Kapitel 12

 

12

 

Am Nachmittag wurde eine Konferenz in Scotland Yard abgehalten. Alle hatten unrecht mit Ausnahme von Jiggs Allerman, der von Zeit zu Zeit kurze Bemerkungen in die Debatte einwarf. Schließlich fragte der Polizeidirektor ihn nach seiner Meinung.

 

»Sie wollen meine Meinung ja gar nicht hören!« erwiderte der Amerikaner. »Sie wollen nur, daß ich Ihnen zustimmen soll! Aber ich sage Ihnen: Das ist nicht die richtige Art und Weise, wie Sie es anfangen! Sie wissen noch nicht, mit wem Sie’s da zu tun haben. Wenn Sie sich einbilden, die Erpresser heute fassen zu können, so irren Sie sich schwer! Diese Burschen schicken doch nicht einen von ihrer Bande, um das Geld abzuholen, sondern irgend jemand, dem sie einen Dollar Trinkgeld geben und der keine Ahnung hat, welche Gefahr er auf sich nimmt.«

 

Einer der Anwesenden konnte Jiggs durchaus nicht leiden, und zwar Inspektor Tetley, der selbst übrigens sehr unbeliebt war. Er zeigte wenig Begabung für seinen Beruf und war auch Jiggs unsympathisch, schon wegen seiner äußeren Erscheinung: Der Mann trug einen aufgezwirbelten Schnurrbart und klebte die Haare mit Pomade an den Kopf.

 

»Was schlagen Sie denn vor?« fragte er. »Ich weiß, daß die amerikanische Polizei sehr tüchtig ist, und ich möchte Sie gern um Rat fragen – zumal, da ich heute abend bei der großen Sache das Kommando führe.«

 

»Mein Rat ist furchtbar einfach«, erklärte Jiggs kurz. »Stecken Sie Mr. Salaman ins Gefängnis oder sonstwohin, wo diese Kerle nicht an ihn herankommen können! Wenn Sie das tun, erschüttern Sie das Prestige der Erpresserbande, deren Erfolg nur von schnellen Ergebnissen abhängt. Falls Sie Mr. Salaman zwei oder drei Wochen lang gegen Angriffe schützen können, ist es aus mit den Leuten!«

 

»Sie reden ja, als ob dieser Salaman tatsächlich in Lebensgefahr wäre«, entgegnete Tetley verächtlich. »Ich werde ihn von zwanzig Beamten schützen lassen …«

 

»Dann sagen Sie den Leuten nur, daß sie nicht zu dicht an ihn herangehen sollen!« –

 

Tetley hatte Befehl erhalten, die Verhaftung des Boten am Abend durchzuführen, und als die verabredete Stunde heranrückte, erschien eine beträchtliche Anzahl von Männern in der Gegend des Treffpunktes. Zum Teil waren es Arbeiter, aber auch Angestellte oder Händler in weißen Schürzen.

 

»Vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet – großartig!« bemerkte Terry, der sie inspizierte, bevor sie fortgingen. »Aber es wird wahrscheinlich recht heiß hergehen. Sie sind ausgewählt worden, weil Sie mit einer Schußwaffe umzugehen verstehen, und weil sie unverheiratet sind. Was auch immer geschehen mag: Sie dürfen vor allem nicht den Kopf verlieren! Sobald sich der Mann mit der roten Blume Mr. Salaman nähert, müssen Sie ihn fassen! Ein Auto des Überfallkommandos mit vier Beamten wartet in der Nähe. Dorthin bringen Sie den Mann, und damit ist Ihre Aufgabe erfüllt. Falls es zu einer Schießerei kommen sollte, so zielen Sie gut! Es handelt sich nicht um einen Spaß.«

 

Er selber wartete auf der anderen Straßenseite. Drei Minuten vor der abgemachten Zeit fuhr Salaman in seiner Limousine vor und stieg aus. Außer den Polizeidetektiven waren nur wenig Leute in der Nähe. Der Platz schien außerordentlich geschickt ausgewählt.

 

Terry stand neben Allerman an der Bordschwelle, las eine Zeitung und beobachtete dabei verstohlen die Vorgänge.

 

»Da kommt unser Freund!« flüsterte Jiggs.

 

Ein Mann in mittleren Jahren, eine flammendrote Nelke im Knopfloch, näherte sich aus Richtung Piccadilly. Einen Augenblick hielt er an, sah nach der Uhr und setzte dann seinen Weg fort. Er schlenderte an der Stelle vorbei, an der er Salaman treffen sollte, kehrte dann um und blieb einen Meter vor dem vereinbarten Treffpunkt stehen.

 

Auch Salaman hatte ihn nun entdeckt und ging langsam auf ihn zu. Der Fremde faßte an den Hut und richtete eine Frage an Salaman. Darauf nahm der junge Mann einen Briefumschlag aus der Tasche und reichte ihn dem Boten.

 

In diesem Augenblick kamen die Detektive auf ihn zu. Sie waren dicht bei ihm, als plötzlich von irgendwoher aus der Höhe ein Maschinengewehr zu feuern begann. Der Mann mit der roten Blume und Salaman stürzten zu gleicher Zeit nieder – darin sank einer der Detektive um, ein zweiter fiel auf den Fahrdamm.

 

»Das Maschinengewehr ist in diesem Häuserblock!« rief Jiggs. Der Eingang lag unmittelbar hinter ihm. Die Tür zum Fahrstuhl stand offen. »Schnell – nach oben!«

 

Der Lift glitt empor.

 

Während der Fahrt prägte sich Terry die Namen der Hausbewohner ein. »Ist eine leere Wohnung hier?« fragte er den Fahrstuhlführer. »Ja? Sicher wurde von dort aus geschossen … Haben Sie einen passenden Schlüssel?«

 

Zufällig hatte der Mann einen bei sich, aber sie brauchten ihn nicht, denn die Wohnungstür stand weit offen. Als sie nach innen eilten, machte sich Korditgeruch bemerkbar.

 

Jiggs stürmte in das vordere Zimmer. Das Fenster war weit geöffnet und der Raum leer. Nur in der Nähe des Fensterbretts stand ein Stuhl, und auf dem Boden lag ein kleines Maschinengewehr.

 

»Die erste Massenattacke!« sagte Jiggs. »Ich möchte wissen, wie viele von den armen Beamten daran glauben mußten. Auf Salaman kommt es weniger an. Leute, die ein derartiges Leben führen, kann ich nicht leiden.«

 

Terry sprach mit dem Portier, der auch den Lift bediente. Der Mann hatte niemand die leere Wohnung gezeigt und nicht gewußt, daß jemand ins Haus eingedrungen war. Er bestätigte, daß man von den Agenten leicht eine Erlaubnis zur Besichtigung erhalten konnte. In den letzten Tagen waren verschiedene Leute dagewesen und hatten die Wohnung angesehen.

 

Wie an allen Häusern, war auch hier eine Feuerleiter angebracht. Sie befand sich an dem Ende eines kurzen Ganges, der vom Hauptkorridor abzweigte.

 

»Auf diesem Weg sind sie entkommen!« meinte Terry und schaute nach unten.

 

Später sah er vom Vorderfenster auf die Menschenmenge, die inzwischen zusammengeströmt war und die Toten und Sterbenden neugierig betrachtete. Krankenwagen erschienen, Signalpfeifen schrillten durch die Stille des Abends, und von allen Seiten eilten Polizisten herbei. Auch zwei berittene Beamte tauchten auf und trieben die Menge zurück.

 

Terry ließ Tetley rufen.

 

Bleich und zitternd kam der Inspektor zu ihm.

 

»Salaman ist erschossen worden – ebenso der Bote mit der roten Blume und einer meiner besten Sergeanten«, berichtete er. »Ich selber bin mit knapper Not entronnen …«

 

»Sie sind mit heiler Haut davongekommen«, erwiderte Jiggs, »weil Sie nicht auf der Straßenseite drüben waren. Weshalb blieben Sie auf unserer Seite?«

 

Tetley warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich wollte eben die Straße kreuzen –«, begann er.

 

»Das haben Sie leider zwei Minuten zu spät getan! Ich möchte wissen, warum Sie auf unsrer Seite geblieben sind. Das interessiert mich außerordentlich!«

 

Der Inspektor wandte sich ihm wütend zu, aber seine Erregung bestand zum größten Teil aus Furcht. »Wenn Sie den Polizeipräsidenten morgen fragen, sagt er es Ihnen vielleicht!« rief er hitzig.

 

Der letzte Krankenwagen war fortgefahren, bevor Terry den Inspektor hatte rufen lassen. Die Menschenmenge hatte sich zerstreut, und schon waren zwei Straßenkehrer dabei, die letzten Spuren des unglückseligen Ereignisses zu beseitigen.

 

»Das hat gerade noch gefehlt!« sagte Jiggs. »Jetzt ist die Katze ja im Taubenschlag: Nun werden die Leute, besonders die Reichen, die Ohren spitzen! Bin gespannt, wie die Sache wirkt …«

 

Terry blieb schweigsam, während sie nach Scotland Yard zurückfuhren. Die Verantwortung lastete schwer auf ihm, obwohl nicht allein auf seinen Rat hin Salaman blindlings in die Falle gegangen war.

 

Das Maschinengewehr wurde untersucht, ergab aber keinerlei Anhaltspunkte. Es war in Amerika hergestellt, und Jiggs stellte fest, daß dieser Typ meistens bei den Überfällen der Gangster in Chikago verwendet wurde.

 

»Das waren die Grünen!« erläuterte er. »Ich meine die Bande, die die grünen Briefe schickt! Nun kommen die Blauen dran … Es bleibt uns nur die eine Hoffnung, daß die beiden Banden aneinandergeraten.«

 

»Sind Sie tatsächlich davon überzeugt, daß zwei Banden zu gleicher Zeit in London arbeiten?«

 

»Nach meinen Chikagoer Erfahrungen bin ich meiner Sache vollkommen sicher. Die Blauen haben Decadon ermordet, die Grünen sind, meiner Meinung nach, noch smarter. Wie werden sich die Dinge nun weiterentwickeln? Hoffentlich leben wir noch so lange, daß wir es sehen können!«

 

Eine Untersuchung des Häuserblocks brachte keine weiteren Ergebnisse. Die leere Wohnung wurde von mehreren Agenten angeboten. Keiner hatte einen Schlüssel fortgegeben, aber alle hatten in den letzten Tagen persönlich Interessenten die Wohnung gezeigt. Die letzten, ein Herr und eine Dame, hatten noch am Morgen des Unglückstages die Zimmer besichtigt.

 

»Während sie oben waren und durch die Wohnung gingen«, erklärte Jiggs, »stand die Tür weit auf, und jeder Fremde konnte ungehindert hereinkommen.«

 

Der Portier erinnerte sich an einen Mann, der einen schweren Koffer getragen hatte. Er hatte ihn angehalten, aber der Fremde erklärte, er solle den Koffer persönlich im obersten Stock abgeben. Das war zur selben Zeit, als der Herr und die Dame die Räume besichtigten. Der Mann war im Lift nach oben gefahren; aber der Portier konnte sich nicht besinnen, ihn später noch einmal gesehen zu haben.

 

»Da haben wir die Erklärung!«, meinte Jiggs. »Es war sehr einfach, die Treppe hinauf- und herunterzugehen, während der Fahrstuhl in Bewegung war. Ebensoleicht konnte man es einrichten, der Beobachtung des Liftführers zu entgehen. Wahrscheinlich waren zwei Mitglieder der Bande in der Wohnung. Einer hatte sich vermutlich schon oben versteckt, bevor das Paar, das die Wohnung besichtigte, wieder ging.«

 

 

Ganz London wurde in dieser Nacht durchsucht, besonders die Teile der Hauptstadt, in denen die Fremden wohnten. Schießsachverständige prüften das Maschinengewehr. Terry Weston entdeckte bei einer Untersuchung des Unglücksplatzes, daß der Bürgersteig an zwei Stellen weiß markiert war.

 

»Das hab‘ ich leider übersehen«, knurrte Jiggs, »und gerade danach hätte ich doch ausschauen sollen! Die Kerle haben die Entfernung gemessen und das Ziel genau markiert … Unglaublich …!«

 

Kapitel 13

 

13

 

Am nächsten Morgen erhielt Terry einen unerwarteten Anruf von Eddie Tanner:

 

»Haben Sie vielleicht Zeit, mich mal aufzusuchen? Es handelt sich um eine rein persönliche Angelegenheit. Ich würde gern nach Scotland Yard kommen, aber ich halte das im Augenblick nicht für ratsam.«

 

Terry folgte der Aufforderung und fand Tanner an dem Schreibtisch, an dem vor kurzem sein Onkel so kaltblütig erschossen worden war.

 

Eddie rauchte eine Zigarette und hatte eine aufgeschlagene Zeitung vor sich liegen. »Eine böse Sache!« meinte er und zeigte auf die fettgedruckten Zeilen. »Sie müssen zur Zeit sicher allerhand zu tun haben in Scotland Yard?«

 

Terry war ihm nicht gerade freundlich gesinnt, aber selbst jetzt konnte er noch nicht glauben, daß Tanner seinen Onkel an dieser Stelle mitleidlos erschossen hatte. »Möchten Sie mit mir über den Feuerüberfall sprechen?«

 

»Nein – das geht mich ja gar nichts an!« Eddie schob die Zeitung zur Seite. »Miss Ranger wird in einer halben Stunde kommen, und ich habe die Absicht, sie zu entlassen.«

 

Tanner wartete, aber Terry machte keine Bemerkung.

 

»Ich habe mir die Sache eingehend überlegt und bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Stellung ziemlich gefährlich für sie ist. Einige Stunden nach dem Tod meines Onkels ist sie von einer Bande verschleppt worden, die wahrscheinlich mit den Mördern unter einer Decke steckt oder sogar mit ihnen identisch ist. Der Schreck über dieses Erlebnis hat sie stark mitgenommen. Allem Anschein nach sind die Leute, die für diese Morde verantwortlich sind«, er tippte auf die Zeitung, »mir nicht sonderlich gut gesinnt. Und ich wünsche nicht, daß Miss Ranger noch einmal in eine so unglückliche Lage kommt. Sie sind ein Freund von ihr – wenigstens sind Sie gut mit ihr bekannt, und ich bitte Sie, mir in dieser Angelegenheit zu helfen.«

 

»In welcher Weise?«

 

Eddie warf den Rest der Zigarette in eine Vase und steckte sich eine neue an. »Die junge Dame wohnt in einer abgelegenen Gegend in einem billigen Quartier und hat kein Telefon. Das halte ich für gefährlich, falls diese Leute glauben, noch wichtige Nachrichten aus ihr herausholen zu können. Deshalb wäre es mir lieb, wenn die junge Dame in einer besseren Gegend im Westen wohnte. Es ist schwierig, ihr diesen Vorschlag zu machen, da ich bereit bin, die Mietzahlung für diese Wohnung zu übernehmen. Sie ist ein hübsches Mädel und wird über dieses Ansinnen natürlich empört sein. Denn ich will nicht nur ihre Miete zahlen, sondern ihr auch die Wohnung einrichten …«

 

»Warum wollen Sie das tun?«

 

Tanner zuckte die Schultern. »Es ist eine verhältnismäßig geringe Ausgabe, und ich wäre dann beruhigt«, erwiderte er lächelnd. »Mit anderen Worten: Ich möchte nicht schuld daran sein, wenn ihr etwas passiert.«

 

»Ein sehr großzügiges Angebot! Ich verstehe Ihren Standpunkt vollkommen – obwohl Sie vielleicht eine Nebenabsicht damit verbinden, die Sie mir verschwiegen haben.«

 

»Nein, Sie irren sich! Ich habe keine Hintergedanken. Ich habe die junge Dame gern – damit ist nicht gesagt, daß ich sie etwa liebe oder näher mit ihr bekannt werden möchte. Sie gehört zu den seltenen Frauen, denen ich unter allen Umständen vertrauen würde; obwohl sie Ihnen gegen meinen Willen eine bestimmte Mitteilung gemacht hat. Aber da die Umstände so außergewöhnlich waren, kann ich das begreifen. Soweit als irgend möglich möchte ich sie vor neuen Zwischenfällen bewahren … Überreden Sie also bitte Miss Ranger, mein Anerbieten anzunehmen!«

 

»Aber ich habe doch keinen Einfluß auf sie!«

 

Wieder glitt ein flüchtiges Lächeln über Eddies Züge. »Meiner Meinung nach haben Sie einen größeren Einfluß auf sie, als Sie selber ahnen. Wollen Sie mir helfen, wenn meine Annahme stimmt?«

 

»Das muß ich mir erst überlegen.« –

 

Als Leslie eine Viertelstunde später erschien, fand sie Eddie Tanner an ihrem Schreibtisch.

 

»Heute habe ich keine Arbeit für Sie«, sagte er vergnügt. »Und ich werfe Sie hiermit in aller Freundschaft hinaus!«

 

Sie sah ihn betroffen an, »Soll das heißen, daß Sie mich nicht mehr brauchen können?«

 

»Nein, es ist noch sehr viel zu tun. Aber ich mußte mich zu diesem Schritt entschließen, weil die Stellung bei mir für Sie zu gefährlich ist.« Er wiederholte nun alles, was er schon Terry gesagt hatte. »Chefinspektor Weston kam auf meine Bitte heute morgen hierher«, erklärte er offen. »Ich bat ihn, Ihnen die Lage in meinem Sinn klarzumachen.«

 

»Aber ich kann doch kein Geld von Ihnen annehmen für –«

 

»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Das habe ich übrigens erwartet: Eine anständige junge Dame kann sich nicht gut eine möblierte Wohnung von einem Herrn einrichten lassen. Ich bin Ihnen jetzt sogar zu Dank verbunden, daß Sie nicht böse und ausfallend gegen mich werden. Doch das, was ich Ihnen gesagt habe, ändert sich dadurch in keiner Weise, Miss Ranger, und Sie würden mir eine große Sorge abnehmen, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingingen. Ich schulde Ihnen sowieso fünfzigtausend Pfund …«

 

»Sie schulden mir fünfzigtausend Pfund?« wiederholte sie verblüfft. Sie hatte sein Versprechen vergessen.

 

Er nickte. »Im Augenblick bin ich nicht in der Lage, Ihnen die Summe zu geben. Es wird verhältnismäßig lange dauern, bis ich das Vermögen meines Onkels in die Hand bekomme.«

 

»Mr. Tanner, Sie wissen genau, was Mr. Weston denkt, und ich fürchte, ich werde der gleichen Ansicht sein müssen. Sie haben das Testament irgendwie an sich gebracht und es nachher absichtlich in das Lexikon gelegt, damit ich es an der betreffenden Stelle finden sollte. Da Sie, meiner Meinung nach, das Testament vor mir gefunden haben, sind Sie von Ihrem Versprechen –«

 

»Nein, durchaus nicht!« unterbrach er sie. »Selbst wenn Westons phantastische Theorie zutreffen sollte. Jedenfalls bin ich aber der Testamentsvollstrecker meines Onkels. Er hat Ihnen tausend Pfund hinterlassen, die ich Ihnen baldigst auszahlen werde. Aber ich möchte Sie bitten, mich auch noch in der angedeuteten Weise für Sie sorgen zu lassen.«

 

Sie schüttelte den Kopf, »Ich hatte sogar die tausend Pfund vergessen«, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. »Diese Summe bedeutet eine beachtliche Unterstützung für mich. Ich verspreche Ihnen auch, in eine andere Gegend zu ziehen, in der ich mich sicherer fühlen kann. Ich hatte beinahe selbst schon den Entschluß gefaßt. Aus dem Nachlaß meiner Mutter besitze ich einige Möbel und kann mir ein gemütliches Heim einrichten. Daß ich Ihr Anerbieten nicht annehmen kann, werden Sie hoffentlich verstehen?«

 

»Ich achte Sie um so mehr!« entgegnete er. Er zahlte ihr für zwei Wochen Gehalt aus, als Ausgleich für die Kündigung.

 

Eine halbe Stunde später war sie bereits in ihrer Wohnung und packte für den Umzug. Sie hatte den ganzen Tag für sich und nahm sich vor, ein paar Einkäufe zu machen, dann in der Stadt zu Mittag zu essen und nachher den Möbelspeicher aufzusuchen, in dem ihre Sachen aus dem Nachlaß der Mutter seit drei Jahren untergebracht waren. Allerdings war dieser Speicher sehr unbequem zu erreichen. Unangenehm, daß sie zu diesem Zweck bis nach Rotherhithe hinausfahren mußte! Aber dann entschloß sie sich, das Unangenehme zuerst zu erledigen, verschob die Einkäufe auf den Nachmittag, nahm ein Taxi und befand sich eine Weile später in der traurigen Umgebung von Rotherhithe.

 

Sie wußte nicht mehr genau, wo der Speicher lag, und ließ deshalb den Chauffeur halten, um einen Polizisten zu fragen.

 

»Zaymens Möbellager?« wiederholte der Beamte und gab dann die genaue Richtung an. »Wollen Sie etwa Ihre Sachen dort abholen? Da kommen Sie gerade noch zur rechten Zeit! Seit einer Woche annonciert die Firma, daß sie das Möbellager auflöst. Der alte Herr ist vor zwei Jahren gestorben, und der junge Zaymen …« Er zuckte die Schultern. »Manche Leute sagen, die Firma wäre bankerott … Aber wie es auch sein mag – stimmen tut die Geschichte nicht!«

 

Nach einiger Zeit fand der Chauffeur den Speicher. Auf dem Grundstück herrschte rege Tätigkeit. Leslie meldete sich im Büro und legte den Empfangsschein für die Möbel und alle Quittungen für die Aufbewahrung vor.

 

Ein Angestellter prüfte die Papiere umständlich. »Na, das langt ja gerade noch«, sagte er. »Morgen sollte das Möbeldepot versteigert werden.«

 

»Das wäre Ihnen schlecht bekommen!« entgegnete Leslie.

 

Gleich darauf erschien ein anderer junger Angestellter, der äußerst liebenswürdig war. Mit seiner Hilfe konnte sie auch ihre Möbel herausfinden, Sie gab den Auftrag, die Sachen abzutransportieren.

 

»Ein Skandal, daß die alte Firma Zaymen so enden muß!« bedauerte der junge Mann. »Aber wahrscheinlich war das Angebot zu verlockend. Die Firma ist eine der bedeutendsten hier am Fluß, hat eine eigene kleine Werft, sehr schöne Kaimauern …«

 

»Ja, ich verstehe. Es ist ein massives Lagerhaus, das man zu vielem verwenden kann.«

 

»Nur der junge Zaymen ist daran schuld!« Er seufzte schwer und erzählte dann, daß Mr. Zaymen leichtsinnig spiele und dadurch in Schulden geraten sei.

 

Leslie beobachtete, wie ihre Möbel auf ein Lastauto geladen wurden, und gab dem Chauffeur die Adresse an, obgleich sie die in Aussicht genommene kleine Wohnung noch nicht fest gemietet hatte. Als sie die Arbeiter bezahlt hatte und gerade gehen wollte, hörte sie zwei Männer, die miteinander sprachen. Es mußten Amerikaner sein.

 

»Man kann dieses Wässerchen doch nicht mit dem Hudson vergleichen! Der ist mindestens sechsmal so breit wie die Themse.«

 

Leslie erkannte die Stimme des Mannes, der sie neulich entführt hatte …! Er machte noch eine Bemerkung über die Farbe des Wassers, und nun war sie ihrer Sache sicher. Unauffällig sah sie sich um, denn sie wünschte nicht, daß die Leute sie wiedererkannten. Sie trugen saubere Pullover, blaue Hosen und Wasserstiefel, die bis zu den Knien reichten.

 

»Wir wollen uns beeilen, Junge! Wenn wir fertig sind, holen wir Jane und Christabel, und dann gehen wir ins Kino!«

 

Der andere lachte rauh und abgerissen. Die beiden mittelgroßen Männer waren schlank und sahen ungewöhnlich aus. Sie gingen an den Arbeitern vorbei, die die Möbel aufluden, und verschwanden hinter einem Lastauto.

 

Leslie ging zu ihrem Wagen zurück und war unschlüssig, was sie tun sollte. Ob sie sich etwa doch täuschte? Eine Amerikanerin hatte ihr einmal gesagt, daß alle englischen Stimmen ihr gleich vorkämen, daß sie aber eine amerikanische Stimme unter Tausenden heraushören könne. Leslie erschien im Augenblick das Gegenteil richtig: Alle amerikanischen Stimmen ähnelten einander, und nur eine rein englische schien ihr deutlich erkennbar.

 

Wer mochte Jane und Christabel sein? Sie dachte darüber nach, als sie in den Wagen stieg und auf dem unebenen Weg zur Hauptstraße zurückfuhr. Als sie dort ankam, mußte ihr Chauffeur halten, um einen Lastwagen vorbeizulassen.

 

Plötzlich hörte sie neben sich das Geräusch eines Motorrads, das unmittelbar neben dem Fenster ihres Autos zum Stehen kam. Der Fahrer stützte sich mit der Hand an den Wagen und sah herein. Es war der Mann, den sie eben hatte sprechen hören. Er sah sie durchdringend an, und sie erwiderte seinen Blick. »Was wollen Sie?« fragte sie. Er murmelte etwas Unverständliches und blieb zurück, als das Taxi wieder anfuhr.

 

Sie suchte sich sein Verhalten zu erklären. Wahrscheinlich hatte er vor dem Speicher ihren Namen gehört, als die Möbel aufgeladen wurden, und war ihr nachgefahren, um sich zu vergewissern, ob sie es auch wirklich sei. In dem Fall war sie also wiedererkannt worden. Was machte der Mann nur auf dem Grundstück am Fluß? Vielleicht war er ein Matrose, auf einem kleineren Handelsdampfer beschäftigt?

 

In der Nähe der Victoria Street wurde ihr Auto durch den Verkehr aufgehalten. Zu ihrem Erstaunen hörte sie plötzlich ihren Namen. Als sie sich umsah, entdeckte sie einen Mann neben dem offenen Fenster.

 

Er hatte ein schmales Gesicht mit auf gezwirbeltem Schnurrbart und zog den Hut besonders höflich.

 

»Sie kennen mich nicht, Miss Ranger, aber ich weiß, wer Sie sind. Ich bin Inspektor Tetley von Scotland Yard, Kollege von Mr. Weston.« Er grinste, als er das sagte. »Was hatten Sie denn in diesem Teil der Welt zu tun?«

 

»Ich habe meine Möbel abtransportieren lassen. Sie waren in einem Speicher untergestellt.«

 

»Wo lag denn der Möbelspeicher? Ach, in Rotherhithe? Eine entsetzliche Gegend! Haben Sie nicht zufällig einen Bekannten dort gesehen?«

 

»Nein. Das hätte ich auch nicht erwartet.«

 

»Ich weiß nicht«, sagte er mit merkwürdiger Betonung und beobachtete sie scharf. »Es ist sonderbar, aber in Rotherhithe trifft man immer Leute, die man vorher mal gesehen hat. Das ist direkt sprichwörtlich.«

 

»Ich kann das nicht bestätigen«, entgegnete sie kühl.

 

Im nächsten Augenblick fuhr ihr Auto an. Sie erinnerte sich nun dunkel, Tetley schon gesehen zu haben: Er war nach Decadons Ermordung ins Haus gekommen. Sie überlegte, ob sie Terry ihr Erlebnis berichten sollte, wurde sich aber nicht schlüssig.

 

Am Cavendish Square stieg sie aus. Auch der Chauffeur verließ seinen Sitz, um sich ein wenig zu bewegen. »Hallo, was ist denn das?« rief er plötzlich.

 

Sie folgte seinem Blick. An den beiden Seitenteilen und an der Rückseite des Wagens waren runde weiße Zettel aufgeklebt.

 

Als der Chauffeur sie abriß, sahen die beiden, daß der Leim noch feucht war. »Das war noch nicht daran, als wir Rotherhithe verließen«, meinte er. »Vielleicht hat dieser Motorradfahrer –«

 

Ein kalter Schauer überlief Leslie.

 

Nachdem sie den Mietvertrag für ihre neue kleine Wohnung abgeschlossen hatte, war sie in größter Versuchung, Terry anzurufen. Sie glaubte jetzt, einige gute Entschuldigungsgründe dafür zu haben.

 

Kapitel 14

 

14

 

Terry Weston kehrte auf schnellstem Weg nach Scotland Yard zurück, um an der geheimen Besprechung teilzunehmen, die am Vormittag abgehalten wurde.

 

Zu jener Zeit war Sir Jonathan Goussie Polizeipräsident von London, ein Mann, der aus der militärischen Laufbahn hervorgegangen war und sich sein ganzes Leben lang nach Vorschriften und Verordnungen gerichtet hatte. Zu dem hohen Posten war er gekommen, weil er es sorgfältig vermied, irgendwie aufzufallen oder eine Verantwortung auf sich zu nehmen. Er war ein nervöser Mensch, der die Kritik der Presse fürchtete. Durch die letzte Entwicklung der Dinge hatte er einigermaßen den Kopf verloren.

 

Sir Jonathan saß am Ende des langen Konferenztisches in einem Armsessel. »Wir befinden uns augenblicklich in einer entsetzlichen Situation!« dozierte er erregt. »Die tüchtigste Polizeitruppe der Welt wird plötzlich von einer Verbrecherbande lahmgelegt und geblufft …«

 

»Was sollen wir denn tun?« fragte Polizeidirektor Wembury, ein Mann von Selbstbeherrschung und Energie.

 

»Ich will nicht sagen, daß wir es an Vorsichtsmaßregeln hätten fehlen lassen«, fuhr Sir Jonathan fort. »Ich bin sicher, daß Tetley alles getan hat, was zu tun war.«

 

»Ja, ich habe alles getan!« bemerkte Tetley unnötigerweise. Er war ein Liebling des höchsten Vorgesetzten, und obwohl er eigentlich kein Recht hatte, an der Sitzung teilzunehmen, hatte Wembury ihn unter diesen Umständen doch zugezogen.

 

»Ich will niemand einen Vorwurf machen«, ergriff der Präsident wieder das Wort, »aber es ist doch allerhand geschehen, was besser unterlassen worden wäre.« Er warf einen mißbilligenden Blick auf Jiggs Allerman. »Amerikanische Methoden mögen in ihrer Art ja ganz gut sein, aber amerikanische Polizeibeamte begreifen eben doch nicht so recht, wie man bei uns in London arbeitet …«

 

»Wie meinen Sie das?« fragte Terry unliebenswürdig. »Captain Allerman hat uns in jeder Weise unterstützt …«

 

»Wir wollen uns hier nicht streiten! Dazu ist keine Zeit. Wir müssen jetzt Maßnahmen treffen, um derart unerhörte Vorfälle in Zukunft zu verhüten. Und ich glaube, daß der Vorschlag Inspektor Tetleys dazu sehr geeignet ist.«

 

Terry und Wembury sahen einander an. Sie hörten zum erstenmal, daß Tetley und der Präsident einen Plan ausgearbeitet hatten. »Ich nehme jede Anregung gern an«, erklärte Wembury, »aber ich weiß nicht, ob es richtig ist, daß Inspektor Tetley bei dieser Geheimsitzung eine so ausschlaggebende Rolle spielt. Was für eine Idee hat er denn?«

 

»Mr. Tetley schlägt vor, eine ansehnliche Geldbelohnung für die Leute auszusetzen, deren Angaben zur Verhaftung der Mörder führen. Diese Belohnung soll nicht, wie gewöhnlich, nur auf Zivilpersonen beschränkt bleiben.«

 

»Ich halte diesen höchst originellen Einfall für wertlos«, erwiderte Wembury kühl. »Wir müssen jeden Erpressungsversuch individuell behandeln, und ich bin davon überzeugt, daß London in Bälde mit diesen gedruckten Drohbriefen überschwemmt wird. Alle reichen Leute werden vermutlich früher oder später vor die Wahl gestellt, zu zahlen oder erschossen zu werden.«

 

»Einer ist heute früh bereits gekommen«, erklärte der Präsident etwas ernüchtert. »Ich habe den Brief in der Tasche.« Er zog ein blaues Blatt Papier heraus. »Das Schreiben wurde einem meiner besten Freunde geschickt – oder vielmehr dem Neffen eines meiner besten Freunde. Er bat mich, selbst meinen Kollegen seinen Namen nicht zu nennen.«

 

Terry sah seinen Vorgesetzten erstaunt an. »Soll das heißen, daß Sie uns den Namen wirklich nicht sagen wollen?«

 

»Ich erkläre, daß ich weder Ihnen noch sonst jemand den Namen verraten werde!« erwiderte der alte Herr steif. »Ich habe am Telefon mein Wort gegeben.«

 

Jiggs lehnte sich zurück und sah zur Decke hinauf.

 

»Werden Sie seinen Namen auch nicht nennen, wenn die Totenschau für ihn abgehalten wird?« fragte er.

 

Der Präsident streifte ihn mit einem finsteren Blick.

 

»Dazu kommt es überhaupt nicht!« versetzte er heftig. »Wenn unsere Polizei ihre Pflicht tut und wenn unser Freund aus Amerika tatsächlich die Methoden unserer Gegner so durchschaut, wie wir bisher angenommen haben –«

 

»Auf mich können Sie sich in jeder Beziehung verlassen!« unterbrach ihn Jiggs.

 

Wembury war bleich vor Ärger. »Ich glaube, Sie wissen nicht, Sir, was Sie da eben gesagt haben! Der Empfänger des Briefes – einerlei, wer es sein mag – muß geschützt werden! Und wir können ihn nicht beschützen, wenn wir ihn nicht kennen. Ich muß darauf bestehen, daß ich seinen Namen und seine Adresse erfahre!«

 

Sir Jonathan Goussie richtete sich auf. Der alte Soldat blitzte Wembury wütend an. »Niemand hat mir hier etwas vorzuschreiben oder auf Forderungen zu bestehen, solange ich meinen Posten innehabe!« erklärte er kategorisch.

 

Terry seufzte. Wenn der Präsident den Offizier herauskehrte, war die Lage hoffnungslos.

 

Kurz darauf wurde die Konferenz aufgehoben. Goussie machte vorher noch eine geheimnisvolle Andeutung, daß er den Tatbestand der Presse bekanntgeben würde.

 

Nach dieser Sitzung fand noch eine Privatbesprechung in Wemburys Büro statt.

 

»Wir müssen unter allen Umständen verhindern, daß eine Mitteilung an die Presse gelangt, bevor wir den Wortlaut gelesen haben«, riet Wembury. »Der Chef ist in solchen Dingen unerfahren, und die Ereignisse der letzten Tage haben ihn aus dem Gleichgewicht geworfen. Ich werde mich direkt an das Innenministerium wenden, obwohl ich damit riskiere, meinen Posten zu verlieren, weil ich hinter dem Rücken meines Vorgesetzten handle.«

 

Aber dazu kam es nicht; denn der Innenminister war nicht in London. Es war allerdings ein Telegramm eingelaufen, daß er in aller Eile in die Hauptstadt zurückkehren wollte. Wembury suchte daraufhin noch einmal um eine vertrauliche Unterredung mit Sir Jonathan nach, wurde aber abschlägig beschieden.

 

Um vier Uhr nachmittags brachten dann die Zeitungen die offizielle Mitteilung des Polizeipräsidenten, die er über Mittag in seinem Klub sorgfältig aufgesetzt hatte:

 

In den letzten Tagen sind in London zwei bedauerliche Verbrechen geschehen. Es sei dahingestellt, ob sie miteinander in Zusammenhang stehen. Wohlhabende Leute wurden in Erpresserbriefen aufgefordert, große Summen zu zahlen, widrigenfalls sie ermordet werden sollten. Es ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß die Ermordung Mr. Salamans auf solche Drohbriefe zurückzuführen ist. Die Schreiber betonen ausdrücklich, daß ihre Opfer ermordet werden, falls sie sich direkt oder indirekt an die Polizei wenden. Trotzdem ersucht der Polizeipräsident alle Leute, die derartige Mitteilungen erhalten, sich sofort mit Scotland Yard in Verbindung zu setzen. Wenn eine bedrohte Person ihren Namen nicht angeben möchte, wird dieser Wunsch berücksichtigt. Es wäre allerdings ratsam, der Polizei Namen und Adresse zu nennen. Der Polizeipräsident ist leider nicht in der Lage, allen Leuten persönliche Sicherheit zu garantieren, aber er versichert, daß alles getan wird, was in den Kräften der Polizei steht, um die Bürger gegen derartige Übergriffe einer Bande zu schützen.

 

Der Aufruf war mit dem Namen und allen Titeln des Polizeipräsidenten unterzeichnet.

 

Jiggs Allermann war der erste, der eine Zeitung nach Scotland Yard brachte. Er eilte damit in Wemburys Büro, wo er auch Terry Weston traf. »Hier – lesen Sie!«

 

Wembury überflog den Absatz. »Zum Donnerwetter«, fluchte er leise. »Sie wissen doch, was das bedeutet? Dieser verrückte alte Kerl erklärt damit der Welt, daß Scotland Yard nicht mehr in der Lage sei, das Leben bedrohter Staatsbürger zu schützen!« Wembury nahm das Blatt hastig auf und stürmte in das Büro des Präsidenten.

 

Sir Jonathan wollte gerade mit Inspektor Tetley das Zimmer verlassen. »Nun, was gibt es denn?« fragte er.

 

»Ist das die Mitteilung, die Sie der Presse zukommen ließen?« erwiderte Wembury scharf.

 

Der alte Herr setzte seinen Klemmer auf und las die Verlautbarung von Anfang bis zu Ende durch, während Wembury sich auf die Zunge biß, um nicht ausfallend zu werden. »Ja, das ist der Text meiner Mitteilung!«

 

»Dann werde ich dies sofort dem Herrn Innenminister vorlegen!« erklärte Wembury energisch. »Sie haben allen Mördern einen Freibrief erteilt – Sie haben diesen Verbrecherbanden klar und deutlich gesagt, daß sie ruhig ihre Pläne ausführen können, da wir nicht in der Lage sind, ihre Opfer zu schützen.«

 

»Ich habe das alles nach reiflicher Überlegung geschrieben«, begann der Präsident, als das Telefon klingelte. »Gehen Sie hin, Tetley, und melden Sie sich!« Er wandte sich wieder an Wembury. »Sie wissen, daß ein derart aufsässiges Benehmen eine schwere Verletzung Ihrer Dienstpflichten ist? Ich muß diese Sache an höchster Stelle melden.«

 

Tetley erschien in der Tür. »Sir, Sie werden persönlich gewünscht!«

 

Goussie begab sich in das Büro. Wembury hörte, daß er kurze, respektvolle Antworten gab, und wußte, daß der Innenminister sprach. Der Präsident wollte eine Erklärung geben, die aber abgeschnitten wurde. Als er wieder herauskam, war er bleich.

 

»Ich gehe zum Innenminister. Wir wollen die Sache bis zu meiner Rückkehr verschieben.«

 

Aber der Polizeipräsident kehrte nicht mehr zurück. Er blieb nur zehn Minuten beim Minister, und die späten Abendausgaben der Zeitungen verkündeten, daß Sir Jonathan Goussie seines Amtes enthoben worden war …

 

Man hat ihm nicht mal die Möglichkeit gegeben, selber seinen Abschied einzureichen«, meinte Terry.

 

»Versteh‘ ich vollkommen«, brummte Jiggs. »Warum hätten sie ihm auch noch diese Annehmlichkeit zubilligen sollen?«

 

Die beiden saßen bei einer Tasse Tee in Terrys Büro. Der Chefinspektor erinnerte sich an die Unterredung, die er am Morgen mit Eddie Tanner gehabt hatte, und erzählte seinem Freund davon.

 

»Möglicherweise war es ernst gemeint?« entgegnete Jiggs. »Eddie ist manchmal merkwürdig großzügig.«

 

Terry schüttelte den Kopf. »Ich kann und kann nicht glauben, daß er seinen Onkel mit Vorbedacht über den Haufen geschossen hat …«

 

»Sie verstehen eben die Mentalität dieser Halunken nicht. Die bewahren immer und überall kaltes Blut – kennen keinerlei Gefühle. Sie behandeln die Menschen, die sie in ein besseres Jenseits befördern, wie die Fleischer ihr Vieh auf dem Chikagoer Schlachthof. Einen Hammel haßt man nicht, wenn man ihn absticht. Hassen Sie etwa eine Mücke, wenn Sie sie totschlagen? Nein. Die Tatsache, daß Decadon sein Onkel und ein hinfälliger Greis war, machte für Eddie nicht den geringsten Unterschied. Wenn die jemand niederknallen, so ist das für sie dasselbe, als ob sie sich den Rock abbürsten oder ihre Krawatte geraderücken.« Er dachte einen Augenblick nach. »Mir ist es ganz klar, daß er die junge Dame aus dem Haus haben will. Die Dienstboten müssen auch gehen. Ich wette, daß er jetzt seine eigenen Leute dort hat. Er kann keine Angestellten brauchen, die er nicht ganz genau kennt.«

 

»Meinen Sie, daß Bandenmitglieder bei ihm wohnen?«

 

»Nein. Das würde uns die Sache zu sehr erleichtern. Er wird Leute nehmen, die nur tagsüber im Haus sind und nachts in ihrer eigenen Wohnung schlafen. Möglich, daß er wieder eine Sekretärin anstellt. Aber wenn Sie an Ort und Stelle nach ihm fragen, dann erhalten Sie sicher die Antwort, er sei eben ausgegangen. Ein paar Elektriker werden sich vielleicht im Haupthaus aufhalten, die Klingelleitungen und dergleichen legen. Die werden häufig dort sein; aber wenn Sie sich nach denen erkundigen, so sind sie gerade zum Essen gegangen … Die einzige, der er nicht gekündigt hat, ist die Köchin.«

 

»Warum das?«

 

»Weil sie an und für sich nicht im Haus wohnt und sich tagsüber im Souterrain aufhält; sie kommt nie nach oben. Außerdem kocht sie gut … Aber ich wollte Ihnen noch etwas über die junge Dame sagen, in die Sie sich verliebt haben …«

 

»Ich habe mich durchaus nicht in sie verliebt!« widersprach Terry entrüstet.

 

»Sie haben aber rote Ohren bekommen! Und das verrät genug … Wie heißt sie doch gleich? Ach ja: Leslie Ranger. Es mag allerhand für sich haben, was Eddie gesagt hat. Immerhin möglich, daß die Burschen sie eines Abends wieder entführen und alles aus ihr herauszuholen trachten, was sie wissen wollen.«

 

»Das heißt, wenn sie es ihnen sagt!«

 

Jiggs lächelte grimmig. »Sie wird es ihnen schon sagen … Sie kennen diese Schurken nicht, Terry. Man spricht manchmal von Menschen, die vor nichts haltmachen; diese Gangster gehören dazu. Wissen Sie nicht, daß man im Mittelalter die Leute gefoltert hat, um sie zum Sprechen zu bringen? Diese Verbrecher können das noch viel besser; und besonders raffinierte Methoden wenden sie an, wenn sich’s um eine Frau handelt … Schade dann um das hübsche Mädel – diese Leslie! Ich hab‘ sie zweimal getroffen; sie ist wirklich sehr schön … Wo steckt nun eigentlich der Alte?«

 

»Meinen Sie den Präsidenten? Der ist nach Haus gegangen. Wembury hat noch mit ihm gesprochen und versucht, den Namen des Bedrohten zu erfahren, aber Goussie hat nur gesagt, er hätte dem Mann den Rat gegeben, sich ruhig zu verhalten und heute abend zum Scotland Yard zu kommen.«

 

Jiggs stöhnte. »Es müssen doch noch andere solche Briefe in London ausgetragen worden sein. Haben Sie was davon gehört?«

 

»Nein, es wurde nichts gemeldet. Übrigens haben alle unsere Wachleute Befehl erhalten, jedes Haus zu melden, in dem man eine brennende Kerze sieht.«

 

»Es wird sich kein Licht zeigen. Es war doch ein blauer Brief!«

 

»Ebensogut können grüne ausgeschickt worden sein«, meinte Terry. Jiggs erhob sich. »Ich ziehe heute in ein anderes Hotel. In mein jetziges Quartier kann man zu leicht eindringen, und wenn einer von diesen Burschen erfährt, daß ich jetzt so intensiv für euch tätig bin, kann ich damit rechnen, daß sie mich außer Gefecht setzen wollen. Wenn in den nächsten Tagen nicht der Versuch gemacht wird, mich niederzuknallen oder mich sonstwie um die Ecke zu bringen, würde ich mich geradezu beleidigt fühlen.«

 

Er verließ Scotland Yard und ging zu Fuß Whitehall hinunter. Er hatte die Hände in den Rocktaschen und eine Zigarre im Mund, die verwegen nach oben ragte. Den Hut hatte er etwas schief aufgesetzt, und so sah er aus wie jemand, der sich seines Lebens freut. Aber jede Hand hielt in der Tasche einen Revolver gepackt, und unter dem nach unten gebogenen Hutrand war ein Spiegel befestigt …

 

Um diese Zeit kehrten die Beamten aus den Ministerien nach Hause zurück, und am Trafalgar Square herrschte ungeheurer Verkehr. An der Ecke überquerte Jiggs die Straße und sprang auf einen Autobus, der nach Westen fuhr. Fünf Minuten später kam er in seinem Hotel an.

 

Er hatte Terry Weston nicht mitgeteilt, daß er seine Wohnung bereits geändert hatte; nur seine neue Telefonnummer war der Zentrale im Präsidium bekannt. Er fuhr zum ersten Stock hinauf, wo seine Räume lagen, schloß die Tür auf, streckte die Hand nach innen und schaltete das Licht an.

 

Im nächsten Augenblick erzitterte der ganze Hotelbau unter einer schweren Explosion, Jiggs wurde zu Boden geschleudert und lag halb bewußtlos unter Putz und Trümmern. Als er sich langsam wieder erhob, schmerzten ihm alle Glieder. Die Tür zu seinem Zimmer hing nur noch in den Angeln, und erstickende Rauchwolken qualmten aus dem Raum. Seine rechte Hand, mit der er das Licht angedreht hatte, war wunderbarerweise unverletzt geblieben; nur ein paar geringfügige Abschürfungen zeigten sich.

 

Das Hotel lag fünf Minuten im Dunkel. Von unten her ertönten Rufe und Stimmengewirr. Laute Gongschläge meldeten Feueralarm.

 

Jiggs leuchtete mit seiner Taschenlampe das Zimmer ab. Alles lag in Trümmern: Teile der Decke waren eingebrochen, die Fenster auf die Straße gestürzt, die Möbel in Stücke gerissen … Er starrte verstört um sich. »Also auch hier Bomben!«

 

Offenbar hätte man die Bombe auf den Tisch gestellt und die Zündung mit dem elektrischen Lichtschalter in Verbindung gebracht. Wäre Jiggs ins Zimmer getreten und hätte erst dann den Schalter gedreht, so wäre auch er in Stücke gerissen worden …

 

Als er den Korridor entlangging, hörte er die Alarmglocken der Feuerwehrwagen. An der Treppe traf er den bleichen Hoteldirektor, der vor Schreck kaum sprechen konnte.

 

»Es war nur eine Bombe«, erklärte Jiggs. »Sehen Sie bitte nach, ob jemand in den anderen Zimmern verletzt worden ist!«

 

Glücklicherweise standen zu dieser Tageszeit fast alle Räume leer. Jiggs‘ Wohnzimmer lag unmittelbar über einer Hotelgarderobe, deren Decke zum Teil eingestürzt war. Wie durch ein Wunder war niemand etwas geschehen.

 

Nachdem die Feuerwehr einen unbedeutenden Brand gelöscht hatte, inspizierte Jiggs sein Schlafzimmer. Die Trennungswände waren vollständig zusammengebrochen. Ein großes Loch zeigte die Stelle an, wo früher der Kleiderschrank gestanden hatte. »Ich brauche nun wenigstens nicht viel zu packen«, sagte er in philosophischer Ruhe.

 

Er versuchte mit Scotland Yard zu telefonieren, aber die Fernsprechleitung funktionierte nicht.

 

Vorm Hotel war eine große Menschenmenge zusammengeströmt, und Ansammlungen waren im Augenblick gefährlich. Jiggs verließ deshalb das Gebäude durch einen hinteren Ausgang und fand auch bald eine Telefonzelle, von der aus er Terry anrief.

 

»Würden Sie einem heimatlosen Chikagoer Polizisten Obdach gewähren, der nur noch einen halbverbrannten Schlafanzug und eine von Pulverdampf geschwärzte Zahnbürste besitzt?«

 

Terry sagte selbstverständlich zu. »Ich komme zum Hotel und hole Sie ab!«

 

»Wählen Sie vorsichtigerweise den Hintereingang!« warnte Jiggs. »Vorm Frontportal lauern innerhalb der Menge sicher ein paar Gangster – mit gezückten Pistolen, um Sie niederzuknallen!«

 

Das war natürlich übertrieben, aber es hätte auch genügt, wenn nur einer der amerikanischen Pistolenhelden auf ihn gewartet hätte.

 

Die beiden fuhren dann mit dem geringen Gepäck, das Jiggs aus dem Schiffbruch gerettet hatte, nach Scotland Yard.

 

»Ich dachte mir schon, daß sie hier auch Bomben verwenden würden«, meinte Allerman unterwegs. »Solch eine Bombe gehört zur Ausrüstung jedes Gangsters.« Schließlich heiterten sich seine Züge wieder auf. »Auf alle Fälle kann man’s als eine Art Kompliment für mich auffassen: Die edlen Herren halten mich für so gefährlich, daß sie mir in erhöhtem Maße ihre Aufmerksamkeit schenken. Wer hat übrigens die Affäre zu bearbeiten?«

 

»Tetley. Der Präsident hat ihn nach Scotland Yard gebracht, damit er bestimmte Spezialfragen erledigt. Er ist ein ganz schlauer Kerl, steht aber in keinem besonders guten Ruf. Er hat mir zu viel Geld, als daß ich damit einverstanden sein könnte. Möglich allerdings, daß er’s auf ehrliche Weise erwarb …«

 

»Das wäre sicher möglich«, erwiderte Jiggs ironisch. »Aber was er jetzt hat, ist wenig im Vergleich zu dem, was er in drei Monaten auf der Bank haben wird … Das heißt: wenn er seinen Mammon in Sicherheit bringen kann! Was ich kaum glaube …«

 

Kapitel 15

 

15

 

Später, am Abend, wurden Teile der Bombe zum Scotland Yard gebracht und von Spezialisten genau untersucht.

 

»Gutes Material!« bemerkte Jiggs. »Vermutlich haben sie irgendwo in London eine Fabrik für Bomben eingerichtet. Diese hier ist allerdings in Amerika hergestellt worden; das werden Ihre Chemiker bei eingehender Untersuchung feststellen.«

 

Inspektor Tetley, der die Bombenstücke gebracht hatte, erstattete einen kurzen, wenig aufschlußreichen Bericht. Es war niemand beobachtet worden, der Allermans Zimmer betreten hätte. Drei Viertelstunden vor der Katastrophe war das Stubenmädchen in den Räumen gewesen und hatte nichts Außergewöhnliches entdeckt. »Hier ist eine Liste aller Hotelgäste!« Tetley legte einen beschriebenen Bogen auf den Tisch. »Wie Sie sehen, hab‘ ich die Namen nach den Stockwerken zusammengestellt. Auf der Etage, in der unser Jiggs …«

 

»Für Sie bin ich immer noch Captain Allerman!«

 

»Verzeihung …! Also: Auf der Etage von Captain Allerman wohnten Lady Kensil und ihre Zofe, ferner Mr. Braydon aus Bradford, der amerikanische Filmschauspieler Charles Lincoln und Mr. Walter Harman mit Familie aus Paris.«

 

Jiggs beugte sich über den Tisch und warf einen Blick auf die Liste. »Mr. John Smith aus Leeds scheinen Sie vergessen zu haben, Inspektor?«

 

Tetley sah ihn unsicher an. »Das ist die Liste, die mir von der Hotelleitung gegeben wurde.«

 

»Ja – und wie steht’s mit diesem John Smith aus Leeds?« beharrte Jiggs. »Ich habe mit dem Hoteldirektor telefoniert und mir die Namen der Leute durchsagen lassen, die auf meinem Stock wohnten. Darunter befand sich auch …«

 

»Das hat er mir nicht gesagt!« entgegnete Tetley schnell.

 

»Das hat er Ihnen nicht nur gesagt, sondern er hat Ihnen sogar ausdrücklich mitgeteilt, daß er diesen Mr. Smith für stark verdächtig hielte, weil der Mann mit einem merkwürdigen Akzent spräche.«

 

Peinliches Schweigen …

 

»Hm – ich besinne mich jetzt«, erwiderte Tetley dann gleichgültig. »Der Hotelier redete derartig konfus über ihn, daß ich’s wohl vergessen haben mag, den Namen aufzuschreiben.« Er nahm einen Bleistift aus der Tasche und holte das Versäumte nach.

 

»Hat er auch darauf hingewiesen«, fuhr Jiggs fort, »daß Mr. John Smith der einzige war, den er seit der Explosion nicht gesehen hat, und daß sich kein Gepäck in seinem Zimmer befand, als es geöffnet wurde?«

 

»Nun?« forschte Wembury, als Tetley mit der Antwort zögerte.

 

»Er hat, glaube ich, mir gegenüber nichts davon erwähnt«, entgegnete der Inspektor kühl. »Möglich, daß er mit Captain Allerman darüber gesprochen hat, aber nicht mit mir. Im übrigen hab‘ ich meine Nachforschungen noch nicht abgeschlossen. Ich dachte, Sie brauchten die Bombenstücke dringend; deshalb kam ich so schnell als möglich her.«

 

»Gut! Dann gehen Sie jetzt!« sagte Wembury kurz. »Und machen Sie sich auf die Suche nach John Smith aus Leeds!«

 

Jiggs wartete, bis sich die Tür hinter dem Inspektor geschlossen hatte. »Ich möchte nichts gegen die Londoner Untersuchungsmethoden sagen – aber mir scheint doch, daß er das hätte melden müssen …«

 

Wembury nickte. »Ich bin ganz Ihrer Ansicht.«

 

»Nehmen wir mal an, es käme jemand in Verdacht –: Wie würde er dann nach den Regeln von Scotland Yard behandelt? Nehmen Sie ihn höflich vor und stellen ein paar Fragen an ihn? Oder gehen Sie etwas handgreiflicher und – hm – wirksamer mit ihm um?«

 

Wemburys Augen blitzten auf. »Wir behandeln solche Leute wie anständige Menschen, Wenn wir allzu peinliche Fragen wegen ihres Vorlebens an sie richten, dann steht nachher ein Mann im Parlament auf und richtet seinerseits ein paar unangenehme Fragen an den Innenminister. Woraufhin der kühne Beamte entlassen wird …«

 

Jiggs nickte. »Wenn Sie einen von der Bande fangen, wird Ihnen hoffentlich klarwerden, mit wem Sie’s zu tun haben. Das sind die ausgekochtesten Verbrecher, die es jemals gab. Ich jedenfalls werde mich nicht an dieses blöde Gesetz halten – und ich hoffe, auch hier in London einen Platz zu finden, wo ich meine Methoden anwenden kann!«

 

Jiggs fuhr dann mit Terry nach Hause und übernachtete in dessen Gastzimmer.

 

Beide hatten einen sehr gesunden Schlaf. Jiggs hörte die Telefonglocke erst, nachdem sie zehn Minuten Stürm geläutet hatte. Als er auf den Gang hinaustrat, erschien auch Terry.

 

»Wieviel Uhr?« fragte Jiggs.

 

»Halb drei.«

 

»Wo ist das Telefon?«

 

»Im nächsten Zimmer!«

 

Terry folgte Jiggs und stand neben ihm, als der Amerikaner den Hörer abnahm.

 

Jiggs hörte eine Zeitlang schweigend zu, dann sah er auf. »Scotland Yard … Der Name des Mannes, den uns der Präsident nicht verraten wollte, ist George Gilsant!«

 

»Woher wissen Sie das?« fragte Terry erstaunt.

 

»Er wurde um Mitternacht am Bahndamm gefunden, und zwar im Pyjama. Die Kerle haben ihm etwas Blei in den Körper gepumpt …«

 

Terry riß ihm den Hörer aus der Hand.

 

»Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen«, erklärte der Beamte am anderen Ende. »Wir erhielten die Nachricht erst vor ein paar Minuten von der Polizei in Hertfordshire. Man hat ihn auf der Böschung neben den Geleisen gefunden … Offenbar hatte er ein Schlafabteil belegt, und zwar im Expreßzug nach Schottland. Eine halbe Stunde nachdem der durchgefahren war, entdeckte der Bahnmeister den Toten …«

 

»Danke!« erwiderte Terry. »Ich komme dann gleich ins Büro!«

 

Jiggs Allerman setzte sich in einen Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. »Der Alte hat ihm natürlich den Rat gegeben, nach Schottland zu fahren!« knurrte er wütend. »Und der Mann hat es auch tatsächlich getan. Wer ist denn eigentlich dieser Gilsant?«

 

Terry konnte Auskunft geben: Sir George Gilsant war ein wohlhabender Gutsbesitzer und Teilhaber an einem Stahlwerk im Norden Englands; er besaß ein Haus in Aberdeen.

 

Jiggs nickte. »Wahrscheinlich wäre er in Sicherheit gewesen, wenn er bis dorthin gekommen wäre«, sagte er zu Terrys Erstaunen. »Der Alte war zwar ein arger Dummkopf, aber wenn es uns gelingen sollte, einen der Bedrohten aus London hinauszubringen – ich meine aufs flache Land –, dann werden wahrscheinlich die Gangster von einer Verfolgung ablassen; das würde sonst zu gefährlich für sie. Die offenen Landchausseen kann man leicht überwachen. Wenn man freilich versucht, die Leute aus London im Zug fortzuschaffen, enden sie bestimmt im Leichenschauhaus. Wir müssen unter allen Umständen die Namen und Adressen der Bedrohten herausbringen, und zwar sofort, wenn solche Briefe sie erreichen. Dann allenfalls könnte man sie vor dem Schlimmsten bewahren; wenigstens läge es im Bereich der Möglichkeit.« Er sah auf die Uhr, die auf dem Kamin tickte. »Ist es schon zu spät für eine Sensation in den Morgenzeitungen?«

 

Terry schüttelte den Kopf. »Nein, die letzten gehen um vier Uhr in die Maschine. Die Geschichte steht bestimmt in den Morgenblättern – daran läßt sich nichts mehr ändern.«

 

Wie sich dann herausstellte, hatte Gilsant sein Haus kurz nach zehn in Begleitung seines Kammerdieners verlassen. Er hatte zwei Schlafabteile für den Zug belegt, der um zehn Uhr dreißig nach Schottland fuhr. Zehn Uhr zehn waren sie am King’s Cross-Bahnhof angekommen. Sir George ging in sein Abteil und schloß sich, wahrscheinlich auf den Rat des Polizeipräsidenten, darin ein.

 

Das Abteil des Dieners lag am Ende des Zuges. Er wartete bis zur Abfahrt, kam dann in das Abteil seines Herrn und war ihm beim Auskleiden behilflich. Fünf Minuten vor elf verließ er es und wartete auf dem Gang, bis Sir George die Tür von innen verschlossen hatte.

 

Eine Tür führte von Sir Georges Abteil zum nächsten Raum; sie war aber fest verschlossen. Dieses Nebenabteil hatte eine ältere Dame auf den Namen Dearborn belegt. Sie war anscheinend sehr krank und konnte sich nur mühsam mit Hilfe einer Krücke bewegen. Eine bejahrte Krankenschwester, die eine Brille trug, begleitete sie.

 

Nach der Entdeckung des Toten hatten, auf telegrafische Benachrichtigung hin, die Stationsbeamten mit Hilfe der Polizei den Zug sorgfältig durchsucht. Das Abteil der alten Dame war leer. Der Schaffner erklärte, sie habe, samt ihrer Krankenschwester, den Wagen in Hitchin verlassen, wo der Zug besonders angehalten worden war.

 

Sir Georges Abteil war von innen verschlossen, ebenso die Verbindungstür. Das Bett zeigte Spuren des Verbrechens, das sich in dem Raum abgespielt hatte. Kissen, Decken, Betttücher und auch die Fensterrahmen wiesen Blutspuren auf. Das Fenster war geschlossen, und die Jalousien waren heruntergelassen. Besonders wurde in dem Bericht noch erwähnt, daß das Reservelaken aus dem Schrank genommen und über das Bett gedeckt war. Die Beamten, die das Abteil betraten, bemerkten deshalb zuerst nichts von dem Verbrechen.

 

Die Eisenbahnbeamten von Hitchin bestätigten, daß dort zwei Frauen den Zug verlassen hatten. Eine große, schwarze Limousine wartete auf die beiden. Der Fahrkartenkontrolleur an der Sperre war erstaunt, daß sie kein Gepäck bei sich hatten.

 

Der Bericht über das Verbrechen war so spät in Scotland Yard eingetroffen, daß es keinen Zweck mehr hatte, Straßensperren zu verhängen. Erst andern Tags erhielt man glaubwürdige Nachrichten über den Verbleib der schwarzen Limousine.

 

Kapitel 16

 

16

 

»Die Sache kommt allmählich in Fluß«, sagte Jiggs am nächsten Morgen. »Ich bin gespannt, was es heute geben wird.«

 

»Glauben Sie denn, daß noch mehr Leute Erpresserbriefe erhalten haben? Und meinen Sie wirklich, daß die davon Betroffenen auf so plumpe Manöver reagiert und Geld bezahlt haben?«

 

»Sicher! Die Bande jedenfalls, die die grünen Formulare ausschickt, handelt psychologisch richtig. Die geforderte Summe ist nicht zu groß; ein- oder zweitausend Pfund sind nicht zwanzig- oder fünfzigtausend. Nach zwei Monaten freilich werden die Leute, die bezahlt haben, natürlich zum zweitenmal zur Ader gelassen. Das ist eine Grundregel bei der Kunst des Erpressens. Einmal zahlt schließlich fast jeder; erst wenn die Geschröpften zehnmal geblecht haben, werden sie aufsässig. Nachdem nun wieder dieser Mord im Zug passiert ist, werden die Drohbriefe wahrscheinlich zu Hunderten in die Stadt hinausflattern … Aber die verdammten Burschen sollen mich trotzdem auf dem Posten finden!«

 

Jiggs Allerman hatte ein paar Helfer an der Hand, die allerdings nicht offiziell im Dienst der Polizei standen, aber doch mehr oder weniger Zubringerdienste leisteten. Der amerikanische Detektiv war ursprünglich nach England gekommen, um an einer internationalen Polizeikonferenz teilzunehmen. Man wollte den Falschspielerbanden und Betrügern beikommen, die planmäßig zwischen den Vereinigten Staaten und Europa hin und her reisten. Jiggs war unterwegs mit allerhand Landsleuten in Fühlung getreten, die Verbindung zu Verbrecherkreisen unterhielten, und von denen bekam er mitunter brauchbare Nachrichten.

 

Zu einem gewissen Joe Lieber, der in einem Hotel an der Euston Road wohnte, lud er sich an diesem Morgen zum Frühstück ein. Lieber war ein untersetzter, etwas korpulenter Herr mit rotem Gesicht und kahlem Kopf. Er hatte Sinn für Humor, aber sein Hauptvorzug bestand darin, daß er über Gangster genau Bescheid wußte.

 

Jiggs trat unangemeldet in sein Zimmer. »Was, Sie schlemmen hier bei Eier und Schinken?« fragte er. »Das bekäme mir auch gut, Joe. Ist irgend etwas los?«

 

Joe Lieber sah ihn ernst an. »Haben Sie die Morgenzeitungen nicht gelesen? Übrigens hatten die Kerle doch gestern eine Bombe in Ihr Zimmer gesetzt … Ob das dieselbe Bande ist, die diesen Sir Sowieso geschnappt hat?«

 

Jiggs nickte. »Für einige von uns wird es in nächster Zeit heiß werden …«

 

»Ich glaube, Mr. Allerman, es wäre besser, Sie betrachteten mich nicht mehr als Informationsquelle …«

 

»Sie haben wohl kalte Füße bekommen?« Jiggs zog sich einen Stuhl heran.

 

»Nein, das gerade nicht – aber sie sollen warm bleiben. Ich hätte nicht gedacht, daß die Kerle hier so scharf ins Zeug gehen. Sie haben es da mit den ausgekochtesten Burschen zu tun!«

 

»Haben Sie jemand gesehen?«

 

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen überhaupt etwas sagen soll; bin eigentlich nie Polizeispitzel gewesen … Aber Eddie Tanner ist hier – und ebenso Kerky Smith. Doch das wissen Sie natürlich schon?«

 

»Ja. Ist Ihnen nicht einer von den weniger Prominenten über den Weg gelaufen?«

 

»Doch: Hick Molasco. Seine Schwester ist mit Kerky verheiratet.«

 

»Sie führt wenigstens seinen Namen. Sonst noch wer?«

 

Joe lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich überlege, ob sich’s lohnt, es Ihnen mitzuteilen. Es sind feige Halunken, die ich zum Teufel wünsche … Aber Sie müssen bedenken, daß ich verheiratet bin und Familie habe!« Er sah sich um. »Schauen Sie doch mal zur Tür hinaus, Jiggs, ob jemand lauscht!«

 

In dem Augenblick trat ein Kellner ein.

 

»Bestellen Sie sich bitte, was Sie wollen!« sagte Joe. Und, als sich die Tür hinter dem Kellner geschlossen hatte: »Ich kann diese schleicherischen Sizilianer nicht leiden … Aber bitte, setzen Sie sich doch wieder!« Er lehnte sich über den Tisch und dämpfte die Stimme. »Können Sie sich noch auf Bomben-Pouliski besinnen, der in Chikago zu zehn Jahren Zuchthaus verknackt wurde?«

 

Jiggs nickte. »Ich kannte ihn, weil er früher zu den Kartenspielern gehörte, die den Atlantik bereisten. Das muß so vor fünfzehn Jahren gewesen sein. Später hörte ich, daß er mit einer Bande in Chikago zusammenarbeitete, und traf ihn dann auch. Als der große Vieharbeiterstreik ausbrach, hatte er ebenfalls seine Hand im Spiel …«

 

»Er hat eine Bombe in das Haus eines Staatsanwalts geworfen; deshalb wurde er doch nachher verurteilt.« Joe sah sich wieder um und flüsterte dann: »Er ist hier!«

 

»In diesem Hotel? Oder in London?«

 

»In London. Eine merkwürdige Sache … Ich sah ihn in einem Laden an der Oxford Street, als er Kleider für seine alte Mutter kaufte. Er hat mich nicht bemerkt; aber ich hörte, wie er mit der Verkäuferin sprach.«

 

»Hat er Sie wirklich nicht erkannt?« Jiggs war ganz Ohr für diese neue Nachricht.

 

»Nein.«

 

»Können Sie sich auf den Laden besinnen?«

 

Joe fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Nein. Es war nicht eigentlich in der Oxford Street, sondern in einer Nebenstraße, wo man billige Kleider kaufen kann. Ich war auch dort, um für meine Frau eine – eine …« Er stockte verlegen.

 

»Kommt es darauf an?« versetzte Jiggs liebenswürdig. »Sie erinnern sich nicht daran, was er gekauft hat?«

 

»Nein. Er hatte seine Wahl noch nicht getroffen, als ich fortging.« Joe konnte dann wenigstens ungefähr beschreiben, wo der Laden lag.

 

»Wo er hier wohnt, wissen Sie nicht?«

 

»Nein!« entgegnete Joe ungeduldig. »Ich hab‘ Ihnen nun alles erzählt, was ich weiß, Mr. Allerman. Und, weiß Gott, ich möchte mit der Sache weiter nichts zu tun haben, denn sie sieht bedenklich gefährlich aus. Gestern die Bombe in Ihrem Hotelzimmer … Es sind gemeine, feige Kerle! Meinen Schwager haben sie seinerzeit auch mit einer Bombe erledigt, weil er nicht in ihre Bande eintreten wollte, und ich bin alles andere als ihr Freund.« Plötzlich fügte er inkonsequent hinzu: »Bomben-Pouliski trug eine Brille, und ein gelbes Taxi mit grünen Rädern wartete draußen …« Er schlug sich mit der Hand auf den Mund. »Das hätt‘ ich nicht sagen sollen!« brummte er ärgerlich. »Es kann auch das Taxi von einem anderen gewesen sein; aber der Wagen wartete, und der Chauffeur hatte ausdrücklich das Schild herumgedreht.«

 

Jiggs kehrte in Terrys Wohnung zurück, rief ihn im Amt an und erzählte kurz, was er gehört hatte – natürlich ohne Liebers Namen zu erwähnen.

 

»Sie haben doch in Scotland Yard eine Abteilung, die die Taxis überwacht? Wär‘ es nicht möglich, herauszubringen, ob es in London ein solches gelbgrünes Monstrum gibt? Dann noch eins, Terry! Melden Sie bitte ein Ferngespräch mit dem Polizeipräsidium in Chikago an! Ich muß mit den Leuten reden … Ich komme dann in Ihr Büro!«

 

Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, als es wieder läutete.

 

»Hallo, sind Sie am Apparat, Jiggs?«

 

Allerman hatte überhaupt noch nicht gesprochen.

 

»Kerky! Können Sie Gedanken lesen? Oder befassen Sie sich mit Fernsehen?«

 

»Nein!« Kerky Smith lachte. »Die Sache ist nicht so geheimnisvoll. Ich versuchte, mit Ihnen in Verbindung zu kommen, und dabei muß etwas in Unordnung geraten sein, so daß ich den letzten Teil Ihres Gesprächs mit Scotland Yard hörte … Alles in Ordnung in Chikago? Niemand krank von unseren Lieblingen?«

 

»Das werde ich bald herausfinden. Woher wissen Sie übrigens, daß ich hier bin?«

 

»Der Telefonist von Scotland Yard hat mir das gesagt. Ich möchte nur fragen, ob Sie nicht im Carlton oder sonst in einem netten Lokal mit mir zu Mittag speisen wollen … Für Sie ist mir nichts zu teuer, Jiggs! Auch wäre es mir lieb, wenn Sie meine Frau kennenlernten.«

 

»Welche meinen Sie denn?«

 

»Na, hören Sie! – So dürfen Sie doch nicht reden! Also: Nehmen Sie meine Einladung an?«

 

»Abgemacht!«

 

Wenn irgend etwas feststand, so war es die Tatsache, daß der Telefonist von Scotland Yard Kerky Smith nicht die Privatnummer von Chefinspektor Weston gegeben hatte.

 

Jiggs machte sich die Mühe, im Präsidium nachzufragen, und seine Vermutung wurde vollauf bestätigt. »Sie scheinen mich also dauernd zu überwachen«, meinte Jiggs nachdenklich. »Sonst hätten sie nicht wissen können, wo ich bin.«

 

Als er von Joe Lieber fortging, hatte er beobachtet, daß der italienische Kellner aus dem nächsten Zimmer herauskam. Er wagte nun einen kühnen Handstreich, ließ sich zwei Beamte geben und begab sich mit ihnen zu dem Hotel in der Euston Road.

 

Joe Lieber war ausgegangen, aber Jiggs sah den Sizilianer, der ihn am Morgen bedient hatte. Der Hoteldirektor war bei der Unterhaltung zugegen, die in Joes Zimmer stattfand.

 

»Ich verhafte diesen Mann, weil er unter Verdacht steht! Bitte, führen Sie einen meiner Beamten zu seinem Zimmer!«

 

Jiggs handelte auf gut Glück, aber er hatte Erfolg. Der Kellner, der sich zuerst gleichgültig gestellt hatte, machte plötzlich einen Fluchtversuch und beging dann eine vom Standpunkt der Polizei aus unverzeihliche Sünde: Er zog nämlich eine Pistole, um auf den Detektiv zu schießen, der ihn festhielt. Jiggs schlug ihm aber die Waffe aus der Hand und ließ ihm dann Handschellen anlegen.

 

In seinem Zimmer fand man einen halbvollendeten Brief, der englisch geschrieben war und ohne Adresse und Datum begann:

 

Jiggs kam und besuchte Joe Lieber. Sie hatten eine lange Unterredung. Joe sagte etwas von Bomben-Pouliski. Ich konnte nichts Genaues hören; sie sprachen sehr leise.

 

Jiggs las den Brief und steckte ihn in die Tasche.

 

»Bringen Sie den Mann nicht nach Scotland Yard, sondern in Mr. Westons Wohnung! Durchsuchen Sie erst seine Taschen – dann nehmen Sie ihm – die Eisen ab! Wir wollen nicht die Aufmerksamkeit der Leute erregen.«

 

Der Detektiv ging Arm in Arm mit seinem Gefangenen und brachte ihn ohne weiteren Zwischenfall in Terrys Wohnung. »Sie beide können draußen warten, während ich mich mal ein bißchen mit dem Mann unterhalte!« sagte Jiggs und sah, daß sich im Blick des Gefangenen Schrecken und Angst zeigten.

 

Die zwei Beamten machten Einwendungen, zogen sich dann aber zurück.

 

»Nun, mein Liebling«, begann Jiggs, »ich habe nicht viel Zeit, die Wahrheit aus Ihnen herauszuholen, aber ich möchte gern erfahren, wohin Sie den Brief schicken wollten.«

 

»Das werde ich Ihnen nicht sagen!«

 

»Haben Sie schon mal vom dritten Grad gehört? Sie werden jetzt gleich erleben, wie er angewandt wird … An wen war der Brief gerichtet?«

 

»Scheren Sie sich zum Teufel!« rief der Italiener leidenschaftlich.

 

Jiggs packte ihn mit einem harten Griff am Kragen.

 

»Wir wollen freundlich, wie Brüder, miteinander reden. Ich möchte Sie nicht unnötig quälen. Aber ich muß wissen, an wen der Brief gerichtet war!«

 

Der Mann zitterte. »Nun gut!« sagte er düster. »An eine junge Dame – namens Leslie Ranger …« Und er nannte, zum Erstaunen des Detektivs, ihre genaue Adresse.

 

»Schicken Sie die Briefe persönlich?«

 

»Nein, ein Junge kommt und holt sie ab.«

 

Jiggs seufzte erleichtert auf. »Ach so! Was für ein Junge ist das? Und wann kommt er?«

 

Der Kellner konnte weiter nichts sagen. Er hatte seine Instruktionen erst am Abend vorher erhalten: ein Landsmann hatte ihm den Namen einer Geheimgesellschaft genannt, und daraufhin hatte er gehorcht.

 

»Eine hübsche kleine Geschichte!« meinte Jiggs. »Nun erklären Sie mir vielleicht noch, warum Sie eine Pistole geladen bei sich tragen und warum Sie den Beamten damit bedrohten, der Sie verhaftete? Wovor fürchteten Sie sich denn?«

 

Zehn Minuten später hatte er den Italiener so weit, daß er alles gestand. Er brachte ihn zum Scotland Yard und berichtete später Wembury über den Fall.

 

»Die Bande hat Vertrauensleute in jedem großen Hotel, und zwar in jedem Stockwerk einen Mann. Dieser Rossi, den ich mir eben vorgenommen habe, kommt aus New Orleans. Es ging ihm dort nicht gut, und er erhielt den Tip, daß er in England viel Geld verdienen könne. Daraufhin meldete er sich bei dem Chef seiner Geheimgesellschaft in New York und bekam sofort eine Anstellung. Die Italiener haben eine Organisation, um Kellner in den einzelnen Ländern auszutauschen. Auf diese Weise kam auch Rossi nach London.«

 

»Wie steht es denn mit seinem Paß?«

 

»Der ist in Ordnung. Wir können ihm nichts vorwerfen; wir können auch nicht nachweisen, daß er mit jemand in Verbindung steht. Er kennt weder Eddie Tanner noch Kerky, noch sonst einen von den Gangstern. Wenn das der Fall wäre, hätte er es verraten; denn er ist kein Held.«

 

Jiggs begab sich dann in Terrys Büro; und er war kaum fünf Minuten dort, als das bestellte Telefongespräch aus Chikago kam.

 

»Ach, Hoppy!« rief er erfreut. »Hier Allerman! Ich spreche von London aus. Können Sie sich auf Bomben-Pouliski besinnen …? Ja, das ist er! Meiner Meinung nach müßte der aber in Joliet im Gefängnis sitzen …«

 

Terry sah, daß sein Freund ein langes Gesicht zog.

 

»So – der ist schon wieder frei? Haben Sie ein gutes Bild von ihm …? Ausgezeichnet! Schicken Sie es als Bildtelegramm herüber! Wann ist er denn aus Joliet entlassen worden …? Was? Nur zwei Jahre gesessen?«

 

Kapitel 17

 

17

 

Terry Weston hatte Inspektor Tetley bei sich, als er zur Totenschau für Sir George Gilsant fuhr. Auf Sonderbefehl wurde sie nicht in Hertford, sondern in London abgehalten.

 

»Das Leben ist eine verdammte Aufeinanderfolge solcher Verhandlungen über Mord und Leichen«, meinte Tetley, zwirbelte seinen Schnurrbart und sah seinen Vorgesetzten erwartungsvoll an.

 

»Wenn Sie wirklich mal einen Witz machen, lache ich auch«, entgegnete Terry übelgelaunt. »Im Augenblick ist es nicht so leicht, mich aufzuheitern.«

 

»Sie nehmen alles viel zu ernst! Dadurch können Sie aber solche Verbrechen auch nicht verhindern. In derartigen Fällen darf man vor allem nicht den Kopf verlieren. Wenn Sir George unserm Rat gefolgt wäre –«

 

»Unter ›uns‹ verstehen Sie wohl den früheren Polizeipräsidenten und sich selbst?«

 

Tetley nickte. »Wir hatten ihm geraten, London im Auto zu verlassen …«

 

»Hat Ihnen denn der Alte den Namen genannt?«

 

»Ja – ich war der einzige, dem er ihn anvertraut hat.«

 

Terry sagte nichts darauf, aber innerlich verwünschte er seinen früheren Chef.

 

Tetley hatte recht, wenn er sagte, daß sie jetzt dauernd solche Verhandlungen vor sich hätten. Die Totenschau für Salaman und die erschossenen Polizisten war verschoben worden. Und auch diesmal zeigte der Vorsitzende keine Lust, sich mit Einzelheiten zu befassen. Nachdem er festgestellt hatte, wer der Tote war, vertagte er den Fall auf zwei Wochen.

 

Terry blieb zurück, um mit ihm Vereinbarungen wegen des nächsten Termins zu treffen. Als er dann das Gebäude verließ, sah er draußen, daß Tetley sehr ernst mit einem Mann sprach, den er, Terry, nicht kannte. Der Fremde hatte aschblonde Haare, ein längliches Gesicht und ein wuchtiges Kinn; seine Erscheinung prägte sich Terry unwillkürlich ein. Wahrend die beiden sich unterhielten, ging ein dritter vorüber und wechselte ein paar Worte mit ihnen. Er hatte eine untersetzte, rundliche Gestalt, trug eine Hornbrille und war sehr elegant gekleidet. Die beiden gingen dann zusammen fort, während Tetley zum Gerichtsgebäude zurückschlenderte.

 

Er war offensichtlich beunruhigt, als er sah, daß Terry ihn beobachtete. »Hallo, Chef, die beiden wollten den nächsten Weg nach Highgate wissen! Und da sie Ausländer zu sein schienen, habe ich sie nach ihren Namen gefragt.«

 

»Ich habe nicht darauf geachtet«, erwiderte Terry und bemerkte, daß Tetley erleichtert aufatmete. »Fahren Sie jetzt bitte zum Scotland Yard! Ich möchte Sie heute abend noch sprechen.«

 

»Ich dachte, wir könnten die Angelegenheit gleich bereden?«

 

»Tun Sie, was ich Ihnen sage!« entgegnete Terry barsch.

 

Kurz vor fünf kam er im Polizeipräsidium an. Er war sehr müde; aber er hatte sich vorgenommen, noch Leslie Ranger aufzusuchen. Er wußte, daß sie an diesem Tag ihre Wohnung wechselte, hatte jedoch ihre neue Adresse noch nicht erfahren.

 

Jiggs Allerman trat ein und sah so frisch und munter aus, als ob er eben aufgestanden wäre.

 

»Das Bild von Bomben-Pouliski ist herübergefunkt worden. Merkwürdig eigentlich, daß ich mich nicht mehr auf sein Gesicht besinnen kann, obwohl ich ihn damals selber verhaftet habe. Dauernd verwechsle ich ihn mit einem anderen.«

 

Kurze Zeit später kam ein Bote mit einem Abzug, der noch ein wenig feucht war.

 

»Ja, das ist der Junge!« rief Jiggs. »Das ist Bomben-Pouliski!«

 

Er reichte das Foto über den Tisch. Terry hielt vor Staunen den Atem an, denn das Bild zeigte den Mann, der am Nachmittag vor dem Gerichtsgebäude mit Tetley gesprochen hatte …

 

Kapitel 18

 

18

 

Es gibt in Scotland Yard eine besondere Abteilung, über die nicht gesprochen wird. Ihre Beamten haben häufig sehr unangenehme Pflichten zu erfüllen. Man könnte schon allein die Tatsache ihres Bestehens als einen Vorwurf gegen die beste Polizeitruppe der Welt betrachten.

 

Der Leiter dieser Abteilung wurde in das Büro von Direktor Wembury befohlen.

 

»Stellen Sie bitte Inspektor Tetley unter schärfste Beobachtung!« ordnete er an. »Sie dürfen ihn weder Tag noch Nacht aus dem Auge lassen! Sein Büro und seine Wohnung müssen durchsucht werden, ohne daß er davon erfährt. Es ist auch möglich, daß er ohne besonderen Befehl verhaftet werden muß, nur auf persönliche Anweisung von mir oder Chef Inspektor Weston oder Captain Allerman.«

 

Der Beamte hatte schon zuviel erstaunliche Dinge gehört, um in diesem Falle überrascht zu sein. »Ich werde mich persönlich um die Angelegenheit kümmern.« –

 

Zwanzig besonders ausgewählte Detektive kamen in Westons Büro und besahen sich Bomben-Pouliskis Bild, um sich dann wieder zu entfernen.

 

Kurz vor Mitternacht ereignete sich in einem der vornehmen Nachtklubs ein merkwürdiger Zwischenfall. Ein vergnügter Herr kam, von einer sehr schönen Dame begleitet, in das Lokal und fragte nach einem Tisch. Er hatte ein rundes Gesicht, trug eine Brille und sprach mit sanftem, südlichem Akzent.

 

Fünf Minuten später setzte sich ein anderer, der, gegen jede Vorschrift des Klubs, nicht im Abendanzug war, dem Fremden gegenüber. »Ich möchte draußen mit Ihnen sprechen«, erklärte er. »Falls Sie die Hand in die Tasche stecken, schieße ich Sie über den Haufen! Verstanden?«

 

»Wer sind Sie denn? Von Scotland Yard? Gut – ich werde Sie begleiten!« Der Herr erhob sich und sagte einige beruhigende Worte zu seiner Begleiterin. In der Halle fragte er nach seinem Mantel.

 

»Es ist ein warmer Abend – Sie brauchen ihn nicht!« sagte der Detektiv.

 

Pouliski bemerkte jetzt, daß etliche entschlossen dreinschauende Leute im Vestibül standen …

 

Ein Telefonanruf aus dem Präsidium erreichte Jiggs, aber er war nicht sehr begeistert darüber. »Gut – ich werde zugegen sein, wenn Sie ihn verhören!«

 

Als Pouliski in Terry Westons Büro trat, sah er Jiggs Allerman, blieb einen Augenblick stehen, riß sich dann aber zusammen und ging zwei Schritte weiter.

 

»Darf ich Ihnen einen Stuhl anbieten?« fragte Jiggs. »Wie geht es Ihnen denn? Wir haben uns ja lange nicht gesehen!«

 

Pouliski betrachtete kritisch den Stuhl, befühlte ihn und ließ sich dann nieder. »Mein Name ist George Adlon Green«, erklärte er würdevoll. »Sie werden das in meinem Paß bestätigt finden. Es muß irgendein Irrtum vorliegen …«

 

»Ganz bestimmt!« erwiderte Jiggs. »Sie sind also George Adlon Green, Graf von Terrytown, Marquis von Michigan und König aller Verbrecher?«

 

Pouliski starrte den Captain frech an und wandte sich dann an Wembury. »Was will dieser Herr?«

 

»Sie haben drei Narben unter der rechten Schulter«, erinnerte Jiggs. »Ich fürchte, die haben Sie nicht wegmassieren können?« Er sah, daß Wembury die Stirn runzelte, und schwieg während des weiteren Verhörs.

 

Zunächst wurde der Paß des Mr. Green untersucht und in Ordnung befunden. Es war bezeichnend, daß er ihn in der Brusttasche seines Smokings trug. Feuerwaffen hatte er nicht bei sich, und auch bei der Befragung machte er keine Fehler.

 

Ja, er erinnerte sich, daß er vor dem Gerichtsgebäude mit jemand gesprochen hatte, er habe nach dem Weg nach Highgate gefragt. Er behauptete, in London niemand zu kennen, und gab an, mit seiner Schwägerin auf einer Erholungsreise zu sein und eine Wohnung in Bloomsbury gemietet zu haben.

 

Der Bahnbeamte, der der älteren Dame in ihr Abteil geholfen hatte, und der Schlafwagenschaffner des Schottland-Expreß warteten im Vorzimmer und wurden hereingerufen. Aber es kam nichts Rechtes dabei heraus. Der Schaffner schien seiner Sache beinahe sicher, aber einen Eid konnte er nicht darauf leisten.

 

Nachdem Pouliski einstweilen abgeführt worden war, hielten die Kriminalisten eine kurze Besprechung ab.

 

»Wir haben kaum genügend Beweismaterial gegen ihn, um ihn festzuhalten«, erklärte Wembury. »Selbst eine etwaige Paßfälschung wäre eine Angelegenheit der amerikanischen Behörden, nicht der unsrigen.«

 

Jiggs sah ihn düster an. »Mr. Wembury, dort drüben sitzt der Mörder von Sir George Gilsant!« sagte er langsam, als ob er jedes Wort abwägen müßte. »Ob sich sein Komplice an der Schießerei beteiligte, ist eine Sache für sich. Pouliski jedenfalls ist ein Mörder und ein Bombenspezialist. Was fangen Sie mit ihm an? Wollen Sie ihn des Landes verweisen?«

 

Wembury schüttelte den Kopf. »Wir können die Wahrheit nicht aus ihm herauspressen. Uns sind die Hände gebunden.«

 

Jiggs dachte nach. »Gut – dann lassen Sie ihn gehen! Aber ich werde ihn nach Hause begleiten … Denn ich dulde auf keinen Fall, daß ein kaltblütiger Mörder ungeschoren Scotland Yard verläßt und sich obendrein ins Fäustchen lacht!«

 

Pouliski wurde wieder hereingebracht.

 

»Wir werden Sie nicht hierbehalten, Mr. Green. Captain Allerman bringt Sie nach Hause.«

 

Der Gefangene wurde bleich. »Ich brauche keine Begleitung!« widersprach er heftig. »Ich traue diesem Menschen nicht!«

 

»Sie werden hübsch brav mit mir kommen, Liebling!« entgegnete Jiggs und nahm ihn am Arm. Terry Westons Wagen wartete in der Nähe des Eingangs. »Können Sie chauffieren, mein Junge?«

 

»Nein!« sagte Green unnötig laut.

 

»Versuchen Sie’s getrost einmal! Sie konnten früher doch ganz gut Auto fahren? Ich setze mich hinter Sie und erzähle Ihnen, wohin Sie fahren sollen.«

 

Terry war den beiden nach unten gefolgt und sah dem Wagen nach, der sich nicht westwärts, sondern in Richtung der City entfernte.

 

Ein zweiter Wagen fuhr in gewisser Entfernung hinterher, und zwar über Whitechapel und Commercial Road bis hinaus nach Epping. Dort hielt das erste Auto eine Stunde lang, und das zweite blieb inzwischen in derselben respektvollen Entfernung.

 

Kurz vor drei Uhr morgens kehrte Jiggs wieder nach London zurück. Er saß nun selber am Steuer, Pouliski auf einem der hinteren Sitze. Vor dem Präsidium ließ Jiggs seinen Begleiter aussteigen und brachte ihn zu Wembury, der noch anwesend war.

 

»Ich glaube, wir lassen den Mann frei«, erklärte Allerman. »Es scheint, daß ich mich geirrt habe.«

 

Terry trat in dem Augenblick ein und blieb erstaunt stehen.

 

»Na schön!« entschied Wembury. »Soll er gehen!«

 

Jiggs begleitete Pouliski auf die Straße und besorgte ein Auto für ihn.

 

Drei Beobachter sahen es … Einer ging zu einer Fernsprechzelle und nannte eine Nummer. »Pouliski hat sich mit der Polizei verständigt«, meldete er. – Kurzes Schweigen auf der Gegenseite. Dann: »Gut! Besorgt es ihm!« –

 

»Zum Teufel, was hat das zu bedeuten?« fragte Wembury, als Jiggs wieder nach oben kam.

 

»Der Kerl ist tatsächlich der Mörder! Ich weiß nicht, wer ihn auf der Fahrt nach Schottland begleitet hat; wahrscheinlich weiß er das selber nicht. Aber er hat nicht nur Gilsant umgebracht, sondern auch die Bombe in mein Hotelzimmer praktiziert …«

 

»Und Sie ließen ihn laufen …?«

 

»Ich habe ihn nicht laufen lassen – ich habe ihm das Todesurteil gesprochen! Den ganzen Weg bis nach Epping hin und zurück bin ich von einem Wagen verfolgt worden, und daraus ziehe ich meine Schlüsse.« –

 

Jiggs behielt recht. Ein Polizist, der auf seinem Patrouillengang durch den Saint-James-Park kam, fand in den frühen Morgenstunden einen Mann, dessen Füße aus dem Gebüsch hervorschauten. Es stellte sich heraus, daß der Mann aus allernächster Nähe erschossen worden war. Nach seinem Paß konnte man ihn als einen Mr. Green identifizieren …

 

Kapitel 1

 

1

 

Eine hübsche junge Dame stieg die Stufen zur Haustür von Berkeley Square Nr. 147 hinauf und klingelte energisch. Ihre ungewöhnliche Größe fiel nicht auf, weil ihre Figur durchaus gut proportioniert war. Ihr Gesicht war hübsch, wenn auch nicht im gewöhnlichen Sinne. Alles an ihr verriet eine Persönlichkeit, die weit über dem Durchschnitt stand.

 

Die Haustür öffnete sich, und ein Diener sah die Dame fragend an.

 

»Kommen Sie wegen der Stellung …?«

 

»Ist der Posten bereits vergeben?«

 

»O nein! Wollen Sie nicht nähertreten?«

 

Er führte sie in ein großes, kühles Zimmer, das sie an den Warteraum eines Arztes erinnerte. Nach fünf Minuten erschien er wieder. »Kommen Sie bitte mit.«

 

Diesmal brachte er sie in die Bibliothek. An den Wänden standen Schränke und Regale, und auf dem Tisch lag eine Menge neuer Bücher.

 

An dem großen Schreibpult saß ein hagerer Herr, der das junge Mädchen über seine Brille hinweg betrachtete.

 

»Nehmen Sie Platz! Wie heißen Sie?«

 

»Leslie Ranger.«

 

»Sie sind wohl die Tochter eines pensionierten Offiziers oder sonst eines vornehmen Herrn?«

 

»Nein. Mein Vater war kaufmännischer Angestellter und arbeitete sich zu Tode, um seine Familie anständig durchzubringen«, erwiderte sie und bemerkte, daß seine Augen aufleuchteten.

 

»Haben Sie Ihre letzte Stellung aufgegeben, weil Ihnen die Arbeitszeit zu lang war?« fragte er barsch.

 

»Ich habe sie aufgegeben, weil der Chef zudringlich wurde …«

 

»Großartig!« erwiderte er ironisch. »Wie ich aus Ihren Zeugnissen sehe, stenographieren Sie unglaublich schnell; und die Handelskammer bestätigt hier, daß Sie vorzüglich maschineschreiben können. Dort steht eine!« Er deutete mit seinem dürren Finger darauf. »Setzen Sie sich und schreiben Sie nach meinem Diktat! Papier liegt auf dem Tisch, Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten – und nervös brauchen Sie auch nicht zu sein!«

 

Sie spannte ein Blatt in die Maschine und wartete. Gleich darauf begann er außergewöhnlich rasch zu diktieren. Die Tasten klapperten unter ihren flinken Fingern.

 

»Sie sprechen zu schnell für mich«, sagte sie schließlich.

 

»Das weiß ich. Kommen Sie wieder hierher!« Er zeigte auf den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand. »Welches Gehalt beanspruchen Sie?«

 

»Fünf Pfund die Woche.«

 

»Ich habe bisher nie mehr als drei gezahlt. Ich werde Ihnen vier geben.«

 

Sie erhob sich und griff nach ihrer Handtasche. »Es tut mir leid.«

 

»Also gut: fünf Pfund! Welche fremden Sprachen beherrschen Sie?«

 

»Ich spreche fließend Französisch, und ich kann Deutsch lesen.«

 

Er schob die Unterlippe vor, was sein Gesicht noch abstoßender machte. »Fünf Pfund sind eine Menge Geld …«

 

»Französisch und Deutsch sind eine Menge Sprachen!« entgegnete Leslie.

 

»Wollen Sie sonst noch etwas wissen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nichts über Ihre Pflichten und über die Arbeitszeit?«

 

»Nein. Ich nehme als selbstverständlich an, daß ich nicht hier im Haus wohne.«

 

»Sie wollen also nicht einmal wissen, wie lange Sie zu tun haben? Sie enttäuschen mich nicht. Hätten Sie nämlich danach gefragt, so hätte ich Sie sofort zum Teufel gejagt. Also: Sie sind engagiert! Hier ist Ihr Arbeitszimmer!«

 

Mr. Elijah Decadon erhob sich, ging zu einer Nische des großen Raums und öffnete eine zurückliegende Tür, die in ein kleines Büro führte. Es war vorzüglich ausgestattet. Ein großer Schreibtisch stand darin, eine Schreibmaschine und in einer Ecke ein großer Safe.

 

»Morgen früh um zehn treten Sie Ihre Stellung bei mir an! Vor allem haben Sie die Aufgabe, niemand, wer es auch sein möge, telefonisch mit mir zu verbinden. Sie müssen die Leute selbst abfertigen. Ich will nicht durch unnötige Fragen gestört werden. Ferner haben Sie meine Briefe zur Post zu befördern. Und dann noch eins: Sie dürfen meinem Neffen nichts von meinen Geschäften erzählen!« Mit einer Handbewegung zur Tür entließ er sie.

 

Sie folgte der Aufforderung und hatte die Türklinke schon halb heruntergedrückt, als er sie zurückrief:

 

»Haben Sie einen Freund, einen Verlobten oder so etwas Ähnliches?«

 

Sie schüttelte den Kopf. »Halten Sie das für notwendig?«

 

»Nein – im Gegenteil!« erwiderte er nachdrücklich.

 

 

Am nächsten Morgen traf sie Mr. Edwin Tanner, den Neffen ihres Chefs, vor dem dieser sie gewarnt hatte. Er machte einen ruhigen, sympathischen Eindruck und hatte angenehme Umgangsformen. Sein Gesicht war glattrasiert; er lächelte gern und trug eine Goldbrille. Leslie schätzte ihn auf fünfunddreißig Jahre.

 

Kurz nach ihrer Ankunft trat er in ihr Privatbüro und strahlte sie freundlich an. »Ich möchte mich Ihnen vorstellen, Miss Ranger. Ich bin Edwin Tanner, Mr. Decadons Neffe.«

 

Sie war etwas verwundert über den amerikanischen Akzent, mit dem er sprach. Er schien ihr Erstaunen als selbstverständlich vorauszusetzen: »Ja, ich bin Amerikaner. Meine Mutter war Elijah Decadons Schwester. Ich vermute, daß er Ihnen verboten hat, mit mir über seine Geschäfte zu sprechen. Das tut er gewöhnlich. Aber da es hier nichts gibt, was nicht alle Leute wüßten, brauchen Sie diese Bemerkung nicht sehr ernst zu nehmen! Ich glaube nicht, daß Sie mich brauchen. Aber falls es doch einmal nötig werden sollte: Ich bewohne das kleine Appartement im oberen Geschoß, und es gehört zu Ihren Pflichten, an jedem Sonnabendmorgen für meinen Onkel die Miete bei mir einzukassieren. Ich wohne sehr nett, aber ich muß feststellen, daß Mr. Decadon durchaus kein Menschenfreund ist. Auf der anderen Seite hat er allerdings auch viele angenehme Charakterzüge.«

 

Auch Leslie konnte das in den nächsten Monaten feststellen. Seinen Neffen erwähnte Decadon äußerst selten, und nur einmal hatte sie die beiden zusammen gesehen. Sie wunderte sich, warum Tanner überhaupt im Hause seines Onkels wohnte. Allem Anschein nach hatte er ein eigenes großes Privateinkommen und hätte sich eine Reihe von Zimmern in einem guten Londoner Hotel leisten können.

 

Decadon drückte auch selbst einmal seine Verwunderung darüber aus, aber er war sparsam, um nicht zu sagen geizig, und deshalb kündigte er dem Neffen nicht, obwohl er keinerlei Zuneigung für ihn zu fühlen schien. Er war argwöhnisch Edwin Tanner gegenüber, der offenbar jedes Jahr zweimal England besuchte und dann bei ihm wohnte.

 

»Er ist der einzige Verwandte, den ich habe«, brummte der Alte eines Tages. »Wenn er ein bißchen Verstand hätte, würde er sich von mir fernhalten.«

 

»Er scheint doch einen sehr verträglichen Charakter zu haben?« entgegnete Leslie.

 

»Wie können Sie das sagen, wenn er mich die ganze Zeit ärgert?« fuhr er sie an.

 

Elijah Decadon hatte seine Sekretärin vom ersten Augenblick an gern gehabt. Edwin Tanner verhielt sich ihr gegenüber objektiv. Er blieb stets gleichmäßig freundlich und zuvorkommend. Trotzdem hatte sie den Eindruck, daß ihr eine Seite seines Wesens vollkommen verhüllt blieb. Der alte Decadon bezeichnete ihn einmal als einen leichtsinnigen Spieler und Spekulanten, ließ sich aber nicht näher darüber aus. Es war merkwürdig, daß er das sagte; denn er selbst hatte sein großes Vermögen durch Spekulationen erworben, die alle mehr oder weniger gewagt, ja leichtsinnig gewesen waren.

 

Der ganze Haushalt hatte etwas Ungewöhnliches, und Leslie war dankbar, daß sie behaglich in einer eigenen Wohnung leben konnte. Decadon hatte unerwartet ihr an und für sich schon hohes Gehalt nach einer Woche verdoppelt.

 

Sie machte einige seltsame Erfahrungen. Decadon war etwas unachtsam und verlegte oder verlor häufig Gegenstände. Manchmal waren es kostbare Bücher, manchmal Wertpapiere oder Verträge. In solchen Fällen benachrichtigte er sofort die Polizei. Und stets fanden sich die Gegenstände wieder, bevor die Beamten erschienen.

 

Als Leslie das zum erstenmal miterlebte, erschrak sie sehr. Ein seltenes unheimlich wertvolles Manuskript war verschwunden. Während sie eifrig in allen Schubladen suchte, telefonierte Decadon schon mit Scotland Yard. Kurz darauf kam der noch sehr junge, hübsche Chefinspektor Terry Weston. Wie gewöhnlich, hatte sich das verlorene Manuskript inzwischen in dem großen Safe in Leslies Büro gefunden.

 

»Mr. Decadon«, bemerkte Terry freundlich. »Diese Marotte von Ihnen kostet den Staat eine Menge Geld!«

 

»Wozu haben wir denn überhaupt eine Polizei?« fragte der alte Mann brummig.

 

»Jedenfalls nicht dazu, um vergeßlichen Leuten verlorene Dinge suchen zu helfen.«

 

Decadon räusperte sich ärgerlich und ging in sein Wohnzimmer, wo er den Rest des Tages in einer recht unfreundlichen Stimmung zubrachte.

 

»Ihnen kommt das alles sicher komisch vor, Miss?«

 

»Ja, Mister –«

 

»Chefinspektor Weston – Terry Weston. Ich wage nicht vorzuschlagen, daß Sie mich ›Terry‹ nennen.«

 

Sie lächelte, sein ungezwungen heiteres Wesen wirkte ansteckend. Niemals hätte sie sich einen Polizeibeamten so menschlich und freundlich vorgestellt.

 

Auch er interessierte sich von Anfang an lebhaft für sie und traf sie natürlich wieder. Sie nahm ihr Mittagessen gewöhnlich in einem kleinen Restaurant in der Bond Street ein. Eines Tages erschien er in diesem Lokal und nahm ihr gegenüber Platz. Die Begegnung war nicht zufällig, wenigstens nicht von seiner Seite aus. Im Gegenteil, er hatte alles sehr genau ausgekundschaftet.

 

Ein andermal sah er sie, als sie auf dem Heimweg war. Aber er war klug genug, sie niemals ins Theater einzuladen oder ihr zu zeigen, wie sehr er sich für sie interessierte. Er wußte, daß sie sich dann sofort zurückziehen würde.

 

»Warum arbeiten Sie eigentlich für den alten Griesgram?« fragte er einmal.

 

»Er ist doch kein Griesgram!« verteidigte sie Mr. Decadon, aber ihre Worte klangen nicht besonders überzeugt, besonders, da sie sich an diesem Tag mehr als einmal über ihren Chef geärgert hatte.

 

»Ist Edwin Tanner ein netter Kerl?«

 

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Warum stellen Sie dieses Verhör an?«

 

»Ach, habe ich das getan? Das tut mir leid. Mein Beruf bringt das mit sich. Ich interessiere mich nicht besonders für Mr. Tanner.«

 

Leslie hatte im allgemeinen eigentlich wenig zu tun: es waren nur ein paar Briefe zu schreiben, ein paar Bücher zu lesen und über den Inhalt zu berichten. Der alte Decadon war ein großer Bücherfreund und verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek.

 

Der zweite ungewöhnliche Vorfall, den Leslie in ihrer neuen Stellung erlebte, ereignete sich, nachdem sie ungefähr vier Monate für Decadon tätig war. Sie hatte einige Briefe auf der Post einschreiben lassen und wollte eben wieder zur Haustür hineingehen, als ein Mann sie ansprach. Er war klein und trug einen großen, steifen Filzhut; den Rockkragen hatte er hochgeschlagen, es regnete.

 

»Wollen Sie Ed diesen Brief geben?« fragte er mit amerikanischem Akzent und zog ein Kuvert aus der Tasche.

 

»Meinen Sie Mr. Tanner?«

 

»Ja: Ed Tanner.« Er nickte. »Sagen Sie ihm, er komme vom ›Großen‹!«

 

Sie mußte über seine Worte lächeln. Als sie aber im Lift zum obersten Stock hinauffuhr, wo Edwin Tanner wohnte, zeigte sich dieser nicht im mindesten überrascht.

 

»Vom ›Großen‹?« wiederholte er nachdenklich. »Wer hat Ihnen denn den Brief gegeben? War es ein kleiner Mann etwa so groß?«

 

Er legte anscheinend Wert auf eine genaue Beschreibung des Boten. Sie erzählte ihm alles, worauf sie sich besinnen konnte, und erwähnte auch den merkwürdigen steifen Hut.

 

»Ach, seh’n Sie mal an!« entgegnete Tanner. »Ich danke Ihnen vielmals, Miss Ranger!«

 

Kapitel 10

 

10

 

Mr. George Jerrington, Seniorchef der bekannten Rechtsanwaltsfirma, hatte sich eine Woche vor Decadons Ermordung einer Blinddarmoperation unterziehen müssen und lag in einem Krankenhaus. Als er sich wieder soweit erholt hatte, daß er seine Privatkorrespondenz durchsehen konnte, ließ er seinen Bürovorsteher bitten, ihm die dringendste Post zu schicken.

 

»Es ist wohl das beste, wenn Sie die Briefe persönlich hinbringen«, riet Jerringtons Juniorpartner dem Bürovorsteher. »Wer war vor einer halben Stunde in Ihrem Büro?«

 

»Der Neffe Mr. Decadons – Mr. Edwin Tanner.«

 

»Ein glücklicher junger Mann! Soviel ich weiß, ist Decadon gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen?«

 

»Ja, ich glaube.«

 

»Was wollte Tanner von Ihnen?«

 

»Er kam wegen der Erbschaft. Ich fragte ihn, ob er mit Ihnen sprechen wolle; aber als er erfuhr, daß Mr. Jerrington krank wäre, erklärte er, er werde noch warten. Er erzählte mir auch, daß er Mr. Jerrington einen dringenden persönlichen Brief geschickt hätte. Ich sagte ihm darauf, Mr. Jerrington würde heute wahrscheinlich schon in der Lage sein, den Brief zu lesen. Ich hätte ihm die dringende Post zu bringen.«

 

Und das geschah denn auch. Das Krankenhaus lag in Putney. Der Bürovorsteher fuhr mit einem Autobus dorthin und kam gegen sechs Uhr in der Gegend an. Den Rest des Weges wollte er zu Fuß zurücklegen. Im allgemeinen war es um diese Zeit noch hell, aber von Südwesten her zogen schwere Wolken am Himmel auf, und es sah so aus, als ob Regen drohe. Die meisten Autos, die an ihm vorüberfuhren hatten bereits die Scheinwerfer eingeschaltet.

 

Er hatte gerade den höchsten Punkt der Straße erreicht und wollte nach links abbiegen, als plötzlich ein Auto neben ihm hielt. »Sie sind von der Firma Jerrington?« fragte der Mann, der heraussprang.

 

Der Bürovorsteher bejahte die Frage.

 

»Dann geben Sie mir die Briefschaften!«

 

Zu seinem Schrecken sah sich der Angestellte durch eine Pistole bedroht. Später gab er an, er habe sich heftig gewehrt; aber aller Wahrscheinlichkeit nach überreichte er ohne weiteren Widerspruch dem Mann den Postbeutel. Der Fremde sprang wieder in den Wagen und fuhr davon.

 

All das ereignete sich so plötzlich, daß der Bürovorsteher nicht einmal daran dachte, sich die Nummer des Wagens zu merken. Das hätte auch wenig genützt; denn bald darauf wurde ein gestohlenes Auto in der Gegend gefunden.

 

Der Bericht von dem Briefdiebstahl wurde nach Scotland Yard gemeldet, erreichte aber Terry Weston nicht.

 

Der Chefinspektor wollte gerade zu Mr. Salaman gehen und dem jungen Mann Verhaltungsmaßregeln erteilen, als Leslie anläutete und ihm mitteilte, was hinsichtlich des Testaments festgestellt worden war.

 

»Ich habe ein böses Gewissen, weil ich Sie nicht schon vorher anrief …«

 

»Das ist allerdings eine wichtige Neuigkeit. Ich werde sofort mit den Rechtsanwälten telefonieren!«

 

Aber das Büro war bereits geschlossen, und er bekam keine Antwort. Erst als er in Salamans Wohnung angekommen war, erhielt er telefonisch die Nachricht von dem Diebstahl der Briefe.

 

»Der Bürovorsteher ist also unterwegs angehalten und beraubt worden? Verdammt schnelle Arbeit …! Er soll bitte nach Scotland Yard kommen! Ich will ihn bei meiner Rückkehr verhören.«

 

Kurz darauf klingelte der Fernsprecher abermals. Terry saß mit Salaman in dessen luxuriös ausgestattetem Arbeitszimmer. Die schwüle Pracht des Raums war ihm zuwider, und der Mann selber gefiel ihm noch weniger. Er winkte Salaman, und der nahm den Hörer auf. Terry wartete und hörte zu.

 

»Ja, ich habe das Licht ins Fenster gestellt – Sie haben es gesehen. Wo soll ich Sie treffen?«

 

Es war vorher vereinbart worden, daß er jedes Wort wiederholen sollte, das der andere ihm sagte.

 

»Morgen abend um zehn, am Ende der Park Lane, fünfundzwanzig Schritt von der Ecke Marble Arch entfernt? Ja, ich habe alles verstanden … Ein Mann kommt mir entgegen, der eine rote Blume im Knopfloch trägt? Und ihm soll ich den Briefumschlag überreichen? Bestimmt – ich komme …! Nein, durchaus nicht!« Er hängte den Hörer an und lächelte. »Jetzt haben wir ihn!«

 

Terry teilte seine Begeisterung nicht und machte kein Hehl daraus.

 

Kapitel 11

 

11

 

Die Polizei hatte das Haus geräumt, als Leslie am nächsten Morgen zum Berkeley Square kam, und sie fühlte sich ein wenig erleichtert. Es war ihr sehr unangenehm gewesen, daß sie unter Aufsicht der Beamten hatte arbeiten müssen. Sie machte sich nun daran, alle Akten in Ordnung zu bringen.

 

Nachdem sie sich eine halbe Stunde damit beschäftigt hatte, kam Eddie zu ihr. »Nun, Sie haben wohl bis jetzt noch kein Glück gehabt?«

 

»Ich bin sicher, daß das Testament an Mr. Jerrington geschickt worden ist, wenn Sie das meinen. Haben Sie sich schon mit den Rechtsanwälten in Verbindung gesetzt?«

 

»Ja, ich war dort; aber Jerrington liegt im Krankenhaus, und gestern ist anscheinend seine ganze Privatkorrespondenz gestohlen worden. Am hellichten Tag hat ein Räuber den Bürovorsteher überfallen und ausgeplündert. Ich las es in der Zeitung.«

 

Sie sah ihn bestürzt an. »Wie unangenehm für Sie!«

 

»Ja – leider«, erwiderte er mit einem undurchdringlichen Lächeln. »In England scheinen sonderbare Zustände einzureißen. Früher wäre so etwas kaum möglich gewesen.« Er sah sich um. »Ich glaube, da kommt unser gemeinsamer Freund Weston!«

 

Eddie hatte mit seinen scharfen Ohren das Läuten der Hausglocke gehört und ging zur Tür, um Danes abzufangen, der öffnen wollte. »Wenn es Mr. Weston sein sollte, so bringen Sie ihn bitte hierher!«

 

Er wandte sich wieder an Leslie. »Er hat sich telefonisch angemeldet. Hoffentlich ist er nicht von Allermans verrückten Ideen angesteckt! Ah, guten Morgen, Inspektor!«

 

»Guten Morgen!« Terry zeigte eine etwas frostige Liebenswürdigkeit, die Leslie wenig behagte. Er reichte ihr die Hand zum Gruß – eine Formalität, die er Eddie Tanner gegenüber vergaß.

 

»Wir sprachen gerade über den Diebstahl der Privatbriefe Mr. Jerringtons«, erklärte Eddie.

 

»Darüber wollte ich auch mit Ihnen reden!« Terry sah ihn scharf an. »Ein ungewöhnlicher Vorfall – besonders unter den gegenwärtigen Umständen …«

 

Eddie fuhr sich mit der Hand übers Haar und runzelte die Stirn. »Ich kenne nicht alle näheren Umstände, aber es war, in der Tat, ein sehr unglücklicher Zufall …«

 

»Sie haben doch am Nachmittag noch das Büro der Rechtsanwälte aufgesucht?«

 

Tanner nickte. »Selbstverständlich. Jerrington ist ja mein Rechtsbeistand – oder war wenigstens der meines Onkels. Es sind viele Dinge aufzuklären. Vor allem war mein Onkel stark an einem Ölfeld in einer gewissen Stadt Tacan interessiert. Soviel ich weiß, liegt sie in Oklahoma.« Er sah zu Leslie hinüber. »Haben Sie vielleicht etwas davon gehört?«

 

»Nein, ich habe von Mr. Decadons Kapitalanlagen nur wenig erfahren.«

 

»Ich möchte gern wissen, ob dieses Tacan wirklich existiert …« Diese Angelegenheit schien Tanner mehr zu beschäftigen als Jerringtons gestohlene Privatbriefe.

 

»Das ist im Augenblick wohl nicht so wichtig«, brummte Terry. Dann sah er plötzlich das wahre Gesicht Eddie Tanners, der ihn mit eisigen Blicken anstarrte. Es lag weder Ärger noch Vorwurf darin, aber noch nie hatte er eine so tödliche Kälte in den Augen eines Mannes gesehen.

 

»Für mich ist die Sache wichtig!« erklärte Eddie kühl.

 

Leslie fühlte die unausgesprochene Feindschaft zwischen den beiden und suchte zu vermitteln. »Ich kann Ihnen leicht sagen, wo Tacan liegt, Mr. Tanner. Wir haben ein gutes Lexikon.« Sie ging in die Bibliothek und nahm ein großes Buch vom. Regal. Als sie es öffnete, fiel ein Schriftstück auf den Boden. Sie bückte sich, nahm es auf, stieß einen kleinen Schrei aus und eilte ins Büro zurück. »Sehen Sie her!« rief sie. »Das Testament!«

 

Terry riß es ihr erregt aus der Hand.

 

»Geben Sie her. Wo haben Sie es gefunden?«

 

»In dem Lexikon, das ich aufschlagen wollte!«

 

Terry las schnell das Dokument durch, das nur aus wenigen Zeilen bestand.

 

 

Ich, Elija Decadon, erkläre bei klarem Verstand, daß dies mein letzter Wille und mein Testament ist. Ich überlasse all mein Besitztum nach meinem Tode ohne Einschränkung Edwin Charles Tanner, dem Sohn meiner Schwester Elisabeth, geb. Decadon, und ich hoffe, daß er das Vermögen gut verwalten und anwenden möge – besser, als ich fürchte.

 

 

Das Blatt war in Decadons charakteristischer Handschrift unterschrieben. Darunter standen die Namen und Adressen der drei Zeugen. Leslies Name war ausgestrichen; der Alte hatte die Anfangsbuchstaben seines Namens danebengesetzt. »Seltsam, daß Miss Ranger gerade in diesem Augenblick das Lexikon aufschlagen mußte!« sagte Terry langsam. »Ich nehme an, daß Sie das Testament Ihren Anwälten schicken wollen, damit es nicht verlorengeht?« Er überreichte Eddie das Dokument. »Ich gratuliere Ihnen, Mr. Tanner! Es war also überhaupt nicht notwendig, dieses Papier, zu vernichten. Es muß eine große Überraschung für Sie gewesen sein.«

 

Eddie erwiderte nichts darauf.

 

Danes aber, der ihn aus dem Zimmer kommen sah, nahm an, daß sich sein neuer Herr über irgend etwas amüsiere …