Kapitel 12

 

12

 

Dewin hatte eine Menge Besuche zu absolvieren. Darunter waren sowohl wichtige als auch nebensächliche, deren Ergebnis man jedoch nicht voraussehen konnte. Im obersten Stock eines Geschäftshauses in der Winchester Street trat er in das Büro einer alteingesessenen Baufirma und wollte sich bei dem ersten Architekten, dessen Name auf dem Firmenschild stand, anmelden. Der Mann in der Pförtnerloge schüttelte aber den Kopf.

 

»Mr. Walber lebt nicht mehr. Das Geschäft wird jetzt von Mr. Denny allein geführt. Wollen Sie ihn sprechen?«

 

Peter stand bald darauf einem hageren, kurzsichtigen Mann gegenüber, der nervös und ungeduldig wirkte. Man hatte den Eindruck, daß er das Gespräch so bald wie möglich zu beenden wünschte. Selbst das Zauberwort »Redaktion des Postkurier« zog bei ihm nicht. Er war ein so vielbeschäftigter Mann, daß er wahrscheinlich von der Existenz dieser großen Zeitung keine Ahnung hatte.

 

Peter zog den Plan aus der Tasche, den er in der Schublade von Joe Farmers Schreibtisch gefunden hatte, und auf dem der Name der Firma »Walber & Denny« stand. Er zeigte ihn dem Architekten.

 

»Das ist einer der Baupläne, die noch Mr. Walber entworfen hat«, sagte Denny sofort und zeigte auf eine schwer leserliche Unterschrift in der Ecke des Blattes. »Ich kann Ihnen darüber leider keine Auskunft geben. Mr. Walber liebte es, an solche große Projekte heranzugehen. Was es sein soll? Anscheinend ein riesiger Wohnblock – du lieber Himmel –, die Londoner Baupolizei würde sich gegen einen solchen Unsinn entschieden verwahren. Das Ganze hat nur in Mr. Walbers lebhafter Phantasie existiert.«

 

»Können Sie vielleicht feststellen, für wen dieser Plan gezeichnet wurde?«

 

Denny beteuerte nachdrücklich, daß er das nicht wisse.

 

»Mr. Walber war ein gutherziger, aber unpraktischer Mensch. Als er starb, hinterließ er keinen Pfennig. Als Junggeselle brauchte er auch sehr wenig Geld.«

 

An Mr. Dennys düsterem Tonfall ließ sich unschwer erkennen, daß er kein Junggeselle war.

 

»Mr. Walber zeichnete häufig nur zu seinem Vergnügen solche weitläufigen Pläne. Er war von dem Gedanken besessen, daß er eines Tages einen Geldgeber finden würde, der ihm die nötigen Mittel zur Verwirklichung seiner Ideen zur Verfügung stellte. Aber Millionäre sind bekanntlich dünn gesät und außerdem meist praktisch veranlagt, und so hatte er keine Gelegenheit, seine verrückten Pläne zu verwirklichen. Wollen Sie sonst noch etwas wissen?«

 

Peter faltete den Plan zusammen und steckte ihn wieder ein. Etwas an der kurzangebundenen Art des anderen belustigte ihn.

 

»Sind Sie sicher, daß dieser Plan in Ihrem Büro nicht weiter bearbeitet wurde?« fragte Peter.

 

»Ganz sicher. Es war eine private Spielerei von Mr. Walber; ein offizieller Auftrag, der in unseren Akten festgehalten sein müßte, war es keinesfalls – außerdem verwenden wir hier im Büro ein ganz anderes Papier.«

 

Peter hatte eine unbestimmte Ahnung, auf wen Mr. Walber bei der Verwirklichung seiner Pläne gezählt hatte; daß er aber hier nichts Näheres darüber erfahren konnte, war ihm klar. Er fragte dann noch, ob Walber vielleicht den kürzlich ermordeten Mr. Farmer gekannt habe. Mr. Denny schaute in seiner Kundenliste nach und schüttelte dann den Kopf.

 

»Unter unseren Kunden befindet sich kein Mr. Farmer.«

 

Gleich darauf machte sich Peter auf den Weg zur City. In der Queen Victoria Street liegt ein altmodisches Gebäude aus der Zeit der Königin Anna – das Heraldische Amt. Dort verbrachte er fast eine Stunde, und als er herauskam, sah er bedeutend vergnügter aus. Einen Zipfel des Vorhangs, der das Geheimnis der gefiederten Schlange verbarg, hatte er lüften können.

 

Die schwierigste Aufgabe erwartete ihn aber erst noch. Buckingham Gate Nr. 10 war ein vornehmes, großes Haus mit einzelnen Mietswohnungen. Der Portier sagte ihm, daß Mrs. Staines zu Hause sei, und öffnete ihm die Tür des Aufzugs.

 

Als Peter oben an der Wohnungstür geklingelt hatte, öffnete ihm ein Dienstmädchen und führte ihn in eine kleine, geschmackvolle Diele; besonders fielen ihm an den Wänden eine Reihe von eingerahmten Zeichnungen auf.

 

Das Mädchen kam bald zurück und führte ihn in einen Raum, der das Meisterstück eines Innenarchitekten hätte sein können. Ein Blick auf Mrs. Paula Staines genügte Peter, um zu wissen, daß er hier einen ganz anderen Typ vor sich hatte, als die eingebildete Schauspielerin vom »Orpheum«.

 

Mrs. Staines saß an einem Tischchen, einen weißen Zeichenkarton vor sich. Er konnte nicht umhin, sie bewundernd anzuschauen; in ihrem ganzen Wesen drückte sich das aus, was man eben nur bei einer Dame findet.

 

Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück und begrüßte ihn mit einem etwas spöttischen Lächeln.

 

»Eine große Ehre für mich, Mr. Dewin«, sagte sie. »Wollen Sie mich etwa interviewen?«

 

Bevor er antworten konnte, nahm sie den vor ihr liegenden Zeichenkarton und hob ihn in die Höhe.

 

»Ich zeichne gefiederte Schlangen – sehen sie nicht phantastisch aus?«

 

Er erkannte einige Skizzen von gefiederten Schlangen auf dem Blatt – zusammengerollt, den Kopf zurückgebogen, um auf ein Opfer loszustoßen, in seltsamer Verschlingung. Daneben Einzelstudien von Köpfen und Versuche, besonders das eigenartige Gefieder herauszuarbeiten.

 

»Reizend von Ihnen, daß Sie mir meine Aufgabe so leicht machen«, meinte Peter begeistert. »Deshalb bin ich ja Zu Ihnen gekommen.«

 

Ihre Lippen preßten sich für einen Augenblick zu einem dünnen Strich zusammen.

 

»Das vermutete ich schon, als ich Ihre Karte las«, entgegnete sie. »Aber glauben Sie mir, Mr. Dewin, Sie haben sich nicht gerade an eine kompetente Expertin gewandt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas von gefiederten Schlangen gehört – bis dieser fürchterliche Mord geschah.«

 

Sie sah ihn offen an, und er war sich fast sicher, daß sie ihn nicht belog.

 

»Vermutlich sind Sie auch wegen des Mordes gekommen.«

 

Sie wischte die Zeichnungen vom Tisch und schauderte zusammen. »Es ist furchtbar!«

 

Er wußte ganz genau, warum die Tat dieser sonst so gelassenen Frau besonders naheging. Wäre er ein brutaler Mensch gewesen, so hätte er ihr sofort einiges auf den Kopf zugesagt; so erkundigte er sich vorerst nur nach dem Vorleben Mr. Farmers. Anscheinend hatte sie ihn gut genug gekannt, um auch über seine verschiedenen Straftaten im Bilde zu sein; trotzdem berührte sie diese Dinge aber nicht.

 

»Und jetzt, Mr. Dewin« – bei diesen Worten legte sie ihre schönen schlanken Hände auf den Tisch und zog die Augenbrauen zusammen –, »sagen Sie mir bitte, was Sie wirklich von mir wollen.«

 

Das war eine Herausforderung, und er nahm sie an.

 

»Ich will ganz offen sein. Ich brauche Informationen über die gefiederte Schlange.« Sie machte eine abwehrende Bewegung. »Vielleicht sind Sie selbst überzeugt davon, daß Sie nichts über diese Angelegenheit wissen – ich vermute das Gegenteil. Nun, vor vielen Jahren erregte eine große Betrugsaffäre viel Aufsehen …«

 

»Ich war nicht daran beteiligt«, erwiderte sie ruhig und bestimmt. »Natürlich kann ich nicht verlangen, daß Sie mir glauben, aber deswegen ist es doch wahr. Ich will nicht behaupten, daß ich in gewissem Sinn von dieser Angelegenheit damals nicht profitiert hätte – aber bis zur letzten Minute, in der man mich einweihen mußte, wurde ich über die eigentlichen Zusammenhänge im unklaren gelassen. Übrigens werde ich Ihnen über die Sache nichts weiter erzählen.«

 

»Warum haben Sie denn überhaupt schon so viel angedeutet.«

 

Sie überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete.

 

»Weil ich annehme, daß Sie irgend etwas entdeckt haben, was mich angeht. Ich wußte es nicht, bis Sie hier hereinkamen – erst als ich Ihren Gesichtsausdruck sah.«

 

Er nickte.

 

»Ja – Sie sind Paula Ricks.«

 

Sie erwiderte nichts, und er wiederholte die Worte. Wieder verzog sie den Mund zu einem spöttischen Lächeln.

 

»Ganz richtig, ich bin Paula Ricks – aber was kann Ihnen diese Tatsache helfen?«

 

»Sie kennen William Lane«, entgegnete er ernst. Aber zu seiner größten Verwunderung schüttelte sie den Kopf.

 

»Ich habe ihn niemals gesehen – ich wußte kaum etwas über ihn, bis er festgenommen wurde. Später habe ich dann natürlich alles erfahren, was es überhaupt über ihn zu wissen gab.« Sie lehnte sich vor und sah ihn groß an. »Ist es denn ein Verbrechen, daß ich Paula Ricks bin? Sie können mir doch nicht den Aufenthalt in England verbieten – und die Polizei kann mir nichts anhaben!« Forschend sah sie ihn an. »Soll ich Ihnen erzählen, was die Polizei vermutet, was aber bisher niemand weiß? Ich habe alle Platten selbst gestochen, die mein Vater brauchte, um die falschen französischen Banknoten nachzudrucken. Allerdings, was mir kaum jemand glauben wird, ich dachte damals, daß es nur ein Scherz sei … Ja sogar als ich den Ernst der Lage übersah, machte ich mir nicht viel Gewissensbisse, ich hielt es immer noch für einen großen Spaß. Vielleicht fühlte ich auch eine gewisse Genugtuung dabei … Übrigens habe ich nachher nie wieder eine solche Platte gestochen.«

 

Er betrachtete vielsagend die luxuriöse Einrichtung des Zimmers.

 

»Nun, das hier muß doch etwas gekostet haben – und nicht zu wenig. Nehmen Sie mir diese Frage nicht übel wie bringen Sie es fertig, von Ihren sicher nicht sehr großen Einnahmen als Künstlerin in diesem Stil zu leben?«

 

Er war von dieser Frau schon vorher beeindruckt gewesen, aber das größte Rätsel gab sie ihm erst jetzt auf.

 

»Das Geld, das ich besitze, diese Wohnung, alles, was Sie hier sehen, habe ich nur deshalb, weil ich ehrlich war! Und ich würde genau dasselbe haben, wenn ich nicht ehrlich gewesen wäre. Merken Sie sich – ich kann sagen, daß mein Vermögen der Preis für meine Ehrlichkeit und meine energische Weigerung ist, das alte Leben weiterzuführen.«

 

Er war davon überzeugt, daß sie die Wahrheit sagte, wenn er sich vorerst auch durchaus noch keinen Reim darauf machen konnte.

 

»Man sagt, daß Sie eine Vorliebe für Rätsel haben, Mr. Dewin – lösen Sie dieses!« Sie stand auf und drückte auf einen Klingelknopf. »Ich werde jetzt Tee trinken. Wollen Sie mir dabei Gesellschaft leisten? Ich war wirklich im Unrecht, als ich Ihrem Besuch mit einem gewissen Unbehagen entgegensah.«

 

Das Mädchen kam herein, und sie sprach erst weiter, als es einen Auftrag entgegengenommen und die Tür wieder geschlossen hatte.

 

»Ich fürchtete, Sie würden herausbekommen, wer ich in Wirklichkeit bin, und das haben Sie in der Tat ja auch getan; nur daß es jetzt gar nicht so schlimm ist, wie ich mir einbildete. Eigentlich war es sehr dumm von mir, daß ich so unruhig war … Sie sind heute morgen bei Scotland Yard gewesen – haben Sie dort Ihre Entdeckung mitgeteilt?«

 

Er sah sie erstaunt an.

 

»Woher wissen Sie das?«

 

»Aus einem ganz einfachen Grund«, entgegnete sie gelassen. »Ich habe Sie während der letzten sechsunddreißig Stunden überwachen lassen – und habe dabei eine ganze Menge über Sie und Ihr Privatleben erfahren. Miss Olroyd ist wirklich ein sehr hübsches Mädchen, nicht wahr, Mr. Dewin?«

 

Er hörte den heiteren Unterton in ihrer Stimme und wurde rot.

 

»Sie haben doch nicht etwa Mr. Stebbings engagiert, um mich beobachten zu lassen?«

 

»Aber natürlich – Mr. Stebbings in Person«, sagte sie mit der größten Selbstverständlichkeit. »Sie haben ihn also erkannt? Ich habe ihm doch gleich gesagt, daß sein Bart viel zu sehr auffällt!«

 

Der Tee wurde hereingebracht, und sie goß ein.

 

»Entsetzlich, diese Sache mit Mr. Farmer«, sagte sie nach einer längeren Pause. »Nicht, daß ich ihn besonders leiden konnte … Ich könnte Ihnen viel von ihm erzählen, aber es ist besser, wenn ich es nicht tue. Außerdem sind Sie ja so klug, daß Sie alle diese Dinge selbst herausbekommen werden.«

 

»Soll das eine Beleidigung oder ein Kompliment sein?«

 

»Ich weiß nicht – nehmen Sie es, wie Sie wollen.«

 

Er starrte in seine Tasse, dann trank er einen Schluck und schaute ihr von unten herauf in die Augen.

 

»Wenn wir Wein hätten, würde ich einen Trinkspruch auf Sie ausbringen«, meinte er mit einem seltsamen Unterton. »Ich brauchte Ihnen dabei nur das schöne alte Wort Gucumatz zu sagen!«

 

Klirrend fiel ihr die Tasse aus der Hand, und sie wurde plötzlich totenblaß.

 

»Gucumatz!« stieß sie hervor und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Gucumatz …«

 

Sie atmete erregt. In der nächsten Sekunde würde sie zu reden beginnen …

 

Aber in diesem Augenblick klopfte es an die Tür, und das Mädchen kam herein. Mrs. Staines wurde am Telefon verlangt – die günstigste Gelegenheit für sie, um Zeit zu gewinnen.

 

Sie verließ schnell das Zimmer, war einige Minuten abwesend, und als sie wieder eintrat, hatte sie ihre alte, sichere Haltung bereits Zurückgewonnen.

 

»Ich glaube, wir müssen jetzt sehr vernünftig sein«, sagte Paula Staines mit einer Stimme, die ein wenig gezwungen fröhlich klang.

 

»Und aufrichtig!« fügte Peter hinzu.

 

»Auch aufrichtig!« wiederholte sie. »Und zwar gilt das für uns beide. Ich gestehe, daß Sie mich überrascht haben … Gleich darauf wurde mir klar, daß Sie das böse Wort bei Farmer gefunden haben, der es stets mit sich herumtrug. Sie erschreckten mich tatsächlich furchtbar! Solche unvermittelten Überraschungen gehören zu Ihrem Beruf, wie?«

 

»Das kann ich nicht abstreiten – und wenn ich von Gucumatz sprach …«

 

»Ein verrücktes Wort – ich schwöre Ihnen, daß ich es nicht gehört habe, bis ein Jahr nach …«, sie zögerte und suchte nach einem Ausdruck.

 

»Bis ein Jahr nach?« wiederholte Peter.

 

»… nach einem gewissen Ereignis«, vollendete sie den Satz. »Aber was bezwecken Sie eigentlich mit diesem Wort?«

 

Wußte sie es wirklich nicht, oder wollte sie ihn nur verblüffen? Es sah doch so aus, als ob sie dem Wort eine besondere Bedeutung zugrunde legte, und seine Vermutung wurde auf seinen nächsten Satz hin bestärkt.

 

»Gucumatz ist nur ein anderer Name für gefiederte Schlange«, sagte er langsam.

 

Sie schaute ihn lange an, dann ließ sie sich plötzlich in einen Sessel fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Als sie wieder aufschaute, war sie so blaß wie vorher.

 

»Würden Sie mich morgen besuchen?« sagte sie und reichte ihm die Hand. »Nein, nein, ich will heute nicht mehr darüber sprechen, ich fühle mich nicht wohl – morgen …«

 

Sie begleitete ihn bis zur Tür und sah ihm nach, wie er die Treppe hinunterging. Dann klingelte sie ihrem Mädchen.

 

»Rufen Sie sofort bei Cooks Reisebüro an, und lassen Sie zwei Schlafwagenplätze im Orientexpreß belegen.«

 

Das Mädchen war anscheinend an derartige plötzliche Entschlüsse gewöhnt und antwortete nur mit einem zuvorkommenden Lächeln.

 

»Nita, niemand darf erfahren, daß wir morgen früh verreisen. Es wäre gut, wenn Sie sofort packen würden und die Koffer nachts zum Bahnhof brächten. Sagen Sie auch dem Portier erst im letzten Moment, daß wir fortfahren – für mindestens ein Jahr …«

 

Paula Staines ging zu ihrem Schreibtisch und verbrachte den ganzen Nachmittag damit, Briefe zu zerreißen und Schecks auszuschreiben. Sie hatte sich an einen Grundsatz erinnert, den ihr Vater ihr einmal eingeprägt hatte: »Gehe immer Verwicklungen aus dem Weg!« Und es waren böse Verwicklungen im Anzug, die schnell über die hereinbrechen würden, die dablieben.

 

Kapitel 13

 

13

 

Das Arbeitszimmer von Gregory Beale war ein großer Raum im Erdgeschoß mit hohen Bücherregalen an den Wänden. Das ganze Zimmer war bis zur Decke hinauf mit dunklem Eichenholz getäfelt. Hier hielt sich der Gelehrte die meiste Zeit des Tages auf.

 

Er hatte Daphne Olroyd ein kleines, freundliches Zimmer im ersten Stock angewiesen, aber die ersten Tage brachte sie hauptsächlich in seiner Bibliothek zu, die einen recht angenehmen Aufenthalt bot. Durch ein großes Fenster sah man in einen kleinen Garten, der von hohen roten Ziegelmauern eingefaßt wurde. Das Haus war ein Eckgrundstück, und eine Umfassungsmauer grenzte an die Straße. Die Mauern waren oben mit zerbrochenem Glas und Scherben versehen, um das Haus vor Einbrechern zu schützen.

 

Von einer Balkontür aus führten mehrere Stufen zu dem kleinen Kiesweg, der die Blumenbeete in zwei Hälften teilte. Späte Chrysanthemen blühten dort noch, und Mr. Beale machte sich ein Vergnügen daraus, täglich eine halbe Stunde lang in der kleinen Anlage umherzuwandeln.

 

Eigentümlicherweise duldete er in seinem Haus keinerlei Vorhänge. Auch die Rolläden an den Fenstern wurden nie heruntergelassen, sobald er daheim war. Ohne nähere Erklärung hatte er seine Sekretärin darauf gleich am ersten Tag ihres Eintritts aufmerksam gemacht. Soviel sie wußte, brauchte er einfach viel frische Luft und Sonne.

 

Er hatte auch noch andere kleine Eigenheiten. Kein Angehöriger des Hauspersonals betrat jemals sein Zimmer, wenn er nicht nach ihm geklingelt hatte. Wenn es notwendig war, benutzte der Butler ein Haustelefon, um sich mit seinem Herrn zu verständigen. Daphne wurde feierlich in alle diese Gebräuche eingeweiht.

 

»Nicht, daß ich etwas dagegen hätte, wenn Sie zu mir kommen«, sagte er lächelnd. »Dazu sehen Sie viel zu anziehend aus. Aber ich habe eine große Abneigung dagegen, bei der Arbeit unterbrochen zu wenden. Aus diesem Grund habe ich den Raum auch mit Doppeltüren versehen lassen.«

 

Als sie an diesem Morgen zu ihm kam, traf sie ihn bei seinem Spaziergang im Garten an. Die erste Frage, die er an sie richtete, betraf zu ihrer Verwunderung Peter Dewin, und obwohl sie sich mit Peter im Augenblick nicht so gut stand – ohne jeden Grund, wie sie genau wußte –, konnte sie ihn Mr. Beale gegenüber gar nicht genug loben. Frauen sind nun einmal unlogisch.

 

»Zweifellos, ich bin auch davon überzeugt, daß er sehr intelligent ist«, unterbrach sie Mr. Beale schließlich belustigt. »Er ist ein recht netter junger Mann – von Journalistik verstehe ich allerdings nicht genug, um seine Begabung für diesen Beruf beurteilen zu können. Er ist wohl Ihr Verlobter, wenn ich fragen darf?«

 

Sie errötete tief.

 

»Aber Mr. Beale, kein Gedanke daran – ich kenne ihn ja kaum länger als eine Woche!«

 

Er schaute sie vergnügt von der Seite an.

 

»Gibt es nicht so etwas wie Liebe auf den ersten Blick? Ich für meinen Teil würde nichts von einer langen Verlobungszeit halten – in der Ehe sieht dann doch alles anders aus.«

 

Sie fand es sonderbar, daß er Betrachtungen über die Ehe anstellte und mußte lachen.

 

»Darüber haben Mr. Dewin und ich noch nicht gesprochen«, dann fügte sie ein wenig neugierig hinzu: »Sie sprechen, als ob Sie eine Autorität auf diesem Gebiet wären, Mr. Beale.«

 

»Beim Himmel, ich habe keine Ahnung«, entgegnete er. Er verzog einen Moment lang das Gesicht, als ob er sich an etwas Unangenehmes erinnerte. »Ich war einmal verheiratet – aber die Sache ging nicht glücklich aus.«

 

Im Verlauf ihrer kurzen Bekanntschaft hatte Daphne Olroyd schon erkannt, daß er ein Mann von wirklich umfassendem Wissen war. Es gab kaum ein Gebiet, auf dem er sich nicht schon betätigt hatte, und gleich am ersten Tag half sie ihm bei einem kleinen Experiment: In einem Mörser zerstieß er einen Stein und schmolz in einem elektrisch geheizten Tiegel ein kleines Stückchen Silber heraus. Beim Ordnen verschiedener Akten fand sie das halbvollendete Manuskript eines Buches. Sie las eine Seite; es war eine Abhandlung über die Wirtschaftlichkeit kleinster Haushaltungen und enthielt Tabellen über Löhne in ihrem Verhältnis zum Lebensunterhalt. Sehr erstaunt war sie, als er ihr gleichgültig den Auftrag gab, es zu verbrennen.

 

»Es ist ja doch längst überholt – zehn Jahre sind auf diesem Gebiet eine große Zeitspanne.«

 

Die archäologischen Kenntnisse Mr. Beales über Süd- und Mittelamerika waren ausgezeichnet. Er zeigte ihr Kopien wertvoller Handschriften, die teils in Maya, teils in Altspanisch abgefaßt waren und von Sitten und Gebräuchen in dem Königreich Quiche berichteten.

 

»Verstehen Sie Spanisch? – Schade … Sie könnten sonst hier eine Menge über gefiederte Schlangen lesen«, sagte er gut gelaunt. »Sie würden auch feststellen, daß sich die Menschen im Grande genommen gleichgeblieben sind. Die komplizierten Zeremonien, die bei den aztekischen Kulthandlungen zelebriert wurden, sind nicht verwickelter, als die Aufnahmegebräuche der modernen Geheimgesellschaften – nur haben die Götter ihre Namen geändert.«

 

Als sie diesen Morgen in der Bibliothek arbeitete, entdeckte sie dort etwas, das nicht gerade zur Verschönerung des Raumes beitrug. Eine alte eichene Tür mit rostigen Angeln lehnte an der Wand, dem Fenster gegenüber; ihre eine Seite war mit Stahlblech beschlagen. Er erzählte ihr, daß er sie draußen im Schuppen gefunden und hereingebracht habe. Früher hatte sie einen Zugang an der hinteren Gartenmauer verschlossen, der aber zugemauert worden war. Wie er ihr auseinandersetzte, wollte er auf der verwitterten Oberfläche der Tür irgendeine seltsame aztekische Zeichnung anbringen. Wieder so eine neue Laune von ihm, über die sie heimlich den Kopf schüttelte.

 

Bei ihrer interessanten Tätigkeit verging ihr die Zeit wie im Flug, und Mr. Beale mußte sie abends darauf aufmerksam machen, daß sie ihre Arbeitszeit schon längst überschritten hatte.

 

Peter Dewin hatte nichts von sich hören lassen. Sie ging nach Hause, fand aber auch dort keine Nachricht vor.

 

Etwas unlustig zog sie sich um; da sie nicht wußte, ob Miss Creed sie zum Abendessen in ein vornehmes Restaurant einladen würde, hatte sie ihr schwarzes Cocktailkleid aus dem Schrank geholt und dazu einen dunklen italienischen Seidenschal umgelegt, den sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hatte.

 

Es fröstelte sie, als sie in das kalte Taxi stieg, und sie überlegte sich noch einmal, daß sie eigentlich nicht viel Lust hatte, den Abend ausgerechnet mit Miss Creed zu verbringen. Ihre früheren Unterhaltungen waren immer äußerst oberflächlich verlaufen, denn Ella Creed fühlte sich in ihrer gesellschaftlichen Position haushoch über jede Angestellte erhaben. Dafür hätte Daphne heute abend, auch wenn sie eine Prinzessin gewesen wäre, keinen großartigeren Empfang erwarten können. Bereits am Eingang empfing sie ein Portier und brachte sie persönlich zu Miss Creed.

 

Ella Creed schloß sie überschwenglich in die Arme.

 

»Wie nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind! Setzen Sie sich doch – hier, der Sessel ist besonders bequem. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mich umziehe …? Ist dies wirklich Ihr erster Besuch hinter den Kulissen eines Theaters? Ich zeige Ihnen dann gleich nachher die Bühne und alles übrige.«

 

Daphne war in der Pause zwischen zwei Akten gekommen; derselben Pause, die Peter Dewin am vergangenen Abend zu seinen Nachforschungen benutzt hatte. Während sie sich umzog, redete Miss Creed wie ein Wasserfall.

 

»Nach der Vorstellung gehen wir in den Rapee-Club. Sie haben doch Lust dazu? – Da es mir gerade einfällt … Sie kennen doch Peter Dewin? Er hat mich gestern besucht ein netter Kerl! Aber ein wenig überheblich, ich hasse überhebliche Menschen – sie denken immer nur an sich!«

 

Die ganze Zeit über saß sie vor dem Spiegel, betupfte ihr Gesicht und starrte wie gebannt auf ihr eigenes Bild. Daphne konnte sie in aller Ruhe beobachten und sich dabei noch einmal überlegen, was wohl die eigentliche Ursache dieses freundlichen Empfangs war. Als Miss Creed noch weiter über Peter sprach, fand sie die Lösung.

 

»Wie gesagt, er ist ein netter Kerl – Sie kennen ihn doch sehr gut, nicht wahr? Finden Sie nicht auch, daß es ihm Spaß macht, jemandem einen Streich zu spielen? Bei mir hat er es wenigstens versucht. Stellen Sie sich vor, er hat einen Schlüssel, der mir gehört und den er einfach nicht herausgibt – erzählt mir eine Geschichte von einem Einbrecher, der ihn gestohlen haben soll. Aus seiner Jackentasche! Und ich weiß doch, daß er überhaupt nicht dort steckte. Vielleicht erinnern Sie sich an die ganze Angelegenheit …? Es war ein Schlüssel, den der arme Mr. Farmer bei sich trug. Billy – Mr. Crewe – gab ihn aus Versehen Ihnen.«

 

Das alles erwähnte sie nur ganz nebenbei, aber Daphne wußte jetzt, warum sie zu der ungewöhnlichen Ehre einer solchen Einladung gekommen war. Miss Creed hatte herausgebracht, daß Daphne mit Peter befreundet war – und vermutlich sollte sie jetzt Peter überreden, den Schlüssel herauszugeben. Daphne amüsierte sich im stillen über diesen Plan.

 

Als Miss Creed fertig war, ging sie mit ihr durch ein Labyrinth von Gängen in einen hohen Raum, dessen eine Seite von Kulissen ausgefüllt war. Durch einen Wald von Pfosten, Requisiten und Versatzstücken drängte sie Ella Creed zu dem Pult des Regisseurs, von wo aus man die Vorgänge auf der Bühne aus nächster Nähe verfolgen konnte. Der Regisseur stellte einen Stuhl für Daphne zurecht, die vergnügt aus diesem neuen Blickwinkel der Vorstellung zusah. So vergingen fast zwei Stunden.

 

Mit einem Seufzer des Bedauerns sah sie den Vorhang zum letztenmal fallen, und ließ sich dann von dem Regisseur zu Miss Creeds Garderobe zurückbringen. Ella Creed legte ihr liebenswürdig den Arm um die Schultern und führte sie zu einem Herrn, der lässig in einem der Sessel lehnte. Es war Leicester Crewe, ausgerechnet der Mann, den sie am liebsten nie mehr zu Gesicht bekommen hätte.

 

Die beiden letzten Tage hatten ihn sehr mitgenommen; er war auffallend gealtert. Das Lächeln, mit dem er seine frühere Sekretärin begrüßte, wirkte gezwungen.

 

»Hallo, Miss Olroyd, haben Sie nun Bekanntschaft mit der Bühne geschlossen? Vielleicht werden auch Sie eines Tages noch ein berühmter Star!«

 

»Bitte unterhalte Miss Olroyd so lange, bis ich mich umgezogen habe!« rief Miss Creed aus der Nische herüber, in der sie sich umzog. »Später darfst du uns dann zum Essen ausführen und die Rechnung bezahlen.«

 

Anscheinend sollte dies ein Scherz sein, denn Miss Creed ließ ihren Worten ein ziemlich schrilles Gelächter folgen.

 

Natürlich war es kein Zufall, daß Mr. Crewe hier war. Ella Creed hatte es so eingerichtet, daß er der dritte bei dem Abendessen sein würde, und Daphne war dies um so unangenehmer, weil sie sich noch sehr genau an seine unverfrorenen Anträge erinnerte.

 

Während die Garderobieren sich mit Miss Creeds Gesicht beschäftigten, unterhielten sich Daphne und Mr. Crewe zehn Minuten lang über alle möglichen Nebensächlichkeiten – dann kam das Gespräch wieder auf den Mord.

 

»Farmers Tod ist wirklich eine harte Prüfung für mich«, sagte Leicester Crewe. »Eine ganze Kompanie von Polizeibeamten ist in mein Haus gekommen und hat sich dort geradezu häuslich eingerichtet. Und ein Heer von Zeitungsreportern quält mich unentwegt mit Fragen.«

 

Er betrachtete Daphne von der Seite.

 

»Es wundert mich eigentlich, daß Ihr Freund mich seit jenem Abend nicht mehr besucht hat – er interessiert sich doch sonst so brennend für jeden Mord!«

 

»Welchen Freund meinen Sie?«

 

Die Frage verblüffte ihn.

 

»Natürlich Mr. Dewin. Er ist ein intelligenter Mensch aber ein wenig voreilig und sehr geneigt, unbesonnene Schlüsse zu ziehen. Dadurch hat er mich in ernstliche Schwierigkeiten gebracht. Sie erinnern sich doch an die Sache mit dem Schlüssel? Ich sagte es Ihnen damals nicht, daß er Ella – Miss Creed – gehört; sie erinnert mich seitdem dauernd daran.«

 

Nachdenklich betrachtete er seine Zigarre.

 

»Es wäre mir ein paar hundert Pfund wert, wenn ich den Schlüssel zurückbekommen könnte. Soviel ich weiß, werden Zeitungsreporter nicht gerade fürstlich bezahlt, und ein paar hundert Pfund kann man immer mitnehmen – wenn er sie nicht selbst haben will, kann er ja ein hübsches Geschenk für eine Freundin davon kaufen. Was meinen Sie dazu?«

 

Sie war entrüstet über diese plumpe Anspielung, ließ sich aber nichts anmerken.

 

»Es ist wirklich sehr unangenehm für mich«, fuhr Crewe fort. Er sah sich um, ob Ella noch in ihrer Nische beschäftigt war, und senkte dann seine Stimme zu einem theatralischen Flüstern. »Sie sind doch eine Dame von Welt.« Daphne wußte zwar nicht, was er darunter verstand, erhob aber vorerst keinen Widerspruch. »Wir müssen unbedingt einen Skandal vermeiden … Es ist nämlich der Schlüssel zu Ellas Haus – verstehen Sie mich?«

 

Daphne begriff durchaus, was er sagen wollte und sah ihn bestürzt an.

 

»Wir waren nämlich jahrelang miteinander befreundet … Begreifen Sie nun, warum wir den Schlüssel zurückhaben müssen?«

 

Die Erklärung schien glaubwürdig zu sein, und Daphne hatte sich schon halb dazu entschlossen, Peter zu veranlassen, das verfängliche Beweisstück herzugeben.

 

»Zweihundert oder dreihundert Pfund …«, fing Crewe wieder an, aber sie unterbrach ihn sofort.

 

»Ich glaube nicht, daß Mr. Dewin Wert auf Ihr Geld legen wird«, erklärte sie. »Im übrigen bin ich mir auch völlig sicher, daß er den Schlüssel nicht dazu benutzen wird, Miss Creed irgendwie in Verlegenheit zu bringen.«

 

»Würden Sie wenigstens einmal über die Sache mit ihm reden?« drängte er.

 

Sie nickte.

 

In diesem Augenblick kam Ella Creed aus dem Nebenraum zurück. Anscheinend um ihrem Gast ein Kompliment zu machen, trug auch sie ein schwarzes Kleid und außer den blitzenden Ringen an ihren Händen keinen Schmuck. Sie wandte sich an Daphne.

 

»Gehen wir? Bei Rapee können wir uns nach dem Essen gleich noch die Kabarettvorstellung ansehen.«

 

Crewe nickte zustimmend.

 

»Hast du dich auch anständig betragen, Billy, und Miss Olroyd nichts Schlechtes über mich gesagt?«

 

Er lächelte.

 

»Ich bin viel zu gut mit dir befreundet, um dir etwas Schlechtes nachzusagen, Ella.«

 

Das alles gehörte zu der Komödie, die sie Daphne vorspielten, und sie hatten ihre Rollen sehr gut einstudiert. Vielleicht ein wenig zu gut, denn Daphne kam das ganze Gerede plötzlich sehr unglaubwürdig vor.

 

Das Mädchen kam herein und sagte, daß es draußen heftig regne.

 

»Haben Sie einen Regenumhang?« Als Daphne den Kopf schüttelte, sagte Ella Creed besorgt: »Sie werden durch und durch naß, wenn Sie über den Hof gehen … Jessie, geben Sie Miss Olroyd meinen roten Umhang! Bitte, Sie müssen ihn anziehen. Es kann höchstens sein, daß Sie dann vor der Tür einige Mädchen um ein Autogramm bitten, weil sie glauben, meine Wenigkeit vor sich zu haben – das ist nun mal die Strafe der Berühmtheit.«

 

Als sie durch den Gang zur Bühnentür schritten, hielt Leicester Crewe Ella etwas zurück und sprach leise auf sie ein.

 

Die Schauspielerin blieb plötzlich stehen.

 

»Warum konnte sie denn nicht kommen?« fragte sie ärgerlich. »In letzter Zeit tut Paula viel zu vornehm.« Dann sagte sie laut zu Daphne: »Gehen Sie nur voraus, Miss Olroyd; mein Wagen wartet vor der Tür.«

 

»Sie ließ am Telefon sagen, daß sie Kopfschmerzen hätte«, erklärte Leicester. »Ich konnte nur mit ihrem Mädchen sprechen.«

 

Ella biß sich nachdenklich auf die Lippen.

 

»Das sieht Paula nicht ähnlich. Aber komm jetzt – diese blöde Stenotypistin bekommt sonst kalte Füße!«

 

Sie gingen zusammen auf den dunklen Hof und traten auf die Straße, die an der Rückseite des Theaters entlangführte – ein menschenleeres, schmutziges Seitengäßchen. Neben dem Eingang lehnte ein Bettler, um Schutz vor dem Wetter zu suchen, aber von Daphne Olroyd und dem Wagen war nichts zu sehen. Ella wandte sich an den Eckensteher.

 

»Haben Sie nicht eine Dame hier herauskommen sehen?« »Natürlich – sie trug einen roten Umhang, und der Wagen fuhr gleich ab, als sie eingestiegen war.«

 

Ella schimpfte.

 

»Ich werde den Chauffeur entlassen! Billy, telefoniere nach einem Taxi!«

 

*

 

Kurz vorher war Daphne Olroyd aus der Tür getreten. Sie lief schnell über das nasse Trottoir und stieg in den Wagen, dessen Schlag von innen aufgehalten wurde. Dann erschrak sie, als sie an jemand anstieß, der in der Ecke saß.

 

»Ach, entschuldigen Sie, ich dachte …«

 

In diesem Moment zog der Chauffeur die Wagentür zu und fuhr an. Sie lehnte sich vor, klopfte ihm auf die Schulter.

 

»Warten Sie doch, warten Sie! Es kommen noch mehr Leute …«

 

Dann wurde sie von der dunklen Gestalt, die neben ihr saß, auf den Sitz zurückgezogen.

 

»Seien Sie ruhig und schreien Sie nicht – oder es wird Ihnen schlecht bekommen«, sagte eine rauhe Stimme.

 

In diesem Augenblick fuhr der Wagen gerade an einer hellen Straßenlaterne vorbei, und sie konnte einen Blick auf ihren Begleiter werfen. Es waren nur seine Augen und seine Stirn zu sehen, denn er hatte sich ein buntes Taschentuch vor das Gesicht gebunden.

 

Kapitel 14

 

14

 

Lange Zeit war Daphne Olroyd nicht fähig, ein einziges Wort hervorzubringen. Der Wagen fuhr sehr schnell durch die Straßen des West End. In den Regen mischten sich große Schneeflocken, die bald die Außenseite der Fenster bedeckten, so daß es nicht möglich war, draußen irgend etwas zu erkennen. Die Straße mußte jedoch am Themseufer entlangführen, denn sie sah den trüben Schein der Straßenlampen, die sich im Wasser spiegelten. Jetzt konnte man auch die Lichter eines Schleppdampfers erblicken, der langsam den Fluß hinunterglitt, und sie hörte den tiefen Ton der Sirene, mit der ein Polizeiboot seine Fahrtrichtung anzeigte.

 

Sie bogen in Blackfriars ab, und der Wagen fuhr nun durch die belebte City. Einen Augenblick tauchte der Umriß des Towers auf, dann wurde das Auto durch Seitenstraßen gelenkt. In einer hellerleuchteten Straße, die sie kurz darauf entlangfuhren, erkannte Daphne eines der Gebäude – es war das Zentralkrankenhaus von London.

 

»Was haben Sie mit mir vor?« begann sie mit zitternder Stimme.

 

»Stellen Sie jetzt keine Fragen – Sie werden es bald erfahren.«

 

Sie hielt es für besser, still zu sein. Die geschlossenen Häuserreihen hörten allmählich auf, und sie erreichten eine Gegend, in der freie Felder mit Fabriken abwechselten. Einmal merkte sie am Geruch, daß eine chemische Fabrik in der Nähe sein mußte. Die Straße wurde jetzt schmaler, sie war zu beiden Seiten mit hohen Bäumen bewachsen. Dann strichen die Scheinwerfer des Autos über Gebüsch und Unterholz, das sich links und rechts ausbreitete.

 

Es wurde ihr plötzlich klar, daß das die Gegend von Epping Forest sein mußte.

 

Kaum hatte sie diese Entdeckung gemacht, als der Wagen langsamer fuhr und nach rechts einbog. Es ging einen ebenen, engen Weg entlang, der viele Kurven hatte. Sie glaubte, daß sie schließlich wieder zu einer Hauptstraße kommen würden, aber das Auto fuhr weiter und weiter, und als sie endlich ins Freie kamen, befanden sie sich in der Nähe eines kleinen Dorfes.

 

Nachdem sie noch ein gutes Stück gefahren waren, hielt der Wagen auf einem Feldweg. Es war jetzt so dunkel, daß man kaum mehr etwas unterscheiden konnte. Der Chauffeur öffnete die Tür, sprang hinauf und half ihr beim Aussteigen.

 

Sie sah ein großes, halbfertiges Gebäude, das einen verwahrlosten Eindruck machte. Gleich darauf wurde die Tür von einer Frau geöffnet, die sie beim Arm nahm und einen kurzen Gang entlangführte, der bald nach rechts abbog.

 

»Gehen Sie hier hinein und verhalten Sie sich ruhig«, sagte die Frau. Sie hatte eine harte, rauhe Stimme und roch ziemlich stark nach Alkohol.

 

Daphne stand im Dunkeln. Eine Tür schlug zu, und kurz danach wurde der Raum, in den sie sich befand, durch ein in die Betondecke eingelassenes Licht erhellt. Anscheinend war der elektrische Schalter draußen auf dem Gang.

 

Es war eine kleine Kammer mit Wänden, Decke und Fußboden aus Beton. Sie mochte etwas größer sein als das kleine Schlafzimmer in ihrer Wohnung. Eine eiserne Bettstelle mit frisch überzogenem Bettzeug stand da, außerdem gab es nur noch einen Tisch und einen Stuhl in dem Raum. Auf einem Wandbrett lagen eine Bürste mit Kamm und ein Buch. Unter dem Tisch entdeckte sie eine Strohmatte. In einem kleinen Nebenraum befand sich ein vollständig eingerichtetes Badezimmer.

 

Ganz verwirrt ging sie in das Zimmer zurück und griff mechanisch nach dem Buch auf dem Wandbrett. Es war eine Bibel! Alles war vollkommen neu und unbenutzt. Sie staunte. Das ganze Gebäude konnte noch nicht lange stehen, denn es roch nach Zement und frischem Putz. Sie drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verschlossen. Ein kleines Beobachtungsfenster war darin eingelassen.

 

Daphne Olroyd setzte sich auf das Bett. Der Schrecken über den plötzlichen Überfall hatte sie völlig aus der Fassung gebracht, und sie zitterte vor Angst. Nur der Gedanke an Peter Dewin hielt sie aufrecht. Sie wußte allerdings nicht, wie er ihr zu Hilfe kommen könnte. Was würde mit ihr geschehen? Was beabsichtigte man mit dieser Entführung?

 

Während der ganzen Fahrt hatte sie das unangenehme Gefühl, daß Leicester Crewe seine Hand im Spiel hatte. Sie wagte nicht, diesen Gedanken ganz zu Ende zu denken … Immerhin hatte er ihr oft genug ziemlich unzweideutige Anträge gemacht.

 

Andererseits war er nicht der Mann, der ein solches Risiko auf sich nahm. Sie traute ihm zwar jede Niederträchtigkeit zu, aber diese Entführung schien doch viel raffinierter geplant zu sein, als es seine Art war.

 

Sie sah auf ihre Uhr – Viertel vor eins. Dann hörte sie, wie der Schlüssel umgedreht wurde und die Tür sich langsam öffnete. Im Korridor stand eine Gestalt, über die sie heftig erschrak. Von Kopf bis Fuß war der Mann in ein enganliegendes dunkles Gewand eingehüllt. Er hatte eine schwarze Kapuze über den Kopf gezogen, die auch das Gesicht vollständig bedeckte; in Augenhöhe waren zwei Schlitze hineingeschnitten. Der Unheimliche stand einige Zeit drohend an der Tür und starrte sie an, dann trat er plötzlich einen Schritt zur Seite, die Tür schloß sich, und der Schlüssel wurde wieder umgedreht. Alles blieb totenstill wie vorher. Zehn Minuten vergingen – die Tür öffnete sich von neuem. Daphne nahm allen Mut zusammen, um dem Unbekannten entgegenzutreten – aber diesmal stand ein anderer Mann vor ihr. An dem bunten Taschentuch vor seinem Gesicht erkannte sie ihren Entführer.

 

»Wissen Sie, weshalb Sie hierhergebracht wurden, Miss?« Die Stimme wurde durch das Tuch zu einem dumpfen Flüstern gedämpft.

 

Sie wollte sprechen, brachte aber keinen Ton heraus und konnte nur den Kopf schütteln.

 

»Weil Sie mit Leuten verkehren, die Feinde der gefiederten Schlange sind.«

 

Der Mann sprach langsam, als ob er eine auswendig gelernte Botschaft hersage.

 

»Wenn wir wollten, könnten wir Sie hier jahrzehntelang gefangenhalten, und niemand würde etwas davon erfahren.

 

Wenn Sie uns aber das feierliche Versprechen geben, niemand zu verraten, was sich heute abend zugetragen hat, wird Sie die gefiederte Schlange wieder gehen lassen ohne daß Ihnen irgend etwas passiert.«

 

Er wartete auf ihre Antwort. Endlich gelang es ihr, einige Worte zu sagen.

 

»Ich werde nichts verraten …, bestimmt nicht, ich verspreche es Ihnen!« rief sie atemlos.

 

»Werden Sie keinem Menschen was erzählen?«

 

»Nein, nein … Ich verspreche es!«

 

Der Mann verließ die Zelle, schloß ab und kam bald darauf wieder zurück. Er trug ein Tablett mit einer dampfenden Tasse Bouillon, einigen Brötchen und einem Glas Wein. Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, vielen Dank, ich möchte nur etwas Wasser haben.«

 

»Es wäre besser, wenn Sie sich etwas stärken würden.« Er ging hinaus, ließ diesmal die Tür offen und kam gleich darauf mit einem Glas Wasser zurück, das er ihr höflich reichte. Sie leerte es gierig in einem Zug.

 

»Sind Sie fertig?« fragte er.

 

»Ja«, entgegnete sie. Sie war so aufgeregt, daß ihr die eigene Stimme fremd vorkam.

 

Sie folgte ihm durch den Gang. Der Wagen wartete vor der Tür. Zu ihrer Erleichterung machte der Mann keinen Versuch, sie zu begleiten, sondern warnte sie nur noch einmal.

 

»Wenn Sie klug sind, dann verhalten Sie sich ruhig und versuchen nicht, die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken. Die Polizei würde Ihnen die seltsame Geschichte, die Sie zu erzählen hätten, sowieso nicht glauben.«

 

Der Chauffeur fuhr sehr schnell. Sie kamen auf einer Straße nach London zurück, die sie nicht kannte. Nach und nach tauchten dann die bekannten Gebäude der Stadt auf, und es wurde ihr immer leichter ums Herz. Es war zwei, als der Wagen vor der Tür ihres Hauses hielt. Sie stieg aus – ringsum lag alles in tiefem Schlaf. Als sie sich wieder umdrehte, fuhr der Wagen schon an; sie versuchte noch das Nummernschild zu lesen, aber es war völlig mit Schmutz bedeckt.

 

Zitternd schloß Daphne die Haustür auf, schlug sie zu, rannte in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Eine halbe Stunde lang lag sie dort und erholte sich nur langsam von dem Schrecken. Schließlich zog sie sich aus, hüllte sich so fest sie konnte in ihre Bettdecke, und fiel in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Es war elf Uhr am nächsten Morgen, als die Putzfrau an ihre Tür klopfte. Erschrocken fuhr sie in die Höhe, und der Gedanke, daß sie eine Stunde zu spät zur Arbeit kam, ließ sie für einen Augenblick fast die entsetzlichen Ereignisse der letzten Nacht vergessen.