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Miß Mabel gehörte nicht zu den Mädchen, die sich vor Gewitter fürchten. Während ihre empfindlichere Schwester sich im Kohlenkeller versteckt hatte, strickte sie eifrig im Wohnzimmer, wobei sie Joan ihr merkwürdiges Abenteuer von heute morgen erzählte.

 

»Mancher würde sagen, er sei alt – aber ich behaupte, daß er eine männlich markante Erscheinung ist. Auch ist er ungeheuer reich, liebe Joan.«

 

Mabel war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt. Sie hatte eine gedrungene Gestalt und war gerade nicht sehr beliebt bei den hübschen jungen Leuten, die mit ihr tanzten, Tennis spielten und manchmal mit ihr zu Abend speisten. Alle vermieden ängstlich die eine für sie so wichtige Frage zu stellen. Zweimal hatte sie allerdings Heiratsanträge gehabt. Einmal war es ein unmöglicher junger Mann, dem sie auf einem Ball vorgestellt worden war, und von dem sich später herausstellte, daß er ein Schauspieler war, der ganz kleine Nebenrollen in einem Operettentheater im Westen spielte. Der andere war ein Geschäftsfreund ihres Vaters, der gerade noch tiefe Trauer um seine zweite Frau trug, als er schon schüchtern bei ihr anfragte, ob sie seine dritte werden wollte.

 

»Ich liebe die Männer, die sich ausgetobt und sich ihre Hörner abgestoßen haben, Joan«, sagte Mabel überzeugt. Sie schloß schnell die Augen, als ein greller Blitz sie blendete. »Willst du die Güte haben, die Vorhänge zuzuziehen?«

 

Joan hatte noch nie erfahren, daß sie so liebenswürdig sein konnte und war neugierig, wer der Fremde sein mochte, der einen so tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte.

 

»Jungen Männern kann man niemals trauen, sie sind zu oberflächlich, aber reife Männer … und außerdem ist er doch so unheimlich reich. Er erzählte mir, daß er versucht, das große Besitztum von Lord Knowesley zu kaufen. Auch steht er in Unterhandlung wegen eines Hauses in der Parc Lane. Er hat drei Rolls Roice-Wagen, meine Liebe – denke dir, gleich drei!«

 

»Aber wer ist es denn, Mabel?«

 

Darauf konnte sie nicht antworten, denn in ihrer mädchenhaften Bescheidenheit hatte sie nicht gewagt, so weit in seine Privatverhältnisse einzudringen und ihn nach seinem Namen zu fragen.

 

»Er muß hier irgendwo in der Nachbarschaft wohnen. Ich denke, daß er ein Haus in Sunningdale gemietet hat.«

 

»Wie alt ist er denn?«

 

Mabel dachte nach. »Ungefähr fünfzig«, sagte sie dann und strafte damit die Behauptung Mr. Brays Lügen. »Das ist aber ein böser Sturm. Gehe bitte in den Kohlenkeller, Joan, und sieh mal nach, wie es dem dummen Kind unten geht.«

 

Joan fand das »dumme Kind« in einem Korbstuhl sitzen. Letty hatte sich eine Zeitung über den Kopf gelegt. Sie lehnte es ab, vernünftig zu werden und nach oben zu kommen.

 

Als Joan in das Wohnzimmer zurückkehrte, empfing sie Mabel mit einer merkwürdigen Frage.

 

»Hat dein entsetzlicher junger Freund Besuch bekommen?«

 

Im ersten Augenblick verstand Joan nicht, was Mabel wollte. In ihren Gedanken hatte sie Clifford Lynne nie so genannt.

 

»Junger Freund? Du meinst Mr. Lynne?«

 

Dann begriff sie auf einmal. Mabel hatte von Joe Bray gesprochen! Sie war zu verwirrt, um zu lachen, und konnte nur ganz erstaunt die dicke Mabel betrachten. Zum Glück beachtete die älteste Tochter von Stephen Narth bei ihrer eifrigen Strickarbeit nicht, welche Sensation sie hervorgerufen hatte.

 

»Ich wunderte mich, daß er in der Richtung nach Slaters Cottage fortging. Nachher kam mir der Gedanke, daß er möglicherweise bei Mr. Lynne wohnte, der doch so reich ist. Ich vermute, daß er auch eine Menge reicher Freunde hat.«

 

Joan fand noch keine Antwort. Sie durfte dem Mädchen nicht sagen, wer es eigentlich war, der ihr Interesse erweckt hatte, ohne das Clifford gegebene Versprechen zu brechen. Aber sie war gespannt darauf, was Mabel für ein Gesicht machen würde, wenn sie es erführe.

 

Es war schon zehn Uhr, und Mr. Narth war noch nicht von der Stadt zurückgekommen, als die beiden einen leisen Schritt vor der Türe hörten. Der Sturm hatte nachgelassen, obgleich der Donner noch grollte. Joan ging hinaus und fand einen naßgeregneten Umschlag in dem Kasten für Telegramme. Die Aufschrift lautete: An Miß Mabel. Sie brachte ihren Fund zum Wohnzimmer. Mabel nahm den Brief in Empfang und riß das Kuvert auf. Sie zog ein großes Schreiben daraus hervor, in dem viel herumgestrichen war. Sie las es und ihre Augen glänzten.

 

»Es ist ein Gedicht, Joan!« sagte sie atemlos.

 

Es war keine Unterschrift unter den Zeilen. Aber Mabel strahlte vor Begeisterung.

 

»Wie schön er das gesagt hat, wie schrecklich romantisch!« rief sie aus. »Er muß es persönlich in den Kasten geworfen haben!«

 

Plötzlich sprang sie von ihrem Stuhl auf, lief zur Halle und öffnete die Tür. Es war ganz dunkel auf der Fahrstraße. Der Regen hatte aufgehört. Sie überlegte einen Augenblick. Sollte sie ihm nachlaufen? Durfte eine junge Dame so etwas tun? Würde das nicht buchstäblich nach Männerjagd aussehen? Aber sie hatte schon eine Entschuldigung für einen kleinen Ausflug bei der Hand. Joan ging nämlich gewöhnlich um diese Zeit mit Briefen, die sie geschrieben hatte, zum Kasten, der draußen unweit vom Tore angebracht war. Ohne Zögern ging sie so schnell wie möglich den Weg entlang. Ihr Herz schlug vor Freude. Als sie zur Biegung des Weges kam, machte sie halt. Sie konnte niemand sehen und mußte sich doch wohl geirrt haben.

 

Ein unheimliches Gefühl von Furcht überkam sie und ließ sie zu Eis erstarren. Sie drehte sich um und lief zurück. Aber kaum hatte sie einige Schritte getan, als ihr plötzlich ein muffiges Bettuch über den Kopf geworfen wurde, eine große, dicke Hand legte sich schwer auf ihren Mund und erstickte ihre Schreie. Sie wurde ohnmächtig…

 

Joan wartete im Wohnzimmer. Als sie aber das Schließen der Tür hörte, ging sie in die Halle. Der Wind hatte das Haustor zugeschlagen. Sie öffnete es weit und sah in das Wetter hinaus. Zwei rasch aufeinanderfolgende Blitze zeigten ihr, daß niemand auf der Fahrstraße war.

 

»Mabel!«

 

Sie rief den Namen des Mädchens, so laut sie konnte. Aber es kam keine Antwort zurück.

 

Joan erschrak.

 

Sie ging ins Wohnzimmer zurück und klingelte nach dem Diener. Er war ein langsamer Mensch, und während sie ungeduldig auf ihn wartete, erinnerte sie sich an die schwarze Kugel, die Clifford ihr gegeben hatte. Da hatte sie wenigstens eine Waffe. Sie eilte die Treppe hinauf und war schon wieder zurück, als der Diener erschien.

 

»Miß Mabel ist ausgegangen? Sie wird bald wieder zurückkommen!«

 

Er blickte verstört durch die offene Tür in das Wetter. Es blitzte unaufhörlich.

 

»Ich bin so nervös, ich kann Blitze nicht vertragen.«

 

»Kommen Sie mit«, befahl Joan und lief aus dem Hause. Aber sie mußte allein gehen. Der Diener machte an der Türe wieder kehrt. Er glaubte, daß es nicht zu den Pflichten eines Dieners gehöre, in einem solchen Unwetter auszugehen.