschosse vergiften könne.«

 

Der Inhalt des Flugzeuges war zum Scotland Yard gebracht worden, und die Bombe wurde bereits von Sachverständigen untersucht. Was Stunts in den Taschen gehabt hatte, lag auf einem Tisch in Wemburys Büro. Darunter befanden sich ein Paß, von einem südamerikanischen Staat auf den Namen Thomas Filipo ausgestellt, und eine Fahrkarte von Paris nach Cadiz. Ferner hatte man einen Lederkoffer gefunden, der im Innern des Flugzeugs festgeschnallt war. Er enthielt einen Anzug, Wäsche und dergleichen, außerdem eine Brieftasche mit sechstausend Francs, dreitausend Pesetas und Reiseschecks im Wert von zweitausend Pfund. Den Heimatflugplatz der Maschine konnte man nicht feststellen; die Nummer war übermalt. Man gab sie dem Luftamt an, aber auch dort konnte man nichts weiter herausfinden. Der angebliche Besitzer hieß Jones.

 

»Wir können keine Anklage wegen Mordversuchs erheben«, sagte Terry, nachdem er sich mit Wembury beraten hatte. »Denn es läßt sich nicht beweisen, daß er die Absicht hatte, das Haus zu bombardieren. Höchstens könnten wir ihn zur Rechenschaft ziehen, weil er eine Bombe bei sich führte. Wir fanden auch zwei Revolver; das wäre eine weitere Gesetzesübertretung. Aber Wembury glaubt, daß es kaum Wert hat, ihn vor Gericht zu stellen.«

 

»Das Interessante an der Sache ist, daß die Blauen den Bombenangriff planten«, meinte Jiggs. »Heute abend werden sie keinen weiteren Versuch mehr machen, gegen Drood vorzugehen. Kerky wird schon gehört haben, daß wir das Flugzeug herunterholten, und er wird sich ruhig verhalten. Stunts ist der erste seiner Leute, der in unsre Hände fiel. Übrigens würden Sie gut daran tun, ein halbes Dutzend Polizeibeamte zum Spital zu schicken, die Stunts bewachen.«

 

»Ich habe mit Wembury darüber gesprochen; aber wenn er keine Anklage gegen den Mann erheben kann, darf er ihn auch nicht bewachen lassen.«

 

»Kerky wird abwarten, was Sie unternehmen. Wenn er vermutet, daß Stunts vor Gericht gestellt wird, holt er ihn aus dem Krankenhaus, bevor Sie nur mit den Augen zwinkern können.«

 

Kapitel 23

 

23

 

Den ganzen Abend hatte die Polizei erfolglos nach dem Wagen gesucht, von dem aus Kerky Smith beschossen worden war. Die schöne Limousine von Kerky war von Kugeln durchlöchert, der Chauffeur war tot.

 

Inzwischen hatte das Innenministerium einen Ausschuß zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit gebildet. Man überlegte dort, ob man Mr. Smith ausweisen und an Bord des ersten Schiffes bringen sollte, das nach den Staaten fuhr.

 

Auch Jiggs wurde um seinen Rat gefragt. Aber er sprach sich entschieden gegen einen derartigen Schritt aus. »Kerky ist darauf vorbereitet, England zu verlassen, und wenn Sie ihn ausweisen, geht er nach Paris. Daran können Sie ihn nicht hindern. Nein, lassen Sie ihn nur in London! Er wird schon zu gegebener Zeit verschwinden. Und glauben Sie mir: In der nächsten Woche haben wir Ruhe! Die Blauen und die Grünen müssen zunächst ihre eignen Streitigkeiten austragen. Und wenn sie sich nicht einigen können, kratzen sie sich gegenseitig die Augen aus.«

 

Jiggs hatte seine Erfahrungen mit den Methoden der Gangster, und die folgenden Ereignisse gaben ihm recht.

 

Am Morgen nach dem Angriff auf Kerkys Auto fand ein Polizist in der Seven-Sisters-Road, einer belebten Verkehrsstraße, im Vorgarten eines besseren Hauses einen Mann, der drei Schußwunden hatte und schon seit einiger Zeit tot war. Der Polizeiarzt wurde gerufen und erklärte, daß der Mann an einer anderen Stelle ermordet und später in den Garten geschleppt worden war.

 

Beinahe gleichzeitig hörten drei Arbeiter, die an einem der Abzugskanäle im Norden der Stadt beschäftigt waren, zwei schwere Plumpse im Wasser. Sie gingen dem Schall nach und fanden im Kanal zwei Tote. Als sie in die Höhe sahen, bemerkten sie gerade noch, wie oben der Deckel auf den Einstiegschacht geschoben wurde. Die beiden waren mit Gummiknüppeln niedergeschlagen und dann durch den Kopf geschossen worden. Man fand keine Papiere in ihren Taschen, aber als man die Kleider durchsuchte, entdeckte man bei dem einen die Firmenmarke eines Schneiders in Cincinnati.

 

Terry besah sich die Toten am nächsten Morgen im Schauhaus. Eines der beiden grauen Gesichter kam ihm merkwürdig bekannt vor. Wenige Stunden vorher hatte man die Leute fotografiert, und mit den Abzügen ging er zu Leslie.

 

Als er eintrat, hatte sie gerade ihr Frühstück beendet. »Vielleicht können Sie mir helfen – das heißt: falls es Ihnen möglich ist, die Fotografie eines Mannes zu betrachten, der gestern erschossen wurde?«

 

Sie verzog das Gesicht, nahm aber den Abzug.

 

Terry sah sofort, daß sie den Toten wiedererkannte.

 

»Wer ist es?«

 

»Einer der neuen Dienstboten, die ich in Mr. Tanners Haus sah. Vor zwei Tagen war ich dort, um einige Bücher zurückzubringen, die Mr. Decadon mir geliehen hatte.«

 

»Etwas Ähnliches habe ich erwartet.«

 

Sie schauderte. »Das sind ja fürchterliche Zustände! Gestern abend wurde mit einem Maschinengewehr auf Albuquerque Smith geschossen …«

 

»Deshalb würde ich mir keine grauen Haare wachsen lassen«, sagte Terry.

 

Er brachte die Fotos zum Berkeley Square.

 

Eddie Tanner identifizierte die beiden Leute, ohne zu zögern: »Sie waren bei mir angestellt und gingen gestern abend frühzeitig fort. Als ich heute erfuhr, daß sie die Nacht ausgeblieben waren, wollte ich sie entlassen. Wo hat man sie gefunden?«

 

Terry erzählte es ihm.

 

»Tut mir leid«, bedauerte Eddie. »Es waren willige Leute, arbeitsam und zuvorkommend. Aber keine Engländer. Wahrscheinlich hatten sie einen Streit mit Landsleuten? Ich möchte nur wissen, wann es der Polizei gelingt, diesen Bandenkrieg in London zu stoppen.«

 

»Wir wollen lieber fragen, wann Sie damit aufhören«, sagte Terry geradezu.

 

Eddie lächelte. »Ich fürchte, Jiggs Allerman hat Ihnen eine falsche Meinung von mir beigebracht.«

 

Terry verabschiedete sich.

 

»Ich möchte Sie nicht zum Portal begleiten«, erklärte Tanner. »Auf der anderen Seite irgendwo – wo, weiß ich selber nicht – lauert jemand mit einem Maschinengewehr, das genau auf meine Haustür eingestellt ist … Aber ich werde die Tür vorher weit öffnen lassen, damit der Bursche genau sieht, wer Sie sind, und Ihnen nicht ein paar Bleibrocken entgegenschickt.«

 

Terry begab sich sofort zur benachbarten Polizeistation und sprach dort mit dem Bezirksinspektor.

 

»Irgendwo am Berkeley Square hat sich ein Kerl mit einem Maschinengewehr eingenistet. Nehmen Sie alle Leute, die Ihnen zur Verfügung stehen, und suchen Sie jedes leere Haus, alle Dächer und die Gartenanlagen ab! Ich glaube zwar nicht, daß Sie ihn fangen; aber wir dürfen nichts außer acht lassen. Berichten Sie mir telefonisch nach Scotland Yard!« –

 

An diesem Tag jagten sich die Ereignisse in wildem Tempo. In der Park Lane brach plötzlich ein Mann blutend zusammen. Er war erschossen worden, obwohl kein Mensch eine Detonation gehört hatte und der Täter nicht zu entdecken war.

 

In einem italienischen Restaurant trafen sich vier Leute und ließen sich ihre Getränke in ein Privatzimmer bringen; sie gaben an, daß sie eine halbe Stunde geschäftlich miteinander zu sprechen hätten. Als der Inhaber später nach oben ging, weil er den Raum anderweitig vergeben wollte, antwortete ihm niemand auf sein Klopfen; und bei seinem Eintritt fand er zu seinem Entsetzen zwei der Leute ermordet vor. Die beiden anderen waren verschwunden.

 

Terry hörte von den Verbrechen, als er von einer fruchtlosen Reise zurückkam. Er hatte den Eigentümer eines verdächtigen Flugzeugs einem Verhör unterworfen.

 

»Die Sache verläuft durchaus normal«, erklärte Jiggs. »Genau nach den alten Spielregeln: Ein Mörder wird seinerseits von einem anderen ermordet.« –

 

Noch vor Mitternacht erlebte London eine neue Aufregung. Zwei Autos rasten in schnellster Fahrt Piccadilly entlang, fuhren auf der falschen Seite und sausten durch den regen Verkehr in die Coventry Street. Direkt dem Eckhaus gegenüber eröffnete ein Mann, der neben dem Chauffeur des zweiten Wagens saß, das Maschinengewehrfeuer auf den ersten, von dem es sofort erwidert wurde. Beide Fahrzeuge bogen, ständig feuernd, in den Leicester Square ein. Aus dem Empire-Theater kamen gerade die letzten Besucher. Sie ergriffen die Flucht, und es entstand eine wüste Panik. Die Wagen jagten zum Trafalgar Square, dann die Northumberland Avenue hinunter zum Themseufer. Plötzlich geriet das erste Auto ins Schleudern, prallte krachend gegen einen Laternenpfahl und ging in Flammen auf. Das zweite raste weiter; aber Zeugen wollen gesehen haben, daß der Maschinengewehrschütze noch in den brennenden Wagen hineinschoß.

 

Vorüberkommende Chauffeure bemühten sich, die Flammen zu löschen. Ein Polizist riß die brennende Autotür auf und versuchte, die Leute, die in dem Wagen zusammengebrochen waren, herauszuziehen; aber erst als die Flammen mit einem Feuerlöscher erstickt waren, gelang es. Drei Männer hatten auf dem Rücksitz gesessen. Die Geschosse hatten sie wahrscheinlich schon niedergemäht, bevor der Wagen in Brand geriet. Der Lenker atmete noch, aber auch er war siebenmal getroffen worden. –

 

Am nächsten Morgen Heß sich Kerky Smith sehr frühzeitig mit Berkeley Square verbinden. »Sind Sie dort, Eddie? Darf ich Sie vielleicht heute zum Essen einladen?«

 

»Hoffentlich gibt es was Anständiges?«

 

»Alles, was Sie nur haben wollen, Eddie! Die schönsten Pfirsiche, echt russischen Kaviar und so weiter. Kommen Sie ruhig, alter Junge.«

 

»Ich werde mir die Sache überlegen.«

 

Eine halbe Stunde später wurde Eddie in Kerkys Privaträume geführt. Mr. Smith war allein; der Tisch war für zwei gedeckt.

 

»Was wollen Sie trinken: Kaffee oder Tee?« fragte Kerky vergnügt, »Ich mache Sie höflichst darauf aufmerksam, daß beides vergiftet ist … Sie hätten Ihren Privatchemiker mitbringen sollen! Na, es freut mich, daß wir endlich mal zusammensitzen und uns aussprechen können. – In der letzten Zeit ist allerhand Verschwendung in London getrieben worden. Das muß aufhören!«

 

»Dafür wird vermutlich die Polizei sorgen«, meinte Eddie Tanner und warf zwei Stück Zucker in seine Kaffeetasse.

 

»Glaub‘ ich auch … Vorige Nacht hatte ich übrigens einen merkwürdigen Traum, Eddie, und zwar: daß sich die Leute mit den grünen und den blauen Briefen auf einer Basis von vierzig zu sechzig verständigten und dann nur noch eine Art von Warnungen ausschickten – rot gedruckt …«

 

»Ich halte nichts von sechzig und vierzig. Das sind meine Unglückszahlen. Ich bin Mitglied eines Fünfzig-Fünfzig-Klubs … Und wenn ich diesen verdammten Burschen trauen könnte, die mir ›Fünfzig-Fünfzig!‹ in die Ohren schreien, wäre ich bestimmt für die rote Farbe.«

 

»Also: abgemacht!« grinste Kerky. »Von jetzt ab werden nur noch rote Briefe versandt … Wer ist eigentlich im Augenblick Ihr Adjutant? Wie ich hörte, hat man Tomaso in einem Abzugskanal gefunden … Wirklich schade!«

 

»Ich wiederum«, lächelte Eddie, »habe gehört, daß der Junge, der ihn hineingeworfen hat, gestern in einem Auto verbrannte … Wirklich schade!«

 

Smith reichte ihm die Hand über den Tisch, und Tanner schüttelte sie. Mit einem bedeutungsvollen, harten Griff wurde der Friede besiegelt.

 

Dann sprach Kerky über andere Dinge. »Ich habe heute morgen von Ihrem Onkel in der Zeitung gelesen. In dem Artikel steht, er hätte starke Geschäftsinteressen in Amerika gehabt. Ich möchte nur wissen, wie viele Leute eine Ahnung davon haben, daß er Alkoholschmuggelbanden finanzierte und daß er damals das Geld dafür gab, als sie Al Capone in Cicero beinahe erwischten …«

 

»Ja, er war ein unternehmungslustiger alter Herr! Aber warum reden Sie eigentlich von diesen Geschichten? Sie scheinen nur daran zu denken, wie die Grünen und die Blauen die Sache teilen, weil Sie meinen, das Teilen beginne schon beim Tod des Alten. Ausgeschlossen, mein Lieber! Wir ziehen einen Strich unter alles, was bisher war, und fangen von vom an. Einverstanden?«

 

Kerky nickte. »Ich mußte die Sache doch nur mal zur Sprache bringen«, entschuldigte er sich.

 

Von diesem Zeitpunkt an wurden nur noch rote Briefe gedruckt. Man nahm die besten Ausdrücke und Wendungen aus den blauen und grünen Formularen und setzte den Text neu.

 

Und es wäre sicherlich ein glattes, glänzendes Geschäft geworden, wenn nicht – Leslie Ranger gewesen wäre …

 

Kapitel 24

 

24

 

Leslie Ranger war an dem Morgen in froher Stimmung in ihre Wohnung zurückgekehrt. Sie hatte eine Besprechung mit dem Personalchef einer sehr vornehmen alten Finanzfirma gehabt, und halb und halb hatte man ihr den Posten einer Sekretärin mit einem Jahresgehalt von siebenhundert Pfund schon zugesagt.

 

Als sie in den Vorraum trat, sah sie, daß ein Brief unter der Tür durchgeschoben worden war. An der Handschrift erkannte sie, daß die Nachricht von Eddie Tanner kam.

 

Würden Sie so liebenswürdig sein und mich um elf Uhr dreißig besuchen? Ich glaube, ich habe eine gute Sache für Sie.

 

Sie atmete erleichtert auf bei dem Gedanken, daß sie bereits eine Stellung gefunden hatte. Eddie Tanner war ihr sympathisch, aber sein Wesen beunruhigte sie. Sie hätte ihn anrufen und ihm sagen können, daß sie bereits bei der Firma Dorries untergekommen war. Aber das wäre zu unhöflich gewesen. So machte sie sich also zum Berkeley Square auf.

 

Ein livrierter Diener begrüßte sie lächelnd, und sie folgte ihm in ihr früheres kleines Büro, das Eddie sich jetzt als Arbeitszimmer eingerichtet hatte.

 

Er schob einen Stuhl an den Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, Miss Ranger, und erzählen Sie mir, was es Neues gibt!«

 

»Das ist nett, daß Sie mich zuerst erzählen lassen. Ich habe nämlich eine Stelle in Aussicht. Bei Dorries, einer der ältesten Firmen der City …«

 

Er lächelte. »Ja, alt ist die Firma, aber bißchen in Verfall geraten. Früher hatte sie viele Niederlassungen in Indien. Neulich sagte mir jemand, sie sei wieder saniert. Ich kann mir vorstellen, daß das eine gute, anständige Stellung ist.« Er sah sie merkwürdig an. »Aber hören Sie deshalb doch ruhig an, was ich Ihnen anzubieten habe!« Er stand am Schreibtisch und klopfte mit den Fingern leise auf die polierte Fläche. »Haben Sie schon mal daran gedacht, zu heiraten?«

 

Sie war so erstaunt, daß sie nicht gleich antworten konnte.

 

»Eine komische Frage – nicht wahr? Aber haben Sie nicht etwa doch an eine Ehe gedacht, und zwar im Zusammenhang mit mir? Sie könnten an meiner Seite ein glänzendes Leben führen …«

 

Endlich fand sie die Sprache wieder. »Sie wollen – Sie haben doch nicht die Absicht … Sie möchten mir einen Antrag machen, Mr. Tanner?«

 

»Sie können ruhig ›Eddie‹ sagen, wenn Sie nichts dagegen haben! Das verpflichtet Sie zu nichts, und es klingt viel freundlicher. Als Terry Weston Sie zum erstenmal traf, hat er Sie auch, ihn beim Vornamen zu nennen … Stimmt das nicht?«

 

Woher wußte er das nur?

 

»Es kommt nicht darauf an, woher ich das weiß.« Er lächelte über, ihre Verwirrung. »Manchmal kann ich Gedanken lesen … Ich habe Sie wirklich gern, und das ist mehr wert als eine uferlose Leidenschaft. Sie würden es gut bei mir haben …«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein?« fragte er. Merkwürdigerweise war er nicht verletzt über ihre Ablehnung; er schien nicht einmal enttäuscht zu sein. »Können Sie sich nicht dazu entschließen …? Wirklich schade!« Er lächelte sie wieder freundlich an.

 

»Es tut mir so unendlich leid«, erwiderte sie stockend. »Es ist eine große Ehre …«

 

»Nein, es ist keine Ehre!« unterbrach er sie. »Glauben Sie mir! Ich bin schon dreimal verheiratet gewesen … Es ist wirklich keine Ehre für eine Frau, mich zu heiraten.« Er steckte die Hände in die Taschen und schritt im Zimmer auf und ab. »Sie hätten meinen Antrag ja auch nur angenommen, weil Sie wissen, daß ich Ihnen ein angenehmes Leben verschaffen kann; nicht, weil Sie mich lieben. Ich weiß genau, wann eine Frau mich liebt. Ich fühle das. Nur ein einziges Mal habe ich das erlebt. Drei Wochen nach der Hochzeit kam die Frau ins Irrenhaus. Sie hatte sich falsche Vorstellungen vom Leben gemacht – Illusionen. Auch über mich … Nach der Scheidung wurde sie geheilt, heiratete aufs neue und hatte drei Kinder. Jetzt ist sie Erste Vorsitzende des Frauenverbandes gegen den Alkohol. Seit vielen Jahren bezieht sie eine jährliche Unterstützung von mir, obwohl sie weiß, daß ich mein Geld mit Alkoholschmuggel verdiene …«

 

Leslie starrte ihn an. »Waren Sie – Alkoholschmuggler?«

 

Er nickte. »Das war auch der Alte – ich meine meinen Onkel Decadon. Sie glauben nicht, was der alles gemacht hat!« Er lachte. Zum erstenmal sah sie ihn so vergnügt. »Onkel Elijah hat mehr Alkohol nach den Staaten verfrachtet als irgendein andrer Bürger von England. Er war Eigentümer der beiden ersten heimlichen Kneipen in Chikago, finanzierte den berüchtigten Dean O’Banion und gab eine Million Dollar aus, um dessen Gegner Scarface über den Haufen zu knallen. Ja, ich glaube wohl, daß Sie das nicht geahnt haben. Und doch hat er alles von London aus dirigiert; er war in seinem ganzen Leben nur dreimal in Chikago. Ich war sein Agent und Hauptvertreter dort, und oft hat er versucht, mich übers Ohr zu hauen. Deshalb kam ich auch so häufig nach London.«

 

»Wer hat Mr. Decadon erschossen?« fragte Leslie ernst.

 

Eddie schien nicht im geringsten verwirrt oder verlegen. »Er hat sich selber umgebracht«, entgegnete er kühl. »Vergießen Sie nur keine Träne um Onkel Elijah! Er war ein ganz hartgesottener Sünder!«

 

»Aber jetzt haben Sie es nicht mehr nötig, Ihr Geld mit Schmuggel zu verdienen?«

 

Er lächelte belustigt. »Nein. Ich lasse mich jetzt als Landjunker in England nieder, kaufe ein Gut und verbringe meine Tage in Frieden.«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das liegt, Ihnen nicht.«

 

»Sie beurteilen mich richtig!« Er reichte ihr die Hand. Sehr bedauerlich, daß wir nicht zu einer Verständigung gekommen sind! Meiner Meinung nach ist es töricht von Ihnen, mein Angebot nicht anzunehmen; aber ich muß Sie trotzdem bewundern … Ich begleite Sie nicht bis zur Haustür, und zwar aus Gründen, die ich Ihnen nicht näher erklären kann. Alberto wird Ihnen ein Taxi besorgen; er ist tapfrer als ich.«

 

Sie wunderte sich über diese sonderbare Bemerkung.

 

Als sie später am Vormittag Terry sah, sagte sie ihm nichts von Eddies Angebot und ihrem Besuch am Berkeley Square. Er war mit einem Ingenieur zum Cavendish Square gekommen, um den Absturz des Flugzeugs noch genauer zu untersuchen. Nachher versäumte er natürlich nicht, bei ihr vorzusprechen.

 

Als er von der guten Stellung hörte, die sie in Aussicht hatte, war er begeistert. »Dorries? Gute, alte Firma … Und Sie haben wirklich Glück, daß man Ihnen ein derartiges Gehalt bietet! Wie sind Sie denn dazu gekommen?«

 

»Wahrscheinlich durch die Vermittlungszentrale. Ich erhielt eine telefonische Aufforderung, mich vorzustellen. Die Büroräume liegen in einem ruhigen, stillen Haus in Austin Friars. Es gehört eine kleine Bank dazu und ein Exportgeschäft. Morgen trete ich meine Stellung hoffentlich schon an.« –

 

Und am nächsten Tag war sie pünktlich um neun bei der Firma und wurde fest angestellt.

 

Als man ihr das Büro zeigte, in dem sie arbeiten sollte, glaubte sie zu träumen. Es war ein vornehmer, mit dunklem Eichenholz getäfelter Raum. An den Wänden hingen die Bilder der großen Dorries, die früher einmal die Firma geleitet hatten.

 

»Ja, es stimmt, Miss Ranger!« erwiderte der Prokurist auf ihre Frage. »Mr. Dorries hat ausdrücklich Anweisung gegeben, daß Sie in diesem Hauptbüro arbeiten sollen.«

 

»Ist er hier?«

 

»Nein, er kommt niemals her. Er wohnt in Kent. Unser Geschäft geht nicht mehr so flott wie früher und hat leider nicht mehr seine einstige Bedeutung.«

 

Der alte Prokurist unterhielt sich eine Stunde lang mit ihr und erklärte ihr die bei Dorries üblichen Geschäftsmethoden. Sie erkannte sofort, daß die Firma bei diesem Betrieb allmählich sanft entschlummern würde. Ein deprimierender Gedanke!

 

Am Nachmittag hatte sie eine Unterredung mit dem Leiter der Bankabteilung. Dabei entdeckte sie zu ihrem Erstaunen, daß sie gewissermaßen die Leiterin der Firma geworden war. Sie hatte Vollmacht, Schecks in jeder Höhe zu zeichnen und rechtsgültige Verträge zu schließen, Sie unterstand nur der etwas undeutlich umschriebenen Kontrolle Dorries und seines Partners Pattern.

 

»Für eine junge Dame Ihres Alters eine außerordentlich große Verantwortung!« meinte der Bankleiter freundlich. »Wir haben ein offenes Kontokorrent von achtzigtausend Pfund, außerdem ein Deposit von über hunderttausend.«

 

Auch den übrigen Angestellten wurde sie vorgestellt. Unter ihnen war auch ein energischer, verhältnismäßig junger Mann, ein Mr. Morris. Er erregte sofort ihr Interesse, denn er war verschlossen und schweigsam. Bei dem Prokuristen und den älteren Angestellten war er höchst unbeliebt, obwohl er erst seit drei Monaten als Kassierer in der Firma arbeitete.

 

 

Leslie hatte noch nicht einen Tag in der Firma verbracht, als sie schon herausfand, daß dieser wenig beliebte Kassierer der einzige Tüchtige im Haus war. Er leitete das im Augenblick wieder ziemlich bedeutende Importgeschäft und entschied über Kredite, die die Firma gab. In allen Dingen wußte er Bescheid, verabredete die Besprechungen, die Leslie mit den Vertretern anderer Firmen führen mußte, hielt sie auf dem laufenden über den Bankkredit und beriet sie bei allen Transaktionen.

 

Als sie abends das Büro verließ, bat sie der Prokurist noch um eine Unterredung. »Ich muß Ihnen noch etwas mitteilen, was ich heute morgen vergessen habe, Miss Ranger. Unser Mr. Dorries läßt Sie bitten, unter keinen Umständen die Geschäfte der Firma mit irgend jemand Außenstehendem zu besprechen.«

 

»Die Warnung ist überflüssig!« erwiderte sie, fast ein wenig verletzt. –

 

Die ersten drei Tage vergingen ihr sehr schnell. Sie versuchte, neuere Methoden einzuführen, den Geschäftsgang zu verbessern und Vorurteile beiseite zu räumen. Aber dadurch machte sie sich natürlich ebenso unbeliebt wie der Kassierer.

 

Am Sonnabend erhielt sie einen Brief von dem Rechtsanwalt der Firma. Darin wurde ihr mitgeteilt, daß ihre Chefs mit ihrer Tätigkeit außerordentlich zufrieden wären und ihr Gehalt auf zweitausend Pfund jährlich erhöht hätten.

 

Als sie fortging, kam der Prokurist zu ihr und rieb sich vergnügt die Hände.

 

»Sie haben uns wirklich Glück gebracht! In der letzten Woche haben wir achtzehn neue Konten eröffnet!«

 

Leslie kam ihren Instruktionen getreulich nach und sprach auch mit Terry nicht über geschäftliche Angelegenheiten. Er wußte nur, daß sie sich in ihrer neuen Stellung außerordentlich wohl fühlte.

 

Kapitel 2

 

2

 

»Es gibt zwei vorherrschende Triebkräfte im Leben der Männer: die Liebe und die Furcht vor dem Tode … Verstehen Sie?« Captain Jiggs Allerman von der Chikagoer Geheimpolizei lehnte sich im Sessel zurück und blies den Rauch seiner Zigarre zur Decke hinauf. Er war groß, schlank und von der Sonne gebräunt wie ein Indianer.

 

Terry Weston grinste. Er amüsierte sich immer über Jiggs.

 

»Sagen Sie mal: Sie sind doch Chefinspektor oder so etwas Ähnliches?« fuhr Jiggs fort, »Mir scheint, daß man nächstens hier noch Kinder zu höheren Beamten macht. Wie alt sind Sie denn jetzt, Terry?«

 

»Fünfunddreißig.«

 

Jiggs machte ein verächtliches Gesicht. »Das ist eine gemeine Lüge! Wenn Sie älter sind als dreiundzwanzig, dann lasse ich mich totschießen.«

 

»Immer wenn Sie Ihren jährlichen Besuch in Scotland Yard machen, erzählen Sie denselben faulen Witz. Man könnte doch meinen, daß Ihnen mit der Zeit etwas Neues einfallen sollte? Aber Sie haben eben von zwei Triebkräften im Leben gesprochen …«

 

»Ja – Liebe und Tod.« Jiggs nickte eifrig. »Mit der Liebe hat man immer schon viel Geld verdient; aber mit dem Tod haben bisher nur die Ärzte und die Beerdigungsinstitute ihr Geschäft gemacht. Doch passen Sie auf: Das wird jetzt anders, Terry! In den Vereinigten Staaten werden jedes Jahr Unsummen für den persönlichen Schutz wohlhabender Bürger verausgabt. Und was dort drüben ein gutes Geschäft ist, müßte sich auch in England, Frankreich, Deutschland oder sonstwo bezahlt machen. Die Menschen sind überall gleich, und es wird überall mit Wasser gekocht. Jedenfalls: Unsere großen Gangster – ich weiß das – haben sich inzwischen in England umgesehen, und zwar einer aus Chikago und einer aus New York. Und wenn die sich was in den Kopf setzen, führen sie’s auch durch. Denn diese Burschen, mit denen ich es drüben zu tun habe, denken in Millionen oder gar in achtstelligen Zahlen. Im vorigen Jahr wollten sie ein neues Geschäft in einem anderen Land aufmachen und haben allein für Vorarbeiten zwei Millionen Dollar ausgegeben. Die Sache rentierte sich dann aber nicht, und so haben sie einfach ihre ganzen Ausgaben auf Verlustkonto gesetzt … Da staunen Sie, was? Diese Leute könnten jedes Jahr aus England hundert Millionen Dollar ziehen, ohne daß es auffiele.«

 

Jiggs Allerman war bei seinem Lieblingsthema angelangt. Er hatte sich schon öfters mit Terry darüber unterhalten, der ihm jedesmal widersprach. Persönlich wäre er an dieser besonderen Art von Verbrechen interessiert gewesen, denn er arbeitete in Scotland Yard im Dezernat für Betrug, Erpressung und ähnliche Vergehen.

 

Kurz darauf ging er mit dem Amerikaner zu Tisch. Er hatte Jiggs Allerman gern und wußte, daß er noch viel von ihm lernen konnte.

 

Im Grill-Room des Carlton-Hotels erkannte Terry Mr. Elijah Decadon und machte seinen Begleiter auf ihn aufmerksam. »Das ist einer der gemeinsten und gefährlichsten Millionäre, die es auf der Welt gibt!«

 

»Na – mit dem würde ich schon fertig werden!« erklärte Jiggs. »Und wer ist der dunkle Herr, der bei ihm sitzt? Der kommt mir so merkwürdig bekannt vor …«

 

»Sein Neffe. Möglich, daß Sie ihn kennen; er wohnte früher in Chikago. Ist er nicht zufällig mal mit der Polizei in Berührung gekommen?« fragte Terry ironisch.

 

»Nein, aber das hat nichts zu sagen. Die ganz großen Verbrecher haben selten etwas mit der Polizei zu tun; die eigentlichen Drahtzieher, die hinter den Alkoholschmugglerbanden und ähnlichen Gesellschaften stehen, werden fast nie erwischt. Ach, jetzt fällt es mir ein! Tanner – Ed Tanner heißt der Mann! Ein durchtriebener Junge … Hab‘ mich schon oft gewundert, woher er das viele Geld hat. Aber sagten Sie nicht eben, sein Onkel wäre Millionär?«

 

»Von dem hat er es nicht!« erwiderte Terry grimmig.

 

Der alte Decador drüben saß aufrecht vor seiner einfachen Mahlzeit und sah seinen Neffen böse an. Er war ungewöhnlich groß und stattlich und hatte sich für sein Alter erstaunlich gut gehalten.

 

»Ich hoffe, du begreifst endlich, daß ich das Geld, das ich besitze, auch behalten will?« sagte er barsch. »Ich möchte nichts von diesen wilden amerikanischen Phantasien hören, durch die die Yankees schnell zu Reichtum kommen wollen.«

 

»Ich sehe auch keinen Grund, warum du dich damit abgeben solltest, Onkel«, entgegnete Ed gutgelaunt. »Aber ich habe eine private Nachricht über dieses Petroleumfeld erhalten, und ich glaube, daß es ein gutes Geschäft ist. Ich persönlich habe nichts davon, ob du einsteigst oder nicht. Aber ich dachte, du spekuliertest gern?«

 

»Mit derartig windigen Geschäften will ich nichts zu tun haben!« brummte der Alte.

 

Die beiden Detektive an der anderen Seite des Speisesaals sahen, wie er aufstand und fortging. Sie nahmen an, er habe sich mit seinem Neffen gestritten.

 

»Möchte bloß wissen, was die zwei da eben geredet haben. Decadon kenne ich nicht, aber Ed um so genauer. Er ist der beste Psychologe in Amerika, und … Donnerwetter, da ist ja auch der ›Große‹ selbst!«

 

Ein elegant gekleideter Herr von mittlerer Größe war in den Speisesaal getreten. Er trug das Haar kurz geschnitten; sein schmales Gesicht war von vielen Furchen durchzogen und sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Auch die beiden langen, dünnen Narben auf der linken Wange machten es nicht anziehender.

 

Jiggs pfiff leise vor sich hin. Er saß in gespannter Haltung; seine Augen glänzten. »Es ist wahrhaftig der ›Große‹ in eigener Person … Himmeldonnerwetter, was hat das nur zu bedeuten?«

 

»Wer ist denn der ›Große‹?« fragte Terry.

 

»Den müssen Sie kennenlernen! In einer Minute wird er bei uns sein.«

 

»Er hat Sie doch gar nicht gesehen?«

 

»Sie können Gift darauf nehmen, daß ich der erste war, den er hier gesehen hat! Der Kerl entdeckt jede Stecknadel auf dem Boden. Haben Sie noch nie von ihm gehört? Kerky Smith – oder Albuquerque Smith – oder Alfred J. Smith; kommt ganz darauf an, ob Sie ihn kennen oder von ihm lesen.«

 

Der Mann, über den sie sprachen, ging anscheinend ziellos durch den Saal. Plötzlich sah er auf und begegnete dem Blick Edwin Tanners, der ihn lächelnd anschaute.

 

»Hallo, Kerky! Wann sind Sie denn hierhergekommen? Ich habe nicht im mindesten erwartet, Sie hier zu treffen.«

 

Er reichte ihm die Hand, und Kerky drückte sie schwach.

 

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

 

»Bleiben Sie lange?« fragte Kerky, ohne auf die Aufforderung einzugehen.

 

»Ich fahre zweimal im Jahr nach England. Mein Onkel wohnt hier.«

 

»Ach so? Aus Chikago haben Sie ziemlich plötzlich Reißaus genommen …«

 

»Durchaus nicht!« erwiderte Tanner eisig.

 

Kerky lehnte sich an den Tisch und sah auf ihn hinunter. Ein verständnisinniges Lächeln spielte um seine Lippen. »Hab‘ gehört, daß Sie hier Geschäfte machen wollen. Jemand sagte mir, Sie hätten zwei Millionen investiert. Bleiben Sie noch lange hier?«

 

Ed setzte sich bequem zurück und spielte mit einem Zahnstocher. »So lange, wie es mir Spaß macht!« erwiderte er vergnügt. »Jiggs dort drüben verschlingt uns geradezu mit den Augen …«

 

Kerky Smith nickte. »Ja – ich habe den verdammten Kerl schon gesehen. Wen hat er da eigentlich bei sich?«

 

»Irgendeinen Burschen von Scotland Yard.«

 

Kerky richtete sich auf und legte seine lange, dürre Hand auf Eds Schulter. »Sie werden nett und lieb sein, mein Junge: Entweder machen Sie mit, oder Sie verschwinden. Sie brauchen einen unheimlichen Haufen Geld für dieses Geschäft, Ed; mehr, als Sie haben.« Er klopfte ihm auf die Schulter und ging dann zu Allerman hinüber. »Sieh, da ist ja auch Jiggs!« rief er strahlenden Gesichts.

 

»Setzen Sie sich, Sie gemeiner Hund und Dieb!« entgegnete der Detektiv ruhig. »Was machen Sie denn in London? Ich muß sagen, daß die englische Regierung in der Erteilung von Visen sehr fahrlässig ist.«

 

Kerky lächelte. »Das sollten Sie eigentlich nicht sagen … Aber stellen Sie mich doch bitte Ihrem jungen Freund vor!« »Der kennt Sie schon genau. Chefinspektor Terry Weston … Wenn Sie eine Weile in London bleiben, wird er auch bald Ihre Fingerabdrücke besitzen. Was für einen Schwindel haben Sie jetzt wieder vor, Kerky?«

 

»Muß ich denn immer was vorhaben? Ich bin zur Erholung hier und sehe midi dabei natürlich auch nach geeigneten Objekten um. Ich habe in Baisse spekuliert und den Markt erschüttert. Sehen Sie, ich verdiene mein Geld auf diese Weise. Ich mache es nicht wie die Polizeibeamten in Chikago, die sich die Taschen von den Gangstern spicken lassen und dann noch so tun, als ob sie die Leute fangen wollten.«

 

Jiggs Allermans Züge nahmen einen harten Ausdruck an. »Das werde ich Ihnen nicht vergessen, mein Junge! Wenn ich Sie erst mal im Chikagoer Präsidium unter vier Augen habe, werde ich mit Ihnen abrechnen.«

 

Kerky Smith lächelte harmlos und unschuldsvoll. »Sie fassen immer alles falsch auf. Können Sie denn keinen Spaß versteh’n? Ich bin doch durchaus für Ordnung und Gesetz. Einmal hab‘ ich Ihnen sogar das Leben gerettet: einer von den Kerlen im Norden wollte Sie um die Ecke bringen, aber ich hab‘ dafür gesorgt, daß er seine Absicht nicht ausführen konnte.« Kerky verstand es, gelegentlich anderen Leuten die Hand auf die Schulter zu legen, und das tat er auch jetzt, als er sich erhob. »Mein Junge, Sie wissen nicht einmal, wer Ihr bester Freund ist!«

 

»Mein bester Freund ist mein Revolver«, sagte Jiggs, anscheinend gleichgültig, »und wenn ich Sie eines Tages damit zur Strecke bringe, lasse ich die Mündung in Diamanten fassen.«

 

Kerky lachte. »Sie bleiben doch immer derselbe!« meinte er und winkte vergnügt zum Abschied.

 

Jiggs folgte ihm mit den Blicken, bis sich der Amerikaner neben einer schönen, blonden jungen Dame an einem Tisch niederließ. »Diese Art Verbrecher kennen Sie in England noch nicht. Die Kerle schießen jeden rücksichtslos über den Haufen, der ihnen in den Weg tritt. Und trotz alledem ist der Mann noch nie verurteilt worden. Immer war er in Michigan, wenn in Illinois etwas passierte, oder er war auf der Tour in Indiana, wenn in Brooklyn jemand ermordet wurde. Sie ahnen nicht, wie kaltblütig diese Schurken sind. Hoffentlich erfahren Sie es auch niemals. Er sagte doch, daß er mein Leben gerettet hätte … Vier seiner Scharfschützen haben hintereinander versucht, mich kaltzumachen! Einer seiner Gehilfen, Dago Pete, hat mich mal zweitausend Kilometer weit verfolgt; aber es ist ihm doch nicht gelungen. Bis ich ihn dann selber zur Strecke brachte.«

 

»Gott sei Dank«, meinte Weston, »daß wir uns mit dieser verdammten Sorte nicht herumärgern müssen!«

 

»Warten Sie ab, was die Zukunft bringt«, erwiderte Jiggs düster.

 

Kapitel 12

 

12

 

Am Nachmittag wurde eine Konferenz in Scotland Yard abgehalten. Alle hatten unrecht mit Ausnahme von Jiggs Allerman, der von Zeit zu Zeit kurze Bemerkungen in die Debatte einwarf. Schließlich fragte der Polizeidirektor ihn nach seiner Meinung.

 

»Sie wollen meine Meinung ja gar nicht hören!« erwiderte der Amerikaner. »Sie wollen nur, daß ich Ihnen zustimmen soll! Aber ich sage Ihnen: Das ist nicht die richtige Art und Weise, wie Sie es anfangen! Sie wissen noch nicht, mit wem Sie’s da zu tun haben. Wenn Sie sich einbilden, die Erpresser heute fassen zu können, so irren Sie sich schwer! Diese Burschen schicken doch nicht einen von ihrer Bande, um das Geld abzuholen, sondern irgend jemand, dem sie einen Dollar Trinkgeld geben und der keine Ahnung hat, welche Gefahr er auf sich nimmt.«

 

Einer der Anwesenden konnte Jiggs durchaus nicht leiden, und zwar Inspektor Tetley, der selbst übrigens sehr unbeliebt war. Er zeigte wenig Begabung für seinen Beruf und war auch Jiggs unsympathisch, schon wegen seiner äußeren Erscheinung: Der Mann trug einen aufgezwirbelten Schnurrbart und klebte die Haare mit Pomade an den Kopf.

 

»Was schlagen Sie denn vor?« fragte er. »Ich weiß, daß die amerikanische Polizei sehr tüchtig ist, und ich möchte Sie gern um Rat fragen – zumal, da ich heute abend bei der großen Sache das Kommando führe.«

 

»Mein Rat ist furchtbar einfach«, erklärte Jiggs kurz. »Stecken Sie Mr. Salaman ins Gefängnis oder sonstwohin, wo diese Kerle nicht an ihn herankommen können! Wenn Sie das tun, erschüttern Sie das Prestige der Erpresserbande, deren Erfolg nur von schnellen Ergebnissen abhängt. Falls Sie Mr. Salaman zwei oder drei Wochen lang gegen Angriffe schützen können, ist es aus mit den Leuten!«

 

»Sie reden ja, als ob dieser Salaman tatsächlich in Lebensgefahr wäre«, entgegnete Tetley verächtlich. »Ich werde ihn von zwanzig Beamten schützen lassen …«

 

»Dann sagen Sie den Leuten nur, daß sie nicht zu dicht an ihn herangehen sollen!« –

 

Tetley hatte Befehl erhalten, die Verhaftung des Boten am Abend durchzuführen, und als die verabredete Stunde heranrückte, erschien eine beträchtliche Anzahl von Männern in der Gegend des Treffpunktes. Zum Teil waren es Arbeiter, aber auch Angestellte oder Händler in weißen Schürzen.

 

»Vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet – großartig!« bemerkte Terry, der sie inspizierte, bevor sie fortgingen. »Aber es wird wahrscheinlich recht heiß hergehen. Sie sind ausgewählt worden, weil Sie mit einer Schußwaffe umzugehen verstehen, und weil sie unverheiratet sind. Was auch immer geschehen mag: Sie dürfen vor allem nicht den Kopf verlieren! Sobald sich der Mann mit der roten Blume Mr. Salaman nähert, müssen Sie ihn fassen! Ein Auto des Überfallkommandos mit vier Beamten wartet in der Nähe. Dorthin bringen Sie den Mann, und damit ist Ihre Aufgabe erfüllt. Falls es zu einer Schießerei kommen sollte, so zielen Sie gut! Es handelt sich nicht um einen Spaß.«

 

Er selber wartete auf der anderen Straßenseite. Drei Minuten vor der abgemachten Zeit fuhr Salaman in seiner Limousine vor und stieg aus. Außer den Polizeidetektiven waren nur wenig Leute in der Nähe. Der Platz schien außerordentlich geschickt ausgewählt.

 

Terry stand neben Allerman an der Bordschwelle, las eine Zeitung und beobachtete dabei verstohlen die Vorgänge.

 

»Da kommt unser Freund!« flüsterte Jiggs.

 

Ein Mann in mittleren Jahren, eine flammendrote Nelke im Knopfloch, näherte sich aus Richtung Piccadilly. Einen Augenblick hielt er an, sah nach der Uhr und setzte dann seinen Weg fort. Er schlenderte an der Stelle vorbei, an der er Salaman treffen sollte, kehrte dann um und blieb einen Meter vor dem vereinbarten Treffpunkt stehen.

 

Auch Salaman hatte ihn nun entdeckt und ging langsam auf ihn zu. Der Fremde faßte an den Hut und richtete eine Frage an Salaman. Darauf nahm der junge Mann einen Briefumschlag aus der Tasche und reichte ihn dem Boten.

 

In diesem Augenblick kamen die Detektive auf ihn zu. Sie waren dicht bei ihm, als plötzlich von irgendwoher aus der Höhe ein Maschinengewehr zu feuern begann. Der Mann mit der roten Blume und Salaman stürzten zu gleicher Zeit nieder – darin sank einer der Detektive um, ein zweiter fiel auf den Fahrdamm.

 

»Das Maschinengewehr ist in diesem Häuserblock!« rief Jiggs. Der Eingang lag unmittelbar hinter ihm. Die Tür zum Fahrstuhl stand offen. »Schnell – nach oben!«

 

Der Lift glitt empor.

 

Während der Fahrt prägte sich Terry die Namen der Hausbewohner ein. »Ist eine leere Wohnung hier?« fragte er den Fahrstuhlführer. »Ja? Sicher wurde von dort aus geschossen … Haben Sie einen passenden Schlüssel?«

 

Zufällig hatte der Mann einen bei sich, aber sie brauchten ihn nicht, denn die Wohnungstür stand weit offen. Als sie nach innen eilten, machte sich Korditgeruch bemerkbar.

 

Jiggs stürmte in das vordere Zimmer. Das Fenster war weit geöffnet und der Raum leer. Nur in der Nähe des Fensterbretts stand ein Stuhl, und auf dem Boden lag ein kleines Maschinengewehr.

 

»Die erste Massenattacke!« sagte Jiggs. »Ich möchte wissen, wie viele von den armen Beamten daran glauben mußten. Auf Salaman kommt es weniger an. Leute, die ein derartiges Leben führen, kann ich nicht leiden.«

 

Terry sprach mit dem Portier, der auch den Lift bediente. Der Mann hatte niemand die leere Wohnung gezeigt und nicht gewußt, daß jemand ins Haus eingedrungen war. Er bestätigte, daß man von den Agenten leicht eine Erlaubnis zur Besichtigung erhalten konnte. In den letzten Tagen waren verschiedene Leute dagewesen und hatten die Wohnung angesehen.

 

Wie an allen Häusern, war auch hier eine Feuerleiter angebracht. Sie befand sich an dem Ende eines kurzen Ganges, der vom Hauptkorridor abzweigte.

 

»Auf diesem Weg sind sie entkommen!« meinte Terry und schaute nach unten.

 

Später sah er vom Vorderfenster auf die Menschenmenge, die inzwischen zusammengeströmt war und die Toten und Sterbenden neugierig betrachtete. Krankenwagen erschienen, Signalpfeifen schrillten durch die Stille des Abends, und von allen Seiten eilten Polizisten herbei. Auch zwei berittene Beamte tauchten auf und trieben die Menge zurück.

 

Terry ließ Tetley rufen.

 

Bleich und zitternd kam der Inspektor zu ihm.

 

»Salaman ist erschossen worden – ebenso der Bote mit der roten Blume und einer meiner besten Sergeanten«, berichtete er. »Ich selber bin mit knapper Not entronnen …«

 

»Sie sind mit heiler Haut davongekommen«, erwiderte Jiggs, »weil Sie nicht auf der Straßenseite drüben waren. Weshalb blieben Sie auf unserer Seite?«

 

Tetley warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich wollte eben die Straße kreuzen –«, begann er.

 

»Das haben Sie leider zwei Minuten zu spät getan! Ich möchte wissen, warum Sie auf unsrer Seite geblieben sind. Das interessiert mich außerordentlich!«

 

Der Inspektor wandte sich ihm wütend zu, aber seine Erregung bestand zum größten Teil aus Furcht. »Wenn Sie den Polizeipräsidenten morgen fragen, sagt er es Ihnen vielleicht!« rief er hitzig.

 

Der letzte Krankenwagen war fortgefahren, bevor Terry den Inspektor hatte rufen lassen. Die Menschenmenge hatte sich zerstreut, und schon waren zwei Straßenkehrer dabei, die letzten Spuren des unglückseligen Ereignisses zu beseitigen.

 

»Das hat gerade noch gefehlt!« sagte Jiggs. »Jetzt ist die Katze ja im Taubenschlag: Nun werden die Leute, besonders die Reichen, die Ohren spitzen! Bin gespannt, wie die Sache wirkt …«

 

Terry blieb schweigsam, während sie nach Scotland Yard zurückfuhren. Die Verantwortung lastete schwer auf ihm, obwohl nicht allein auf seinen Rat hin Salaman blindlings in die Falle gegangen war.

 

Das Maschinengewehr wurde untersucht, ergab aber keinerlei Anhaltspunkte. Es war in Amerika hergestellt, und Jiggs stellte fest, daß dieser Typ meistens bei den Überfällen der Gangster in Chikago verwendet wurde.

 

»Das waren die Grünen!« erläuterte er. »Ich meine die Bande, die die grünen Briefe schickt! Nun kommen die Blauen dran … Es bleibt uns nur die eine Hoffnung, daß die beiden Banden aneinandergeraten.«

 

»Sind Sie tatsächlich davon überzeugt, daß zwei Banden zu gleicher Zeit in London arbeiten?«

 

»Nach meinen Chikagoer Erfahrungen bin ich meiner Sache vollkommen sicher. Die Blauen haben Decadon ermordet, die Grünen sind, meiner Meinung nach, noch smarter. Wie werden sich die Dinge nun weiterentwickeln? Hoffentlich leben wir noch so lange, daß wir es sehen können!«

 

Eine Untersuchung des Häuserblocks brachte keine weiteren Ergebnisse. Die leere Wohnung wurde von mehreren Agenten angeboten. Keiner hatte einen Schlüssel fortgegeben, aber alle hatten in den letzten Tagen persönlich Interessenten die Wohnung gezeigt. Die letzten, ein Herr und eine Dame, hatten noch am Morgen des Unglückstages die Zimmer besichtigt.

 

»Während sie oben waren und durch die Wohnung gingen«, erklärte Jiggs, »stand die Tür weit auf, und jeder Fremde konnte ungehindert hereinkommen.«

 

Der Portier erinnerte sich an einen Mann, der einen schweren Koffer getragen hatte. Er hatte ihn angehalten, aber der Fremde erklärte, er solle den Koffer persönlich im obersten Stock abgeben. Das war zur selben Zeit, als der Herr und die Dame die Räume besichtigten. Der Mann war im Lift nach oben gefahren; aber der Portier konnte sich nicht besinnen, ihn später noch einmal gesehen zu haben.

 

»Da haben wir die Erklärung!«, meinte Jiggs. »Es war sehr einfach, die Treppe hinauf- und herunterzugehen, während der Fahrstuhl in Bewegung war. Ebensoleicht konnte man es einrichten, der Beobachtung des Liftführers zu entgehen. Wahrscheinlich waren zwei Mitglieder der Bande in der Wohnung. Einer hatte sich vermutlich schon oben versteckt, bevor das Paar, das die Wohnung besichtigte, wieder ging.«

 

 

Ganz London wurde in dieser Nacht durchsucht, besonders die Teile der Hauptstadt, in denen die Fremden wohnten. Schießsachverständige prüften das Maschinengewehr. Terry Weston entdeckte bei einer Untersuchung des Unglücksplatzes, daß der Bürgersteig an zwei Stellen weiß markiert war.

 

»Das hab‘ ich leider übersehen«, knurrte Jiggs, »und gerade danach hätte ich doch ausschauen sollen! Die Kerle haben die Entfernung gemessen und das Ziel genau markiert … Unglaublich …!«